Kapitel 28

 

28

 

Eine Entscheidung nahte. Digby Groat war viel zu vernünftig, um die Anzeichen nicht zu verstehen.

 

Seit zwei Jahren stand er in Verhandlungen mit einem Landagenten in San Paolo und hatte den Kauf einer großen Plantage so weit gefördert, daß er jeden Augenblick abschließen konnte. Durch allerhand Machinationen hatte er schlau die Identität seiner Person als Käufer nicht bekanntwerden lassen. Auf diesen ungeheuren Ländereien wollte er ein herrliches Leben führen. Es war möglich, daß er fliehen mußte, und in diesem Fall war der Aufenthalt auf seinen großen Besitzungen in Südamerika eine angenehme Abwechslung von dem ewigen Einerlei des Londoner Gesellschaftslebens. Er war fest entschlossen, Eunice Weldon mit sich zu nehmen. Sie sollte wenigstens ein Jahr lang dieses Leben mit ihm teilen. Was nachher wurde – er zuckte die Schultern. Auch früher waren ihm schon Frauen begegnet, hatten ihn fasziniert, stark angezogen und dann gelangweilt, und schließlich waren sie wieder aus seinem Gesichtskreis verschwunden. Wahrscheinlich würde Eunice denselben Weg gehen, aber darüber mußte .man sich ja den Kopf nicht zerbrechen.

 

*

 

Die Morgenstunden gingen zu langsam für Jim vorüber. Der Geschäftsführer sollte um ein Uhr ankommen, und Jim wartete auch pünktlich um diese Zeit im Büro der Schiffahrtsgesellschaft. Der Zug mußte jedoch Verspätung gehabt haben, denn es war schon über zwei, als der Ersehnte ankam. Ein Träger mit einem großen Paket begleitete ihn. Jim wurde sofort in das Privatbüro gebeten.

 

»Wir haben das Logbuch der ›Battledore‹ gefunden, aber nun habe ich das Datum vergessen.«

 

»Es war der 21. Juni.«

 

Das Logbuch lag offen auf dem großen Tisch, und es herrschte eine eigentümliche Atmosphäre und Spannung im altertümlichen Büro.

 

»Hier!« sagte der eine Partner. »Die ›Battledore‹ verließ Tilbury um neun Uhr vormittags bei abnehmender Flut, Wind Ost-Süd-Ost, See ruhig, etwas nebelig!« Er las weiter, »Ich glaube, jetzt kommt das, was Sie brauchen.«

 

Es war einer der dramatischsten Augenblicke im Leben Jims. Nach einigen einleitenden Worten kam der alte Herr plötzlich zu der Eintragung, die so wichtig für die Frau war, die Jim mehr als sein Leben liebte.

 

»›Schwere Nebelbänke, Geschwindigkeit um 11.50 Uhr auf die Hälfte reduziert. Um 12.10 Geschwindigkeit auf ein Viertel abgestellt. Obermaat Bosun berichtete, daß wir kleines Ruderboot in den Grund gebohrt haben und daß er zwei Personen im Wasser gesehen hat. Matrose Grand, ein tüchtiger Schwimmer, geht über Bord und rettet ein Kind. Zweite Person nicht gefunden. Später Geschwindigkeit wieder vergrößert, Versuch gemacht, nach Dungeneß zu signalisieren. Wetter zu diesig für Flaggensignale.‹«

 

Jim nickte.

 

»›Geschlecht des Kindes weiblich, Alter erst einige Monate. Kind der Stewardeß übergeben.‹«

 

Eintragung folgte auf Eintragung, aber das Kind wurde nicht wieder erwähnt, bis der Dampfer in Funchal einlief.

 

»Liegt auf der Insel Madeira«, erklärte der ältere Herr. »›Ankunft in Funchal sechs Uhr morgens. Dem britischen Konsul die Rettung des Kindes gemeldet. Konsul verspricht, nach London zu drahten.‹«

 

Die nächste Eintragung war in Dakar gemacht.

 

»Ein Hafen an der Westküste von Afrika, französisches Protektorat«, erklärte der Mann wieder. »›Telegramm vom britischen Konsul in Funchal erhalten mit der Mitteilung, daß der Londoner Polizei kein Kind als vermißt gemeldet wurde.‹«

 

Drei Tage vor der Ankunft in Kapstadt war wieder eine für Jim interessante Eintragung gemacht worden.

 

»›Mr. Weldon, ein Einwohner von Kapstadt, der mit seiner Frau eine Erholungsreise macht, bot an, das Kind zu adoptieren, das wir am 21. Juni auf See retteten, da er kürzlich sein eigenes Kind verloren hat. Mr. Weldon ist dem Kapitän persönlich bekannt, ferner ist seine Identität durch mehrere Passagiere bestätigt. Das Kind wurde ihm zur Pflege übergeben unter der Bedingung, daß die Angelegenheit den Behörden in Kapstadt gemeldet werden sollte.‹«

 

Eine vollständige Beschreibung der Größe, des Gewichtes, der Haut-, Haar- und Augenfarbe des kleinen Wesens folgte, und unter der Rubrik ›Besondere Merkmale‹ stand: ›Narbe am rechten Handgelenk, Schiffsarzt meint, daß sie von einer Brandwunde herrührt.‹

 

Jim atmete tief.

 

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, meine Herren. Sie haben mir die Mittel in die Hand gegeben, ein großes Unrecht wieder gutzumachen. Auch das Kind ist Ihnen zu großem Dank verpflichtet, es ist allerdings inzwischen eine erwachsene Frau aus ihm geworden. – Es ist möglich, daß wir Sie bitten müssen, dieses Logbuch bei Gericht vorzulegen. Aber ich hoffe, daß die Rechtsansprüche unserer Klientin so klar zutage treten, daß es nicht zu einer Verhandlung kommt.« Er ging die Threadneedle Street hinunter. Er brauchte frische Luft. Die Tatsache, daß er, während er ein Vermögen für Eunice gewonnen hatte, selbst das größte Glück verloren hatte, störte seine Freude nicht.

 

Er hatte eine oberflächliche Kopie der Eintragungen des Logbuches gemacht und legte dieses Schriftstück, ohne ein Wort zu sagen, vor Mr. Salter auf den Tisch.

 

Die Augen des Rechtsanwaltes leuchteten beim Lesen auf.

 

»Die Angelegenheit liegt vollständig klar. Das Logbuch beweist die Identität von Lady Marys Tochter. Ihre Nachforschungen sind also nun zu Ende?«

 

»Noch nicht ganz«, lächelte Jim. »Wir müssen erst noch Jane Groat und ihrem Sohn das Erbe entziehen. Und außerdem müssen wir Miss Danton zu überreden versuchen, das Haus von Mr. Groat zu verlassen.«

 

»In diesem Falle ist vielleicht der Rat eines älteren Mannes wirkungsvoller als der Ihrige, mein Junge«, sagte der Rechtsanwalt und erhob sich. »Ich werde Sie begleiten.«

 

Ein neues Dienstmädchen öffnete ihnen, und Digby erschien sofort in der Tür seines Arbeitszimmers.

 

»Ich möchte Miss Weldon sprechen«, sagte Mr. Salter.

 

Digby wurde steif und formell bei seinem Anblick. Er hätte sich noch unsicherer gefühlt, wenn er gewußt hätte, welche Botschaft Salter zu überbringen, hatte.

 

Digby sah dem alten Mann ins Gesicht, aber Jim glaubte, in seiner ganzen Haltung Ungewißheit und Angst zu entdecken.

 

»Es tut mir leid, daß Sie Miss Weldon nicht sprechen können«, erwiderte Digby langsam. »Sie ist heute früh mit meiner Mutter nach Frankreich gefahren und ist in diesem Augenblick wahrscheinlich schon in Paris.«

 

»Das ist eine verdammte Lüge«, sagte Jim ruhig.

 

Kapitel 29

 

29

 

Die beiden Männer, die einander tödlich haßten, standen sich gegenüber.

 

»Sie lügen«, wiederholte Jim. »Miss Weldon ist entweder hier in diesem Hause, oder sie ist auf Ihren verdammten Landsitz nach Somerset gebracht worden!«

 

Digby Groat war weniger durch Jims heftige Beleidigungen als durch die Gegenwart des Rechtsanwalts aus der Fassung gebracht.

 

»Sie geben sich also zum Werkzeug dieses erpresserischen und gemeinen Menschen her«, wandte er sich höhnisch an Mr. Salter. »Ich dachte, ein Mann von Ihrer Erfahrung würde es ablehnen, sich von einem solchen Burschen zum Narren halten zu lassen. Jedenfalls«, sagte er zu Jim, »wünscht Miss Weldon, nichts mehr mit Ihnen zu tun zu haben. Sie hat mir von dem Streit, den sie mit Ihnen gehabt hat, erzählt, und ich muß wirklich sagen, daß Sie sich sehr schlecht gegen sie benommen haben.«

 

Digby log, das wußte Jim sofort. Eunice hätte ihm niemals ihr Vertrauen geschenkt.

 

»Welches Interesse haben Sie denn an Miss Weldon?« fragte Digby den Rechtsanwalt.

 

»Ich interessiere mich nur rein menschlich für sie«, erklärte der alte Salter.

 

Jim war von dieser Äußerung betroffen.

 

»Aber –« begann er.

 

»Ich glaube, es ist besser, wir gehen, Steele«, unterbrach ihn der Rechtsanwalt und sah ihn verstohlen und warnend an.

 

»Warum haben Sie ihm denn nicht gesagt, daß Eunice die rechtmäßige Erbin des Dantonschen Vermögens ist?« fragte Jim, als sie in einiger Entfernung von dem Hause waren.

 

»Nehmen wir einmal an, alle Ihre Befürchtungen seien wahr«, erwiderte der Anwalt liebenswürdig, »nehmen wir einmal an, daß dieser Mann tatsächlich ein solcher Schuft ist, wie wir glauben. Das Mädchen ist doch jetzt in seiner Gewalt. Was würde die Folge davon sein, wenn ich ihm erzählte, daß Eunice Weldon ihm die ganze Erbschaft streitig macht, daß ihr sogar dieses Haus gehört und er vollständig arm und ruiniert ist?«

 

Jim biß sich auf die Lippen. »Sie haben recht«, sagte er kleinlaut. »Ich bin immer zu hitzig und unbesonnen.«

 

»Solange Digby Groat nicht weiß, daß ihm Gefahr von Eunice droht, ist sie verhältnismäßig sicher. Auf jeden Fall ist sie nicht in Lebensgefahr. Wenn er erst alles erfährt, was wir wissen, ist sie dem Tod geweiht.«

 

Jim nickte. »Dann glauben Sie also, daß sie in wirklicher Gefahr ist?«

 

»Ich bin davon überzeugt, daß Mr. Digby Groat nicht vor einem Mord zurückschrecken würde, wenn er dadurch sein Erbe retten kann«, sagte der Rechtsanwalt schroff.

 

Sie sprachen nicht mehr, bis sie in das Büro in der Marlborough Street kamen. Dort ließ sich Jim mit einem Seufzer in den Sessel fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Es scheint fast so, als ob wir machtlos wären«, sagte er bitter. »Aber, Mr. Salter, das Gesetz ist doch größer als Digby Groat. Gibt es denn keine Handhabe, ihn durch eine Anklage vor Gericht unschädlich zu machen?«

 

Der alte Septimus Salter rauchte selten in seinem. Büro, aber heute nahm er seine Meerschaumpfeife aus einer Schublade seines Schreibtisches heraus, wischte sie sorgfältig an seinem Ärmel ab und füllte sie langsam und in unerschütterlicher Ruhe mit Tabak.

 

»Das Gesetz, mein Junge, ist größer als Digby Groat und größer als Sie oder ich. Manchmal lachen Leute, die es nicht verstehen, darüber, ‚ manchmal machen sie sich darüber lustig, im allgemeinen fluchen sie darüber. Aber wenn das Gesetz und die Rechtsprechung auch nicht schnell arbeiten, so sind sie doch wie die Mühle, die nur langsam, aber furchtbar klein mahlt. Das Gesetz beschränkt sich nicht auf Verhaftungs- und Durchsuchungsbefehle, es hat tausend Waffen, mit denen es Betrüger und Bösewichte niederschlagen kann. Und bei Gott, alle diese Waffen sollen gegen Digby Groat angewandt werden!«

 

Jim sprang auf und drückte die Hand des alten Salter.

 

»Und wenn das Gesetz ihn nicht fassen kann, so will ich selbst ein Gesetz schaffen und ihn mit diesen beiden Händen erwürgen!«

 

Mr. Salter sah ihn verwundert, aber auch ein wenig belustigt an. »In diesem Fall, mein lieber Steele«, sagte er dann trocken, »wird das Gesetz Sie packen und erwürgen – und das ist die Sache doch nicht wert, wenn ein paar beschriebene Bogen Papier dasselbe Resultat haben, als wenn Sie persönlich diesen Schuft umbringen.«

 

Jim begann sofort mit seinen Nachforschungen. Zu seinem Erstaunen erfuhr er, daß Mrs. Groat und Eunice tatsächlich zur Victoria-Station gefahren waren. Ferner konnte er feststellen, daß Digby zwei Fahrscheine nach Paris gelöst und zwei Plätze in einem Schlafwagen reserviert hatte. Dadurch konnten die Namen der beiden Damen leicht festgestellt werden, was Digbys Absicht war.

 

Jim konnte aber nicht herausbringen, ob sie wirklich mit dem Zug abgefahren waren.

 

Er ging zu dem Rechtsanwalt zurück und berichtete über seine Erkundigungen.

 

»Die Tatsache, daß Jane Groat fortgefahren ist, beweist noch lange nicht, daß unsere Klientin ebenfalls London verlassen hat«, meinte er nachdenklich.

 

»Unsere Klientin?« fragte Jim erstaunt.

 

»Ja, unsere Klientin«, wiederholte Septimus Salter lächelnd. »Vergessen Sie nicht, daß Miss Danton unsere Klientin ist, und bevor sie mir nicht den Auftrag gibt, die Vertretung ihrer Interessen einem anderen Rechtsanwalt zu übertragen –«

 

»Mr. Salter«, unterbrach ihn Jim, »wann wird Bennett das Vermögen der Dantons übergeben?«

 

»Heute morgen geschah es«, war die etwas, unerwartete Antwort, obwohl Mr. Salter nicht im mindesten darüber deprimiert zu sein schien.

 

»Um Gottes willen!« rief Jim schwer atmend. »Dann befinden sich ja die ganzen Güter schon in Digby Groats Händen?«

 

»Nur vorübergehend, lassen Sie sich dadurch nicht aus der Fassung bringen und setzen Sie Ihre Nachforschungen ruhig weiter fort. Haben Sie noch etwas von Lady Mary gehört?«

 

»Von wem?« fragte Jim ganz erstaunt.

 

»Von Lady Mary Danton. Das ist doch Ihre geheimnisvolle Frau in der schwarzen Kleidung. Ich ahnte es gleich, daß sie es war, ich habe niemals daran gezweifelt. Aber als Sie mir von der blauen Hand erzählten, stand es bei mir fest. Sie sehen, mein Junge«, sagte er und zwinkerte mit den Augen, »ich habe einige Nachforschungen in einer Richtung angestellt, die Sie vernachlässigten.«

 

»Was hat denn die blaue Hand zu bedeuten?«

 

»Lady Mary wird es Ihnen an einem der nächsten Tage wohl erzählen. Bevor sie nicht selbst zu Ihnen darüber spricht, fühle ich mich nicht berechtigt, Sie in mein Vertrauen zu ziehen. Sind Sie schon einmal in einer Färberei gewesen, Steele?«

 

»Ja.«

 

»Haben Sie die Hände der Frauen gesehen, die mit Indigo umgehen?«

 

»Wollen Sie damit sagen, daß Lady Mary in einer Färberei arbeitete, nachdem sie verschwand?« fragte Jim ungläubig.

 

»Das wird sie Ihnen schon selbst mitteilen«, entgegnete der Rechtsanwalt, und hiermit mußte Jim sich zufriedengeben.

 

Die Nachforschungen waren nun zu schwer geworden, und es waren zu viele Spuren zu verfolgen, als daß Jim alles allein hätte durchführen können. Mr. Salter stellte deshalb noch zwei Detektive an, die früher in Scotland Yard gearbeitet, jetzt aber ihre eigene Agentur eröffnet hatten. Am Nachmittag hielten sie mit ihren beiden neuen Hilfskräften eine Konferenz ab, wobei ihnen alles mitgeteilt wurde, was bisher bekannt war.

 

Am selben Nachmittag sah Digby Groat, als er aus seinem Fenster Umschau hielt, einen bärtigen Mann, der an der Gartenseite des Gebäudes entlangschlenderte, eine Pfeife im Mund hatte und offenbar ganz in den Anblick der schönen Natur und der architektonischen Feinheiten der Häuser am Grosvenor Square versunken war. Er hätte sich den Mann genauer angesehen, wenn er nicht durch die Ankunft von Mr. Bennett unterbrochen worden wäre. Dieser eckige Schotte mit den strohblonden Haaren war ihm unsympathisch.

 

»Nun, Mr. Bennett, hat Ihnen der alte Salter alle Urkunden ausgehändigt?«

 

»Jawohl, Sir. Ich habe alles erhalten.«

 

»Glauben Sie nicht, daß er uns noch irgendeinen bösen Trick spielen wird?«

 

»Mr. Septimus Salter ist ein ganz hervorragender Rechtsanwalt, dessen Name überall respektiert wird. Solche Leute lassen sich nicht auf Tricks ein«, sagte Mr. Bennett sehr kühl.

 

»Nun, Sie brauchen sich nicht gleich beleidigt zu fühlen. Großer Gott, glauben Sie etwa, daß er Ihr besonderer Freund ist?« fragte Digby Groat.

 

»Welche Gefühle er mir gegenüber hat«, antwortete Bennett in seiner harten, nördlichen Aussprache, »kümmert mich im Moment nicht. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, was ich von ihm denke. Die ganzen Grundstücksbriefe der Ländereien sind so weit in Ordnung gebracht, daß der Verkauf sofort vollzogen werden kann. – Sie verlieren keine Zeit, Mr. Groat.«

 

»Nein«, sagte Digby, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte. »Die Mitglieder des Syndikats drängen sehr darauf, daß der Besitz übergeben wird. Welches ist der früheste Termin, an dem wir die Sache perfekt machen können?«

 

»Morgen früh. Ich vermute –«, Mr. Bennett zögerte, »daß die Frage nach der eigentlichen Erbin, Dorothy Danton, endgültig geklärt ist?«

 

Digby lächelte.

 

»Dorothy Danton ist vor zwanzig Jahren ertrunken und längst von den Fischen aufgefressen worden. Machen Sie sich deshalb keine Kopfschmerzen.«

 

»Dann steht der Sache ja nichts im Wege.« Bennett zog eine Anzahl von Schriftstücken aus einer schwarzen Ledermappe. »Vier dieser Dokumente müssen Sie unterschreiben, das fünfte muß Ihre Mutter zeichnen.«

 

Digby runzelte die Stirn.

 

»Meine Mutter? Ich dachte, das sei unnötig. Ich ließ doch die Vollmacht durch den Notar ausfertigen.«

 

»Sie wissen, Mr. Groat, daß diese notarielle Vollmacht nicht ausreicht, um alle Pachtverträge und sonstigen Rechte, die Sie geerbt haben, zu veräußern. Die Rechte, die nicht übertragen werden können, sind zwar nicht sehr wertvoll, aber sie geben Ihrer Mutter ein Pfandrecht auf Kennett Hall. Unter den gegebenen Umständen wäre es besser, wenn Sie die Originalunterschrift beibrächten, damit es nachher keine Unannehmlichkeiten gibt. Mr. Salter ist ein sehr kluger Mann, und wenn ihm die Einzelheiten der Besitzübergabe bekannt werden, wäre es sehr leicht möglich, daß er eine offizielle Warnung, ein Caveat, eintragen läßt. Er fühlt sich doch noch immer verantwortlich als Rechtsanwalt des verstorbenen Mr. Danton.«

 

»Was hat denn ein Caveat zu bedeuten?«

 

»Hierdurch wird jeder Käufer gewarnt, das Besitztum zu erwerben. Sollte sich nach dem Kauf herausstellen, daß der Verkäufer irgendwie nicht zu dem Verkauf berechtigt war, so hat der Käufer den Schaden zu tragen. Und ich glaube nicht, daß das Syndikat das Risiko übernehmen würde, Ihnen die Kaufsumme für die Ländereien in bar auszuzahlen, wenn ein Caveat eingetragen ist.«

 

Digby starrte lange Zeit aus dem Fenster.

 

»Also gut, dann werde ich die Unterschrift meiner Mutter beibringen.«

 

»Sie ist, soviel ich weiß, in Paris?«

 

»Woher wissen Sie das?«

 

»Ich mußte heute bei Mr. Salter vorsprechen, um die letzten Formalitäten zu erledigen, und er erwähnte es nebenbei.«

 

Digby brummte etwas vor sich hin.

 

»War es denn absolut notwendig, daß Sie Salter wieder aufsuchten?« fragte er barsch.

 

»Ich regle meine Angelegenheiten nach bestem Wissen und Gewissen, wie ich es verantworten kann«, erwiderte Mr. Bennett etwas scharf und unfreundlich.

 

Digby sah ihn ärgerlich an und nahm sich vor, nach der Durchführung dieser Transaktion die Dienste dieses unangenehmen Schotten nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Er haßte das Gesetz, und er haßte Rechtsanwälte. Er hatte den Eindruck gehabt, daß die Firma Bennett froh sei, diesen großen Auftrag zu erhalten und infolgedessen seinen Wünschen möglichst entgegenkommen würde. Aber er mußte zu seinem Verdruß wahrnehmen, daß der gefügige Rechtsanwalt, den er sich vorgestellt hatte, in Wirklichkeit nicht existierte. »Geben Sie mir das Dokument, ich werde meine Mutter unterzeichnen lassen.«

 

»Werden Sie nach Paris fahren?«

 

»Ich werde es ihr durch ein Flugzeug schicken lassen.«

 

Der Rechtsanwalt nahm die Papiere zusammen und packte sie wieder in die Ledermappe.

 

»Dann erwarte ich Sie also morgen um zwölf Uhr im Büro des Nordland-Syndikats.«

 

Digby nickte.

 

»Noch etwas, Mr. Bennett« – er rief den Rechtsanwalt noch einmal zurück –, »bitte annoncieren Sie dieses Haus zum Verkauf. Ich werde in Zukunft den größten Teil meiner Zeit in Übersee zubringen und kann dieses wertvolle Eigentum nicht ungenützt liegenlassen. Ich möchte, daß es sehr schnell verkauft wird.«

 

»Wenn man schnell verkaufen muß, so drückt das auf den Preis. Aber ich werde sehen, was sich machen läßt, Mr. Groat. Wollen Sie auch die Einrichtung mit verkaufen?«

 

Digby nickte.

 

»Sie haben doch auch noch eine Besitzung auf dem Lande?«

 

»Die will ich nicht veräußern.«

 

Als der Rechtsanwalt fort war, ging er hinauf in sein Zimmer, wechselte die Kleider und war verhältnismäßig lange damit beschäftigt.

 

»Nun muß ich Eunice überreden, ein vernünftiges Mädchen zu sein und keinen Spektakel zu machen«, sagte er zu sich selbst, als er die Treppe herunterkam und die Handschuhe anzog.

 

Kapitel 3

 

3

 

An demselben Nachmittag trat Jim in Mr. Salters Büro.

 

»Ich gehe jetzt zum Tee«, sagte er.

 

Mr. Salter schaute auf die altmodische Uhr an der gegenüberliegenden Wand.

 

»Es ist gut. Sie gehen in letzter Zeit immer sehr pünktlich zum Tee, Steele – warum werden Sie denn rot? Handelt es sich um ein Mädchen?«

 

»Nein«, erwiderte Jim unnötig laut. »Ich treffe zwar ab und zu eine Dame beim Tee, aber –«

 

»Machen Sie, daß Sie fortkommen«, sagte der alte Mann ärgerlich. »Grüßen Sie sie von mir.«

 

Jim mußte lachen, während er die Treppe hinunterstieg und auf die Marlborough Street hinaustrat. Er beeilte sich, weil es schon etwas spät war. Erleichtert atmete er auf, als er in das stille, ruhige Lokal trat und den Tisch, an dem er gewöhnlich saß, noch unbesetzt fand.

 

Als er am Tisch Platz genommen hatte, kam die Kellnerin strahlend auf ihn zu, um nach seinen Wünschen zu fragen.

 

»Ihre junge Dame ist noch nicht gekommen, Sir«, sagte sie.

 

Es war das erste Mal, daß sie Eunice Weldon erwähnte, und Jim war es höchst peinlich.

 

»Die junge Dame, die manchmal mit mir Tee trinkt, ist nicht meine junge Dame«, erwiderte er etwas kühl.

 

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte die Kellnerin und kritzelte auf ihrem Notizblock, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

 

»Sie bestellen wohl wie gewöhnlich?«

 

»Ja. Bringen Sie alles wie sonst.«

 

In diesem Augenblick trat eine Dame zur Tür herein, und er erhob sich schnell, um sie zu begrüßen.

 

Sie war von schlankem Wuchs und ging sehr, aufrecht. Etwas Liebenswürdiges und Elegantes lag in ihren Bewegungen, so daß die Herren, die auf den Straßen umherschlenderten, stehenblieben, wenn sie vorbeiging. Eunice hatte ein reines, fast madonnenhaftes Gesicht, aber ihre fröhlich lachenden, blauen Augen und ihre schöngeschwungenen Lippen waren sehr lebhaft und schienen nicht gewillt, das Leben in klösterlicher Abgeschlossenheit zu vertrauern. In ihren Augen lag ein eigentümlicher Glanz, in dem sich eine Bitte und auch zugleich eine Warnung ausdrückte. Es lag Reinheit in ihrem ganzen Wesen, in all ihren Zügen, in dem ausdrucksvollen Mund, in dem runden, jugendlichen Kinn. Es lag wie ein Hauch von Taufrische über ihrer weißen, klaren, fast durchsichtigen Haut. Alle Schönheit der Jugend schien in ihr vereinigt zu sein.

 

Sie ging Jim mit ausgestreckter Hand entgegen.

 

»Ich bin etwas spät dran«, sagte sie vergnügt. »Wir hatten eine langweilige Herzogin im Atelier, die ich in siebzehn verschiedenen Stellungen aufnehmen mußte – sie sah nicht besonders schön aus, aber gerade mit den unansehnlichsten Menschen hat man meistens die größte Mühe.«

 

Sie setzte sich, zog ihre Handschuhe aus und erwiderte freundlich den Gruß der Kellnerin.

 

»Die einzige Möglichkeit, schön zu sein, besteht für Leute mit Durchschnittsgesichtern in einer effektvollen Fotografie«, sagte Jim.

 

Eunice Weldon war in einem bekannten fotografischen Atelier in der Regent Street angestellt. Jim hatte sie vor einiger Zeit erst in dem Lokal, in dem sie augenblicklich saßen, beim Tee kennengelernt, und zwar bei einer besonderen Gelegenheit. Die Gardinen am Fenster, in dessen Nähe sie saß, hatten Feuer gefangen. Jim löschte die Flammen und verbrannte sich dabei die Hand. Und Miss Weldon hatte ihn verbunden.

 

Wenn ein Herr einer Dame einen Dienst erweist, so führt das meistens nicht zu einer näheren Bekanntschaft. Wenn aber umgekehrt eine junge Dame einem Mann hilft, so ist das unweigerlich der Beginn einer Freundschaft.

 

Seit dieser Zeit hatten sie sich täglich hier beim Tee getroffen. Einmal versuchte Jim auch, sie zum Theater einzuladen, aber sie schlug seine Bitte ab.

 

»Haben Sie weitere Erfolge gehabt bei Ihrer Suche nach der verlorenen jungen Dame?« fragte sie, während sie sich Marmelade auf ein Brötchen strich.

 

Jims Stirn legte sich in Falten.

 

»Mr. Salter hat mir heute klargemacht, daß es wenig an den Verhältnissen ändern würde, wenn ich sie fände.«

 

»Es wäre aber doch wundervoll, wenn das Kind gerettet worden wäre. Haben Sie jemals an diese Möglichkeit gedacht?«

 

Er nickte. »Leider dürfen wir uns keine Hoffnung in dieser Richtung machen, so schön es auch wäre. Und am meisten würde ich mich freuen«, meinte er lachend, »wenn Sie die vermißte Erbin wären!«

 

»Das ist hoffnungslos«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich bin die Tochter armer, aber ehrlicher Eltern, wie es immer so schön heißt.«

 

»Ihr Vater lebte immer in Südafrika?«

 

»Ja, er war Musiker. Auf meine Mutter kann ich mich kaum besinnen, sie muß sehr lieb gewesen sein.«

 

»Wo wurden Sie denn geboren?«

 

»In Kapstadt-Rondebosch, um genau zu sein. Aber warum geben Sie sich denn solche Mühe, die verlorene Dame aufzufinden?«

 

»Weil ich nicht will, daß dieser schreckliche, ungebildete Mensch, das große Erbe der Danton-Millionen antreten soll.«

 

Sie richtete sich erstaunt auf.

 

»Wer ist denn dieser ungebildete Mensch? Sie haben mir bis jetzt seinen Namen noch gar nicht genannt.«

 

Das stimmte, Jim Steele hatte ihr erst vor ein paar Tagen von dieser Sache erzählt, die ihn so sehr beschäftigte.

 

»Der junge Mensch heißt Digby Groat.«

 

Sie schaute ihn verwirrt an.

 

»Was haben Sie denn?« fragte er erstaunt.

 

»Als Sie vorhin den Namen Danton erwähnten, erinnerte ich mich daran, daß unser erster Fotograf neulich sagte, Mrs. Groat sei die Schwester Jonathan Dantons«, sagte sie langsam.

 

»Kennen Sie die Familie Groat?«

 

»Ich kenne sie nicht«, sagte sie langsam, »wenigstens nicht sehr gut –« Sie zögerte. »Aber ich werde eine Stellung bei Mrs. Groat als Sekretärin annehmen.«

 

Er sah sie groß an. »Und davon haben Sie mir noch nichts gesagt?«

 

Aber als sie die Augen niederschlug, erkannte er, daß es falsch von ihm war, so zu fragen.

 

»Natürlich«, fügte er schnell hinzu, »es liegt ja kein Grund vor, warum Sie mir das sagen sollten.«

 

»Ich weiß es selbst erst seit heute. Mr. Groat ließ sich fotografieren, und seine Mutter begleitete ihn zum Atelier. Sie waren schon ein paarmal da, aber ich habe kaum von ihnen Notiz genommen. Heute rief mich der Chef zu sich und sagte, daß Mrs. Groat eine Sekretärin brauchte und daß es eine sehr gute Stelle für mich sein würde. Sie will fünf Pfund die Woche zahlen, die ich vollständig sparen kann, denn ich werde in ihrem Hause wohnen.«

 

»Wann hat sich denn Mrs. Groat entschlossen, eine Sekretärin anzustellen?«

 

»Das weiß ich nicht – warum fragen Sie mich, danach?«

 

»Ich habe sie vor einem Monat in unserer Kanzlei gesehen. Mr. Salter machte ihr damals den Vorschlag, sich eine Sekretärin zu halten, um ihre Korrespondenz in Ordnung zu bringen. Sie erklärte aber, daß sie das unter keinen Umständen täte, sie wolle keine Fremde um sich haben, die weder Dienstbote noch Freundin sei.«

 

»Sie wird ihre Absicht eben geändert haben«, meinte Eunice lächelnd.

 

»Das bedeutet also, daß wir uns nicht weiter beim Tee treffen können. Wann werden Sie Ihre neue Stelle antreten?«

 

»Schon morgen früh.«

 

Jim ging in düsterer Stimmung in sein Büro zurück. Sein Leben schien plötzlich arm und traurig geworden zu sein.

 

›Du hast dich verliebt, alter Kerl‹, sagte er zu sich selbst.

 

Es gehörte zu seinen Pflichten, das große Tagebuch zu führen, und wütend blätterte er die Seiten um.

 

Mr. Salter war schon nach Hause gegangen. Jim steckte seine Pfeife an und trug die Vorgänge nach den kurzen Bleistiftnotizen seines Chefs ein, die er auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte.

 

Als er fertig war, ging er noch einmal in das Zimmer seines Chefs, um zu sehen, ob er nicht etwas vergessen hätte.

 

Mr. Salters Schreibtisch war für gewöhnlich in bester Ordnung, aber er hatte die merkwürdige Angewohnheit, wichtige Akten oder Notizen beiseite zu legen, man hätte fast sagen können, sie zu verstecken. Jim hob alle Gesetzbücher auf, die auf dem Tisch standen, ob er nicht noch irgendeine Notiz darunter finden könnte. Ein dünnes, goldgerändertes Notizbuch war zwischen zwei Bänden eingeklemmt gewesen und fiel nun auf die Tischplatte. Er konnte sich nicht besinnen, es früher gesehen zu haben. Als er es öffnete, entdeckte er, daß es ein Tagebuch für das Jahr 1929 war. Mr. Salter pflegte für seinen Privatgebrauch Notizen zu machen und tat das in einer sonderbaren, nur ihm verständlichen Kurzschrift. Keinem seiner Schreiber oder Sekretäre war es jemals gelungen, sie zu entziffern. Auch dieses Tagebuch war in dieser Geheimschrift abgefaßt.

 

Jim drehte die Blätter neugierig um und wunderte sich, daß ein so vorsichtiger und ordentlicher Mann ein Tagebuch herumliegen ließ. Er wußte, daß in dem großen, grünen Geldschrank ganze Stapel solcher kleinen Bände aufbewahrt wurden. Vielleicht hatte der Rechtsanwalt einen herausgenommen, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Es waren Hieroglyphen für Jim. Nur ab und zu stand ein Wort in offener Schrift dazwischen.

 

Aber plötzlich stutzte er, denn unter dem vierten Juni fand er eine lange Eintragung. Sie schien erst später von dem Rechtsanwalt gemacht worden zu sein, denn sie war mit grüner Tinte geschrieben. Aus diesem Umstand konnte er feststellen, wann sie geschrieben war, denn vor achtzehn Monaten hatte ein Augenarzt Mr. Salter gesagt, daß es ihm leichter fiele, grüne Schrift zu lesen, und seit diesem Zeitpunk hatte der Rechtsanwalt stets grüne Tinte für seine Schriftsätze benutzt. Jim hatte den Absatz gelesen, bevor er sich darüber klar wurde, daß er eigentlich nicht dazu berechtigt war.

 

»Ein Monat Zuchthaus im Holloway-Gefängnis. Entlassen am 2. Juli. Madge Benson (dieser Name war unterstrichen) 14, Palmer’s Terrace, Paddington. 74, Highcliffe Gardens, Margate. Hatte lange Besprechungen mit dem Bootsmann, dem die ›Saucy Belle‹ gehörte.

 

Keine Spur von –«

 

Hier endete der Abschnitt in offener Schrift.

 

»Was, in aller Welt, mag das bedeuten?« murmelte Jim vor sich hin. »Das muß ich mir notieren.«

 

Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß er im Begriff war, etwas Unehrenhaftes zu tun, aber er war so interessiert an diesem neuen Hinweis, daß er seine Bedenken überwand.

 

Offenbar bezog sich diese Bemerkung auf die verschwundene Lady Mary. Wer diese Madge Benson war, und was die Erwähnung des Gefängnisses in Holloway bedeutete, wollte er herausbringen.

 

Als er die Notizen abgeschrieben hatte, ging er in sein Zimmer zurück, schloß seinen Schreibtisch ab, ging nach Hause und überlegte angestrengt, welche weiteren Nachforschungen er anstellen könnte.

 

Er hatte eine kleine Wohnung in einem Häuserblock, von dem aus man Regent’s Park übersehen konnte. Von seinen eigenen Zimmern aus hatte man allerdings keinen Blick ins Freie. Man konnte nur die unangenehmen Rückseiten anderer Mietshäuser sehen, und unten führte die Eisenbahn vorbei. Er hätte von seinem Fenster aus Kupfermünzen auf die vorbeifahrenden Wagen werfen können, so dicht lagen die Schienen bei seinem Hause. Dafür war aber auch die Miete nur halb so hoch wie für ähnliche Wohnungen in besserer Lage. Er hatte ein kleines Privateinkommen von zwei bis drei Pfund wöchentlich, und wenn er sein Gehalt dazunahm, konnte er verhältnismäßig gut leben. Seine drei Zimmer waren mit wertvollen, alten Möbeln ausgestattet, die er aus dem Zusammenbruch seines väterlichen Vermögens gerettet hatte; denn als sein etwas leichtsinniger Vater starb, konnten von seiner Hinterlassenschaft gerade die zahlreichen Schulden beglichen werden.

 

Jim war im vierten Stock aus dem Lift gestiegen und wollte eben aufschließen, als er hörte, daß die gegenüberliegende Tür sich öffnete. Er wandte sich um.

 

Die ältere Frau, die heraustrat, trug die Tracht einer Krankenschwester. Sie nickte ihm freundlich zu.

 

»Wie geht es Ihrer Patientin?« fragte Jim.

 

»Es geht ihr gut. Das heißt, so gut es einer so kranken Dame eben gehen kann. Sie ist Ihnen sehr dankbar für die Bücher, die Sie ihr schickten.«

 

»Die arme Frau«, meinte Jim bedauernd. »Es muß doch schrecklich sein, wenn man nicht mehr ausgehen kann.«

 

»Sicherlich, aber Mrs. Fane scheint es nichts mehr auszumachen. Man gewöhnt sich daran, wenn man schon sieben Jahre krank liegt.«

 

Es kamen Schritte die Treppe herunter, und sie schaute hinauf.

 

»Der Postbote kommt«, sagte sie. »Ich dachte, er wäre schon dagewesen. Vielleicht bringt er uns etwas.«

 

Die Briefträger ließen sich im Fahrstuhl bis zum sechsten Stock fahren und teilten im Hinuntergehen die Post aus.

 

»Ich habe nichts für Sie, Sir«, sagte er zu Jim, während er das Paket Briefe in seiner Hand durchsah.

 

»Miss Madge Benson – das sind Sie doch, Schwester, nicht wahr?«

 

»Jawohl«, entgegnete die Frau schnell, nahm dem Postboten den Brief aus der Hand, verabschiedete sich durch ein kurzes Kopfnicken von Jim und ging die Treppe hinunter.

 

Madge Benson! Der Name, den er eben in Salters Tagebuch gelesen hatte!

 

Kapitel 22

 

22

 

In dem dunklen Gang lauschte ein Mann gespannt vor der Tür. Er hatte Digby Groat den ganzen Abend verfolgt und war auch in das Haus gekommen. Als er im Zimmer Tritte hörte, schlüpfte er in einen Seitengang und wartete. Eunice kam heraus und ging den Gang entlang. Jim Steele dachte, daß es jetzt an der Zeit sei, sich, aus dem Staub zu machen, denn in den nächsten Minuten würde das ganze Haus alarmiert sein, weil die alte Frau zusammengebrochen war. Es war ein verzweifelter Schritt, zu so früher Stunde in dieses Haus einzudringen. Aber er hatte einen besonderen Grund hierfür. Er mußte unter allen Umständen den Inhalt eines Briefes erfahren, den Digby am Abend bekommen hatte. Jim war ihm überall hin gefolgt, ohne eine besondere Beobachtung machen zu können. Schließlich war Digby Groat am Piccadilly Circus ausgestiegen, um sich anscheinend eine Zeitung zu kaufen. Plötzlich war ein Fremder an ihn herangetreten und hatte ihm schnell einen Brief überreicht. Und diesen Brief mußte er sehen.

 

Jim kam ungesehen in das Erdgeschoß und zögerte. Sollte er in das Laboratorium gehen? Oder sollte er –? Hastige Schritte von oben machten ihn schlüssig, und er schlüpfte schnell durch die Tür, die zu Digbys Arbeitsraum führte. Verstecken konnte er sich dort nicht, er hatte sich in dem Zimmer alles genau gemerkt, als er es vor ein paar Tagen besichtigt hatte. Solange niemand hereinkam und Licht machte, war er hier sicher, Schritte kamen vorbei, und Jim drückte seinen Filzhut tiefer ins Gesicht. Den unteren Teil seines Gesichtes hatte er schon mit einem schwarzseidenen Taschentuch bedeckt. Wenn es zum Äußersten kam, mußte er sich seinen Weg nach draußen mit Gewalt bahnen und sein Heil in der Flucht suchen. Niemand würde ihn in dem alten, grauen Anzug und in dem weichen Hemd ohne Kragen erkennen. Das wäre allerdings kein gutes Ende für das ganze Abenteuer, aber weniger schlimm, als von neuem der Verachtung Eunices ausgesetzt zu sein.

 

Plötzlich schlug sein Herz schneller, denn es kam jemand herein. Er sah, wie der Unbekannte die Tür öffnete, und er bückte sich unter den Tisch, der dort stand, so daß er wenigstens im ersten Augenblick nicht entdeckt werden konnte. Gleich darauf war der Raum von hellem Licht durchflutet. Obgleich Jim nur die Beine des Mannes sehen konnte, wußte er doch, daß es Digby Groat war. Digby trat näher an den Tisch heran und schnitt einen Briefumschlag auf. Dann stieß er einen ärgerlichen Ausruf aus.

 

»Mr. Groat, bitte kommen Sie schnell!«

 

Eunice rief es aufgeregt von oben herunter, und Digby eilte hinaus. Die Tür blieb offenstehen. Jim erhob sich rasch und blickte auf den Tisch. Der Brief lag noch so dort, wie ihn Digby hatte liegenlassen. Schnell steckte ihn Jim in die Tasche. Im nächsten Augenblick schlüpfte er durch die Tür und war im Gang. Hinten am Fuß der großen Treppe stand Jackson und schaute nach oben. Zuerst sah er Jim noch nicht, aber dann entdeckte er die unheimliche Gestalt und wollte einen Warnungsruf ausstoßen, aber Jims Fäuste trafen hin, und er fiel zu Boden.

 

»Was ist los?« fragte Digby. Aber Jim war schon längst aus dem Hause, bevor Digby Groat erfuhr, was geschehen war.

 

Jim verlangsamte seine Schritte allmählich und blieb schließlich unter einer Straßenlaterne stehen, um den Brief zu lesen. Der größte Teil hatte keine Bedeutung für ihn, nur eine Zeile war interessant. »Steele verfolgte sie, wir wollen ihn heute abend noch stellen.«

 

Er las diese Zeile immer wieder und lächelte, als er langsam weiterging.

 

Mehrmals schaute er sich um, weil er glaubte, er würde verfolgt, aber er konnte niemand sehen. Als er über den Portland Place ging, wurde sein Verdacht bestärkt. Zwei Männer gingen hintereinander her, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt.

 

›Na, ihr beide sollt noch für euer Geld laufen‹, sagte Jim zu sich selbst. Er überquerte die Marylebone Road und befand sich im einsamsten Teil Londons. Und nun begann er zu laufen, und er war ein guter Läufer. Er hatte sowohl für kurze Strecken als auch für den Zweimeilenlauf trainiert. Sie kamen hinter ihm her, und er grinste vergnügt. Plötzlich hörte er, wie die Tür eines Autos zugeworfen wurde – sie hatten sich also einen Wagen genommen, der gerade an ihnen vorbeikam.

 

»Das ist sehr wenig sportlich«, sagte Jim, drehte sich kurz um und eilte in der entgegengesetzten Richtung davon. Blitzschnell war er hinter dem Wagen nach der anderen Seite gelaufen. Der Wagen hielt an, und die beiden riefen dem Fahrer zu, daß er umkehren sollte. Jim ging nun ganz langsam. Er hatte sich einen Plan überlegt, der so einfach und so verwirrend für Digby Groat und seine Helfershelfer war, daß der Bluff sich lohnte. Er ging langsam, weil er einen Polizisten auf sich zukommen sah, und als das Auto neben ihm anhielt, sprang er schnell zur Tür und riß sie auf.

 

In dem Licht der Wagenbeleuchtung sah er einen alten Bekannten mit verbundenem Gesicht.

 

»Kommen Sie heraus, Jackson, und erklären Sie mir, warum Sie mich hier in den Straßen dieser friedlichen Stadt verfolgen.«

 

Der Mann folgte der Aufforderung nicht, aber Jim packte ihn an der Weste und zog ihn heraus. Erstaunt sah der Fahrer ihm zu.

 

Der andere war offensichtlich ein Fremder, ein kleiner, dunkler Mann mit schmalem, braunem Gesicht. Beide standen verdutzt da.

 

»Morgen können Sie zu Digby Groat zurückgehen und ihm sagen, daß ich mit genügendem Beweismaterial gegen ihn vorgehe und ihn ins Gefängnis und an den Galgen bringen werde, wenn er das nächste Mal Mitglieder der Bande der Dreizehn hinter mir herschickt. Haben Sie mich verstanden?«

 

»Ich weiß nicht, was Sie da reden«, erwiderte Jackson vorwurfsvoll. »Wir werden Sie zur Anzeige bringen, weil Sie uns aus dem Wagen herausgeholt haben.«

 

»Bitte, tun Sie das. Hier kommt gerade ein Polizist«, sagte Jim. Er packte Jackson am Kragen und schleppte ihn zu dem Polizisten, der schon auf ihn aufmerksam geworden war. »Ich glaube, der Mann will eine Anzeige gegen mich erstatten.«

 

»Nein, das will ich nicht tun«, schrie Jackson. Er war entsetzt, was sein Herr wohl zu diesem kläglichen Ende der Verfolgung Jims sagen würde.

 

»Nun gut, dann bringe ich diesen Mann zur Anzeige.« Diesen Bluff hatte Jim geplant. »Ich zeige ihn an, weil er im Besitz von Waffen ist, um mich zu überfallen. Außerdem zeige ich ihn an, weil er unerlaubt Feuerwaffen trägt. Er hat keinen Erlaubnisschein.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Polizeistationen sind sehr unromantisch und langweilig. Digby Groat, der in höchster Wut dorthin kam, um seine Leute zu befreien, war so aufgeregt, daß er nicht einmal die humorvolle Seite der Sache entdeckte.

 

Vor dem Gebäude entließ er Antonio Fuentes mit einem schrecklichen Fluch und überhäufte den unglücklichen Jackson mit Vorwürfen.

 

»Sie verrückter, dummer Tölpel, ich habe Ihnen doch nur den Befehl gegeben, den Mann nicht außer Sicht zu lassen. Bronson hätte meinen Auftrag ausgeführt, ohne daß Steele auch nur das Geringste davon merkte. Warum haben Sie einen Revolver mitgenommen?«

 

»Wie konnte ich wissen, daß er einen so gemeinen Trick gegen mich ausführen würde?« brummte Jackson. »Nebenbei bemerkt, habe ich noch nicht gewußt, daß das verboten ist.«

 

Digby wußte, daß er in einer unangenehmen, sogar gefährlichen Lage war, als er in seiner Bibliothek saß und darüber nachdachte. Es war seine alte Theorie, daß große Pläne durch Kleinigkeiten über den Haufen geworfen wurden, und großzügig angelegte Verbrechen durch kleine, erbärmliche Versehen zu Fall kommen. Es war Jim gelungen, auf die einfachste und leichteste Art die Polizei gegen die Bande der Dreizehn in Bewegung zu bringen. Auf zwei Mitglieder war die Polizei nun aufmerksam geworden. Aber das schlimmste war, daß er selbst in die ganze Sache verwickelt war. Jackson war sein Hausmeister, und es konnte nicht weiter auffallen, daß er ein berechtigtes Interesse an ihm hatte. Fuentes zu kennen hatte er entschieden in Abrede gestellt, und nur weil der Spanier ein Freund seines Dieners war, hatte er auch für ihn Bürgschaft geleistet.

 

Wenn die Bande der Dreizehn einen großen Schlag führte, waren ihre Spuren so sorgsam verborgen und ihre Vorbereitungen so sorgfältig getroffen, daß niemand etwas entdecken konnte. Und hier waren nun durch eine kleine Gesetzesübertretung zwei Mitglieder der Bande unter polizeiliche Aufsicht geraten!

 

Digby Groat verbrachte eine schlaflose Nacht. Er konnte nicht einmal drei Stunden ruhen, und das war das Minimum, das er brauchte. Der Arzt, der zu Mrs. Groat gerufen wurde, blieb bis drei Uhr morgens.

 

»Sie hat keinen Schlaganfall erlitten, der Zusammenbruch ist durch einen plötzlichen Schrecken veranlaßt worden.«

 

»Da mögen Sie recht haben«, antwortete Digby. »Glauben Sie, daß sie sich wieder erholen wird?«

 

»Ach ja, es wird ihr schon morgen früh wieder besser gehen.« Digby nickte. Er hörte zu, ohne gerade besonders davon erfreut zu sein.

 

Anscheinend wuchsen die Schwierigkeiten täglich. Neue Hindernisse türmten sich ihm entgegen. Und wenn er über die Einzelheiten nachdachte, kam er immer wieder auf Jim zurück – er war an allem schuld!

 

Nachdem er am nächsten Morgen einen Winkeladvokaten angerufen und ihm die Verteidigung der beiden Leute übergeben hatte, ließ er Eunice Weldon holen.

 

»Miss Weldon«, begann er, »ich muß verschiedene Änderungen hier im Haushalt vornehmen. Ich möchte meine Mutter nächste Woche aufs Land mitnehmen. Die Luft hier in der Stadt scheint ihr nicht zu bekommen. Ich glaube nicht, daß sie sich erholen kann, wenn sie nicht eine ganz andere Umgebung bekommt.«

 

Sie nickte ernst.

 

»Ich glaube, daß ich sie nicht dorthin begleiten kann.«

 

Er sah sie scharf an.

 

»Wie meinen Sie das, Miss Weldon?«

 

»Ich habe hier nicht genügend Arbeit und mich deshalb entschlossen, wieder in meine alte Stelle zurückzugehen.«

 

»Es tut mir leid, das zu hören, Miss Weldon«, sagte er ruhig, »ich will Ihnen natürlich nichts in den Weg legen. In der letzten Zeit sind hier viel unangenehme Dinge vorgekommen, und Sie haben gerade nicht die besten Erfahrungen gemacht. Ich verstehe es vollkommen, wenn Sie Ihre Stellung bei uns aufgeben wollen. Ich hätte allerdings gern gesehen, wenn Sie noch bei meiner Mutter geblieben wären, bis sie sich auf dem Land heimisch fühlt. Aber selbst in dieser Beziehung will ich keinen Druck auf Sie ausüben.«

 

Sie hatte erwartet, daß er ärgerlich sein würde, und seine Höflichkeit machte deshalb größeren Eindruck auf sie.

 

»Ich werde Sie natürlich nicht eher verlassen, als bis ich alles getan habe, was in meinen Kräften steht«, sagte sie darum, wie er es erwartet hatte. »Und ich habe mich wirklich hier ganz wohl gefühlt, Mr. Groat.«

 

»Mr. Steele ist mir nicht sehr wohlgesinnt, nicht wahr?« fragte er lächelnd.

 

Sie machte ein abweisendes Gesicht: »Mr. Steele weiß nichts von meinen Plänen. Ich habe ihn in den letzten Tagen überhaupt nicht gesehen.«

 

Die beiden haben sich also entzweit, dachte Digby. Darüber müßte er Genaueres erfahren. Er war zu hinterhältig, um sie offen zu fragen, aber er wußte schon, daß die beiden sich am vergangenen Tage nicht getroffen hatten.

 

Eunice war froh, als die Unterredung zu Ende war und sie in Mrs. Groats Zimmer gehen konnte, die heute etwas früher nach ihr geschickt hatte.

 

Die alte Frau lag im Bett. Rücken und Arme waren durch Kissen gestützt; sie schien sich wieder gut erholt zu haben.

 

»Sie sind ziemlich lange ausgeblieben«, sagte sie vorwurfsvoll.

 

»Ihr Sohn hat mich sprechen wollen, Mrs. Groat.« Die alte Frau brummte etwas, das Eunice nicht verstehen konnte. »Machen Sie die Tür zu, und drehen Sie den Schlüssel um. Haben Sie Ihren Notizblock dabei?«

 

Eunice stellte einen Stuhl neben das Bett und war gespannt, welchen wichtigen Brief Mrs. Groat ihr diktieren würde. Sie wußte, daß die alte Frau ihre Briefe am liebsten mit der Hand schrieb und war um so mehr erstaunt.

 

»Ich möchte, daß Sie in meinem Namen einen Brief an Mary Weatherwale schreiben. Notieren Sie sich den Namen.« Die alte Frau buchstabierte. »Sie wohnt in Somerset Hill Farm, Retherley. Schreiben Sie ihr, daß ich sehr krank bin, daß sie unseren alten Streit vergessen möchte und daß ich sie bitte, hierherzukommen und mich zu besuchen. Unterstreichen Sie bitte, daß ich sehr krank bin«, sagte Jane Groat nachdrücklich. »Schreiben Sie ihr, daß ich ihr für ihre Bemühungen fünf Pfund wöchentlich geben will. Ist das zu viel?« fragte sie. »Nein, schreiben Sie lieber nichts von dem Gehalt. Dann bin ich daran gebunden, wenn sie kommt. Den Weatherwales geht es gerade nicht sehr gut. Schreiben Sie ihr, sie soll gleich kommen, unterstreichen Sie das auch, bitte.«

 

Eunice schrieb alles genau auf.

 

»Also hören Sie, Miss Weldon«, sagte Jane Groat leise. »Sie müssen den Brief schreiben, aber Sie dürfen meinem Sohn nichts davon sagen. Haben Sie mich verstanden? Bringen Sie den Brief selbst zur Post, und überlassen Sie ihn nicht diesem schrecklichen Jackson. Aber denken Sie vor allem daran, mein Sohn darf nichts davon erfahren.«

 

Eunice wunderte sich darüber, daß die alte Frau so geheimnisvoll war, aber sie führte den Auftrag gewissenhaft aus.

 

Von Jim hatte sie nichts mehr erfahren, obwohl sie vermutete, daß er der geheimnisvolle Fremde war, der Jackson in der Halle niedergeschlagen hatte. Die lange Wartezeit fiel ihr auf die Nerven. Sie achtete auf jedes Geräusch, und diese Nervosität hatte sie schließlich zu dem Entschluß veranlaßt, das Haus am Grosvenor Square zu verlassen und die weniger aufregende Tätigkeit in dem fotografischen Atelier wieder aufzunehmen.

 

Warum schrieb Jim nicht? Mit unerbittlicher Logik fragte sie sich indessen gleich darauf, warum sie denn nicht an Jim schrieb.

 

Am Nachmittag machte sie einen kleinen Spaziergang im Park und hoffte, ihn dort zu treffen. Aber obwohl sie eine ganze Stunde lang unter seinem Lieblingsbaum saß, tauchte er nicht auf, und sie kehrte niedergeschlagen und ärgerlich nach Hause zurück.

 

Eine kleine Postkarte hätte genügt, ihn hierherzubringen, aber sie konnte sich nicht überwinden, diese Postkarte zu schreiben.

 

Am nächsten Tag kam Mrs. Weatherwale, eine untersetzte, gutmütige, frisch aussehende Frau von etwa sechzig Jahren. Sie stellte ihr Gepäck unten in der Halle ab und begrüßte Eunice wie eine alte Freundin.

 

»Wie geht es dir denn, mein Liebling? Die arme, alte Jane! Ich habe sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Früher waren wir gute Freundinnen, aber sie – nun ja, wir wollen Vergangenes vergessen sein lassen. Führen Sie mich bitte in ihr Zimmer.«

 

Mrs. Weatherwale mußte sich sehr zusammennehmen, um den Schrecken zu verbergen, den sie bei dem Anblick ihrer früheren Freundin empfand.

 

»Aber, Jane, was ist denn mit dir los?«

 

»Nimm Platz, Mary. Es ist schon gut, Miss Weldon, Sie brauchen nicht zu warten.«

 

Eunice war froh, daß ihre Gegenwart nicht benötigt wurde. Als Digby Groat später am Nachmittag zurückkehrte, ging sie gerade durch die Eingangshalle. Er schaute auf das Gepäck, das noch nicht entfernt worden war, und wandte sich stirnrunzelnd an Eunice.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er. »Wem gehört denn das?«

 

»Eine Freundin von Mrs. Groat ist gekommen.«

 

»Eine Freundin meiner Mutter?« fragte er schnell. »Wissen Sie vielleicht ihren Namen?«

 

»Mrs. Weatherwale.«

 

Seine Gesichtszüge veränderten sich.

 

»Meine Mutter hat sie wahrscheinlich eingeladen«, sagte er ärgerlich, zog seine Handschuhe aus und legte sie auf den Tisch in der Halle. Dann eilte er die Treppe hinauf.

 

Was sich in dem Krankenzimmer ereignete, konnte Eunice nur vermuten. Als sie sah, daß Mrs. Weatherwale gekränkt die Treppe herunterkam, wußte sie, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Der zerdrückte Hut der Frau zitterte. Sie sah Eunice und rief sie zu sich heran.

 

»Lassen Sie mir, bitte, durch die Dienerschaft einen Wagen holen, mein Liebling. Ich gehe nach Somerset zurück. Es ist doch unerhört, daß man mich aus meinem Geschäft herausholt! Was denken Sie davon – eine Frau meines Alters und von meinem Ansehen! Hat mich doch dieser verrückte kleine Teufel von einem Jungen hinausgewiesen, den ich nicht einmal in meinem Viehhof duldete!« Sie war äußerst aufgebracht, und ihre Stimme zitterte vor berechtigtem Ärger. »Ich spreche von Ihnen«, rief sie mit lauter Stimme und schien damit jemand anzureden, den Eunice nicht sehen konnte. Anscheinend war es Digby. »Sie sind immer so eine kleine grausame Kanaille gewesen, und wenn Ihrer Mutter etwas passiert, gehe ich zur Polizei und zeige Sie an!«

 

»Es wäre besser, Sie gingen fort, bevor ich einen Polizisten hole«, schrie Digby wütend.

 

»Ich kenne Sie!« Sie drohte mit der Faust nach oben. »Ich habe Sie schon vor dreiundzwanzig Jahren gekannt, mein Junge! Ein gemeinerer und niederträchtigerer Bengel hat noch nie gelebt!«

 

Digby kam langsam die Treppe herunter. Er lächelte spöttisch. »Wirklich, Mrs. Weatherwale, Sie benehmen sich einmal wieder recht unvernünftig. Ich kann nicht dulden, daß meine Mutter sich mit Leuten Ihres Schlages abgibt. Ich bin nicht für ihren Geschmack verantwortlich, aber wohl für alles das, was hier in meinem Hause passiert.«

 

Das rosige Gesicht der Frau war dunkelrot geworden.

 

»Gewöhnlich! Sie gemeiner Ausländer! Sehen Sie, das sitzt! Ich kenne Ihr Geheimnis, Mr. Groat!«

 

Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie in diesem Augenblick leblos umgefallen. Digby machte am Fuß der Treppe kehrt, ging in sein Laboratorium und schmetterte die Tür hinter sich zu.

 

»Wenn Sie irgend etwas wissen wollen, was darin vorgeht –«, Mrs. Weatherwale zeigte auf die Tür seines Studierzimmers, »dann fragen Sie mich nur. Ich habe Briefe von seiner Mutter, als er noch ein Kind war. Die Kröte war erst so hoch, aber wenn Sie die Briefe lesen, stehen Ihnen die Haare zu Berge, mein Liebling!«

 

Als schließlich ihr Wagen kam und sie wieder abfuhr, atmete Eunice erleichtert auf.

 

Da habe ich also ein weiteres Familiengeheimnis kennengelernt, dachte sie, aber sie hatte auch schon die Knochen und schrecklichen Präparate gesehen, die Digby im Schrank aufbewahrte. Sie wäre gern fortgegangen wie Mrs. Weatherwale; doch Digby Groat hatte andere Pläne, von denen sie nichts wußte.

 

Diese Pläne reiften, und er dachte gerade wieder darüber nach, als laut an die Haustür geklopft wurde. Er ging in die Halle hinaus.

 

»War das ein Telegramm an mich?« fragte er.

 

»Nein, für mich«, sagte Eunice. Er brauchte nicht zu fragen, von wem sie eine Botschaft erhalten hatte, denn ihre leuchtenden Augen und ihr Erröten verrieten alles.

 

Kapitel 24

 

24

 

»Jim!«

 

Eunice lief mit ausgestreckten Armen quer über den grünen Rasen, obwohl sie wußte, daß die Spaziergänger im Park sie beobachteten.

 

Jim nahm ihre beiden Hände, und sie fühlte sich glücklich. Dann sprachen sie zugleich, entschuldigten sich beide, und einer unterbrach den anderen mit dem Bekenntnis eigener Reue und Zerknirschung.

 

»Jim, ich werde Mrs. Groats Haus verlassen«, sagte sie, als sie sich etwas beruhigt hatte.

 

»Gott sei Dank!«

 

»Sie sagen das ja so feierlich?« fragte sie lachend. »Glauben Sie denn wirklich, daß ich irgendwie in Gefahr war?«

 

»Ich weiß, daß Sie es noch sind.«

 

Sie hatte ihm so viel zu erzählen, daß sie nicht wußte, wo sie anfangen sollte.

 

»Waren Sie sehr traurig, daß wir uns nicht gesehen haben?«

 

»Die Tage sind tot und auf dem Kalender ausgestrichen. Aber bevor ich es vergesse – Mrs. Weatherwale ist schon wieder fort!«

 

»Mrs. Weatherwale?« fragte er erstaunt.

 

»Ach so, ich habe Ihnen die Geschichte ja noch gar nicht erzählt; ich habe Sie ja gestern nicht gesehen. Mrs. Groat hatte mir den Auftrag gegeben, an diese Frau zu schreiben. Sie ist eine alte Freundin von ihr und bat sie, zu ihr zu kommen und bei ihr zu bleiben. Ich glaube, Mrs. Groat hat große Angst vor Digby.«

 

»Und sie ist gekommen?«

 

»Ja, aber sie ist nur eine Stunde geblieben. Mr. Groat setzte sie ohne Umschweife wieder auf die Straße. In dem Hause geht es wirklich nicht sehr liebenswürdig zu. Die liebe alte Mrs. Weatherwale haßt Digby furchtbar. Sie war reizend zu mir und nannte mich ›Liebling‹.«

 

»Wer könnte Digby Groat lieben? Erzählen Sie bitte weiter. Hat sie denn irgend etwas über ihn gesagt?«

 

»Sie ist in alles eingeweiht, sie kennt auch die Geschichte von Estremeda, dadurch ändert sich übrigens doch auch die ganze Sache mit dem Testament?«

 

»Nein, Digby bleibt immer ihr Sohn. Wenn sie das Geld erst einmal besitzt, ist das ganz gleich. In dem Testament ist nicht ausdrücklich gesagt, daß er der Sohn von John Groat ist, und die Tatsache, daß er vor ihrer Ehe geboren wurde, berührt die Sache nicht.«

 

»Wann werden denn die Groats in den Besitz des großen Vermögens kommen?«

 

»Am nächsten Donnerstag«, sagte Jim mit einem schweren Seufzer. »Und ich habe noch nicht die geringste gesetzliche Handhabe, um es zu verhindern.«

 

Er hatte ihr noch nichts davon erzählt, daß er Lady Mary Danton getroffen hatte, denn das war nicht sein alleiniges Geheimnis. Auch konnte er ihr nicht mitteilen, daß Lady Mary die Dame war, die sie gewarnt hatte.

 

Als sie weiter durch den Park gingen, erkannte Eunice, daß er sich noch immer mit dem alten Problem beschäftigte.

 

»Ich habe ein ganz bestimmtes Gefühl, daß Sie selbst irgendwie mit der Dantonschen Erbschaft verknüpft sind, Eunice.«

 

Sie lachte und hängte sich an seinen Arm.

 

»Jim, wenn Sie könnten, würden Sie mich zur Königin von England machen. Und das können Sie ebensowenig, wie nachweisen, daß ich das Kind anderer Eltern bin. Ich möchte auch wirklich niemand anders sein, als die ich bin. Ich habe meine Mutter sehr lieb gehabt und habe sehr um sie getrauert, als sie starb. Auch mit meinem Vater stand ich sehr gut.«

 

»Ja, es ist eine phantastische Idee, und angesichts der Tatsachen kann ich meine Vermutung nicht aufrechterhalten. Ich habe einen Freund in Kapstadt, der auf meine Bitte hin Nachforschungen angestellt hat.«

 

»Eunice May Weldon«, sagte sie lachend. »So können Sie also Ihren schönen Traum aufgeben!« Sie wollten auf die andere Seite der Straße hinüberwechseln und warteten, bis ein Wagen vorbeigefahren war. Der Herr, der darin saß, grüßte.

 

»Wer war das?« fragte Jim.

 

»Digby Groat«, sagte sie lächelnd, »mein beinahe früherer Vorgesetzter! Aber Jim, wir wollen nicht in ein Lokal gehen, um Tee zu trinken. Könnten wir nicht in Ihre Wohnung gehen? Ich würde sie so gern einmal sehen.«

 

Er war unschlüssig.

 

»Es gehört nicht zum guten Ton, daß Junggesellen eine junge Dame zum Tee in ihre Wohnung einladen.«

 

»Ach, darüber brauchen Sie sich keine Kopfschmerzen zu machen. Das kommt jeden Tag vor, nur spricht man nicht darüber.«

 

Seine Wohnung gefiel ihr außerordentlich. Sie legte ihren Mantel ab und machte sich in der kleinen Küche zu schaffen.

 

»Sie haben mir doch erzählt, daß es eine ganz kleine Wohnung ist mit blankem Fußboden«, sagte sie vorwurfsvoll, als sie das Tischtuch auflegte. »Alles ist hier so sauber. Das haben Sie doch aber nicht alles selbst gereinigt und geputzt, all das Messinggeschirr und das Porzellan?«

 

»Eine ältere Frau kommt jeden Morgen um halb acht und bringt alles in Ordnung.«

 

»Dort fährt ein Zug!« Sie sprang auf und trat an das Fenster, als ein D-Zug am Haus vorbeifuhr. »Aber, Jim, sehen Sie doch einmal die Jungen da drüben.«

 

Quer über die Eisenbahnschienen, nur von zwei starken Masten getragen, liefen Telefondrähte, und einer der kleinen, nichtsnutzigen Kerle schwang sich Hand über Hand an den Drähten über die Eisenbahnlinie hinweg, zur größten Freude seiner Kameraden, die drüben auf der anderen Seite auf einer Mauer saßen.

 

»Dieser kleine Teufel«, sagte Jim bewundernd.

 

Ein anderer Zug kam in entgegengesetzter Richtung ebenfalls in großer Geschwindigkeit vorbei. Die Telegrafendrähte hatten unter dem Gewicht des Knaben so weit nachgegeben, daß er die Beine hochziehen mußte, um nicht die Dächer der Wagen zu berühren.

 

»Wenn die Polizei ihn erwischt«, sagte Jim, »bekommt er eine Geldstrafe von zwanzig Schilling und eine Tracht Prügel.«

 

Sie mußte lachen.

 

»Sie sind ein sonderbarer Mann«, meinte sie. Dann schauten sie beide wieder hinaus und beobachteten den Jungen, der glücklich die jenseitige Mauer erreicht hatte.

 

»Nun wollen wir aber auch unseren Tee trinken, ich muß ja wieder nach Hause.«

 

Sie hatte gerade die Tasse an ihre Lippen gesetzt, als sich die Tür öffnete und eine Frau hereintrat. Eunice hatte sie nicht kommen hören und merkte ihre Anwesenheit erst, als sie »Jim« sagte. Die Frau an der Tür war sehr schön, das sah Eunice sofort. Ihr Alter konnte man nicht erkennen, denn die Zeit hatte keine Runzeln in ihr schönes Gesicht gegraben, und die wenigen grauen Haare ließen sie nur um so interessanter erscheinen. Einen Augenblick sahen sich die beiden Frauen in die Augen.

 

»Ich komme nachher wieder. Es tut mir leid, daß ich Sie jetzt gestört habe.« Mit diesen Worten verließ die Dame das Zimmer.

 

Ein peinliches Schweigen folgte. Jim versuchte dreimal zu, sprechen und sich zu entschuldigen, aber jedesmal brach er wieder ab, da er die Unmöglichkeit einsah, Eunice alles zu erklären. Er konnte ihr doch nicht sagen, daß die Dame, die sie eben gesehen hatte, Lady Mary Danton war.

 

»Sie hat Sie Jim genannt«, sagte Eunice langsam. »Ist Sie vielleicht eine Freundin von Ihnen?«

 

»Hm, ja«, sagte er verlegen, »es ist meine Nachbarin, Mrs. Fane.«

 

»Aber Sie haben mir doch erzählt, Mrs. Fane leide an Paralyse und könnte nicht aufstehen und habe seit Jahren ihre Wohnung nicht verlassen?«

 

Jim war ratlos.

 

»Sie hat Sie Jim genannt – sind Sie sehr eng mit ihr befreundet?«

 

»O ja, wir sind gute Freunde«, erwiderte Jim heiser. »Ich möchte Ihnen erklären, Eunice –«

 

»Wie ist sie in die Wohnung gekommen?« fragte das Mädchen und runzelte die Stirn. »Sie muß doch selbst aufgeschlossen haben? Hat sie denn einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«

 

Jim wußte nicht, was er sagen sollte.

 

»Ich möchte wissen, ob sie einen Schlüssel hat, Jim!«

 

»Ja, sie hat einen Schlüssel! Ich kann Ihnen im Augenblick keine nähere Erklärung geben, Eunice, aber Sie müssen –«

 

»So, ich verstehe. Sie ist sehr schön.«

 

»Ja, sie ist wirklich schön«, erwiderte Jim, der sich immer elender fühlte. »Sehen Sie, wir haben miteinander geschäftliche Dinge zu besprechen. Und ich bin doch so häufig nicht in meiner Wohnung, und dann spricht sie von meinem Telefon aus. Sie hat nämlich kein eigenes Telefon. Verstehen Sie jetzt, Eunice?

 

»Ja, ich verstehe – und dabei nennt sie Sie Jim.«

 

»Wir sind doch gute Freunde«, rief er verzweifelt. »Eunice, Sie werden doch dieser Sache nicht eine andere Bedeutung beimessen wollen?«

 

»Teil nehme an, daß alles in Ordnung ist, Jim«, sagte sie schließlich und schob ihren Teller zurück. »Ich glaube, ich kann nicht länger bleiben. Bitte, begleiten Sie mich nicht nach Flause, ich möchte lieber allein sein. Ich kann ja einen Wagen nehmen.«

 

Jim fluchte, daß Lady Mary ausgerechnet in diesem Augenblick kommen mußte. Und er fluchte auf sich selbst, daß er nicht die ganze Sache einfach aufgeklärt hatte, selbst auf die Gefahr hin, Lady Mary zu verraten.

 

Durch seine Versuche, alles anders darzustellen, hatte er sich nur immer verdächtiger gemacht. Jetzt schwieg er ganz, als er ihr in den Mantel half.

 

»Soll ich Sie nicht doch nach Hause begleiten?« fragte er schwach.

 

Sie schüttelte nur schweigend den Kopf.

 

Als sie aus der Wohnung traten, stand die Wohnungstür von Lady Mary auf und man hörte, wie ein Telefon klingelte.

 

Eunice sah Jim ernst und traurig an.

 

»Ihre Freundin hat doch den Schlüssel zu Ihrer Wohnung, weil sie kein eigenes Telefon hat? Haben Sie das nicht vorhin gesagt?« Er antwortete nichts mehr.

 

»Ich habe niemals gedacht, daß Sie mich belügen könnten.« Er stand oben auf dem Podest und schaute ihr verzweifelt nach. Kaum war er wieder in seinem Zimmer und hatte sich in den großen Sessel geworfen, als Lady Mary eintrat.

 

»Es tut mir so leid«, sagte sie, »ich hatte keine Ahnung, daß sie hier sein würde.«

 

»Das macht nichts«, erwiderte Jim mit einem schwachen Lächeln. »Ich bin nur in furchtbare Verlegenheit gekommen, denn ich mußte ihr etwas vorlügen, und sie merkte es. Ihr scheußliches Telefon hat mich verraten, Lady Mary.«

 

»Sie haben sich sehr unklug benommen.«

 

»Warum sind Sie denn nicht geblieben? Durch Ihr Verschwinden bekam die Sache ein so sonderbares Gesicht …«

 

»Aus verschiedenen Gründen konnte ich nicht bleiben. Erinnern Sie sich, Jim, daß ich Nachforschungen nach Eunice Weldon anstellte, ganz ähnlich wie Sie?«

 

Im Augenblick interessierte sich Jim aber durchaus nicht dafür, wer Eunices Eltern waren.

 

»Sie soll doch in Rondebosch geboren sein?«

 

»Jawohl«, sagte er gleichgültig. »Sie hat mir das auch selbst gesagt.«

 

Lady Mary reichte ihm ein Telegramm über den Tisch. Er nahm es auf und las:

 

›Eunice May Weldon starb in Kapstadt im Alter von zwölf Monaten und drei Tagen und liegt auf dem Kirchhof in Rondebosch begraben, Grab Nr. 7963.‹

 

Kapitel 25

 

25

 

Jim las das Telegramm noch einmal durch. Er konnte kaum seinen Augen trauen oder den Sinn erfassen.

 

»Sie ist im Alter von zwölf Monaten begraben worden?« sagte er ungläubig. »Das ist doch unmöglich, sie ist doch hier und lebt! Außerdem habe ich neulich jemand kennengelernt, der die Weldons unten in Südafrika getroffen hat und sich noch sehr gut an. Eunice erinnern, kann, die damals noch ein Kind war. Ein Fall von Kindesunterschiebung kann hier doch nicht vorliegen.«

 

»Die Sache ist ganz rätselhaft«, erwiderte Lady Mary sanft, als sie das Telegramm wieder in ihre Handtasche steckte.

 

»Aber ich weiß, daß der Mann, der mir dieses Telegramm sandte, einer der vertrauenswürdigsten Detektive in Südafrika ist.«

 

Jims Gedanken wirbelten durcheinander.

 

Eunice Weldon wurde geboren, Eunice Weldon starb, und doch lebte Eunice Weldon im Augenblick und war frisch und munter, obgleich sie gerade jetzt wünschte, lieber tot zu sein. Jim stützte den Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hand.

 

»Ich muß gestehen, daß ich vollkommen verwirrt bin. Dann muß man wohl annehmen, daß die Eltern nach dem Tod ihrer eigenen Tochter ein anderes Kind angenommen haben, und zwar Eunice. Die Frage ist nur, woher sie kam. Ihr selbst ist nichts von einer Adoption bekannt.«

 

»Ich habe bereits an meinen Agenten in diesem Sinne gekabelt und ihm den Auftrag gegeben, über eine eventuelle Adoption zu berichten. Durch die letzten Ereignisse gewinnt die alte Annahme wieder an Glaubwürdigkeit.«

 

Er sah sie an. »Sie meinen, daß Eunice Ihre Tochter sein könnte?«

 

Sie nickte langsam.

 

»Aber von der Narbe an ihrer Hand wissen Sie nichts?«

 

»Das kann ja später passiert sein – nachdem ich sie aus den Augen verlor.«

 

»Wollen Sie mir nicht erklären, Lady Mary, wann Sie sich von Ihrer Tochter trennten?«

 

»Nein, noch nicht.«

 

»Aber vielleicht können Sie mir ein andere Frage beantworten. Kennen Sie Mrs. Groat?«

 

»Ja.«

 

»Kennen Sie auch eine Mrs. Weatherwale?«

 

Lady Mary sah ihn mit großen Augen an.

 

»Ja, ich kenne sie. Sie war eine Farmerstochter, die Jane sehr zugetan war, eine liebenswürdige und nette Frau; ich habe mich oft darüber gewundert, wie Jane zu dieser Freundschaft kam.«

 

Jim erzählte ihr, was er von den letzten Vorgängen in der Familie Groat erfahren hatte.

 

»Wir wollen unsere Karten soweit wie möglich aufdecken«, sagte sie schließlich. »Glauben Sie, daß Jane Groat irgendwie an dem Verschwinden meiner Tochter mitverantwortlich ist?«

 

»Offen gestanden, ja«, erwiderte Jim, »Und wie denken Sie darüber, Lady Mary?«

 

»Ich war früher auch dieser Ansicht. Aber nach den Nachforschungen, die ich anstellte, hat sie nichts damit zu tun. Sie hat zwar einen sehr bösen Charakter und ist niederträchtiger und gemeiner als irgendeine Frau, die ich sonst kennenlernte, aber sie war doch nicht so schlecht, daß sie an dem Geschick meiner kleinen Tochter Dorothy schuld wäre.«

 

»Können Sie mir nicht noch mehr über sie erzählen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Aber vielleicht könnten Sie mir doch eine Aufklärung geben, die meine Nachforschungen erleichtert?«

 

»Bis jetzt kann ich nichts weiter sagen«, entgegnete sie leise, erhob sich und verließ das Zimmer, ohne sich zu verabschieden.

 

Jim war wieder ganz bei der Sache. Das neue Telegramm aus Südafrika zeigte ihm die ganze Frage in einem anderen Licht, und das Zerwürfnis mit Eunice war im Vergleich damit vollständig bedeutungslos. Wenn sie nun doch Lady Marys Tochter wäre! Er atmete schwer bei dem Gedanken an die Konsequenzen dieser Möglichkeit, obwohl er sie schon früher überlegt hatte.

 

Sicher hätte Mrs. Groat das ganze Geheimnis aufklären können, aber jeder Versuch, den er gemacht hatte, Einzelheiten über ihr Vorleben zu erfahren, war vergeblich gewesen. Entweder wußten die Leute, die sie früher gekannt hatten, nichts davon, oder sie wollten nichts darüber aussagen.

 

*

 

Es war wenig Aussicht vorhanden, Mr. Septimus Salter noch im Büro zu treffen, und so ging Jim in seine Garage, wo er seinen kleinen Wagen untergestellt hatte, und fuhr nach Chislehurst, wo Mr. Salter wohnte.

 

Der alte Herr war allein zu Haus, und Jim wurde liebenswürdiger empfangen, als er erwartet hatte.

 

»Sie bleiben natürlich zum Dinner bei mir«, sagte der Rechtsanwalt.

 

»Nein, ich danke Ihnen. Ich bin in großer Eile. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie Mrs. Weatherwale kennen?«

 

Der Rechtsanwalt runzelte die Stirn.

 

»Weatherwale – Weatherwale? Ja, ich kann mich auf den Namen besinnen; sie wird in dem Testament von Mrs. Groat erwähnt. Ich glaube, sie hat ihr ein Legat von mehreren hundert Pfund vermacht. Der Vater war ein alter Pächter der Dantons.«

 

»Ja, das ist die Frau«, sagte Jim und erzählte seinem Chef alles, was er von dem Besuch Mrs. Weatherwales erfahren hatte.

 

»Das zeigt nur«, sagte Mr. Salter, »daß die schrecklichsten Geheimnisse, die wir Rechtsanwälte in den tiefsten Tiefen der Aktenschränke und in Stahlkammern gesichert glauben, allgemein bekannt sind. Also nun hören Sie, Jim. Estremeda ist natürlich der spanische Gesandtschaftsattaché, der im Hause Dantons ein und aus ging, als Jane noch ein schönes Mädchen war. Er ist der Vater Digby Groats, seine Mutter war leidenschaftlich in den Spanier verliebt. Ich wußte schon längst, daß sie in irgendeinen Skandal verwickelt war, aber jetzt sehe ich ganz genau, warum ihr Vater niemals mehr mit ihr gesprochen hat und warum er sie enterbte. Trotzdem bin ich sicher, daß ihr Bruder Jonathan Danton nichts von ihren Fehltritten wußte, sonst hätte er ihr keinen Pfennig hinterlassen. Er war in diesem Punkt ebenso unbeugsam wie die anderen Dantons. Sein Vater hat ihm offenbar nichts davon mitgeteilt. Eine merkwürdige Sache, wirklich sehr merkwürdig! Was wollen Sie denn nun weiter tun?«

 

»Ich werde Mrs. Weatherwale in Somerset aufsuchen; vielleicht kann ich durch eine Unterhaltung mit ihr neue Tatsachen herausbekommen.«

 

Kapitel 26

 

26

 

Jim war noch schläfrig und wenig zuversichtlich, als der Wecker am nächsten Morgen um sechs Uhr rasselte. Aber, als er aufgestanden war und daran dachte, welch neue Überraschungen und Enthüllungen der Tag bringen konnte, freute er sich auf seine kleine Reise.

 

Er nahm den Personenzug, der um sieben Uhr von Paddington abfuhr, und erreichte die nächste Station, in deren Nähe Mrs. Weatherwales Wohnung lag.

 

Er hatte noch nicht gefrühstückt und ging deshalb in das Gasthaus des Ortes; wo ihm die Wirtin Schinken und Eier bereitete, ohne die ein Engländer nicht leben kann.

 

Hill Farm war ein kleines Bauerngut, auf dem hauptsächlich Gemüse gezogen wurde. Als Jim sich erkundigte, erfuhr er, daß Mr. Weatherwale schon vor zwölf Jahren gestorben war. Aber die Frau hatte einen Sohn, der ihr bei der Bewirtschaftung des Gütchens half. Alles das hörte Jim in dem kleinen Gasthaus des Ortes.

 

Jim fand Mrs. Weatherwale beim Buttern.

 

»Ich möchte nicht über Jane Groat sprechen«, sagte sie entschieden, als er den Zweck seines Besuches erwähnte. »Ich werde ihrem Sohn niemals die Beleidigung vergeben, die er mir zugefügt hat. Es ist doch keine Kleinigkeit für mich – ich habe alles liegen und stehen lassen und extra eine Frau angenommen, die meine Arbeit tun und meinem Sohn während meiner Abwesenheit die Wirtschaft hier führen sollte. Und schließlich hat doch die Fahrt nach London auch etwas gekostet.«

 

»Das kann doch aber alles wieder in Ordnung gebracht werden«, sagte Jim lachend. »Mr. Digby Groat wird Ihnen das sicher alles ersetzen.«

 

»Sind Sie ein Freund von ihm?« fragte sie. »Wenn Sie das sind –«

 

»Nein, ich bin nicht sein Freund«, erklärte Jim. »Im Gegenteil, ich kann ihn ebensowenig leiden wie Sie.«

 

»Das ist nicht recht möglich, denn ich würde lieber noch dem Teufel begegnen als diesem gelbgesichtigen Affen.«

 

Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab und führte ihn in das kleine, sonnige Wohnzimmer. »Nehmen Sie bitte hier Platz«, sagte sie in etwas rauhem Ton und zeigte auf einen Sitz am Fenster, der mit hellgrünem Kattun überzogen war. »Nun erzählen Sie mir, was Sie eigentlich wollen.«

 

»Ich möchte etwas von Jane Groats Jugendjahren erfahren. Mit wem war sie befreundet, und was wissen Sie von Digby Groat?«

 

»Darüber kann ich Ihnen nicht viel sagen. Ihr Vater, der alte Danton, war der Eigentümer von Kennett Hall. Sie können es von hier aus sehen.« Sie zeigte über die Felder hinweg zu alten, grauen Gebäuden, die oben auf dem Hügel lagen. »Jane kam sehr häufig zu uns. Mein Vater hatte damals ein größeres Gut. Ganz Holyblok Hill gehörte ihm. Aber er hat viel Geld bei den verdammten Rennwetten verloren …! Wir beide freundeten uns sehr an. Ich gebe zu, daß das ganz ungewöhnlich war, denn sie war ein Mädchen aus vornehmem, reichem Hause, und ich war nur ein armes Farmerkind. Aber wir verstanden uns ganz gut, und ich habe später noch viele Briefe von ihr erhalten. Aber heute morgen habe ich sie verbrannt.«

 

»Sie haben sie verbrannt?« fragte Jim enttäuscht. »Ich hoffte gerade, daß ich verschiedenes darin fände, was ich dringend wissen wollte!«

 

»Ich glaube nicht, daß Sie darin irgend etwas finden konnten. Es standen nur viele, verrückte Dinge über einen Spanier darin, in den sie sich restlos verliebt hatte.«

 

»Meinen Sie den Marquis von Estremeda?«

 

»Mag sein – mag auch nicht sein. Ich will in meinen alten Tagen nicht mehr klatschen, besonders nicht über meine Freundin. Wir haben alle unsere Streiche hinter uns. Auch Sie werden sie noch machen, wenn ich so sagen darf. Nun, Mr. – ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt.«

 

»Steele«, antwortete Jim geduldig.

 

»Nun, da fällt mir ein, es war doch ein so nettes Mädchen in dem Haus. Wie kann Jane nur gestatten, daß ein so liebes Ding mit diesem Scheusal von Digby in Berührung kommt? Aber das wollte ich nur nebenbei erwähnen. Die Briefe habe ich alle verbrannt, nur ein paar habe ich zurückbehalten. Ich hob sie auf zum Beweis, daß ein Junge seinen Charakter nicht ändert, wenn er aufwächst. Es ist ja möglich«, sagte sie halb scherzend, »daß die Zeitungsreporter die Briefe noch brauchen können und mir etwas Geld dafür geben, wenn Digby an den Galgen kommt.«

 

Jim lachte. Ihre gute Stimmung steckte ihn an. Sie ließ ihn kurze Zeit allein und kam dann mit einem kleinen Kasten zurück.

 

»Wissen Sie denn nichts von Digby Groats früherem Leben?«

 

»Ich kannte ihn nur als Jungen. Er war ein schlechter, gemeiner, kleiner Teufel. Er hat früher immer zum Vergnügen den Fliegen die Beine ausgerissen. Ich glaubte, daß das nur in Geschichtsbüchern vorkomme, aber ich habe selbst gesehen, wie er es tat. Wissen Sie, was sein Hauptvergnügen war?«

 

»Nein«, erwiderte Jim lächelnd. »Aber es ist sicher etwas recht Niederträchtiges!«

 

»Er kam jeden Freitag nachmittag zu Johnsons Farm und sah zu, wie die Schweine für den Markt geschlachtet wurden. Einen so gemeinen Charakter hatte er!« Sie nahm ein Bündel verblaßter Briefe aus dem Kasten heraus, setzte ihre große, alte Stahlbrille auf und las darin.

 

»Hier ist so einer, aus dem Sie ganz deutlich sehen können, was für ein Junge er war: … ›Ich habe Digby heute schlagen müssen, denn er hat dem kleinen Kätzchen eine Schnur von Feuerwerksfröschen um den Hals gebunden und sie dann angesteckt. Das arme, kleine Ding war so schwer verbrannt, daß ich es töten lassen mußte.‹ Das war charakteristisch für Digby«, sagte Mrs. Weatherwale und schaute über das Glas. »Ich habe keinen Brief von ihr bekommen, in dem sie nicht aus dem einen oder anderen Grund über Digby klagen mußte.« Sie las leise für sich weiter und sprach nur halblaut einige Worte vor sich hin. Aber Jim hörte plötzlich das Wort ›Baby‹ fallen.

 

»Was für ein Baby war denn das?«

 

Sie schaute zu ihm auf.

 

»Das war nicht ihr Kind«, sagte sie.

 

»Wem gehörte es denn?«

 

»Das war ein Kind, das ihrer Pflege anvertraut war.«

 

»War es vielleicht das Kind ihrer Schwägerin?«

 

Die alte Frau nickte.

 

»Ja, es gehörte Lady Mary Danton. Das arme, kleine Ding – er hat ihr etwas Schreckliches angetan.«

 

Jim wagte nichts zu sagen, und ohne daß er sie aufforderte, sprach Mrs. Weatherwale weiter.

 

»Ich will Ihnen noch eine Stelle vorlesen, aus der Sie deutlich sehen können, wie schlecht der kleine Digby war: … ›Auch heute mußte ich Digby wieder bestrafen. Der nichtsnutzige Schlingel ist furchtbar grausam. Denke dir doch, er hat ein Halbschillingstück in der Flamme erhitzt und es dem armen Kind auf das Handgelenk gedrückt.‹«

 

»Großer Gott«, rief Jim. Er war bleich geworden.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Warum sind Sie denn so aufgeregt?«

 

Also daher stammte diese Narbe, und das Dantonsche Millionenvermögen erbte nicht Digby Groat oder seine Mutter, sondern das Mädchen, das die Welt jetzt unter dem Namen Eunice Weldon kannte, das aber in Wirklichkeit Dorothy Danton hieß!

 

Kapitel 19

 

19

 

»Wer sind Sie, und was wünschen Sie?« fragte sie.

 

Er sah, wie sie ihre Hand senkte.

 

»Ach, Mr. Steele«, sagte sie, als sie ihn erkannt hatte.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe«, erwiderte Jim und schloß die Tür hinter sich, »aber ich möchte Sie dringend sprechen.«

 

»Nehmen Sie bitte Platz. Haben Sie mein« – sie zögerte – »mein Gesicht gesehen?«

 

Er nickte ernst.

 

»Jawohl, ich kenne Sie – Sie sind Mrs. Fane«, sagte er ruhig.

 

Langsam hob sie ihre Hand und nahm den Schleier ab. »Ja, ich bin Mrs. Fane. Sie denken vielleicht, daß ich Sie in hinterhältiger Weise täuschen wollte; aber, ich habe meine Gründe – schwerwiegende Gründe –, warum ich mich tagsüber nicht sehen lasse. Ich wünsche nicht erkannt zu werden als die Frau, die nachts ausgeht.«

 

»Dann waren Sie es, die den Schlüssel in meinem Buch zurückließen.«

 

Sie nickte und sah ihn an.

 

»Ich fürchte, daß ich Ihnen nicht viel sagen kann, weil ich in diesem Augenblick noch nicht darauf vorbereitet bin, weitere Auskünfte zu geben. Es ist überhaupt nicht viel, was ich Ihnen sagen könnte.«

 

Vor wenigen Minuten hatte er noch daran gedacht, wie schön es wäre, ihr seinen ganzen Kummer anvertrauen zu dürfen. Es kam ihm so unwirklich vor, daß er um diese mitternächtliche Stunde nun mit ihr in einem so prosaischen Büro zusammentraf und mit ihr sprach. Er sah auf ihre zarten, weißen Hände und lächelte. Sie hatte schnell seinen Gedankengang erraten.

 

»Sie dachten eben an die ›Blaue Hand‹?«

 

»Ja, ich dachte daran.«

 

»Vielleicht glauben Sie, daß es reine Schikane ist und daß diese Hand keine Bedeutung hat?«

 

»Merkwürdigerweise denke ich das nicht. Ich vermute hinter diesem Symbol eine sehr interessante Geschichte. Aber erzählen Sie sie mir nur, wenn Sie es an der Zeit halten, Mrs. Fane.«

 

Sie ging im Raum auf und ab, tief in Gedanken versunken. Er wartete gespannt, wie sich dieses Abenteuer weiterentwickeln würde.

 

»Sie sind hierhergekommen, weil Sie aus Südafrika die Nachricht erhielten, daß ich Nachforschungen nach dem Mädchen angestellt habe. – Befindet sie sich denn nicht in Gefahr?«

 

»Nein, im Augenblick bin nur ich in Gefahr, weil ich sie über alle Maßen beleidigt habe.«

 

Sie sah ihn scharf an, aber sie fragte nicht nach einer weiteren Erklärung.

 

»Wenn sie meine Warnungen für bedeutungslos hält, könnte ich sie nicht tadeln«, sagte sie nach einer Pause. »Aber ich mußte sie in einer Weise verständigen, die Eindruck auf sie macht.«

 

»Ich kann bei der ganzen Angelegenheit eines nicht verstehen, Mrs. Fane. Wenn nun Eunice diesem Digby Groat etwas von dieser Warnung gesagt hätte –«

 

»Er weiß davon«, erwiderte sie ruhig. Jim erinnerte sich an das Zeichen der blauen Hand an der Tür des Laboratoriums. »Aber er kann die tiefere Bedeutung nicht verstehen. Ich wollte nicht, daß Eunice ein Unglück zustößt.«

 

»Haben Sie einen Grund, daß Sie sie beschützen möchten?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Vor einem Monat glaubte ich es noch. Ich vermutete, daß sie jemand sei, den ich seit langer Zeit suche. Ein Zufall und eine flüchtige Ähnlichkeit führten mich auf ihre Spur. Aber sie war nur ein Schatten, wie alle die anderen, denen ich nachjagte«, sagte sie mit bitterem Lächeln. »Sie interessierte mich. Ihre Schönheit, ihre Unbefangenheit, ihr kindliches Gemüt und ihr guter Charakter haben tiefen Eindruck auf mich gemacht, obgleich ich jetzt weiß, daß sie nicht die ist, die ich suche. Sie scheinen sich ja auch sehr für sie zu interessieren, Mr. Steele?« Sie sah ihn forschend an.

 

»O ja, ich interessiere mich stark für sie.«

 

»Lieben Sie Eunice?«

 

Die Frage kam ihm so unerwartet, daß es ihm unmöglich war, gleich zu antworten. Er war ein schweigsamer und zurückhaltender Mann, der nicht über seine Gefühle sprechen konnte.

 

»Wenn Sie Eunice nicht wahr und aufrichtig lieben, so kränken Sie sie nicht, Mr. Steele. Sie ist noch sehr jung, und sie ist zu schade dazu, einem Mann ein vorübergehendes Abenteuer zu sein, wie Mr. Groat das beabsichtigt.«

 

»Wie? Das will er tun?« fragte Jim empört.

 

Sie nickte.

 

»Es liegt noch eine große Zukunft vor Ihnen, und ich hoffe, daß Sie Ihre Karriere nicht ruinieren, nur weil Sie im Moment einem Phantom nacheilen, das Ihnen die wahre Liebe zu sein scheint.«

 

Er schaute auf und sah in ihr Gesicht. Sie hatte eindringlich gesprochen, und ein feines Rot lag auf ihrem Gesicht. Er dachte, daß er außer Eunice noch niemals eine so schöne Frau gesehen hätte.

 

»Ich bin jetzt am Ende meiner vielen Nachforschungen angekommen«, fuhr sie fort. »Und wenn wir erst Digby Groat und seine Mutter zur Verantwortung gezogen haben, ist meine Aufgabe gelöst.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe weiter keine Hoffnung im Leben, nichts, wofür ich leben könnte.«

 

»Worauf hatten Sie denn gehofft?«

 

»Zu finden, was ich suchte. Aber ich war töricht genug, etwas zu suchen, daß außer jeder Reichweite ist. Und ich muß für die Jahre, die mir noch zu leben übrigbleiben, mit dem zufrieden sein, was mir Gott schenkt. Dreiundvierzig Jahre umsonst gelebt!« Sie streckte die Arme mit einer leidenschaftlichen Bewegung aus. »Dreiundvierzig Jahre habe ich gelitten. Meine Kindheit war arm an Liebe, meine Ehe war trostlos und eine bittere Enttäuschung. Ich habe alles verloren, Mr. Steele, alles! Meinen Mann, mein Kind und meine Hoffnung.«

 

»Großer Gott«, sagte er plötzlich, »dann sind Sie –«

 

»Ich bin Lady Mary Danton.« Sie sah ihn fest an. »Ich dachte, Sie hätten es schon längst vermutet.«

 

Jim erschrak. »Lady Mary Danton!«

 

»Dann war sie also gefunden, dachte Jim enttäuscht. Das war ein sonderbares Ende seiner Untersuchungen, das ihm keine Belohnung und kein Avancement brachte, und beides brauchte er doch so bitter.

 

»Sie sehen enttäuscht aus«, sagte sie. »Sie hatten sich doch als Ziel gesetzt, Lady Mary zu finden?«

 

Er nickte.

 

»Nun haben Sie sie gefunden; erscheint sie Ihnen weniger anziehend, als Sie sich eingebildet haben?«

 

Er antwortete nicht. Er konnte ihr doch nicht sagen, daß er eigentlich nach ihrem toten Kind gesucht hatte.

 

»Wissen Sie auch, daß ich Sie monatelang jeden Tag gesehen habe, Mr. Steele? Ich habe in Eisenbahnzügen an Ihrer Seite gesessen, in der Untergrundbahn, ich habe im Lift neben Ihnen gestanden«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. »Ich habe Sie überwacht, und ich habe Ihren Charakter studiert. Und ich habe Sie liebgewonnen.« Das letzte betonte sie besonders, und ihre schöne Hand ruhte einen Augenblick auf seiner Schulter. »Prüfen Sie sich wegen Eunice, und wenn Sie finden, daß Ihre Gefühle nicht ernst sind, dann erinnern Sie sich daran, daß diese Welt groß ist und daß Sie Ihr Glück auch sonst noch finden können und werden.«

 

»Ich liebe Eunice«, erwiderte Jim ruhig. Sie nahm ihre Hand wieder von seiner Schulter. »Ich liebe sie, wie ich nie wieder eine andere Frau lieben werde. Sie ist der Anfang und das Ende aller meiner Träume.« Er schaute nicht auf, aber er konnte hören, daß sie schneller atmete.

 

»Ich dachte mir, daß es so ist«, sagte sie dann leise.

 

Jim richtete sich plötzlich auf und sah sie offen an.

 

»Lady Mary, haben Sie die Hoffnung ganz aufgegeben, Ihre Tochter jemals wiederzufinden?«

 

Sie nickte. »Wenn nun Eunice Ihre Tochter wäre – würden Sie sie mir geben?«

 

Sie hob den Blick zu ihm.

 

»Ich würde dankbar sein, wenn ich sie Ihnen anvertrauen könnte. Sie sind der einzige Mann in der Welt, dem ich gern ein Mädchen anvertrauen würde, das ich liebe. Aber auch Sie jagen hinter einem Schatten her. Eunice ist nicht mein Kind. Ich habe mich nach ihren Eltern erkundigt, und es besteht kein Zweifel in dieser Frage. Sie ist die Tochter eines Musikers in Südafrika.«

 

»Haben Sie die Narbe an ihrem Handgelenk gesehen?« fragte er langsam. Es war seine letzte Hoffnung, daß sie sie daran erkennen würde, und als sie traurig den Kopf schüttelte, verlor er den Mut.

 

»Es ist mir ganz unbekannt, daß sie eine Narbe am Handgelenk hatte. Wie sieht sie denn aus?«

 

»Es ist ein kreisrundes, kleines Brandmal, so groß wie ein Halbschillingstück.«

 

»Dorothy hatte keine solche Narbe, sie war fleckenlos am ganzen Körper. Glauben Sie mir, Mr. Steele, Ihre Nachforschungen sind vergeblich, sie sind ebenso sinn- und zwecklos wie die meinen. Nun will ich Ihnen noch etwas von mir selbst erzählen«, sagte sie. »Aber ich werde Ihnen noch nicht das Geheimnis entschleiern, wie ich verschwand – das hat noch Zeit. Dieser Gebäudeblock gehört mir. Mein Mann kaufte ihn und schenkte ihn mir in einer großmütigen Anwandlung einen Tag später. Er gehörte schon damals mir, als alle Leute glaubten, daß er sein Eigentum sei. Im allgemeinen war er nicht großzügig und edelmütig, aber ich will Ihnen nichts davon erzählen, wie er mich behandelte. Von den Einkünften dieses Besitzes hatte ich genügend zu leben, und außerdem besitze ich ein Vermögen, das ich von meinem Vater erbte. Meine Familie war sehr arm, als ich Mr. Danton heiratete; aber kurze Zeit darauf starb ein Vetter meines Vaters, Lord Pethingham, und mein Vater erbte dessen großes Vermögen. Der größte Teil fiel später an mich.«

 

»Wer ist denn Madge Benson?«

 

»Müssen Sie das wissen? Sie bedient mich.«

 

»Warum war sie denn im Gefängnis?«

 

Lady Mary preßte die Lippen zusammen.

 

»Sie müssen mir versprechen, mich nicht über die Vergangenheit auszufragen, bis ich Ihnen selbst davon erzähle, Mr. Steele. Und jetzt können Sie mich nach Hause begleiten.« Sie sah sich im Zimmer um. »Gewöhnlich erhalte ich hier ein Dutzend Telegramme, die ich beantworten muß. Ein vertrauenswürdiger Sekretär kommt jeden Morgen und bringt die Telegramme zur Post, die ich hier zurücklasse. Ich habt alle Behörden von Buenos Aires bis Schanghai in Bewegung gesetzt und ich bin so müde – so furchtbar müde! – Aber noch ist meine Arbeit nicht zu Ende«, fuhr Lady Mary fort, und ihre Stimme wurde plötzlich hart und entschlossen. »Noch haben wir eine harte Arbeit vor uns, Jim –« sie gebrauchte seinen Vornamen schüchtern und lächelte wie ein Kind, als sie sah, daß er rot wurde. »Selbst Eunice wird nichts dagegen haben, wenn ich Jim sage – es ist doch ein so hübscher Name!«

 

Er wollte sie gerade fragen, warum sie denn in einer so unansehnlichen Wohnung lebte, die obendrein noch an der Eisenbahn lag, wenn sie ein so großes Vermögen besaß; aber er ahnte, daß sie ihm doch nur eine unbefriedigende Antwort geben würde.

 

Er verabschiedete sich von ihr an ihrer Wohnungstür.

 

»Gute Nacht, Frau Nachbarin«, sagte er lächelnd.

 

»Gute Nacht, Jim«, erwiderte sie leise.

 

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen, saß Jim immer noch in seinem großen Sessel und dachte über alles nach, was er in dieser Nacht erlebt hatte.

 

Kapitel 2

 

2

 

Mr. Salter schaute mit einem humorvollen Lächeln in den Augen auf.

 

»Ja«, sagte er nur kurz und wandte sich zu Jim, der schnell das Büro verlassen wollte. »Sie können ruhig hierbleiben, Steele. Mr. Groat schrieb mir, daß er die Akten durchsehen will, und wahrscheinlich müssen Sie ihn zur Stahlkammer führen.«

 

Jim sagte nichts.

 

Der Schreiber öffnete die Tür für einen elegant gekleideten jungen Herrn.

 

Jim kannte ihn schon von früher, aber je öfter er ihn sah, desto weniger konnte er ihn leiden. Er hätte mit geschlossenen Augen das schmale, wenig freundliche Gesicht mit dem kurzen, schwarzen Schnurrbart, die müden Augen, die blasierten Züge, das große, vorstehende Kinn und die etwas abstehenden Ohren malen können, wenn er Zeichner gewesen wäre. Und doch machte Digby Groat in mancher Beziehung einen guten Eindruck, das konnte selbst Jim nicht bestreiten. Er mußte einen erstklassigen Kammerdiener haben, denn von seiner tadellos glänzenden Frisur bis zu den blitzblanken Schuhen war nichts an seiner Erscheinung auszusetzen. Sein Anzug war nach dem modernsten Schnitt gearbeitet und stand ihm außerordentlich gut. Als er ins Zimmer trat, verbreitete sich ein leiser Duft von Quelques Fleurs. Jim verzog die Nase. Er haßte Männer, die sich parfümierten, so dezent sie es auch tun mochten.

 

Digby Groat schaute von dem Rechtsanwalt zu Steele, und in seinen dunklen Augen lag jener nachlässige und doch so unverschämte Ausdruck, den weder der Rechtsanwalt noch sein Sekretär vertrugen.

 

»Guten Morgen, Salter«, sagte er.

 

Er zog ein seidenes Taschentuch hervor, staubte einen Stuhl damit ab und nahm Platz, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Seine Hände, die in zitronengelben Handschuhen steckten, ruhten auf dem goldenen Knopf eines Ebenholzspazierstockes.

 

»Sie kennen Mr. Stelle, meinen Sekretär?«

 

Der andere nickte.

 

»Ach ja, er war doch früher Offizier und hat das Viktoriakreuz erhalten?« fragte Digby müde. »Vermutlich finden Sie es jetzt sehr öde hier, Steele? Eine solche Stelle würde mich zu Tode langweilen.«

 

»Das glaube ich auch. Aber wenn Sie sich an der Front den Wind hätten um die Nase wehen lassen, gefiele Ihnen die himmlische Ruhe dieses Büros sehr.«

 

»Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Digby kurz. Er fühlte sich peinlich dadurch berührt, daß Jim erwähnte, daß er nicht im Felde gewesen war.

 

»Nun. Dr. Groat –«, begann der Anwalt, aber der elegante junge Mann unterbrach Salter durch eine Geste.

 

»Nennen Sie mich bitte nicht Doktor«, sagte er mit einem schmerzlichen Ausdruck. »Vergessen Sie, daß ich ein medizinisches Studium durchgemacht habe und mein Examen als Chirurg bestand. Ich tat das nur zu meiner eigenen Befriedigung, und es wäre mir sehr unangenehm, eine Praxis ausüben zu müssen. Ich würde es nicht aushalten, zu jeder Tages- und Nachtzeit von Patienten gestört zu werden.«

 

Für Jim war es eine Neuigkeit, daß dieser Stutzer einen medizinischen Grad erworben hatte.

 

»Ich bin hierhergekommen, um die Pachtverträge der Besitzungen in Cumberland einzusehen, Salter«, fuhr Groat fort. »Es ist mir ein Angebot gemacht worden – ich sollte eigentlich sagen, es ist meiner Mutter ein Angebot gemacht worden, und zwar von einem Syndikat, das ein großes Hotel dort errichten will. Soviel ich weiß, ist eine Klausel in den Verträgen, die einen solchen Bau verhindert. Wenn es so ist, war es niederträchtig gedankenlos von dem alten Danton, solche Ländereien zu erwerben.«

 

»Mr. Danton tat nichts Gedankenloses und nichts Niederträchtiges«, entgegnete Salter ruhig. »Wenn Sie diese Frage in Ihrem Brief erwähnt hätten, würde ich Ihnen telefonisch darüber Auskunft gegeben haben, und Sie hätten sich nicht hierher bemühen müssen. Aber da Sie nun einmal hier sind, wird Sie Steele zur Stahlkammer führen. Dort können Sie die Pachtverträge einsehen.«

 

Groat sah argwöhnisch zu Jim hinüber.

 

»Versteht er denn etwas von Pachtverträgen?« fragte er. »Und muß ich denn tatsächlich in Ihren schrecklichen Keller hinuntersteigen, um mich auf den Tod zu erkälten? Können die Akten denn nicht für mich heraufgebracht werden?«

 

»Wenn Sie so liebenswürdig sind, in Steeles Zimmer zu gehen, kann er sie Ihnen ja dorthin bringen«, entgegnete Salter, der Mr. Groat ebensowenig liebte wie sein Sekretär. Außerdem hatte er den nicht unbegründeten Verdacht, daß sich die Groats in dem Augenblick, in dem sie in den Besitz des Dantonschen Vermögens kämen, einen anderen Rechtsanwalt zur Verwaltung ihres Eigentums wählen würden.

 

Jim nahm die Schlüssel und kehrte bald mit einem Paket Akten wieder zu seinem Chef zurück.

 

Mr. Groat hatte das Büro Mr. Salters verlassen und saß schon in Jims eigenem kleinen Zimmer.

 

»Erklären Sie Mr. Groat alles, was er über die Pachtbriefe wissen will. Wenn Sie mich dazu brauchen, dann rufen Sie mich.«

 

Jim fand Digby in seinem Raum. Er blätterte in einem Buch, das er sich genommen hatte.

 

»Was bedeutet denn Daktyloskopie?« fragte er und sah zu Jim auf, als er eintrat. »Das Buch handelt von diesem Gegenstand.«

 

»Das ist die Lehre von den Fingerabdrücken«, sagte Jim kurz. Er haßte diese anmaßende Art und war sehr ärgerlich, daß Mr. Groat eines seiner Privatbücher genommen hatte.

 

»Interessieren Sie sich denn für dergleichen?« fragte Groat und stellte den Band wieder an seinen Platz zurück.

 

»Ein wenig. Hier sind die gewünschten Pachtbriefe. Ich habe sie eben oberflächlich durchgesehen. Es gibt keine Klausel darin, die die Errichtung eines Hotels ausschließen könnte.«

 

Groat nahm die Dokumente in die Hand und sah sie Seite für Seite durch.

 

»Nein«, sagte er schließlich, »es steht nichts davon da – Sie haben recht.« Bei diesen Worten legte er das Aktenstück auf den Tisch zurück. »Sie interessieren sich also für Fingerabdrücke? Ich wußte noch nicht, daß sich der alte Salter auch mit Strafprozessen abgibt. – Was ist denn das?«

 

Neben Jims Schreibtisch stand ein Bücherbrett, das mit schwarzen Heften gefüllt war.

 

»Das sind meine Privatnotizen«, erklärte Jim.

 

Digby wandte sich mit einem maliziösen Lächeln um.

 

»Worüber machen Sie sich denn Notizen?« fragte er, und bevor ihn Jim daran hindern könnte, hatte er eins der Hefte in der Hand.

 

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie doch bitten, mein Privateigentum in Ruhe zu lassen«, sagte Jim entschieden.

 

»Tut mir leid – ich dachte, alle Dinge in Salters Kanzlei hätten mit seinen Klienten zu tun.«

 

»Sie sind eben nicht der einzige Klient«, entgegnete Jim. Er konnte sich im allgemeinen gut beherrschen, aber dieser anmaßende Mensch fiel ihm auf die Nerven.

 

»Wozu machen Sie denn das alles?« fragte Groat, als er Seite für Seite umblätterte.

 

Jim stand Mr. Groat am Schreibtisch gegenüber und beobachtete ihn scharf. Plötzlich sah er, daß das gelbe Gesicht des anderen einen Schein dunkler und der Blick der schwarzen Augen hart wurde.

 

»Was bedeutet das?« fragte Groat scharf. »Was, zum Teufel, haben Sie –« Er hielt inne, nahm sich zusammen und lachte. Aber Jim hörte wohl, wie gekünstelt und gequält es klang. »Sie sind ein prächtiger Kerl, Steele«, sagte er in seinem alten, nachlässigen Ton. »Sie sind töricht, sich über diese Dinge den Kopf zu zerbrechen.«

 

Er stellte das Schreibheft an den Platz zurück, von dem er es genommen hatte, nahm einen anderen Pachtbrief und gab sich den Anschein, eifrig darin zu lesen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er schließlich, legte das Aktenstück beiseite und griff zu seinem Hut. »Vielleicht besuchen Sie mich einmal und essen mit mir zu Abend, Steele. Ich habe ein ganz interessantes Laboratorium, das ich mir an der Rückseite meines Hauses am Grosvenor Square erbaut habe. Der alte Salter nannte mich eben Doktor!« Er lachte, als ob das ein guter Scherz sei. »Nun gut, wenn Sie zu mir kommen, kann ich Ihnen verschiedenes zeigen, was zum mindesten meinen Titel rechtfertigt.«

 

Seine großen, dunkelbraunen Augen waren auf ihn gerichtet, als er in der Tür stand.

 

»Nebenbei bemerkt, Mr. Steele – Ihre Privatstudien führen Sie auf ein gefährliches Gebiet, für das Sie selbst ein zweites Viktoriakreuz kaum genügend entschädigen könnte.«

 

Er schloß die Tür behutsam hinter sich. Jim sah ihm stirnrunzelnd nach.

 

›Was meint er nur damit?‹ überlegte er. Dann erinnerte er sich daran, daß Mr. Groat sein Notizbuch in der Hand gehabt hatte. Wahrscheinlich hatte ihm das zu denken gegeben. Er nahm das Heft von dem Brett herunter, schlug die erste Seite auf und las: ›Einige Bemerkungen über die Bande der Dreizehn.‹