Kapitel 11

 

11

 

Es war ganz dunkel, als Penelope wieder aufwachte. Das Schiff war in Fahrt, aber es brannte kein Licht in ihrer Kabine. Sie langte nach dem elektrischen Schalter, machte Licht und richtete sich auf. Sie fühlte sich merkwürdig leicht im Kopf und hatte nicht die geringsten Schmerzen. Als sie aber aufstand, wankten ihre Knie. Der Arzt hatte also doch recht!

 

»Um Gottes willen!« rief sie laut, als sie sich im Spiegel betrachtete. Ihr ganzes Gesicht, die Stirn, der Hals waren mit roten Flecken bedeckt.

 

Sie mußte schwer krank sein, sie hatte entweder Masern oder Scharlach. Sie legte sich wieder zu Bett.

 

Als sie zum zweitenmal aufwachte, war es heller Tag. Ein leises Klopfen an der Tür hatte sie geweckt.

 

Sie öffnete schnell und huschte zu ihrem Bett zurück.

 

»Setzen Sie das Tablett auf den Boden, John. Kommen Sie bitte nicht näher – ich habe Scharlach!«

 

Die Tür öffnete sich nur ein wenig, und ein sehniger Ann setzte ein Tablett nieder. Dann hörte sie Johns Stimme.

 

»Probieren Sie es einmal mit Wasser und Seife!«

 

»Was sagen Sie da?« fragte sie ungläubig.

 

»Sie müssen sich ordentlich mit Seife waschen«, wiederholte John begütigend. »Das ist das beste Mittel gegen Scharlach. Ich denke schon daran, mir diese Heilmethode patentieren zu lassen.«

 

Er hatte die Tür kaum geschlossen, als sie schon aus dem Bett sprang und in den Baderaum eilte. Mit dem nassen Schwamm rieb sie ihr Gesicht heftig ab, und die Flecken verschwanden tatsächlich.

 

Als sie sich angekleidet hatte, ging sie an Deck. John saß in einer schattigen Ecke und schälte Kartoffeln. Es ist nun eigentlich nicht Brauch, daß solche Arbeiten, die in die Küche gehören, auf dem Promenadendeck einer Jacht vorgenommen werden, das zur Erholung der Gäste reserviert ist. Aber Penelope war nun schon etwas an die sonderbaren Verhältnisse gewöhnt, die auf diesem Schiff herrschten. Wenn sie John auf der Spitze des Schornsteins Champagner trinken gesehen hätte, hätte sie das auch nicht mehr gewundert.

 

John ließ sein Messer sinken, erhob sich und wischte die Hand an seiner Jacke ab.

 

»Das ist zwar gerade nicht sehr schicklich«, sagte er, »aber ich darf kein Taschentuch tragen, um nicht den Neid der übrigen Mannschaft zu erregen.«

 

Sie schaute sich um. Außer einem Matrosen, der hinten an Deck zwei Taue zusammensplißte, war niemand zu sehen.

 

»John, nun sagen Sie mir einmal, wie diese Flecken in mein Gesicht gekommen sind.«

 

»Ein offenes Geständnis erleichtert des Gewissen – ich habe sie Ihnen aufgemalt!«

 

»Sie?« fragte sie atemlos.

 

Er nickte.

 

»Sie hatten doch schon vorher eine Probe meiner künstlerischen Fähigkeiten gesehen. Die Scharlachflecken sahen überzeugend naturgetreu aus. Es war nur schade, daß wir sie Ihnen nicht auch wieder abwaschen konnten, ohne Sie aufzuwecken.«

 

»Ich bin also betäubt worden?«

 

Er zögerte.

 

»Antworten Sie mir doch!« bat sie ihn.

 

»Man hat Ihnen einen Schlaftrunk gegeben, soviel ich weiß«, erwiderte John vorsichtig. »Es geschah ganz gegen meinen Willen, aber Mr. Orford bestand darauf. Wir begegneten nämlich einem englischen Kriegsschiff, das uns den Befehl gab, anzuhalten. Da wir den Aufenthalt der fremden Offiziere bei uns möglichst beschränken wollten, hißten wir die gelbe Flagge, um anzuzeigen, daß wir schwere, ansteckende Krankheiten an Bord hätten – und Sie waren eben der Patient.«

 

»Hatten Sie wirklich keine anderen Gründe?«

 

Er schwieg einen Augenblick.

 

»Vielleicht fürchtete Mr. Orford auch, daß Sie den Leuten unangenehme Dinge über die Heimlichkeit unserer Fahrt sagen würden. Immerhin, es war eine etwas peinliche Angelegenheit, und ich bin froh, daß alles vorüber ist.«

 

Sie konnte nur hilflos den Kopf schütteln.

 

»Ich verstehe die ganze Sache nicht!«

 

»Aber Sie fürchten sich doch nicht vor uns?« fragte er und sah sie forschend an.

 

»Nein – ich ärgere mich nur.«

 

»Dann ist ja alles in Ordnung.« Er schien von einer schweren Sorge befreit zu sein. »Nun will ich Ihnen auch etwas mehr mitteilen. Das Schiff läuft Vigo an. Eine der Maschinen ist nämlich nicht in Ordnung. Ich weiß nicht, was es ist, denn ich bin kein Ingenieur. Aber in zwei bis drei Tagen laufen wir Vigo an, und Sie haben die Möglichkeit, sich Kleider zu kaufen.«

 

»Kann ich denn an Land gehen?«

 

»Ja, unter Bedeckung«, erwiderte er ernst. »Und ich habe es übernommen, Sie zu begleiten. In mancher Beziehung war Ihr Erscheinen an Bord dieses Schiffes wie von der Vorsehung bestimmt. Man könnte es fast ein Wunder nennen. Ich weiß nicht, es ist vielleicht – aber das hängt ganz von Ihnen ab. Sehen Sie, hier kommt der nette Bobby, und ich werde jetzt wieder meine Kartoffeln schälen.«

 

Bobby sah viel vergnügter aus als während der letzten Tage.

 

»Hat John Ihnen schon gebeichtet? Können Sie uns verzeihen, Miss Pitt? Es war schrecklich, daß wir das getan haben. Wir mußten all unsere Überredungskunst aufbieten, um den Doktor zu überzeugen, daß er uns bei diesem niederträchtigen Plan helfen mußte. Er lag uns dauernd in den Ohren, daß er im Entdeckungsfalle sieben Jahre ins Gefängnis gesteckt wird, daß man seinen Namen von der Liste der Ärzte streicht und daß er dann lebenslänglich ruiniert ist.«

 

»Warum hat er es dann überhaupt getan?« fragte Penelope ein wenig kühl.

 

»Weil Dr. Fraser ein Verwandter von uns ist. Sie verzeihen uns doch, Miss Pitt?«

 

»Ich sehe nicht ein, was das ausmachen soll, ob ich Ihnen vergebe oder nicht«, erwiderte sie lächelnd. »Sie hätten es mir doch vorher sagen können. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, die Rolle eines interessanten Patienten zu spielen.«

 

»Das allein hätte aber nicht genügt«, sagte Bobby ernst. »Sie wissen schon, daß wir nach Vigo fahren?«

 

Sie nickte.

 

»Das hat Ihnen wieder John erzählt – er ist doch ein zu schwatzhafter Kerl. Das tut er bloß, weil …«

 

»Warum tut er das?«

 

»Nun ja, Männer sind eigentlich geborene Klatschbasen«, sagte er ganz unlogisch.

 

Kapitel 12

 

12

 

Als sich die ›Polyantha‹ am frühen Morgen der felsigen, im blauen Nebel verschwimmenden Küste Spaniens näherte, sprang Penelope aus dem Bett, zog sich rasch an und ging an Deck.

 

Sie war erstaunt, auch Mr. Orford schon dort anzutreffen. Da der Morgen kühl war, hatte er einen Wintermantel angezogen und den Kragen hochgeschlagen. Seine Hände steckten in den Taschen, und er schaute düster und unzufrieden zur Küste hinüber.

 

Er fuhr zusammen, als sie ihn ansprach.

 

»Sind Sie schon so früh auf, Miss Pitt?«

 

Sie glaubte zu bemerken, daß er sie böse anschaute, und ihr Argwohn wurde noch vermehrt, als er mit dem Kopf nach dem Lande hinwies.

 

»Das ist nun so Ihre Idee«, sagte er vorwurfsvoll.

 

»Meine Idee? Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Mr. Orford.«

 

»Wenn sich erst Gefühle in eine gute Organisation mischen, geht die Organisation zum Teufel«, erwiderte er bitter. »Ich dachte, Sie seien die Ursache, daß wir nach Vigo fahren, aber vielleicht irre ich mich auch.«

 

Sie sah ihn verwundert an, ohne ihn zu verstehen.

 

»Daß wir in Vigo anlegen, ist die größte Verrücktheit«, sagte er dann wieder und zuckte die Schultern. »Ich habe es schon erlebt, daß Leute wegen geringerer Anlässe ins Irrenhaus gesperrt wurden.«

 

»Ich dachte, die Maschinen seien nicht in Ordnung?« begann sie.

 

»Die Maschinen nicht in Ordnung?« fuhr er auf. »An Bord der ›Polyantha‹ ist nichts in Unordnung – merken Sie sich das! Die ›Polyantha‹ war niemals mehr auf der Höhe. Aber in dem verrückten Hirn dieses Jungen stimmt etwas nicht«, sagte er hitzig. »Man quält sich sechs Monate lang ab, eine Sache aufs glänzendste zu organisieren, und dann –« Er sah sie scharf unter seinen buschigen Augenbrauen an. »Vielleicht können Sie auch wirklich nichts dafür.« Er wandte sich plötzlich ab und ging weiter.

 

Und sie hatte ihm doch gerade heute morgen die ganze Wahrheit über Cynthia Dorban mitteilen wollen. Sie war aufgewacht und hatte an Borcombe, an Stone House und den geheimnisvollen Koffer denken müssen und hatte beschlossen, Mr. Orford ins Vertrauen zu ziehen. Aber er schien nicht in der Stimmung zu sein, sich etwas erzählen zu lassen.

 

Um neun Uhr lief die ›Polyantha‹ in den Hafen von Vigo ein. Die Stadt lag im Morgensonnenschein, und sie bot einen imponierenden Anblick. Im Hintergrund erhoben sich die Berge. Bei näherer Besichtigung sollte sie ihr später weniger anziehend erscheinen.

 

Ein kleines Motorboot wurde hinuntergelassen, und John half Penelope beim Einsteigen. Er hatte sich fein herausgeputzt, trug einen neuen, dunkelblauen Matrosenanzug und eine Mütze mit einem schwarzen Seidenband, auf dem in goldenen Buchstaben ›Polyantha‹ stand.

 

*

 

Sie hatten die Zollschranken passiert und gingen durch eine enge Gasse zur Hauptstraße.

 

»Warum haben Sie mir eigentlich gesagt, daß die Schiffsmaschinen repariert werden müßten?« fragte sie ihn plötzlich.

 

»Müssen sie denn nicht repariert werden?« erwiderte er mit geheucheltem Erstaunen.

 

»Sie wußten doch ganz genau, daß das nicht notwendig war. Sie stecken mit Mr. Mills unter einer Decke. Warum haben Sie die ›Polyantha‹ nach Vigo fahren lassen? Mr. Orford dachte zuerst, ich sei daran schuld.«

 

»Ich glaube, Sie tun dem armen Bobby unrecht. Er hat einen ganz besonderen Grund, Vigo anzulaufen, wenn die Geschichte mit den Maschinen nicht wahr sein sollte. Hier ist übrigens die Hauptstraße.« Mit diesen Worten schnitt er das Thema ab. »Hier können Sie alles kaufen, was Sie brauchen.«

 

Plötzlich kam ihr zum Bewußtsein, daß sie kein Geld bei sich hatte, und sie lachte.

 

»Unglücklicherweise kennen mich die Geschäftsleute hier so wenig, daß sie mir keine Kleider auf Kredit geben werden«, sagte sie trocken.

 

»Haben Sie kein Geld?« fragte er schnell. »Aber natürlich, Sie können ja unmöglich Geld haben!« Er zog eine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Dutzend spanische Banknoten. »Mr. Mills gab mir das mit, falls Sie irgend etwas brauchten.«

 

Sie zögerte, bevor sie die Scheine nahm.

 

»Eine von diesen Banknoten ist reichlich genug. Wieviel sind denn eigentlich tausend Pesetas wert?«

 

»Roh gerechnet vierzig Pfund, und vierzig Pfund sind zweihundert Dollar. Ich werde dort an der Ecke warten, bis Sie wiederkommen. Drüben bei Manuel finden Sie die besten Kleider und alles, was Damen sonst noch nötig haben. Aber wenn Sie dieses Geschäft nicht befriedigt, haben wir noch einen anderen netten Laden um die Ecke, der Kathedrale gegenüber.«

 

Es war jetzt keine Zeit, ihm zu widersprechen. Sie ging zu Manuel und machte ihre Einkäufe. Sie war erstaunt, wieviel Dinge sie kaufen mußte, und noch erstaunter, daß sie die Notwendigkeit ihrer Anschaffung erst bei ihrem Anblick erkannte.

 

Sie kaufte zwei billige Kleider und verschiedene andere Sachen. Als sie wieder aus dem Laden trat, wartete John noch geduldig neben einer Droschke, die er offenbar inzwischen gemietet hatte.

 

Er nahm ihr die Pakete ab und brachte sie im Wagen unter.

 

»Ich fürchte, ich habe zuviel Geld ausgegeben«, begann sie, aber er schüttelte den Kopf.

 

»Bobby erwartet es nicht anders – außerdem sind tausend Pesetas keine tragische Summe.« Er sah sie nachdenklich an. »Würden Sie mich auf einer kleinen Fahrt begleiten?« fragte er dann. »Ich habe nämlich einen Besuch zu machen.«

 

»Sie kennen Vigo anscheinend sehr gut?«

 

»Ja, ich kenne mich hier leidlich aus. Ich möchte jetzt –«, er zögerte, »zum Friedhof fahren. Haben Sie etwas dagegen, Miss Pitt?«

 

»Nicht das geringste«, entgegnete sie schnell.

 

Sie wunderte sich über nichts mehr. Wahrscheinlich lag einer seiner Freunde in dieser weltverlassenen Stadt begraben. Aber sicherlich hatte die ›Polyantha‹ Vigo nicht angelaufen, weil der Steward John einer sentimentalen Pflicht genügen wollte.

 

Als sie durch die Straßen fuhren, zeigte er ihr verschiedene interessante Gebäude.

 

»Vigo hat nicht gerade besonders viele historische Bauten. Die meisten Kathedralen in diesem Teil des Landes sind durch Erdbeben zerstört und in einem abscheulich modernen Stil wiederaufgebaut worden.«

 

Er erzählte ihr auch, daß irgendwo auf dem Meeresboden im Hafen von Vigo eine große Menge Silber liege, die mehr als eine Million Pfund wert sei; vor langer Zeit habe ein englischer Admiral hier nämlich die spanische Silberflotte überrascht und die Hälfte der Schiffe versenkt, während die restlichen Schiffe gekapert wurden.

 

Schließlich kamen sie zu dem Friedhof, der in den Außenbezirken der Stadt lag. Es war ein großer, verlassener viereckiger Platz mit häßlichen eisernen Kreuzen und geschmacklosen Metallkränzen; umgeben war er von einer sehr hohen Mauer.

 

Ein alter Kirchhofwärter kam auf sie zu und schaute sie neugierig an. John redete ihn in fließendem Spanisch an, und der alte Mann führte sie einen schmalen Pfad entlang. Sie kamen zu einer Anlage, die von dem anderen Teil des Friedhofs durch ein Gitter abgetrennt war.

 

»Dies ist der englische Kirchhof, Miss Pitt«, erklärte John. »Aber es liegen hier mehr Amerikaner als Engländer begraben.«

 

Die kleine Anlage war sehr sorgfältig gehalten. Penelope sah überall Blumen. Die Kreuze und Grabsteine waren einfacher als auf dem spanischen Friedhof.

 

»Wollen Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen«, sagte John leise. Der Ausdruck seines Gesichtes hatte sich vollkommen verändert.

 

Sie wußte, daß er allein zu sein wünschte, und trat einige Schritte beiseite. Sie sah, wie er zu einem Grab ging, auf dem nur ein glatter Stein stand. Er beugte sich nieder, pflückte das vertrocknete Blatt eines Rosenstrauches ab und stand dann barhäuptig und unbeweglich am Fuß des Grabes. Er hielt den Kopf gesenkt, und sein Blick war zur Erde gerichtet.

 

Plötzlich schaute er wieder auf und winkte Penelope.

 

»Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, Sie hierherzuführen«, sagte er. »Es ist das Grab meiner Mutter.«

 

Sie sah auf den Stein und las:

 

Mary Tyson –

 

das nächste Wort war schon unleserlich –

 

im Alter von 46 Jahren.

 

Dritte Tochter des Lord John Medway.

 

Er beugte sich nieder, pflückte eine Rose und legte sie behutsam auf den Rasen, der den Grabhügel bedeckte. Dann faßte er schweigend ihren Arm und führte sie zurück.

 

Erst als sie wieder in der Stadt waren, gab er ihr eine Erklärung. »Wir haben viele Jahre in dieser Stadt gelebt. Mein Vater war arm, aber er fühlte sich in dem Klima von Vigo wohl. Ich kann mich kaum auf ihn besinnen, ich war erst sechs oder sieben Jahre alt, als er starb. Meine Mutter und ich lebten noch zwölf Jahre zusammen.«

 

Als sie durch die Hauptstraßen fuhren, erhob er sich, lehnte sich zum Wagen hinaus und gab dem Kutscher eine Anweisung. Die Droschke passierte eine lange, enge Straße, und auf ein Zeichen Johns hielt der Kutscher vor einem kleinen Laden.

 

»Hier haben wir gewohnt.« John zeigte nach oben. »In der zweiten Etage. Die Wohnung scheint leerzustehen. Ich bin gespannt, ob der alte Gonsalez noch lebt.«

 

Er trat auf den Gehsteig und schaute durch das Fenster. Dann öffnete er die Ladentür und ging hinein. Nach ein paar Minuten kam er schon wieder zurück.

 

»Der alte Mann ist vor vier Jahren gestorben«, sagte er dann. Er hielt einen großen Schlüssel in der Hand. »Aber ich habe die Erlaubnis, mir das Haus anzusehen. Die Wohnung ist nicht vermietet. Der alte Gonsalez hatte meine Mutter sehr gern und schwor, die Räume nicht wieder zu vermieten, wenn wir einmal fortgehen sollten. Und er hat sein Versprechen auch gehalten.«

 

Er schloß eine Seitentür des Hauses auf, und Penelope folgte ihm in einen langen, engen Gang. Dann stiegen sie eine steile, gewundene Treppe hinauf.

 

»Hier sind wir.«

 

Das Treppenpodest bekam durch ein kleines Fenster etwas Licht.

 

»Dies war unser Speisezimmer«, erklärte er, als er eine Tür öffnete.

 

Der Raum war leer und sehr staubig. Spinnweben hingen in den Ecken, und das kleine Gitter im Kamin war ganz vergraben unter Schutt und Asche. Aber die Wände waren mit Eichenholz getäfelt, und die Decke zeigte schöne Stuckarbeit.

 

»Das ist maurischer Stil. Das Haus wurde von einem Kaufmann aus Malaga gebaut, der maurische Künstler herbrachte, um die Decken verzieren zu lassen.«

 

Er führte sie von Zimmer zu Zimmer und machte hier und dort halt, um ihr etwas Besonderes zu zeigen, das die Erinnerung an seine Mutter in ihm wachrief.

 

Es kam ihr gar nicht zum Bewußtsein, daß er bei ihr ein ziemliches Interesse für sein früheres Leben voraussetzte, denn sie interessierte sich wirklich sehr für alles.

 

»Finden Sie wohl selbst hinunter?« fragte er schließlich. »Ich möchte hier noch fünf Minuten allein sein mit meinen Gedanken. Ich muß mir über gewisse Dinge klarwerden, und ich wüßte keinen Ort in der Welt, wo das besser geschehen könnte als hier.«

 

Sie nickte, denn sie glaubte ihn zu verstehen. Ruhig ging sie nach unten.

 

Als sie zu dem Podest der ersten Etage gekommen war und gerade den Fuß auf die nächste Treppe setzen wollte, hörte sie unten im Flur Stimmen.

 

»Sie können sich die Räume ansehen. Ja, es sind wirklich hübsche Zimmer, aber im Augenblick besichtigen sie gerade ein Herr und eine Dame. Mein Vater wollte die Etage ja nicht vermieten, aber ich denke anders darüber.«

 

»Sie haben vollkommen recht.«

 

Penelope fuhr erschrocken zusammen, denn sie erkannte die Stimme Mr. Arthur Dorbans.

 

»Wollen wir nach oben gehen?« fragte Cynthia.

 

Penelope lehnte sich zurück, damit man sie von unten nicht sehen konnte. Dann rannte sie wieder die Treppe hinauf und trat atemlos in den Raum, wo John auf der Fensterbank saß. Er hatte die Hände über den Knien gefaltet und den Kopf nachdenklich gesenkt. Er sah schnell auf, als sie hereinkam.

 

»Unten sind Leute – ich möchte sie nicht sehen«, rief sie atemlos.

 

»Wer ist es denn?«

 

»Mr. und Mrs. Dorban!«

 

»Dorbans sind hier?« Er eilte zur Tür, öffnete sie und lauschte auf dem Podest. Die Dorbans kamen schon die Treppe herauf. Er winkte Penelope schweigend, und sie stiegen leise zum dritten Stock empor.

 

»Kein Geräusch«, flüsterte er. »Lehnen Sie sich an die Wand.«

 

Sie hörte jetzt Cynthia sprechen.

 

»Aber warum sollte er ausgerechnet in dieses kleine, unansehnliche Haus kommen, Arthur?« fragte sie vorwurfsvoll. »Und wie hätte er überhaupt hierhergelangen können?«

 

»Es gibt viele Gründe, die ihn dazu bestimmen könnten, und viele Wege, auf denen er hierhergelangen kann«, erwiderte Arthur. »Und ich wette um mein Leben, daß ich mich nicht irre. Heute morgen ist eine Jacht in den Hafen eingelaufen, wir werden sie später einmal ansehen.«

 

»Entschuldigen Sie einen Augenblick«, unterbrach sie der Spanier, der sie begleitete. »Ich möchte nur der Dame und dem Herrn sagen, daß Sie hier sind.«

 

Offensichtlich waren sie jetzt auf dem Podest der zweiten Etage angekommen. Der Spanier öffnete die Tür zur Wohnung, kam aber bald wieder zurück.

 

»Sie sind fortgegangen«, sagte er unangenehm berührt. »Auch der Schlüssel ist verschwunden. Und ich hatte dem Matrosen doch gesagt, er solle ihn mir zurückgeben.«

 

»Was für ein Matrose war das denn?« fragte Arthur rasch.

 

Nun gingen sie alle drei hinein. John schaute vorsichtig über das Geländer und sah, daß niemand mehr auf dem Podest stand.

 

»Schnell!«

 

In kürzester Zeit eilten sie die Treppe hinunter. Als John unten die Tür zuwarf und abschloß, hörten sie oben Stimmen und schnelle Fußtritte. Er sagte etwas auf spanisch zu dem Kutscher, und der Wagen flog in einem halsbrecherischen Tempo durch die Straßen bis zu dem kleinen Kai. Der Kutscher hatte kaum gehalten, als John schon aus dem Wagen sprang und die Pakete in das kleine Boot warf, das unten vertäut war.

 

Er drückte dem Mann eine Banknote in die Hand und eilte die schmalen Stufen hinunter. Penelope hob er in das Boot. Während sie mit größter Geschwindigkeit durch den Hafen fuhren, schaute er sich von Zeit zu Zeit um, und plötzlich sah er, was er erwartet hatte. Eine zweite Droschke hielt neben der ersten. Penelope erkannte den Mann, der heraussprang.

 

»Ist das Arthur Dorban?«

 

Sie nickte.

 

»Ich hätte mir den Herrn gern etwas näher angesehen«, meinte John nachdenklich. »Ich glaube jetzt auch, daß wir den ganzen Plan des guten Mr. Orford über den Haufen geworfen haben.« Er lachte leise vor sich hin, obgleich ihm nicht danach zumute war.

 

Das Motorboot hielt unter dem Fallreep der Jacht. Penelope eilte vor ihm die Treppe in die Höhe.

 

Oben standen Bobby, der Captain und Mr. Orford, die auf ihre Rückkehr warteten.

 

»Wir hatten eine unglückliche Begegnung in der Stadt«, sagte John ohne weitere Einleitung.

 

»Sie haben doch nicht etwa Dorban getroffen?« fragte Mr. Orford aufgeregt.

 

»Ich habe ihn nicht gesehen, aber Miss Pitt. Augenblicklich schaut er sich nach einem Bootsmann um, der ihn zur ›Polyantha‹ rudern soll. Das nehme ich wenigstens an«, setzte er vorsichtig hinzu. »Es wäre wohl am besten, wenn wir den Hafen in größter Eile wieder verließen.«

 

»So, sind Sie auch der Meinung?« brummte Mr. Orford grimmig. »Ich möchte Sie aber erst fragen, ob Sie ohne Hollin fahren wollen?«

 

»Ohne Hollin?«

 

»Ja. Er hat das Schiff fünf Minuten nach Ihnen verlassen und ist in einem kleinen Boot an Land gerudert. Wir bemerkten es erst, als er schon beinahe an Land war. Wahrscheinlich ist er jetzt vollständig betrunken und macht einen entsetzlichen Krawall im Hafen.«

 

Sie sahen einander bestürzt an. Der Captain machte einen Vorschlag.

 

»Es ist besser, wenn ich jetzt die Anker lichte und draußen auf See warte. Sobald es dunkel geworden ist, können wir ein paar Leute in einem Motorboot an Land schicken, um Hollin an Bord zu bringen. Soviel ich verstehe, dürfen wir ihn nicht im Stich lassen.«

 

»Und was soll dann geschehen?« fragte Mr. Orford.

 

Der alte Captain zuckte die Schultern.

 

Bobby verließ die anderen, ging zum Achterdeck und nahm ein Fernglas, das dort an einem Haken hing. Er schaute zum Kai hinüber und bemerkte dort eine kleine Gruppe aufgeregter Menschen.

 

Der Captain wollte gerade zur Kommandobrücke hinaufsteigen, als Bobby sich umdrehte.

 

»Einen Augenblick, Captain Willit«, sagte er. »Ich glaube, dieser kleine Zwischenfall wird sich von selbst erledigen. Unsere vorschnellen Freunde haben vor, an Bord zu kommen.«

 

Orford sah Bobby überrascht an und nahm ihm das Fernglas aus der Hand. Dann seufzte er tief auf.

 

»Der Herr hat sie in unsere Hände gegeben«, sagte er fromm. »Die Schafe kommen alle zum Stall, Willit.«

 

Der Captain sah ihn verwundert an.

 

*

 

Der Bootsmann ruderte mit allen Kräften, und eine Viertelstunde später waren Mr. Dorban und seine Frau am Fallreep der ›Polyantha‹ angelangt.

 

»Jawohl, mein Herr, Sie können den Captain sprechen«, sagte der nichtsahnende Matrose. »Wollen Sie an Bord kommen?«

 

Cynthia ergriff die ausgestreckte Hand und schwang sich auf die Plattform.

 

»Glaubst du, daß das klug ist, Cynthia? Wenn er nun wirklich hier ist?«

 

Cynthia sah ihn verächtlich an.

 

»Ich fürchte nur, daß er nicht an Bord ist«, sagte sie bedeutsam.

 

Arthur folgte ihr widerstrebend.

 

Cynthia hatte Mr. Orford noch nicht gesehen und war bei dem Anblick dieses liebenswürdig aussehenden Mannes etwas verwirrt. Er hatte seine Schiffsmütze über das rechte Auge in die Stirne gezogen und rauchte eine große Zigarre.

 

»Sind Sie der Captain?« fragte sie freundlich.

 

»Nein, das bin ich nicht.« Mr. Orford war es unangenehm, zu lügen. »Ich bin der Eigentümer.«

 

»Dann können Sie mir sogar noch besser helfen als der Captain. Dies ist mein Mann, Mr. Arthur Dorban. Wir haben allen Grund zu der Annahme, daß sich ein gewisser Herr an Bord dieses Schiffes aufhält – Ihnen ist natürlich ganz unbekannt, wer er ist.«

 

Sie hielt plötzlich inne. Ihre Selbstbeherrschung verließ sie einen Augenblick, denn sie hatte drüben ein junges Mädchen in einem Deckstuhl sitzen sehen, das die Besucher interessiert betrachtete.

 

»Mein Gott«, flüsterte Cynthia, »sieh doch hin, Arthur!«

 

El Slicos Gesicht verfärbte sich.

 

»Wir wollen machen, daß wir fortkommen«, erwiderte er leise. Er wandte sich um, aber ein stämmiger Matrose vertrat ihm den Weg, und Mr. Orfords höfliche Worte brachten den beiden zum Bewußtsein, in welcher Lage sie sich befanden.

 

»Ich rate Ihnen, sich ruhig zu verhalten. Ich möchte keine Schießerei hier an Bord haben, besonders nicht im Hafen einer befreundeten Nation.« Er sah Cynthia und Arthur kühl an. »Gehen Sie durch die Tür links und steigen Sie die Treppe hinunter. Ich werde unten mit Ihnen sprechen. Wenn Sie aber irgendwelchen Spektakel machen, wird es Ihnen schlecht gehen, obgleich es mir leid täte, wenn Sie mich zu scharfen Maßnahmen zwingen sollten. Aber nun gehen Sie – bitte etwas plötzlich, schnell!« Seine Stimme war jetzt hart und drohend geworden.

 

Arthur Dorban war sich als erster über die Situation klar. Ohne ein Wort zu erwidern, ging er zu dem Salon.

 

Cynthia folgte ihm ein wenig verwirrt.

 

Mr. Orford schloß die Tür des Salons hinter sich und lud seine Gäste ein, Platz zu nehmen.

 

»Nun wollen wir uns einmal richtig aussprechen, Mr. Dorban. Sie suchen nach jemandem, und dieser Jemand ist auch an Bord. Es ist auch noch jemand anders hier, den Sie nicht erwartet haben – aber das ist ein Zufall, daß sie sich auf dem Schiff befindet.«

 

»Vermutlich wissen Sie, daß Sie sich der Seeräuberei schuldig machen und daß Sie –«

 

Mr. Orford unterbrach Arthurs Protest durch eine hochmütige Geste.

 

»Es ist schon sehr lange her, daß ich mich an Gesetze hielt. Ja, mein Herr, ich bin mir durchaus bewußt, daß ich im Augenblick mindestens drei Gesetze breche, aber kommt es denn darauf an?«

 

»Was haben Sie mit uns vor?« fragte Cynthia, die sehr blaß geworden war.

 

»Ich möchte Sie nur einladen, an unserer schönen Fahrt teilzunehmen. Wir sind gerade auf dem Weg zu den Südsee-Inseln.

 

Ich werde Ihnen sogar meine eigene Kabine geben, obwohl ich das nur sehr ungern tue. Wir sind hier auf der ›Polyantha‹ sehr gut eingerichtet, und meine Luxuskabine gefällt mir sehr gut.«

 

»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß unser Verschwinden bemerkt werden wird«, sagte Arthur Dorban. »Ich habe die Polizei verständigt, daß ich an Bord der ›Polyantha‹ gehen würde, und der britische Vizekonsul –«

 

»Sie haben niemanden benachrichtigt«, erwiderte Mr. Orford höflich. »Dazu hatten Sie ja gar keine Zeit. Ihr Zug kam um elf Uhr an, und jetzt ist es zwölf. Ich habe mir das überlegt, während ich eben die Treppe herunterstieg. Es dauerte einen Tag, bis Sie nach London kamen, dann reisten Sie über Paris nach Madrid. Und diese Reise mußten Sie sogar im Flugzeug machen. Ein Zug nach Vigo geht von Madrid früh am Morgen ab. Aber der hatte keinen Anschluß. Ich kenne alle Verbindungen ganz genau. Sie haben vergeblich versucht, mich zu bluffen.«

 

»Was werden Sie denn mit uns tun?« fragte Cynthia.

 

»Sie werden in Ihrer Kabine bleiben, und wenn Sie sich ruhig verhalten, werden Sie eine prächtige Reise haben. Wenn Sie das aber nicht tun –« Er schüttelte traurig den Kopf, als ob die Folgen für ihn selbst entsetzlich wären.

 

In der Zwischenzeit ging John zu dem Bootsmann, der auf der Plattform des Fallreeps der ›Polyantha‹ hockte und auf die Rückkehr seiner Passagiere wartete.

 

»Der Herr schickt Ihnen dies«, sagte John auf spanisch. »Er bleibt bis zum Mittagessen an Bord.«

 

»Vielleicht kann ich noch einmal zurückkommen?« fragte der glückliche Mann, denn John hatte ihm einen reichlichen Lohn gegeben.

 

»Nein, wir werden den Herrn selbst zur Küste zurückbringen«, erwiderte John ernst.

 

Der Bootsmann gab sich damit zufrieden und ruderte zurück.

 

Kurz darauf schickte der Captain mehrere Matrosen an Land. Sie hatten eine doppelte Aufgabe: Einmal mußten sie sich nach Hollin umsehen, und außerdem war das Gepäck der Dorbans an Bord zu bringen. Die praktische Cynthia hatte die Anregung dazu gegeben, und als sie eingestand, daß ihr Gepäck noch auf dem Bahnhof war, bestätigte sie damit zugleich unfreiwillig Orfords Behauptung.

 

»Es hat keinen Zweck, ohne Kleider auf diese schreckliche Reise zu gehen«, sagte sie zu ihrem Mann, als sie allein in ihrer Kabine waren. »Haben sie dich durchsucht?«

 

Er nickte.

 

»Sie haben nichts gefunden – ich hatte noch Zeit, meine Pistole unter das Sofa zu schieben. Selbst Orford, der dabeistand, hat nichts gesehen. Und wie ist es dir gegangen?«

 

»Sie schauten in meine Handtasche und fanden die Gepäckscheine. Sonst habe ich nichts bei mir. Arthur, er ist an Bord!«

 

»Natürlich ist er an Bord«, erwiderte Mr. Dorban gereizt. »Du bildest dir doch nicht ein, daß sie uns gefangengesetzt hätten, wenn er nicht hier wäre? Ich hielt es gleich für einen Unsinn, das Boot zu verlassen. Wir sind blind in eine offene Falle gegangen.«

 

Aber Cynthia hörte nicht auf seine Vorwürfe. Die Anwesenheit Penelope Pitts regte sie ungeheuer auf. Sie hatte sich schon damit beruhigt, daß Penelope tot sei. Als sie sie jetzt aber lebendig und obendrein noch an Bord der ›Polyantha‹ wiederfand, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen.

 

»Was macht sie denn hier?« fragte Arthur Dorban, der ihre Gedanken offenbar erraten hatte.

 

»Das mag der Himmel wissen. Was für ein tragischer Zufall!«

 

Arthur zupfte nervös an seinem kleinen, schwarzen Schnurrbart.

 

»Glaubst du, daß sie alles weiß?«

 

»Wäre sie wohl vor uns davongelaufen, wenn sie alles wüßte? Es ist übrigens gar nicht verwunderlich, daß sie hier an Bord ist. Sie ist einfach auf See aufgefischt worden. So erklärt sich auch, daß das Motorboot leer gefunden wurde. Aber daß sie ausgerechnet hier mit ihm zusammenkommen mußte!«

 

Cynthia saß auf dem breiten Diwan. Sie hatte die Hände um ihre Knie gelegt und blickte nachdenklich vor sich hin.

 

»Es hätte eigentlich nicht besser kommen können«, sagte sie schließlich.

 

Arthur Dorban war dabei, seinen Koffer auszupacken, und schaute erstaunt auf.

 

»Wie meinst du das?«

 

»Ich meine, daß wir mit Penelope und ihm an Bord desselben Schiffes sind. Natürlich ist auch Bobby Mills hier. Aber wer mag nur dieser korpulente Mann sein?«

 

Arthur Dorban richtete sich auf und sah sie an.

 

»Wird nicht auch Hollin hier an Bord sein? Du besinnst dich doch darauf, was man uns in London über ihn erzählte? Wenn das wahr ist –«

 

»Ich habe auch schon an ihn gedacht«, erwiderte sie langsam. »Siehst du nicht, wie gut sich noch alles für uns lösen kann, wenn Hollin nur halb soviel hält, wie er zu versprechen scheint? Wo ist deine Pistole?«

 

Er zog sie unter dem Sofa hervor; sie nahm sie ihm aus der Hand, hob ihr Kleid hoch und versteckte sie darunter.

 

Kapitel 13

 

13

 

Mr. Hollin hatte sich an diesem Tage großartig amüsiert. Schon am Morgen hatte er Glück gehabt, denn er entdeckte, als er auf dem Schiff umherstreifte, in Mr. Orfords Kabine dessen Brieftasche. Sie lag auf dem Tisch. Während das Schiff vor Anker ging, war Mr. Orford an Deck gestiegen und hatte mehr beunruhigt als interessiert zugesehen, wie Penelope Pitt und John in dem Motorboot an Land fuhren. Hollin hatte sich inzwischen in die Kabine geschlichen und die Tasche untersucht. Das Ergebnis war befriedigend, denn sie enthielt zwanzig Fünfpfundnoten. Gleich darauf war er an Deck gekommen und hatte sich umgeschaut. Für alle Fälle war ein kleines Boot heruntergelassen worden. Hollin schlich sich heimlich hinein, und alles, was dann weiter folgte, war ebenso natürlich wie unvermeidlich. Er wechselte zwanzig Pfund in spanisches Geld um und spielte den großen Herrn in Vigo.

 

Einmal sah er auch John und Penelope in einem Wagen über den Marktplatz fahren, aber er versteckte sich eilig hinter einer Häuserecke.

 

Um zwei Uhr nachmittags war er schon vollständig betrunken und schlief in einer kleinen Weinschenke seinen Rausch aus. Der Eigentümer war sehr froh, daß er in seiner Wirtschaft blieb, denn die Anwesenheit eines so reichen Mannes versprach einen ertragreichen Abend.

 

Gegen Sonnenuntergang wachte Mr. Hollin wieder auf und hatte einen furchtbaren Durst. Eine Flasche Weißwein, die ein wenig nach Fichtenholz schmeckte, brachte ihn wieder in eine glückliche Stimmung. Er konnte nicht spanisch sprechen, aber das hinderte ihn in keiner Weise. Taumelnd ging er durch die dunklen Straßen. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, sein wüstes Gesicht war vom Wein erhitzt. Nun wollte er auf Abenteuer ausgehen.

 

Plötzlich hatte sich ihm ein Fremdenführer zugesellt, eines dieser niederträchtigen Individuen, die in jedem Hafen anzutreffen sind. Er redete ihn auf englisch an, und Mr. Hollin schloß sofort Freundschaft mit ihm.

 

»Auf Sie habe ich gerade gewartet«, sagte er. »Zeigen Sie mir einmal die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ich habe viel Geld in der Tasche, und ich möchte irgendwohin, wo es Mädel und Tanz gibt.«

 

Sie landeten denn auch in einem ziemlich wüsten Lokal, wo Männer Gitarre spielten und wenig bekleidete Mädchen spanische Tänze tanzten, die in einem weniger aufgeklärten und gesitteten Zeitalter einmal beliebt waren. Mr. Hollin saß an einem Tisch, auf dem mehrere Flaschen Rioja standen, daneben schlechter Whisky und billiger Champagner. Er hatte auf jedem Knie ein Mädchen sitzen und sang, so laut er nur konnte, ein sentimentales Lied von seiner ›alten Mutter‹.

 

Plötzlich näherte sich ihm ein Mann, der anscheinend kein Spanier war. Er war groß und schien in den mittleren Jahren zu stehen. Sein aufrechter Gang hätte Mr. Hollin gewarnt, wenn er etwas nüchterner gewesen wäre.

 

»Sind Sie Engländer?« fragte der Fremde und setzte sich an seinen Tisch.

 

»Ja, ich bin Engländer. Wenn Sie es genau wissen wollen, ich bin in Australien geboren. Trinken Sie einmal mit mir.«

 

Der Fremde schenkte sich ein Glas aus einer Flasche ein, auf deren Etikett ›Whisky‹ stand. Aber er verdünnte das giftige Zeug noch ausgiebig mit Wasser.

 

»Wie heißt denn Ihr Schiff?« fragte der Fremde scheinbar gleichgültig.

 

»Schiff? Was wollen Sie damit sagen?« Mr. Hollin runzelte die Stirn.

 

»Sie sind doch Matrose – nur Matrosen kommen nach Vigo.«

 

»Matrose? Hm – das bin ich und bin es auch nicht.« Mr. Hollin schluckte. »Ich bin ein Matrose, aber jetzt bin ich ein Passagier. Wer sind Sie denn überhaupt, mein Herr?« fragte er plötzlich unwirsch.

 

»Ich bin nur ein Reisender.«

 

»Na gut, dann reisen Sie von dannen«, sagte Hollin laut. Er war argwöhnisch geworden. »Kümmern Sie sich nicht um meine Angelegenheiten, die gehen Sie nichts an!«

 

»Tut mir leid«, erwiderte der andere mit einem ruhigen Lächeln. »Auf Ihr Wohl!«

 

Er nippte an seinem Glas. Mr. Hollin war nun wieder beruhigt und erzählte ihm mehr.

 

Es war ein ziemlich verworrenes Zeug, was er schwatzte. Nach einer Weile erhob sich sein Gast, entschuldigte sich und ging zu seinem eigenen Tisch zurück. Der Fremdenführer, der Mr. Hollin herbegleitet hatte, neigte sich zu ihm.

 

»Das war ein englischer Kriminalbeamter«, flüsterte er ihm zu.

 

Plötzlich wurde Mr. Hollin ganz nüchtern.

 

»Woher wissen Sie das?«

 

»Einer meiner Freunde hat heute morgen etwas für ihn übersetzt.«

 

Obgleich Hollin betrunken war, kam ihm der Gedanke, daß Gefahr im Verzuge sei.

 

»Ein Kriminalbeamter?« fragte er unangenehm überrascht. »Was hat denn der hier zu suchen?«

 

»Das weiß ich auch nicht. Er hat Nachforschungen nach einem Mann angestellt, der früher hier in Vigo lebte. Er ist schon seit mehreren Tagen hier.«

 

Hollin blinzelte durch den raucherfüllten Raum zu dem großen Mann hinüber, der offensichtlich in die Lektüre einer spanischen Zeitung vertieft war.

 

»Hören Sie einmal, mein Freund«, sagte er dann leise, »können Sie nicht herausbringen, wie der Kerl heißt? Ich glaube, ich kenne ihn.«

 

»Er hat einen merkwürdigen Namen – er heißt Spinner.«

 

»Zum Donnerwetter«, fluchte Hollin. »Ich wußte doch, daß ich ihn kenne!«

 

Er dachte nach, was er zu seiner Sicherheit tun konnte, soweit ihn sein geringer Verstand dazu befähigte. Schnell trank er sein großes Weinglas aus, winkte heimlich dem Kellner, zahlte seine Zeche und verließ mit dem Fremdenführer das Lokal. Er schaute noch einmal zurück und bemerkte, daß sich auch der Kriminalbeamte erhoben hatte und ihnen folgte. Er drückte dem Mann noch einen Geldschein in die Hand.

 

»Suchen Sie den Kerl in eine Unterhaltung zu verwickeln, ich muß jetzt einen Freund aufsuchen.«

 

Er lief die dunkle Straße hinunter, verirrte sich und versuchte vergeblich, auf die Hauptstraße zu kommen. Er sah sich in einem Labyrinth enger Gassen gefangen, und da er mit der Landessprache nicht vertraut war, konnte er sich nicht einmal nach dem nächsten Weg zum Hafen erkundigen. Er mußte allein sehen, wie er wieder zu seinem Boot kam.

 

Erst nach einer halben Stunde sah er endlich den Hafen und das Meer wieder vor sich. Er kam zu seiner Anlegestelle – niemand war zu sehen. Als er die kleine Steintreppe hinunterschaute, sah er sein kleines Boot auf den Wellen tanzen und atmete erleichtert auf.

 

Er wollte eben die Treppe hinuntergehen, als ihn jemand an der Schulter berührte. Er war so aufgeregt und nervös, daß er vor Furcht einen lauten Schrei ausstieß.

 

»Es ist schon gut. Ich habe hier auf Sie gewartet, um ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen«, sagte Mr. Spinner. »Möglich, daß Sie mich nicht gesehen haben.«

 

»Nein, ich habe Sie nicht gesehen«, erwiderte Hollin atemlos. »Aber ich habe jetzt zu tun, ich habe keine Zeit, ich muß zu meinem Schiff.«

 

»Wie heißt denn Ihr Schiff?«

 

»Moss Rose«, log Hollin gewandt. »Von Swansea – das ist ein Hafen in Wales.«

 

Hollin kannte überhaupt nur diesen einen Schiffsnamen.

 

»Wie, Sie sind von der ›Moss Rose‹?« fragte Spinner nachdenklich. »Ich wußte gar nicht, daß die hier im Hafen liegt.«

 

Hollin machte einen Versuch, an dem Kriminalbeamten vorbeizukommen.

 

»Ich kann nicht länger bleiben – der Captain sagte, ich müsse an Bord sein.«

 

Aber er kam nicht weiter. Eine feste Hand packte ihm am Arm und zog ihn wieder hinauf.

 

»Sie kennen mich – ich bin Polizeiinspektor Spinner von Scotland Yard. Und Sie heißen Hollin.«

 

»Mein Name ist Jackson«, rief Hollin laut. »Ich weiß nichts von Scotland Yard.«

 

»Sie heißen Hollin, und ich werde Sie jetzt der spanischen Polizei übergeben«, erwiderte Mr. Spinner geduldig. »Wo ist denn eigentlich Ihr Freund? Es hat keinen Zweck, hier Spektakel zu machen. Sie sind doch ein vernünftiger Mann, und ich will zusehen, daß Ihnen nicht viel passiert.«

 

»Ich heiße Jackson«, widersprach Hollin hartnäckig und versuchte aufs neue, sich loszureißen.

 

Da ertönte eine schrille Pfeife, und plötzlich schien der ganze Platz von Polizeibeamten belebt zu sein. Mr. Hollin sah nun ein, daß es unmöglich war, zu entkommen, und ergab sich mit Ruhe in sein Schicksal.

 

»Nehmen Sie diesen Mann in Gewahrsam, Sergeant«, sagte Spinner auf spanisch. »Halten Sie ihn fest, während ich mir das Ruderboot einmal ansehe. Gewöhnlich steht doch der Name des Schiffes darauf.«

 

Aber zu Mr. Spinners größtem Erstaunen war das Boot, das er eben noch dort hatte liegen sehen, jetzt mitten auf dem Wasser. Es trieb scheinbar ohne Insassen auf die Mitte des Hafens zu. In dem Halbdunkel konnte er den Mann nicht sehen, der ausgestreckt im Boot lag und nur seine Hände als Ruder benützte.

 

Spinner kümmerte sich nicht weiter darum, sondern überließ es der Hafenpolizei, das Boot an Land zu bringen. Merkwürdige altmodische Handfesseln wurden Hollin angelegt. Er wurde in einen Wagen gesetzt und mußte so durch die Stadt fahren. Er fluchte und bereute seine Torheit, die ihm einen so bösen Streich gespielt hatte, während er schon von Freiheit und einem luxuriösen Leben in Südamerika geträumt hatte.

 

Ohne langes Verhör, wie er es sonst gewöhnt war, wurde er in ein Rückgebäude der Hauptwache gebracht. Eine Tür öffnete sich, und er stand in einer dunklen Zelle.

 

Kapitel 14

 

14

 

»Sie haben Hollin geschnappt«, sagte John, aber seine Stimme war ruhig und unbewegt.

 

»Also doch!« rief Mr. Orford.

 

Penelope war froh, als sie die Neuigkeit erfuhr. Sie wußte ja nicht, welche Folgen dieses Ereignis nach sich ziehen konnte. Sie war damit zufrieden, daß Hollin eingesperrt war, denn sie hatte ihn schon immer als einen Verbrecher betrachtet, den Bobby Mills aus irgendeinem Grunde aus England fortbringen wollte.

 

Penelope, Orford und Bobby saßen auf dem Achterdeck, als John die peinliche Botschaft überbrachte.

 

»Was sollen wir nun tun? Sollen wir bleiben und versuchen, Hollin aus der Patsche zu ziehen, oder sollen wir auslaufen?«

 

»Ohne Ihnen vorgreifen zu wollen, Mr. Orford, wäre ich doch dafür, Hollin mitzunehmen. Bis zum Morgen sind wir hier sicher, ich kenne die Polizei von Vigo. Die Leute nehmen eine derartig unangenehme und aufregende Sache wie eine Hafenuntersuchung nicht mitten in der Nacht vor.«

 

Er erzählte jetzt alles, was er gesehen und gehört hatte, während er auf Hollin wartete.

 

»Ich war auf dem Kai, als die Polizei kam, und vermutete schon, daß sich irgend etwas ereignen würde. Ich legte mich deshalb flach ins Boot. Hollin sitzt jetzt gewiß auf der Hauptwache.«

 

»Was halten Sie denn für das beste?« fragte Bobby. »Wir können doch nicht die Zitadelle erstürmen?«

 

John schüttelte den Kopf.

 

»Das ist eine Aufgabe für einen einzelnen, und ich bin bereit, sie zu übernehmen. Ich habe mir schon alles überlegt, als ich zur Jacht zurückruderte. Sind irgendwelche Kostüme an Bord, Mr. Orford?«

 

»Ja, ein ganzer Haufen. Ich habe zweihundertsechzig Dollar Leihgebühr dafür bezahlen müssen. Aber mein Junge, Sie können doch diese schwere Aufgabe nicht allein lösen, so etwas muß doch organisiert werden –«

 

»Die Sache ist schon organisiert«, erwiderte John kurz. »Ich habe doch viele Jahre in dieser Stadt gewohnt. Die Polizei ist die ganze Nacht mit Patrouillengängen beschäftigt, und die Leute werden nicht vor sechs Uhr morgens abgelöst. Auf der Hauptwache sind nur drei Beamte, ein Offizier, ein Sergeant und ein Schließer für die Gefängniszellen. Ich weiß das ganz genau, weil ich früher einem Polizeibeamten, der künstlerische Veranlagung hatte, Unterricht im Malen und Zeichnen gab.«

 

Mr. Orford seufzte.

 

»Dann gehen Sie in Gottes Namen«, sagte er müde. »Sie haben uns in all diese Unruhe gestürzt; nun können Sie uns auch wieder herausbringen. Sie haben eigentlich die ganze Karre verfahren, mein junger Freund.«

 

Als John verschwunden war, trat eine lange Pause ein.

 

»Was hat Hollin denn eigentlich verbrochen?« fragte Penelope nach geraumer Zeit.

 

»Fragen Sie lieber, was er nicht verbrochen hat«, entgegnete Mr. Orford bitter. »Ich glaube, es gibt vom vorsätzlichen Mord bis zum einfachen Einbruch nichts, was nicht auf seinem Sündenregister stünde. Er ist ein furchtbar dummer Mensch und hat ein Gehirn wie ein steinzeitlicher Elefant!«

 

»Aber warum machen Sie denn soviel Umstände mit ihm, wenn er so schlecht ist?«

 

Das peinliche Schweigen, das ihrer Frage folgte, sagte ihr, daß sie wieder einmal eine Indiskretion begangen hatte. Sie war völlig verwirrt. Auf der einen Seite nahm John um dieses Verbrechers willen große Gefahr auf sich, auf der anderen Seite wollte niemand etwas von Hollin wissen. Es war ihr ein Rätsel wie all die anderen Vorgänge auf der ›Polyantha‹. Sie dachte wieder an die fluchtartige Fahrt durch den Kanal, an die Nachricht von dem verunglückten Flugzeug, an ihre Betäubung, an das plötzliche Erscheinen Cynthia Dorbans an Bord des Schiffes.

 

*

 

Inspektor Spinner hatte eine lange, aber nutzlose Unterredung mit Mr. Hollin in dessen Zelle. Er stellte viele Fragen, ohne eine Antwort zu bekommen, denn Hollin hüllte sich in Schweigen und sprach nur, um die Vermutungen des Polizeiinspektors in Abrede zu stellen.

 

»Ich heiße nun einmal Jackson«, sagte er wohl zum zwanzigstenmal. »Ich werde Sie wegen Ihrer ungesetzlichen Handlungsweise anzeigen! Es ist doch unerhört, daß Sie einem armen Matrosen auflauern und ihn ins Gefängnis setzen für Dinge, die er überhaupt nicht getan hat!«

 

»Ja, ich weiß schon, Sie sind ein unschuldsvoller Engel«, erwiderte Spinner müde. »Trotzdem werde ich morgen früh wiederkommen – vielleicht kann ich Ihnen dann noch einen Freund vorstellen.«

 

»Ich habe hier keine Freunde. Ich weiß gar nicht, von wem Sie immer reden.«

 

Die eiserne Gittertür fiel krachend ins Schloß. Hollin machte es sich auf seinem harten Strohsack so bequem wie möglich und schlief bald ein.

 

Draußen war es stockdunkel, der Himmel war dicht bewölkt, ein feiner Regen fiel in den Straßen, und ein kalter Wind strich durch die Stadt. Der Offizier am Schreibpult nahm seinen Mantel von der Wand und zog ihn an. Der Sergeant hatte sich schon vorher in seinen Mantel gehüllt und saß halb schlafend am Tisch. Nur das Ticken der großen Wanduhr und das Klatschen der Regentropfen gegen die Fenster unterbrach die Stille.

 

Es hatte eben ein Uhr geschlagen, als es an der Tür zur Polizeiwache leise klopfte. Der Sergeant hörte es nicht, bis er von seinem Vorgesetzten geweckt wurde.

 

»Wer ist da?« fragte er laut, denn er konnte im Dunkeln nichts sehen.

 

»Ich bin’s«, sagte eine tiefe Stimme.

 

Der Sergeant öffnete die Tür weit, und eine dunkle Gestalt, die draußen auf der Treppe gestanden hatte, trat ein, riß ihm die Klinke aus der Hand und warf die Tür donnernd zu.

 

Der Offizier erhob sich erstaunt und starrte den Besucher an – er hatte aber auch allen Grund dazu.

 

Der Eindringling war von Kopf bis Fuß in einen enganliegenden Trikot gehüllt. Darüber trug er einen langen, ärmellosen schwarzen Mantel. Eine schwarze Maske bedeckte den oberen Teil seines Gesichts, und eine lange Hahnenfeder nickte von seiner roten Kappe herab. Aber die Polizeibeamten erschraken weniger über die düstere mitternächtliche Erscheinung dieses Mephistopheles als über die Pistole, die er in der Hand hatte und auf sie richtete.

 

»Sie beide werden mich sofort zu den Zellen begleiten«, sagte der Fremde befehlend, während er sich umwandte und die äußere Tür zur Straße abschloß. »Hören Sie gut zu, meine Herren, ich schieße Sie sofort nieder, wenn einer von Ihnen versucht, um Hilfe zu rufen. Ist das klar?«

 

»Jawohl«, sagte der Offizier kleinlaut und heiser. »Aber Sie tun da etwas Schreckliches, mein Freund –«

 

»Sprechen Sie nicht, sondern machen Sie, daß Sie zu den Zellen kommen!«

 

Er drängte die beiden in den langen Gang, der dorthin führte. Hier fand er auch den Schließer, der auf einem Stuhl eingeschlafen war.

 

»Nehmen Sie seine Schlüssel, wir brauchen ihn nicht zu wecken! öffnen Sie die Tür der Zelle, in der der amerikanische Matrose schläft, und bringen Sie ihn heraus!«

 

Der Offizier nahm Haltung an, steckte die Hände tief in die Taschen und hob den Kopf widerwillig.

 

»Meinetwegen schießen Sie, aber das tue ich nicht!«

 

Als aber Mephisto ihm wirklich die Pistole bedrohlich unter die Nase hielt, machte er doch keine weiteren Schwierigkeiten.

 

Halb schlafend und halb wachend trat Hollin auf den Gang hinaus und staunte die merkwürdige Erscheinung an.

 

John schnitt schnell noch die Telefondrähte durch, dann schob er Hollin auf die Straße, schloß die Polizeistation von außen zu und warf den Schlüssel in eine Senkgrube.

 

»Lauf, so schnell du kannst, Hollin!« rief er.

 

»Ach, du bist es?« fragte Hollin atemlos. »Warum hast du denn keinen Wagen mitgebracht, daß wir zum Hafen fahren können?«

 

»Halt jetzt den Mund, du verfluchter Windbeutel!«

 

Sie gingen eilig die Straße hinunter und kamen an einem Polizeibeamten vorbei, der sich in einem Flur zusammengekauert hatte, um sich vor dem Regen zu schützen. Er erwiderte freundlich ihren Gruß.

 

Die Dämmerung brach herein, als Mr. Hollin müde auf der ›Polyantha‹ ankam. Kaum hatten seine Füße das Deck berührt, so klingelte schon der Schiffstelegraf, die Maschinen setzten sich in Bewegung, und die Jacht fuhr aus dem Hafen von Vigo hinaus.

 

»Nun zieh dich schnell um, du niederträchtiger Kerl«, sagte John, der trotz seines nassen Anzugs noch eine gute Erscheinung bot. »Du wirst eine kleine Reise mit mir machen.«

 

»Was meinst du?« fragte der andere widerwillig.

 

»Die ›Polyantha‹ wird angehalten und durchsucht werden, sowie sie von diesem kleinen Abstecher in den Hafen auf die hohe See kommt. Und ich werde dafür sorgen, daß du dann nicht an Bord bist…«

 

Hollin war froh, als er wieder in seine Kabine zurückkehren konnte, denn dort fühlte er sich sicher. Sofort nahm er wieder die beiden großen Pistolen an sich, die er hier zurückgelassen hatte, und kam dann in den Salon zurück. John hatte sich inzwischen auch umgezogen und wartete schon auf ihn. Außerdem waren noch Penelope Pitt, ein Herr und eine Dame bei ihm.

 

»Das ist ja schrecklich – ich will das Schiff nicht verlassen«, rief Cynthia mit schriller Stimme.

 

»Sie werden das tun, was man Ihnen sagt«, erwiderte John hart und rücksichtslos. »Diese Unannehmlichkeit wird nicht länger als einen Tag dauern. Wenn die Polizei an Bord der ›Polyantha‹ kommt und uns hier findet, würde ich dagegen eine viel längere unangenehme Zeit vor mir haben, Mrs. Dorban.« Er sah sie fest und durchbohrend an. »Ich vermute nicht nur, sondern ich bin sicher, daß Sie beide für die Tragödie meines Lebens verantwortlich sind. Ich weiß zwar nicht, wie Sie es angefangen haben, aber es wird Ihnen noch alles nachgewiesen werden, und der Tag der Vergeltung wird kommen. Wenigstens Ihre Beweggründe kenne ich. Ob Sie hinter dem ganzen Plan stecken, der mich in die Hölle verdammte, muß erst noch genau festgestellt werden. Sie werden verstehen, daß ich vor nichts zurückschrecke und so unnachsichtig mit Ihnen verfahre, wie Sie es verdienen.«

 

Er schwieg eine Weile und schaute Cynthia an, dann wanderte sein Blick zu Arthur Dorban und von diesem zu Hollin.

 

»Bevor die ›Polyantha‹ das offene Meer erreicht, wird sie anhalten, und wir werden an Land fahren. Ich kenne eine einsame Höhle an der Küste, die nur von See aus zugänglich ist. Ich habe als Kind oft dort gespielt. Wir müssen vierundzwanzig Stunden dort zubringen, es kann auch etwas länger sein. Die ›Polyantha‹ wird uns dann zu gegebener Zeit wieder aufnehmen. Es ist ganz sicher, daß die Jacht angehalten und durchsucht wird – und niemand von uns darf dann an Bord gefunden werden, verstehen Sie mich, Hollin?« Seine Blicke fielen jetzt auf die Pistolen, und er lächelte schwach. Dann winkte er Penelope zu sich und ging mit ihr nach oben. »Es tut mir leid, daß ich auch Ihnen diese Mühe machen muß, Miss Pitt. Nachdem wir Sie vorher schon so schlecht behandelt haben, sollten wir Ihnen wenigstens jetzt keine Unannehmlichkeiten mehr bereiten. Aber dieser kleine Abstecher ist wirklich nicht so schlimm, wie er unseren Freunden in den frühen Morgenstunden erscheint. Die Höhle ist völlig wasserdicht, und es ist ein entzückender Platz. Wir nehmen auch genügend Lebensmittel mit.«

 

Penelope hatte gespannt zugehört.

 

»Ich bin ja gar nicht böse deshalb, John. Ich nenne Sie noch so, obgleich ich nun bestimmt weiß, daß Sie anders heißen. Aber wollen Sie mich nicht: ein wenig ins Vertrauen ziehen und mir erklären, was all diese geheimnisvollen Dinge zu bedeuten haben?«

 

»Ich vertraue Ihnen voll und ganz, und eines Tages werde ich Ihnen alles erzählen.«

 

Es war eigentlich kein Grund vorhanden, zu erröten, aber sie fühlte sich durch diese Worte sehr beglückt. Sie war verwirrt, und zum erstenmal in ihrem Leben war sie sich selbst ein Rätsel. Gleich darauf war sie wieder ärgerlich über sich. Warum gefiel es ihr denn so gut, daß er ihr vertraute?

 

Sie war aber doch in guter Stimmung, als sie etwas später, in einen schweren Mantel gehüllt, das Fallreep hinunterkletterte und in das Motorboot stieg.

 

Cynthia und Arthur Dorban hatten sich schon vorne niedergelassen. Sie waren in schlechter Laune. Hollin, der mit seinen Waffen prunkte, hatte hinten den besten Sitz eingenommen, aber John wies ihn mit scharfen Worten an, dort für Penelope Platz zu machen.

 

»Ist alles in Ordnung?« schallte Orfords laute Stimme vom Deck hinunter.

 

»Ja«, rief John von unten zurück.

 

Gleich darauf stieß das Boot – gefährlich überlastet, wie John wohl wußte – zur Küste ab.

 

John ließ den Kiel des Bootes auf dem flachen Ufer auflaufen, und die Passagiere mußten, so gut es ging, durch das seichte Wasser waten. Nur Penelope wurde von John ans Land getragen.

 

»Es ist gut, Simson«, sagte er zu dem Mann, der das Boot wieder zurückzubringen hatte. »Sie können jetzt abfahren.«

 

»Viel Glück«, entgegnete der Matrose.

 

Kapitel 1

 

1

 

Der kanadische Expreß stand abfahrtbereit in der Halle des Bahnhofs von Edmonton. Ein freundlicher älterer Herr sah zu einem der geöffneten Fenster hinauf.

 

»Penelope, ich habe einen sehr guten Freund in London. Wenn Sie jemals Hilfe brauchen sollten, so wenden Sie sich an ihn. Er wird Ihnen in jeder Lage beistehen. Das heißt, ich hoffe, daß er noch in London ist, obwohl ich monatelang keine Nachricht von ihm bekommen habe.«

 

Penelope Pitt trocknete ihre Augen mit einem zerdrückten Tüchlein, das vor kurzer Zeit noch ein schönes Damentaschentuch gewesen war. Sie versuchte zu lächeln.

 

»Ach, ich bin ja so kindisch, jetzt zu heulen«, sagte sie. »Dabei hasse ich Edmonton doch und bin glücklich, daß ich von hier fortkomme. Außer Ihnen ist niemand hier, den ich auch nur im mindesten gern hätte. Außerdem werde ich ja doch niemals nach London kommen. Wahrscheinlich nehme ich irgendwo hier in Kanada eine Stellung an.«

 

»Sie haben doch eine Karte nach Toronto«, sagte der praktische alte Herr. »Es gibt mehrere kleine Städte dort in der Nähe, wo Sie Ihr Glück versuchen können. Kootney ist zum Beispiel ein Platz, an dem Sie Aussichten hätten – hier schnell, nehmen Sie diesen Brief!«

 

Das Abfahrtssignal war gegeben worden.

 

»Er heißt Orford, James X. Orford. Wir gingen zusammen in die Schule. Und, Penelope, Sie schreiben mir doch, sobald Sie etwas gefunden haben?«

 

Sie warf dem weißhaarigen Herrn noch eine Kußhand zu, als der Zug den Bahnhof verließ. Das Rattern und Poltern der Räder übertönte ihr Schluchzen.

 

Das große Abenteuer hatte nun begonnen.

 

Als sie sich etwas gefaßt hatte und nun auf ihrem Platz saß, dachte sie zum x-ten Male, wie schwächlich es doch sei, sich so aufzuführen. Die Dame ihr gegenüber beobachtete sie mit ruhigen, unaufdringlichen Blicken. Penelope hatte sie vorhin schon im Seitengang gesehen und bewundert. Selbst der alte Richter Heron, der sie zur Bahn begleitet hatte, hatte seine Abschiedsworte unterbrochen, um das intelligente Gesicht und die aristokratische Haltung dieser schlanken Frau zu betrachten.

 

»Fahren Sie weit?« fragte sie nun. Die Stimme der Fremden war weich und klangvoll. Sie sprach etwas langgezogen, und Penelope vermutete, eine Engländerin vor sich zu haben.

 

»Ich fahre nach Toronto. Meine Pläne sind noch nicht – ja, ich fahre nach Toronto.«

 

»Sie hassen Edmonton auch? Ich kann diesen Ort nicht ausstehen. Es ist dort alles so wenig kultiviert. In allen Häusern riecht es nach frischem Holz – und erst die Hotels! Sie sind furchtbar teuer, ohne den geringsten Komfort zu bieten.«

 

Penelope haßte Edmonton keineswegs, obwohl sie das manchmal behauptete. Im Grunde liebte sie die Stadt sogar. Sie war in England geboren, aber Edmonton war ihre eigentliche Heimat, und es gab in diesem Augenblick keinen Weg, kein Haus und keinen Stein dort, an dem sie nicht gehangen hätte. Jetzt, da sie der rollende, dröhnende Expreß immer weiter fortbrachte, war ihr alles doppelt lieb und teuer. Sie haßte nicht einmal mehr den Kaufmann, dessen Sekretärin sie gewesen war, obwohl dieser nicht mehr allzu junge Herr sich bis über die Ohren in sie verliebt hatte. Seine Leidenschaft für sie war so weit gegangen, daß er seine Stellung, sein Haus und seine Familie aufgeben wollte, wenn sie nur mit ihm fliehen würde. Und dabei hatte er eine Tochter, die ebenso alt war wie sie. Aber seine Frau hatte beim Staubwischen im Schreibtisch ihres Mannes das Konzept seines Abschiedsbriefes gefunden. Ihr Chef hatte tatsächlich geglaubt, daß sie seinen Antrag annehmen würde, und in dem Schreiben rührenden Abschied von seiner Frau und seiner Familie genommen. Er führte genau auf, was er schon alles für ihren Unterhalt getan habe und was er noch tun wolle.

 

Penelopes Gleichmut war schon genügend erschüttert gewesen durch die Entdeckung, welchen Eindruck ihre grauen Augen auf ihren wenig anziehenden kahlköpfigen Chef gemacht hatten, aber sie mußte nun auch noch den Zornesausbruch seiner Frau über sich ergehen lassen. Nach der Auseinandersetzung war sie ganz verwirrt und schauderte vor all den Vorwürfen und Beleidigungen, mit denen die erbitterte Frau nicht gespart hatte.

 

»Ich muß Ihnen gestehen, daß ich Edmonton eigentlich nicht hasse«, erklärte sie der Fremden. »Die Stadt ist mir lieb, nur – nun, ich bin froh, daß ich fortkomme.«

 

»Wollen Sie eine Reise nach England machen?«

 

»Das war eine meiner phantastischen Ideen«, erwiderte Penelope, und ihre Lippen zuckten. »Ich könnte ebensogut eine Reise zu den Plejaden planen.«

 

Die Dame runzelte die Stirn.

 

»Wohin?«

 

»Ich meine zu dem Sternbild«, erklärte das Mädchen.

 

Ihre Reisegefährtin nickte. Sie war wirklich hübsch. Ihre großen, braunen Augen waren von einer so dunklen Farbe, daß sie fast schwarz erschienen. Sie mochte achtundzwanzig Jahre alt sein, vielleicht war sie auch jünger. Ihre klassisch schönen Züge faszinierten Penelope, und nur etwas störte sie. Es war der gerade Mund mit den feinen und etwas zu dünnen Lippen. Das war aber auch der einzige Fehler, den sie entdecken konnte. Penelope selbst war auch schön, aber in einer ganz anderen Art. Sie hatte ein offenes, freies Wesen, war lebhaft und lebendig, ein Kind der Prärie, von der Sonne gebräunt. Ihre Haltung war aufrecht und frei, ihre Haut sammetweich und makellos.

 

Die andere Dame mußte man dagegen zierlich und hübsch nennen; man hätte sie mit kostbarem, zartem Porzellan vergleichen können. Sie hatte etwas von der Geschmeidigkeit feiner, eleganter Kätzchen.

 

Penelope schlief in dieser Nacht in dem Bett über ihr. Sie hätte zu gern gewußt, wer diese fremde Dame war. Sie mußte ihre Gedanken auf andere Dinge richten, sonst hätte sie weinen müssen, weil sie sich so elend und verlassen fühlte. Das dauernde, gleichmäßige Stoßen der Wagen, das die anderen Passagiere in den Schlaf wiegte, hatte gerade die entgegengesetzte Wirkung auf sie. Sie war vollkommen wach. Immer wieder erinnerte sie sich an ihr trauriges Erlebnis; dann wieder dachte sie an die Frau, die unter ihr lag. Aus den Nachbarabteilen drang das Schnarchen der Schläfer. Der Lokomotivführer kam ihr in den Sinn, der auf der Plattform der Maschine stehen mußte.

 

Allmählich fiel sie in einen leichten Halbschlaf, aber plötzlich erwachte sie wieder. Sie schaute hinunter und sah in das blasse Gesicht ihrer Reisegefährtin, die vor sich hinstarrte.

 

»Ist etwas passiert – sind Sie krank?« fragte Penelope und richtete sich im Bett auf.

 

Die Dame antwortete nicht. Sie stand zwischen den Vorhängen und hielt sich mit den Händen an dem Bett fest.

 

Als Penelope hinuntersteigen wollte, hörte sie ein Flüstern.

 

»Wenn er nur nicht: stirbt! Hast du auch daran gedacht, Arthur? Wenn er nur nicht stirbt, oder wenn Whiplow nicht schweigt!«

 

Die Fremde schlief und war doch wach. Penelope war sofort an ihrer Seite. Sie gab sich alle Mühe, sie wieder zu Bett zu bringen, und es gelang ihr schließlich auch. Ein paar Minuten später schlief die Fremde wieder ruhig.

 

Als Penelope ihr das Kissen zurechtschob, fiel eine flache Lederhandtasche auf den Boden und öffnete sich. Das Mädchen sah die kleine Fotografie eines hübschen jungen Mannes und vermutete, daß es Arthur war.

 

*

 

»Ich habe im Schlaf gesprochen? Wie sonderbar! Was habe ich denn gesagt?«

 

Penelope hatte es ihr während des Frühstücks im Speisewagen erzählt.

 

»Nicht viel. Ich erschrak so sehr, als ich Sie sah, daß ich kaum verstand, was Sie sagten. Sie sprachen mit einem Arthur und erwähnten jemand, der sterben sollte, ich glaube Whiplow war der Name.«

 

Die Dame sah sie ernst an.

 

»Den Namen kenne ich ja gar nicht. Und ich habe auch früher nie einen Anfall von Schlafwandel gehabt. Wahrscheinlich war ich ein wenig übermüdet. Arthur? Das kann ich Ihnen erklären. Er ist mein Mann. Ich bin Mrs. Arthur Dorban – Cynthia Dorban. Ich dachte, ich hätte es Ihnen gestern abend schon mitgeteilt? Wie merkwürdig!«

 

Mrs. Dorban machte keinen Versuch, noch näher auf dieses Thema einzugehen.

 

Sie erzählte Penelope, daß sie nach einem zweitägigen Aufenthalt in Toronto nach Quebec weiterfahren wollte. Auch Penelope schenkte ihr nun Vertrauen, soweit eine natürliche Vorsicht ihr das gestattete. Unter keinen Umständen hätte sie ihr Abenteuer mit dem Kaufmann erwähnt.

 

Mrs. Dorban hörte ihr nachdenklich zu.

 

»Haben Sie noch keine neue Stellung? Auch keine Freunde im Osten Kanadas? Was sagten Sie eigentlich dem älteren Herrn? Wollen Sie wirklich nach England gehen?«

 

Penelope schüttelte lachend den Kopf.

 

»Das war ein verrückter Plan – einer meiner unerfüllbaren Träume. Ich möchte es natürlich gern; ich bin nämlich in London geboren und habe schon immer Sehnsucht nach Europa gehabt, aber ich werde wohl niemals dazu kommen, eine solche Reise zu machen.«

 

Eine lange Pause trat ein. Der Zug fuhr durch unübersehbare Weizenfelder, die wie ein Meer wogender Wellen anzusehen waren. So weit das Auge reichte, wiegte sich das goldgelbe Getreide im Wind.

 

»Haben Sie in Edmonton englische Zeitungen gelesen?«

 

Penelope verneinte.

 

»Es tut mir leid, daß ich mich um die Zustände in England gar nicht gekümmert habe. Ich weiß wohl, wer zur Zeit Premierminister ist und was für Auseinandersetzungen die Gemüter erregen, aber sonst –«

 

Mrs. Dorban erzählte nun von ihrem Heim in Devonshire, von dem prachtvollen Garten am Kliff, den herrlichen Kiefern und dem wilden, goldgelben Ginster, die auf dem Abhang wuchsen, der sich bis zu den Dünen von Borcombe hinzog. Einmal erwähnte sie zufällig auch einen Namen, den Penelope kannte.

 

»Lord Rivertor? O ja, er hatte eine Farm in der Nähe der unsrigen. Das heißt, es war die Farm, die mein Vater hatte, bevor wir nach Edmonton kamen. Ich habe dort den größten Teil meines Lebens zugebracht. Aber ich habe Lord Rivertor niemals gesehen. Er starb doch im vorigen Jahr?«

 

»Ich glaube.«

 

Mrs. Dorban schien sich nicht weiter für den verstorbenen Earl zu interessieren. Sie wechselte das Thema plötzlich und sprach über den Wert von Ländereien und Farmen im Westen. Penelope wußte hierüber sehr genau Bescheid, denn ihr früherer Chef hatte erfolgreich mit Grundstücken spekuliert, und sie hatte seine ganze Korrespondenz hierüber geführt.

 

*

 

Zwei Tage später, als der Zug noch eine Stunde von Toronto entfernt war, machte Cynthia Dorban einen unerwarteten Vorschlag.

 

Penelope hörte erstaunt zu und wollte ihren Ohren nicht trauen.

 

»Aber – oh, das wäre ja wundervoll! Glauben Sie, daß Mr. Dorban seine Zustimmung geben wird?«

 

»Er hat schon zugestimmt«, antwortete Cynthia lächelnd. »Ich habe ihm von Winnipeg aus telegrafiert und die Antwort bereits in Fort William erhalten. Er ist ganz damit einverstanden, denn er kann englische Sekretärinnen nicht recht leiden. Also, Sie haben jetzt eine Stellung, Penelope. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie mit Ihrem Vornamen anrede? Sie können mich auch Cynthia nennen, das ist mir lieber. Sehr abwechslungsreich wird es bei uns ja nicht sein, denn im Augenblick sind wir auf dem Lande begraben –«

 

»Ich bin noch ganz außer mir vor Freude. Natürlich nehme ich Ihr Angebot an – das ist die Erfüllung meines Traumes!«

 

Der Kanadische Expreß verlangsamte seine Geschwindigkeit, als er in Toronto einfuhr. Penelope wurde sich allmählich darüber klar, daß sie sich in achtundvierzig Stunden schon nach England einschiffen würde.

 

Kapitel 10

 

10

 

Der zweite Tag auf der ›Polyantha‹ begann grau und kalt, die See war nicht mehr spiegelglatt, und es regnete in fast regelmäßigen Zwischenräumen.

 

Penelope war froh, daß sie wenigstens eine Wolljacke hatte. Auch den Schiffsmantel, den John ihr brachte, nahm sie dankbar an. Sie erlaubte ihm sogar, die Ärmel aufzurollen und ihn bis unter das Kinn zuzuknöpfen.

 

»Es ist der kleinste Mantel, den wir an Bord haben«, erklärte er. »Ich glaube, er gehört Bobby Mills.«

 

»Aber Sie nennen ihn doch nicht Bobby in seiner Gegenwart?« fragte sie interessiert.

 

»Ich nenne ihn in seiner Gegenwart überhaupt nicht«, erwiderte er kühl. »Das ist nun zufällig einmal sein Name, und ich kann hier an Bord nicht alle Leute mit Mister anreden. Außerdem paßt dieser Name außerordentlich gut für ihn. Er ist der feinste Kerl auf der Erde, so ehrlich wie ein alter Seehund –«

 

»Sie scheinen ihn ja sehr gut zu kennen.«

 

»Ich weiß sehr viel von ihm – jeder kennt Stamford Mills dem Namen nach, selbst so ein kleiner Student aus Aberdeen wie ich. Sind wir uns nun darüber einig, daß ich diese Rolle spiele?«

 

»Nein, darüber sind wir uns noch nicht einig«, sagte sie ernst.

 

»Auch gut. Was wünschen Sie zum Frühstück? Wir haben Eier und Schinken und Schinken und Eier. Sie können auch Koteletts auf französische oder amerikanische Art haben. Dann steht Hummer in Büchsen zur Verfügung; soviel ich weiß, ist das ein Lieblingsgericht von Leuten aus Edmonton –«

 

»Woher wissen Sie denn, daß ich aus Edmonton komme?« fragte sie argwöhnisch.

 

»Das haben Sie mir doch selbst gesagt«, antwortete er, nicht im mindesten verblüfft. »Als ich Sie neulich zu Bett brachte, haben Sie im Schlaf gesprochen.«

 

»John«, sagte Penelope ärgerlich. »Sie sind unfein.«

 

Diese ganze Unterhaltung wurde durch eine kleine Türspalte geführt.

 

Penelope machte sich später klar, daß es sich nicht für sie schickte, mit einem Matrosen zu flirten. Im Grunde war es natürlich gar kein Flirt, aber die anderen hätten es dafür halten können. Freilich war es schwer, John wie einen gewöhnlichen Seemann zu behandeln. Es gab jedoch keinen Grund, warum sie höflicher und liebenswürdiger hätte sein sollen, als es die gewöhnlichen Umgangsformen verlangten. Sie nahm sich fest vor, von jetzt ab dem Steward gegenüber eine gelassene und ruhige Haltung zur Schau zu tragen.

 

Allerdings lag es nicht in ihrer Natur, kalt und abweisend zu sein, und sie konnte ihn auch nicht vor den Kopf stoßen. Aber wenn sie sich ihm gegenüber nicht anders einstellte, würde sich wohl wenig an ihrem jetzigen Verhältnis ändern. Außerdem war die Tatsache, daß John der einzige an Bord war, von dem sie wenigstens einige Informationen erhielt, ihrem Wunsch sehr hinderlich. Sie wußte gefühlsmäßig, daß Mr. Orford nicht gerade gut auf sie zu sprechen war. Er zeigte zwar keine direkt feindliche Gesinnung, aber sein Benehmen zeugte auch nicht von begeisterter Freundschaft. Aus irgendeinem Grunde hatte ihr Erscheinen auf der ›Polyantha‹ einen sorgfältig vorbereiteten Plan gestört. Sie dachte lange darüber nach, welcher Art dieser Plan wohl sein könnte, aber sie fand keine Lösung. Die Fahrt dieser Jacht hatte nicht den Charakter einer Vergnügungsreise – das war klar. Es lag über allem etwas Geheimnisvolles und Düsteres. Sie hatte zwar weder den dicken Bobby Mills noch den guten Mr. Orford in Verdacht, daß sie irgendein Verbrechen begangen hatten, und doch – warum stahlen sie sich so heimlich durch den Kanal? Warum änderte das Schiff dauernd den Kurs, warum wurden alle Lichter gelöscht? Was war mit Hollin, diesem unangenehmen Menschen, der ewig Zigarren rauchte? Und was hatte seine Kappe mit der ganzen Sache zu tun?

 

Sie legte die Hand auf ihre klopfenden Schläfen. Je länger sie darüber nachdachte, desto unheimlicher und verwirrender erschien ihr die ganze Situation. Die Schwierigkeit ihrer eigenen Lage drückte sie nicht so sehr, sie war ja völlig unabhängig, ihre Zeit gehörte ihr, und es machte ihr wenig aus, ob die ›Polyantha‹ zu den Südsee-Inseln oder zum Nördlichen Eismeer fuhr. Und trotz der sonderbaren Zustände auf der Jacht fühlte sie sich hier sicher.

 

Sie erinnerte sich an die Seegeschichten, die sie in ihrer Jugend gelesen hatte. Vielleicht war die ›Polyantha‹ auf einer Entdeckungsfahrt, um geheime Schätze zu heben, oder sie hatte geschmuggelte Waffen an Bord. Sie dachte darüber nach, welches Land sich wohl im Kriegszustand befände und die Dienste des Schiffes in dieser Weise in Anspruch nehmen könnte.

 

John servierte ihr das Mittagessen und war zum erstenmal recht schweigsam.

 

Penelope war darüber etwas beunruhigt, denn sie hätte gerne verschiedenes gefragt. Aber erst als er das Geschirr abräumte, schien er sich in ein Gespräch einlassen zu wollen.

 

»Wir bekommen bald gutes Wetter«, sagte er plötzlich ohne irgendwelchen Zusammenhang.

 

Sie schaute durch das offene Kabinenfenster. Der Himmel und die See waren gleichmäßig grau, und ein Schleier von Regenwolken zog sich am westlichen Horizont hin.

 

»Werden wir nicht irgendeinen Hafen anlaufen, bevor wir in die Südsee kommen?«

 

Er blieb mit dem Tablett in der Hand stehen.

 

»Habe ich gesagt, daß wir in die Südsee fahren? Wenn ich das getan habe, war es ein Scherz. Ich weiß überhaupt nicht, wohin die Fahrt geht. Sicher müssen wir irgendwo anlaufen. Ich weiß aber nicht, welche Dispositionen der Captain getroffen hat. Ich habe mich noch nicht darum gekümmert.«

 

»Fürchten Sie denn gar nicht, daß Sie etwas zu spät zum Beginn Ihrer Vorlesungen kommen?« fragte sie ironisch.

 

Er lächelte.

 

»Ich glaube, man wird den Semesterbeginn bis zu meiner Rückkehr verschieben.«

 

»John!«

 

Er war schon an der Tür, setzte das Tablett draußen auf das Deck und kam in die Kabine zurück.

 

»Kennen Sie das Geheimnis der ›Polyantha‹?«

 

»Das einzig Geheimnisvolle an Bord sind Sie. Alle Frauen sind mehr oder weniger mysteriös –«

 

»Nun seien Sie doch vernünftig!« rief sie ungeduldig. »Warum stehlen wir uns so heimlich von England fort? Diese Reise ist wirklich merkwürdig.«

 

»Ist Ihnen das so unangenehm?« fragte er schnell.

 

Sie überlegte.

 

»Eigentlich nicht, aber es fällt mir doch auf. Ich möchte nicht gern im unklaren darüber sein; ich bin nämlich ein wenig in Unruhe wegen Mrs. – wegen einer Dame.«

 

»Ach, Sie meinen die Dame, die Sie aus dem Motorboot werfen wollte. Sie brauchen sich ihretwegen keine Sorgen zu machen. Das liebe Kind lebt und wehrt sich ganz gewaltig«, sagte er grimmig.

 

»Woher wissen Sie denn das?« fragte sie erstaunt.

 

»Sie sind als tot gemeldet worden«, erwiderte John nachdenklich. »Das Motorboot wurde mitten im Meer aufgegriffen, das heißt fünfundzwanzig Meilen von Spithead entfernt. Ich vermute, daß Mrs. Dorban irgendeine Geschichte über einen Unglücksfall erfunden hat, durch den Sie beide ins Wasser fielen. Es ist übrigens keinesfalls verwunderlich, daß ich das alles weiß«, sagte er lächelnd. »Wir haben nämlich eine ausführliche Funkmeldung über die Tragödie erhalten. Es erscheint mir nur so merkwürdig, warum man ausgerechnet Sie töten wollte.«

 

Aber Penelope schwieg sich über diesen Punkt aus.

 

»Besprechen Sie eigentlich diese ganzen Angelegenheiten mit dem Captain?«

 

»Sie sind schon wieder ironisch!« sagte John traurig. »Das kann ich nicht vertragen. Wir arme, einfache Matrosen hören doch eine ganze Menge, wenn wir die Ohren spitzen.«

 

Damit ging er hinaus. Später sah Penelope, daß er an Deck Messingteile putzte, in der nachlässigen, langweiligen Art, wie Matrosen ihre Arbeit verrichten.

 

Er war leicht gekleidet und trug nur Hemd und Hose. Das Wetter hatte sich tatsächlich geändert, wie er vorausgesagt hatte, und es war heiß an Deck, denn sie fuhren mit dem Wind. John hatte die Hemdsärmel aufgerollt, und sie sah seine starken braunen, muskulösen Arme. Plötzlich legte er sein ganzes Putzmaterial in einen Kasten und verschwand.

 

Sie ging hinter ihm her und schaute auf das Deck hinunter, wo der unvermeidliche Hollin mit seiner Zigarre saß. John war nicht mehr zu sehen, und sie war ein wenig bedrückt darüber.

 

Mr. Orford schlief unter seinem Schirm, Bobby saß an Deck und spielte irgendein Geduldsspiel, Dr. Fraser las in einem dicken Buch. Niemand unterhielt sich mit ihr. Der Schiffsarzt schaute von seinem Buch auf, als sie vorbeikam, und einer der Offiziere, den sie für den Steuermann hielt, ging ihr aus dem Weg. Zum erstenmal fühlte sie sich sehr verlassen.

 

Eine halbe Stunde später ging sie zum äußersten Ende des Schiffes, wo sich ihr ein ungewöhnlicher Anblick bot.

 

John saß auf einem kleinen Klappstuhl, und auf seinen Knien lag ein großer Malkasten, dessen zurückgeschlagener Deckel ihm als Staffelei diente. Er hatte innen ein Blatt Papier angeheftet, das er eifrig bemalte. Sie sah ihm entzückt zu. Die graugrünen Wellen der See und die zarten goldgelben Töne des westlichen Himmels gewannen unter seinem flinken Pinsel rasch Umriß und Leben.

 

Er hatte seinen Stuhl auf das Dach der vorderen Ladeluke gestellt, von wo aus man einen guten Ausblick auf das Meer hatte, und er war so in seine Arbeit vertieft, daß er Penelope erst bemerkte, als ihr Schatten auf ihn fiel. Halb schuldbewußt und halb verlegen drehte er sich um und schaute zu ihr auf.

 

»Ja, für eine Zehnminutenskizze ist es nicht gerade schlecht geworden«, sagte er, als er ihrem begeisterten Blick begegnete.

 

»Sie sind ja ein Künstler, John!«

 

Er legte seinen Pinsel fort und schloß den Kasten.

 

»Ich bin ein Amateur, ein armer Stümper. Leute wie wir müssen auch ihr Vergnügen haben, ebensogut wie die Reichen –«

 

»Zum Teufel noch einmal!«

 

Mr. Orford war herbeigekommen, und Penelope sah, daß er sehr ärgerlich war.

 

»Zum Donnerwetter, was machen Sie denn da schon wieder! Der nichtsnutzige Schlingel malt! Habe ich Ihnen denn nicht gesagt …« Mr. Orford war wirklich zornig.

 

John wurde tiefrot. Aber zu ihrem größten Erstaunen antwortete er nicht, als der große Mann die Treppe herunterkam. Der Steward sah aus wie ein ertappter Schuljunge, den man beim Obstdiebstahl in einem fremden Garten abgefaßt hat.

 

»Habe ich Ihnen nicht hundertmal gesagt, Sie dürften nicht malen?« fuhr ihn Mr. Orford wütend an. »Wozu soll denn das nützen?«

 

»Es tut mir sehr leid, Mr. Orford«, erwiderte John kleinlaut. »Es war gedankenlos von mir.«

 

Mr. Orford fuchtelte verzweifelt mit den Händen in der Luft herum.

 

»Es wird noch eine Katastrophe geben«, sagte er düster. »In meinem ganzen Leben ist noch keine Sache schlechter gegangen!«

 

Er polterte und fluchte, als er wieder nach oben ging. John sah Penelope lächelnd an, und es lag ein verschmitzter Ausdruck in seinen Augen.

 

»Da sehen Sie nun, was Sie angerichtet haben!«

 

»Was ich angerichtet habe?« rief sie entrüstet. »Ich habe doch nicht gemalt! Aber meiner Ansicht nach ist es nicht recht, daß Sie sich in Ihrer freien Zeit nicht mit Malen beschäftigen dürfen, wenn Sie es doch so gerne tun.«

 

»Ich habe überhaupt keine freie Zeit. Ich habe vierundzwanzig Stunden Dienst am Tage. Entschuldigen Sie mich, ich muß jetzt versuchen, den dicken Mann wieder zu beruhigen.«

 

Die Sonne neigte sich schon zum Horizont, als Penelope fern im Süden ein Schiff auftauchen sah, das direkt auf sie zuzufahren schien. Mr. Orford, der Captain und Bobby Mills sprachen lebhaft und ernst miteinander. Kurz darauf trat auch der Doktor zu ihnen. Plötzlich trennte sich Dr. Fraser von der Gruppe und ging auf Penelope zu.

 

»Guten Abend, Miss Pitt«, sagte er und sah sie prüfend an. »Es scheint Ihnen nicht sehr gut zu gehen.«

 

Er selbst fühlte sich anscheinend auch nicht wohl, denn sein Gesicht sah blaß aus, und seine Hände zitterten.

 

»Ich bin so gesund wie immer«, erwiderte sie erstaunt.

 

»Ich glaube nicht, daß das der Fall ist. Vielleicht haben Sie zu lange in der Sonne gesessen, und es ist so etwas wie ein Sonnenstich?« Er trat näher an sie heran und sah ihr in die Augen. »Ja, es geht Ihnen nicht gut. Sie müssen sich sofort zu Bett legen.«

 

Sie starrte ihn entsetzt; an.

 

»Aber es geht mir doch wirklich gut!«

 

»Das bilden Sie sich nur ein«, entgegnete er liebenswürdig. »Bitte, folgen Sie meinen Anordnungen.«

 

»Ich soll – mich zu Bett legen?«

 

Er nickte.

 

»Wenn Sie sich gelegt haben, werde ich kommen und Ihnen ein Medikament geben.«

 

»Aber das ist doch lächerlich!« rief sie aufsässig. »Ich sehe wirklich nicht ein, warum ich das tun soll, wenn ich mich gesund fühle –«

 

»Wollen Sie jetzt endlich tun, was ich Ihnen sage, Miss Pitt?« Diesmal war seine Stimme hart und scharf, und sie erkannte, daß ihre Gesundheit nichts mit seiner merkwürdigen Forderung zu tun hatte.

 

Sich zu widersetzen war nutzlos, da sie diesen Männern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war. Trotzdem fürchtete sie sich nicht.

 

»Nun gut. Ich halte es zwar für ganz unnötig, da Sie es aber verlangen, werde ich es tun.«

 

Als sie im Bett lag, hätte sie über diese sonderbare Situation lachen können, wenn nicht ihr Unmut so groß gewesen wäre.

 

Der Schiffsarzt kam herein. Er hielt ein Glas in der Hand, das halb mit einer milchigweißen Flüssigkeit gefüllt war.

 

»Trinken Sie das aus!«

 

»Aber sagen Sie mir doch im Ernst, Doktor – glauben Sie wirklich, daß ich einen Sonnenstich habe? Ich kann Ihnen versichern, daß ich niemals einen klareren Kopf hatte!«

 

»Trinken Sie jetzt das Medikament!« erwiderte der Schiffsarzt barsch.

 

Sie gehorchte und schnitt ein Gesicht, als sie es hinunterschluckte, denn es schmeckte sehr bitter. Sie schüttelte sich, und der Doktor lächelte. Es war das erstemal, daß sie das sah.

 

»Wie, es war nicht gut? Aber Sie werden sich sehr wohl danach fühlen. Das Medikament hat keinerlei Nachwirkungen. Das ist der große Vorteil dieses Trankes.«

 

Schon seine letzten Worte schienen Penelope aus weiter Ferne zu kommen, und sie fühlte eine angenehme Müdigkeit.

 

Kapitel 8

 

8

 

Weder Leslie noch Billy sprachen, und ich selbst zitterte heftig. Erst jetzt kam mir zum Bewußtsein, daß ich eine schwere Zeit durchgemacht hatte und den Erholungsurlaub wirklich dringend brauchte. Leslie riß das Löschpapier von der Schreibunterlage und legte es auf den Teppich, denn das Blut begann von der Tischplatte auf den Boden zu tropfen. Billington wandte sich an Mary Ferrera und nahm ihr den Revolver aus der Hand. Es war, als ob sie erst jetzt erwachte und die volle Wirklichkeit erfaßte. Zitternd klammerte sie sich an ihn.

 

»Er hat mich geküßt«, stöhnte sie, »er wollte mich festhalten … ich drehte das Licht aus, um ihm auszuweichen. Schreien wollte ich nicht. Ich hoffte, ich könnte durch die Tür auf den Gang hinausschlüpfen, aber sie war verschlossen.«

 

»Ja, ja«, tröstete Billy sie. Er war so sorgsam mit ihr wie eine Mutter, streichelte und beruhigte sie und winkte mir dann.

 

»Bringen Sie Miss Mary fort. Gehen Sie mit ihr nach unten und besorgen Sie ein Taxi für sie.«

 

Ich zögerte nur einen Augenblick.

 

»Begleiten Sie sie nicht nach Hause«, warnte er. mich. »Setzen Sie sie nur in ein Auto und sagen Sie dem Chauffeur, daß er sie nach Brixton fahren soll. Dann kommen Sie zurück, ich brauche Sie hier dringend. Mary, nehmen Sie sich jetzt zusammen«, sagte er fast bittend und nahm ihr Gesicht in beide Hände.

 

Ich dachte schon, er würde sie küssen, aber er sah sie nur liebevoll an.

 

»Sie dürfen unter keinen Umständen sagen, was hier geschehen ist, haben Sie das verstanden? Sie sind überhaupt nicht hier gewesen. Keinem Menschen erzählen Sie, daß Sie heute abend in mein Büro kamen.«

 

»Aber – aber …«, begann sie.

 

»Sie müssen alles tun, was ich Ihnen sage.«

 

»Ist er tot?« fragte sie leise. »Ich habe ihn nicht –«

 

»Nein, nein«, beruhigte er sie wieder. »Er ist nicht tot.«

 

Er glaubte zu lügen, aber er sprach die Wahrheit.

 

Ich brachte Mary nach unten und wartete auf dem letzten Treppenpodest, bis sie sich gesammelt hatte. Erst dann rief ich ein Taxi und versprach ihr, sie am nächsten Morgen aufzusuchen.

 

Ich selbst befand mich in einer entsetzlichen Lage. Ich war doch vor allem Polizeibeamter, und nun half ich einer Frau bei der Flucht, die allem Anschein nach einen Mann niedergeschossen hatte. Das durfte ich nicht einmal tun, wenn sie in Selbstverteidigung gehandelt hatte. Aber merkwürdigerweise war es mir im Augenblick fast gleichgültig, daß ich alle Diensteide brach, die ich jemals geschworen hatte. Dagegen war ich sehr besorgt um Billy, denn ich wußte, was er vorhatte. Als ich in das Zimmer zurückkam, war Leslie dabei, Dawkes‘ Kopfwunde mit einem Handtuch zu verbinden.

 

»Glücklicherweise ist er nicht tot«, sagte Billy, »aber sein Leben hängt an einem Haar. Ich glaube, die Kugel ist an seinem Schädel abgeglitten. Das eine Fenster ist vollständig zertrümmert.«

 

Mit vereinten Kräften trugen wir Dawkes zu einem Sofa und legten ihn dort nieder. Leslie hatte bereits mit einem Doktor telefoniert und einen Krankenwagen bestellt. Als wir den Verwundeten so gut als möglich gebettet hatten, trat Billy an den Schreibtisch, packte den Revolver, den er Miss Mary abgenommen hatte, sah sich um und ging zu dem Fenster, wo er am Vormittag die Öffnung in der Täfelung entdeckt hatte. Er machte die kleine Tür auf und warf die Waffe hinunter. Dann zog er seinen eigenen Browning aus einer Schreibtischschublade hervor.

 

»Was wollen Sie machen?« fragte ich.

 

»Das werden Sie gleich erfahren.«

 

Er ging schnell zum Kamin, richtete den Lauf der Pistole in die Feuerungsöffnung und gab einen Schuß ab. Putz und Stücke von Ziegelsteinen bröckelten herunter. Darauf trat er zu mir und reichte mir die Waffe.

 

»Sergeant Mont, als Sie die Treppe heraufkamen, hörten Sie, daß ein Schuß fiel, und als Sie ins Zimmer traten, fanden Sie Mr. Dawkes in sterbendem Zustand. Er war über den Schreibtisch gestürzt, und ich stand hier.« Bei den Worten ging er zur Tür. »Sie fragten mich, was geschehen sei, und ich erwiderte, daß ich einen Streit mit dem Mann hatte und ihn über den Haufen schoß.«

 

»Das werde ich nicht sagen!« protestierte ich heftig.

 

»Das wäre eine große Dummheit, ja eine Gemeinheit«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Eben kommt schon jemand die Treppe herauf. Wollen Sie mich jetzt verhaften oder wollen Sie vielleicht warten, bis Jennings auf der Bildfläche erscheint? Mont, um Himmels willen, tun Sie das, was ich Ihnen sage. Wir sind erledigt, wenn Sie nicht sofort handeln. Ich bin fest entschlossen, Mary aus dieser Sache herauszuhalten. Sie tun mir den größten Dienst, wenn Sie mir folgen.«

 

Was sollte ich tun? Es blieben mir nur ein paar Sekunden zur Entscheidung.

 

»Stabbat«, sagte ich mit lauter Stimme, »ich verhafte Sie unter dem Verdacht, auf Mr. Thomson Dawkes geschossen zu haben.«

 

Die Worte wollten mir kaum über die Lippen, aber ich zwang mich dazu, sie auszusprechen.

 

In diesem Augenblick kam Jennings zur Tür herein und erfaßte die Lage mit einem Blick.

 

»Wo ist das Mädchen?« fragte er schnell.

 

»Sie ist nicht gekommen«, entgegnete Billington.

 

Dann sah Jennings Dawkes auf dem Sofa liegen.

 

»Mein Gott, Sie haben ihn ja erschossen!« schrie er.

 

»Hoffentlich nicht, geschossen habe ich allerdings auf ihn.«

 

»Mont, wie weit sind Sie an der Geschichte beteiligt? Haben Sie etwas davon gesehen?« fragte Jennings rot vor Erregung.

 

»Ich habe Stabbat eben verhaftet«, erwiderte ich und fühlte nun doch eine gewisse Genugtuung, als ich Jennings Gesicht sah. Durch die Verhaftung hatte ich die Bearbeitung des Falls für mich gesichert oder wenigstens für einen Beamten meiner speziellen Abteilung. Jennings, der sein Leben lang im Büro gesessen hatte, wünschte sich schon seit langem einen Fall, der ihn in der Öffentlichkeit bekannt machte. Er sank förmlich in sich zusammen, als ihm klar wurde, welch großartige Gelegenheit ihm entgangen war.

 

Am nächsten Morgen erhielt ich einen Bericht vom Hospital. Dawkes hatte eine unruhige Nacht zugebracht und das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Die Untersuchung ergab, daß er eine schwere Gehirnerschütterung und wahrscheinlich auch einen Bruch des rechten Stirnbeins davongetragen hatte. Die Ärzte wollten ihn, wenn es notwendig sein sollte, noch am selben Vormittag operieren. Ich ging so früh wie möglich zur Bond Street und fand dort Leslie Jones, der unter Beaufsichtigung eines Polizisten das Büro aufräumte. Ich entließ den Beamten, sobald ich eintraf.

 

»Wir müssen das ganze Büro unter Verschluß nehmen. Niemand darf von jetzt ab hier hereingehen«, erklärte ich. »Und Sie werden als Zeuge auftreten müssen, Leslie.«

 

»Das weiß ich«, erwiderte er bedrückt. »Der arme Billy! Ich komme gerade von der Polizeistation in der Marlborough Street. Ich habe ihm das Frühstück hingebracht.«

 

»Wie geht es ihm denn?«

 

»Er hat glänzend geschlafen«, sagte Leslie kopfschüttelnd. »Das ist so ganz und gar Billy. Ich habe dem Gefängniswärter ein paar Schilling in die Hand gedrückt, damit ich ihn sprechen konnte. Ich erzählte, ich wäre sein Diener, und das stimmt ja auch in gewisser Weise.«

 

»Und wie haben Sie ihn angetroffen?«

 

»Ich fragte ihn, ob er gut geschlafen hätte, und darauf erwiderte er, daß er die ganze Nacht nicht aufgewacht sei. Er schimpfte sogar, weil ich ihm nicht gebratene Nieren brachte. ›Billy, das ist eine verteufelt schlimme Geschichte‹, sagte ich zu ihm. ›Wir werden ja sehen‹, war alles, was er darauf antwortete. – Glauben Sie, daß Dawkes sterben wird?« fragte Leslie schließlich noch ängstlich.

 

Ich schüttelte den Kopf.

 

»Der Bericht vom Hospital klang allerdings nicht sehr ermutigend.«

 

»Dem geschähe es nur recht, wenn er ins Gras beißen müßte. Er ist ein ganz gemeiner Kerl! Wenn ich daran denke, daß dieses Mädchen in der Gewalt eines solchen Mannes war, ein so hübsches, nettes Ding …«

 

»Auch du, mein Sohn Brutus?« sagte ich vorwurfsvoll, und Leslie wurde rot.

 

Ich untersuchte das Büro genau. Vor allem wollte ich den wirklichen Hergang feststellen, da ich doch später bei der Verhandlung eine glaubhafte Geschichte erzählen mußte, ohne Billy oder Miss Mary bloßzustellen. Ich suchte mich selbst in die Lage von Miss Ferrera zu versetzen, stellte mich an den Platz, wo wir sie gefunden hatten und tat so, als ob ich die Waffe in Anschlag brächte. In Wirklichkeit hob ich nur die Hand und zeigte mit dem Finger, um die Schußrichtung anzugeben. Mir fiel dabei sofort auf, daß man von dieser Stelle aus unmöglich die untere Fensterscheibe zertrümmern konnte. Thomson Dawkes hatte doch am Schreibtisch gestanden, als der Schuß abgefeuert wurde, und die Kugel hatte ihn am Kopf getroffen. In diesem Fall hätte der Schuß durch eins der oberen Fenster gehen müssen.

 

Es war wenig glaubhaft, daß die Kugel von seinem Kopf abprallte und so weit abgelenkt wurde, daß sie eine der unteren Fensterscheiben durchschlug. Die zertrümmerte Scheibe lag niedriger als der Kopf von Dawkes.

 

Allem Anschein nach hatte es keinen Zweck, nach dem Geschoß zu suchen, das durch das Fenster geflogen war und wahrscheinlich ein Dach auf der anderen Seite der Straße getroffen hatte. Später schickte ich einige Beamte aus, die auf dem gegenüberliegenden Dachstuhl eine genaue Untersuchung anstellten, aber auch sie entdeckten das Geschoß nicht. Wahrscheinlich war die Kugel also gegen das Gesimse geschlagen, auf die Straße gefallen und am frühen Morgen von den Straßenkehrern weggefegt worden.

 

Vom Hospital hatte ich Nachricht bekommen, daß Mr. Dawkes außer der Schußwunde am Kopf auch Kratzwunden im Gesicht hatte. Diese Tatsache könnte ich mir verhältnismäßig leicht erklären. Wahrscheinlich war Dawkes mit dem Kopf auf das Gestell gefallen, in dem Billington Federhalter und Bleistifte liegen hatte.

 

Die Tür zum Korridor war noch verschlossen wie am Abend vorher. Ich zog den Schlüssel heraus, steckte ihn in die Tasche und suchte die neugestrichene Tür nach Fingerabdrücken ab. Irgendwie im geheimen hoffte ich, daß noch eine dritte Person in dem Zimmer gewesen war, die den Schuß abgefeuert und Dawkes niedergestreckt hatte.

 

Dann erinnerte ich mich plötzlich an George Briscoe. Er hatte ja gedroht, Billy zu ermorden. George Briscoe! Aber Miss Ferrera hatte ja den Schuß zugegeben – und hatten wir sie nicht mit dem Revolver in der Hand überrascht? Aber angenommen, sie und Briscoe, der sich irgendwie im Raum versteckt haben konnte, hätten zu gleicher Zeit geschossen. Es war eine geradezu phantastische Vermutung, aber auf jeden Fall mußte ich feststellen, wo sich Mr. Briscoe während der fraglichen Zeit aufgehalten hatte. Dabei kam mir ein günstiger Umstand zu Hilfe, auf den ich nicht gerechnet hatte. Mr. Briscoe befand sich nämlich in einer Zelle der Polizeistation in Cannon Row, und zwar seit drei Uhr vergangenen Nachmittags. Man hatte ihn wegen des Einbruchs bei dem Juwelier in der Regent Street verhaftet.

 

Unverzüglich ging ich dorthin und besuchte ihn in seiner Zelle. Aber es bestand nicht der geringste Zweifel, daß er das beste Alibi hatte, das er sich nur wünschen konnte.

 

»Wer hat Sie denn verhaftet? Ich hatte nichts damit zu tun.« Ich hielt es für gut, Billy zu entlasten.

 

Er nickte.

 

»Das weiß ich alles ganz gut, Mr. Mont. Wenn Sie wissen wollen, wer mich angezeigt hat, dann kann ich Ihnen nur sagen: Cherchez les femmes! Warum sind Sie denn eigentlich hergekommen?« fragte er schnell. »Ist etwas geschehen?«

 

»Nichts Besonderes. Wir haben nur Mr. Thomson Dawkes mit einem Kopfschuß in Stabbats Büro gefunden. Jemand hat ihn niedergeknallt. Ich habe nachher Stabbat verhaften müssen, weil er in Verdacht steht, der Täter zu sein.«

 

»Donnerwetter, das sind ja allerhand Neuigkeiten! Habe ich recht gehört, daß Billy Stabbat verhaftet ist? Das ist ja großartig! Hat er es denn wirklich getan?«

 

»Leider ja. Ich war sogar Augenzeuge.«

 

»Ist Dawkes tot?«

 

»Nein, aber es geht ihm sehr schlecht.«

 

»Hoffentlich krepiert er«, meinte George Briscoe. »Es würde mir den größten Spaß machen, wenn ich durch die Gitter meiner Zelle sehen könnte, wie Stabbat zum Galgen geführt wird.«

 

»Na, Sie haben ja fromme Wünsche!«

 

Ich verließ ihn und suchte Mary in Brixton auf. In ihrer Gesellschaft wollte ich mich allerdings nicht sehen lassen, denn ich dachte an die unangenehme Erfahrung, die wir in Elston gemacht hatten. Jennings konnte mich ja irgendwie überwachen lassen, wie Dawkes Billy hatte beobachten lassen. Als ich zu ihr kam, fand ich, daß sie sich von dem Schrecken einigermaßen erholt hatte. Sie hatte eben die kurzen Berichte in den Zeitungen durchgelesen und war aufs höchste beunruhigt. »Ich kann nicht zugeben, daß er dieses Opfer für mich bringt. Was hier steht, ist doch alles nicht wahr. Ich kann ja alles aufklären.«

 

»Deshalb bin ich doch gerade zu Ihnen gekommen. Sie müssen mir alle nötigen Angaben machen.«

 

»Ich versuche schon dauernd, mich genau auf alles zu besinnen.«

 

Sie ging erregt im Zimmer auf und ab. Diese unerschrockene Spielerin, die Tausende wagte und einem Mann wie Thomson Dawkes ruhig entgegentreten konnte, war vollständig durcheinander. Nicht weil sie selbst in einer schrecklichen Lage war, sondern weil dem Mann Gefahr drohte, den sie liebte.

 

»Ich versuche nachzudenken und mir alles wieder klarzumachen«, sagte sie verzweifelt und rang die Hände. »Als Sie mich mit Mr. Dawkes allein ließen, sprach er zuerst ruhig und freundlich mit mir, erklärte, daß er alles über mich herausbekommen hätte und sagte, das Geld, mit dem ich in Monte Carlo spielte, stamme aus der Bank. Eine Weile redete er dann ganz vernünftig über verschiedene Systeme, aber plötzlich kam er auf mich zu und riß mich an sich, bevor ich seine Absicht erkennen konnte.

 

›Sie können mein Schweigen leicht erkaufen, wenn Sie mich ein wenig liebhaben. Sie können so oft nach Monte Carlo reisen, als Sie es sich in Ihren kleinen hübschen Kopf setzen‹, sagte er;

 

Ich versuchte zu entkommen, aber er war stark – unheimlich stark. Ich sagte, ich würde schreien, aber er lachte mir nur ins Gesicht.

 

›So etwas Dummes werden Sie nicht tun‹; entgegnete er. ›Dazu kenne ich doch die jungen Mädchen zu genau. Nun, mein Liebling, was wollen Sie? Soll ich die Beamten hereinrufen, oder wollen Sie vernünftig sein?‹

 

Plötzlich gelang es mir, ihm auf den Fuß zu treten, und unwillkürlich ließ er mich los. Während des Kampfes war ich der Tür näher gekommen, die auf den Korridor und zur Treppe führte, und als er mich freigab, lief ich dorthin. Ich wollte sie öffnen, aber sie war verschlossen.

 

Er wollte mich gerade wieder packen, als ich den Schalter sah und das Licht ausdrehte. Es gelang mir, ihm zu entkommen, aber ich konnte nicht an ihm vorbei und das Büro erreichen, wo Mr. Stabbat wartete.«

 

»Warum haben Sie nicht um Hilfe gerufen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Dawkes kannte mich ganz genau. Ich dachte, ich könnte entkommen, ohne großen Lärm zu schlagen, und vor allem, ohne Mr. Stabbat zu Hilfe zu rufen. Ich wußte genau, daß er entrüstet sein und eine furchtbare Szene machen würde, und das fürchtete ich am meisten. Dawkes muß mich gesehen haben, als ich am Fenster vorbeischleichen wollte, denn plötzlich eilte er auf mich zu. Ich hatte gerade noch Zeit, unter seinen Armen durchzuschlüpfen, bevor er sich am Schreibtisch stieß.

 

›Bleiben Sie stehen!‹ rief ich. ›Ich kann Sie deutlich sehen. Ich habe einen Revolver!‹ Dabei legte ich den Sicherheitshebel um. Ich habe die Waffe stets bei mir, wenn ich meine Reisen nach Frankreich mache. Wenn ich sie doch nur gestern abend nicht mitgenommen hätte!«

 

»Was geschah dann?«

 

»Er wurde furchtbar wütend. Ich konnte ihn deutlich vor dem Fenster sehen…« Sie schauderte. »Ich möchte nicht mehr an die Gemeinheiten denken, die er mir sagte. Ich hätte nie geglaubt, daß ein Mann wie er solche Dinge zu einer Frau sagen könnte. Was sich nachher ereignete, weiß ich kaum noch. Es drehte sich alles um mich, und ich hörte nur noch, wie er schrie:›Jetzt klingle ich Stabbat, der wird dafür sorgen, daß Sie ins Gefängnis kommen.‹ Dann muß ich die klare Besinnung verloren haben. Ich kann mich nur noch darauf besinnen, daß ein Schuß fiel und Dawkes schwer auf dem Schreibtisch aufschlug. Ich hatte den Revolver in der Hand und lehnte an der Wand. Gleich darauf kamen Sie in das Zimmer.«

 

»Ist das alles, was Sie wissen und worauf Sie sich besinnen können? Sie haben also nicht direkt nach ihm geschossen? Es kann ja doch wohl auch ein unglücklicher Zufall gewesen sein. Vielleicht ging der Schuß von selbst los.«

 

»Ich weiß nicht, was geschah«, erwiderte sie einfach. »Ich haßte ihn, und ich hätte ihn am liebsten ermordet. Auf dieses Gefühl besinne ich mich deutlich. Das ist alles, was ich weiß. – Wie geht es ihm?«

 

»Er hatte eine sehr unruhige Nacht, und die Ärzte werden ihn heute morgen operieren.«

 

Sie schaute erschreckt auf, aber dann zeigte sich ein verächtliches Lächeln auf ihrem Gesicht.

 

»Ich meine nicht Dawkes. Es kommt mir nicht darauf an, ob er lebt oder stirbt. Nein, wie geht es Mr. Stabbat? Was hält er von der ganzen Sache, und was soll daraus werden?«

 

Ich erzählte ihr alles, und ich glaubte, sie würde zusammenbrechen.

 

»Was, Sie haben ihn verhaftet – Sie!« Ihre Augen brannten. »Er hält Sie doch für seinen Freund, und Sie haben ihn wegen eines Verbrechens verhaftet, das er überhaupt nicht begangen hat, wie Sie genau wissen!«

 

»Wo wollen Sie hin?« fragte ich und faßte sie am Arm, als sie das Zimmer verlassen wollte.

 

»Ich gehe zur nächsten Polizeistation und berichte den wahren Sachverhalt.«

 

»Damit ruinieren Sie Billy nicht nur, sondern brechen ihm auch das Herz«, entgegnete ich ruhig. »Außerdem bringen Sie mich um meine Stellung! Sie dürfen nicht so planlos handeln. Billy hat das alles aus reiflicher Überlegung für Sie getan, weil es ihm leichter fällt als Ihnen, aus all den Schwierigkeiten herauszukommen. Vor allem will er Ihren Namen aus der Sache heraushalten – und auch den Ihres Onkels«, fügte ich hinzu.

 

Sie wurde bleich.

 

»Wußten Sie denn alles?« fragte sie schnell.

 

»Billy hat erfahren, daß Sie die Nichte von Sir Philip Frampton sind.«

 

Sie biß sich auf die Lippen und schien angestrengt nachzudenken.

 

»Wenn nun dieser Fall vor Gericht zur Verhandlung kommt, wie es ja unter allen Umständen geschehen muß, was wird dann aus Billy?«

 

Sie nannte ihn mit einer solchen Natürlichkeit beim Vornamen, daß es mir im Augenblick gar nicht auffiel.

 

»Er bekommt fünf, vielleicht auch sieben Jahre.«

 

»Fünf oder sieben Jahre?« wiederholte sie entsetzt. »Aber man kann ihm doch nichts anhaben. Das wäre grauenhaft, das wäre ein Verbrechen!«

 

Mary Ferrera zeigte sich anderen Frauen, die ich kannte, in diesem Augenblick überlegen. Die meisten hätten den Kopf verloren, aber sie faßte sich bald, wurde ruhiger und durchdachte den Fall vollkommen logisch. Und sie verstand auch mein Verhalten.

 

»Wenn sie ihn ins Gefängnis bringen«, erklärte sie schließlich so sachlich, als ob sie irgendeine Angelegenheit ihres Haushalts bespräche, »müssen wir ihn wieder herausholen.«

 

»Aber wie sollen wir das machen?« fragte ich bestürzt.

 

»Er muß eben entkommen. Das ist heutzutage ebenso leicht wie früher, ich möchte sagen, es ist noch einfacher… Was soll ich denn seiner Meinung nach jetzt tun?«

 

Ich erklärte es ihr. Zwar hatte ich mit Billy nicht darüber gesprochen, denn er hatte keine Zeit gehabt, mir irgendwelche Instruktionen zu geben oder seine Wünsche zu äußern. Ich ließ sie jedoch in dem Glauben, daß es sein Plan wäre, weil sie unbegrenztes Vertrauen zu ihm hatte.

 

»Sie haben doch einen Paß mit einem Dauer-Visum?«

 

Sie nickte, sah mich aber fragend an.

 

»Soll ich ins Ausland gehen?«

 

»Ja. Am besten wäre es, wenn Sie nach Südfrankreich reisten, bis die ganze Sache hier vorüber ist. Später können Sie zurückkommen, und dann überlegen wir alles weitere mit Leslie Jones.«

 

»Aber wie komme ich nach Monte Carlo?« fragte sie betreten.

 

Ich sah sie erstaunt an.

 

»Ich dachte, Sie könnten dorthin reisen, wann es Ihnen paßt?«

 

»Nein, ich reise nur dorthin, wenn ich geschickt werde.«

 

Sie war also nicht ihre eigene Herrin, sondern hatte diese abenteuerlichen Fahrten im Auftrag eines anderen unternommen, auf dessen Rechnung sie auch spielte.

 

»Dann müssen Sie es eben einrichten, daß Sie wieder hingeschickt werden. Vielleicht ist es besser, wenn Sie zu Ihrem Onkel gehen und ihm die ganze Geschichte erklären.«

 

»Nein, nein«, wehrte sie entschieden ab. »Das könnte ich nicht, das darf ich nicht tun. Ich werde sehen, daß ich einen anderen Ausweg finde.«

 

Ich wunderte mich, entschloß mich aber, Billy nichts von dieser Neuigkeit zu sagen.

 

In einer Beziehung konnte ich ihr helfen. Leslie Jones hatte mir dreihundert Pfund übergeben, die er aus Billys Geldschrank genommen hatte. Er bat mich, das Geld aufzubewahren, und nun bot ich es ihr an. Zu meinem größten Erstaunen nahm sie an. Allem Anschein nach wurde sie für ihre Dienste nicht gerade glänzend bezahlt. Sie entschied sich dafür, abzureisen und an der Riviera zu bleiben, bis ich ihr telegrafierte. Zunächst aber mußte sie nach Elston fahren.

 

Am gleichen Abend besuchte ich Billy in seiner Zelle und berichtete ihm, was geschehen war. Er war mir sehr dankbar.

 

»Sie wissen nicht, welche Last Sie von mir genommen haben, Mont. Ich folgte einer augenblicklichen Eingebung, als ich Ihnen vorschlug, mich als den Schuldigen zu verhaften. Dadurch kam der Fall in Ihre Hand, und das macht die ganze Sache leichter. Wie geht es Dawkes?«

 

»Die Operation ist gut gelungen, aber es wird noch viele Wochen dauern, bis er eine Zeugenaussage machen kann.«

 

Tatsächlich trat er auch erst zwei Monate später vor Gericht in den Zeugenstand. Sein Kopf war noch vollkommen verbunden. Er erzählte alles, worauf er sich besinnen konnte.

 

Während seiner langen Genesung hatte er reichlich Zeit zum Nachdenken gehabt. Billy hatte beim Verhör vor dem Polizeigericht einen umfassenden Bericht gegeben, wie und warum er Dawkes niedergeschossen habe, und dieselbe Geschichte wiederholte nun Dawkes. Ich glaube, er schämte sich wegen der traurigen Rolle, die er bei der ganzen Sache gespielt hatte. Er war sich auch bewußt, daß er sich Miss Ferrera gegenüber unmöglich benommen hatte. Auf jeden Fall wurde ihr Name bei der Gerichtsverhandlung nicht erwähnt. Dawkes nahm sogar die Schuld auf sich und erklärte, daß er Billy herausgefordert hätte.

 

Ich hoffte zuerst, daß seine Aussagen sich günstig auswirken würden, aber ich wurde furchtbar enttäuscht.

 

»Sie erhalten eine Zuchthausstrafe von sieben Jahren«, lautete das Urteil des Richters.

 

Billy verbeugte sich kurz vor dem Gerichtshof und ging in seine Zelle zurück.

 

Kapitel 9

 

9

 

Durch einen außergewöhnlichen Zufall war George Briscoe der nächste Angeklagte, dessen Fall vor Gericht verhandelt wurde. Ich war nicht in der Stimmung, noch länger im Saal zu bleiben, las aber später in der Zeitung, daß er zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.

 

Nun konnte ich Miss Ferrera den Ausgang des Prozesses telegrafieren. Ich war erstaunt, daß sie ihre Tätigkeit bei der Bank solange hatte unterbrechen können. Ich schrieb auch an Mr. Pontius, den Kassierer von Framptons Bank, und drückte mich sehr vorsichtig und diplomatisch aus.

 

Zwei Tage darauf hatte ich seine Antwort und erhielt die überraschende Nachricht, daß Miss Ferrera nach einem zweimonatigen Urlaub ihre Stellung bei der Bank aufgegeben hatte.

 

Er schrieb nicht, daß irgendwelche Entdeckungen gemacht worden wären. Aber er erwähnte, daß er meinen Brief nicht hätte beantworten können, wenn ich mich eine Woche früher an ihn gewandt hätte. Er teilte mir mit, daß alle Bücher von den Revisoren geprüft worden wären. Daraus schloß ich, daß keine Veruntreuung von ihrer« Seite aus vorgekommen war.

 

Leslie Jones war sehr deprimiert, aber er suchte Zerstreuung in der Arbeit und führte das Detektivbüro weiter. Er hatte auch verhältnismäßig gute Erfolge. Billys Büro betrachtete er als eine Art Heiligtum und vermied es, in das Zimmer zu gehen, in dem das Verbrechen begangen worden war. Er ließ alles so stehen, wie Billy es verlassen hatte.

 

Billy war schon etwas über drei Monate im Zuchthaus, als ich Leslie einen Besuch machte. Von Mary Ferrera hatte ich nichts gehört, und ich machte mir schon Vorwürfe darüber, daß ich sie alleingelassen und mich nicht um sie gekümmert hatte.

 

Ich machte eine Bemerkung über Billys Büro.

 

»Er soll bei seiner Rückkehr alles so finden, wie er es verlassen hat«, erklärte Leslie, aber er machte dabei ein betrübtes Gesicht. »Ich habe sehr viel zu tun, Mr. Mont, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir ab und zu ein wenig helfen wollten. Ich habe zwar zwei Assistenten eingestellt, aber wenn man nicht alles selbst machen kann, ist es nichts Rechtes«, meinte er verzweifelt. »Die Leute arbeiten wohl, machen aber viel zuviel Umstände. Sie verkleiden sich sogar! Die Sache hat nur einen Vorteil – sie sitzen immer in derselben Kneipe, so daß ich stets weiß, wo ich sie finden kann.«

 

»Ich habe eine Sache, die Sie erledigen könnten«, sagte ich, als ich fortging.

 

»Sie meinen doch nicht einen Auftrag, Mr. Mont?« fragte er erstaunt.

 

Ich nickte.

 

»Die Sache geht auch Billy sehr an. Sie wissen doch, daß Miss Ferrera in Monte Carlo gespielt hat?«

 

Er lächelte schwach.

 

»Wie können Sie so etwas fragen!«

 

»Nun gut. Ich bin überzeugt, daß Miss Ferrera nur im Auftrag einer anderen Person gehandelt hat, und ich möchte herausbringen, wer das ist.«

 

Er schob den Stuhl zurück und steckte die Hände in die Taschen seines abgetragenen Rocks.

 

»Ich war inzwischen zweimal in Elston.«

 

»Warum denn?« fragte ich überrascht.

 

»Während der Prozeß gegen Billy schwebte, wollte ich natürlich keine Zeit verlieren und soviel entlastendes Material als nur möglich sammeln. Billy bedeutet für mich mehr, als Sie vielleicht ahnen.« Seine Stimme zitterte einen Augenblick.

 

Ich hätte niemals vermutet, daß Leslie Jones derartig gefühlvoll sein konnte. Aber ich sah, daß ihm die Tränen sehr nahe waren, und er hätte mir niemals verziehen, wenn er in meiner Gegenwart die Fassung verloren hätte.

 

»Was haben Sie denn in Elston gemacht?«

 

»Ich habe mich bei den Angestellten der Bank nach Miss Ferrera erkundigt und auch erfahren, wer ihre Freunde waren. Zunächst kam es mir merkwürdig vor, daß sie nicht im Haus ihres Onkels wohnte.«

 

»Das ist mir auch aufgefallen. Aber früher war sie doch bei ihm?«

 

»Ja, aber nur acht Monate lang. Er hat ein großes Haus direkt vor der Stadt. Seine Schwester führte ihm die Wirtschaft. Aber sie starb, und bald darauf starb auch sein Schwager. Damals adoptierte er seine Nichte.«

 

»Warum ist sie denn von ihm fortgezogen?«

 

»Weil sie ihn nicht ausstehen konnte«, lautete die überraschende Antwort. »Die Leute sagen, er hätte einen unangenehmen Charakter, und man könnte unmöglich mit ihm auskommen. Seine Angestellten hassen ihn wie die Pest.«

 

Das war mir neu. Der Chef einer großen Firma ist ja für gewöhnlich nicht besonders beliebt, aber geradezu verhaßt ist er wohl selten.

 

»Er ist ein geiziger Mensch mit beschränktem Horizont und entsetzlich altmodisch. Er hält es beinahe für ein Verbrechen, wenn Damen rauchen oder im Herrensattel reiten. Die Leute in der Stadt waren mehr als erstaunt, als er tatsächlich den Wunsch seines Schwagers erfüllte und Miss Ferrera adoptierte. Danach zog sie zu ihm, konnte es aber nicht länger als acht Monate bei ihm aushalten. Sie mietete sich dann eine eigene kleine Wohnung, behielt aber ihre Stellung in der Bank bei. Noch eine andere merkwürdige Tatsache habe ich herausbekommen: Miss Ferrera erhielt siebzig Schilling die Woche ausbezahlt, und dieselbe Summe wurde auf Sir Philips Privatkonto geschrieben.«

 

Ich setzte mich und starrte Leslie an.

 

»Dann erhielt sie also im ganzen hundertvierzig Schilling die Woche, und die Hälfte kassierte Sir Philip ein?«

 

Leslie nickte.

 

»Ich glaube, daß sie damit eine Schuld ihres Vaters abzahlte.«

 

»Das wäre allerdings eine gute Erklärung. Aber dieser Sir Philip muß ja wirklich ein entsetzlich gemeiner Kerl sein.«

 

»In den beiden letzten Wochen, die Miss Ferrera bei der Bank tätig war, hat sie die volle Summe von hundertvierzig Schilling ausgezahlt erhalten. Daraus geht klar hervor, daß die Schuld ihres Vaters abgetragen war. Deshalb hat sie wahrscheinlich auch ihre Stellung aufgegeben.«

 

»Ich werde Sie weiter auf dem laufenden halten«, sagte ich und stand auf.

 

»Aber gehen Sie doch noch nicht! Bleiben Sie hier und trinken Sie Tee bei mir.«

 

Er klingelte und gab dem jungen Mann, der gleich darauf erschien, den Auftrag, Tee zu holen. In verhältnismäßig kurzer Zeit war die Erfrischung zur Stelle.

 

Leslie erzählte mir nun noch die letzten Neuigkeiten über Billy. Zunächst war Stabbat in Wormwood Scrubbs untergebracht worden, aber noch in dieser Woche sollte er nach Dartmoor transportiert werden, da das Gefängnis in London zur Zeit mit politischen Gefangenen aus Irland überfüllt war.

 

»Es geht ihm persönlich sehr gut, und er ist in der besten Stimmung«, sagte Leslie ganz verzweifelt. »Er arbeitet in der Schneiderabteilung zusammen mit George Briscoe!«

 

»Da muß er sich aber sehr in acht nehmen.«

 

»Ebenso Briscoe«, erwiderte Leslie bedeutungsvoll. »Es wird ihm sicher schlecht gehen, wenn er sich in Händel mit Billy einläßt.«

 

»Das eine kann ich an Sir Philip Frampton nicht verstehen –« begann ich gerade, als es an der Tür klopfte. Der junge Mann kam wieder herein.

 

»Ein Herr möchte Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit sprechen«, meldete er.

 

Leslie nahm die Karte, sah kurz darauf und reichte sie mir dann.

 

»Sir Philip Frampton«, stand darauf.

 

Leslie warf mir einen vielsagenden Blick zu.

 

Kapitel 4

 

4

 

Der Zug fuhr durch das Rhonetal; soviel ich weiß, hatten wir gerade Avignon passiert, als ich Mary Ferrera zum erstenmal sah.

 

Ihre anmutige Erscheinung nahm auch mich sofort gefangen. Vor allem machten ihre wundervollen Augen und die Schönheit ihres Profils großen Eindruck auf mich.

 

Ich stellte mich vor, verschwieg aber meinen Beruf. Wahrscheinlich hatte Billy es ebenso gemacht. Aus der Unterhaltung erfuhr ich, daß sie ihn erwartet hatte.

 

»Ich habe Sie gestern abend in Paris nicht gesehen, obwohl ich den ganzen Zug entlanggegangen bin. Wie kommt es denn, daß ich Sie jetzt doch hier treffe?«

 

»Wir sind nach Dijon geflogen, ich hatte dort zu tun«, erklärte Billy.

 

»Sie steigen in Marseille aus, nicht wahr?« Billy räusperte sich. »Ich habe nicht die Absicht, nach Montpellier zu fahren, wie ich Ihnen zuerst sagte. Ich gehe für einen oder zwei Tage nach Monte Carlo.«

 

Als sie das hörte, wurde sie ein wenig blaß. »Ach so!« Ihr Blick konnte wirklich sehr abweisend sein. »Das tut mir leid.« Sie erhob sich und ging zu ihrem Abteil zurück, ohne ihr Frühstück angerührt zu haben.

 

Billy war bedrückt und bekümmert, denn er glaubte, ihre Freundschaft nun verscherzt zu haben.

 

Auf dem Rückweg mußten wir drei andere Wagen passieren. Im Eingang eines Abteils wartete die junge Dame auf uns.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein und einen Augenblick hereinkommen?« sagte sie und lud uns mit einer Handbewegung ein, näherzutreten.

 

»Ich fürchte, Sie halten mich für sehr unhöflich, aber ich erschrak, als ich hörte, daß Sie nach Monte Carlo fahren.« Sie lächelte schwach. »Ich bin nämlich eine Spielerin, und in manchen Augenblicken schäme ich mich wirklich. Ich möchte diese Schwäche vor meinen Bekannten verbergen.«

 

Sie sah Billy ernst an. Mich beachtete sie kaum.

 

»Aber Miss Ferrera …«, erwiderte er, doch sie unterbrach ihn sofort.

 

»In Monte Carlo wohne ich nicht unter meinem eigenen Namen. Dort nenne ich mich Miss Hicks.«

 

»Das dachte ich mir«, entgegnete Billy, verbesserte sich aber hastig: »Ich meine, das kann ich mir denken. Aber wirklich, Miss Ferrera –«

 

»Miss Hicks!«

 

»Also Miss Hicks, wenn Sie wünschen. Ich muß mich erst daran gewöhnen, Sie so zu nennen. Bitte glauben Sie nicht, daß ich kleinliche Ansichten über das Spiel habe. Im Gegenteil, ich spiele selbst hin und wieder.«

 

Sie seufzte tief auf und schien durch seine Erklärung beruhigt zu sein.

 

»Dann ist alles in Ordnung. Spielen Sie auch, Mr. Mont?«

 

»Ich habe mir bisher diesen Luxus noch nicht leisten können, aber es muß sehr interessant und anregend sein.«

 

»Ach, es ist die unangenehmste, langweiligste Beschäftigung, die ich kenne«, sagte sie zu meiner größten Überraschung. Dann sprach sie über andere Dinge.

 

Erst eine Stunde nach unserer Ankunft in Monte Carlo sah ich sie wieder, als sie aus der Lloyd-Bank herauskam.

 

Monte Carlo ist einer der schönsten Flecken auf unserer Erde. Welche herrlichen Spaziergänge lassen sich an der bergigen Küste machen! Das Kasino besaß keine große Anziehungskraft auf mich.

 

Am Abend gingen wir in die Spielsäle und fanden alle Tische stark besetzt, besonders einen am äußersten Ende des Saales, an dem Trente et quarante gespielt wurde.

 

»Dort sitzt sie«, sagte Bill mit leiser Stimme.

 

Sie hatte an der Längsseite des Tisches Platz genommen, und vor ihr lag ein großer Stoß Tausendfrancnoten. Kleine weiße Papierstreifen teilten die Scheine in Bündel zu zwölf und zwölf ab.

 

»Sie setzt immer den Höchstsatz«, erklärte Bill erstaunt.

 

Ich beobachtete sie einige Zeit, und ich hatte den Eindruck, daß sie Geld verspielte, das nicht ihr gehörte. Sie zählte die Banknoten beinahe mit der Routine eines Croupiers, und einmal warf sie ein Bündel von zwölftausend Franc von einer Seite des Tisches zur anderen, so daß die Scheine genau auf den Platz fielen, den sie treffen wollte. Überhaupt schien sie mit allen Einrichtungen des Spiels sehr genau Bescheid zu wissen. Von Zeit zu Zeit sah sie in ein Notizbuch.

 

An diesem Abend gewann sie dauernd. Nur einmal schaute sie auf und begegnete Billys Blick.

 

Sie steckte die Banknoten in ihre große Handtasche und kam auf uns zu.

 

»Nun, bin ich nicht eine passionierte Spielerin?« fragte sie Billy fast herausfordernd.

 

»Sie scheinen heute abend viel Glück gehabt zu haben.«

 

»Ich habe nur hunderttausend Franc gewonnen. Das ist wohl ein ganz guter Anfang, aber ich hoffe doch, daß es morgen bedeutend mehr wird.«

 

Sie machte noch einige Bemerkungen über das Spiel, und wir mußten daraus entnehmen, daß sie erstaunlich gut über alle Regeln Bescheid wußte. Auch ging aus ihren Worten hervor, daß sie an ein bestimmtes Gesetz glaubte, nach dem Rot oder Schwarz gewann.

 

Wir begleiteten sie zu ihrem Hotel und verabschiedeten uns von ihr in der Halle. Auf dem Heimweg zu unserem eigenen Quartier erzählte mir Billy, wie er ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Durch einen glücklichen Zufall hatte er sie vor einem Autobus retten können, der ins Rutschen gekommen war.

 

»Eine großartige Frau, Mont«, sagte er ernst, als wir noch ein Glas an der Bar tranken. »Zweifellos ein mathematisches Genie. Aber auch sonst ist sie sehr gebildet. Haben Sie gesehen, mit welcher Eleganz sie die Noten handhabte?«

 

»Wie ein Bankkassierer!« erwiderte ich mit Nachdruck.

 

»Sie haben Vorurteile. Nun, wir werden ja sehen!«

 

Wir erfuhren in Monte Carlo wenig Neues über sie. Nach vier Tagen hatten wir unsere Kenntnis noch nicht erweitern können. Nur selten hatten wir Gelegenheit, sie zu sehen. Sie erschien erst um zwei Uhr nachmittags im Spielsaal; um fünf ging sie wieder und hielt sich dann in ihrem Hotelzimmer auf. Soweit wir feststellen konnten, nahm sie alle Mahlzeiten dort ein. Vielleicht machte sie Spaziergänge, aber wir hatten bis jetzt noch nicht das Glück gehabt, sie zu treffen.

 

Aber eines Morgens ging Billy schon um acht Uhr zu ihrem Hotel und setzte sich dort auf eine Bank. Seine Anstrengung wurde auch belohnt, denn er sah sie, als sie von einem frühen Spaziergang zurückkam.

 

An demselben Tag erschien auch Mr. Thomson Dawkes auf der Bildfläche. Er logierte im Hotel de Paris und lud uns gleich am ersten Abend ein, mit ihm zu Abend zu speisen. Miss Ferrera mußte uns in seiner Gesellschaft gesehen haben, denn als Billy sie das nächstemal ansprach, verhielt sie sich kühl und ablehnend.

 

»Ich wußte nicht, daß Sie ein Freund von Mr. Dawkes sind«, bemerkte sie fast feindlich.

 

»Aber ich bin gar nicht sein Freund«, erklärte Billy. »Höchstens ein Bekannter.«

 

»Sie sind nicht sehr sorgfältig in der Auswahl Ihrer Bekannten.«

 

Als Billy Mr. Dawkes am Nachmittag auf der Terrasse traf, hätte er beinahe seinen Auftrag verloren. Er gab nämlich seiner Überzeugung Ausdruck, daß die junge Dame völlig einwandfrei sei. Etwas zu begeistert ergriff er für sie Partei, und Dawkes fühlte sich verletzt.

 

»Ich zahle Ihnen wöchentlich hundert Pfund, Stabbat. Wenn Sie glauben, daß es keinen Zweck hat, die Untersuchungen fortzusetzen, so sagen Sie mir das. Ich beauftrage dann einen anderen, weitere Nachforschungen anzustellen.«

 

Unter anderen Umständen hätte Billy Thomson Dawkes sofort hinausgeworfen und seiner Ansicht wahrscheinlich durch einen rechten Schwinger noch mehr Nachdruck verliehen. Aber nun war er überraschend ruhig und sagte mir nachher, daß er alles tun würde, die Bearbeitung dieses Falles nicht zu verlieren.

 

»Ich werde beweisen, daß Miss Ferrera vollkommen ehrlich handelt und daß ihr Charakter über jeden Zweifel erhaben ist.«

 

Ich erinnerte ihn daran, daß Mr. Dawkes ihn nicht zu diesem Zweck engagiert hatte.

 

»Was Dawkes haben will und was die Untersuchung ergibt, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Er geht doch nur darauf aus, dieses Mädchen in seine Gewalt zu bekommen – nun, wir werden ja sehen!«

 

Und nun entschloß sich Billy zu einem kühnen Streich. Als am fünften Abend die Spielsäle geschlossen wurden, begleitete er Miss Ferrera die Treppe des Kasinos hinunter.

 

»Würden Sie mir gestatten, daß ich noch etwas mit Ihnen bespreche, Miss Hicks?« fragte er, als sie ihm die Hand reichte und sich von ihm verabschieden wollte.

 

Sie sah ihn erstaunt und überrascht an.

 

»Es ist aber schon sehr spät.«

 

»Besser spät als überhaupt nicht«, entgegnete Billy.

 

Später erzählte er mir, was sich weiter zugetragen hatte.

 

Sie gingen zu der Terrasse, von der aus man einen so schönen Ausblick auf das Meer hat. Um diese Abendstunde lag sie verlassen, nur ein Wachmann des Kasinos war zu sehen.

 

»Miss Ferrera«, sagte Billy ernst, »ich möchte Sie ins Vertrauen ziehen. Wissen Sie, daß Sie beobachtet werden?«

 

»Meinen Sie von Mr. Dawkes?« fragte sie schnell.

 

»Ja, von ihm und von den Leuten, die er dazu beauftragt hat. Ich möchte Ihnen gegenüber vollkommen offen sein. Sie sollen wissen, daß ich selbst einer seiner Agenten bin.«

 

Sie trat einen Schritt zurück. »Es tut mir leid, das zu hören«, entgegnete sie. »Warum werde ich denn eigentlich überwacht?«

 

Billy setzte ihr nun auseinander, daß sie nach Mr. Thomson Dawkes‘ Meinung mit gestohlenem Geld spielte.

 

»Ginge das nicht eher die Polizei als einen Privatdetektiv an?« fragte sie kühl.

 

»Wie man es nimmt. Mr. Dawkes hat einen bestimmten Grund für seine Handlungsweise.«

 

»Das glaube ich auch.«

 

»Miss Ferrera, wollen Sie mir nicht Ihr Vertrauen schenken?« bat Billy.

 

Sie lachte.

 

»Nachdem Sie mir in aller Form mitgeteilt haben, daß Sie ein Agent von Mr. Dawkes sind?« erwiderte sie beinahe verächtlich und brachte Billy dadurch noch mehr aus der Fassung.

 

Die Unterhaltung verlief völlig ergebnislos. Miss Ferrera erklärte rundweg, daß sie tun und lassen könne was sie wolle und daß sie sich jede Einmischung verbäte. Sie deutete sogar an, daß sie sich an den Vorstand des Kasinos wenden und sich über Mr. Dawkes‘ Verhalten beschweren würde.

 

Diese Drohung machte sie wahrscheinlich auch wahr, denn am Morgen des siebenten Tages kam Thomson Dawkes zu uns ins Hotel, während wir frühstückten. Die Leitung der Spielbank ist ängstlich darauf bedacht, daß niemand die Leute ausspioniert, die die Spielsäle besuchen.

 

Er war aufs höchste aufgebracht und erzählte uns, daß man ihm die Eintrittskarte zum Circle Privee entzogen hätte. Außerdem hatte man ihn benachrichtigt, daß seine Anwesenheit im Sportklub nicht erwünscht wäre.

 

»Ich bin sicher, daß diese verdammte Miss Hicks dahintersteckt«, sagte er. »Ich sah, wie sie gestern nachmittag um fünf Uhr aus dem Verwaltungsgebäude kam. Na, ich werde der Kröte schon beibringen, sich über mich zu beschweren!«

 

»Ein energisches Mädchen!« erklärte Billy begeistert, als Dawkes uns verlassen hatte. »Die hat allerdings Nerven und Mut. Ich bewundere ihre Entschlossenheit und hoffe nur, daß sie sich gegen ihn behaupten kann.«

 

Mr. Dawkes ging ins Hotel, um Miss Hicks zur Rede zu stellen, aber sie war nicht anwesend.

 

Später fanden wir heraus, daß sie noch am gleichen Morgen nach Marseille gefahren war. Und diesmal hatte sie entschieden viel Geld gewonnen.

 

Kapitel 5

 

5

 

Die unangenehmen Erfahrungen, die Dawkes in Monte Carlo gemacht hatte, schienen seinen Eifer nur noch zu schüren. Er wollte unbedingt hinter das Geheimnis von Miss Hicks kommen. Aber auch Billy war entschlossener denn je und ließ sich in seinem Glauben an Miss Ferrera nicht wankend machen. Ich hielt seine Überzeugung für reine Hartnäckigkeit, denn allem Anschein nach war die junge Dame wirklich eine Abenteurerin, die das Geld irgendwo entwendet hatte.

 

Es blieb mir allerdings unverständlich, daß sie so selbstbewußt, sicher und ruhig auftrat. Sie spielte, ohne im geringsten nervös zu werden, und schien das Resultat stets von vornherein zu wissen. Billy gegenüber äußerte ich die Ansicht, daß sie vielleicht einer internationalen Bande angehörte, die mit einem der Croupiers im Bunde stand. Aber er wurde geradezu beleidigend, als er das hörte.

 

»Muß denn eine junge Dame, weil sie schön und anziehend ist und außerdem Geld hat, notwendigerweise eine Diebin und Verbrecherin sein?« fragte er empört.

 

Ich ließ diese Annahme fallen, und auf der Rückreise nach London wurde nie wieder die Möglichkeit erwähnt, daß Miss Mary Ferrera irgendwie unehrlich sein könnte.

 

Leslie Jones holte uns auf dem Victoria-Bahnhof ab und beklagte sich schwer darüber, daß er so viele Kunden hatte abweisen müssen.

 

»Im übrigen sind inzwischen die Stühle und andere Möbel geliefert worden; unser neues Briefpapier mit dem verbesserten Firmenkopf kommt morgen früh«, erzählte er.

 

Am nächsten Morgen ging ich um zehn zu Billys Büro. Er war noch nicht da, und als er schließlich kam, mußte er sich in einen Fall von Versicherungsschwindel vertiefen. Aber nach einiger Zeit übergab er die Sache Leslie Jones.

 

Zu Billys großer Erleichterung war Mr. Dawkes in Monte Carlo geblieben. Wir verbrachten den Vormittag in der Stadt, und Billy machte den Versuch, sich mit dem Versicherungsfall zu beschäftigen. Aber es gelang ihm nicht, denn er war nicht bei der Sache.

 

Unvermutet trafen wir George Briscoe auf der Straße. Er war elegant und vornehm gekleidet und kaum wiederzuerkennen. Er grüßte Billy in bester Laune und winkte ihm mit der Hand zu.

 

»Hallo, George«, sagte Billy grinsend. »Wie stehen denn die Aktien?«

 

»Großartig«, erklärte Briscoe vergnügt. »Haben Sie schon mit der Arbeit begonnen, Stabbat?«

 

»Noch nicht.« Billy schüttelte den Kopf. »Wollen Sie mir vielleicht einen Auftrag geben?«

 

»O nein«, antwortete George lächelnd und zeigte seine weißen, ebenmäßigen Zähne. Aber seine Augen blitzten verdächtig auf. »Ich habe außer Ihnen keine Feinde auf der Welt. Morgen gehe ich für ein paar Tage nach Brighton.«

 

Billy sah ihn scharf an. Mit Briscoe war eine Veränderung vorgegangen.

 

»Das heißt, Sie wollen nach Kanada zurück – oder haben Sie sich vielleicht einen noch weniger zugänglichen Teil unserer schönen Erde ausgesucht?«

 

George lachte.

 

»Es ist ein guter Detektiv an Ihnen verlorengegangen«, meinte er. Dann trennten wir uns wieder.

 

Diese Begegnung stimmte Billy sehr nachdenklich.

 

»Seine frohe Laune kommt mir sehr verdächtig vor«, sagte er. »Ich möchte nur wissen, was er gegen mich im Schild führt.«

 

Eine Stunde später gingen wir die Northumberland Avenue entlang., Wir wollten dort zu Mittag speisen. Vor einem der großen Hotels sahen wir eine Anzahl vornehmer älterer Herren mit Zylindern, die sich lebhaft unterhielten. Anscheinend hatte irgendeine Versammlung hier stattgefunden. Plötzlich sah ich Miss Ferrera, die rasch auf uns zukam.

 

Auch Billy entdeckte sie sofort und hielt den Atem an. Sie hätte uns unbedingt sehen müssen, aber kurz bevor sie den Hoteleingang erreichte, wandte sie sich erstaunt um und sprach mit einem hageren, großen Mann, der den Hut nur kurz lüftete. Sie drehte sich um, so daß sie uns den Rücken kehrte. Billy und ich gingen weiter und mischten uns unter die älteren Herren, die noch eifrig über die Verhandlung redeten, die sie am Vormittag geführt hatten. Ich hörte, was Miss Ferrera sagte.

 

»Nein, Sir Philip, ich hatte keine Ahnung, daß Sie in London sind.« Der alte Herr brummte.

 

»So«, erwiderte er wenig liebenswürdig. »Nun, ich möchte Sie jedenfalls morgen in der Bank sprechen. Haben Sie Ihren Urlaub in Paris angenehm verbracht?«

 

»Jawohl, Sir Philip.«

 

»Hoffentlich!« entgegnete er. Seine Stimme klang so laut, daß wir sie auch in noch größerer Entfernung verstanden hätten. »Französisch lernt man am besten, wenn man sich im Land selbst aufhält. Also, morgen früh in der Bank.« Er lüftete wieder kurz den Hut und entließ sie.

 

Sie sah uns nicht, als sie vorüberging, und Billy machte auch keinen Versuch, ihr zu folgen. Wir stiegen vielmehr die Treppe hinauf und bemühten uns, den Portier in eine Unterhaltung zu ziehen.

 

»Was war denn hier los?« fragte Billy. »Etwa eine Kabinettssitzung?«

 

Der Portier lächelte.

 

»Nein, das war nur die Vierteljahresversammlung der Bankiersvereinigung. Die Herren treffen sich immer hier in unserem Hotel. Sie sind wohl von der Presse?«

 

Billy nickte.

 

»Wer war denn der alte Herr mit dem weißen Backenbart?«

 

»Welchen meinen Sie denn? Das sind doch alles alte Herren mit Backenbärten.«

 

»Ich meine den, der eben mit dem dicken kleinen Herrn spricht.« Verstohlen zeigte Billy auf den Mann, den Miss Ferrera mit Sir Philip angeredet hatte.

 

»Ach, das ist Sir Philip Frampton, der Inhaber der West-Country-Bank. Sie haben sicher schon von ihm gehört.«

 

Billy stellte noch einige Fragen, damit der Portier in seinem Glauben bestärkt wurde, es wirklich mit einem Journalisten zu tun zu haben. Als dann Sir Philip in der Richtung zum Trafalgar Square fortging, verabschiedete er sich, und wir folgten dem stattlichen Herrn. Sir Philip speiste im Carlton zu Mittag, und wir taten dasselbe. Nach Tisch setzte er sich in den Palmenhof, ließ sich dort den Kaffee servieren und rauchte eine Zigarre. Nun hielt Billy den Zeitpunkt für gekommen, sich ihm zu nähern, und ging unverfroren auf ihn zu.

 

»Sir Philip Frampton, wenn ich nicht irre?« begann er.

 

»Das ist mein Name«, entgegnete der alte Herr argwöhnisch.

 

»Wir haben uns doch in Elston kennengelernt – erinnern Sie sich nicht mehr?«

 

Billy hatte inzwischen verschiedene Nachschlagewerke zu Rate gezogen und darin entdeckt, daß sich das Hauptgeschäft der Bank in Elston befand.

 

»Ich kann mich durchaus nicht besinnen«, erwiderte Sir Philip ein wenig kühl.

 

Aber Billy ließ sich nicht im mindesten abschrecken, nahm neben dem Bankier Platz, holte ebenfalls sein Etui heraus und steckte sich eine Zigarre an. Ich hielt mich bescheiden im Hintergrund.

 

»Ich habe einen Empfehlungsbrief an Sie«, erklärte Billy. »Ich bin nämlich ein Buchmacher und beabsichtige, eine Filiale in Ihrer Stadt zu errichten. Ich möchte dann auch ein Konto bei Ihrer Bank anlegen.«

 

Sir Philip wurde nun direkt feindlich.

 

»Solche Konten führen wir nicht«, erwiderte er kurz. »Wir sind eine sehr alte, angesehene Firma, und es ließe sich mit unseren Geschäftsprinzipien nicht vereinbaren, Kunden zu haben, die zweifelhafte oder riskante Geschäfte machen.«

 

Er erhob sich und ging mit seiner Kaffeetasse in eine andere Ecke:

 

Billy verstand den Wink.

 

»Natürlich bin ich fest davon überzeugt, daß Miss Ferrera nichts Unrechtes getan hat«, sagte er etwas besorgt zu mir. »Aber die Sache sieht doch merkwürdig aus, nicht wahr? Und es wäre sehr schlimm für sie, wenn man entdeckte, daß sie in Monte Carlo spielt. Nur um ihretwillen wollte ich Sir Philips Ansicht über Glücksspiele hören. Morgen muß ich nach Elston fahren.«