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Als Elk in das Zimmer des Staatsanwalts trat, saß Dick am Tisch und füllte ein Telegrammformular nach dem andern aus. Sie alle waren an den Direktor des Gloucester-Gefängnisses adressiert und enthielten die kurze Mitteilung, daß ein Urteilsaufschub für Jim Carter auf dem Wege sei. Jedes Telegramm war nach einer anderen Route aufzugeben.

 

»Was heißt das?« fragte Elk.

 

»Das Telefon nach Gloucester ist gestört«, sagte Dick. Und Elk biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Mhm«, sagte er ger dehnt. »Nun, wenn das Telefon gestört ist, dann wird auch …«

 

»Daran möchte ich noch nicht glauben!« schnitt Dick ab.

 

Elk nahm den Apparat zur Hand. »Verbinden Sie mich mit dem Zentraltelegrafenamt«, sagte er. »Ich möchte den Chef sprechen, Fräulein. Ja, hier spricht Inspektor Elk.« Nach einer Pause meldete er sich wieder. »Wir wollen ein paar Telegramme nach Gloucester schicken, die Linien sind doch hoffentlich in Ordnung?«

 

In seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel, während er lauschte. Dann sagte er: »Danke, vielleicht können wir mit Umweglinien arbeiten? Welches ist denn die nächste offene Stadt?« Dann wartete er. »Also, so steht es, danke.«

 

Er legte den Hörer nieder. »Alle Drähte nach Gloucester sind durchschnitten, das Hauptkabel an drei Orten zerstört, die Verbindung mit Birmingham, die in einer unterirdischen irdenen Röhre läuft, ist an drei Stellen in die Luft gesprengt worden.« Dicks Augenbrauen zogen sich zusammen.

 

»Versuchen Sie die Radiogesellschaft«, sagte er. »Sie haben jetzt eine Station in Devizes und eine andere in der Nähe von Cheltenham, und sie könnten eine Botschaft hinüberschicken.«

 

Elk ging ans Telefon. »Ist dort die Radiostation? Hier spricht Inspektor Elk, Polizeidirektion. Ich möchte eine Nachricht nach Gloucester schicken, nach dem Gefängnis, über … mhm? Aber ich denke, solch eine Schwierigkeit kann man doch beheben? … Ja, seit wann ist es denn gestört? Danke schön!« sagte er und legte das Telefon von neuem nieder.

 

»Es ist irgendwo ein Störsender«, sagte er. »Die Radioleute sagen, daß irgend jemand im Land einen geheimen Apparat hat, der von den Deutschen während des Krieges verwendet wurde und mit dem man Sendungen der Radiostation unmöglich machen kann.«

 

Dick sah nach der Uhr. Es war jetzt halb zehn.

 

»Sie können noch den 10.05-Uhr-Zug nach Gloucester erreichen, Elk, aber ich glaube, daß er nicht durchkommen wird!«

 

Als Elk sich von neuem geduldig an das Telefon begab, sagte er: »Als Telefonexperte habe ich viele Eigenschaften, die mich sozusagen zu einem großen Mann stempeln, denn .. . hallo! Verbinden Sie mich mit der großen Westbahn, bitte Groß-Westbahn, Stationsvorstand .. . denn ich habe ein tadelloses Organ, eine unendliche Geduld, Vertrauen in meine Mitbürger und . . . hallo, sind Sie das, Herr Stationsvorstand? Hier spricht Inspektor Elk. Ich sagte Ihnen das vorher . . . nein, das war jemand anders … Ist irgendeine Störung auf der Linie heute abend?«

 

Diesmal war die Pause länger.

 

»Gott im Himmel!« sagte Elk. »Gibt es irgendeine Möglichkeit durchzukommen? Was? .. . Gar keine? Wann werden die Züge wieder fahren können? .. . Danke bestens!«

 

Er wendete sich zu Dick. »Drei Bahnübergänge und eine Brücke bei Swindon in die Luft gesprengt. Zwei Leute verhaftet. Einer vom Eisenbahnwächter erschossen. Zwei Obergänge in Reading niedergerissen. Die Schienen in Slough in die Luft gesprengt. Ich werde mir nicht noch die Mühe nehmen, die anderen Linien anzurufen, denn wie ich sehe, ist der Frosch durch.«

 

Dick Gordon öffnete seinen Schrank und entnahm ihm einen ledernen Mantel und einen weichen Lederhelm. Er holte aus seiner Schublade zwei bedrohlich aussehende Brownings hervor und prüfte ihre Magazine, bevor er sie in die Tasche steckte. Dann wählte er ein halbes Dutzend Zigarren aus und verpackte sie sorgfältig in die Brusttasche seines Mantels.

 

»Sie denken doch nicht daran, allein zu gehen, Gordon?« fragte Elk.

 

Dick nickte. »Doch«, sagte er, »schicken Sie mir ein Polizeiauto nach und befehlen Sie den Leuten, daß sie vorsichtig fahren.

 

Ich denke nicht, daß man mich diesseits von Newbury aufhalten wird. Ich kann es noch erreichen, bevor es ganz finster wird. Sagen Sie Fräulein Bennett, daß der Aufschub des Urteils unterzeichnet ist, und daß ich auf dem Weg zu ihm bin.« Elk schwieg, aber er folgte seinem Vorgesetzten auf die Straße hinaus und stand so lange neben dem Polizeimann, der das Auto bewacht hatte, bis Dick den Benzintank und die Reifen auf das sorgfältigste geprüft hatte. Dann winkte er dem langen, gelben Wagen nach, solange er noch etwas von ihm sehen konnte.

 

Dick nahm den Weg nach Bath, und eine kleine Gesellschaft von Schützen, die ihn an den beiden Flugfeldstationen von London erwartet hatte, um ihn abzuschießen, falls er den Luftweg wählen sollte, wartete vergeblich.

 

Er vermied die direkte Straße nach Reading und nahm einen längeren Umweg. Er kam um elf Uhr nach Newbury und hörte von ein paar neuerlichen Sprengungen von Übergängen. In der Stadt gingen die wildesten Gerüchte um.

 

Zwei vollbesetzte Personenzüge waren auf der unteren Linie aufgehalten worden, und das Gedränge der Passagiere staute sich in den altmodischen Straßen der Stadt. Er sprach mit dem Lokalpolizeiinspektor. Die Straße war anscheinend noch in guter Verfassung, denn kaum zehn Minuten vor Dicks Ankunft war ein Auto aus Swindon gekommen.

 

»Bis Swindon sind Sie auf jeden Fall sicher«, sagte der Mann. »Die Gegend ist zwar in letzter Zeit von Vagabunden durchschwärmt worden, aber meine berittenen Patrouillen, die gerade zurückgekommen sind, haben auf der Landstraße nichts bemerkt.«

 

Ein Gedanke durchblitzte Dick, und er zog den Inspektor mit sich in das Polizeigebäude.

 

»Ich brauche ein Kuvert und ein amtliches Papier«, sagte er. Er setzte sich an das Pult und fertigte eine rohe Kopie des Urteilsaufschubs mit all seiner seltsamen Terminologie an, siegelte das Kuvert mit Wachs und steckte es in die Brusttasche. Dann nahm er das echte Dokument, zog den linken Schuh und Strumpf aus und legte es sorgfältig unter den bloßen Fuß, ehe er Strumpf und Schuh wieder anzog. Dann sprang er ins Auto und fuhr vorsichtig den Weg nach Didcot weiter. Seine Scheinwerfer beleuchteten die Straße vor ihm, trotzdem fuhr er nur mit halber Geschwindigkeit, und einer der Brownings lag auf dem Sitz neben ihm.

 

Er gewahrte drei umgekehrte V, von denen er annahm, daß sie die Ausläufer eines Gebäudes, möglicherweise eines Hangars wären. Aber dann entsann er sich, daß dies wohl die Chemische Fabrik sei, von der Elk ihm erzählt hatte.

 

Er fuhr mit immer größerer Vorsicht weiter. Er hatte eben die Bremse angezogen, als er drei rote Lichter sah, die quer über die Straße hinweg aufgestellt waren, und neben denen ein Polizist stand.

 

»Hier können Sie nicht weiter! Die Straße ist aufgerissen.«

 

»Seit wann?« fragte Dick.

 

»Sie ist vor zwanzig Minuten gesprengt worden«, war die Antwort. »Aber es gibt eine Meile zurück noch einen Seitenweg, von wo Sie auf die andere Seite der Schienen gelangen können. Hier können Sie umwenden.«

 

Er zeigte auf einen Torweg, der offenbar in die Fabrik führte. Dick zog den Schalthebel an und ließ seinen Wagen gegen die Öffnung hin zurückfahren. Seine Hand war ausgestreckt, um die Richtung zu ändern, als der Polizist, der neben dem Auto hergegangen war, einen Hieb nach ihm führte.

 

Gordons Kopf war gerade gebeugt, und nur der lederne Helm, den er trug, rettete ihn vor dem Tod. Der Schlag war kaum gefallen, als etwa ein halbes Dutzend Leute aus dem Schatten hervortraten. Einer sprang auf den Führersitz, warf die reglose Gestalt des Besitzers heraus, drehte die Lampen ab und fuhr weiter zurück. Die anderen trugen die roten Weglampen fort. Der Polizist beugte sich über Dick.

 

»Ach, ich habe geglaubt, daß er ganz hin ist«, sagte er enttäuscht.

 

»Du kannst das ja noch immer besorgen«, sagte jemand in der Finsternis, aber der Polizeibeamte hatte anscheinend seine Meinung geändert.

 

»Hagn wird ihn sehen wollen!« sagte er. »Hebt ihn auf!«

 

Sie trugen die leblose Gestalt über den unebenen Boden hin und durch eine Schiebetür in eine große, schlecht beleuchtete Fabrikhalle, aus der die Maschinen entfernt worden waren. An dem einen Ende der Halle war ein Raum durch Ziegelmauern abgetrennt und als Büro verwendet worden. Dorthin wurde Dick getragen und auf den Boden geworfen.

 

»Da hast du ihn, Hagn«, brummte der Polizeibeamte. »Ich glaube, er ist fertig.«

 

Hagn stand vom Tisch auf und ging zu Gordon hinüber.

 

»Dem ist nicht viel passiert«, sagte er. »Durch den Helm kann kein Schlag töten. Nehmt ihn ab.«

 

Sie nahmen den Lederhelm vom Kopf des Bewußtlosen, und Hagn untersuchte ihn flüchtig.

 

»Nein, ihm ist nichts geschehen«, sagte er. »Spritzt ihn mit Wasser an – nein, wartet! Wir wollen ihn lieber zuerst durchsuchen. Diese Zigarren«, sagte er und zeigte auf das braune Etui, das aus der Brusttasche herausragte, »die nehme ich.«

 

Das blaue Kuvert war das erste, was sie fanden. Hagn riß es auf und las.

 

»So!« lachte er und sperrte das Dokument in den Rollschreibtisch, »und jetzt schüttet ihn mit Wasser an.« Dick kam zur Besinnung. Sein Kopf schmerzte und pochte, und er hegte eine Art von Groll gegen das Bewußtsein, das man ihm aufzwang. Er setzte sich auf und rieb sich das Gesicht wie ein Mann, den man aus schwerem Schlaf weckt, blinzelte in das helle Licht und taumelte schwankend einige Schritte. Dann sah er einem nach dem andern in das grinsende Gesicht.

 

»Oh«, sagte er zum Schluß, »einer von euch hat mich niedergeschlagen. Wer war es?«

 

»Wir werden Ihnen sofort seine Karte überreichen«, spottete Hagn. »Aber wohin sind Sie mitten in der Nacht gefahren?«

 

»Nach Gloucester«, sagte Dick kurz.

 

»Ja, nach der Hölle!« brüllte Hagn. »Hinauf mit ihm, Jungens!«

 

Aus dem Büro führte eine Treppe von ungestrichenen Fichtenholzstufen nach oben, und über diese wurde er halb hinaufgestoßen, halb hinaufgezogen. Der obere Raum war in Kriegszeiten das Büro des Hilfsaufsehers gewesen. Eine kleine Kohlenfadenlampe warf einen kränklichen, gelben Schimmer auf die finstere Gruppe, die Dick umringte. Er fand Zeit, seine Umgebung zu betrachten.

 

Das Zimmer hatte ein großes Fenster, von dem aus man einen Überblick über die ganze Gegend gewann. Es war mit einer dicken Schmutzschicht überzogen, so wie der Fußboden mit Kehricht bedeckt war, den hinwegzuräumen die jetzigen Besitzer der Fabrik nicht der Mühe wert erachtet hatten.

 

»Durchsucht ihn noch einmal, versichert euch, daß er keine Pistolen bei sich hat und nehmt ihm die Stiefel weg!« rief Hagn von der Treppe her. »Du wirst einen oder zwei Tage hierbleiben, Gordon! Vielleicht kannst du mit dem Leben davonkommen, wenn man uns Balder zurückgibt. Wenn aber nicht, dann …: ›Gute Nacht, meine liebe Mutter!‹«