Kapitel 43

 

43

 

Ihr Mut sank, und es kam ihr mit niederschmetternder Gewißheit zum Bewußtsein, daß ihre Schicksalsstunde gekommen war. Sie hatte Digby wegen seiner Schurkereien verhöhnt; aber sie wußte, daß er kein Mitleid mit ihr haben würde. Ganz gegen ihre Absicht hatte sie ihn bei seinen Plänen unterstützt, als sie zugab, die Erbin des Dantonschen Vermögens zu sein.

 

Die Tür ihres Raumes wurde zugeschlagen, der Schlüssel umgedreht, und sie blieb allein. Später hörte sie wieder das Summen des Propellers, als der Spanier den Motor reparierte.

 

Sie mußte sehen, fortzukommen – sie durfte nicht hierbleiben; unter allen Umständen mußte sie entfliehen! Aber die Fenster waren befestigt und verriegelt, und es war kein anderer Ausgang als die Tür vorhanden. Ihre einzige Hoffnung blieb Jim, der wahrscheinlich ganz in ihrer Nähe genau wie sie selbst gefangengehalten wurde.

 

Digby verlor keine Zeit. Er schickte Silva mit dem Auto fort, damit er so schnell wie möglich zur Küste fahren und dem Kapitän des ›Pealigo‹ eine Botschaft überbringen solle. Das Schiff sollte sich bereithalten, ihn noch heute abend an Bord zu nehmen. Er schrieb schnell die verschiedenen Signale auf. Wenn Bronson in der Nähe der Küste eine grüne Leuchtkugel abschoß, sollte auf der Jacht ebenfalls ein grünes Licht abgebrannt werden. Ein Boot sollte sofort an der Jacht heruntergelassen werden, um sie auf See aufzufischen.

 

Nachdem der Bote fort war, erinnerte er sich daran, daß er dem Kapitän dieselben Befehle schon gegeben hatte und daß der Spanier unmöglich die Jacht heute abend noch erreichen konnte.

 

In ruhigeren Augenblicken hatte Digby andere Vorbereitungen getroffen. Drei Schwimmwesten waren ausprobiert und ins Flugzeug gebracht worden. Pistolen zum Abschießen von Leuchtkugeln, Landungsfackeln und sonstige Gerätschaften, die zu einem Nachtflug notwendig waren, fanden sich im Gepäckraum der Maschine. Bronson war jetzt vollständig beschäftigt mit dem Motor, denn der Fehler war noch nicht ganz behoben. Digby Groat ging vor dem Hause auf und ab und rauchte vor Ungeduld und Furcht eine Zigarette nach der anderen. Er hatte Eunice noch nicht gesagt, daß sie sich fertig machen solle, damit mußte er bis zum letzten Augenblick warten. Er wollte nicht noch einen Auftritt erleben. Er wollte ihr noch eine Spritze geben; das übrige würde dann leicht sein.

 

Fuentes trat zu ihm auf die Terrasse hinaus, denn er war begierig, die letzten Nachrichten zu erfahren.

 

»Glauben Sie, daß die Auffindung von Villas Leiche die Leute hier auf unsere Spur zieht?«

 

»Wie kann ich das wissen?« fuhr ihn Groat an. »Kommt es darauf an? In einer Stunde werden wir fort sein!«

 

»Sie werden fortkommen«, sagte der Spanier mit Betonung, »aber ich nicht. Ich habe kein Flugzeug, das mich außer Landes bringt. Xavier hat auch keines, aber er ist noch besser daran als ich, er hat das Auto. Können Sie mich nicht mitnehmen?«

 

»Das ist nicht möglich«, erwiderte Digby gereizt. »Heute abend werden sie noch nicht kommen, und Sie brauchen sich deshalb nicht aufzuregen. Bis morgen früh können Sie schon eine weite Strecke zwischen sich und Kennett Hall gelegt haben.«

 

»Was soll denn aus dem Mann werden?« Fuentes zeigte nach dem Westflügel, wo Jim gefangen saß.

 

Plötzlich kam Digby ein Gedanke. Vielleicht konnte er seinen bis dahin treuen Diener, der sklavisch seinen Befehlen gehorcht hatte, veranlassen, noch eine letzte Instruktion auszuführen.

 

»Fuentes, nur von diesem Mann droht Gefahr. Sehen Sie denn nicht ein, daß er uns alle vernichten kann? Aber niemand außer Ihnen und mir weiß, daß er hier ist.«

 

»Und außer diesem niederträchtigen Engländer«, setzte Fuentes hinzu.

 

»Masters weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Sagen Sie doch selbst, sollen wir diesen Mann leben lassen, damit er gegen uns aussagen kann, wenn ein kleiner Schlag über den Schädel genügt, um ihn für immer verstummen zu lassen?«

 

Fuentes richtete seine dunklen Augen auf Digby und zwinkerte. »Nun ja, mein lieber Mr. Groat«, sagte er spöttisch, »dann töten Sie ihn doch. Es ist recht gemein von Ihnen, daß ich zurückbleiben soll, um nachher mit der Leiche aufgefunden zu werden. Ich habe einen fürchterlichen Schrecken vor englischen Gefängnissen und will unter keinen Umständen deswegen meinen Hals riskieren.«

 

»Sind Sie plötzlich so furchtsam geworden?«

 

»Ich fürchte mich genauso wie Sie. Wenn Sie wollen, daß er getötet wird, so tun Sie es doch selbst. Ich weiß nicht einmal, ob ich das zulassen würde; denn Sie werden fortgehen, und ich muß hierbleiben. Nein, nein, wir wollen diesen Kerl in Ruhe lassen. Er ist ganz tüchtig.«

 

Digby wandte sich verärgert ab.

 

›Der starke Kerl‹ hatte sich in diesem Augenblick mit übermenschlicher Anstrengung auf seine Füße erhoben. Es war ein akrobatisches Meisterstück, und etwas von der Gewandtheit eines Schlangenmenschen gehörte dazu. Er hatte sich mit dem Kopf gegen die Mauer gestützt, während er seine Füße langsam auf den Boden brachte.

 

Der Abend brach schon herein. Nach dem Summen des Motors zu urteilen, war die Reparatur beinahe beendet, und Digby Groat würde nun wohl bald aufbrechen. Als er ihn durch die Spalten der Fensterläden in einer Fliegerjacke sah, wurde er in seiner Ansicht bestärkt. Von Eunice hatte er nichts entdecken können.

 

Er hüpfte vorsichtig zum Fenster und lauschte. Draußen regte sich nichts. Er wartete, bis Bronson den Motor wieder anstellte, drückte mit seinen Ellenbogen eine Glasscheibe ein und hob seine zusammengebundenen Hände mit der größten Anstrengung zu dem zerbrochenen Fenster. Er mußte sich dazu auf die Zehenspitzen stellen. Dann rieb er seine Fesseln an den Glassplittern durch, die noch fest im Rahmen saßen. Seine Hände wurden rot und schwollen an, und er fühlte keine Kraft mehr in den Handgelenken. Sorgfältig massierte er sie, bis er wieder Gewalt über sie bekam.

 

Nachdem er die Hände frei gemacht hatte, war es eine Kleinigkeit, mit den Glassplittern auch die Fußfesseln zu durchschneiden. Aber er war immer noch im Zimmer eingeschlossen. Die Fensterläden würden kein unüberwindliches Hindernis bieten. Er sah sich im Raum um und fand nichts, das er irgendwie als Werkzeug hätte benutzen können. Er trat mit seinen gewandten Füßen gegen die Läden, doch entdeckte er, daß sie aus Eisen waren. Die einzige Möglichkeit blieb also die Tür, und die war zu stark, als daß er sie hätte eindrücken können.

 

Er horchte am Schlüsselloch, es war kein Geräusch wahrzunehmen. Der Himmel wurde dunkler, und die Nacht brach herein. Er wußte, daß das Flugzeug bald starten würde. Der Gedanke machte ihn fast wahnsinnig. Unter Mißachtung aller Vorsicht warf er sich mit seiner Schulter gegen die Türfüllung. Aber sie widerstand, auch den Tritten seiner schweren Stiefel leistete sie Widerstand. Dann hörte er einen Laut draußen, der sein Herz fast stillstehen ließ.

 

Eunice schrie schrill auf. Wieder und wieder warf er sich mit aller Kraft gegen die Tür; sie rückte und rührte sich nicht. Dann hörte er einen Ruf, lief zum Fenster und lauschte. »Die Polizei kommt!« schrie Fuentes. Jim sah ihn vollständig erschöpft am Fenster vorbeischwanken und hörte, daß Digby ihn, scharf anfuhr. Gleich darauf herrschte absolute Stille.

 

Jim wischte sich mit dem Rockärmel den Schweiß von der Stirn. Verzweifelt schaute er sich um. Plötzlich fiel ihm der alte eiserne Rost des Kamins in die Augen, und schon packte er das schwere Gerät und donnerte damit zweimal gegen die Tür. Sie gab endlich nach. Er zwängte sich durch die zertrümmerte Füllung und eilte aus dem Hause.

 

Als er um die Ecke bog, hörte er das Summen des Flugzeugmotors, das plötzlich von dem Knall eines Schusses übertönt wurde. Er sprang über das Geländer, lief durch den Garten und kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie sich die Maschine in die Luft erhob.

 

»Mein Gott«, stöhnte Jim, als sie schnell am dunklen Himmel verschwand.

 

Aus dem hohen Gras in der Nähe des Startplatzes erhob sich eine Hand und sank wieder schwach zu Boden. Jim rannte dorthin und kniete gleich darauf neben Fuentes. Der Mann lag in den letzten Zügen. Jim wußte das, noch ehe er die schwere Wunde in der Brust untersucht hatte.

 

»Er hat mich niedergeschossen«, sagte Fuentes, »und ich war sein Freund … Ich bat ihn nur, mich in Sicherheit zu bringen … Und er hat mich erschossen!«

 

Der Mann lebte noch, als die Polizei kam. Mit ihr erschien auch Septimus Salter, der in seiner Eigenschaft als Friedensrichter die Zeugenaussage des Sterbenden zu Protokoll nahm.

 

»Deswegen kommt Digby Groat an den Galgen, Steele.«

 

Jim antwortete nicht. Er hatte seine eigenen Ansichten darüber, wie Digby Groat enden würde.

 

Kapitel 44

 

44

 

Der Rechtsanwalt erzählte Jim, wie er hergekommen war.

 

»Ich begleitete die Polizei, weil ich den Platz genau kenne«, sagte Mr. Salter. »Sie sehen ganz verstört aus, mein Freund. Können Sie sich nicht etwas hinlegen und schlafen?«

 

»Ich darf nicht schlafen, bevor ich nicht meine Hand auf Digby Groat gelegt habe. Was haben Sie in der Zeitung gelesen? Erzählen Sie! Woher wußte man, daß es Villa war?«

 

Salter teilte ihm mit, daß man die Quittung in Villas Tasche gefunden hatte.

 

»Es scheint so, daß er auf Groats Veranlassung die Jacht des Brasilianers Maxilla kaufte. Es ist der ›Pealigo‹ –«

 

»Dann ist er zu dem Schiff geflogen! Wo liegt die Jacht?«

 

»Das habe ich auch herausbringen wollen, aber niemand weiß es. Sie hat Le Havre vor ein paar Tagen verlassen, und es ist unbekannt, mit welcher Bestimmung sie abgefahren ist. Sicherlich hat sie einen britischen Hafen angelaufen. Lloyds erhalten doch Nachricht von jedem Schiff, ganz gleich, ob es eine Jacht, ein Passagier- oder ein Frachtdampfer ist. Alle Hafenbehörden benachrichtigen Lloyds sofort.«

 

»Sicher ist er zu der Jacht geflogen«, wiederholte Jim.

 

»Dann muß sie irgendwo in einem Hafen liegen«, meinte der alte Salter. »Wir können ja eine Radiomeldung durchgeben –«

 

Jim unterbrach ihn kopfschüttelnd.

 

»Bronson wird auf dem Wasser niedergehen und die Maschine versenken. Das ist eine sehr einfache Sache. Es ist keinerlei Gefahr damit verbunden, wenn die Insassen mit Schwimmwesten versehen und nicht festgeschnallt sind. Es ist entsetzlich, daß Sie nicht eher gekommen sind.« Er ging unruhig auf und ab. »Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mich kurze Zeit zurückziehe? Ich muß allein sein, um nachzudenken.«

 

In der Tür drehte sich Jim noch einmal um.

 

»Um keine Zeit zu verlieren, Mr. Salter, haben Sie irgendwelchen Einfluß bei der Admiralität? Ich möchte, daß Sie ein Wasserflugzeug für mich leihen.«

 

Der Rechtsanwalt schaute nachdenklich drein. »Das kann ich schon in Ordnung bringen. Ich werde mich sofort telefonisch mit dem Ersten Lord der Admiralität in Verbindung setzen.«

 

Während der Rechtsanwalt telefonierte, aß Jim eilig etwas. Die Anstrengungen der letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn mitgenommen. Die Gewißheit, daß Digby Groat vor Gericht gestellt würde, beruhigte ihn nicht. Wenn nur Eunice gerettet worden wäre, hätte er sich damit zufrieden gegeben, daß Digby entkam. Er würde nicht die Hand erhoben haben, um ihn anzuhalten. Aber Eunice war in den Händen dieses gemeinen Menschen, und dieser Gedanke war ihm unerträglich.

 

Der Polizeisergeant lud ihn ein, zu dem verhafteten Masters mitzukommen. Er fand den sonst so harten Mann in elender Verfassung.

 

»Ich wußte, daß er mich noch hineinziehen würde«, jammerte Masters. »Und dabei habe ich eine Frau und drei Kinder! Ich habe mir früher nie etwas zuschulden kommen lassen, nicht einmal eine Wilddieberei. Können Sie nicht ein Wort für mich einlegen, Sir?«

 

Wenn Jim nicht in dieser ernsten Lage gewesen wäre, hätte er über diese Unverschämtheit lachen können. »Ich kann nur aussagen, daß Sie den Versuch machten, mich zu strangulieren, und ich zweifle sehr, daß das eine Empfehlung für Sie sein wird.«

 

»Aber ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, daß ich das nicht beabsichtigte«, rief der Mann aufgeregt. »Er hat mir doch befohlen, einen Strick um Ihre Schultern zu werfen. Unglücklicherweise glitt er ab und packte Sie am Hals. Wie konnte ich denn wissen, daß die Dame nicht seine Frau war? Er sagte doch, sie sei mit Ihnen durchgebrannt.«

 

»Das hat er Ihnen erzählt?«

 

»Jawohl, Sir. Ich sagte noch zu ihm, daß die Dame keinen Trauring trage, aber er beteuerte, daß er mit ihr verheiratet sei und sie auf eine Seereise mitnehmen würde.«

 

»Auf See?«

 

Masters nickte. »Ja. Er sagte auch, daß sie nicht ganz richtig im Kopf sei und daß ihr die Seereise gut bekommen würde.«

 

Jim fragte ihn genau aus, ohne eine weitere Information aus ihm herauszubekommen. Masters wußte nichts von dem Dampfer, auf dem Digby mit Eunice abfahren wollte, auch nichts von dem Hafen, von dem aus sie an Bord zu gehen beabsichtigten.

 

»Ich glaube nicht, daß der Mann irgendwie in die Pläne Groats eingeweiht war«, sagte Jim später zu dem Sergeanten. »Er war nur ein kleiner Angestellter, und es lohnt sich kaum, eine Anklage gegen ihn zu erheben.«

 

Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Wir müssen ihn festhalten, bis die Leichenschau vorüber ist«, sagte er düster. »Wenn ich denke, daß ich einen so großen Fall direkt vor mir hatte und trotzdem nichts gesehen habe!«

 

Jim lächelte traurig. »Das ist uns allen so gegangen, und wir waren blinder als Sie!«

 

Eine neue Spritze hatte ausgereicht, um Eunice zur Ruhe zu bringen. Sie wußte, daß Widerstand vergeblich war. Digby konnte sie leicht überwältigen und lange genug festhalten, um diese verteufelte Nadelspitze in ihren Arm zu stoßen.

 

Sie hatte sich zuerst gewehrt und geschrien, als er ihren Arm berührte. Diesen Schrei hatte Jim gehört.

 

»Ich will mit Ihnen gehen, ich verspreche, daß ich Ihnen keine Schwierigkeiten mache«, rief sie, »bitte, legen Sie dieses fürchterliche Instrument fort.«

 

Doch die Zeit drängte, und es war sicherer, sie wehrlos zu machen.

 

Der Propeller drehte sich schon langsam, als sie ihre Sitze bestiegen.

 

»Hier ist noch Platz für mich! Es muß noch Platz sein!«

 

Digby schaute in das verzerrte Gesicht des Spaniers, der hinter ihm hergelaufen war.

 

»Aber, Fuentes, es ist kein Platz für Sie! Das habe ich Ihnen doch schon vorhin gesagt. Sie müssen sehen, wie Sie fortkommen!«

 

»Ich will mit Ihnen fliehen!«

 

Zum Schrecken Digbys klammerte sich der Mann verzweifelt an den Rand der Sitze. Jeden Augenblick wurde die Gefahr, entdeckt zu werden, größer. Er griff zu seiner Pistole. »Lassen Sie los, oder ich erschieße Sie!«

 

Fuentes hatte jede Vernunft verloren und ließ nicht locker.

 

Man hörte Stimmen von der Straße her und, von einer Panik ergriffen, schoß Digby. Er sah, wie der Mann niederstürzte, und rief Bronson zu: »Los!«

 

Eunice sah entsetzt zu. Es war unheimlich, welche Veränderung mit Digby vorgegangen war. Er schien zusammengesunken und kleiner zu sein. Sein Gesicht war verzogen und verzerrt, als ob er einen Schlaganfall, erlitten hätte.

 

Sie dachte auch, daß dies der Fall sei, aber langsam erholte er sich wieder.

 

Er hatte einen Menschen getötet! Der Schrecken über seine Tat kam über ihn. Die Furcht vor den Konsequenzen überwältigte ihn und trieb ihn zu einer plötzlichen Raserei. Er hatte einen Menschen getötet! Er, der so sorgfältig alles getan hatte, um einer Bestrafung aus dem Wege zu gehen, der seine Freunde und Verbündeten in Gefahr gebracht hatte, um selbst sicher zu sein, er mußte jetzt vor dem Arm der Gerechtigkeit fliehen, die nicht ruhen würde, bis sie ihn gefaßt hatte.

 

Und sie hatte ihn gesehen, diese Frau an seiner Seite. Sie würde als Zeugin vor Gericht erscheinen und gegen ihn aussagen. Und dann würde man ihn henken – in dem kleinen Raum, von dem Jim Steele gesprochen hatte. Die Gedanken durchzuckten sein Gehirn. Aber als sich das Flugzeug vom Boden erhoben hatte, wurde er wieder ruhiger.

 

Kapitel 45

 

45

 

Er würde einfach angeben, daß Bronson ihn getötet habe. Das war die beste Verteidigung für ihn. Bronson, der ihn jetzt rettete und im Fall der Not sein Leben für ihn gelassen hätte, wollte er die Tat in die Schuhe schieben.

 

Das Flugzeug lag ruhig in der Luft, und der Motor arbeitete tadellos. Der Abendwind, blies, und die Maschine schaukelte von einer Seite auf die andere. Zuerst fühlte sich Eunice elend, aber sie nahm sich zusammen und gewöhnte sich allmählich an diese Bewegung.

 

Sie konnte jetzt das Meer sehen. Die Lichtgarben der Leuchttürme erschienen von links und rechts. Bristol, ein einziges Lichtermeer, kam in Sicht. Kleine Lichter waren auf dem Strom und in der Bucht zu sehen, in die er mündete.

 

Sie überflogen die nördliche Küste des Kanals von Bristol, wandten sich dann nach Westen, dem Ufer folgend, und dann plötzlich nach Süden. Das Land mit seinem Lichtgürtel blieb hinter ihnen. Zwanzig Minuten später feuerte Bronson die Signalpistole ab. Eine leuchtende grüne Kugel erschien, und sofort kam von See aus die Antwort. Digby zog die Schnallen an der Schwimmweste des Mädchens enger an und kontrollierte seine eigene.

 

»Machen Sie auch meinen Schwimmgürtel fest«, rief Bronson durch das Telefon.

 

Digby erfüllte seinen Wunsch. Er machte sich lange damit zu schaffen und band auch noch einen anderen festen Riemen daran.

 

In langem Gleitflug ging die Maschine in der Richtung des grünen Lichts nieder, das dauernd brannte. Eunice konnte nun die eleganten Umrisse der Jacht und die grünen und roten Lichter an Bord erkennen.

 

Das Flugzeug beschrieb einen Kreis und kam immer niedriger und niedriger, bis es nur noch einige Meter über dem Meeresspiegel war. Bronson brachte den Motor zum Stehen und setzte die Maschine ins Wasser. Sie waren nicht mehr als fünfzig Meter von dem wartenden Rettungsboot entfernt.

 

Plötzlich sank das Flugzeug, aber sie schwammen auf dem Wasser. Es war ein merkwürdiges, nicht unangenehmes Gefühl, denn das Wasser war ungewöhnlich warm. Sie hörte einen Schrei und wandte sich um, aber Digby faßte ihre Hand.

 

»Bleiben Sie dicht bei mir, Sie können in der Dunkelheit verlorengehen.«

 

Sie wußte, daß er nur an sich selbst dachte. Plötzlich flackerte ein Lichtschein auf, der von dem Boot ausging, das auf sie zuruderte. Sie schaute sich wieder um.

 

»Wo ist der Flugzeugführer?«

 

Bronson war nirgends zu sehen. Digby gab sich nicht die Mühe, zu antworten. Er streckte seine Hand aus und packte den Rand des Bootes. In der nächsten Minute wurde auch Eunice aus dem Wasser gezogen. Sie befanden sich in einem kleinen Kutter, der mit braunen Männern besetzt war. Zuerst dachte sie, es seien Japaner.

 

»Wo ist Bronson?« fragte sie aufs äußerste erschreckt, aber Digby erwiderte nichts. Er saß unbeweglich und vermied es, sie anzusehen. Sie hätte vor Entsetzen laut aufschreien mögen. Bronson war mit dem Flugzeug versunken. Den Riemen, mit dem Digby Bronsons Schwimmweste befestigte, hatte er an den Sitz selbst angeschnallt, und zwar so fest, daß es dem Flieger unmöglich war, sich zu befreien.

 

Digby stieg zuerst an Deck. Er wandte sich um und reichte ihr die Hand.

 

»Willkommen an Bord des ›Pealigo‹«, sagte er spöttisch.

 

Es war also doch nicht Furcht, was ihn vorhin hatte schweigen lassen. Sie konnte nur mit Abscheu auf diesen Mann blicken.

 

»Willkommen, meine kleine Braut«, sagte er noch einmal.

 

Sie wußte nun, daß der Mann,, der nicht gezögert hatte, zwei seiner Kameraden kaltblütig zu morden, kein Mitleid mit ihr haben würde.

 

Eine weißgekleidete Stewardeß näherte sich ihr und sagte etwas zu ihr in einer Sprache, die sie nicht verstand. Aber sie vermutete, daß die Frau sie in ihre Kabine führen sollte. Sie war froh, von Digbys Gesellschaft befreit zu sein, ging die Treppe hinunter durch einen mit Rosenholz getäfelten Gang und kam dann in ihre Kabine. Der Luxus, mit dem dieser Raum ausgestattet war, machte trotz allem Eindruck auf sie. Der Brasilianer mußte ein Vermögen auf die Einrichtung dieses Schiffes verschwendet haben.

 

Der Salon nahm die ganze Breite der Jacht ein. Er erhielt sein Licht durch künstlerisch verzierte Fenster. Ein großer, mit schwerer Seide bezogener Diwan stand an der einen Seite des Raumes, an der anderen eine massiv silberne Bettstelle, die mit rosenfarbigen Vorhängen drapiert war. Mit roter Seide verhangene Beleuchtungskörper erhellten den Raum.

 

Eunice war neugierig, ob noch eine andere Frau an Bord war. Sie fragte die Stewardeß, aber die verstand kein Englisch, und die paar Brocken Spanisch, die Eunice gelernt hatte, reichten nicht aus, um sich mit ihr zu unterhalten.

 

Hinter den seidenen Vorhängen entdeckte sie eine Tür, die zu einem kleinen Wohnzimmer führte, und dahinter lag ein Badezimmer.

 

Auf dem Bett waren neue Kleider und Wäsche für sie ausgebreitet. Es war an alles bis in die letzte Kleinigkeit gedacht. Sie entließ die Stewardeß und verriegelte die Tür. Dann zog sie sich um. Zum drittenmal wechselte sie ihre Kleider vollständig, seitdem sie Groats Haus am Grosvenor Square verlassen hatte.

 

Das Schiff war jetzt in Fahrt. Sie konnte das Stampfen der Maschinen deutlich wahrnehmen, auch das leise Schaukeln, das die wenig bewegte See hervorbrachte.

 

Sie war gerade fertig, als Digby Groat sich meldete.

 

»Wollen Sie nicht mit nach oben kommen zum Essen?« sagte er.

 

Er war genau wie früher, vollständig beherrscht und ruhig.

 

Sie schrak zurück und wollte die Tür wieder schließen, aber er packte sie einfach am Arm und zog sie auf den Gang hinaus. »Sie werden sich anständig betragen, während Sie an Bord sind«, sagte er rauh.

 

»Ich bin hier der Herr und habe zu befehlen, und ich wüßte nicht, warum ich jetzt noch besonders höflich zu Ihnen sein sollte.«

 

»Sie gemeiner Mensch, Sie Schuft!« rief sie in flammendem Zorn.

 

Er lachte über ihre ohnmächtige Wut. »Glauben Sie ja nicht, daß Sie frei von Strafe ausgehen, weil Sie eine Frau sind. Seien Sie vernünftig, und kommen Sie mit zum Speisezimmer.«

 

»Ich will nicht essen!«

 

»Sie gehen sofort mit mir in den Speisesalon, ob Sie essen wollen oder nicht!«

 

Außer ihnen nahm niemand an der Tafel Platz. Ein dunkler Steward bediente sie. Auch dieser Raum war aufs prächtigste ausgestattet. Das ganze Schiff war ein Palast in kleinem Maßstab, mit hängenden, prächtigen Kronleuchtern, herrlichen Blumen und Marmorkaminen.

 

Ein hervorragendes Essen wurde aufgetragen, aber Eunice dachte, sie müßte ersticken, wenn sie auch nur einen Bissen nähme.

 

»Essen Sie!« sagte Digby und begann selbst mit der Suppe.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wenn Sie nicht wollen«, fuhr er böse fort und kniff die Augenlider zusammen, »wenn Sie hier widerspenstig sind, meine Freundin, dann werde ich schon einen Weg finden, Sie zu zwingen. Erinnern Sie sich daran?« Er zog den verhaßten schwarzen Kasten aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. »Wenn ich Ihnen eine Spritze gebe, folgen Sie mir!«

 

Sie nahm gehorsam ihren Löffel und begann zu essen. Er beobachtete sie mit einem ironischen Lächeln.

 

Zu ihrem Erstaunen erkannte sie, daß sie hungrig war und lehnte auch die späteren Gänge nicht ab. Nur den Wein, den der Steward für sie eingegossen hatte, wollte sie nicht trinken. Digby drängte sie auch nicht dazu.

 

»Sie sind töricht, Eunice, wirklich töricht.« Er steckte sich eine Zigarre an, ohne um Erlaubnis zu fragen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute sie kritisch an. »Ein wunderbares Leben erwartet Sie, wenn Sie nur vernünftig sind. Warum machen Sie sich denn Gedanken wegen eines solchen Menschen wie Steele – er ist doch ein armer Bettler, der keinen Pfennig in der Tasche hat!.«

 

»Sie vergessen, daß ich kein Geld brauche, Mr. Groat.« Wenn er Jim erwähnte, fühlte sie sich immer besonders von ihm abgestoßen. »Ich besitze das Geld und die Liegenschaften, die Sie mir stehlen konnten, aber wenn Sie erst verhaftet und im Gefängnis sind, werde ich alles wiederbekommen, was Sie jetzt im Besitz haben, einschließlich dieser Jacht, wenn sie Ihnen gehört.«

 

Er lachte über ihre Antwort. »Ich liebe Ihren klaren Verstand. Sie können mich nicht ärgern, mein Liebling. Ich freue mich, daß Sie unsere Jacht lieben, auf der wir unsere Flitterwochen verbringen werden.«

 

Sie erwiderte nichts.

 

»Wenn Sie wüßten, wie sehr ich Sie liebe –«, er lehnte sich über den Tisch, nahm ihre Hand und sah sie begehrlich an, »wenn Sie wüßten, Eunice, daß ich bereit bin, mein Leben dafür zu geben, Sie glücklich zu machen, würde Sie das nicht umstimmen können?«

 

»Nichts kann meine Gefühle gegen Sie ändern! Sie könnten sich meine Dankbarkeit nur erringen, wenn Sie das Schiff im nächsten Hafen anlegen lassen und mich zur Küste bringen.«

 

»Und was soll dann aus mir werden?« fragte er kühl. »Versuchen Sie doch einmal so vernünftig wie schön zu sein, Eunice. Ich werde mich freuen, wenn ich Sie glücklich machen kann, solange ich dazu in der Lage bin. Aber ich wünsche nicht, ins Gefängnis oder an den Galgen zu kommen.« Er zitterte, und war wütend auf sich selbst, daß er sich so schwach zeigte. Und er haßte sie, weil sie es bemerkt hatte.

 

»Wohin geht diese Fahrt?« fragte sie.

 

»Das Schiff fährt nach Südamerika. Vielleicht interessiert es Sie, daß wir einer Route folgen, die gewöhnlich nicht genommen wird. Wir werden an der Küste von Irland entlangfahren und den Weg einschlagen, den die Seeleute die westliche Linie nennen. Erst wenn wir in einer Entfernung von etwa tausend Meilen von Long Island sind, werden wir uns nach Süden wenden. Hierdurch vermeiden wir es, von den amerikanischen Schiffen gesichtet und erkannt zu werden, und wir vermeiden ebenfalls –«

 

Der Mann, der in diesem Augenblick eintrat, mußte nach Eunices Vermutung der Kapitän sein. Er trug drei goldene Reifen ums Handgelenk, aber er konnte ihr als Seemann nicht gefallen. Er war klein und hatte einen lahmen Fuß. Sein lederartiges Gesicht und sein steifes, schwarzes Haar bestärkten sie noch mehr in ihrer Ansicht, daß es ein japanisches Schiff sein müsse.

 

»Darf ich Ihnen den Kapitän vorstellen?« sagte Digby. »Es wäre gut, wenn Sie sich mit ihm etwas anfreundeten.«

 

Eunice dachte bei sich, daß die Möglichkeit, sich mit diesem Mann zu verständigen, oder gar Freundschaft mit ihm zu schließen, sehr gering sei.

 

»Haben Sie etwas Besonderes, Kapitän?« fragte Digby auf portugiesisch.

 

»Wir haben soeben eine drahtlose Botschaft bekommen. Ich dachte, es sei gut, wenn Sie sie sehen und lesen würden.«

 

»Ich habe ganz vergessen, daß wir drahtlose Telegrafie an Bord haben«, erwiderte Digby, als er die Nachricht entgegennahm.

 

›An alle Schiffe, die nach Westen und nach Süden fahren sowie nach England zurückkehren. Achten Sie auf die Jacht ›Pealigo‹. Berichten Sie drahtlos Lage und Kurs an Polizeiinspektor Rite, Scotland Yard.‹

 

Eunice verstand nicht, worüber die beiden sprachen, aber sie sah, wie Digbys Stirn sich runzelte, und vermutete, daß es eine schlechte Nachricht war. Und wenn sie für ihn schlecht war, dann war sie gut für sie.

 

Ihre Stimmung wurde besser.

 

»Eunice, ich glaube, Sie gehen jetzt besser zu Bett. Ich muß noch mit dem Kapitän sprechen.«

 

Sie erhob sich, aber nur der Kapitän stand auf.

 

»Bleiben Sie doch sitzen«, sagte Digby verächtlich. »Sie sind doch nicht hier an Bord, um Mrs. Digby Groat Aufmerksamkeiten zu erweisen.«

 

Eunice hatte die letzten Worte nicht mehr gehört, denn sie war so schnell wie möglich aus dem Speisezimmer gegangen. Sie kehrte zu ihrer Kabine zurück, schloß die Tür und wollte den Riegel vorschieben, aber zu ihrem Entsetzen sah sie, daß er während des Abendessens abgeschraubt worden war. Auch fand sie keinen Schlüssel, mit dem sie die Tür hätte abschließen können.

 

Kapitel 46

 

46

 

Eunice starrte auf die Tür. Sie irrte sich nicht. Der Riegel war erst kürzlich entfernt worden.

 

Der ›Pealigo‹ schaukelte jetzt stärker, und sie konnte nur schwer ihr Gleichgewicht behalten. Dennoch ging sie in der Kabine umher, nahm alle Stühle, Tische und alles bewegliche Mobiliar und türmte es gegen die Tür auf. Sie durchsuchte alle Schubladen nach irgendeinem Instrument oder einer Waffe, die der frühere Besitzer vielleicht zurückgelassen hatte. Aber sie konnte nichts anderes finden als eine mit Gold überzogene Haarbürste, die der reiche Maxilla übersehen hatte. Auch in den anderen Räumen war nichts zu entdecken.

 

Stunde um Stunde verging. Sie saß in einem Sessel und beobachtete die Tür. Es wurde kein Versuch gemacht, ihre Kabine zu betreten. An Deck schlug in Zwischenräumen eine Glocke. Sie zählte acht Schläge. Es war Mitternacht. Wie lange würde es noch dauern, bis Digby Groat kam?

 

Der saß in diesem Augenblick bleich und zitternd in der Funkkabine und las eine Botschaft, die eben aufgefangen worden war. Ein Teil war in Code abgefaßt und anscheinend an die Kriegsschiffe gerichtet, aber der größere Teil war in offener Sprache und lautete:

 

›An die Kapitäne und ersten Offiziere aller Schiffe, an die Kommandanten aller Schiffe Seiner Majestät, an alle Friedensrichter und alle Polizeibeamten von Großbritannien und Irland. Verhaften Sie Digby Groat, und setzen Sie ihn gefangen. Größe 1,70 Meter, kräftige Gestalt, dunkle Gesichtsfarbe. Kleiner, dunkler Schnurrbart, der vielleicht abrasiert ist. Spricht Spanisch, Französisch, Portugiesisch, hat Arztexamen bestanden. Ist wahrscheinlich an Bord der Jacht ›Pealigo‹. Dieser Mann wird steckbrieflich verfolgt wegen Mordes und Bandenverbrechens. Auf seine Ergreifung ist von Rechtsanwalt Mr. Salter in London eine Belohnung von fünftausend Pfund ausgesetzt. Es wird vermutet, daß in seiner Gesellschaft Dorothy Danton reist, die von ihm gefangengehalten wird. Alter zweiundzwanzig. Groat ist gefährlich und trägt Feuerwaffen.‹

 

Der kleine Kapitän des ›Pealigo‹ nahm die dünne Zigarre aus dem Munde und betrachtete aufmerksam die graue Asche. Dann schaute er wieder auf das bleiche Gesicht des Mannes.

 

»Sie verstehen, Sir«, sagte er höflich, »ich bin in einer sehr schwierigen Lage.«

 

»Ich dachte, Sie könnten nicht Englisch sprechen«, erwiderte Digby, der endlich seine Sprache wiederfand.

 

Der kleine Kapitän lächelte. »Ich kann genug Englisch lesen, um zu verstehen, was eine Belohnung von fünftausend Pfund bedeutet, Sir. Und wenn ich es nicht verstände, so spricht doch mein Funker verschiedene Sprachen, einschließlich Englisch. Der würde mir das schon erklärt haben, wenn ich es nicht selbst verstanden hätte …«

 

Digby sah ihn frostig an. »Was wollen Sie tun?«

 

»Das hängt ganz davon ab, was Sie zu tun für richtig halten. Ich bin kein Verräter, und ich möchte Ihnen gern zu Diensten sein. Aber Sie begreifen doch, daß es eine böse Sache für mich ist, wenn ich Sie bei Ihrer Flucht unterstütze, obwohl ich weiß, daß Sie von der englischen Polizei gesucht werden. Ich bin nicht engherzig«, meinte er achselzuckend. »Señor Maxilla hat auch allerhand gemacht, worüber ich ein Auge zugedrückt habe. Es wären aber meistens Weibergeschichten, niemals Mord.«

 

»Ich bin kein Mörder, das sage ich Ihnen doch«, rief Digby wild und heftig. »Sie sind unter meinem Befehl. Haben Sie mich verstanden?«

 

Er sprang auf und stand drohend vor dem Brasilianer, der sich jedoch nicht aus der Fassung bringen ließ. Plötzlich blitzte eine Waffe in Digbys Hand auf.

 

»Sie werden meine Befehle sorgfältig bis zum letzten Buchstaben ausführen oder bei Gott –«

 

Aber der Kapitän des ›Pealigo‹ betrachtete nur die Asche seiner Zigarre. »Es ist nicht das erstemal, daß man mich mit einem Revolver bedroht«, sagte er kühl. »Vor Jahren, als ich sehr jung war, hat mir das einmal Furcht eingejagt. Heute bin ich nicht mehr jung. Ich habe eine Familie in Brasilien, die mich viel Geld kostet. Mein Gehalt ist klein, sonst würde ich nicht mein Leben auf der See zubringen und mich soweit erniedrigen, alle Wünsche und Launen meiner Herren zu erfüllen. Wenn ich hunderttausend Pfund hätte, würde ich mir eine Plantage kaufen, mich dort niederlassen und glücklich, zufrieden und schweigsam den Rest meines Lebens zubringen.«

 

Er betonte das Wort ›schweigsam‹, und Digby verstand sehr wohl, was er damit sagen wollte. »Könnten Sie das nicht für etwas weniger als ausgerechnet hunderttausend Pfund tun?«

 

»Ich habe mir die Sache wohl überlegt. Wir Seeleute haben viel Zeit zum Nachdenken. Hunderttausend Pfund sind nun einmal für mich die Summe, die es mir ermöglichen würde, ein ruhiges Leben zu führen.« Er schwieg einen Augenblick, fuhr dann aber fort: »Deshalb habe ich auch wegen der ausgesetzten Belohnung gezögert. Hätte die Radiobotschaft hunderttausend Pfund angegeben, dann wäre mein Entschluß schon gefaßt.«

 

Digby wandte sich wütend nach ihm um. »Sprechen Sie aufrichtig und offen! Ich soll Ihnen also hunderttausend Pfund zahlen. Das ist der Preis, um den Sie mich sicher ans Ziel bringen werden? Sonst wollen Sie zum nächsten Hafen zurückkehren und mich den Behörden übergeben?«

 

Der Kapitän zuckte die Schultern. »Ich habe nichts Derartiges gesagt, Sir. Ich habe nur eine kleine, private Angelegenheit erwähnt und wäre froh gewesen, wenn Sie sich dafür interessiert hätten. Der gnädige Herr wünscht ja auch, in Brasilien glücklich zu leben, und zwar mit der schönen Dame, die er mitgebracht hat. Der gnädige Herr ist kein armer Mann, und wenn es wahr ist, daß die hübsche Dame ein großes Vermögen erbt, wird er ja noch reicher werden.«

 

Der Funker schaute zur Tür herein. Er wäre gern wieder in seine eigene Kabine gegangen, aber der Kapitän schickte ihn mit einer seitlichen Kopfbewegung wieder hinaus. Er sprach jetzt ganz leise. »Wäre es denn nicht möglich, daß ich zu der jungen Dame ginge und sagte: ›Mein Fräulein, Sie sind in großer Gefahr; auch ich muß mich in acht nehmen, daß ich nicht ins Gefängnis komme. Was würden Sie mir dafür zahlen, daß ich eine Schildwache vor Ihre Tür stellen, Señor Digby Groat in Eisen schließen und in einen sicheren Raum einsperren lasse?‹ Glauben Sie nicht, daß sie mir dafür hunderttausend Pfund geben würde, eventuell sogar die Hälfte ihres Vermögens?«

 

Digby schwieg. Der Verrat, den dieser Mann an ihm beging, war offenbar. Er gab sich nicht mehr die Mühe, ihn mit schönen Phrasen zu verbrämen, er hatte ihm die Wahrheit brutal und offen ins Gesicht gesagt. »Also gut.« Er erhob sich mit niedergeschlagenen Augen von der Tischkante, auf der er gesessen hatte. »Ich werde Ihnen die Summe zahlen.«

 

»Warten Sie noch. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die ich Ihnen nicht verschweigen will. Nehmen Sie einmal an; ich sei ihr Freund, oder ich gebe wenigstens vor, es zu sein, und würde ihr anbieten, sie zu beschützen, bis wir einen Hafen erreichen, wo ich sie an Land setzen kann. Könnten wir uns dann nicht beide in die Belohnung teilen?«

 

»Ich denke gar nicht daran, sie aufzugeben«, sagte Digby wütend. »Diesen Plan können Sie ruhig vergessen, und ebenso die Bemerkung, daß Sie mich in Eisen legen wollen. Bei Gott, wenn Sie das meinten, dann –« Er schaute düster auf den kleinen Mann, der nur lächelte.

 

»Wer hat überhaupt eine richtige Meinung in diesem schrecklichen Klima?« fragte er nachlässig. »Sie werden mir das Geld morgen in meine Kabine bringen. Aber nein – besser heute abend«, fügte er nachdenklich hinzu.

 

»Ich werde es Ihnen morgen bringen.«

 

Der Kapitän zuckte die Schultern. Er bestand nicht auf seiner Forderung, und Digby blieb mit seinen Gedanken allein. Er hatte noch eine, sogar zwei Hoffnungen. Man konnte ihm nicht beweisen, daß er Fuentes erschossen hatte, und es war schwierig, die Jacht aufzugreifen, wenn sie den Kurs verfolgte, den der Kapitän ausgearbeitet hatte. Und in der Zwischenzeit war ja Eunice da. Seine Lippen kräuselten sich, und seine Wangen röteten sich wieder. Er ging das Deck entlang und trat in den Gang. Aber es stand ein breitschultriger, brauner Mann vor der Tür des Mädchens, der zwar zum Gruß die Hand an die Mütze legte, als der Besitzer der Jacht erschien, im übrigen aber nicht von der Stelle wich.

 

»Gehen Sie aus dem Weg«, sagte Digby ungeduldig. »Ich will in die Kabine.«

 

»Das ist nicht erlaubt«, erwiderte der Matrose.

 

Digby trat einen Schritt zurück, dunkelrot vor Ärger. »Wer gab Ihnen den Befehl, hier zu stehen?«

 

»Der Kapitän.«

 

Digby eilte die Treppe hinauf und fand den Kapitän auf der Brücke. »Was soll das bedeuten?«

 

Der Kapitän richtete einige Worte in Portugiesisch an ihn.

 

Digby schaute auf und gewahrte einen dünnen, weißen Lichtkegel, der das Meer absuchte.

 

»Es ist ein Kriegsschiff. Möglich, daß es nur eine Übung abhält«, sagte der Kapitän, »aber es kann auch nach uns Ausschau halten.«

 

Er gab einen kurzen Befehl, und plötzlich wurden alle Lichter an Bord gelöscht. Der ›Pealigo‹ drehte in einem Halbkreis um und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. »Wir müssen einen Umweg machen, um hier vorbeizukommen«, erklärte er. Digby vergaß im Augenblick die Schildwache vor der Kabinentür.

 

Links und rechts schwankte der Lichtkegel über die Wasserfläche, aber der Strahl berührte den ›Pealigo‹ nicht. Jetzt wurde er nach der Stelle gerichtet, wo die Jacht gewendet hatte, und nur um wenige Meter ging der helle Schein am Schiff vorbei.

 

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte Digby mürrisch.

 

»Zunächst zehn Meilen zurück, dann werden wir versuchen, zwischen dem Schiff und der irischen Küste durchzukommen. Irland liegt dort.« Er zeigte auf den Horizont, wo sich der Lichtschein eines Leuchtturmes zeigte und dann wieder verschwand.

 

»Wir verlieren aber wertvolle Zeit«, sagte Digby vorwurfsvoll.

 

»Es ist besser, Zeit zu verlieren als die eigene Freiheit«, meinte der Kapitän philosophisch.

 

Digby mußte sich an der Reling festhalten. Sein Mut sank, als das Licht des Scheinwerfers in der Nähe weitersuchte. Aber sie hatten Glück.

 

Sie waren eben der Gefahr entkommen, als sich Digby wieder daran erinnerte, warum er auf die Kommandobrücke gekommen war. »Was soll das heißen, daß Sie einen Wachtposten vor die Kabine der Dame gestellt haben?«

 

Der Kapitän war in das Deckhaus gegangen und beugte sich über eine Seekarte der britischen Admiralität. Er antwortete nicht, und Digby mußte seine Frage wiederholen. Dann richtete er sich steif auf. »Die Zukunft der Dame hängt ganz davon ab, wie Sie Ihr Versprechen halten, Sir«, erwiderte er höflich in seiner Muttersprache.

 

»Aber ich habe Ihnen doch versprochen –«

 

»Sie haben aber das Versprechen noch nicht eingelöst.«

 

»Sie werden doch nicht an meinen Worten zweifeln?«

 

»Ich zweifle nicht daran. Wenn Sie mir das Geld in meine Kabine bringen, kann ich diese Angelegenheit ja regeln.«

 

Digby dachte einen Augenblick nach. Sein Interesse an Eunice hatte stark nachgelassen, als diese neuen Gefahren auf ihn einstürmten. Es war eigentlich kein Grund vorhanden, warum er schon heute abend bezahlen sollte. Wenn er gefangen werden sollte, hatte er das Geld umsonst ausgegeben. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß es dann erst recht für ihn verloren sei.

 

Er ging in seine Kabine, die kleiner und weniger luxuriös ausgestattet war als die von Eunice. Er schob einen Armsessel an den kleinen Schreibtisch, setzte sich nieder und überdachte die Lage. Im Laufe der Stunden änderte er seine Meinung. Die Gefahr schien doch sehr weit ab zu liegen, aber Eunice war in nächster Nähe. Und wenn er in wirkliche Bedrängnis kam, konnte er ja mit allem Schluß machen, auch mit ihr. Das Geld hatte dann ebensoviel Wert für ihn wie der Schaum der Wellen, der gegen seine Fenster spritzte.

 

Hinter dem Schreibtisch war ein kleiner Geldschrank eingebaut. Er schloß ihn auf, nahm den großen Geldgürtel heraus, leerte eine der großen Taschen und legte die Banknoten auf das Pult. Es waren große Scheine, von denen jeder zehntausend Dollar Wert hatte. Er zählte vierzig ab, steckte die anderen zurück und verschloß sie wieder im Geldschrank. Es war jetzt halb sechs, und der Horizont im Osten färbte sich heller.

 

Digby steckte das Geld in die Tasche, um mit dem Kapitän zu reden. Ihn fror im kalten Morgenwind, als er aufs Deck trat. Der kleine Brasilianer hatte einen Mantel angezogen und den Kragen hochgeschlagen. Er stand oben auf der Kommandobrücke und starrte über die graue Wasserwüste. Ohne ein Wort zu verlieren, trat Digby an ihn heran und gab ihm das Paket Banknoten in die Hand. Der Brasilianer schaute auf das Geld, zählte es mechanisch durch und ließ es dann in seine Tasche gleiten.

 

»Euer Exzellenz sind sehr freigebig.«

 

»Nehmen Sie jetzt die Schildwache von der Tür zurück!«

 

»Warten Sie hier«, sagte der Kapitän und ging nach unten.

 

Einige Minuten später kam er zurück.

 

Kapitel 47

 

47

 

Während Digby Groat in seiner Kabine saß und alle Möglichkeiten überlegte, hörte Eunice, wie sich Schritte ihrer Tür näherten. Es war ein Uhr nachts.

 

Sie war davon überzeugt, daß es Digby sei. Sie sah, daß die Türklinke langsam heruntergedrückt wurde, und die Türflügel sich einen Spalt öffneten. Weiter ging es nicht, ohne die Tische und Stühle, die Eunice dahinter aufgebaut hatte, umzustoßen. Sie war vor Schrecken ganz starr, als die Tür noch etwas weiter aufgedrückt wurde.

 

»Fürchten Sie sich nicht«, sagte dann jemand.

 

Es war nicht Digby. Schnell sprang sie auf.

 

»Wer ist dort?« fragte sie.

 

»Ich bin der Kapitän.«

 

»Was wollen Sie?«

 

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Miss. Aber Sie müssen erst die Dinge wegstellen, die Sie hinter der Tür aufgebaut haben, sonst muß ich zwei Matrosen rufen, für die es eine Kleinigkeit ist, den Kram beiseite zu schieben.«

 

Er hatte die Tür nur. so weit geöffnet, daß er durchschauen konnte. Mit einem Seufzer erkannte Eunice die Nutzlosigkeit ihrer Barrikade und zog die Möbel zur Seite. Der kleine Kapitän ging lächelnd hinein und schloß die Tür hinter sich. Er hatte seine Mütze in der Hand.

 

»Gestatten Sie, Miss«, sagte er höflich und stellte alles wieder an seinen Platz. Dann öffnete er die Tür und schaute hinaus. Eunice sah, daß ein großer Matrose dort stand, der ihr den Rücken zukehrte. Offenbar war er ein Wachtposten. Sie war gespannt, was das bedeuten sollte, aber der Kapitän erklärte es ihr bald.

 

»Meine Dame«, sagte er mit fremdem Akzent, »ich bin ein armer Seemann, der seinen gefährlichen Beruf für zweihundert elende Milreis monatlich ausübt. Aber wenn ich auch arm und von niederer Herkunft bin, so habe ich doch ein Herz.« Er schlug sich auf die Brust. »Es widerstrebt mir, daß einer Frau etwas zuleide getan wird!«

 

Sie war gespannt, was er jetzt sagen würde und glaubte schon, daß er ihr gegen Zahlung einer Geldsumme anbieten würde, seinen Herrn zu verraten. Wenn das der Fall war, würde sie freudig einstimmen, aber diese Hoffnung wurde durch seine nächsten Worte wieder zerstört.

 

»Mein Freund Groat ist mein Herr, ich muß seinen Befehlen gehorchen, und wenn er sagt: ›Fahren Sie nach Callao oder nach Rio de Janeiro‹, dann muß ich es tun.«

 

Ihr Mut sank, aber anscheinend hatte er noch mehr zu sagen.

 

»Als Kapitän muß ich seinen Anordnungen folgen, aber ich kann nicht dulden, daß eine Frau hier an Bord zu Schaden kommt. Verstehen Sie mich?«

 

Sie nickte. Ein neuer Hoffnungsschimmer tauchte in ihrem Herzen auf.

 

»Ich selbst kann nicht die ganze Zeit hier sein, und auch meine starken Matrosen können nicht immer Wache stehen, daß Ihnen nichts geschieht. Aber es würde mir nicht zur Ehre gereichen, wenn Sie irgendwie beleidigt würden!«

 

Offenbar war dieser weitblickende Kapitän sehr vorsichtig und wollte allen Teilen gerecht werden. Er suchte nach einem Kompromiß, der ihn wenigstens von seiner Verantwortlichkeit seinem Herrn gegenüber entlastete.

 

»Würde die junge Dame vielleicht so gut sein, diese Waffe zu nehmen?«

 

Sie nahm die Pistole mit einem halb unterdrückten Freudenschrei.

 

»Und wenn Sie sich später daran erinnern werden, daß José Montigano Ihnen gegenüber als ein guter Freund gehandelt hat, werde ich mich glücklich schätzen.«

 

»Oh, ich danke Ihnen, Kapitän, ich danke Ihnen vielmals.« Sie drückte ihm die Hand.

 

»Also erinnern Sie sich.« Er hob warnend den Finger. »Mehr kann ich nicht tun. Ich spreche jetzt als Herr zu einer Dame. Aber nachher bin ich wieder der Kapitän, der einen Herrn über sich hat. Sie verstehen, daß das ein großer Unterschied ist?«

 

Er hatte sie ein wenig verwirrt, aber sie ahnte wenigstens, was er sagen wollte.

 

Er machte eine kleine Verbeugung und ging hinaus.

 

Aber gleich darauf kam er zurück.

 

»Es hat keinen Zweck, Tische und Stühle gegen die Tür zu stellen. Das ist besser.« Er zeigte bedeutungsvoll auf den Revolver. Dann entfernte er sich lächelnd.

 

Kapitel 4

 

4

 

»Du langweilst mich zu Tode, Mutter«, sagte Digby Groat, »wenn du mir immer wieder dieselben Geschichten erzählst.« Er goß sich ein Glas Portwein ein. »Es kann dir doch genügen, wenn ich dir sage, daß ich die junge Dame als Sekretärin herhaben will. Ob du etwas für sie zu tun hast oder nicht, ist mir gleichgültig. Aber eins mußt du dir merken: Sie darf niemals den Eindruck bekommen, daß sie aus einem anderen Grund engagiert ist, als deine Briefe zu schreiben oder deine Korrespondenz zu erledigen.«

 

Die Frau, die ihm auf dem Sofa gegenübersaß, sah älter aus, als sie in Wirklichkeit war. Jane Groat war über sechzig, aber manche hielten sie für zwanzig Jahre älter. Ihr gelbliches Gesicht war von vielen Runzeln und Falten durchzogen, und auf ihren blassen Händen traten die blauen Adern hervor. Nur ihre dunkelbraunen Augen machten noch einen lebendigen Eindruck, und in ihrem Blick lag Neugierde, beinahe Furcht. Ihre Gestalt war gebeugt. Ihr Benehmen ihrem Sohn gegenüber war fast kriechend, Sie sah ihm nicht in die Augen – sie sah überhaupt selten jemand an.

 

»Die wird hier herumspionieren, sie wird stehlen!« sagte sie mit weinerlicher Stimme.

 

»Nun sei aber ruhig von dem Mädchen«, sagte er böse. »Und da wir uns nun einmal allein sprechen, möchte ich dir etwas sagen.«

 

Ihre unsteten Blicke schweiften nach rechts und links, aber sie vermied es ängstlich, seinen Augen zu begegnen. Es lag eine Drohung in seinen Worten, die sie nur allzu gut kannte.

 

»Sieh einmal hierher!«

 

Er hatte einen Gegenstand aus seiner Tasche gezogen, der im Licht der Tischlampe blitzte und glänzte.

 

»Was ist es denn?« fragte sie kläglich, ohne aufzuschauen.

 

»Ein Diamantenarmband!« rief er vorwurfsvoll. »Es gehört Lady Waltham. Wir waren das Wochenende auf ihrem Gut. Sieh her!«

 

Seine Stimme war rauh und schrill, und sie senkte den Kopf und begann zu weinen.

 

»Ich habe es in deinem Zimmer gefunden, du alte Diebin!« zischte er sie an. »Kannst du dir diese entsetzliche Sache nicht abgewöhnen?«

 

»Es sah doch so schön aus«, schluchz je sie, und die Tränen rannen ihr über die hageren Wangen. »Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, wenn ich schöne Dinge sehe.«

 

»Du weißt doch, daß das Dienstmädchen von Lady Waltham verhaftet wurde, weil sie in dem Verdacht steht, das Armband gestohlen zu haben. Wenn nichts geschieht, wird sie zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.«

 

»Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen«, wiederholte sie mit tränenerstickter Stimme.

 

Er warf das Armband mit einem Fluch auf den Tisch.

 

»Jetzt kann ich es der Dame wieder zurückschicken und muß ihr in einem Brief etwas vorlügen, daß es aus Versehen in deinen Koffer gekommen ist! Ich tue es nicht, um dem Dienstmädchen zu helfen, sondern um meines guten Rufes willen.«

 

»Jetzt weiß ich, warum du das Mädchen ins Haus nimmst – sie soll mich nur ausspionieren!«

 

Seine Lippen kräuselten sich verächtlich.

 

»Da hätte sie wohl eine schwere Aufgabe«, erwiderte er ironisch und lachte heiser, als er sich erhob.

 

Mit harter Stimme sagte er: »Du mußt mit dieser üblen Angewohnheit, alle Dinge zu stehlen, die dir gefallen, unter allen Umständen brechen. Ich habe die Absicht, bei den nächsten Wahlen ins Parlament zu kommen, und ich will meine gesellschaftliche Stellung nicht durch eine alte, verrückte Diebin erschüttert sehen. Wenn in deinem Kopf etwas nicht ganz in Ordnung ist«, fügte er drohend hinzu, »so weißt du, daß ich ein kleines Laboratorium habe, wo wir den Schaden reparieren können.«

 

Sie zuckte erschreckt zusammen. Entsetzen und Furcht zeigten sich in ihren Zügen.

 

»Du – das wirst du doch nicht tun – mein eigener Sohn!« stammelte sie. »Ich bin vollkommen gesund – es ist nur –«

 

»Vielleicht kommt es doch daher, daß du irgendeinen Druck im Gehirn hast«, sagte er kalt. »Dergleichen muß durch Operation entfernt werden –«

 

Sie hatte ihren Stuhl zurückgeschoben und das Zimmer fluchtartig verlassen, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Er nahm das Armband, sah verächtlich darauf und steckte es wieder in die Tasche. Ihre krankhafte Neigung kannte er nun schon seit langer Zeit. Er hatte alles versucht, sie davon abzubringen und glaubte auch, daß es ihm gelungen wäre. Um so mehr war er durch dieses letzte Vorkommnis verbittert. Er ging in die Bibliothek, wo kostbare Bücherschränke aus Rosenholz standen. Ein silbernes Gitter war vor dem Kamin befestigt, und die ganze Ausstattung zeigte den größten Luxus. Er setzte sich nieder und schrieb einen Brief an Lady Waltham. Er packte das Armband und den Brief sorgfältig in einen kleinen Kasten und klingelte dann. Ein Mann in mittleren Jahren mit einem dunklen, abstoßenden Gesicht kam herein.

 

»Jackson, bringen Sie das sofort zu Lady Waltham. Meine Mutter geht heute abend in ein Konzert – wenn sie fort ist, durchsuchen Sie ihre Räume genau.«

 

»Das habe ich schon getan, Mr. Groat, aber ich konnte nichts finden.« Er war im Begriff zu gehen, als Digby ihn zurückrief.

 

»Haben Sie der Haushälterin – gesagt, daß sie sich um das Zimmer für Miss Weldon kümmert?«

 

»Jawohl, Sir. Sie wollte ihr zuerst ein Zimmer im obersten Stock geben, wo das Personal schläft, aber das habe ich nicht zugelassen.«

 

»Sie soll das beste Zimmer im ganzen Haus bekommen. Sorgen Sie dafür, daß der ganze Raum mit Blumen geschmückt ist. Stellen Sie auch noch den Bücherschrank und den chinesischen Tisch in ihr Zimmer, die jetzt bei mir stehen.«

 

Der Mann nickte.

 

»Und wie soll das mit dem Schlüssel werden, Sir?« fragte er zögernd.

 

»Meinen Sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer?« fragte Digby und schaute auf.

 

Der Mann nickte. »Wünschen Sie, daß man die Tür von innen abschließen kann?« fragte er bedeutungsvoll.

 

Mr. Groats Lippen zogen sich böse zusammen.

 

»Sie sind verrückt!« sagte er. »Natürlich will ich, daß man die Tür von innen verschließen kann. Bringen Sie auch einen Riegel an, wenn keiner vorhanden sein sollte.«

 

Jackson schaute erstaunt auf.

 

Zwischen den beiden schien ein engeres Verhältnis zu bestehen als gewöhnlich zwischen Herr und Diener.

 

»Ist Ihnen schon jemals ein Mann namens Steele begegnet?« fragte Digby plötzlich.

 

Jackson schüttelte den Kopf. »Wer ist das?« fragte er.

 

»Der Sekretär eines Rechtsanwaltes. Tun Sie sich nach ihm um, und beobachten Sie ihn gelegentlich, wenn Sie einmal freie Zeit haben – aber nein, lassen Sie die Sache lieber Bronson machen. Er wohnt ja in Featherdale Mansions.«

 

*

 

Eunice Weldon hatte ihre wenigen Habseligkeiten gepackt, der Wagen wartete vor der Tür. Es tat ihr nicht leid, daß sie die dumpfe, unordentliche Wohnung aufgeben mußte, in der sie nun die beiden letzten Jahre gewohnt hatte. Der Abschied von der etwas nachlässigen Wirtin fiel ihr nicht schwer, und sie konnte Jim Steeles Ansicht nicht teilen, der mit ihrer neuen Stellung so unzufrieden war.

 

Sie war noch zu jung, um einen neuen Posten nicht als den Beginn eines geheimnisvollen Abenteuers anzusehen, der alle möglichen, wunderbaren Ereignisse in sich barg. Sie seufzte, als sie daran dachte, daß diese kleinen Gespräche beim Tee, die eine so angenehme Unterbrechung ihres alltäglichen Lebens waren, nun aufhören mußten. Und doch war sie davon überzeugt, daß Jim alle Anstrengungen machen würde, sie wiederzusehen.

 

Sie würde Stunden, ja vielleicht sogar halbe Tage für sich haben. Plötzlich erinnerte sie sich daran, daß sie nicht einmal seine Adresse hatte! Aber er kannte ja ihren Aufenthaltsort. Dieser Gedanke beruhigte sie, denn sie hätte ihn gar zu gern wiedergesehen. Sie sehnte sich mehr nach ihm, als sie es jemals geglaubt hatte. Wenn sie die Augen schloß, erschien ihr sein schönes Gesicht, und seine lachenden, blauen Augen sahen sie treuherzig an. Die Bewegung seiner Schultern, wenn er ging, der Klang seiner Stimme beim Sprechen, alle seine charakteristischen Eigentümlichkeiten standen klar vor ihr.

 

Und der Gedanke, daß sie ihn nicht wiedersehen sollte –

 

›Aber ich will ihn sehen, ich muß ihn sehen‹, sagte sie zu sich selbst, als das Auto vor dem imposanten Portal ihrer neuen Wohnung am Grosvenor Square hielt.

 

Sie war bestürzt, als sie die große Schar der Diener sah, die herauskam, um ihr behilflich zu sein. Aber es tat ihr doch gut.

 

»Mrs. Groat möchte Sie sehen, Miss«, sagte ein finster dreinschauender Mann.

 

Sie wurde in einen kleinen Raum auf der Rückseite des Hauses gebracht, der ihr dürftig möbliert erschien, obwohl ihn Mrs. Groat schon für luxuriös ausgestattet hielt.

 

Die alte Frau lehnte jede Ausgabe für Dekorationen oder schöne Möbel ab. Nur die Furcht vor ihrem Sohn hielt sie davon ab, sich über jeden kleinen Betrag aufzuregen, der für sie ausgegeben wurde. Eunice war enttäuscht über ihre Unterhaltung mit der Frau. Sie hatte Mrs. Groat nur in dem fotografischen Atelier in vornehmer Kleidung gesehen, und nun saß eine alte, dürftig gekleidete Frau mit wachsgelbem Gesicht vor ihr und musterte sie mit feindseligen Blicken.

 

»Sie sind also die junge Dame, die meine Sekretärin werden soll?« fragte sie vorwurfsvoll. »Haben Sie schon Ihr Zimmer gesehen?«

 

»Noch nicht, Mrs. Groat.«

 

»Ich hoffe, daß es Ihnen hier gefallen wird«, sagte Mrs. Groat mit einer Stimme, die vermuten ließ, daß sie am liebsten das Gegenteil gesagt hätte.

 

»Wann kann ich mit meiner Tätigkeit beginnen?« fragte Eunice, die sich in dieser Umgebung durchaus nicht wohl fühlte.

 

»Sie können jederzeit beginnen«, erwiderte die alte Frau schnell und sah sie argwöhnisch von der Seite an. »Sie sind sehr schön«, sagte sie mürrisch, und Eunice errötete, denn das Kompliment erschien ihr fast wie eine Beleidigung. »Das wird wohl auch der Grund sein«, sagte Mrs. Groat abwesend.

 

»Wofür denn?« fragte Eunice liebenswürdig.

 

Sie hatte den Eindruck, daß diese Frau geistesschwach war, und hatte schon alle Lust an der neuen Stellung verloren.

 

»Das hat nichts hiermit zu tun«, sagte die alte Frau und entließ sie mit einem Kopfnicken.

 

Das Zimmer, in das sie jetzt geführt wurde, erschien ihr über alle Maßen schön, und sie war zuerst sprachlos über all diesen Luxus.

 

»Sind Sie auch sicher, daß ich hier wohnen soll?« fragte sie ungläubig.

 

»Jawohl, Miss«, sagte die Haushälterin und sah das Mädchen sonderbar an.

 

»Aber das ist doch eigentlich zu prächtig und schön für mich!«

 

Der Raum wäre selbst in einem Schloß aufgefallen. Die Wände waren mit Brokatseide überzogen, und die Möbel waren sehr kostbar. Ein französisches Bett, das in der reichsten Weise geschnitzt und vergoldet war, lud zur Ruhe ein. Ein großer Baldachin aus prächtiger Seide war darüber angebracht. Draußen sah sie einen Balkon, der mit farbenprächtigen Blumen geziert war. Sie stand auf einem dicken, dunkelblauen Teppich, mit dem der ganze Raum ausgeschlagen war, und schaute staunend auf diese Pracht.

 

Der reichgeschnitzte Toilettentisch war im Stil Louis XV. gehalten und hatte eine goldeingelegte Platte. Der dazugehörige Kleiderschrank mußte allein ein Vermögen gekostet haben. In der Nähe des Fensters stand ein hübscher Schreibtisch, und ein prachtvoller Bücherschrank mit wunderbaren Ganzlederbänden war vom Bett aus zu erreichen.

 

»Aber das ist doch gar nicht möglich, daß ich hier wohnen soll«, sagte sie wieder.

 

»Doch, Miss. Sehen Sie, das ist Ihr Badezimmer. Wir haben hier bei jedem Schlafzimmer ein besonderes Bad. Mr. Groat hat das ganze Haus umgebaut, als er es kaufte.«

 

Eunice öffnete eins der bis auf den Boden gehenden Fenster und trat auf den kleinen Balkon hinaus, der sich bis zu einer viereckigen Veranda hinzog, die über der Eingangshalle des Hauses errichtet war. Man konnte sie von dem Podest der Treppe aus erreichen.

 

Eunice sah Mrs. Groat an diesem Tage nicht wieder. Als sie nach ihr fragte, erfuhr sie, daß die alte Dame sich mit bösen Kopfschmerzen zurückgezogen hatte. Auch Digby Groat begegnete sie nicht und aß ihre erste Mahlzeit ganz allein.

 

»Mr. Groat ist noch nicht vom Lande zurückgekehrt«, erklärte Jackson, der sie bei Tisch bediente. »Ist alles nach Ihrem Wunsch, Miss?«

 

»Jawohl, ich danke.«

 

Sie empfand wenig Sympathie für diesen Mann. Nicht, daß er es an Respekt ihr gegenüber hätte fehlen lassen oder daß er plump vertraulich gewesen wäre – aber es lag etwas Anmaßendes in seinem Benehmen. Sie war froh, als sie ihre Mahlzeit beendet hatte und ging enttäuscht in ihr Zimmer. Sie hätte Mrs. Groat gern noch so vieles gefragt, vor allem, wann sie ausgehen konnte.

 

Sie schaltete das Licht aus, öffnete das große Fenster und trat hinaus, um den kühlen, duftenden Abend zu genießen. Die letzten Schimmer des Abendrotes färbten die Wolkenränder. Der Platz unten war schon erleuchtet, und ein endloser Strom von Autos fuhr unter ihrem Fenster vorbei, denn Grosvenor Square war die Hauptverbindung zwischen Oxford Street und Piccadilly.

 

Die Nacht brach allmählich herein, und der gestirnte Himmel wölbte sich über ihr. Die Dächer und Türme der großen Stadt hoben sich wundervoll von dem magischen Licht des Firmaments ab. Die majestätische Einsamkeit und Schönheit der Nacht bezauberten Eunice so, daß ihr fast der Atem verging. Aber nicht das märchenhafte Licht der Sterne, nicht das melodiöse Rauschen der Bäume ließ ihr Blut aufwallen, sondern das Bewußtsein, daß es noch einen Menschen in der Welt gab, der zu ihr gehörte. Irgendwo in dieser großen, dunklen Stadt lebte ein Mann, der jetzt vielleicht an sie dachte. Sie sah sein Gesicht ganz deutlich vor sich, seine lieben Augen, sie glaubte den festen Druck seiner starken Hand zu spüren …

 

Mit einem Seufzer schloß sie das Fenster wieder und zog die schweren, seidenen Vorhänge zu. Fünf Minuten später lag sie in tiefem Schlummer.

 

Wie lange sie geschlafen haben mochte, wußte sie nicht, aber ihrer Meinung nach mußten es Stunden gewesen sein. Der lebhafte Verkehr auf der Straße war allmählich verstummt, und das summende Geräusch der Großstadt war verklungen, nur hin und wieder hörte sie eine Hupe. Der Raum lag im Dunkeln, dennoch war sie davon überzeugt, daß jemand im Zimmer war!

 

Sie setzte sich aufrecht, ein kalter Schauer überlief sie. Es war jemand hier! Sie tastete mit der Hand nach der Stehlampe und hätte beinahe einen Schreckensschrei ausgestoßen, denn sie berührte eine Hand, eine kalte, kleine Hand, die auf dem Nachttisch lag. Einen Augenblick war sie vor Entsetzen gelähmt. Dann wurde die Hand plötzlich zurückgezogen, sie hörte das Rauschen des Vorhangs und sah einen Augenblick lang den Schatten einer Gestalt am Fenster. Sie zitterte am ganzen Körper; dann raffte sie sich zusammen, sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Das Zimmer war leer, und das große Fenster war nur angelehnt.

 

Und dann entdeckte sie auf dem kleinen Tisch am Bett eine graue Karte. Mit zitternden Fingern hob sie sie auf und las: ›Jemand, der Sie liebt, bittet Sie, um Ihrer Sicherheit und Ihres Rufes willen dringend, dieses Haus sobald als möglich zu verlassen.‹

 

Eine kleine, blaue Hand bildete die Unterschrift.

 

Sie ließ die Karte auf die Bettdecke fallen, starrte eine Weile darauf, dann schlüpfte sie in ihren Morgenrock, schloß ihre Tür auf und trat in den Gang hinaus. Ein schwaches Licht brannte am Anfang der Treppe. Sie war vollständig außer sich vor Schrecken und wußte kaum, was sie tat, als sie die Treppe hinuntereilte. Sie mußte jemand finden, irgendein lebendes Wesen, etwas Wirkliches, an das sie sich halten konnte. Aber das Haus lag in tiefem Schweigen. Die große Lampe in der Halle brannte, und Eunice sah eine altmodische Uhr stehen. Das kam ihr schwach zum Bewußtsein, als sie das feierliche Ticken hörte. Es war drei Uhr. Aber vielleicht war doch noch jemand im Hause wach. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und sie eilte den Gang hinunter, bis sie zu einer Tür kam, die sie für den Zugang zu den Dienstbotenräumen hielt. Sie öffnete sie und kam in einen einsamen Korridor, der nur durch ein Licht am äußersten Ende schwach erhellt war. Eine weiße Tür schloß ihn ab. Sie versuchte, sie zu öffnen, aber sie fand keinen Griff oder Drücker.

 

Es war überhaupt eine merkwürdige Tür, denn sie war nicht aus Holz, sondern aus geflochtenem Rohr.

 

Sie stand entsetzt still, denn sie hörte einen langgezogenen Schmerzensschrei aus dem Raum hinter der Tür. Er war so fürchterlich, so gräßlich, daß ihr Blut zu Eis erstarrte.

 

Sie wandte sich um und floh zurück durch die Gänge, die Halle, zur Haustür. Mit zitternden Händen drehte sie den Schlüssel um, das Schloß schnappte, und die Tür flog auf. Sie schwankte auf die breite Treppe hinaus. Auf der obersten Stufe saß ein Mann.

 

Er dreht sich um, als sich die Tür öffnete, und in dem Licht, das aus der Halle drang, erkannte sie ihn. Es war Jim Steele!

 

Kapitel 40

 

40

 

Unter Jims drohender Pistole entkleidete sich Bronson und schüttelte sich vor Frost, denn der Morgen war kalt, und die Kleider, die Jim ihm reichte, waren noch nicht ganz trocken geworden. Er murrte darüber, aber Jim kümmerte sich nicht darum, sondern band ihm die Hände hinten auf dem Rücken zusammen.

 

»So macht man es auch, wenn man Sie einmal hängen wird. Dieses Taschentuch wird als Knebel dienen, damit Sie nicht brüllen können. Jetzt muß ich Sie nur an eine trockene Stelle unter eine Hecke legen. Dann sind Sie für den Rest der Nacht versorgt.«

 

»Sie sind niederträchtig!« rief Bronson aufsässig, »aber warten Sie nur –«

 

»Hören Sie auf zu quaken, alter Laubfrosch, oder ich spreche etwas energischer mit Ihnen.«

 

Er ging mit seinem Gefangenen weiter vom Hause fort und suchte einen trockenen Platz für ihn, an dem er nicht gesehen werden konnte. Hier bewachte er ihn, bis der Himmel heller wurde und er Villa wecken mußte.

 

Mit einem Fluch erhob sich Villa.

 

»Kommen Sie herein und trinken Sie Kakao.«

 

»Bringen Sie ihn mir heraus«, sagte Jim.

 

Er hörte, wie der Mann drinnen die Tür aufschloß, und hob die Pistole. Aber irgendeine Eingebung bestimmte ihn, die Waffe wieder zu verstecken.

 

Leute, die in der Luft kämpfen und den Sieg in den großen Himmelsräumen davontragen, haben gewöhnlich ganz besondere Instinkte, die anderen Sterblichen versagt sind. Jim hatte gerade noch Zeit, die Pistole in die Tasche zu stecken und die Schutzbrille über die Augen zu ziehen, als Villa die Tür öffnete und ihn schläfrig in der Dämmerung betrachtete.

 

»Hallo, Sie sind ja schon fertig zum Start«, meinte er gähnend.

 

»Nun, ich werde Sie nicht lange warten lassen.«

 

Jim ging vor dem Hause auf und ab, wie Bronson es gestern abend getan hatte.

 

Er nahm die Pistole wieder aus dem Lederetui heraus und betrachtete sie verstohlen. Sie war nicht geladen!

 

Villa rief ihn.

 

»Stellen Sie die Tasse nur ruhig hin«, sagte er, als er sah, daß er ihm Kakao brachte. Mit einem Zug leerte er sie, ging quer über die Felder zu dem Flugzeug und nahm die wasserdichte Decke von dem Motor. Er untersuchte die Maschine und warf den Motor an.

 

Eunice hatte auch Kakao getrunken und wartete, bis Villa hereinkam. Sie konnte nur vermuten, was der neue Tag bringen würde. Anscheinend wartete Digby Groat nicht hier auf sie. Er war wohl allein fortgefahren, um die Verfolger von ihrer Spur abzulenken. Sie fühlte sich jetzt wohler. Die Folgen der Spritzen waren ganz verschwunden, Sie fühlte sich nur noch sehr müde, und das Gehen fiel ihr schwer. Ihre Gedanken waren wieder klar, und sie fühlte sich erlöst, daß sie Digby nicht sehen mußte.

 

»Sind Sie fertig, Miss?« fragte Villa. Er trug einen schweren Mantel, hatte einen pelzgefütterten Fliegerhelm auf und sah mit seinem Bart wie ein Russe im Winterpelz aus. Sie wunderte sich, daß er sich an einem so warmen Morgen so dick anzog, aber er half auch ihr in einen ebenso schweren Mantel.

 

»Beeilen Sie sich jetzt, wir können nicht den ganzen Tag auf Sie warten!«

 

»Ich bin fertig«, sagte sie kühl.

 

Er ging in schnellen Schritten mit ihr zu dem Flugzeug.

 

Jim, der seinen Platz auf dem Fliegersitz schon eingenommen hatte, hörte Villas tiefe Stimme, wandte sich nach der Seite und sah Eunice.

 

Neben diesem bärtigen, kleinen, dicken Mann sah sie sehr vorteilhaft aus. Villa führte sie am Arm.

 

»Nun steigen Sie ein.«

 

Er half ihr auf einen der beiden Sitze hinter dem Piloten. Jim durfte sich nicht umsehen.

 

»Ich werde den Propeller für Sie anwerfen«, sagte Villa und ging nach vorn.

 

Jim, dessen Gesicht von der großen Schutzbrille fast ganz verdeckt war, nickte.

 

Der Motor setzte mit großem Geräusch ein. Jim ließ ihn langsamer laufen.

 

»Schnallen Sie die Dame fest«, rief er trotz des Spektakels, den die Maschine machte.

 

Villa nickte und kletterte mit außerordentlicher Beweglichkeit auf seinen Sitz.

 

Jim wartete, bis der große Lederriemen um Eunice befestigt war, dann brachte er den Motor auf Touren. Es war eine ideale Abflugstelle. Die Maschine rollte sanft über die Wiesen und steigerte von Sekunde zu Sekunde ihre Geschwindigkeit. Jim zog das Höhensteuer an, und Eunice merkte plötzlich, daß das Stoßen aufhörte. Das Flugzeug hatte sich in die Luft erhoben.

 

Eunice war noch niemals in ihrem Leben geflogen, und einen Augenblick lang vergaß sie in dem erhebenden Gefühl, das sie durchdrang, ihre gefährliche Lage. Es war ihr, als ob das Flugzeug sich nicht von der Erde erhöbe, sondern als ob die Erde plötzlich unter der Maschine versänke. Sie empfand eine wunderbare Erleichterung, als sich die kräftige Maschine mit einer Geschwindigkeit von dreihundertfünfzig Kilometern in der Stunde durch die Luft bewegte. Immer höher und höher hoben sie sich. Villa war erstaunt über dieses Manöver. Bronson kannte doch den Weg nach Kennett Hall, er mußte sich doch nicht erst aus der Höhe orientieren.

 

Aber Bronson lag in dem Augenblick mit gebundenen Händen und Füßen unter einem großen Haselstrauch in den Feldern. Hätte Villa sorgfältig durch sein Fernglas hinuntergeschaut, so hätte er wahrscheinlich den Mann erkennen können, der in Jims schmutzigen Kleidern dort auf der Erde lag.

 

»Herrlich!« rief Eunice wieder; aber der Mann an ihrer Seite hatte kein Auge für die Schönheit der Gegend. Die Passagiere konnten sich mit dem Führer nur durch ein kleines Telefon verständigen. Jim hatte den Hörer um den Kopf geschnallt. Nach einiger Zeit hörte er plötzlich Villa fragen: »Worauf warten Sie denn noch – Sie kennen doch den Weg?«

 

Jim nickte.

 

Er kannte den Weg nach London, sobald er die Eisenbahnlinie gesichtet hatte.

 

Eunice schaute verwundert auf die große, weite Erdoberfläche, die sich wie ein Schachbrett zu ihren Füßen ausdehnte. Weiße und blaue Linien und Bänder zogen sich darüber hin.

 

Es mußten Wege und Kanäle sein, und diese kleinen, grünen und braunen Flecke waren Felder und Weiden. Wie prächtig war es doch, an diesem frühen Sommermorgen durch die Lüfte zu fliegen, über die kleinen Wolken hinweg, die wie Schleier zwischen ihr und der Erde lagen. Und wie beruhigend war doch diese Einsamkeit hier oben! Sie fühlte sich befreit von der Welt und all ihrer Schrecklichkeit. Digby Groat war nicht größer als dieser kleine, dunkle Punkt, den sie dort unten sehen konnte, und der sich auf der hellen Straße nicht zu bewegen schien. Sie wußte, daß es ein Mensch war, der vorwärts wanderte.

 

Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Villa zu. Er war rot im Gesicht und brüllte etwas in das Telefon. Sie konnte es aber bei dem ohrenbetäubenden Lärm des Motors nicht verstehen.

 

Sie sah nur, daß der Führer nickte und die Maschine dann nach rechts wandte. Villa schien zufrieden zu sein, denn er ließ sich in seinen Sitz zurücksinken.

 

Ganz langsam wandte sich die Spitze des Flugzeuges wieder nach Süden zurück. Lange Zeit bemerkte Villa es nicht. Erst als er die große Stadt vor sich sah, schrie er wieder in das Telefon.

 

»Fliegen Sie nach rechts, Bronson! Sind Sie denn verrückt? Haben Sie ganz und gar den Verstand verloren?«

 

Jim nickte, und das Manöver begann von neuem. Aber nun war Villa auf dem Posten.

 

»Was ist denn mit Ihnen los, Bronson?« Jim hörte den drohenden Ton in seiner Stimme.

 

»Nichts; ich fliege nur einer gefährlichen Luftströmung aus dem Wege«, schrie er durch das Telefon.

 

Auch jetzt noch glaubte Villa, daß Bronson am Steuer säße.

 

Jim flog jetzt dauernd nach Westen und war neugierig, welches das Ziel sein sollte. Er war wirklich wahnsinnig, daß er Bronson nicht gefragt hatte, wohin die Fahrt gehen sollte. Es war ihm bisher nicht der Gedanke gekommen, daß aus seiner Unkenntnis des Ziels irgendwelche Schwierigkeiten entstehen konnten. Er wollte nach London fliegen, das hatte er sich von Anfang an vorgenommen. Jetzt drehte er wieder nach links und brachte den Motor auf höchste Tourenzahlen. Das kleine Flugzeug sauste mit größter Geschwindigkeit.

 

»Sind Sie denn verrückt?« brüllte Villa ihm ins Ohr. Aber er antwortete nicht.

 

»Gehorchen Sie mir jetzt, oder Sie haben es mit mir zu tun!«

 

Jim fühlte, wie Villa ihm seine Pistole auf die Schulter setzte. Er sah sich um, und in diesem Augenblick erkannte ihn Eunice und stieß einen Schrei aus.

 

Villa sprang auf und zog Jims Kopf herum.

 

»Steele!« schrie er und hielt ihm den Revolver hinters Ohr.

 

»Sie werden meinen Befehlen folgen!«

 

Jim nickte.

 

»Fliegen Sie nach rechts in der Richtung nach Oxford. Lassen Sie es zur Linken liegen, bis ich Ihnen sage, daß Sie landen sollen!«

 

Jim konnte nichts anderes tun als gehorchen, aber er fürchtete sich nicht. Hätte der Mann ihm erlaubt, nach London zu fliegen, so wäre es wohl für alle Teile das beste gewesen. Da Villa aber aggressiv gegen ihn vorging, konnte dieses Abenteuer nur auf eine Weise enden. Es ging hart auf hart. Er wandte sich halb in seinem engen Sitz um, schaute Eunice an und lächelte ihr ermutigend zu. Der Blick, mit dem sie ihn wieder ansah, entschädigte ihn für all das Mißgeschick, das er für sie schon erduldet hatte.

 

Aber er hatte sich nicht nur umgesehen, um ihr in die Augen zu blicken. Er betrachtete die Lederriemen, mit denen sie angeschnallt war und sah dann auf Villa. Im nächsten Augenblick wußte er alles, was er wissen wollte. Er mußte warten, bis der Mann die Pistole fortsteckte, denn bis jetzt hielt er immer noch die Waffe in der Hand. Sie flogen über Oxford hin, das sich mit seinen grauen Häusermassen gut von der grünen Umgebung abzeichnete. Ober der Stadt lag ein feiner Dunstschleier.

 

Jims Aufmerksamkeit wurde jetzt durch etwas anderes abgelenkt. Einer der Motoren setzte aus. Er vermutete, daß Wasser in den Zylindern war, aber er konnte die Maschine noch einige Zeit in Gang halten. Villa brüllte ihm einen neuen Kurs zu, und er bog etwas nach Westen ab Der Motor setzte wieder ein. Die Schwierigkeit schien behoben zu sein, und das Flugzeug lag gut in der Luft. Wieder schaute er sich um. Villa hatte die Pistole zwischen die Knöpfe seiner Lederjacke gesteckt. Dort würde sie wahrscheinlich bis zum Ende der Reise bleiben. Er konnte nicht länger warten.

 

Eunice, die die Gegend unter sich beobachtete, fühlte plötzlich, daß sich die Spitze des Flugzeuges senkte, als ob sie zur Erde niedergingen. Sie fühlte keine Furcht; sie wunderte sich nur, daß die Maschine plötzlich wieder stieg, und. zwar so schnell, daß der Himmel nach unten zu sinken schien. Sie fühlte, daß sich die Lederriemen um ihren Körper anspannten, und als sie nach unten schaute, sah sie, daß ihr Blick in die Wolken gerichtet war. Plötzlich merkte sie eine Bewegung an ihrer rechten Seite und schloß instinktiv die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war Villa verschwunden. Jim hatte einen Sturzflug in senkrechter Schleife gemacht, und Villa, der an der Maschine nicht festgemacht war, verlor den Halt und sauste hinab in die Tiefe.

 

Jim wandte sich ganz zu Eunice. Sie sah, daß er in das Telefon sprach. Seine Augen glänzten.

 

Sie nahm das Mundstück mit zitternden Händen auf; irgend etwas Schreckliches hatte sich ereignet. Sie durfte nicht mehr nach unten schauen; denn sie fürchtete, ohnmächtig zu werden bei dem Versuch.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie.

 

»Villa ist im Fallschirm abgesprungen!« log Jim zu ihrer Beruhigung. »Kümmern Sie sich nicht um ihn, er ist nicht in Gefahr.« ›Jedenfalls auf dieser Welt‹, fügte er für sich hinzu.

 

»Aber Jim, wie sind Sie denn hierhergekommen?«

 

»Das werde ich Ihnen später erklären«, rief er zurück.

 

Der Motor lief schon wieder nicht mehr richtig. Diesmal war die Störung ernster Natur, und er wußte, daß der Flug nach London zu gefährlich war. Er war nicht mehr in genügender Höhe, um sich die Landungsstelle aussuchen zu können, und schaute sich um, wo er niedergehen konnte. Gerade vor ihm, etwa zwanzig Kilometer entfernt, dehnte sich eine große, breite, grüne Fläche aus. Es könnte ein Flugplatz sein, dachte er. Er mußte die Stelle erreichen. Wäre er allein gewesen, so hätte er nicht gezögert, auf einem der kleinen Felder dicht unter ihm niederzugehen.

 

Als er immer näher zu der großen, grünen Fläche kam, sah er, daß er sich geirrt hatte. Aber er stellte die Motoren ab und ging im Gleitflug nieder. Die Räder berührten die Erde so leicht, daß Eunice nicht merkte, daß der Flug zu Ende war.

 

»O Jim«, rief sie, »es war so wundervoll. Aber was ist denn mit dem armen Mann geschehen? Haben Sie …«

 

Jim wollte schon eine sarkastische Bemerkung machen, aber als er in ihr todblasses Gesicht und ihre tief traurigen Augen sah, schwieg er. Er hatte im Krieg viel bessere Männer als Villa in Ausübung ihrer Pflicht sterben sehen, und er war nicht traurig, daß dieser Verbrecher ums Leben gekommen war, der, ohne mit der Wimper zu zucken, das Mädchen getötet hätte.

 

Er hob Eunice aus dem Flugzeug und fühlte, wie sie trotz des dicken Mantels zitterte. Unter so merkwürdigen Umständen mußten sie sich also wieder begegnen! Sie sprachen kein Wort miteinander; er küßte sie nicht, und sie begehrte dieses Liebeszeichen auch nicht von ihm. Seine bloße Gegenwart, der Druck seiner Hand, genügte ihr.

 

»Hier steht ein Haus«, sagte Jim. »Ich werde Sie dorthin bringen, dann in den nächsten Ort gehen und dem guten Salter ein Telegramm senden.«

 

Er legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen langsam durch das hohe Gras, in dem viel bunte Blumen blühten. Knietief versanken sie in dem wunderbaren Weidegrund und atmeten den Duft der Blumen ein.

 

»Das Haus scheint nicht bewohnt zu sein«, meinte Jim, »und es ist doch so groß.«

 

Er führte sie über die breite Terrasse, und sie kamen zur Front des Gebäudes. Die Haustür stand offen, und Jim schaute in die große, traurige, halbverfallene Halle.

 

»Ich möchte wohl wissen, was das für Landsitz ist«, rief Jim verwundert.

 

Er öffnete eine Tür, die von der Halle nach links führte. Der Raum, in den er eintrat, war nicht möbliert und zeigte alle Spuren des Verfalls, die er schon in der Halle wahrgenommen hatte. Er ging wieder über den Flur und trat in einen zweiten Raum, der dem vorigen ähnlich sah.

 

»Ist jemand hier?« rief er laut und wandte sich um, denn es war ihm, als ob er einen Schrei von Eunice gehört hätte, die draußen auf der Terrasse geblieben war.

 

»Haben Sie eben gerufen, Eunice?« fragte er, und seine Stimme hallte durch das stille Haus.

 

Es kam keine Antwort, und er ging schnell auf dem Weg zurück, den er gekommen war. Als er auf die Terrasse trat, war Eunice verschwunden. Er eilte bis zum Ende des Platzes, weil er dachte, sie sei vielleicht zu dem Flugzeug zurückgegangen. Aber auch dort konnte er keine Spur von ihr entdecken. Wieder rief er ihren Namen, so laut er nur konnte, aber nur das Echo seiner Stimme anwortete ihm. Er öffnete die Haustür wieder und ging hinein.

 

In demselben Augenblick schlich sich Xavier Silva aus dem Raum zur Linken und schlug mit einem schweren Stock nach ihm. Jim hörte das Sausen in der Luft, wandte sich halb um, und der Schlag traf seine Schulter. Eine Sekunde taumelte er, dann stürzte er auf den Mann zu und schlug ihm rechts und links mit der Faust ins Gesicht, daß er zu Boden stürzte.

 

Doch bevor er sich wieder umkehren konnte, fühlte er, wie eine Schlinge über seinen Kopf geworfen wurde. Er fiel, zu Boden und rang nach Atem.

 

Kapitel 41

 

41

 

Während Jim das verlassene Haus durchsuchte, ging Eunice bis zum Ende der Terrasse und lehnte sich auf die zerbrochene Balustrade, versunken in den Anblick der schönen Landschaft. Dünne Dunstwolken lagen noch über der Gegend, in der Ferne zeigten sich die violetten Schatten der Wälder. In der stillen Luft stieg der blaugraue Dampf aus den Schornsteinen der Landhäuser über die Wipfel der breitästigen Bäume empor, und die Sonnenstrahlen spiegelten sich in den unruhigen Wellen eines dahineilenden Wasserlaufes, der sich wie ein goldenes Band durch die smaragdgrüne Landschaft zog.

 

Jemand berührte sie leicht an der Schulter, und sie dachte, es sei Jim.

 

»Ist dieser Anblick nicht herrlich?« fragte sie.

 

»Wirklich, wunderschön, aber nicht halb so lieblich wie Sie selbst, mein Kind.«

 

Sie hätte bei dem Ton der Stimme umsinken mögen. Als sie sich schnell wandte, sah sie in das Gesicht Digby Groats und stieß einen Schrei aus.

 

»Wenn Sie Steeles Leben retten wollen«, sagte Digby leise, aber drängend, »dann werden Sie nicht schreien. Haben Sie mich verstanden?«

 

Sie nickte.

 

Er legte seinen Arm um sie; das sollte keine Liebkosung sein. Er führte sie schnell ins Haus, schob sie in einen Raum und folgte ihr. In dem Zimmer stand ein großer, kräftiger Mann, der ein Tau in der Hand hielt.

 

»Warten Sie, Masters, wir werden ihn schon kriegen, wenn er zurückkommt«; flüsterte Digby. Er hatte die Schritte Jims in der Halle gehört. Plötzlich gab es einen Tumult.

 

Eunice öffnete ihre Lippen, um einen Warnungsschrei auszustoßen, aber Digbys Hand legte sich auf ihren Mund.

 

»Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen gesagt habe«, flüsterte er.

 

Sie hörten den Schrei Xavier Silvas. Masters eilte in die Halle, Digby folgte ihm. Jim stand mit dem Rücken nach der offenen Tür, und Digby gab Masters ein Zeichen. Im selben Augenblick sauste der Strick durch die Luft und schlang sich um Jims Hals, so daß er mit einem Ruck atemlos zu Boden gerissen wurde. Sein Gesicht wurde dunkelrot, und er zerrte aufgeregt mit den Händen an der grausamen Schlinge. Wäre Eunice nicht dazugekommen, hätten sie ihn vielleicht sofort umgebracht. Sie stand einen Augenblick starr vor Schrecken, eilte dann aus dem Raum, stieß Masters zur Seite, kniete nieder und löste mit ihren eigenen, zitternden Händen die Schlinge von dem Hals des geliebten Mannes.

 

»Sie gemeiner Schuft«, schrie sie, und ihre Augen blitzten vor Haß.

 

Einen Augenblick später war Digby an ihrer Seite und hob sie auf.

 

»Binden Sie ihn«, sagte er lakonisch und wandte seine Aufmerksamkeit dem sich wehrenden Mädchen zu, denn sie war jetzt nicht länger ruhig. Sie kämpfte mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft, schlug ihm mit den Händen ins Gesicht und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu lösen.

 

»Sie kleiner Teufel«, keuchte er, als er sie an den Handgelenken gepackt hatte und gegen die Mauer stieß. In seinem Gesicht war eine wunde, blutige Stelle zu sehen, an der sie ihn gekratzt hatte. Aber in seinen Augen lag Bewunderung. Gerade im Zorn bewies sie ihr ganze ursprüngliche Furchtlosigkeit.

 

»So gefallen Sie mir am besten! Ich habe niemals meine Wahl bereut, mein Liebling, am allerwenigsten in diesem Augenblick!«

 

»Lassen Sie meine Hände los!« rief sie wild. Ihr Herz schlug heftig, aber sie erkannte schließlich, daß sie Digby Groat nicht gewachsen war, und wurde ruhiger.

 

»Wohin haben Sie Jim gebracht – was haben Sie mit ihm gemacht?«

 

Sie fürchtete sich nicht mehr; eine wilde Energie war in ihr erwacht.

 

»Wir haben Ihren jungen Freund in Sicherheit gebracht. Was ist denn heute morgen passiert, Eunice?«

 

Sie antwortete nicht.

 

»Wo ist Villa?«

 

Aber sie öffnete den Mund nicht.

 

»Nun gut, wenn Sie nicht sprechen wollen, so werde ich schon einen Weg finden, daß der junge Mann, der mit Ihnen hierhergekommen ist, sagt, was vorgefallen ist.«

 

»Wie, Sie wollen ihn zum Geständnis zwingen?« fragte sie zornig. »Da kennen Sie den Mann schlecht! Wenn Sie glauben, daß Sie Jim Steele zum Sprechen bringen können, so gehen Sie nur hin, und versuchen Sie es!«

 

»Sie wissen nicht, was Sie reden«, entgegnete er; aber er war weiß bis in die Lippen, denn ihre Beleidigungen hatten ihn im Innersten getroffen. »Ich werde ihn so foltern, daß er um Gnade winseln soll!«

 

»Sie beurteilen alle Männer nach sich selbst«, sagte sie verächtlich, »und alle Frauen nach dem armen kleinen Ladenmädchen, dessen Lebensglück Sie vernichtet haben, um sich zu amüsieren.«

 

»Wissen Sie auch, was Sie da sagen?« fuhr er sie wütend an. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich –«

 

»Ich habe gar nicht vergessen, was Sie sind«, sagte sie wegwerfend. Ihre Blicke sprühten Haß. »Sie sind ein Mann, der kein Vaterland hat, der zu keiner Gesellschaftsklasse gehört! Sie sind ein Verräter an Frauen, ein Meuchelmörder, ein Dieb, der andere Diebe und Verbrecher anstellt, die die Gefahr auf sich nehmen; aber Sie selbst stecken den Löwenanteil in die Tasche. Sie sind ein niederträchtiger Mann, der Experimente macht und genug von Medizin und Chirurgie versteht, um wehrlose Frauen zu betäuben und Tiere zu quälen. Ich habe Sie durchschaut!«

 

Eine ganze Weile konnte er nicht sprechen. Sie hatte ihn so tödlich beleidigt, daß er ihr nie vergeben konnte. Mit unfehlbarem Instinkt hatte sie gerade die Dinge gesagt, die ihn am tiefsten trafen.

 

»Strecken Sie die Hände aus!« schrie er sie an.

 

Sie sah ihn verächtlich an, als er ihre Hände mit der Krawatte zusammenband, die er sich vom Halse riß.

 

Dann packte er sie an den Schultern, und durch einen kurzen Ruck brachte er sie zu Fall, so daß sie in eine Ecke taumelte.

 

»Ich werde später wiederkommen und mich mit Ihnen beschäftigen«, rief er drohend.

 

*

 

In der Halle wartete Masters auf ihn, und der große, starke Mann war anscheinend in Sorge.

 

»Wo haben Sie ihn hingebracht?«

 

»In den Ostflügel, in den Raum des früheren Hausmeisters«, sagte er unsicher. »Mr. Groat, sind denn das nicht schlechte Dinge, die wir hier tun?«

 

»Was soll das heißen?« fuhr ihn Digby an.

 

»Ich habe mich früher nie mit dergleichen befaßt«, erwiderte Masters. »Kann man uns denn nicht deswegen belangen?«

 

»Kümmern Sie sich nicht darum; Sie werden gut dafür bezahlt werden«, sagte Groat. Er wollte fortgehen, aber Masters hielt ihn zurück.

 

»Wenn ich auch gut bezahlt werde, kann mich das doch nicht vor dem Gefängnis retten. Ich bin aus einer guten Familie und bin mit dem Gesetz noch nie in Konflikt gekommen. Ich bin hier auf dem Lande wohlbekannt, und niemand kann auf mich zeigen und mir nachsagen, daß ich etwas getan hätte, worauf Gefängnis steht.«

 

»Sie sind verrückt.« Digby war froh, daß er jemand gefunden hatte, an dem er seine Wut auslassen konnte. »Habe ich Ihnen denn nicht erzählt, daß dieser Mann versuchte, mit meiner Frau durchzubrennen?«

 

»Sie haben mir noch nie etwas davon gesagt, daß sie Ihre Frau ist«, entgegnete Masters kopfschüttelnd und sah ihn argwöhnisch an. »Sie trägt auch keinen Trauring, das habe ich gleich gesehen. Und der fremde Mann hatte auch gar kein Recht, mit dem schweren Spazierstock nach ihm zu schlagen – beinahe hätte er ihn getötet.«

 

»Nun gehen Sie aber, Masters«, erwiderte Digby, der wieder die Herrschaft über sich gewonnen hatte.

 

»Kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nicht verstehen. Ich sage Ihnen doch, daß dieser Steele ein Schurke ist, der mit meiner Frau durchbrannte und mir mein Geld gestohlen hat. Meine Frau ist nicht ganz normal; ich will sie mit auf eine Reise nehmen …« Plötzlich hielt er an. »Auf jeden Fall ist Steele einer der größten Schufte.«

 

»Warum liefern Sie ihn dann nicht der Polizei aus?« fragte Masters, der der ganzen Sache mißtraute. »Warum bringen Sie ihn denn nicht vors Gericht? Das scheint mir doch in diesem Falle das Richtige zu sein, Mr. Groat. Sie werden sich einen schlechten Namen machen, wenn es herauskommt, daß Sie ihn so böse behandelt haben.«

 

»Ich habe ihn nicht böse behandelt«, erwiderte Digby kühl. »Sie waren es doch, der ihm den Strick ums Genick warf.«

 

»Ich versuchte, ihn über seine Schulter zu werfen«, erklärte Masters eilig. »Außerdem haben Sie mir doch den Auftrag dazu gegeben.«

 

»Solche Aussagen müssen Sie aber vor Gericht erst beweisen!« Digby wußte wohl, daß er Masters auf diese Weise einschüchtern konnte. »Nun hören Sie einmal zu, Masters. Der einzige, der bisher hier ein Verbrechen begangen hat, sind Sie.«

 

»Ich?« rief der Mann entsetzt. »Ich habe doch nur nach Ihren Befehlen gehandelt!«

 

»Das glaubt Ihnen kein Richter!« Digby klopfte dem Mann auf die Schulter; und dieses vertrauliche Benehmen kam Masters ganz fremd vor. Er hätte seinen Herrn noch nie von dieser Seite kennengelernt. »Gehen Sie, und bringen Sie der jungen Dame etwas zu essen, und wenn irgend etwas schiefgeht, werde ich schon dafür sorgen, daß Sie davonkommen. Hier, nehmen Sie das.« Er zog ein Paket Banknoten aus der Tasche, nahm zwei davon und drückte sie ihm in die Hand. »Das sind Fünfundzwanzigpfundnoten, mein Freund. Vergessen Sie nicht, sie möglichst bald in kleines Geld umzuwechseln. Und machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen, und lassen Sie ein paar Erfrischungen für die junge Dame zubereiten.«

 

»Ich weiß nicht, was meine Frau von alledem halten wird«, brummte Masters. »Wenn ich ihr sage –«

 

»Sie sind ein Dummkopf, wenn Sie ihr überhaupt etwas sagen«, entgegnete Digby scharf. »Verdammt noch einmal: Verstehen Sie denn nicht, wenn ich mit Ihnen rede?«

 

*

 

Um drei Uhr nachmittags kamen zwei Herren in einer Taxe vor dem schöngeschmiedeten Tor von Kennett Hall an. Als man ihnen nicht öffnete, stiegen sie über die hohe Mauer und gingen auf das Haus zu.

 

Digby sah sie schon von weitem, ging ihnen entgegen und begrüßte Bronson und den dunklen Spanier, der in seiner Begleitung war. Am Ende der Zufahrtsstraße trafen sie einander und sowohl Bronson wie sein Herr fragten wie aus einem Munde: »Wo ist Villa?«

 

Kapitel 42

 

42

 

Der Raum, in den Jim gebracht wurde, unterschied sich wenig von den Zimmern, die er vorher gesehen hatte, er war nur kleiner. Die Planken des Fußbodens waren zerbrochen, hier und dort zeigten sich große Löcher, und er sah gleich, daß hier Ratten hausten.

 

Seine Hände waren so eng verschnürt, daß er sie nicht bewegen konnte, und seine Fußgelenke waren so zusammengebunden, daß es ihm unmöglich war, sich auf seine Füße zu erheben.

 

»Was für ein Leben ist das doch«, sagte er mit philosophischer Ruhe und bereitete sich auf eine lange Wartezeit vor.

 

Er zweifelte nicht daran, daß Digby möglichst bald aufbrechen würde, und rechnete mit der Möglichkeit, daß man ihn hier allein zurückließ. Entweder mußte er sich dann selbst befreien oder verhungern. Aber er war fest entschlossen, am Leben zu bleiben. Auch hatte er sich schon einen Plan ausgedacht, den er sofort ausführen wollte, wenn er sicher war, daß man ihn nicht mehr beobachtete.

 

Aber Digby blieb im Hause, wie er erfahren sollte.

 

Eine Stunde verging, dann wurde die Tür zu seinem Raum aufgerissen, und Digby trat ein. Hinter ihm kam ein Mann herein, der bei Jims Anblick grinste. Es war Bronson, der in Jims Kleidern geradezu lächerlich aussah; denn Rock und Hose waren ihm zu groß.

 

»Man hat Sie also doch entdeckt, Bronson«, sagte Jim lachend.

 

»Nun, jetzt bin ich in derselben Verfassung wie Sie, als ich Sie zurückgelassen habe. Man wird mich ja hier entdecken, und ich werde Sie dann in Dartmoor besuchen und nachsehen können, wie es Ihnen dort geht. In Dartmoor ist es ganz schön; der hübscheste Platz dort ist Block B – da haben Sie Zentralheizung, Gas, Warmwasser – jeden modernen Komfort mit Ausnahme von Tennis.«

 

»Wo ist Villa?« fragte Digby.

 

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen«, erklärte Jim gemütlich. »Aber ich vermute, wo er geblieben ist.«

 

»Wo ist er geblieben?« fuhr ihn Bronson an.

 

Jim lächelte, und im nächsten Augenblick schlug ihm Bronson mit der Hand ins Gesicht. Aber Jim lächelte weiter, obwohl ein Ausdruck in seinem Blick lag, der Bronson ängstigte.

 

»Steele, es hat keinen Zweck, daß Sie die Aussage verweigern«, sagte Digby. »Wir wollen unter allen Umständen wissen, was Sie mit Villa gemacht haben. Wo ist er geblieben?«

 

»Meiner Meinung nach schmort er jetzt in der Hölle«, erwiderte Jim ruhig.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß er tot ist?« fragte Digby aufgeregt.

 

»Das nehme ich sehr stark an«, entgegnete Jim vorsichtig. »Wir waren ungefähr fünftausend Fuß hoch, als ich vor lauter Freude, daß ich wieder einmal ein Flugzeug in der Hand hatte, einen Sturzflug mit senkrechter Schleife machte. Ich glaube, unser Freund Villa hatte nicht die nötigen Vorsichtsmaßregeln ergriffen – jedenfalls war er nicht mehr da, als ich mich wieder umschaute. Er flog selbständig durch die Luft, Groat, und ich habe die Erfahrung gemacht, daß es fast unmöglich ist, eine gute Landung zu machen, wenn die Leute anfangen, ohne Flugzeug durch die Luft zu fliegen.«

 

»Sie haben ihn umgebracht!« zischte Bronson zwischen den Zähnen. »Sie verdammter Schuft!«

 

»Halten Sie den Mund!« fuhr ihn Digby an. »Wir wissen, was wir wissen wollen. Wo haben Sie ihn hinuntergeworfen?«

 

»Hier irgendwo in der Gegend. Ich habe eine verlassene Stelle gewählt. Es hätte mir zu leid getan, wenn er beim Fall noch einem anderen weh getan hätte.«

 

Digby verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen, und schloß die Tür hinter sich. Er sprach auch nicht, bis er wieder im Raum war, wo er sich vor weniger als einer Woche von Villa verabschiedet hatte. Er schauderte bei dem Gedanken an den schrecklichen Tod dieses Mannes. Die beiden Spanier waren hier, und sie hatten ein Geschäft vor, das nicht aufgeschoben werden konnte. Digby hatte ursprünglich gehofft, daß sie seinem Versprechen trauen und warten würden, bis man einen sicheren Platz erreicht hätte, bevor sie sich ihre Anteile auszahlen ließen. Aber sie legten den Versprechen und Worten ihres Anführers gerade keinen zu großen Wert bei. Sie hatten große Summen zu bekommen, und Digby war es sehr unangenehm, daß er sie auszahlen mußte. Aber er konnte sich jetzt nicht mehr davor drücken. Es blieb ihm ja trotzdem noch ein ungeheures Vermögen. Die anderen Mitglieder der Bande hatten ihre Anteile noch nicht erhalten, und er hatte auch nicht die Absicht, sie ihnen zu geben.

 

»Was haben Sie für Pläne«, fragte Xavier Silva.

 

»Ich gehe nach Kanada«, antwortete Digby. »Lesen Sie die Zeitungen, und suchen Sie unter den ›Privaten Anzeigen‹. Dort werde ich Ihnen meine Adresse bekanntgeben.«

 

Der Spanier grinste.

 

»Wir werden auf andere interessante Dinge aufpassen. Mein Freund und ich werden nach Spanien gehen. Wird Bronson bei Ihnen bleiben?«

 

Digby nickte.

 

Da Villa tot war, mußte er nun den Flieger ins Vertrauen ziehen. Er wollte ihn am Ende doch noch betrügen, aber Bronson konnte das nicht vermuten. Er schickte die beiden aus, um das Flugzeug zu prüfen. Jim hörte in seinem Raum das Summen der Propeller und mühte sich vergeblich ab, seine Hände freizubekommen.

 

Plötzlich hörte das Summen des Propellers auf. Xavier Silva war ein tüchtiger Mechaniker. Er hatte entdeckt, was an dem einen Zylinder defekt war.

 

»Sie bringen den Motor wieder in Ordnung«, murmelte Jim.

 

Er hatte also mehr Zeit, als er ursprünglich gehofft hatte. Er hörte draußen Schritte auf der steinernen Terrasse, und durch einen Spalt im Fensterladen konnte er sehen, daß Bronson vorbeiging. Digby hatte ins Dorf geschickt, um vorsichtige Nachforschungen nach Villas Schicksal anzustellen.

 

Merkwürdigerweise war den drei Männern, die das Herannahen des Flugzeugs von der Terrasse von Kennett Hall aus beobachtet hatten, Villas Schicksal entgangen. Sie hatten zwar gesehen, wie das Flugzeug die senkrechte Schleife beschrieb, aber Digby dachte nichts anderes, als daß Bronson dem jungen Mädchen seine Kunststücke zeigen wollte. Villas Leiche mußte hier irgendwo in der Nachbarschaft liegen; und wie nahe sie war, erfuhr Bronson im Gasthaus des Dorfes.

 

Als Bronson fortgegangen war, begab sich Digby zu seiner Gefangenen. Eunice schritt im Raum auf und ab.

 

»Wie hat Ihnen der Flug gefallen?« fragte er. »Es war wohl aufregend und nervenkitzelnd? Haben Sie auch beobachtet, wie mein Freund Villa ermordet wurde?«

 

Sie schaute ihn an: »Ich habe nicht gesehen, daß der Mann ermordet wurde.« Sie war bereit, Jim gegen jede Anschuldigung zu verteidigen.

 

Er las ihre Gedanken.

 

»Sorgen Sie sich nicht um Mr. Steele. Ich werde ihn nicht wegen Mordes anklagen, dazu habe ich keine Zeit; ich werde morgen abend bei Einbruch der Dunkelheit das Land verlassen, und Sie werden mich im Flugzeug begleiten.«

 

Sie erwiderte nichts.

 

»Ich hoffe, daß Ihnen ein kleines Eintauchen ins Wasser nichts ausmacht. Ich kann Ihnen nämlich nicht garantieren, daß wir gerade auf meiner Jacht landen werden.«

 

Sie wandte sich zu ihm. Auf seiner Jacht? Sie sollte auf einer Jacht entführt werden. Wohin wollte er sie bringen?

 

Draußen hörte er eilige Schritte und öffnete die Tür. Ein Blick auf Bronsons Gesicht sagte ihm, daß er wichtige Neuigkeiten brachte.

 

»Nun?« fragte er scharf.

 

»Sie haben Villas Leiche gefunden. Ich habe einen Zeitungsreporter im Gasthaus gesehen«, sagte er atemlos.

 

»Weiß man, wer er ist?« fragte Digby.

 

Bronson nickte.

 

»Was?« fragte Digby verwundert. »Woher kennt man denn Villas Namen?«

 

»Man hat ein Papier in seiner Tasche gefunden – eine Quittung über die Kaufsumme einer Jacht.«

 

Eunice sah durch, die offene Tür, wie Digby zusammenzuckte.

 

»Dann weiß man auch von der Jacht?«

 

Diese Nachricht verwirrte ihn vollkommen und regte ihn maßlos auf. Wenn die Polizei von der Jacht erfahren würde, türmten sich unüberwindliche Schwierigkeiten auf, und die Gefahr, die ihn bedrohte, schien ihm wie ein gigantisches Ungeheuer den Weg zu versperren. Digby Groat brach unter diesem Schock zusammen.

 

Eunice sah es. Er hatte sich vollständig verändert und war nicht mehr der kühle, selbstbeherrschte Mann, der alle Gefahren verachtete. Er war jetzt ein hilfloses, furchtsames Kind, das schimpfte und die Hände rang. Er gab zusammenhanglose Befehle und nahm sie schon wieder zurück, bevor sein Bote den Raum verlassen hatte.

 

»Drehen Sie Steele das Genick um!« brüllte er. »Töten Sie ihn, Bronson! Dieser verdammte Kerl! Nein, nein, bleiben Sie hier, machen Sie das Flugzeug fertig … wir wollen heute abend abfliegen …«

 

Er wandte sich zu Eunice und starrte sie an.

 

»Noch heute abend geht es fort, Eunice! Dann will ich mit Ihnen abrechnen!«

 

Kapitel 39

 

39

 

Jim Steele war dem Tod wieder einmal mit genauer Not entgangen, wie schon so oft in seinem abenteuerreichen Leben. Er war nicht in einen Bach oder Fluß, sondern in ein tiefes Wasserloch gefallen, dessen Boden so morastig war, daß er steckenblieb.

 

Er mühte sich vergeblich ab, wieder loszukommen, und war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren, als er plötzlich an die Wurzeln eines Baumes faßte, der am Rande stand. Mit der Kraft der Verzweiflung zog er sich hinauf und lag nun auf festem Boden, unbekümmert um den Regen, und rang nach Atem.

 

Zwei andere müssen auch hier in der Nähe sein, dachte er und richtete sich mühsam in kniende Stellung auf. Plötzlich hörte er, kaum zehn Meter entfernt, Digby Groats Stimme: »Bleiben Sie an meiner Seite!«

 

»Das will ich tun«, murmelte Jim und ging vorsichtig der Richtung nach, in der er die Stimme gehört hatte, obwohl er niemand sehen konnte. Der Zug, der angehalten hatte, fuhr wieder weiter, und der Lärm übertönte jedes andere Geräusch.

 

Jim eilte weiter, sah gleich darauf das Schlußlicht des Wagens auf der Straße und hörte Schritte. Er begann zu laufen, um die beiden womöglich noch zu überholen, bevor sie den Wagen erreichten. Aber als er auf die offene Straße kam, fuhr das Auto eben davon. Er griff nach seinem Revolver. Wenn es ihm gelang, die Reifen der Hinterräder durch einen Schuß zu treffen, konnte er den Wagen anhalten. Jim war ein sicherer Schütze. Er zielte und drückte ab, aber die Pistole ging nicht los, sie war durch den Sturz in das Wasser verschlammt.

 

Der Wagen entfernte sich immer weiter, er konnte ihn nicht mehr erreichen. Er fühlte Schmerzen in allen Gliedern, aber er ließ sich durchaus nicht abschrecken. Schnell steckte er die Waffe in die Tasche und rannte in der Richtung, die der Wagen genommen hatte.

 

Er war gut trainiert, und das Laufen machte ihm keine großen Schwierigkeiten. Im Gegenteil, durch die Bewegung wurde er warm, der Krampf seiner Glieder löste sich, und er konnte ruhiger nachdenken. Er eilte immer in gleichmäßiger Geschwindigkeit dahin, nicht zu schnell, um sich nicht zu verausgaben.

 

Nach einer halben Stunde entdeckte er den Wagen wieder. So war seine Anstrengung also doch von Erfolg gekrönt worden. Aber kaum hatte er das rote Schlußlicht gesehen, als das Auto sich wieder in Bewegung setzte. Warum hatte es angehalten? Jim ging langsam. Vielleicht hatte es eine Panne, vielleicht hatte der Wagen auch vor einem Haus gehalten. Groat besaß ja viele Schlupfwinkel im ganzen Land.

 

Jim sah das Haus und ging vorsichtig näher, als er hörte, wie jemand nach der Zeit fragte. Er konnte aber weder Villa noch Bronson erkennen und überlegte sich, was er machen solle. Das Haus hätte er ja leicht betreten können, aber mit einer versagenden Pistole konnte er nicht den Versuch machen hineinzugehen. Das würde weder ihm noch Eunice geholfen haben. Wenn er doch nur nicht in das Wasserloch gefallen wäre! Plötzlich tauchte ein Mann vor ihm auf, und er blieb stehen. Der Fremde wandte ihm den Rücken zu, rauchte und schien vor dem Hause auf und ab zu gehen. Es hatte aufgehört zu regnen. Als der Mann wieder zurückkam, ging er so nahe an Jim vorbei, daß er ihn von seinem Versteck aus hätte fassen können.

 

Nach einer Weile rief jemand: »Bronson!«

 

Jim dachte nach. Der Name kam ihm bekannt vor.

 

Der Mann drehte sich um und ging schnell ins Haus. Jim hörte eine leise Unterhaltung, verstehen konnte er natürlich nichts. Aber er mußte erfahren, wovon gesprochen wurde, und er schlich sich näher an das Haus heran. Ein kleiner Vorbau wölbte sich über der Haustür, und hier standen die beiden Männer.

 

»Ich werde im Gang schlafen«, sagte Villa mit seiner tiefen Stimme. »Wenn Sie wollen, können Sie im anderen Zimmer übernachten …«

 

»Nein, danke schön«, erwiderte der Größere, der auf den Namen Bronson hörte. »Ich will lieber die ganze Nacht bei der Maschine bleiben, ich brauche nicht zu schlafen.«

 

Was meinte er mit der Maschine? Hatten sie noch ein anderes Auto hier?

 

»Wird Groat in der Nacht noch ankommen?« fragte Villa.

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn er keinen Aufenthalt hat und ihm sonst nichts passiert, wird er morgen früh in Kennett Hall sein. Die Straße dorthin ist allerdings sehr schlecht.«

 

Kennett Hall! Das war doch die Besitzung, von der Mrs. Weatherwale gesprochen hatte. Sie hatte ihm erzählt, daß es das Stammgut der Dantons war. Was für ein Narr war er gewesen, daß er nicht gleich daran gedacht hatte, als sie überlegten, wohin Digby Groat sich gewandt haben mochte! Villa und Bronson rauchten beide, und Jim beneidete sie darum.

 

»Werden wir Schwierigkeiten mit ihr haben, Mr. Villa?«

 

»Bestimmt nicht. Sie wird entsetzliche Angst haben. Ich glaube nicht, daß sie jemals zuvor geflogen ist.«

 

Der andere lachte.

 

Die Maschine, die er eben erwähnt hatte, war also ein Flugzeug. Wo mochte es stehen? Er strengte seine Augen an, doch es war so dunkel, daß er nichts unterscheiden konnte.

 

»Wird der Regen nicht schaden?«

 

»Nein«, sagte Bronson. »Ich habe den Motor zugedeckt; ich habe die Maschine schon oft die ganze Nacht draußen im Freien gehabt.«

 

Das ist nicht die richtige Behandlung, dachte Jim, dem ein Flugzeug soviel wie ein lebendiges Wesen war. Eunice war also hier, und sie wollten sie im Flugzeug irgendwohin bringen. Was konnte er tun? Er konnte nach Rugby zurückgehen und die Polizei informieren.

 

»Wo ist Fuentes?« fragte Bronson. »Mr. Groat sagte doch, daß er auch hier sein würde.«

 

»Er ist unterwegs nach Rugby. Er hat eine Leuchtpistole bei sich und soll uns benachrichtigen, wenn ein Polizeiwagen hinter uns her ist. Aber wenn Sie sich nicht hinlegen wollen, Bronson, werde ich es wenigstens tun. Sie können dann ja hier aufpassen.«

 

Fuentes war demnach auch an der Sache beteiligt. Es war gut, das zu wissen, sonst wäre Jim ihm eventuell in die Arme gelaufen. Jim überlegte, daß Fuentes wahrscheinlich in der Nähe von Rugby Posten gefaßt hatte. Wer konnte wissen, welche Befehle Digby Groat gegeben hatte und was für Vorbereitungen getroffen waren für den Fall eines Befreiungsversuches? Jim entschloß sich, hier zu warten, und hoffte gegen sein besseres Wissen, daß eine Polizeipatrouille hier vorbeikommen könnte.

 

Villa steckte sich eine neue Zigarre an, und Jim konnte in dem Lichtschein die beiden Leute einen Augenblick sehen. Bronson trug Fliegerkleidung, Lederrock, Lederhose und hohe Stiefel. Plötzlich kam Jim ein Gedanke, als er die Größe des Mannes betrachtete. Welch ein Ende des ganzen Abenteuers wäre das!

 

Villa gähnte.

 

»Ich lege mich jetzt in den Gang, und wenn sie versuchen sollte, das Haus zu verlassen, wird sie einen bösen Schrecken bekommen! Gute Nacht, wecken Sie mich um halb fünf!«

 

Bronson brummte etwas und nahm dann seinen Spaziergang wieder auf. So verstrichen zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Man konnte nur die Regentropfen von den Bäumen fallen hören und das ferne Rattern der Züge, die durch Rugby fuhren.

 

Im Norden waren die weißen Lichter der Eisenbahnstation und der Werkstätten zu sehen. Im Westen konnte man an dem helleren Schein des Himmels die Lage von London erkennen. Jim nahm die Pistole aus der Tasche und ging gebückt vorwärts, so daß Bronson glaubte, er sei aus dem Boden geschossen, als er sich plötzlich erhob. Er fühlte den kalten Lauf einer Pistole in seinem Gesicht.

 

»Wenn Sie irgendein Geräusch machen, Sie niederträchtiger Kerl, dann knalle ich Sie einfach nieder. Haben Sie mich verstanden?«

 

»Ja«, sagte der Mann, er zitterte vor Furcht.

 

Jim packte ihn mit der linken Hand am Kragen. Felix Bronson war im Grunde ein ängstlicher Mann, nur die Luft hatte für ihn keine Schrecken. »Wo ist der Kasten?« fragte Jim leise.

 

»Auf dem Feld hinter dem Haus«, antwortete Bronson ebenso leise. »Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie? Wie sind Sie auf die Spur gekommen?«

 

Fragen Sie nicht soviel auf einmal! Gehen Sie vorwärts – nicht diesen Weg«, sagte er, als Bronson auf das Haus zugehen wollte.

 

»Wir müssen über den Zaun klettern, wenn wir nicht hier entlanggehen«, erwiderte Bronson mürrisch.

 

»Dann klettern Sie eben über den Zaun, das wird Ihnen gut tun, Sie fauler Teufel!«

 

Sie gingen querfeldein, und Jim sah plötzlich die Umrisse des Flugzeuges sich vom Himmel abheben.

 

»Ziehen Sie ihre Kleider aus!« befahl er.

 

»Was wollen Sie?« fragte Bronson entsetzt. »Ich kann mich doch hier nicht ausziehen!«

 

»Ich werde es Ihnen bald beibringen – das geht sehr gut. Es wird leichter sein, wenn Sie sich selbst ausziehen, als wenn ich einem Toten die Kleider abstreifen muß.«

 

Widerwillig zog Bronson die Lederjacke aus.

 

»Werfen Sie sie nicht in das feuchte Gras! Ich will keine nassen Kleider anlegen!«

 

Im Dunkeln faßte Bronson plötzlich nach seiner Hüfttasche, aber bevor er die Pistole fassen konnte, hatte Jim ihn am Handgelenk gepackt und herumgerissen. Im nächsten Augenblick hatte er ihm die Waffe entwunden.

 

»Das trifft sich ja vorzüglich!« Jim warf seine eigene Waffe ins Gras. »Meine ist nämlich nicht mehr ganz in Ordnung, aber die Ihrige ist sicher gut. Nun ziehen Sie schnell die Hosen und die Schuhe aus!«

 

»Ich werde mich erkälten!« Bronsons Zähne klapperten.

 

»Wenn Sie sterben, werde ich einen Kranz zu Ihrer Beerdigung schicken«, entgegnete Jim ironisch. »Aber ich glaube, Sie sind nicht geboren, an Erkältung zu sterben. Eher durch eine Schlinge, die man Ihnen um den Hals legt!«