Kapitel 22

 

22

 

Mr. Downer kam aus dem Presseklub. Er trug seinen Regenschirm unter dem Arm und hatte eine lange Zigarre im Mundwinkel.

 

Der Tag war heiß; nicht der leiseste Wind regte sich. Der Schirm schien völlig überflüssig zu sein, aber Mr. Downer wäre ebensowenig ohne seinen Regenschirm ausgegangen wie ein anderer ohne Kragen und Krawatte. Er freute sich auf das Wochenende in seinem kleinen Häuschen an der Küste.

 

Unangenehm war dagegen das Bewußtsein, einen Mißerfolg gehabt zu haben. Die Zeitungen brachten auf den hinteren Seiten nur noch ein paar Zeilen über den Verlauf der Nachforschungen. Downer wußte, daß Andrew Macleod in die Stadt zurückgekehrt war, er hatte zweimal wegen anderer Dinge mit ihm zu tun gehabt.

 

Es war bei der zuständigen Behörde darum nachgesucht worden, Artur Wilmot als Erben des Merrivanschen Nachlasses zu bestätigen, und der junge Mann hatte die Absicht geäußert, Merrivans Haus zu verkaufen, sobald er ein passendes Angebot dafür bekommen würde.

 

Downer war auf dem Weg, ein Manuskript bei der Redaktion eines Magazins abzugeben. Die Redaktion lag in einer wenig vornehmen Stadtgegend, und er kam durch viele kleine Straßen. Er machte gerade an einer Straßenecke halt, an der ein kleines Warenhaus stand, als eine junge Dame, die ein Paket unter dem Arm trug, aus der Tür trat und schnell davonging. Ihre Gestalt kam ihm bekannt vor, und anstatt weiterzugehen, folgte er ihr. Sie bog um eine andere Straßenecke, und bei dieser Gelegenheit konnte er ihr Gesicht einen Augenblick sehen. Es war Stella Nelson. Was mochte sie hier, in dieser Gegend, zu tun haben? Er ging ihr vorsichtig nach.

 

Vor der Tür eines kleinen Hauses blieb sie stehen, schloß auf und ging hinein. Es war ein sehr kleines Gebäude. Downer merkte sich die Hausnummer und schlenderte die Straße entlang, bis er eine Frau müßig an ihrer Tür stehen sah. Sie hatte die Arme verschränkt und schien nur auf jemand zu warten, der Zeit hatte, mit ihr zu klatschen.

 

»Nein, Sir, sie wohnt nicht hier«, sagte sie, als Downer fragte und einen falschen Namen nannte.

 

»Ich bin seit Jahren nicht mehr in dieser Straße gewesen«, bemerkte Downer lächelnd, »es hat sich nicht viel verändert.«

 

»Hier verändert sich überhaupt nichts«, erwiderte die Frau redselig. »In hundert Jahren wird die Gegend noch genauso aussehen.«

 

»Und nun glaube ich, die junge Dame zu kennen, die in Nummer 73 wohnt. Es ging ihr sonst immer recht gut.«

 

»Sie wohnt nicht wirklich hier; sie kommt jeden Morgen und geht abends wieder fort. Sie ist eine vornehme Dame, und doch macht sie die ganze Hausarbeit selbst. Ich habe sogar gesehen, wie sie die Straße gekehrt hat.«

 

»Wer wohnt denn dort?«

 

»Ach, ein Seemann, soviel ich weiß. Vielleicht ihr Vater.«

 

»Ein Seemann? Ein Matrose?«

 

»So etwas Ähnliches muß er sein. Manchmal ist er monatelang fort, aber sie habe ich früher nie hier gesehen.«

 

Mr. Downer sog an seiner kalten Zigarre. Er witterte einen neuen Skandal.

 

»Er ist wohl ein hübscher Kerl – groß und schlank?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Man kann nicht gerade behaupten, daß er sehr gut aussieht. Obendrein ist er jetzt krank, und ich glaube, daß sie gekommen ist, um ihn zu pflegen. Sie hat es zu etwas gebracht in der Welt, hat aber ihren alten Vater nicht vergessen. Das finde ich nett von ihr.«

 

Die Frau war nun im besten Fahrwasser und wollte einen längeren Vortrag über junge Mädchen im allgemeinen halten, doch Mr. Downer wußte genug. Er zog den Hut tiefer ins Gesicht, nahm den Schirm von einem Arm unter den anderen und ging den Weg zurück, den er gekommen war.

 

Es war bezeichnend für ihn, daß er die Frau mitten in ihrer Erzählung einfach stehenließ, ohne sich zu entschuldigen. Er hatte erfahren, was er wissen wollte, das genügte. Er gab sich zwar die größte Mühe, neue Bekanntschaften zu machen, aber er verschwendete keinen Augenblick damit, nutzlose Bekanntschaften fortzusetzen.

 

Nach seinem Besuch auf der Redaktion kam er auf seinem Weg zum Bahnhof an Scotland Yard vorbei. Er blieb ein wenig stehen und überlegte. Nachdem er einen Entschluß gefaßt hatte, ging er auf das düstere Gebäude zu.

 

»Doktor Macleod ist im Laboratorium, Mr. Downer.« Der Sergeant in der Portierloge schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er Besuch empfängt.« Er dämpfte seine Stimme. »Er ist mit dem Giftmord beschäftigt – Sie wissen doch, die Frau, die von ihrem Mann umgebracht wurde – Fall Sweitzer. Inspektor Reeder bearbeitet die Sache. Aber der Doktor hat die ärztliche Untersuchung zu machen. Heute nachmittag hat er den berühmten Spezialisten Tensey zugezogen. Das wäre eine Geschichte für Sie.«

 

Downer nickte. Er hatte selbst schon die Absicht gehabt, diesen Fall aufzugreifen. Der ›Daily Globe Herald‹ hatte ihn dazu aufgefordert, aber diese Zeitung zahlte bekanntermaßen etwas schlecht.

 

»Sehen Sie einmal zu, ob er sich sprechen läßt, und wenn es möglich ist, geben Sie ihm meine Karte.«

 

Der Beamte verschwand. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder erschien und mit der Visitenkarte winkte: »Kommen Sie, Mr. Downer.«

 

Andy trug noch seinen weißen Arbeitskittel. Er wusch sich gerade die Hände, als Downer eintrat.

 

»Nehmen Sie Platz. Ich kann Ihnen nicht viel über diesen Fall mitteilen. Die Obduktion der Leiche ist noch nicht beendet, aber Sie können schreiben, daß Sweitzer heute morgen verhaftet wurde, als er an Bord eines französischen Passagierdampfers ging.«

 

Andy trug Downer nichts nach. Der Mann mußte ja schließlich auch leben. Zweifellos war er sonst sehr gewissenhaft in seinen Berichten und hatte die Polizei bei ihren Nachforschungen früher wirksam unterstützt. Das würde auch in Zukunft der Fall sein.

 

»Ich bin nicht deswegen hergekommen. Die Nachricht von seiner Verhaftung wird ja sowieso in den Abendzeitungen erscheinen.« Downer warf seinen Zigarrenstummel in den Papierkorb. »Ich kam, um mit Ihnen über Miss Nelson zu sprechen.«

 

Andy hatte sich die Hände abgetrocknet und hängte das Handtuch auf.

 

»Ich dachte, Ihr Interesse an Miss Nelson hätte sich inzwischen verflüchtigt. Was haben Sie denn schon wieder entdeckt?«

 

»Sie ist hier in London.«

 

»Hier?«

 

Andys Überraschung war nicht geheuchelt.

 

»Wohnt sie hier – oder haben Sie sie nur auf der Straße gesehen?«

 

»Ich weiß nicht, wo sie wohnt, aber seit zwei Wochen besucht sie regelmäßig einen kranken Matrosen in der Castle Street Nummer 73.«

 

»Castle Street Nummer 73?«

 

Downer hatte den Eindruck, daß diese Nachricht Andy irgendwie beunruhigte.

 

»Das ist doch eine ziemlich armselige Gegend, nicht wahr?«

 

Downer nickte. »Ich dachte, es würde Sie interessieren.«

 

»Ich wüßte nicht, warum sie nicht einen kranken Matrosen pflegen sollte.«

 

»Nein, da ist nichts dabei.«

 

»Sie wissen doch wahrscheinlich, daß Miss Nelson eine ausgebildete Krankenpflegerin ist – im Krieg war sie lange in Lazaretten tätig.«

 

»Das wußte ich allerdings nicht.« Downer nahm sein Etui heraus und nahm sich eine neue Zigarre. »Vielleicht setzt sie jetzt ihre guten Werke fort.«

 

»Sehr wahrscheinlich.«

 

Downer erhob sich.

 

»Ich dachte schon daran, nächste Woche einmal wieder nach Beverley zu gehen, vielleicht kann man dort einen neuen Anhaltspunkt finden.«

 

»Auf Ihren alten Gewährsmann können Sie wohl nicht mehr rechnen«, sagte Andy lächelnd.

 

»Sie meinen Wilmot?«

 

Andy nickte.

 

»Das ist ein merkwürdiger Mensch.« Downer steckte seine Zigarre an. »Was treibt der denn eigentlich? Er muß doch irgend ein Büro hier in der Stadt haben?«

 

»Ich weiß es nicht, ich habe mich noch nie darum gekümmert.«

 

»Könnte er vielleicht mit Albert Selim identisch sein?«

 

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, aber ich habe ihn nicht weiter verfolgt. Warum versuchen Sie sich nicht an dieser Aufgabe? Ich glaube, Sie würden eine glänzende Geschichte daraus machen.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Andy atmete erleichtert auf, als Downer gegangen war, der ihm eine so überraschende Nachricht gebracht hatte. Er hatte von Stella weder etwas gesehen noch gehört, seitdem er Beverley verlassen hatte. Es war nur ein Brief von ihrem Vater gekommen, in dem er ihm mitteilte, daß sie sich einen Monat bei Verwandten aufhalten wollte. Kenneth Nelson hatte sich offenbar damit zufriedengegeben. Es wäre Andy nicht schwergefallen, die Personalien des kranken Matrosen feststellen zu lassen, aber er wollte Stella nicht nachspionieren, welches Geheimnis sie auch haben mochte. Noch mehr allerdings haßte er die Unruhe, die ihn befallen hatte, als er in die Stadt zurückgekehrt war. Das Leben hatte viel von seinem Reiz für ihn verloren, seitdem er das Mädchen nicht mehr sah. War er gekränkt? Ja, er war ein wenig verletzt, weil sie mit ihren Sorgen nicht zu ihm gekommen war. Er wünschte, er hätte Downer gefragt, ob sie noch einen Verband trug. Warum hatte sie ihm nicht alles erzählt? Er hatte es erst von anderer Seite hören müssen – und das verletzte ihn.

 

Der kranke Matrose –? Er zuckte die Schultern. Stella hatte niemandem Rechenschaft abzulegen. Wenn es ihr gefiel, ihre Zeit einem armen Kranken zu widmen, so war das ihre Sache. Und doch war er neugierig, wer dieser Kranke wohl sein mochte. Das redete er sich aber nur ein, denn in Wirklichkeit wollte er Stella wiedersehen.

 

Er setzte sich hin, um einen Brief an sie zu schreiben. Aber nach drei vergeblichen Versuchen faßte er einen anderen Entschluß. Sie kannte ihn gut genug, daß sie nicht glauben würde, er wolle sie bespitzeln oder etwas gegen sie unternehmen.

 

Er nahm seinen Hut und machte sich auf den Weg nach der Castle Street. Er wollte zu Fuß gehen. Unterwegs überlegte er, ob er in das Haus gehen solle oder nicht; aber als er vor Nr. 73 angekommen war, zögerte er keinen Augenblick zu klopfen.

 

Er hörte Stimmen flüstern und Treppen knacken. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür. Stella wurde verlegen, als sie ihn sah.

 

»Ach!« Zum erstenmal sah er sie verwirrt. »Das ist aber eine Überraschung, Andrew! Wie hast du denn erfahren, daß ich hier bin? Ich machte hier nur einen Besuch.«

 

Sie war sichtlich nervös. Aber noch seltsamer war es, daß sie mitten in der Türöffnung stand und keine Anstalten machte, ihn hereinzubitten.

 

»Ich wollte mich einmal nach dir umsehen«, erwiderte Andy ruhig. »Ich habe gehört, daß du hier jemand pflegst.«

 

»Wer hat dir das gesagt? Vater weiß es doch nicht?« fragte sie schnell.

 

Sie war rot geworden. Es schien ihr entsetzlich peinlich zu sein, daß er sie in dieser Lage antraf. Niedergeschlagen wandte er sich wieder zum Gehen, aber sie hielt ihn zurück.

 

»Willst du nicht einen Augenblick warten?«

 

Sie ging den Gang entlang, trat in ein Zimmer und kam gleich wieder heraus.

 

»Komm bitte herein. Ich möchte dir meinen Patienten vorstellen.«

 

Andy zögerte einen Augenblick, dann folgte er ihr. Sie stand im Zimmer und hielt die Tür für ihn offen. Vom Gang aus konnte er nur das Fußende eines Bettes sehen.

 

»Komm nur herein«, sagte sie noch einmal.

 

Andy trat näher und wollte seinen Augen nicht trauen, als er den Kranken sah – es war Scottie.

 

»Donnerwetter!« Andys Staunen war begreiflich.

 

Scottie sah nicht sehr krank aus und war vollständig angezogen, obwohl er unter einer leichten Decke lag.

 

»Was ist denn mit Ihnen los, Scottie?«

 

»Ich habe eine böse Malaria mit allerhand Nebenerscheinungen«, erwiderte Scottie prompt.

 

»Was fehlt ihm?« wandte sich Andy an Stella.

 

Sie sah zu Scottie hinüber, dann schaute sie wieder Andy an.

 

»Ich muß es wohl sagen. Scottie hat sich verletzt und wollte zu keinem Arzt gehen. Ich bin ja Krankenpflegerin. Obwohl es eine schreckliche Wunde war, ist sie doch recht gut geheilt.«

 

Scottie nickte.

 

»Stimmt auffallend, Macleod. Bei allem Respekt vor Ihrer Kunst muß ich doch sagen, daß sie der einzige mir bekannte Mensch ist, der ein Wunder getan hat.«

 

»Sie haben sich also verletzt – doch nicht etwa an der Hand?«

 

Scottie nickte wieder.

 

»Vielleicht durch einen Schuß, den ein wütender Hausbesitzer abgab, in dessen Haus eingebrochen wurde?«

 

»Er hat schon wieder alles herausgebracht«, sagte Scottie ärgerlich. »Ich war zufällig im Park und lief ihm gerade in die Schußlinie.«

 

»Ich verstehe.« Andy war erleichtert. »Dann waren Sie es also, dessen Hand verletzt wurde. Und Miss Nelson nahm Sie mit auf ihr Zimmer, um Sie zu verbinden. Ich bemerkte aber nichts von Ihrer Verletzung, als Sie damals von Beverley fortgingen.«

 

»Ich hatte doch meine Hände in die Hosentaschen gesteckt. Ich hatte verdammte Schmerzen, das können Sie mir glauben.«

 

Stella legte ihre Hand auf seinen Arm.

 

»Mr. Scottie war schwer verletzt, und wenn er zu einem Arzt gegangen wäre, hätte das doch allerhand unangenehme Folgen gehabt. Die Polizei suchte doch gerade einen Mann mit einer verletzten Hand.«

 

»Sie also brachen in Beverley Hall ein?« Andy setzte sich. Er schaute Scottie düster an, der sich aber nicht im mindesten einschüchtern ließ. »Wozu dann all dies Gerede von Ihrer Umkehr?«

 

»Sie schreitet dauernd fort«, erwiderte Scottie vergnügt. »Ich brauche mich ja jetzt nicht länger zu verstellen. Sie sollen die Wahrheit erfahren, Macleod«, sagte er dann mit überzeugender Offenheit. »Ich hatte die Vermutung, daß der Mann, der Sie und Wilmot damals bedrohte, ein Diener von Beverley Hall war, und ich bin dort hingegangen, um Nachforschungen anzustellen. Ich wollte vor allen Dingen diesen Trauschein wieder zurückholen.«

 

»Welcher Diener soll es denn gewesen sein?«

 

»Ich wußte nichts Genaues und weiß auch heute noch nicht, welcher es gewesen ist. Vielleicht wäre es auch besser gewesen, ich hätte mit Ihnen darüber gesprochen, und Sie wären mit Salter der Sache nachgegangen. Ich bin überzeugt, daß es ein Diener von Beverley Hall war. Ich habe ihn nämlich gesehen. Nachdem Sie mir erzählt hatten, was in Wilmots Wohnung passierte, bin ich heimlich aus dem Haus geschlichen und kam auf Salters Gelände. Ich dachte mir schon immer, daß Merrivans Mörder auf diesem Weg entkommen ist. Ich vermutete längst, daß es einer der Parkwächter sein müßte, und das stimmt auch ganz sicher.«

 

»Was!«

 

Scottie nickte.

 

»Sehen Sie, die Parkwächter waren die einzigen, die in der Nacht draußen waren und berechtigt sind, den Park und das Gelände von Mr. Salter zu betreten. Ich erzählte Ihnen doch schon von dem Mann, den ich damals im Obstgarten sah. Ich sagte Ihnen allerdings nicht, daß er wie ein Parkwächter gekleidet war – er trug einen braunen Manchesteranzug und Gamaschen –«

 

»Warum haben Sie mir denn das nicht gleich gesagt?«

 

»Weil ich auch einmal ein wenig Detektiv spielen wollte. Es hätte mir einen Heidenspaß gemacht, zu Ihnen zu kommen und zu sagen: ›Macleod, darf ich Ihnen den Mörder Merrivans und Sweenys vorstellen?‹ Das war natürlich verrückt, das gebe ich zu. Aber schließlich war es doch begreiflich.«

 

»Was hat sich denn in jener Nacht zugetragen?«

 

»Ich kam in den Park und ging geradenwegs auf das Haus zu. Wenn sich der Bursche, der in Wilmots Wohnung gewesen war, nicht sehr beeilte, mußte ich ihn noch einholen, wenn meine Vermutung richtig war. Und ich habe ihn tatsächlich gesehen! Ich lag hinter einem Gebüsch, als er vorbeikam. Ich hätte meine Hand ausstrecken und ihn berühren können. Aber ich tat es nicht. Er ging direkt ins Haus.«

 

»Auf welchem Weg?«

 

»Er kletterte durch ein Fenster, durch dasselbe Fenster, das ich später öffnete, obwohl es nicht so einfach war. Es war kein Licht in dem Raum, als er das Fenster hinter sich schloß. Ich dachte schon, ich hätte seine Spur verloren, aber dann wurde es drinnen hell – die kleine Lampe auf Mr. Salters Schreibtisch brannte.«

 

»War das in der Bibliothek?«

 

Scottie nickte.

 

»Er kehrte mir den Rücken zu und beugte sich über den Tisch, als ob er etwas betrachtete.«

 

»War es ein Parkwächter?«

 

»Ja. Aber welcher, hätte ich nicht sagen können. Ich war früher noch nie auf dem Gut, obwohl ich ein paar Kollegen kenne, die schon dort waren.«

 

Andy starrte ihn an.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher?«

 

»Vollkommen. Ich sah ihn nur ein paar Sekunden, er zog eine Schublade auf, dann noch eine andere, und dann drehte er plötzlich das Licht wieder aus. Zuerst verstand ich nicht warum, aber später wurde es mir klar. Ich hatte kaum Zeit, mich zu bücken, als er zum Fenster trat und die Jalousie herunterließ. Gleich darauf brannte das Licht wieder, und es blieb vier bis fünf Minuten hell. Dann wurde es aufs neue dunkel, und ich wartete lange, bevor ich mich rührte. Ich dachte nämlich, daß er aus der Vordertür herauskommen würde. Aber ich irrte mich. Erst nach einer Stunde sah ich, wie er den hinteren Ausgang benützte. Ich schlich Jim das Haus herum und überlegte, was ich nun tun sollte, als sich eine Tür nach dem Hof zu öffnete und ein Mann heraustrat. Aus seiner Kleidung schloß ich, daß es derselbe war wie vorher. Ich beobachtete ihn, bis er außer Sicht kam.«

 

»Haben Sie denn sein Gesicht nicht gesehen?«

 

»Dazu war es zu dunkel. Es war aber ein Parkwächter und bestimmt derjenige, den ich vorher schon gesehen hatte – darauf könnte ich schwören. Nachdem er verschwunden war, ging ich wieder zur Hauptfront und versuchte das Fenster zu öffnen, wo er eingestiegen war. Aber er hatte den Riegel von innen vorgeschoben, und es dauerte eine Viertelstunde, bis ich es öffnen konnte. Ich kletterte dann in die Bibliothek. Ich gebe zu, daß ich dort etwas Unordnung gemacht habe, aber ich schwöre Ihnen, Macleod, daß ich keine Wertsachen stehlen wollte. Es ist nicht meine Gewohnheit, in ein Haus einzubrechen, ohne zu wissen, wo die Wertsachen liegen.«

 

»Das dachte ich mir auch, Scottie, aber ich verstehe nicht, warum Sie in der Bibliothek alles durchwühlt haben?«

 

»Ich weiß es selbst nicht. Ich habe nur die Vorstellung gehabt, daß der Parkwächter eingebrochen war, um Privatpapiere zu lesen, und ich hätte zu gern herausgebracht, wonach er gesucht hatte.«

 

»Haben Sie etwas verbrannt?«

 

»Verbrannt?« fragte Scottie erstaunt. »Nein – wie kommen Sie denn darauf?«

 

»Erzählen Sie nur weiter.«

 

»Es ist nicht mehr viel zu erzählen. Ich war töricht genug, im Haus herumzulaufen, und geriet dabei in Salters Schlafzimmer. Ich wünschte, ich hätte die Dummheit nicht begangen«, sagte Scottie reuevoll und betrachtete seine verbundene Hand.

 

Stella hatte keinen Blick von Andy gewandt. Sie hatte diese Geschichte wieder und wieder gehört und ergänzte nun Scotties Mitteilungen.

 

»Als Scottie zurückkam und mir alles erzählte, war ich sehr bestürzt. Zuerst dachte ich, er habe selbst eingebrochen, aber als er mir dann erklärte, daß er auf der Spur des Mörders gewesen war, tat ich alles, was in meinen Kräften stand, um ihm zu helfen. Er meinte, man würde ihn verhaften, da sicher alle Ärzte der Umgegend benachrichtigt würden, auf einen Mann mit einer Schußwunde in der Hand zu achten. Mr. Scottie erzählte, daß er ein kleines Haus in London habe, und ich versprach ihm, jeden Tag zu kommen und seine Hand zu verbinden.«

 

Andy atmete erleichtert auf.

 

»Nach meiner beruflichen Erfahrung müßte ich Scottie eigentlich für einen Lügner halten, aber ein Gefühl sagt mir, daß er die Wahrheit spricht. Sie beide machen mir fast ebenso viele Schwierigkeiten wie Albert Selim. Können Sie Ihre Hand noch gebrauchen, Scottie?«

 

»O ja«, entgegnete Scottie mit Genugtuung, »es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß, Macleod, aber meine Hand ist vollständig in Ordnung. Ich bin beinahe wiederhergestellt. Wenn Sie heute nicht gekommen wären, hätten Sie mich nicht mehr gesehen. Und ich wünschte wirklich, Sie hätten von der ganzen Geschichte nichts erfahren.«

 

»Ich mußte aber kommen«, sagte Andy langsam. »Downer hat Sie hier aufgestöbert, das heißt, er war auf der Spur von Miss Nelson. Wer wohnt übrigens oben?«

 

Scottie sah einen Augenblick schuldbewußt aus.

 

»Ein alter Freund von mir«, erwiderte er dann möglichst gleichgültig. »Ein ehemaliger Kollege.«

 

»Haben Sie ihn in Dartmoor kennengelernt?« fragte Andy ironisch. Scottie lächelte nachsichtig.

 

»Er ist wirklich nur ein alter Freund von mir. Sie kennen ihn nicht, lassen wir ihn in Ruhe«, fügte er hastig hinzu, »er ist so scheu.«

 

Andy war taktvoll und fragte nicht weiter.

 

Kapitel 24

 

24

 

Andy wartete, während Stella Scottie beschwor, seine Hand mindestens zweimal am Tag zu verbinden, und ihn in der Anwendung der verschiedenen Salben und Puder unterwies.

 

Andy begleitete sie. Er war unendlich glücklich, sie wiederzusehen, selbst unter diesen etwas sonderbaren Umständen. Und weil er so glücklich war, schwieg er. Aber sie dachte, er sei böse auf sie.

 

»Andrew, ich tat es nur, weil ich dachte, es sei in deinem Sinn.« Es waren ihre ersten Worte, seit sie das Haus verlassen hatten.

 

»Wovon sprichst du?« fragte er schnell und fuhr aus seinen Gedanken auf. »Daß du dich um Scottie gekümmert hast? Das war sehr lieb von dir. Es ist doch eigentlich eine Schwäche von mir, alles zu glauben, was Scottie sagt. In neunundneunzig von hundert Fällen wäre die Geschichte von dem Parkwächter auch Unsinn gewesen. Aber ich bin überzeugt, daß er hier die Wahrheit sagt. Ich werde wieder nach Beverley Green gehen. Dieser Parkwächter gibt mir einen Grund.«

 

»Brauchst du denn überhaupt einen Grund«, fragte sie. »Komm doch gleich heute abend.«

 

»Ich habe auch schon daran gedacht, aber … es würde besser aussehen …«

 

Sie wurde rot. »Du meinst, die Leute würden reden, wenn wir zusammen zurückkommen, nachdem wir am gleichen Tag verschwunden sind?« fragte sie ruhig. »Es ist doch merkwürdig, daß solche Dinge den Männern eher auffallen als uns Frauen. Jetzt mußt du aber warten, bis ich meinen Koffer gepackt habe. Du kannst ihn nachher tragen.«

 

Er ging vor dem kleinen Haus, in dem sie ein Zimmer gemietet hatte, auf und ab. Er war mit sich und der Welt zufrieden und so glücklich wie noch nie.

 

In derselben Stimmung war auch Stella, als sie eilig ihren Koffer fertig machte, da sie fürchtete, ihn zu lange aufzuhalten. Sie mußte aber noch ihre Miete bezahlen und stand wie auf Kohlen, während die Wirtin fortging, um Geld zu wechseln. Erst nach fünf Minuten kam sie wieder. Stella nahm das Geld, griff nach ihrem Koffer und trat schnell aus dem Haus.

 

Enttäuscht schaute sie die Straße hinauf und hinunter. Andy war verschwunden. Sie wartete noch zehn Minuten, bevor sie einen kleinen Jungen nach einem Auto schickte. Als der Wagen kam und sie einstieg, hätte sie weinen mögen.

 

Andy war so in Gedanken vertieft, daß er kaum auf seine Umgebung achtete. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße erhob sich eine hohe Mauer, hinter der sich das Glasdach einer Werkstatt zeigte. Offensichtlich gehörte diese zu einem der großen Läden in der High Street, deren Rückfront er von hier aus sehen konnte. In der Mauer war eine kleine Tür. Er sah gerade zerstreut hin, als sich diese öffnete und ein Mann heraustrat, dem eine elegant gekleidete Frau ohne Hut folgte. Sie sprachen einen Augenblick miteinander, dann verabschiedete sie sich mit einem Nicken und ging wieder hinein. Der Herr ging mit schnellen Schritten der Hauptstraße zu.

 

*

 

Andys Interesse an dem Vorgang war gering, erst als der Herr an der Straßenecke angekommen war und sich umwandte, um einem Auto zu winken, wurde er aufmerksam. Es war Artur Wilmot! Andy hatte den jungen Mann noch nie in der Stadt gesehen, und obwohl er Nachforschungen hatte anstellen lassen, war er doch nicht hinter seinen geheimnisvollen Beruf gekommen. Er schaute sich um und hoffte, Stella aus der Tür kommen zu sehen, dann wurde ihm klar, daß sie mit dem Packen noch nicht fertig sein konnte. Aber diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen, und obwohl es eine Ungehörigkeit sondergleichen war, ging er, wenn auch widerstrebend, doch rasch über die Straße, als Wilmot in das Auto stieg. Stella würde es verstehen, er konnte ihr ja morgen alles erklären. Diese Chance würde sich ihm wahrscheinlich nicht wieder bieten, dachte er. Trotzdem verwünschte er Artur Wilmot und hätte ihn am liebsten am Ende der Welt gewußt.

 

Er rief ein vorüberfahrendes Taxi an.

 

»Folgen Sie dem Wagen dort«, sagte er dem Chauffeur.

 

*

 

Trotz der Enttäuschung war Stella froh, wieder nach Beverley Green zu kommen, und ebenso freute sich Kenneth Nelson über ihre Rückkehr. Er nahm sie mit in das Atelier und zeigte ihr dort ein neues Gemälde und erzählte ihr, wie sparsam die neue Köchin sei. Trotzdem war sie sehr niedergeschlagen. Gleichgültig las sie einen Brief von Artur Wilmot, ohne zunächst zu wissen, wer der Schreiber war.

 

*

 

»Nun erzähle einmal, was du inzwischen alles getan und erlebt hast«, sagte ihr Vater strahlend. »Die Leute haben viel nach dir gefragt, ich sagte ihnen, du hättest noch einen Spezialkursus in Krankenpflege genommen, wie du mir ja auch geschrieben hast. Wie bist du denn eigentlich darauf gekommen, Liebling? Ich kann mir ja denken, daß die Ereignisse dich von hier fortgetrieben haben, ich wundere mich nicht darüber. Hast du unseren Freund Macleod einmal wiedergesehen?«

 

»Ja, ich habe ihn kurz gesprochen.«

 

»Die Leute reden jetzt nicht mehr über den armen Merrivan«, fuhr Nelson fort. »Und ich muß sagen, man ist ordentlich erlöst. Artur Wilmot will das Haus verkaufen – denke dir, man hat kein Testament gefunden. Ein merkwürdiger Mensch, dieser Wilmot! Er starrt mich immer an, als ob er beleidigt sei. Dabei hat er Glück gehabt, daß ich ihn an jenem Abend nicht getroffen habe, nachdem ich den Artikel dieses verdammten Zeitungsreporters gelesen hatte.«

 

Sie hörte kaum zu. Beverley Green ohne Andy hatte keinen Reiz mehr für sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie ohne ihn hier leben sollte, und doch hatte sie schon drei Jahre da gewohnt, bevor sie ihn kennenlernte. Freilich war sie damals noch ein halbes Kind gewesen.

 

Ob Andy je zurückkommen würde? Sicher hatte er sich alles überlegt, während sie ihre Sachen packte, und sich entschlossen, die Freundschaft mit ihr abzubrechen. Es war grausam von ihm, sie ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen – außerdem war es feige.

 

»Ich gehe jetzt zu Sheppards zu einer Bridge-Partie. Willst du mitkommen? Sie würden sich bestimmt freuen.«

 

»Nein, danke Vater, bitte geh ohne mich.«

 

Sie war froh, daß sie allein sein konnte. Natürlich hatte Andy Scotties Erzählung nicht geglaubt. Schon während er auf der Straße so liebenswürdig mit ihr sprach, war er im geheimen böse auf sie und hatte nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet, davonlaufen zu können. Sie wünschte, sie hätte Andy wieder hassen können. Sie hatte Scottie doch nur geholfen, weil sie dachte, damit ihm zu helfen! Ihre Freundschaft konnte doch nicht so enden! Sie würde ihm schreiben.

 

Sie hatte eben ›Lieber Doktor Macleod‹ geschrieben, als sie das Mädchen die Haustür öffnen hörte. Sie war in Gedanken so mit dem Brief beschäftigt, daß sie das schwache Klingeln nicht gehört hatte, und als sie nun aufschaute, sah sie in das lächelnde Gesicht Andys. Ohne darauf zu achten, daß das Mädchen dabeistand, lief sie ihm entgegen und ergriff seine Hände.

 

»Bist du doch gekommen? Das war aber nicht nett von dir, Andy! Warum hast du mich im Stich gelassen?«

 

»Ja, es war recht unhöflich. Aber ich werde dir jetzt auch die lustigste Geschichte erzählen – du wirst lachen, Stella.«

 

Sie schien ihn selbst köstlich zu amüsieren, denn er lachte laut auf.

 

»Ich will aber gar nicht lachen«, erwiderte sie eigensinnig. »Ich wollte dir eben einen schrecklich bösen Brief schreiben. Nein, du darfst ihn nicht sehen!«

 

Aber er hatte den Bogen schon genommen.

 

»Lieber Doktor Macleod!« Er lächelte vergnügt. »Ich würde noch etwas förmlicher geschrieben haben.«

 

»Nun erzähl deine amüsante Geschichte. Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist. Warum bist du denn fortgelaufen, Andy?«

 

»Weil ich gerade Artur Wilmot die Straße entlangkommen sah. Er war so geheimnisvoll. Ich wollte seinen Beruf ergründen. Kennst du die Firma Flora?«

 

»Flora?« fragte sie erstaunt.

 

»Hast du nie etwas von Flora gehört? Ich dachte, dieser Name wäre allen Frauen geläufig.«

 

»Ich kenne ein Hutgeschäft Flora.«

 

Er nickte.

 

»Flora, die berühmte Modistin, ist Artur Wilmot!« sagte er feierlich.

 

Sie war sprachlos.

 

»Artur Wilmot! Aber das ist doch lächerlich! Artur versteht doch gar nichts von Hüten.«

 

»Im Gegenteil, er ist eine Autorität auf diesem Gebiet«, erwiderte Andy lachend. »Als ich vor einiger Zeit zu ihm kam, sah ich einen halbfertigen Damenhut auf dem Tisch liegen. Ich habe damals recht böse Schlüsse daraus gezogen. Das also ist Arturs Geheimnis. Er ist Damenhutfabrikant! Und er ist wirklich die berühmte Flora. Er besitzt drei Geschäfte in der Stadt, ich bin ihm von einem zum anderen gefolgt. Anscheinend fährt er immer abends herum, um die Geldeingänge in Empfang zu nehmen. Aber warum sollte er denn auch kein Hutmacher sein?«

 

»Warte einmal.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch und kam mit einem Brief zurück.

 

»Dieses Schreiben fand ich vor, als ich zurückkam.«

 

Es war eine formelle, kurze Nachricht, in der Mr. Artur Wilmot Miss Stella Nelson bat, seinem Rechtsanwalt alle Einzelheiten über ihre Finanzgeschäfte mit dem verstorbenen Mr. Darius Merrivan mitzuteilen.

 

Andy las das Schreiben durch.

 

Sie begegneten Artur Wilmot am nächsten Morgen im Golfklub. Er grüßte sehr kühl mit einer kleinen Verbeugung.

 

»Guten Morgen, Artur«, sagte Stella liebenswürdig. »Ich habe Ihren Brief erhalten.«

 

Er wurde rot.

 

»Vielleicht besprechen Sie die Angelegenheit mit Mr. Vetch«, erwiderte er etwas hochmütig und ging zur Abschlagstelle.

 

»O Flora«, sagte sie halblaut, aber Artur Wilmot hatte es doch gehört. Er war an dem Tag ein schlechter Golfspieler.

 

Kapitel 25

 

25

 

Downer kam auf dem Weg zu seinem Haus an der Polizeistation in Sea Beach vorbei und wurde auf ein Plakat aufmerksam, das draußen angeschlagen war.

 

Es war gut sichtbar unter anderen Bekanntmachungen über unaufgeklärte Leichenfunde, durchgebrannte Kassierer und steckbrieflich gesuchte Personen angebracht. Er hatte aber kaum die ersten Worte gelesen, als ihm einfiel, daß er diesen Anschlag schon in der Stadt gesehen hatte.

 

›Es werden genaue Angaben gesucht über Albert Selim (mit anderem Namen Jos. Wentworth). Der Betreffende wird gesucht in Verbindung mit den Morden an Darius Merrivan und John Albert Sweeny, die in der Nacht zum 24. Juni begangen wurden.

 

Selim ist ein Geldverleiher im Alter von etwa fünfundfünfzig Jahren. Er geht etwas gebückt, trägt eine goldgeränderte Brille und ist glattrasiert. Er wird wahrscheinlich versuchen, Schecks mit der Unterschrift »Jos. Wentworth« einzuwechseln. Vermutlich ist er im Besitz großer Barsummen. Jede Angabe, die zu seiner Ergreifung führt, wird belohnt. Alle Informationen sind zu richten an Dr. A. Macleod, Scotland Yard, oder an die nächste Polizeistation.‹

 

Downer war ärgerlich. Alles, was ihn an Beverley Green erinnerte, verstimmte ihn. Er hatte zuversichtlich geglaubt, die Lösung gefunden zu haben, als Artur Wilmot ihm damals im Vertrauen mitgeteilt hatte, daß Stella Nelson in der Mondnacht bei Merrivan gewesen war.

 

Wenn sich die Dinge so entwickelt hätten, wie Downer gehofft hatte, so wäre er restlos glücklich gewesen, soweit ihm das überhaupt möglich war. Er stand Stella nicht feindselig gegenüber, in gewisser Hinsicht bewunderte er sie sogar. Er wußte ebensogut, was man an Frauen wie an Architektur zu schätzen hatte. Es hätte ihm auch keinerlei persönliche Genugtuung bereitet, Andrew Macleod zu ruinieren, denn er achtete ihn wirklich. Nur kannte er in beruflichen Dingen keine Freunde. Wenn Downers Braut – vorausgesetzt, er hätte eine gehabt, von seinem besten Freund ermordet worden wäre, hätte er zuerst den Nachrichtenwert dieses Ereignisses abgeschätzt. Er wäre zwar sehr unglücklich gewesen, aber er hätte dennoch das Begräbnis des Opfers und die Hinrichtung des Mörders wirkungsvoll schildern können. Er war der ideale Berichterstatter und ein Vorbild für alle jüngeren Kollegen.

 

Sein Häuschen lag an der Küste und bestand aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, Bad und Küche. Er hatte noch eine große Holzveranda mit Haken für eine Hängematte und einen winzigen ›Garten‹, in dem im Herbst wilde Chrysanthemen wuchsen.

 

Wenigstens wurde ihm so erzählt. Er selbst kam nur im Sommer her, also wußte er es nicht. Er öffnete die Fenster und entzündete eine Gasflamme unter einem Wasserkessel. Die Zimmer waren einfach und behaglich möbliert. Zweimal in der Woche kam die Witwe eines Fischers und brachte die Wohnung in Ordnung.

 

Mr. Downer nahm Papiere aus seiner Tasche, unter denen sich auch Fahnenabzüge befanden. Er war gerade dabei, sein neues Buch zu vollenden. ›Einige theoretische Lösungen unaufgeklärter Kriminalfälle‹ hatte er es genannt. Sein Verleger, der eine große Familie hatte und natürlich ängstlich darauf bedacht war, aus dem Buch Geld zu schlagen, hatte aber den Titel geändert in ›Enthüllung geheimnisvoller Morde‹.

 

Bei dem Manuskript lag ein Brief des Verlegers, den Downer am Morgen erhalten hatte.

 

›Wenn Sie die Beverley-Morde in Ihrem Buch noch behandeln könnten, würde es einen ungeheuren Erfolg haben. Wir brauchen etwas Sensationelles, Zugkräftiges. Das Publikum würde eine Stellungnahme zu diesen Verbrechen geradezu verschlingen.‹

 

»Diese verdammten Beverley-Morde!« brummte Downer ärgerlich.

 

Aber wenn er auch ärgerlich davon sprach, konnte er doch nicht verhindern, daß sich sein Geist fortwährend mit diesem Verbrechen beschäftigte. Wenn er auf seinem geflochtenen Stuhl saß und auf das Meer schaute, wenn er an der Küste entlangging und die Spitze seines Schirms bei jedem zweiten Schritt in den Boden bohrte, oder wenn er im Bett lag und auf den Spruch über der Tür starrte, den sein Vorgänger dort angebracht hatte, so durchbrach der Gedanke an die Morde in Beverley Green immer wieder alle anderen Betrachtungen.

 

Zwei Männer waren ermordet worden. Wahrscheinlich war Albert Selim der Täter, über den man so gut wie nichts wußte. Albert oder X – man konnte ihn nur als eine unbekannte Größe bezeichnen – konnte nicht gefunden werden, weil er praktisch nicht existierte. Downer hatte alle Gedanken an Stellas Schuld fahrenlassen. Er erkannte, daß der Verdacht nur auf sie gefallen war, weil Andy sie beschützen wollte.

 

Und hier war er nun und dachte wieder über diesen verteufelten Fall nach. Er legte sich auf die andere Seite, um noch eine Stunde zu schlafen, obwohl die Sonne schon am Himmel stand und die Wand mit leuchtenden Streifen vergoldete, die größer oder kleiner wurden, wenn die Brise die Jalousien bewegte. Schließlich erhob er sich, ging in die Küche und machte sich daran, sein Frühstück vorzubereiten. Nachdem er ein Bad genommen hatte, brodelte das Wasser, und der Schinken war knusperig geworden.

 

Er betrat das Wohnzimmer und zog die Jalousien hoch.

 

»Großer Gott!« entfuhr es Downer.

 

Im Korbstuhl auf der Veranda saß ein Mann, der ihm dem Rücken zukehrte. Er war gut gekleidet. Der eine Schuh, den Downer sehen konnte, war von einer weißen Gamasche bedeckt, eine behandschuhte Hand lag auf dem goldenen Knopf eines Malakkastocks. Downer zog den Riegel zurück, schloß die Tür auf und ging hinaus. Er hatte ziemlich strenge Begriffe über Eigentum und über widerrechtliches Betreten fremden Grund und Bodens.

 

»Entschuldigen Sie«, sagte er in einem Ton, der keinen Zweifel darüber zuließ, wer sich zu entschuldigen hatte. »Sie haben sich wohl geirrt … aber das ist ja Mr. Salter!«

 

Salter erhob sich mit liebenswürdigem Lächeln und streckte ihm die Hand hin.

 

»Werden Sie mir diesen Überfall vergeben, Mr. Downer? Er ist unverzeihlich, ich weiß. Aber ich erinnere mich, daß Sie mir bei Ihrem Besuch in Beverley Hall erzählten, Sie hätten ein Häuschen in Sea Beach. Ich fürchte, ich ließ Sie damals lange warten, aber es war einer meiner schlechten Tage.« Er folgte Downer ins Haus.

 

»Sie wissen nicht, wie ich mich freue, Sie zu sehen«, erwiderte der Journalist herzlich. »Ich muß mich nur wegen meiner Kleidung entschuldigen. Ich bin eben erst aufgestanden.«

 

»Aber ich bitte Sie!« Mr. Salter hob abwehrend die Hand. »Ich habe mich zu entschuldigen. Ihr grüner Pyjama harmoniert vollkommen mit diesem entzückenden kleinen Zimmer. Ich fürchtete, daß ich zu früh kommen würde, aber – es ist elf Uhr, und Sea Beach liegt nur eine Stunde von Beverley entfernt.«

 

Während sich Downer anzog, sah sich sein Gast im Raum um.

 

»Erst gestern dachte ich«, sagte Mr. Downer durch die halbgeöffnete Tür seines Schlafzimmers, »wie schade es sei, daß ich keinen Vorwand hatte, Sie noch einmal aufzusuchen. In meinem Beruf lerne ich viele Menschen kennen, aber nur wenige machen Eindruck auf mich. Das klingt, als ob ich Ihnen ein Kompliment machen möchte. Aber ich wäre nicht so töricht, einem Mann wie Ihnen, und, wenn ich so sagen darf, von Ihrem Alter, Schmeicheleien zu sagen.«

 

»Und ich versichere Ihnen, daß ich Sie in Ihrem reizenden Heim nicht gestört hätte …«

 

»Es ist ja eigentlich nur ein Kaninchenstall«, meinte Downer bescheiden. »Aber ich bin ein Freund des einfachen Lebensstils.«

 

»Ich wäre wirklich nicht gekommen, wenn mir nicht Ihre liebenswürdige Art bekannt wäre, Mr. Downer.«

 

Downer hatte in seinem Leben selten Schmeicheleien gehört. Das war etwas ganz Neues für ihn. Sein Beruf war es, in möglichst ausdrucksvollen Worten die Taten anderer zu beschreiben. Es war ihm fremd, daß sich nun jemand gewissermaßen um seine Gunst bewarb, und er war um so mehr interessiert, als dieser Besuch einen geschäftlichen Hintergrund hatte. Mr. Salter war trotz all seiner Liebenswürdigkeit nicht der Mann, der so früh am Tag nur zu seinem Vergnügen einen Besuch machte, um sich mit ihm unterhalten zu können.

 

»Sie sind sicher gespannt, warum ich gekommen bin?«

 

Mr. Downer nickte.

 

»In gewisser Weise ja. Hoffentlich kann ich Ihnen einen kleinen Dienst erweisen. Wenn das der Fall sein sollte, sind Sie mir doppelt willkommen.«

 

»Es ist kein Dienst, um den ich Sie bitten möchte, im Gegenteil. Ich fürchte nur, meine Bitte könnte Sie beleidigen.«

 

Mr. Downer lächelte verbindlich.

 

»Es dürfte Ihnen schwerfallen, mich zu kränken.«

 

Boyd Salter lehnte sich in den Stuhl zurück.

 

»Es handelt sich um folgendes«, sagte er schließlich. »Ich möchte Sie fragen, ob Sie einen Auftrag übernehmen würden, den man eigentlich einer Detektivagentur übertragen müßte. Nun habe ich Sie aber doch verletzt.«

 

»Nein, das haben Sie nicht. Bedenken Sie doch, daß meine berufliche Arbeit der Tätigkeit eines Privatdetektivs sehr ähnlich ist. Er berichtet seinem Auftraggeber, und ich berichte, vielleicht in etwas besserem Englisch und mit etwas mehr Ausführlichkeit der breiten Öffentlichkeit.«

 

»Und mit größerer Genauigkeit, möchte ich noch hinzufügen. Und deswegen habe ich Sie einem dieser vielen Detektive vorgezogen. Auch Sie waren seinerzeit damit beschäftigt, die Morde in Beverley Green aufzuklären. Aus beruflichen Gründen haben Sie Ihre Arbeit abgebrochen, als sich die Sache in die Länge zog. Wahrscheinlich hat sie sich nicht mehr genügend bezahlt gemacht. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen derartig materielle Motive unterschiebe. Sie leben von Ihrer Arbeit, und ich nehme an, daß sich Ihr Aufenthalt und Ihre Tätigkeit nach den jeweiligen Wünschen Ihrer Auftraggeber richten.«

 

Mr. Downer nickte.

 

»Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie bäte, wieder nach Beverley Green zu kommen und Ihre Nachforschungen fortzusetzen? Ich möchte gerne mehr erfahren, als ich augenblicklich weiß. Besonders möchte ich entdecken, was hinter dem Einbruch in Beverley Hall steckt. Was wollte der Mann in meinem Haus? War unser Freund, Doktor Macleod, eingeweiht in … in dieses … Verbrechen? Und was weiß Doktor Macleod? Hat er Anhaltspunkte über Albert Selim, die er seiner vorgesetzten Behörde noch nicht mitgeteilt hat? Wo ist Miss Stella Nelson geblieben?«

 

»Ich glaube, ich kann mit den Antworten gleich beginnen.«

 

Mr. Downer erzählte ihm von dem Haus in der Castle Street und von Stellas geheimnisvollem Besuch dort.

 

»Wer ist denn der Kranke?« fragte Boyd Salter, aber hierüber konnte Downer auch keine Auskunft geben.

 

»Ich glaube, Sie werden entdecken, daß es der Mann ist, der bei mir einbrach.«

 

Downer sah ihn erstaunt an.

 

»Natürlich! Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?«

 

»Stellen Sie fest, ob es sich wirklich so verhält. Meine Vermutung könnte ja auch falsch sein, aber bei derlei Dingen habe ich gewöhnlich recht, Mr. Downer. Ich weiß, daß Miss Nelson und der Mann – ich glaube, er heißt Scottie – am selben Tag aus Beverley Green verschwanden. Wahrscheinlich ist Scottie der Einbrecher. Sollte er es gewesen sein, so ist er verwundet worden. Aber bitte, denken Sie daran: Doktor Macleod soll unter keinen Umständen erfahren, daß Sie Ihre Nachforschungen wieder aufgenommen haben. Ich weiß nicht, wie Sie das einrichten können, und ich kann Ihnen in dieser Beziehung auch keine Vorschläge machen.«

 

»Verlassen Sie sich da nur auf mich.«

 

Boyd Salter nahm eine Banknote aus der Brieftasche und legte sie auf den Tisch. Es war eine beträchtliche Summe.

 

»Sie werden Ausgaben haben. Bitte betrachten Sie das als eine Anzahlung.«

 

Mr. Downer stand auf seiner Veranda und beobachtete, wie sein Besucher den Wagen bestieg, der draußen auf ihn gewartet hatte. Dann ging er schmunzelnd in sein Zimmer zurück.

 

Ich werde sofort in die Stadt zurückfahren, dachte er und schaltete das Bügeleisen ein. Er bügelte sich seine Hosen immer selbst auf.

 

Kapitel 26

 

26

 

»Mit dem Handwerk mache ich Schluß!« sagte Scottie entschieden.

 

»Du bist doch nicht etwa plötzlich fromm geworden?« fragte Big Martin ängstlich.

 

Scottie saß auf seinem Bett in dem kleinen Haus in der Castle Street. Big Martin war derselbe, der damals nach oben geeilt war, als Andy an die Haustür geklopft hatte.

 

Er hieß Big Martin, weil er ungewöhnlich klein war. Es hatte eine Zeit gegeben, in der in ganz London kein geeigneterer Mann zu finden war, wenn es galt, durch ein unglaublich kleines Kellerfenster zu schlüpfen.

 

Aber später hatte er zu gut gelebt, immer mehr zugenommen und war nun durchaus nicht mehr in der Lage, seinen Spezialberuf irgendwie auszuüben.

 

Scottie war er schon in vielfacher Hinsicht nützlich gewesen. Er war ein unermüdlicher Zeitungsleser, wußte alles und ersetzte ihm ein ganzes Auskunftsbüro. Er hatte eine unglaubliche Fertigkeit, ein Haus auszukundschaften. Scottie hatte während seines abwechslungsreichen Daseins noch keinen Mann kennengelernt, der dazu geeigneter gewesen wäre.

 

Gewöhnlich erschien Big Martin als Hausierer an Küchentüren, unterhielt sich mit den Dienstboten und wußte ihnen so interessante Geschichten zu erzählen, daß er immer gern gesehen war. Auf diese Weise konnte er sich viele Informationen verschaffen, die für seine Auftraggeber wertvoll waren.

 

Scottie war über eine solche Tätigkeit erhaben. Sein Spezialgebiet waren Juwelen, denn um hier auf der Höhe zu sein, mußte man mehr Verstand und Erfahrung besitzen als Big Martin. Trotzdem war ihm der Kleine von großem Nutzen. Er hielt das Haus in der Castle Street während seiner Abwesenheit in Ordnung, erledigte kleine Aufträge, machte die Betten und konnte zur Not auch ein einfaches Essen kochen.

 

»Nein, fromm bin ich nicht geworden, aber vorsichtig«, brummte Scottie, hauchte seine Brillengläser an und wischte sie mit einem Bettuchzipfel ab. »Hast du schon einmal etwas von dem Wasserkrug und dem Brunnen gehört?«

 

»Nein«, sagte Big Martin argwöhnisch. »Was ist denn los?«

 

»Ich habe jetzt genug Geld gemacht, um ein anständiges Leben führen zu können.«

 

Big Martin legte die Stirn nachdenklich in Falten.

 

»Wenn du das Ding nicht drehen willst, macht es ein anderer. Sie fordert es ja direkt heraus, sie läuft herum wie ein geschmückter Christbaum.«

 

Es ist mein Schicksal, dachte Scottie. »Du brauchst mir nichts von ihr zu erzählen«, unterbrach er sein Nachrichtenbüro. »Ich habe sie bereits kennengelernt. Sie heißt Mrs. Crafton-Bonsor, ist aus Amerika und wohnt jetzt in Zimmer 907 im ›Great Metropolitan Hotel‹.«

 

»Eine Bank hätte nicht genug Geld, um ihre Perlen zu kaufen«, drängte Big Martin. »Sie sind so groß« – er zeigte die Größe mit Daumen und Zeigefinger. »Und Brillanten! So etwas hast du noch nie gesehen.«

 

»Ich weiß, aber sie hat sie im Hotel-Safe einschließen lassen«, meinte Scottie.

 

»Nein«, sagte Big Martin, »das hat sie nicht getan. Meine Kusine ist dort in der Küche beschäftigt, die weiß es. Sie schält dort nämlich Kartoffeln.«

 

»Wer? Mrs. Bonsor?«

 

»Nein, meine Kusine.«

 

Scottie war nachdenklich geworden. Er trommelte mit den Fingern einen Marsch auf seinen Knien und schaute abwesend ins Leere.

 

»Nein, ich glaube, es geht nicht, Martin«, sagte er schließlich. »Macleod würde doch gleich wissen, daß ich es war, und außerdem…« Er vollendete den Satz nicht.

 

Big Martin hätte es doch nicht verstanden, wenn er ihm erzählt hätte, daß er es Stella Nelsons wegen nicht tun könnte. Es wäre nicht richtig gewesen zu sagen, daß Scottie sich gebessert hätte und ein ganz neuer Mensch geworden wäre oder daß er seine früheren Missetaten bereut hätte. Der einzige Beweggrund, sich zu ändern, lag in seiner persönlichen Sicherheit. Er hatte auch wirklich keinen Grund mehr, seine Haut weiter zu Markte zu tragen. Es ging ihm gut; die große Beute aus der Regent Street hatte er gut untergebracht – einer der Käufer war obendrein ein Zeuge, der ihm bei seinem Alibi geholfen hatte. Außerdem hatte er noch größere Reserven versteckt, so daß er verhältnismäßig gut und bequem bis an sein Ende leben konnte.

 

»Ich werde Mrs. Bonsor einmal besuchen«, sagte er. Big Martin rieb sich vergnügt die Hände. »Ich glaube nicht, daß sie so dumm ist, wie du sie dir vorstellst. Sie kommt aus Santa Barbara – vielleicht kennt sie einige meiner Freunde an der Westküste. Da wir gerade von Freunden reden, Martin, ich habe dich gestern abend mit einem fein gekleideten Herrn aus Finnagins Lokal herauskommen sehen.«

 

Big Martin machte ein dummes Gesicht.

 

»Es war ein Zeitungsmensch.«

 

»Welch eine Neuigkeit«, sagte Scottie ironisch. »Als ob ich nicht wüßte, wer es war. Was wollte er denn von dir?«

 

»Er fragte mich über eine Sache aus, die schon vier Jahre zurückliegt«, erwiderte Big Martin. »Ich bekam damals achtzehn Monate, du weißt doch – die Geschichte mit Harry Weston.«

 

»Wenn er sich nicht mehr darauf besinnen konnte, hätte er es doch leicht herausbringen können. Jeder Polizist hätte es gewußt.«

 

»Er war sehr nett und wollte wissen, was aus Harry geworden ist.«

 

Scottie runzelte die Stirn.

 

»Als ob er das nicht wüßte, daß Harry seine sieben Jahre in Parkhurst absitzt! Na, du altes Klatschweib, was hast du denn wieder ausposaunt?«

 

Big Martin wurde unruhig. Was hatte er eigentlich alles gesagt?

 

»Und wenn ich auf der Stelle sterben sollte, ich habe nichts von dir erzählt. Er wußte, daß du hier bist und fragte, wie es deiner Hand ginge.« Scottie brummte böse. »Aber ich habe es ihm nicht gesagt. Er mag dich gut leiden, Scottie. Er sagte, wenn du jemals in der Patsche säßest, so sollten wir nur nach ihm schicken. Das hat er wirklich gesagt – genau mit den Worten!«

 

»Du hast ihm doch nicht etwa erzählt, daß Macleod von der Sache weiß?«

 

»Das brauchte ich gar nicht, das wußte er schon«; erwiderte Big Martin mit Genugtuung.

 

»Du kannst aber auch nichts für dich behalten«, sagte Scottie resigniert.

 

Er zog sich sorgfältig an, nahm aus einem Kästchen ein Päckchen Visitenkarten heraus, wählte eine davon aus und steckte sie in seine Brieftasche. Die Karte nannte ihn Professor Bellingham und als Adresse war Pantagalla, Alberta, angegeben. Eine solche Stadt gab es natürlich auf der Landkarte nicht, aber er hatte früher einmal in einer Vorstadt in einer kleinen Pension gewohnt, die diesen Namen führte. Er hatte ihm sehr kanadisch geklungen.

 

Im ›Great Metropolitan Hotel‹ erfuhr er, daß Mrs. Crafton-Bonsor auf ihrem Zimmer sei, und ein Boy brachte ihr seine Karte. Während Scottie es sich in einem Klubsessel in der Halle bequem machte und scheinbar in Gedanken vertieft war, beobachtete er genau alle Leute, die durch das Vestibül kamen. Den Hoteldetektiv hatte er sofort erkannt.

 

Der Boy kam zurück und führte ihn zu einer Flucht komfortabler Räume im dritten Stock. Scottie wußte, daß diese Wohnung täglich ein kleines Vermögen kostete.

 

Die Dame am Fenster drehte sich um, als Scottie eintrat.

 

»Guten Morgen«, sagte sie kurz, »Mr. …«

 

»Professor Bellingham«, erwiderte Scottie. »Ich hatte bereits das Vergnügen –. Sie entsinnen sich?«

 

»Gewiß – ich konnte nur Ihre Karte nicht lesen, weil ich meine Brille nicht zur Hand hatte. Nehmen Sie bitte Platz, Professor. Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich zu besuchen.«

 

Scottie hatte die Erfahrung gemacht, daß die Menschen sich im allgemeinen bei einer zweiten Begegnung von einer anderen Seite zeigten als bei der ersten, und er war auf einen so liebenswürdigen Empfang nicht vorbereitet. Mrs. Crafton-Bonsor trug noch kostbareren Schmuck als damals. Diese Steine waren wirklich herrlich. Wenn sie die Hand hob, glitzerte es wie im Schaufenster eines Juwelierladens. Sie hatte an jedem Finger mindestens einen Ring und an jedem Handgelenk drei Brillantarmbänder, die allein ein Vermögen wert waren.

 

Scotties Instinkte erwachten wieder. Es war eine Schande, daß diese Frau all die wunderbaren Dinge besitzen sollte, während er sich verhältnismäßig mühselig durchs Leben schlagen mußte.

 

»Es ist mir ein Vergnügen, Sie zu besuchen. Ich bin aus Pantagalla, und da Sie aus Santa Barbara sind, dachte ich, es sei doch nett, einmal vorbeizukommen …«

 

»Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Professor …«

 

»Bellingham«, ergänzte er.

 

»Es ist zu dumm, das Mädchen hat meine Brille verlegt, und ich kann absolut nichts lesen ohne sie. London ist eine trostlose Stadt. Ich war vor einigen Jahren schon hier, aber jetzt ist alles neu und fremd, und ich bin froh, wenn ich wieder nach Hause komme.«

 

»Halten Sie sich schon lange hier auf?«

 

»Vierzehn Tage. Aber ich habe noch keinen einzigen netten Menschen getroffen. Die Leute hier sind so hochmütig. Und dabei haben sie vermutlich trotz ihrer hochtrabenden Titel keinen Pfennig Geld. Ich besuchte eine Dame, die ich in San Franzisko kennengelernt hatte. Mein Mann, der Senator, war damals wirklich sehr liebenswürdig zu ihr. Und jetzt hat sie mich nicht einmal zum Tee eingeladen.«

 

Sie unterhielten sich über Santa Barbara und über Leute in San Franzisko, deren Namen Scottie glücklicherweise kannte, dann kehrte Mrs. Crafton-Bonsor wieder zu ihrem Lieblingsthema zurück, sprach über den ungastlichen und unfreundlichen Charakter der Menschen in fremden Ländern und klagte über die Dienstboten, die in der letzten Zeit so unzuverlässig geworden seien.

 

»In diesen Zimmern hätte doch zum Beispiel heute morgen abgestaubt werden müssen«, sagte sie und nahm ein Stäubchen von dem Stuhl, auf dem sie saß. »Sehen Sie her – nicht einmal einen Staublappen haben die Leute hier in Bewegung gesetzt!«

 

Scottie schwieg. Mrs. Crafton-Bonsor konnte seine Karte nicht lesen, weil sie ihre Brille nicht zur Hand hatte, aber sie konnte ohne Mühe ein winziges Stäubchen entdecken? Ein merkwürdiges Augenübel! Aber er dachte nicht weiter darüber nach.

 

Scottie zeigte sich als ein so angenehmer Gesellschafter, daß sie ihn zum Abendessen einlud.

 

»Ich speise gewöhnlich auf meinem Zimmer. Was in den Hotels gekocht wird, ist gerade gut genug für meine Katze.«

 

Als er, äußerst zufrieden mit dem Resultat seines ersten Besuches, das Hotel wieder verlassen wollte, klopfte ihm jemand auf den Arm, und er schaute in ein ihm bekanntes Gesicht.

 

»Andy würde Sie gern einmal sprechen«, sagte der Detektiv. »Ich soll Ihnen bestellen, daß Sie ihn im Büro aufsuchen möchten.«

 

Scottie war unangenehm berührt, nickte aber nur.

 

*

 

»Hallo, Scottie! Geht es Ihnen besser? Nehmen Sie Platz. Einer meiner Leute sagte, daß Sie Mrs. Crafton-Bonsor besuchten, die reiche Amerikanerin im ›Great Metropolitan Hotel‹. Was haben Sie denn da wieder vor?«

 

»Darf man sich denn nicht auch einmal ein wenig zerstreuen?« fragte Scottie gekränkt.

 

»Soviel Sie wollen«, erwiderte Andy vergnügt, »aber ich handle in Ihrem eigensten Interesse, wenn ich Sie ein wenig im Zaum halte. Diese Frau ist eine wandelnde Kimberley-Diamantmine. Und ich sehe es nicht gerne, daß Sie wieder in Versuchung geraten. Ich bin eben aus Beverley Green zurückgekommen«, fügte er scheinbar gleichgültig hinzu. »Miss Nelson hat sich sehr nach Ihnen erkundigt.«

 

Scottie schluckte.

 

»Das ist sehr liebenswürdig von Miss Nelson«, entgegnete er langsam. »Ich habe wirklich keine bösen Absichten mit den Brillanten dieser Frau, Macleod. Wenn Sie wüßten, was es für mich bedeutet, auch einmal mit so reichen Leuten zu verkehren, würden Sie mir diese kleine Abwechslung gönnen.«

 

»Ich gönne sie Ihnen ja. Wir haben diese Dame beobachtet, seit sie in London ist, und wir haben auch schon zwei Ihrer ehemaligen Freunde gewarnt, Harry Murton und John Dutch. Und es wäre nicht fair, wenn ich Ihnen nicht mitteilte, daß Ihre Schritte sozusagen von Schutzengeln überwacht werden.«

 

»Soll das heißen, daß ich sie nicht wieder besuchen darf?«

 

»Sie können die Dame besuchen, sooft Sie wollen. Aber wenn sie hierherkommt und sich darüber beklagt, daß ihr Brillantdiadem auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist, das Sie einige Minuten vorher so sehr bewundert hatten, dann geht es Ihnen schlecht, Scottie!«

 

Scottie lächelte.

 

»Hat Ihnen denn nicht jemand gesagt, daß ich mit meinem früheren Leben gebrochen habe?« fragte er mit einem unschuldigen Grinsen.

 

»Ich habe davon gehört«, antwortete Andy lachend. »Aber, Scottie, ich meine es ernst. Ich möchte nicht, daß Sie wieder in Unannehmlichkeiten geraten, und ich glaube, daß diese Mrs. Bonsor eine gefährliche Bekanntschaft für Sie ist. Ich tue es doch nur Ihretwegen. Sicher, Sie können sie sehen, aber es ist doch etwas riskant, nicht wahr? Nehmen wir einmal an, ein anderer macht sich auch an sie heran, und plötzlich vermißt sie etwas von ihrem Schmuck …«

 

»Ich danke Ihnen, Macleod.« Scottie nahm seinen Hut und erhob sich. »Ich glaube, daß ich trotzdem wieder hingehen werde. Sie interessiert mich wirklich sehr, ganz abgesehen von ihren Brillanten. Kennen Sie sie schon?«

 

»Nein, ich habe nichts damit zu tun. Ich vertrete Steel nur, weil er augenblicklich auf Urlaub ist. Das ist ein Glück für Sie, denn Steel wäre Ihnen gegenüber nicht so rücksichtsvoll gewesen.«

 

»Also besten Dank. Wissen Sie übrigens, Macleod, daß dieser Downer wieder an der Arbeit ist?«

 

Das war keine Neuigkeit für Andy.

 

»Ja, er ist wieder in Beverley oder vielmehr in einem Dorf, das ein oder zwei Meilen davon entfernt liegt. Ist er hinter Ihnen hergewesen?«

 

Scottie nickte.

 

»Er hat einen meiner Freunde ausgeholt. Er wußte übrigens, daß Miss Nelson mich in der Castle Street besucht hatte. Auf Wiedersehen!«

 

Am Abend ging er wieder ins ›Great Metropolitan Hotel‹, obwohl er wußte, daß er beobachtet wurde. Es wurde ein vergnügter Abend, denn Mrs. Bonsor hatte sich vorgenommen, ihren Professor gut zu bewirten. Nebenbei erfuhr er, daß ihr verstorbener Mann, der ›Senator‹, überhaupt kein Senator gewesen war. Wahrscheinlich hatten ihm Mitbürger diesen Spitznamen gegeben. Nach diesem Geständnis verstanden sich die beiden noch viel besser. Scottie hatte sich auch schon gewundert, daß ein gebildeter Mann in so hoher Stellung eine solche Frau geheiratet haben sollte. Sie sprach von ihrem palastartigen Heim in Santa Barbara, von ihren Autos, ihren Dienstboten, ihren Gesellschaften. Und bei jeder Bewegung funkelte sie in allen Regenbogenfarben.

 

*

 

»Scottie hat diese Mrs. Bonsor nun schon zum drittenmal besucht«, berichtete ein Detektiv. »Er speist jeden Abend mit ihr, und heute nachmittag hat er sie auf einem Ausflug begleitet.«

 

»Lassen Sie auch Big Martin beobachten, damit wir herausbringen, ob die beiden tatsächlich etwas planen.«

 

Er hatte Scottie persönlich gern, aber als Beamter durfte er ihm nicht trauen. Eines Nachmittags erhielt Mrs. Bonsor Besuch von einem Polizeibeamten, und als Scottie im Glanz eines neuen Fracks zum Abendessen erschien, war sie sehr kühl und ablehnend gegen ihn.

 

»Ich hätte Sie beinahe überhaupt nicht heraufkommen lassen, mein Herr«, sagte sie. Diese Anrede war schon von böser Vorbedeutung. »Aber ich dachte, ich müßte Ihnen doch eine Erklärung geben. Die Polizei ist hinter Ihnen her.«

 

»Hinter mir?«

 

Er war verstimmt, aber nicht gekränkt. Es war ja die Pflicht dieser Leute, Mrs. Bonsor vor ihm zu warnen. Und er hatte sich schon gewundert, daß Andy ihn so lange frei gewähren ließ, ohne einzugreifen.

 

»Man hat mir mitgeteilt, daß Sie ein Verbrecher, ein gewisser Scottie sind.« Sie schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß mich das sehr getroffen hat.«

 

»Warum?« fragte Scottie ruhig. »Ich habe Ihnen doch nichts gestohlen, und ich würde nicht einmal eine Haarnadel von Ihrem schönen Kopf nehmen.« Scottie meinte es ehrlich. »Ich gebe zu, daß ich Scottie genannt werde. Ich heiße eigentlich nicht so, aber unter diesem Namen kennt man mich in zwei oder drei verschiedenen Ländern. Ich gebe auch zu, daß meine Vergangenheit nicht ganz einwandfrei ist, aber wissen Sie, Mrs. Crafton-Bonsor« – seine Stimme zitterte ein wenig – »was es für einen Mann wie mich bedeutet, eine Frau wie Sie zu treffen, eine Dame von Welt, gleichsam in der Blüte ihrer Jahre, die Interesse an einem Abenteurer nimmt? Nicht Ihr Geld und Ihre Juwelen haben mich fasziniert. Ich hätte sie schon bei meinem ersten Besuch stehlen können«, fuhr er rücksichtslos fort. »Ich kam damals, um mir Ihre Steine genauer anzusehen, von denen alle Welt sprach. Und ich bin tatsächlich ein Spezialist in Juwelen. Aber als ich Sie gesehen und mit Ihnen gesprochen hatte – erschien mir alles wie ein Traum. Ein Mann in meiner Stellung trifft nicht oft eine Dame wie Sie.«

 

»Sie übertreiben«, warf Mrs. Crafton-Bonsor ein. Sie unterbrach nicht gern Scotties Redestrom, der so viele Liebenswürdigkeiten und Schmeicheleien enthielt, aber sie hatte doch das Gefühl, daß sie aus Bescheidenheit jetzt in irgendeiner Form etwas dagegen einwenden mußte.

 

»Ich hatte nicht vermutet, daß Sie Amerikanerin sind, als ich das erstemal mit Ihnen sprach. Leute mit einem gütigen Charakter wie Sie sind drüben sehr selten. Und als ich Sie erst einmal besucht hatte, wußte ich, daß ich Sie wiedersehen müßte. Ich machte mir wegen meiner Torheit Vorwürfe, aber jeden Tag bezauberten Sie mich aufs neue.«

 

»Das war nicht meine Absicht«, murmelte sie.

 

»Es wird mir sehr schwer werden, die Besuche bei Ihnen aufzugeben«, sagte Scottie traurig, als er sich erhob und ihr die Hand reichte. »Leben Sie wohl, Mrs. Bonsor – es war für mich wie ein Leben in einer anderen Welt.«

 

Sie nahm seine Hand, und es tat ihr eigentlich leid, daß diese Bekanntschaft, die ihr so angenehm gewesen war, schon enden sollte.

 

»Leben Sie wohl, Mr. Scottie. Ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen, aber –«

 

»Ich verstehe vollkommen«, erwiderte Scottie höflich. »Was würde man von Ihnen denken, – was würden all diese feingeschniegelten Leute im Hotel dazu sagen.«

 

Mrs. Crafton-Bonsor warf den Kopf zurück.

 

»Wenn Sie glauben, daß ich mich im mindesten um die Meinung anderer Menschen kümmere«, entgegnete sie empört, »sind Sie im Irrtum. Sie kommen morgen zum Abendessen wieder zu mir.«

 

Ihre Worte klangen wie ein Befehl, und ihre Miene war ein wenig hoheitsvoll. Scottie sagte nichts, er verabschiedete sich nur durch eine Verbeugung und entfernte sich schnell. Am Ende hätte sie ihre Absicht wieder geändert, wenn er noch geblieben wäre.

 

Als er die Treppe hinunterging, versuchte er, sich die ganze Unterhaltung mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.

 

Er kannte viele Bücher, die man Gefangenen zum Lesen gab und die geschrieben waren, um sie wieder einem besseren Leben zugänglich zu machen. In diesen Bänden wurde jedesmal davon erzählt, daß der ehemalige Sträfling der Dame, deren wohlwollender Einfluß ihn bekehrt hatte, eine Art Dankrede hielt. Also ging er in die nächste Buchhandlung.

 

»Haben Sie nicht irgendein Buch mit dem Titel ›Gerettet durch ein Kind‹ oder ›Nur ein Verbrecher‹?«

 

»Nein«, sagte der junge Mann, »wir führen keine Kinderbücher.«

 

»Das ist das richtige Wort«, erwiderte ›Vieraugen-Scottie‹.

 

Kapitel 27

 

27

 

Andy erzählte Stella bei seinem nächsten Besuch, was er mit Scottie und Mrs. Crafton-Bonsor erlebt hatte.

 

Er hatte seine Pflicht getan, Mrs. Crafton-Bonsor konnte jetzt nicht mehr im Zweifel, über den wahren Charakter ihres Freundes sein. Aber diese Warnung schien eine unerwartete Wirkung auf die Dame gehabt zu haben.

 

»Vielleicht versucht sie, ihn zu bekehren«, meinte Stella und zwinkerte mit den Augen. »Schlechte Leute haben immer eine unwiderstehliche Anziehungskraft für romantische Damen. Ich will damit nicht sagen, daß Scottie ein schlechter Mensch oder Mrs. Bonsor besonders phantasievoll ist. Ich kann mich an sie erinnern. Sie kam mit ihrem großen Wagen und fuhr hier zwei schöne Fliederbüsche um. Scottie hat mir später ihren Namen genannt. Es ist doch schließlich auch nichts dabei, wenn er einmal mit ihr zusammen speist.«

 

»Er ist mittags, zum Tee und zum Abendessen bei ihr«, protestierte Andy. »Soviel ich weiß, frühstückt er auch dort! Ich kümmere mich nicht um Scotties Abenteuer. Die Dame ist gewarnt, und damit ist meine Verantwortung zu Ende. Aber trotzdem …«

 

»Vielleicht liebt er sie«, sagte sie lächelnd. »Sei nicht böse, aber Scottie ist mir schon immer ein wenig romantisch vorgekommen.«

 

»Das kann ich nicht leugnen. Wenn ich nur an sein Alibi denke –«

 

»Aber Andy! Übrigens wirst du mit der Dame zusammenkommen.«

 

»Ich werde mit ihr zusammenkommen?« fragte Andy überrascht.

 

Stella nickte feierlich.

 

»Scottie hat mir geschrieben und angefragt, ob er sie einmal zum Essen mitbringen dürfe, und ich habe zugestimmt. Ich beschrieb sie meinem Vater, und er schüttelte sich vor Entsetzen. Ich glaube, er wird heute abend irgendeine Verabredung vorschützen. Deshalb ist es um so wichtiger, daß du hier bist.«

 

»Soll das heißen, daß Scottie die Frechheit hatte, sich mit seiner Juwelendame hier zum Abendessen einzuladen?« fragte er entsetzt.

 

Es mußte wohl so sein, denn am Abend machte Andrew Macleod die Bekanntschaft der Frau, die er vor Scottie hatte warnen lassen.

 

Mrs. Crafton-Bonsor trug ein enganliegendes, pflaumenfarbenes Samtkleid, das gefährlich tief ausgeschnitten war. Andy war sehr erstaunt bei ihrem Anblick.

 

Noch nie hatte er so viel kostbaren Schmuck an einer einzigen Frau gesehen. Von dem Diadem in ihren roten Haaren bis zu den Agraffen ihrer Schuhe war sie einfach überwältigend. Wenn ein Radscha in seiner vollen Staatskleidung mit all seinen Juwelen neben ihr gestanden hätte, wäre er von ihr ohne Schwierigkeiten in den Schatten gestellt worden.

 

Scottie war sehr guter Laune. Sein Stolz war so aufrichtig und echt, daß Andy lächeln mußte.

 

»Darf ich Sie meiner Freundin, Mrs. Crafton-Bonsor, vorstellen? Dies ist Doktor Macleod, Mirabel.« – ›Mirabel!‹ wiederholte Andy für sich. Er war sprachlos. – »Doktor Macleod und ich haben manchen Streit, ich möchte fast sagen – Kampf, miteinander ausgefochten. Auf seine Veranlassung hin wurden Sie vor mir gewarnt. Das war ja auch ganz in der Ordnung.«

 

Er nahm Andys Hand und schüttelte sie kräftig.

 

Mrs. Bonsor aber sah Andy nur kühl an.

 

»Darf ich Sie auch mit Miss Nelson bekannt machen, Mirabel?«

 

»Sehr erfreut«, sagte Mrs. Bonsor ohne große Begeisterung. »Jeder Freund des Professors ist auch mein Freund.« Dabei schaute sie Andy an.

 

Es war ein etwas steifer und förmlicher Anfang, und Stella hatte doch gehofft, daß es ein vergnügter Abend werden würde. Während des Essens kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß Mrs. Crafton-Bonsor eifersüchtig auf sie war. Inzwischen hatte diese Dame ihren früheren Argwohn und Widerwillen gegen Andy überwunden und plauderte liebenswürdig mit ihm. Dadurch wiederum wurde Scottie von Eifersucht geplagt. Der sonst so nüchterne Mann, dessen Bescheidenheit sein größter Vorzug war, trug heute zwei große Brillantringe. Andy sah nicht zu genau hin, er wußte, daß Scottie keine gestohlenen Juwelen trug, die in der Presse genau beschrieben worden waren.

 

»Jawohl, nächste Woche werde ich wieder in meine Heimat zurückfahren«, sagte Mrs. Crafton-Bonsor und sah dabei Scottie an. »Es war netter, als ich vermuten konnte, aber ich muß mich doch auch einmal wieder in meinem Heim in Santa Barbara umsehen. Die Rasenflächen sind allein so groß wie der ganze Ort hier. Ich habe dem Professor eine Fotografie gezeigt, er war ganz begeistert davon. Wenn man ein so herrliches Besitztum hat, muß man es natürlich auch ausnützen.« Wieder schaute sie Scottie an, doch der betrachtete das Tischtuch und sah in dem Augenblick so bescheiden aus, daß Andy beinahe laut aufgelacht hätte.

 

»Ich hoffe, daß Ihnen die Reise nicht zu einsam wird«, meinte Andy. »Sie werden unseren Freund, den Professor, sicher sehr vermissen?«

 

»O ja.« Mrs. Bonsor räusperte sich.

 

Scottie sah auf.

 

»Ich habe eigentlich daran gedacht, auch einmal wieder nach Amerika zu gehen und mich dort umzusehen«, sagte er, und diesmal schaute Mrs. Bonsor bescheiden lächelnd vor sich hin.

 

»Stanhope und ich …« begann sie.

 

»Stanhope – wer ist denn Stanhope?« fragte Andy erstaunt. Aber es war nicht mehr nötig, auf Antwort zu warten, er begegnete den bittenden Blicken Scotties.

 

»Stanhope und ich sind sehr gute Freunde geworden. Ich dachte, Sie hätten den Ring schon gesehen.«

 

Bei diesen Worten hielt sie ihre dicke Hand hoch.

 

Andy zählte ungefähr zehn verschiedene Ringe daran.

 

»Darf ich Ihnen meine besten Glückwünsche aussprechen? Das ist eine große Überraschung, Mrs. Crafton-Bonsor.«

 

»Niemand war mehr überrascht als ich selbst«, erwiderte sie glücklich, »aber Sie werden eine Frau in meiner Lage verstehen. Außerdem soll Stanhope ein neues Leben beginnen. Es gibt eine Gegend in der Nähe, wo er … wie heißt doch gleich das Wort, Stan?«

 

»Geologie treiben kann«, murmelte Scottie.

 

»Ja, das meine ich.«

 

»Sie werden uns also verlassen?« fragte Andy lächelnd. »Und vermutlich haben Sie in einem Monat ganz Beverley Green und Wilmot und diesen fürchterlichen Albert Selim vergessen und –«

 

Plötzlich sank Mrs. Crafton-Bonsor ohnmächtig vom Stuhl.

 

*

 

»Es war die Hitze hier im Zimmer«, sagte sie matt, als sie wieder zu sich kam. Ihre Frisur war in Unordnung geraten, und ihre Brosche saß schief. »Ich glaube, es ist das Beste, daß ich jetzt zurückfahre. Stanhope« – es war rührend, zu sehen, wie sehr sie sich auf ihn verließ –, »würdest du bitte den Wagen bestellen?«

 

Sie sah alt aus, und ihre geschminkten Lippen bildeten einen sonderbaren Gegensatz zu ihrem Gesicht, Andy erwartete jeden Augenblick, daß sie wieder zusammenbrechen würde. Er war erleichtert, als sie sich mehr und mehr erholte, so daß sie mit seiner und Scotties Hilfe zum Wagen gehen konnte.

 

»Die Fahrt wird mir guttun«, meinte sie und sah sich mit einem nervösen Lachen um. »Es tut mir sehr leid, daß ich Sie so in Aufregung versetzte. Ich hätte ja gern noch etwas über den Mord erfahren. Wer wurde denn eigentlich getötet? Albert Selim?«

 

»Nein, ein gewisser Merrivan. Ich hätte diese schreckliche Geschichte überhaupt nicht erwähnen sollen!« sagte Andy.

 

»Ach, es hat mir nichts ausgemacht. Gute Nacht.«

 

Andy ging mit Stella ins Haus zurück.

 

»Albert Selim«, sagte er in Gedanken vor sich hin.

 

Sie sah ihn nachdenklich an.

 

»Glaubst du, daß die Erwähnung seines Namens an ihrer Ohnmacht schuld war?«

 

»Ich zweifle nicht im mindesten daran. Aber warum sollte der Name von Merrivans Mörder eine solche Wirkung auf sie haben?«

 

Er starrte, in Gedanken versunken, lange vor sich hin, und Stella störte ihn nicht.

 

»Ich werde Mrs. Crafton-Bonsor aufsuchen und mit ihr sprechen müssen. Wenn ich mich nicht sehr täusche, kann sie uns über den Mord und seine Vorgeschichte mehr erzählen, als der Mörder selbst.«

 

Kapitel 20

 

20

 

Um diese Zeit hätte Scottie ausgegangen sein können, aber zufällig hatte er Stella geholfen, Kenneth Nelsons neues Gemälde einzupacken. Er habe das Haus den ganzen Abend nicht verlassen, erzählte Stella. Der Detektiv ging zu Wilmot zurück. Downer war inzwischen gegangen.

 

»Ich will das Geld an mich nehmen«, sagte Andy und hob die Brieftasche auf. »Und nun sagen Sie mir alles, was Sie von dem Trauschein noch wissen.«

 

»Glauben Sie wirklich, daß es Albert Selim war?«

 

»Ich bin sicher, daß es der Mann war, der Mr. Merrivan tötete«, erwiderte Andy kurz. »Er bedrohte uns mit derselben Waffe, mit der er den Mord beging.«

 

Mr. Wilmot schauderte.

 

»Der Trauschein beurkundete eine Heirat zwischen einem gewissen John Severn und einem Dienstmädchen namens Hilda Masters. Die Ehe wurde vor etwa dreißig Jahren geschlossen und in der St.-Pauls-Kirche, Kensington, eingesegnet.«

 

Andy notierte sich diese Einzelheiten.

 

»Erschien der Name Ihres Onkels in irgendeiner Weise auf der Urkunde?«

 

Wilmot schüttelte den Kopf.

 

»Sie kennen John Severn nicht? Hat Ihr Onkel Ihnen gegenüber nie den Namen erwähnt?«

 

»Nein. Ich möchte Ihnen aber noch etwas wegen des Geldes sagen, Macleod. Ich will nicht in Ungelegenheiten kommen, wenn es sich vermeiden läßt. Ich habe es wirklich nur genommen, um es in Sicherheit zu bringen. Wie sind Sie denn dahintergekommen?«

 

»Sie kennen meine Methoden, Wilmot«, erwiderte Andy sarkastisch. »Die ganze Sache kann für Sie sehr übel werden. Ich gebe Ihnen den guten Rat, um Downer einen weiten Bogen zu machen. Der hat mit Ihnen kein Erbarmen und wird Sie ebenso verraten, wie er Albert Selim verraten würde, wenn er ihn fangen könnte.«

 

Ein ähnlicher Gedanke war Wilmot auch schon gekommen.

 

»Wegen der Verleumdungsklage ist auch Downer nicht ganz wohl«, meinte er. »Ich glaube, in seinem nächsten Artikel wird er zahmer sein. Außerdem wird ihm ja auch Selim genügend Stoff dafür geben.«

 

Andy war derselben Ansicht. Er sprach noch einmal bei Stella vor, ehe er ins Gästehaus ging. Scottie hatte sich schon zur Ruhe gelegt, er war direkt musterhaft geworden.

 

»Alle Leute in Beverley sind über den Artikel sehr aufgebracht und haben mir ihre Anteilnahme ausgedrückt«, sagte Stella. »Ich habe noch nie soviel Besuch gehabt wie heute. Sheppards waren hier, Masons, sogar die Gibbs, die doch so ruhige Leute sind. Alle sind sehr ungehalten über Artur Wilmot. Was wird die Zeitung wohl morgen bringen?«

 

»Sehr wenig. Downer wird über den Einbruch in Wilmots Wohnung berichten und den Besuch dieses geheimnisvollen Albert Selim mit allen Einzelheiten schildern. Er wird auch die Gelegenheit wahrnehmen, sich zu verteidigen. Man droht in ähnlichen Fällen den Zeitungen häufig mit Verleumdungsklagen. Downer wußte, daß er den Bogen überspannt hatte. Ich habe schon gemerkt, daß er etwas nervös war, als ich heute seinen Brief erhielt. Es gehört schon viel dazu, ihn nervös zu machen, aber wahrscheinlich waren ihm schon selbst Zweifel an der Glaubwürdigkeit Wilmots gekommen.«

 

Die Schleier, die über dem geheimnisvollen Mord von Beverley Green lagen, wurden immer dichter und undurchdringlicher. Auch Albert Selims Erscheinen brachte Andy der Lösung keinen Schritt näher. Warum hatte der Mann sich einer so großen Gefahr ausgesetzt, nur um einen offensichtlich wertlosen Trauschein in seinen Besitz zu bringen? Wer war dieser John Severn, und wer war das Dienstmädchen Hilda Masters?

 

Ins Gästehaus zurückgekommen, erhielt er von Zeit zu Zeit telefonische Berichte von den Polizeibeamten, die die Gegend nach dem Fremden absuchten. Die Polizei der Nachbarorte unterstützte sie. Die Hauptstraßen wurden abpatrouilliert und die Nebenwege überwacht. Mit der kleinen Mannschaft konnte man allerdings das offene Land nicht absperren, damit mußte bis zum Tagesanbruch gewartet werden.

 

Um ein Uhr nachts trat er kurz vor die Tür, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Das Zimmer bedrückte ihn, und er hatte Kopfschmerzen bekommen.

 

In Beverley Green war um diese Zeit jedes Haus dunkel, auch aus Stellas Zimmer drang kein Lichtschein.

 

Inspektor Dane kam eben mit dem Rad an, um ihm den letzten Bericht persönlich zu überbringen.

 

»Wir haben jedes Auto zwischen hier und Cranford Corner angehalten. Glauben Sie, daß es ratsam wäre, eine Durchsuchung sämtlicher Häuser von Beverley Green vorzunehmen?«

 

»Ich wüßte nicht, warum. Sollte Selim tatsächlich ein Bewohner des Ortes sein, so könnten wir das durch eine Haussuchung auch nicht feststellen. Außerdem wäre es gesetzwidrig, wenn wir nicht die nötigen Befehle aus London haben. Vielleicht …«

 

Andy wurde plötzlich unterbrochen, denn durch die Stille der Nacht tönte ein Schuß. Gleich darauf fielen ein zweiter, ein dritter und nach kurzer Zeit noch ein vierter. Sie kamen aus der Richtung der Hügel jenseits des Ortes.

 

»Wilddiebe können es nicht gut sein«, meinte Inspektor Dane.

 

»Wilddiebe benützen gewöhnlich keine Pistolen.«

 

Das Telefon im Gästehaus klingelte stürmisch. Die Haustür war offen geblieben, und sie hörten es schon, bevor Johnston herausgestürzt kam, um Andy zu rufen.

 

»Mr. Salter ist am Apparat. Er möchte Sie dringend sprechen!« Andy lief hinein und nahm den Hörer auf.

 

»Sind Sie es, Mr. Macleod? Haben Sie die Schüsse gehört?«

 

»Jawohl.«

 

»Ich habe geschossen. Es ist ein Raubüberfall auf Beverley Hall gemacht worden. Jemand versuchte einzubrechen. Er ist in Richtung Spring Covert entflohen. Können Sie herkommen?«

 

Andy holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr mit Inspektor Dane in schnellstem Tempo die Hauptstraße entlang.

 

Mr. Salter sah blaß und angegriffen aus. Er trug einen Schlafrock über dem Pyjama und erwartete die Beamten in seiner Bibliothek.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie stören mußte, Macleod«, begann er.

 

»Haben Sie den Mann zu Gesicht bekommen?« fragte Andy schnell.

 

»Ich konnte ihn nur von hinten sehen. Er muß mindestens schon eine halbe Stunde im Haus gewesen sein, bevor ich ihn hörte. Ich hätte ihn wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn er nicht die Frechheit besessen hätte, in mein Schlafzimmer zu kommen.«

 

Salter zeigte ihnen das Fenster, das aufgebrochen worden war. Es gehörte zu dem kleinen Arbeitszimmer neben der Bibliothek.

 

»Er war auch in der Bibliothek. Sehen Sie, diese Schubladen sind gewaltsam geöffnet worden.«

 

Die Fächer waren ganz herausgezogen, ihr Inhalt auf den Boden verstreut.

 

»Vielleicht glaubte er, hier Geld zu finden. Aber ich bewahre hier nichts Wertvolles auf.«

 

»Ist er auch in anderen Räumen gewesen?«

 

»Ich glaube, er war auch im Zimmer meines Sohnes – er ist augenblicklich nicht hier, er studiert in Cambridge –, aber das kann ich nicht genau sagen.«

 

Er führte sie ins obere Stockwerk, aber hier war alles in bester Ordnung, obgleich die Tür zum Zimmer des jungen Salter offenstand.

 

»Es ist sehr leicht möglich, daß er zuerst diesen Raum mit dem meinen verwechselte. Mein Schlafzimmer liegt direkt gegenüber. Ich weiß nicht, wovon ich aufwachte. Vielleicht quietschte die Tür, obwohl sie regelmäßig geölt wird. Ich setzte mich im Bett aufrecht und hörte noch das Geräusch seiner Schritte, dann war er fort. Als ich aus der Tür herauskam, sah ich ihn noch einen kurzen Augenblick am anderen Ende des Ganges. Ich lief die Treppe hinunter und rief nach Tilling. Ich habe ihn dann noch einmal gesehen, als er durch das Bibliotheksfenster stieg. Ich habe stets eine Pistole in meinem Zimmer, und ich schoß hinter ihm her, als er die Stufen der Terrasse hinunterlief und im Dunkeln verschwand.«

 

»Hörten Sie ihn nicht sprechen?«

 

Mr. Salter schüttelte den Kopf.

 

Es war das Werk eines erfahrenen Einbrechers, das erkannte Andy sofort. Und wenn er nicht absolut sicher gewesen wäre, daß Scottie in diesem Augenblick den Schlaf des Gerechten schlief, hätte er schwören mögen, daß er den Einbruch verübt hatte.

 

Aber dieser Einbrecher hatte offenbar keinen festen Plan gehabt. Scottie hätte auch keine Papiere aus den Schubladen herausgeworfen und obendrein noch Salter in seinem Schlafzimmer gestört. Man ging wieder in die Bibliothek zurück.

 

»Das ist der zweite Raubüberfall heute abend in Beverley Green«, sagte Andy und erzählte von dem Vorfall bei Wilmot.

 

»Albert Selim?« meinte Mr. Salter nachdenklich. »Ich möchte mich Ihrer Theorie fast anschließen, Mr. Macleod.«

 

»Vermissen Sie etwas?«

 

»Ich glaube kaum, es befand sich nichts in der Bibliothek, das sich zu stehlen lohnte, höchstens ein paar Pachtverträge, die ihn aber schwerlich interessiert haben können.«

 

»Was ist denn das?«

 

Andy ging zum Kamin. Er war leer, da das Wetter ungewöhnlich warm war, aber auf der Feuerstelle lag die Asche von verbranntem Papier! Wieder eine Parallele zu der Ermordung Merrivans!

 

»Haben Sie etwas verbrannt?«

 

»Nein. Ist die Schrift noch erkennbar – manchmal ist das ja der Fall.«

 

Andy kniete nieder und beleuchtete die Asche mit seiner Taschenlampe.

 

»Nein, es ist leider fast nichts mehr zu erkennen.« Vorsichtig nahm er ein größeres Stückchen verbrannten Papiers heraus und brachte es zum Tisch.

 

»Es sieht aus wie ›RYL‹, meinte er. »Eine sonderbare Kombination von Buchstaben.«

 

»Es könnte Orylbridge geheißen haben«, erwiderte Boyd Salter. »Ich habe dort Grundeigentum.«

 

Bei diesen Worten hob er einige Papiere vom Fußboden auf.

 

»Es ist mir jetzt unmöglich, alle Dokumente zu ordnen und zu sehen, was fehlt. Vielleicht kommen Sie morgen früh noch einmal, Doktor.«

 

Andy wartete noch, um den Bericht zweier Parkwächter entgegenzunehmen, die aufgestanden waren und die Gegend abgesucht hatten.

 

»Dieser Fall geht mir langsam auf die Nerven, Dane«, sagte er, als der Wagen den Hügel hinunter zum Parktor fuhr. »Eins ist sicher: In diesem Tal verbirgt sich irgendwo ein Mörder, mag er nun Albert Selim oder sonstwie heißen. Offenbar ist er von hier. Es gibt keine andere Erklärung für seine Schnelligkeit und Sicherheit. Er kennt hier jeden Zoll Boden, und er sucht nach irgend etwas. Er tötete Merrivan, um es zu finden, er tötete Sweeny, weil ihm der zufällig im Obstgarten über den Weg lief. Er brach in Beverley Hall ein, um auch dort zu suchen. Aber warum hat er in beiden Fällen Papiere im Kamin verbrannt?«

 

»Wo hätte er sie sonst verbrennen sollen?« fragte Inspektor Dane. »Der Kamin war doch in beiden Fällen ganz in der Nähe.«

 

Andy erwiderte nichts darauf.

 

Er erinnerte sich jetzt daran, daß er auch ein drittes Mal verbranntes Papier gesehen hatte. Stella hatte sich in derselben Weise der Dinge entledigt, die sie vernichten wollte.

 

Um halb drei verabschiedete er sich von dem Polizeiinspektor. Im Osten dämmerte schon der neue Tag, als er in sein Zimmer kam. Er warf noch einen Blick zu dem Haus Nelsons hinüber und blieb erschrocken stehen. Stella mußte wach sein, denn er sah Licht durch ihre Jalousien schimmern.

 

Er wartete fast eine volle Stunde. Erst als es ganz hell geworden war, wurde drüben das Licht ausgemacht.

 

Andrew seufzte und ging zu Bett.

 

Kapitel 13

 

13

 

Scottie ging selten bei Tag aus. Er tat es aber nicht aus Geheimniskrämerei, sondern er nahm Rücksicht auf Andys Wünsche. Er ließ sich im allgemeinen nur zwischen ein und zwei Uhr mittags sehen, und um diese Zeit speiste man in Beverley Green gewöhnlich zu Mittag.

 

Er verließ Nelsons Haus durch den Seitenausgang, um zum Gästehaus zu gehen und Andy zu sprechen. Ein Artikel in einer Morgenzeitung, die er unter dem Arm trug, war der Zweck seines Besuches. Er selbst wurde nämlich darin erwähnt, und ihm war unbehaglich. Irgendein Berichterstatter, der anscheinend nichts von der Beendigung des Verfahrens gegen Scottie gehört hatte, schrieb etwas von einer aufsehenerregenden Verhaftung in diesem kleinen Ort, die kurz vor dem Mord stattfand, und zog hieraus für Scottie wenig schmeichelhafte Schlüsse.

 

Er hatte kaum einen Schritt auf die Straße getan, als er schon wieder stehenblieb.

 

Ein großes Auto versperrte den Weg, es stand halb auf der Straße und war halb in die Sträucher hineingefahren, die sie begrenzten. Scottie wußte, daß die Anlagen der Stolz der Bewohner von Beverley Green waren.

 

Der Chauffeur hatte ein rotes Gesicht und machte verzweifelte Anstrengungen, den Wagen zu wenden, worunter natürlich die Sträucher litten. Aber Scotties Aufmerksamkeit richtete sich nicht auf den Chauffeur, auch nicht auf das prachtvolle Auto – er sah nur die Dame, die darin saß.

 

Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber sie war eine majestätische und bis zu einem gewissen Grad sogar schöne Erscheinung. Unter dem Hut zeigte sich üppiges, rotes Haar, zu dem ihre schwarzen Augenbrauen einen eigentümlichen Gegensatz bildeten. Eine dicke Puderschicht bedeckte ihr von Natur rotes Gesicht. Die großen blauen Augen traten ein wenig hervor. All dies stellte Scottie fest, während er ihren Schmuck einer eingehenden Prüfung unterwarf.

 

In den Ohren trug sie Brillanten von der Größe zweier Erdnüsse. Eine dreifach geschlungene Kette großer Perlen lag um ihren Hals. Eine Brillantbrosche blitzte an ihrem Kleid, eine Smaragdspange an ihrem Gürtel. Scottie betrachtete ihre Hände und stellte fest, daß sie nur an den Daumen keine Ringe trug.

 

»Es tut mir entsetzlich leid, daß der Wagen hier soviel Schaden anrichtet, aber warum machen Sie Ihre Straßen nicht breiter?«

 

Sie mußte wohl einige Jahre in Amerika gelebt haben, denn sie hatte diesen eigentümlichen Akzent angenommen, den Engländer nach einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten bekommen. Scottie war unbehaglich zumute.

 

Recht gewöhnlich, dachte er und fragte sich, wie sie zu dem Schmuck gekommen sein mochte.

 

»Ich bin seit vielen Jahren nicht in dieser Gegend gewesen«, sprach sie gleich weiter. Sie hielt ihn natürlich für einen Bewohner von Beverley Green. »Man hat mir soviel von diesem Ort erzählt. Hier ist doch jemand umgebracht worden?«

 

»Gewiß«, entgegnete Scottie höflich und reichte ihr die Zeitung. »Sie finden hier einen eingehenden Bericht darüber.«

 

»Ich habe leider meine Brille nicht bei mir«, sagte sie, nahm aber die Zeitung trotzdem an, »Es ist doch schrecklich, daß schon wieder ein Mensch getötet wurde. Man hat mir seinen Namen nicht genannt, und er ist ja auch ohne Bedeutung für mich. Es ist wirklich fürchterlich, daß in letzter Zeit wieder so viele Morde vorkommen. Vor einigen Jahren wurde auch ein solches Verbrechen ganz in unserer Nähe in Santa Barbara verübt, aber mein verstorbener Mann, der Senator, wollte mir nichts darüber erzählen, um mich nicht zu beunruhigen. Er war der Senator Crafton-Bonsor. Vielleicht haben Sie schon einmal von ihm gehört? Sein Name war häufig in den Zeitungen. Er hat sich allerdings nicht viel darum gekümmert, was sie schrieben.«

 

Scottie schloß daraus, daß die Zeitungen den Mann wahrscheinlich recht unfreundlich behandelt hatten, aber ein Senator der Vereinigten Staaten! Darüber kam er nicht so leicht hinweg. Er wußte zwar nicht viel von den Amerikanern, deren Namen in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, seine Kenntnisse beschränkten sich auf einige Staatsanwälte. Aber er hatte die Vorstellung, daß amerikanische Senatoren hochgestellte Leute seien.

 

»Nun, ich muß jetzt weiterfahren. Es wäre mir entsetzlich, an einem Ort leben zu müssen; an dem ein Mord verübt wurde. Ich könnte nachts nicht mehr schlafen, Mr. –«

 

»Bellingham ist mein Name – Professor Bellingham.«

 

Seine Worte schienen großen Eindruck auf sie zu machen.

 

»Ach, wie interessant! Wissen Sie, ein Professor kam auch einmal zu uns in Santa Barbara. Die Rasenflächen in meinem Park sind so groß wie der ganze Ort hier. Ach ja, der Professor, der mich besuchte, war einfach wunderbar. Er holte lebendige Kaninchen aus seinem Zylinder, und vorher hatte er mir doch gezeigt, daß er nichts darin hatte. Nun muß ich aber wirklich weiterfahren, Herr Professor. Ich wohne im Great Metropolitan-Hotel. Mein Gott, die können einem aber Rechnungen schreiben! Und als ich nach einer Beutelmelone fragte, wußte kein Mensch, was ich meinte. Also, dann auf Wiedersehen.«

 

Der Wagen fuhr an und war bald außer Sicht. Scottie wurde nachdenklich.

 

»Haben Sie den Wagen gesehen?« war die erste Frage, die er an Andy richtete.

 

»Nein, gesehen nicht, aber gehört – ich dachte, es wäre ein Lastauto gewesen.«

 

»Ja, so könnte man es nennen«, gab Scottie zu. »Sie hätten nur die Fracht sehen sollen! Ungefähr – aber ich will Sie nicht langweilen. Es war einfach großartig – und was für eine Dame!«

 

Andy hatte etwas anderes zu tun, als sich um gelegentliche Besucher von Beverley Green zu kümmern.

 

»Wie geht es Miss Nelson?«

 

»Ausgezeichnet, sie macht heute nachmittag einen langen Spaziergang.«

 

Andy wurde rot.

 

»Wer hat Ihnen denn das verraten?«

 

»Sie selbst«, antwortete Scottie kühl. »Sie hat mir sogar aufgetragen, es Ihnen zu sagen. Dieses Mädchen ist recht intelligent.«

 

»Ich habe nicht die Absicht, mich mit Ihnen über die Intelligenz Miss Nelsons zu unterhalten«, entgegnete Andy ein wenig von oben herab. »Und ich weiß auch nicht, warum Sie irgendwelche Schlußfolgerungen aus ihren Worten ziehen. Wahrscheinlich hat sie gemeint, Sie möchten mir bestellen, daß sie sich wohl genug fühlt, allein einen längeren Spaziergang zu machen.«

 

»Vielleicht. Sie sagte nur, daß sie um drei Uhr am zweiten Golfloch sei und dort auf Sie warten werde.«

 

Andy wußte darauf nichts zu erwidern.

 

»Und da wir gerade von Liebe sprechen«, fuhr Scottie fort, »so möchte ich Sie doch bitten, einmal nachzusehen, was der Berichterstatter des ›Post Herald‹ über die Verhaftung eines gefährlichen Verbrechers schreibt – damit meint er nämlich mich. Er zieht allerhand Schlüsse aus der Tatsache, daß sich die Verhaftung kurz vor dem Mord ereignete.«

 

*

 

Andy hatte schon zehn Minuten am Golfloch gewartet, ehe Stella kam.

 

»Ich fürchtete schon, Sie könnten nicht abkommen«, sagte sie. »Hat Ihnen der Professor meinen Auftrag ausgerichtet?«

 

»O ja, er hat es mir bestellt«, entgegnete Andy trocken.

 

»Hat er Ihnen auch von der merkwürdigen Dame erzählt?« fragte sie ihn interessiert. »Scottie hatte eine lange Unterredung mit ihr. Ihr Auto hat zwei Fliederbüsche vollständig umgefahren. Der große Wagen wollte in der engen Straße wenden!«

 

»Was war denn das für eine merkwürdige Dame? Hat sie Beverley Green besucht?«

 

Stella nickte.

 

»Ich sah sie durchs Fenster, Es gibt nur eine Beschreibung für sie – sie glitzerte! Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, Scottie über sie auszufragen.«

 

Sie gingen langsam weiter – Andy wußte nicht, welchen Weg sie eingeschlagen hatten. Ihm wurde nur so viel klar, daß sie zu den Grenzhecken von Beverley Hall kamen. Er war in einer ganz anderen Welt unendlich glücklich. Anziehend – hübsch – schön? Er hatte sich diese Frage schon einmal beantwortet. Er betrachtete Stella von der Seite. Ihr Profil war vollkommen, ihre Haut schimmerte in dem wenig schmeichelhaften, hellen Sonnenlicht ebenso zart wie in der Abendbeleuchtung.

 

»Artur Wilmot hat mich heute geschnitten«, sagte sie.

 

»Aber warum denn? Ich dachte doch – ich hatte gehört –«

 

Er vollendete den Satz nicht.

 

»Daß ich mit ihm verlobt sei?« sagte sie leise lachend. »Die Leute von Beverley verloben einen sehr leicht. Ich war nie mit ihm verlobt. Ich trug wohl früher einen Ring, weil – nun, weil er mir gefiel. Mein Vater hat ihn mir früher einmal geschenkt.«

 

Er seufzte erleichtert auf, sie hörte es und sah ihn schnell von der Seite an. Aber dann schaute sie rasch wieder fort.

 

»Was ist eigentlich der Beruf Artur Wilmots?«

 

»Ich weiß es nicht. Er hat immer in London zu tun. Über seine Geschäfte spricht er nie, und niemand weiß etwas davon. Das ist merkwürdig, denn die meisten jungen Leute erzählen sehr gern von ihrem Beruf – wenigstens die ich kenne. Sie sind stolz auf die eigene Tüchtigkeit und wissen eigentlich sonst nicht viel zu reden. Aber Sie habe ich noch nie über ihre Tüchtigkeit sprechen hören, Doktor Andrew.«

 

»Ich glaubte, daß ich schön außerordentlich gesprächig gewesen wäre – Miss Nelson.«

 

»Nun seien Sie doch nicht komisch – Sie haben mich schon Stella genannt und ein dummes Kind, als Sie neulich morgens kamen. Ist es nicht wunderschön?«

 

»Ich bin damals wohl sehr kühn gewesen«, gab er kleinlaut zu.

 

»Ich meinte, daß wir uns kennengelernt haben und daß ich Sie gerne mag. Im allgemeinen kann ich mich nämlich nur schwer an einen Menschen gewöhnen. Vielleicht war es auch eine Reaktion. Ich habe Sie so sehr gehaßt, weil ich mich immer schuldig fühlte, wenn Sie mich ansahen. Ich dachte immer, Sie müßten schrecklich sein, ein Bluthund, der arme, unglückliche Menschen hetzt.«

 

»Wahrscheinlich haben alle Leute diese Vorstellung von Polizeibeamten. Und wir schmeicheln uns mit dem Gedanken, daß der Anblick einer Polizeiuniform jeden guten Bürger erfreut.«

 

»Ich bin kein guter Bürger. Im Gegenteil, ein sehr schlechter – Sie wissen gar nicht, wie schlecht ich bin.«

 

»Ich kann es vermuten.«

 

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

 

»Stella«, sagte er dann plötzlich, »hat Merrivan bei Ihrem letzten Zusammensein mit ihm irgendwelche Andeutungen über die Zukunft gemacht – wo er leben würde?«

 

»In Italien«, sagte sie. »Er erzählte mir, daß er viel Geld bekommen würde, und daß er einen herrlichen Palast am Corner See gekauft habe.«

 

»Hat er Ihnen nicht mitgeteilt, ob er das Geld bereits erhalten habe?«

 

»Nein, ich kann mich erinnern, daß er sagte, er werde es bekommen. Ich hatte den Eindruck, daß er es von irgendeiner Seite erhalten würde. Aber wir wollen bitte nicht mehr über diese Sache sprechen.«

 

Von wem erwartete Merrivan das Geld? Doch nicht von Albert Selim? Oder hatte er vielleicht die Summe schon erhalten und versteckt? Möglicherweise hatte der Wucherer entdeckt, daß Merrivan ins Ausland gehen wollte, und versucht, das Geld wieder zurückzubekommen. Selim klagte sein Geld nie vor Gericht ein – das war auch ein sonderbarer Umstand. Er verlieh offenbar nur Geld, wenn er sein Opfer irgendwie in der Hand hatte.

 

Als sie an eine steile Stelle kamen, nahm er Stellas Hand, um sie zu stützen, aber er ließ sie nicht los, als der Weg wieder eben wurde. Sie zog die Hand auch nicht fort. Sie war glücklich in seiner Gegenwart. Die Berührung dieser starken Hand, die die ihre so behutsam hielt, war wohltuend. Etwas von seiner Kraft und Ruhe war auf sie übergegangen, als er sie damals an den Schultern gepackt hatte.

 

»Sie sind sehr ernst geworden«, sagte sie auf dem Rückweg. »Ich wußte, daß unser Spaziergang so sein würde – so wunderschön. Ich wünsche mir jetzt nichts mehr – mein Glück ist vollkommen. Ein zweites Mal würde es nicht mehr so werden wie heute.«

 

Sie waren bei dem zweiten Golfloch angekommen. Es war niemand zu sehen.

 

Andy beugte sich zu ihr, und seine Lippen berührten die ihren.

 

Kapitel 14

 

14

 

Mr. Boyd Salter saß an einem kleinen Tisch in der Nähe des offenen Fensters seiner Bibliothek. Von hier aus konnte er das ganze Tal und auch einen Teil von Beverley Green überschauen. Er war damit beschäftigt, Patiencen zu legen, wurde aber doch nicht so davon in Anspruch genommen, daß er nicht von Zeit zu Zeit eine Pause gemacht und aus dem Fenster gesehen hätte. Einmal interessierte ihn eine Schafherde, die gerade des Weges kam, dann beobachtete er einen Habicht, der plötzlich herabstieß und sich mit seiner Beute wieder in die Lüfte erhob. Er wurde auf einen Mann in einem langen dunklen Mantel aufmerksam, der sich sehr merkwürdig benahm. Aber die Entfernung war zu groß, um feststellen zu können, was er eigentlich tat. Er ging an dem Rand einer Pflanzung entlang, aus der er vermutlich herausgekommen war.

 

Mr. Salter drückte den Knopf einer elektrischen Klingel.

 

»Bringen Sie mir meinen Feldstecher, Tilling. Wissen Sie, ob dort ein Parkwächter in der Gegend herumstreift?«

 

»Ich glaube nicht. Madding ist unten im Leutezimmer.«

 

»Schicken Sie ihn, bitte, herauf, aber bringen Sie erst mein Glas.«

 

Mr. Salter stellte den Feldstecher ein, aber er konnte den Fremden nicht erkennen, der etwas zu suchen schien. Der Mann kam nur langsam vorwärts und bewegte sich nicht in gerader Linie.

 

Boyd Salter wandte den Kopf. Ein untersetzter Mann mit rotem Gesicht, der einen Anzug aus Manchestersamt und Gamaschen trug, war eingetreten.

 

»Madding, wer geht dort bei Spring Covert?«

 

Der Wächter legte die Hand über seine Augen.

 

»Sieht mir so aus, als ob es einer von diesen Leuten aus Beverley Green wäre. Ich glaube, es ist Wilmot.«

 

Mr. Salter schaute wieder hinaus.

 

»Sie werden wohl recht haben. Gehen Sie hin, bestellen Sie einen schönen Gruß von mir und fragen Sie, ob Sie etwas für ihn tun können. Vielleicht hat er etwas verloren. Warum aber gerade auf meinem Grundstück etwas vermißt wird, ist mir ein Rätsel.«

 

Madding ging hinaus, und Mr. Salter wandte sich wieder seinen Karten zu. Als er nach einiger Zeit noch einmal hinaussah, eilte der Wächter mit großen Schritten durch das Gelände. Später konnte er nur Madding allein ins Glas bekommen, der Fremde war verschwunden.

 

Boyd Salter nahm die Karten zusammen, mischte sie und legte sie von neuem auf. Bald darauf kam Madding zurück.

 

»Ich danke Ihnen, ich habe schon gesehen, daß Sie ihn nicht mehr angetroffen haben.«

 

»Dieses Ding habe ich gefunden, Sir. Es lag etwas weiter entfernt von der Stelle, wo Mr. Wilmot suchte. Wahrscheinlich hat er danach gesucht.«

 

Er reichte Salter ein goldenes Zigarettenetui, von dem er den Lehm abgewischt hatte. Der Boden um Spring Covert war feucht und lehmig.

 

Mr. Salter nahm das Etui und öffnete es. Es enthielt zwei feuchte Zigaretten und ein abgerissenes Stück Zeitungspapier, auf dem mit Bleistift eine Adresse geschrieben war.

 

»Es ist gut, Madding. Ich werde dafür sorgen, daß es Mr. Wilmot zurückerhält. Es wird ihm gehören, hier ist sein Monogramm. Ich glaube, daß er Ihnen eine gute Belohnung geben wird. Ich habe gehört, Sie haben heute morgen ein Hermelin gefangen? Diese Tiere sind doch die größten Feinde der jungen Fasane. Sagten Sie nicht, daß es in diesem Jahr viele gibt? Nun, es ist gut, ich danke Ihnen, Madding.«

 

»Entschuldigen Sie bitte, Sir, ich möchte Ihnen noch etwas mitteilen.«

 

Der Parkwächter wartete einen Augenblick, bis Salter ihm zunickte weiterzusprechen.

 

»Es ist wegen des Mordes. Ich habe die Vermutung, daß der Täter durch den Park geflohen ist.«

 

»Wie kommen Sie darauf?«

 

»Ich war in jener Nacht draußen unterwegs. Die Leute von Beverly wildern schlimmer denn je. Mr. Goldings Oberwächter erzählte mir erst heute wieder, daß er einen Mann gefaßt hat, der sechs Fasanen in seinem Rucksack hatte. Als ich so herumstreifte, hörte ich unten bei Vally Bottom einen Schuß. Ich lief so schnell wie möglich hin, obgleich ich mir sagte, daß sich Wilddiebe im allgemeinen hier nicht mit Gewehren herumtreiben. Als ich eine Strecke weit gegangen war, hielt ich an und horchte. Ich kann einen Eid darauf leisten, daß ich hörte, wie jemand über den hartgetretenen Weg ging, der nach Spring Covert führt, wo eben auch Mr. Wilmot war. Ich rief ihn an, aber da hörte ich keine Schritte mehr. ›Bleiben Sie stehen, Sie sind erkannt!‹ rief ich, da ich dachte, es sei ein Wilddieb. Ich habe aber nichts mehr gehört und auch niemand gesehen.«

 

»Haben Sie der Polizei das alles mitgeteilt? Das hätten Sie tun sollen, Madding. Es könnte ein wichtiger Anhaltspunkt sein. Glücklicherweise besucht mich Mr. Macleod heute nachmittag.«

 

»Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Ich habe den Schuß nämlich nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht. Erst als ich es meiner Frau erzählte, sagte sie, daß ich Ihnen das mitteilen müsse.«

 

»Ihre Frau hat recht, Madding«, erwiderte Salter lächelnd. »Bleiben Sie in der Nähe, wenn Doktor Macleod kommt.«

 

Andy, der Mr. Salter wegen der Leichenschau verschiedenes zu fragen hatte, hörte die Geschichte des Parkwächters mit Interesse an und erkundigte sich nach der genauen Zeit, wann er den Schuß gehört hatte.

 

»Madding hat auch ein Zigarettenetui gefunden, das Mr. Wilmot gehört«, sagte Boyd Salter und erzählte, daß er Artur auf der Suche nach einem Gegenstand gesehen habe. »Ich danke Ihnen, Madding, Sie brauchen nicht zu warten, wenn nicht Doktor Macleod noch weitere Fragen an Sie hat. Nein? Dann können Sie gehen.«

 

Andy betrachtete das Etui.

 

»Wie kam er denn in die Nähe von Spring Covert? Führt dort ein öffentlicher Weg vorbei?«

 

»Nein, er hat unerlaubt fremdes Gebiet betreten, obgleich ich so harte Worte nicht gern von den Spaziergängen eines Nachbarn auf meinem Grund und Boden gebrauche. Unsere Freunde in Beverley Green haben die Erlaubnis, hier auf meinem Gelände Picknicks zu veranstalten. Sie müssen nur meinem Wächter davon Mitteilung machen. Aber sie kommen eigentlich nie nach Spring Covert – es ist nicht besonders schön dort.«

 

Andy öffnete das Etui und nahm das Stückchen Zeitungspapier heraus. »Es ist wohl eine Adresse«, meinte Mr. Salter.

 

»Ja – die Adresse des ermordeten Sweeny –, und Wilmot hat sie am selben Tag erhalten, an dem der Mord begangen wurde!«

 

Er drehte den kleinen Fetzen um. Er war von einer Sonntagszeitung abgerissen, oben war noch zu lesen … onntag, den 23. Juni…

 

Offenbar hatte diese Zeitung Sweeny gehört, dachte Andy. Wahrscheinlich hatten sich die beiden getroffen, miteinander gesprochen, Wilmot hatte sich währenddessen überlegt, daß ihm der Sekretär Albert Selims vielleicht noch irgendwie nützlich sein könnte, und hatte sich deshalb seine Adresse notiert. Diese Begegnung hatte aber schwerlich in Spring Covert stattgefunden, wo das Etui gefunden worden war. Sie mußten sich dort nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal getroffen haben, oder Wilmot hatte nachts diesen Platz heimlich aufgesucht. Die erste Möglichkeit erschien Andy wahrscheinlicher.

 

Wilmot hatte also doch etwas mit der Sache zu tun.

 

»Worüber denken Sie nach?« fragte Boyd Salter.

 

»Es ist merkwürdig, ich weiß nicht, was ich aus diesem Fund machen soll. Ich werde Wilmot aufsuchen und ihm das Etui zurückgeben, wenn Sie gestatten.«

 

Als er nach Beverley Green zurückging, fiel es ihm plötzlich auf, daß fast alle wichtigen Ereignisse während seines Aufenthaltes doppelt eingetreten waren. Er hatte die Drohung Wilmots vor Merrivans Haus und die Wutausbrüche Nelsons vor dessen Tür gehört. Sowohl in Merrivans als auch in Nelsons Haus hatte er verbrannte Papiere entdeckt. Und nun war wieder etwas gefunden worden –

 

»Wir haben einen kostbaren Brillantring gefunden – vielmehr Mr. Nelson hat ihn auf dem Rasen entdeckt«, begrüßte ihn der Polizeiinspektor. »Ich habe nicht gehört, daß irgendwo ein Ring vermißt würde. Niemand im ganzen Dorf bekennt sich als Eigentümer des Schmuckstücks.«

 

Stella war doch wirklich zu achtlos! Sie streute verdächtigende Gegenstände wie der ›Fuchs‹ bei der Schnitzeljagd.

 

»Der Eigentümer wird sich schon noch melden«, meinte Andy gleichgültig.

 

Am Abend traf er Wilmot, der gerade nach Hause kam.

 

»Ich glaube, das gehört Ihnen«, sagte Andy und hielt ihm das Etui hin.

 

Wilmot wurde rot.

 

»Ich glaube kaum. Ich habe nichts verloren –«

 

»Aber Ihr Monogramm ist doch darauf, und zwei Leute haben es bereits als Ihr Eigentum erkannt.«

 

Das war zwar nicht die Wahrheit, aber Andy hatte Erfolg mit dieser Methode.

 

»Tatsächlich! Ich danke Ihnen, Doktor Macleod. Ich hatte es noch nicht vermißt.«

 

Andy lächelte.

 

»Dann haben Sie oben bei Spring Covert wohl nach etwas anderem gesucht?«

 

Wilmot wurde jetzt blaß.

 

»Wann haben Sie sich Sweenys Adresse notiert?«

 

Wilmot sah Andy haßerfüllt an. Entweder war Wilmot schuldig oder eifersüchtig. Wahrscheinlich war Eifersucht die Ursache – er wußte oder vermutete doch, wie Andy zu Stella Nelson stand.

 

»Ich traf ihn am Sonntagmorgen, er bat mich, ihn für eine neue Stellung zu empfehlen. Ich hatte ihn kennengelernt, als er in den Diensten meines Onkels stand. Ich traf ihn auf dem Golfplatz, und so schrieb ich seine Adresse auf ein Stück Zeitungspapier.«

 

»Sie haben aber weder mir noch Inspektor Dane gesagt, daß Sie ihm begegnet waren.«

 

»Das hatte ich ganz vergessen – nein, das stimmt nicht, aber ich wollte nicht in diesen Fall verwickelt werden.«

 

»Sie haben ihn dann nachts noch einmal gesehen – warum wählten Sie Spring Covert als Treffpunkt?«

 

Wilmot schwieg, und Andy mußte seine Frage wiederholen.

 

»Er war von Beverley Green fortgegangen und wollte mich noch einmal sprechen. Er dachte, daß es mir peinlich sei, wenn man uns zusammen sähe.«

 

»Wann dachte er denn das? Am Morgen, als die zweite Verabredung vereinbart wurde?«

 

»Ja«, entgegnete Wilmot zögernd. »Wollen Sie nicht hereinkommen, Macleod.«

 

»Sind Sie allein?«

 

»Ja, ich bin allein im Haus. Die Dienstboten haben heute alle Ausgang. Sie kommen auch sonst nur in mein Zimmer, wenn ich sie rufe.«

 

Artur Wilmots Haus war das kleinste von allen, aber es war mit hervorragendem Geschmack eingerichtet. Wenn es Andy trotzdem nicht vollständig befriedigte, so lag das wohl daran, daß ihm der Charakter der Einrichtung zuwenig männlich erschien.

 

Auf dem Tisch des Zimmers, in das sie traten, lag ein halbfertiger Damenhut. Wilmot unterdrückte einen Ausruf. Es war eine mit prachtvoller, farbiger Seide überzogene Hutform.

 

Ihre Ankunft mußte irgend jemand gestört haben. Andy tat, als ob er nichts gesehen hätte, aber Wilmot war zu aufgeregt, um die Sache übergehen zu können, und versuchte, Andy eine Erklärung zu geben.

 

»Vermutlich hat wieder eins der Dienstmädchen hier gearbeitet!« Mit diesen Worten packte er den Hut und schleuderte ihn in eine Ecke.

 

Der Zwischenfall, der eigentlich Wilmots Verwirrung hätte vergrößern müssen, schien die entgegengesetzte Wirkung zu haben. Seine Stimme war klar und fest, als er jetzt sprach.

 

»Ich habe Sweeny zweimal getroffen, und es war töricht von mir, es nicht sofort zuzugeben. Sweeny haßte meinen Onkel. Er kam zu mir, um mir etwas zu erzählen – er deutete wenigstens an, daß er etwas wüßte, durch das ich Mr. Merrivan in meine Hand bekäme. Die zweite Zusammenkunft in Spring Covert diente dazu, über die Bedingungen zu verhandeln, unter denen Sweeny mir seine Informationen geben wollte. Ich wünschte, ich wäre nicht hingegangen, ich bin auch nicht lange dort gewesen. Ich versprach Sweeny, ihm zu schreiben, und damit hatte die Sache ein Ende.«

 

»Worin bestand denn Sweenys Geheimnis?«

 

Wilmot zögerte.

 

»Offen gestanden, ich weiß es nicht. Ich hatte nur den Eindruck, daß Mr. Merrivan irgendwie in Selims Schuld war – Selim war der Name von Sweenys Chef. Aber das kann ich nicht recht glauben, es kommt mir fast lächerlich vor. Mein Onkel war ein reicher Mann.«

 

Andy schwieg und überlegte, ob Wilmot die Wahrheit gesagt haben könnte.

 

»Haben Sie irgendeine Ahnung, wer Ihren Onkel getötet haben könnte?«

 

Wilmot runzelte die Stirn. »Haben Sie denn eine Vermutung?«

 

Andy wußte, wen Wilmot beschuldigen würde, wenn auch nur der geringste Verdacht auf ihn selbst fallen sollte.

 

»Ich habe mir viele Theorien zurechtgelegt«, erwiderte er kühl. »Aber es wäre übereilt, wenn ich mich jetzt schon endgültig für eine von ihnen entscheiden würde. Da fällt mir etwas ein, Mr. Wilmot. Als wir uns das letztemal sahen, sprachen Sie von einem nichtswürdigen Mädchen. Das interessiert mich. Sie beschwerten sich heftig über sie und sagten, daß Sie ihretwegen Streit mit Ihrem Onkel gehabt hätten. Das könnte ein wichtiger Anhaltspunkt sein. Wer war diese Dame?«

 

Das war ein meisterhafter Angriff, der wohlüberlegt im günstigsten Augenblick geführt wurde.

 

Auf eine so direkte Frage war Wilmot nicht vorbereitet. Es war ihm klar, daß Macleod genau wußte, wen er gemeint hatte. Er mußte jetzt mit der Sprache heraus oder –

 

»Die Antwort darauf muß ich schuldig bleiben.«

 

Aber Andy war schon zu weit gegangen und hatte zu viel gewagt, um seinem Gegner jetzt noch gestatten zu können, das Gefecht abzubrechen.

 

»Das kann ich nicht gelten lassen. Entweder kennen Sie eine solche Dame oder Sie kennen sie nicht. Entweder haben Sie sich mit Ihrem Onkel gestritten oder nicht. Ich spreche jetzt als der Polizeibeamte, der mit der Untersuchung dieses Falles beauftragt ist, und ich muß die Wahrheit erfahren.«

 

Seine Stimme klang hart und drohend.

 

»Ich war damals sehr verwirrt«, sagte Artur Wilmot mürrisch und widerwillig. »Ich wußte nicht, was ich sagte. Ich meinte keine bestimmte Dame, auch habe ich mich mit meinem Onkel nicht gestritten.«

 

Langsam zog Andy ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb diese Worte Wilmots, der ihn wütend beobachtete, auf.

 

»Ich danke Ihnen. Ich werde Sie jetzt wohl nicht wieder in dieser Angelegenheit belästigen müssen.«

 

Ohne ein weiteres Wort entfernte er sich.

 

Wilmot blieb zurück und trug sich mit Mordgedanken.

 

»Mr. Macleod!«

 

Andy drehte sich an der Gartenpforte noch einmal um. Wilmot kam hinter ihm her.

 

»Es ist jetzt sicher kein Grund mehr vorhanden, warum ich das Haus meines Onkels nicht betreten dürfte. Ich bin der gesetzmäßige Erbe Mr. Merrivans, und ich habe einige Vorbereitungen für seine Beerdigung zu treffen.«

 

»Ich muß Ihnen im Augenblick nur noch die eine Beschränkung auferlegen, daß Sie nicht in sein Arbeitszimmer gehen. Dieser Raum kann erst nach der Leichenschau freigegeben werden.«

 

Andy ging über die Straße und sprach mit dem Polizeisergeanten, der das Haus bewachte.

 

»So, diese Sache habe ich in Ordnung gebracht, Mr. Wilmot. Der Beamte wird Sie einlassen.«

 

Andy war weder überrascht noch belustigt über den Damenhut in Wilmots Zimmer, der zu vielen Vermutungen Anlaß geben konnte. Wilmots Verlegenheit war zu deutlich und seine Erklärung vollständig unglaubwürdig gewesen. Ein Dienstmädchen sollte den Hut dort genäht haben? Das stimmte doch nicht mit seiner Angabe überein, daß kein Dienstbote in sein Zimmer kommen dürfe, wenn er nicht gerufen war. Wilmot war Junggeselle wahrscheinlich nicht besser und nicht schlechter als alle Junggesellen. Aber es war doch ein wenig überraschend, daß er seine Damen nach Beverley Green brachte, wo alle Dienstboten bekanntermaßen klatschten. Eine solche Unbesonnenheit sah Artur Wilmot gar nicht ähnlich.

 

Er ging zu Nelsons. Wenn er nach seinen Wünschen hätte handeln können, wäre er jeden Tag dort hingegangen und die ganze Zeit dort geblieben. Er richtete es jetzt immer so ein, daß er Scottie in den frühen Morgenstunden draußen im Freien traf, gewöhnlich in den Parkanlagen.

 

Stella empfing ihn. Ihr Vater war im Atelier und arbeitete. Sie war begeistert, denn Kenneth Nelson hatte ein neues Gemälde begonnen, ein Porträt Scotties.

 

»Das ist ja großartig, weil ich dann immer ein gutes Bild von Scottie zur Verfügung habe«, meinte Andy. »Wenn ich ihn in Zukunft wieder einmal verhaften lassen muß, schicke ich meine Leute einfach zur Akademie, damit sie ihn vorher genau studieren können.«

 

»Er wird in Zukunft aber nichts mehr anstellen«, sagte sie, denn sie war über seine Worte erschrocken. »Er erzählte mir, daß er sein altes Leben aufgeben und nicht mehr stehlen wolle.«

 

Andy lächelte.

 

»Ich würde ja nur zu froh sein, wenn es so wäre. Kennst du Artur Wilmot sehr gut, Stella?«

 

Sie wollte schon sagen, daß sie ihn nur allzugut kenne.

 

»Ich habe es einmal gedacht«, erwiderte sie. »Warum fragst du danach?«

 

»Weißt du, ob er irgendwelche Freundinnen oder weibliche Verwandte hat?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Seine einzigen Verwandten waren Mr. Merrivan und eine alte Tante. Er hat nie Besuch gehabt mit Ausnahme seiner Tante, die aber gestorben ist, soviel ich weiß. Er hat nicht einmal Junggesellenabende gegeben. Ich weiß nicht mehr, was vorgeht. Hast du neue Anhaltspunkte gefunden? Der ganze Ort wimmelt von Zeitungsreportern. Einer kam und fragte mich, ob ich ihm irgendwelche Einzelheiten aus Mr. Merrivans Privatleben erzählen könne. Er fragte mich zum Beispiel, ob er regelmäßig zur Kirche gegangen und sonst ein ruhiger, stiller Mensch gewesen sei. Ich gab zur Antwort, daß ich nicht viel über ihn wisse. Er war leicht zufriedenzustellen.«

 

Andy seufzte. »Ich bin nur froh, daß Downer nicht gekommen ist.«

 

»Wer ist Downer?«

 

»Ein Journalist, der tüchtigste und geschickteste Mann von der ganzen Gesellschaft. Der gibt sich nicht so leicht zufrieden wie der Reporter, der dich aufgesucht hat. Er hätte auch nicht so dumme Fragen gestellt. Er hätte mit deinem Vater über Kunst gesprochen, wäre ins Atelier gegangen, hätte den Pygmalion bewundert und mit deinem Vater über Farbwerte, den Einfluß der Atmosphäre, über Beleuchtungs- und Bewegungsmotive diskutiert. Wenn er aber gegangen wäre, hättest du das unangenehme Gefühl gehabt, mehr gesagt zu haben, als gut war. Und zwar nicht über alte Meister, sondern über Mr. Merrivans Privatleben.«

 

Sie wandte die Augen nicht von ihm, während er sprach. Aber er sah sie nicht lange an, denn er fürchtete, er würde sie an sich reißen und nicht wieder freigeben.

 

»Du mußt unheimlich viele Menschen kennenlernen, diesen Downer zum Beispiel, und Leute wie Scottie. Ich nannte ihn übrigens aus Versehen auch Scottie, es schien ihm sehr angenehm zu sein. Gibt es eigentlich etwas Neues?«

 

»Inspektor Dane hat deinen Ring gefunden. Streust du deine Brillantringe immer so aus?«

 

Sie war nicht im mindesten verwirrt.

 

»Ich habe ihn weggeworfen, ich weiß nicht mehr, wo. Willst du schon gehen? Du bist noch kaum eine Minute hier und hast weder meinen Vater noch sein Gemälde gesehen.«

 

»Ich bin schon lange genug hiergewesen, um die ganze Nachbarschaft in Aufruhr zu bringen. Verstehst du nicht, daß ich dich nur besuchen kann, wenn ich unter dem einen oder anderen Vorwand auch zu allen anderen gehe? Jeden Tag mache ich zehn bis zwölf verschiedene Besuche und falle den Leuten auf die Nerven – nur um dich einmal sehen zu können.«

 

Sie begleitete ihn zur Tür.

 

»Ich wünschte, du würdest kommen und wieder Staub wischen«, sagte sie zärtlich.

 

»Und ich – ich wünschte, wir wären wieder bei dem zweiten Golfloch«, erwiderte er leise.

 

Sie lachte, und er hörte sie noch auf dem Gartenweg.

 

Kapitel 15

 

15

 

Es war keine Übertreibung, wenn man sagte, daß Artur Wilmot seit dem Tod seines Onkels unter einem ständigen Druck lebte und manchmal glaubte, den Verstand zu verlieren. Weder sein Charakter noch seine Erziehung befähigten ihn, diesen schweren Schlag tapfer zu ertragen und zu überwinden. Er hatte von seiner Mutter, einer gescheiten, aber nervösen Frau, die Schwäche geerbt, sich seinen augenblicklichen Stimmungen und Launen zu überlassen, ohne ihnen irgendwelchen Widerstand entgegenzusetzen. Er kannte keine andere Hemmung als Furcht, gab sich wenig Mühe, sich im Zaum zu halten, und war launenhaft wie ein Kind. Daß Stella zum Beispiel seinen wahren Charakter nicht früher erkannt hatte, lag daran, daß er fest davon überzeugt war, ihre Freundschaft werde sich zu gegebener Zeit so entwickeln, wie er es wünschte. Es war ihr entgangen, daß er ihr immer näherzukommen suchte. Früher hatte er nicht die mindeste Andeutung gemacht, daß er in sie verliebt sei, weil er das Geheimnis seines Lebens nicht preisgeben wollte. Er dachte, daß er dadurch ihr gegenüber aufrichtig handelte, wenigstens versuchte er, sich das einzureden. Er glaubte, sie hätte ihm im Verlauf ihres freundschaftlichen Umganges Anlaß gegeben, ihr Verhältnis enger zu gestalten. Als er sich schließlich entschlossen hatte, ihr in sorgsam gewählten Worten seine Absichten zu erklären, kam ihre Weigerung für ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

 

Seine Eitelkeit gestattete ihm nicht, ihre Antwort als endgültig zu betrachten. Er überging ihre Ablehnung, indem er sich sagte, daß Frauen in solchen Augenblicken immer ein wenig sonderbar sind. Nachdem sie ihn auch ein zweites Mal abgewiesen hatte, gefiel er sich in der Rolle des Verzichtenden.

 

Ob er sie liebte oder haßte, war bedeutungslos. Er liebte sich selbst, und da er den Gegenstand seiner Begierde nicht in seinen Besitz bringen konnte, wurde er ihm so teuer, daß ihm das Leben mit all seinen Schönheiten dagegen wertlos erschien.

 

Die Ankunft Andy Macleods in Beverley Green, seine häufigen Besuche bei Nelsons und der Klatsch der Dienstboten trieben ihn zur Verzweiflung. Hinzu kamen noch die Aufregung über den Tod seines Onkels und die Gewißheit, daß der Verdacht auf ihn fallen könnte. Außerdem machte er sich Sorgen über seine eigene Zukunft. Sein Onkel hatte ihm Geldmittel gegeben, ein Geschäft in der Stadt zu gründen. Was mochte er in seinem Testament für ihn bestimmt haben? Hatte er überhaupt ein Testament gemacht? Er war sowohl von dem Rechtsanwalt Mr. Merrivans als auch von Polizeiinspektor Dane danach gefragt worden, denn niemand hatte ein solches Dokument entdecken können.

 

Wenn er Inspektor Dane oder Andy fragte, ob irgend etwas gefunden worden sei, dachte er hauptsächlich daran. Es war merkwürdig, daß Darius Merrivan ihm sein Geheimfach im Schlafzimmer überhaupt gezeigt hatte, denn sie standen nicht gerade auf sehr vertrautem Fuß miteinander. Artur hatte sich oft gewundert, warum sein Onkel ihm in so großzügiger Weise Geld zur Gründung eines Geschäftes zur Verfügung gestellt hatte, ohne nach Einzelheiten zu fragen. Nie hatte er Zinsen von ihm verlangt oder ihn an die Rückzahlung des Geldes gemahnt, und deshalb glaubte er, daß Mr. Merrivan beabsichtigte, ihn bei seinem Tod als Erben seines großen Vermögens einzusetzen.

 

Sein Onkel hatte ihn einmal gebeten, nicht darüber zu sprechen, daß er verheiratet sei. Aber er hatte ihm das Geld sicher nicht gegeben, um sich dadurch sein Schweigen zu erkaufen. Schon als naher Verwandter war Wilmot zum Schweigen verpflichtet, da die Ehe mit einem solchen Skandal geendet hatte.

 

Artur Wilmot wartete, bis Andy den Weg zu Nelsons Haus einschlug, dann ging er selbst zur Wohnung seines Onkels.

 

»Mr. Macleod sagte mir, daß Sie kommen würden«, erklärte der Polizeisergeant. »Er wird Ihnen mitgeteilt haben, daß Sie das Arbeitszimmer des Verstorbenen nicht betreten dürfen.«

 

Wilmot nickte und stieg die Treppe hinauf.

 

Drei von Mr. Merrivans Dienstboten waren entlassen worden. Sie waren alle aus Beverley und konnten leicht als Zeugen bei der Leichenschau verhört werden. Zwei der anderen Dienstboten hatte Artur bei sich aufgenommen. Sie wollten nicht in dem Haus schlafen, in dem der Mord geschehen war, obwohl sie tagsüber dort arbeiteten.

 

Artur ging direkt in Merrivans Schlafzimmer. Andy konnte ja jeden Augenblick erfahren, daß er sofort von der Erlaubnis Gebrauch gemacht hatte. Es war möglich, daß der Detektiv dann gleich zurückkam, um seine Nachforschungen zu überwachen. Er blieb in der offenen Tür stehen und lauschte, ob der Beamte ihm nicht nach oben gefolgt war. Dann ging er schnell durch das Zimmer, kniete am Fußende des Bettes nieder, ergriff die geschnitzte Rose über dem Wappen und drehte sie nach links. Es knackte, er zog an, und das unter der Rose befindliche Wappen ließ sich wie eine Schublade herausziehen. Verschiedene Papiere und ein Paket Banknoten, das mit einem Gummiring zusammengehalten war, lagen darin. Außerdem befand sich noch eine Mappe mit einem Dokument im Fach. Schnell steckte er alles in seine Seitentasche, schloß die Schublade hastig und drehte die geschnitzte Rose nach der entgegengesetzten Seite. Ob noch ein zweites Geheimfach hinter dem Wappen auf der rechten Seite war? Er ging wieder zur Tür und horchte. Der Sergeant nieste eben unten. Artur wandte sich um. Aber auf dieser Seite waren Rose und Wappen unbeweglich und bildeten einen Teil der massiven Schnitzerei. Er zitterte vor Erregung und wollte so schnell wie möglich in seine eigene Wohnung zurückkommen. Aber er fürchtete, daß seine Erregtheit dem aufmerksamen Polizeibeamten auffallen könnte. Um Zeit zu gewinnen und seine Fassung wiederzuerlangen, ging er auch noch in die anderen Räume. Schließlich stieg er die Treppe hinunter.

 

Der Polizist hatte sich in der Diele in einem bequemen Sessel niedergelassen und schaute von der Zeitung auf. »Haben Sie etwas gefunden, Sir?«

 

»Nichts Besonderes. Ich fürchte, es hat mich ein wenig mitgenommen –«

 

»Das kann ich gut verstehen«, sagte der Polizist wohlwollend. »Das ist auch der erste Mord, den ich in meiner zwanzigjährigen Dienstzeit erlebe. Mr. Macleod ist ja an. dergleichen gewöhnt außerdem ist er Arzt –, großer Gott, wie kaltblütig der über all die Sachen sprechen kann!«

 

Artur verschloß die Tür seines Zimmers, zog die Jalousien herunter und drehte das Licht an. Dann erst legte er den Inhalt seiner Tasche auf den Tisch. Auf den ersten Blick sah er, daß bei den Schriftstücken kein Testament war. Er zog das gefaltete Papier aus der Ledermappe, es war ein Trauschein. Zuerst dachte er, es sei die Heiratsurkunde seines Onkels, aber dann erkannte er, daß sie die Eheschließung einer gewissen Hilda Masters, von Beruf Dienstmädchen, mit John Severn, einem Studenten, bescheinigte. Die Ehe war vor dreißig Jahren geschlossen worden. Artur war erstaunt. Warum hatte sein Onkel die Trauungsurkunde eines Dienstmädchens aufbewahrt? Er las das Dokument sorgsam durch, um vielleicht einen Anhaltspunkt zu finden. Die Hochzeit hatte in der St.-Pauls-Kirche, Kensington, London, stattgefunden. Der Name seines Onkels erschien überhaupt nicht auf dem Schriftstück, er war nicht einmal einer der Trauzeugen. Und doch mußte dieser Schein eine ungewöhnliche Bedeutung für den Toten gehabt haben.

 

Als Artur die nächsten Papiere prüfte, vergaß er jeden Gedanken an das Testament.

 

Es waren zwei Wechsel, einer über siebenhundert, der andere über dreihundert Pfund. Sie waren auf Albert Selim ausgestellt und von Kenneth Nelson unterschrieben. Um die Unterschrift des Akzeptanten zu sehen, wandte Artur die Schriftstücke um und fand, wie er erwartet hatte, den Namen seines Onkels. Die beiden Wechsel waren mit einer Stecknadel zusammengeheftet. Außerdem war noch ein Papierstreifen mit der Schrift Merrivans daran befestigt: Diese beiden Wechsel sind Fälschungen. Fällig am 24. Juni.

 

Fälschungen! Wilmot stutzte. Wußte Stella um diese Sache? War sie deshalb am Abend des Dreiundzwanzigsten zu Merrivan gegangen? Sicher war sie eingeweiht. Das war auch die Handhabe Merrivans gegen sie, deswegen war er so sicher, daß sie ihn heiraten würde. In irgendeinem verrückten Augenblick der Betrunkenheit hatte Kenneth Nelson, der stets in Geldsorgen war, die beiden Wechsel mit den gefälschten Unterschriften Merrivan gegeben.

 

Artur pfiff leise vor sich hin. Im Augenblick konnte er die ganze Tragweite seiner Entdeckung noch nicht übersehen. Nachlässig prüfte er die Banknoten, es war eine große Summe, und er steckte sie in seine Brieftasche. Hier war wenigstens ein greifbarer Wert, ein nicht unbeträchtliches Legat. Die anderen Schriftstücke waren lange Listen von Sicherheiten. Er schloß die Listen und die Heiratsurkunde in einen kleinen Geldschrank, der in die Wand eingelassen war, und überließ sich seinen Gedanken.

 

Um halb elf ging er aus. Die Nacht war klar und schön. Aus einem Garten am Ende der Straße hörte er Stimmen herüberschallen.

 

In Stellas Halle brannte noch Licht. Wenn er zu ihr ging, lief er allerdings Gefahr, Andrew Macleod zu treffen, der ihn ausfragen würde, wenn er die Wechsel zeigte.

 

Aber Stella war allein.

 

»Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Stella? Ich werde dich nicht lange aufhalten.«

 

»Ja – Sie können mich hier an der Tür sprechen, Mr. Wilmot. Ich hoffe, daß Sie sich kurz fassen.«

 

»Ich kann dir aber doch unmöglich alles hier sagen«, erwiderte er und unterdrückte seinen Ärger.

 

Sie blieb fest.

 

»Ich kann Sie nicht hereinbitten. Es ist schon sehr entgegenkommend von mir, wenn ich überhaupt noch mit Ihnen spreche.«

 

»Meinst du?« rief er aufgebracht. »Aber vielleicht wirst du sehr bald dahinterkommen, daß es außerordentlich liebenswürdig von mir ist, daß ich noch mit dir rede.«

 

Sie wollte ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, doch er war schneller als sie und stellte den Fuß dazwischen.

 

Sie wurde zornig: »Ich werde meinen Vater rufen!«

 

»Bitte, tu es doch! Ich hätte gern eine Erklärung von ihm, wie die Unterschrift meines Onkels auf zwei Wechsel zugunsten Selims kommt.«

 

Er war zu aufgeregt, um zu hören, wie schwer sie atmete, aber der Druck gegen die Tür ließ plötzlich nach. Stella war an die Wand getaumelt, ihre Arme hingen schlaff herunter, ihr Köpf war auf die Brust gesunken.

 

»Kommen Sie herein«, sagte sie mit heiserer Stimme.

 

Artur Wilmot trat mit Siegermiene ein und hängte seinen Hut an den Garderobenständer. Dann folgte er ihr ins Wohnzimmer.

 

Sie setzte sich und schaute zu ihm hinüber. Eine Leselampe, deren Schirm ihre Augen verdeckte, stand zwischen ihnen. Aber er sah ihre zitternden Lippen und empfand höchste Genugtuung.

 

»Dein Vater hat den Namen des Akzeptanten gefälscht«, begann er ohne weitere Einleitung, obwohl er sich die Sache vorher anders überlegt hatte.

 

»Kann ich einmal – die – die Wechsel sehen?«

 

Er entfaltete sie und legte sie auf den Tisch.

 

»Ja, sie sahen ganz ähnlich aus«, sagte sie dann gebrochen. »Ich weiß mit solchen Dingen sehr wenig Bescheid. Aber sie sahen wirklich ganz ähnlich aus, Vermutlich waren die beiden Scheine, die ich fortnahm, Nachahmungen. Er wollte mich damit nur zum besten haben, und ich dachte, sie seien echt –«

 

»Dann warst du also am Sonntag abend in seiner Wohnung?« fragte er. »Ich habe dich nämlich hineingehen sehen, und ich beobachtete auch, wie du sein Haus wieder verließest. Du wolltest diese Wechsel von ihm haben, und er hat dir die falschen gegeben. Du hast die Wechsel also gestohlen, aber der Alte hat dich angeführt! Natürlich hat er dich hereingelegt! Was gedenkst du nun in dieser Angelegenheit zu tun?«

 

Sie antwortete nicht.

 

»Ich werde dir die einzige Lösung sagen, die dir übrigbleibt. Du wirst vernünftig sein und mich heiraten. Dieser verdammte Detektiv kann dir doch nichts bedeuten. Er ist doch nur ein besserer Polizist. Du mußt etwas auf dich halten! Es ist unter deiner Würde, mit einem solchen Menschen zu verkehren. Ich werde dir die beiden Wechsel als Hochzeitsgeschenk überreichen. Solltest du dich aber weigern, wird es böse werden. Dem Gesetz nach sind die Wechsel in meinen Besitz übergegangen. Ich bin der Erbe meines Onkels, auch alle seine Forderungen gehen auf mich über. Ich werde Mr. Nelson dahin bringen, wohin er gehört. Ich habe ihn jetzt ganz in meiner Gewalt! Sieh hier – mein Onkel hat auf dieses Papier geschrieben: ›Diese beiden Wechsel sind Fälschungen.‹ Dieses Zeugnis genügt, Stella!«

 

Er ging um den Tisch herum und streckte ihr die Hände entgegen, aber sie hatte sich erhoben und drehte ihm den Rücken zu.

 

»Nun gut, beschlafe die Sache erst noch einmal und überlege dir alles, ich werde morgen wiederkommen. Du kannst Macleod nichts von dieser Geschichte erzählen, ohne ihm zu gestehen, daß dein Vater ein Betrüger ist, und das würde doch etwas zuviel für ihn sein. Er hat sein Bestes getan, dich vor Unannehmlichkeiten zu bewahren, aber nun wäre es seine Pflicht, gegen deinen Vater vorzugehen. Also sei vernünftig, Stella!«

 

Er stand an der Tür und schaute noch einmal zurück. Als er sie schloß, lächelte er, und lächelnd öffnete er die Gartenpforte. Aber in diesem Augenblick legte sich plötzlich eine große Hand auf seinen Mund, und er wurde heftig zurückgerissen. Bevor er noch wußte, was geschehen war, hatte ihn jemand mit der einen Hand an der Kehle gepackt und mit der anderen seine Taschen durchsucht. Er schaute in das wütende Gesicht eines Mannes, der eine Brille trug.

 

»Sie wagen es, ihr zu drohen, und sitzen selbst in der Patsche? Erzählen Sie es doch Macleod! Er wird Ihre Wohnung noch heute abend durchsuchen lassen! Wo haben Sie denn diese Wechsel her?«

 

»Geben Sie mir die – Papiere zurück«, sagte Wilmot mit zitternder Stimme. ›Vieraugen-Scottie‹ grinste unangenehm.

 

»Gehen Sie doch hin und melden Sie die Sache der Polizei. Vielleicht kann die Ihnen die Papiere wieder beschaffen!«

 

Artur Wilmot schlich nach Hause, er war wirklich keine Kämpfernatur.