Kapitel 1

 

1

 

Reporter Peter Dewin war unzufrieden. Schuld daran war der Fall Lane – besser gesagt eine Kette von rätselhaften Ereignissen, deren Begleitumstände geradezu ans Unwahrscheinliche grenzten.

 

Übrigens hätte sich auch kein anderer Zeitungsreporter, der etwas auf seinen Ruf hielt, gerne mit einer solchen Sache abgegeben. Gute Kriminalgeschichten ziehen im Zeitungsmetier zwar immer, aber jeder Redakteur lehnt schaudernd ab, wenn von mysteriösen Mördern und Unterweltbanden die Rede ist, an deren Existenz doch niemand glaubt – außer den Autoren von sehr guten oder sehr schlechten Romanen.

 

Als man Peter Dewin zum erstenmal von der gefiederten Schlange erzählte, lachte er laut; als er zum zweitenmal davon hörte, lächelte er nur noch höhnisch und war ganz und gar uninteressiert. Solche Märchen waren seiner Meinung nach typisch für die Welt des Theaters – denn es war ein Theater, in dem die außergewöhnliche Geschichte der gefiederten Schlange ihren Anfang nahm …

 

Der Beifallssturm schlug gegen die stuckverzierte Decke des Zuschauerraumes und brandete von dort zu dem dichtbesetzten Parkett zurück.

 

Ella Creed tänzelte wieder aus den Kulissen hervor. Ein enganliegendes Kleid brachte ihre Figur ausgezeichnet zur Geltung; sie warf ihren Bewunderern ein reizendes Lächeln zu und verschwand dann mit einer leichten Verneigung – nur um gleich wieder hervorgerufen zu werden.

 

Sie schaute aufmerksam zum Kapellmeister hinüber, der soeben noch einmal die Anfangstakte des großen Erfolgsschlagers der letzten Monate dirigierte. Das Orchester setzte ein, Miss Creed lief zur Mitte der Bühne, und die Girls der Revue gruppierten sich um sie, um den ungeduldigen Wunsch des Publikums nach einer Zugabe zu erfüllen. Das Solo von Ella Creed, ein Exzentrik-Tanz, war sehenswert, und ein Sturm von Applaus und Bravorufen, der besonders von den billigen Plätzen des Hauses ausging, belohnte sie.

 

Der Vorhang fiel, und Miss Creed trat atemlos an das kleine Pult des Regisseurs.

 

»Das dritte Mädel von rechts in der ersten Reihe können Sie entlassen; sie tanzt nicht besonders und versucht außerdem unentwegt, die Aufmerksamkeit der Zuschauer von mir abzulenken. Und dann möchte ich wissen, warum Sie eine Blondine in die zweite Reihe gestellt haben? Ich habe Ihnen doch bestimmt schon zwanzigmal erklärt, daß ich nur Brünette als Hintergrund brauchen kann!«

 

»Entschuldigen Sie vielmals, Miss Creed« – der Regisseur hatte eine Frau und drei Kinder zu Hause und war darum sehr gefügig –, »ich werde dafür sorgen, daß dem Mädchen noch heute gekündigt wird …«

 

»Unsinn, werfen Sie sie einfach hinaus. Meinetwegen können Sie ihr noch ein Monatsgehalt geben, aber dann fort mit ihr!«

 

Ella Creed war wirklich hübsch, besonders ihren Gang konnte man als sehr effektvoll bezeichnen. Doch als sie jetzt vor dem Pult stand, grell beleuchtet von der Lampe, wirkte sie in keiner Weise mehr so reizvoll wie vorher auf der Bühne. Wenigstens sahen ihre Lippen unter der schwungvollen grellroten Bemalung sehr dünn und hart aus.

 

An und für sich hätte sie jetzt warten müssen, bis die Kapelle mit ihrem letzten Musikstück zu Ende war, aber Ella Creed hatte eine Verabredung zum Abendessen – und schließlich war sie ja auch kein gewöhnlicher Revuestar, sondern die Besitzerin des Theaters, in dem sie auftrat.

 

Sie schritt an den Mitgliedern der Tanzgruppe vorbei, die ihr diensteifrig Platz machten. Einige wenige wagten einen Gruß, erhielten aber nur einen hochmütigen Blick ihrer Chefin.

 

Miss Creeds Garderobe war ein kleiner, luxuriös eingerichteter Raum; indirekte Beleuchtung und weiche Teppiche gaben ihm ein sehr intimes Aussehen. Eine Garderobiere half ihr beim Ablegen ihres Kostüms. Sie schlüpfte in einen seidenen Kimono, setzte sich in einen Sessel und ließ sich abschminken. Ihr Gesicht war gerade von einer dicken Schicht Cold Cream bedeckt, als jemand an die Tür klopfte.

 

»Sehen Sie nach, wer es ist!« rief Miss Creed ungeduldig. »Ich möchte jetzt niemand empfangen.«

 

Das Mädchen kam aus dem kleinen Vorraum zurück.

 

»Mr. Crewe wartet draußen«, berichtete sie leise.

 

Miss Creed runzelte die Stirn.

 

»Gut, von mir aus – lassen Sie ihn herein. Wenn Sie mich abgeschminkt haben, können Sie gehen.«

 

Mr. Crewe trat lächelnd ein. Er war ein großer, schlanker Mann mit harten Gesichtszügen und spärlichen, leicht ergrauten Haaren. Sein eleganter Frack ließ nichts zu wünschen übrig.

 

»Warte einen kleinen Moment«, bat sie. »Rauche inzwischen eine Zigarette. – Machen Sie schnell«, wandte sie sich wieder an die Garderobiere.

 

Mr. Crewe setzte sich nachlässig auf die Armlehne eines Sessels und sah gleichgültig zu, wie Ella sich abschminken ließ und dann ein neues Make-up auflegte. Endlich stand sie auf und verschwand hinter einem Seidenvorhang, um sich anzuziehen. Man hörte ihre scharfe Stimme, mit der sie der Garderobiere die Meinung über irgendeine kleine Nachlässigkeit sagte. In der besten Laune war sie heute abend wirklich nicht, aber Mr. Crewe ließ sich davon nicht im mindesten beunruhigen. Tatsächlich gab es nur wenige Dinge, die die stoische Ruhe dieses erfolgreichen Börsenspekulanten stören konnten. Und trotzdem war an diesem Morgen etwas vorgefallen, das ihn aus der Fassung gebracht hatte.

 

Ella kam in einem tief ausgeschnittenen Abendkleid wieder zum Vorschein. Die Perlenschnur, die mit fünf Smaragden besetzte kostbare Spange und die Ringe, die sie trug, sahen aus, als hätten sie ein kleines Vermögen gekostet.

 

»Ich habe alles wie ausgemacht erledigt«, begann Mr. Crewe liebenswürdig, als sich das Mädchen zurückgezogen hatte. »Bist du übrigens verrückt, dich mit diesem ganzen Schmuck zu behängen …?«

 

»Imitationen!« unterbrach sie ihn lässig. »Glaubst du vielleicht, daß ich mit einem Vermögen von zwanzigtausend Pfund herumlaufe, Billy? Und jetzt, was willst du von mir?«

 

Sie hatte die letzten Worte sehr brüsk gesagt, aber er schien gar nicht zugehört zu haben.

 

»Wer ist heute abend das unschuldige Opfer?« erkundigte er sich lächelnd.

 

»Ein junger Gentleman aus Mittelengland – sein Vater hat ungefähr zehn Millionen. Die Leute sind so reich, daß sie nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen … Übrigens muß mein Kavalier jeden Augenblick kommen – warum bist du eigentlich hier?«

 

Mr. Leicester Crewe zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Kärtchen; es hatte ungefähr die Größe einer kleinen Visitenkarte, ohne daß aber ein Name darauf stand. Dafür war in der Mitte eine merkwürdige Figur eingedruckt – das Bild einer gefiederten Schlange. Darunter standen die Worte:

 

 

 

Damit Sie es nicht vergessen.

 

»Was soll das sein? Ein Vexierbild? Blödsinn – eine Schlange mit Federn?«

 

Mr. Crewe nickte.

 

»Die erste Karte – sie sah genauso aus wie diese – wurde mir vor einer Woche mit der Post zugesandt; und diese hier fand ich heute morgen auf meinem Schreibtisch.«

 

Sie starrte ihn erstaunt an.

 

»Was soll das nur?« fragte sie neugierig. »Eine neuartige Werbung für irgendeinen Gebrauchsartikel?«

 

Leicester Crewe schüttelte den Kopf und las noch einmal laut die merkwürdigen Worte: »›Damit Sie es nicht vergessen.‹ Ich habe das dunkle Gefühl, daß es eine Warnung ist … Hast du dir vielleicht einen Spaß damit machen wollen?«

 

»Ich? Ich bin doch nicht verrückt! Glaubst du, daß ich nichts Besseres zu tun habe, als Dummheiten auszuhecken? – Weshalb sollte es denn eine Warnung sein?«

 

Mr. Crewe strich sich nachdenklich über die Stirn.

 

»Ich weiß nicht recht … Es gibt mir eben zu denken …«

 

Ella zuckte lachend die Schultern.

 

»Und deshalb kommst du zu mir? Da kannst du gleich wieder gehen – vergiß nicht, daß ich eine Verabredung mit einem netten jungen Mann habe …«

 

Plötzlich hielt sie mitten im Satz inne. Sie hatte ihr kleines Abendtäschchen geöffnet, um ihr Taschentuch herauszunehmen. Er schaute auf und sah, daß sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Als sie die Hand wieder aus der Tasche zog, hielt sie eine längliche Karte zwischen den Fingern – sie sah genauso aus wie die, die er ihr eben gezeigt hatte.

 

»Was soll das bedeuten …?« Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

 

Crewe nahm ihr die Karte aus der Hand. In der Mitte war ebenfalls das Bild einer gefiederten Schlange und die gleiche Inschrift.

 

»Vor der Vorstellung war die Karte noch nicht in der Tasche«, sagte sie ärgerlich und drückte auf einen Klingelknopf. Die Garderobiere kam herein.

 

»Haben Sie das Ding hier in meine Tasche gesteckt? Los, antworten Sie – wenn Sie sich diesen Spaß mit mir erlaubt haben, fliegen Sie noch heute abend hinaus!«

 

Das Mädchen beteuerte erschrocken, von. nichts zu wissen, und lief schließlich heulend davon.

 

»Leider kann ich sie nicht auf die Straße setzen, gute Leute sind heute schwer zu bekommen«, meinte Ella. »Außerdem wird das Ganze doch nur irgendein Unsinn sein. Vermutlich Reklame für eine neue Zahnpasta – nächste Woche klebt das gleiche Bild an allen Plakatsäulen Londons. Billy, entschuldige mich jetzt bitte – mein Freund wartet.« Mit einem flüchtigen Kopfnicken verabschiedete sie sich.

 

Das Café de Reims, eines der teuersten Nachtlokale Londons, war neben anderen Attraktionen auch wegen seiner vorzüglichen Küche bekannt; Miss Creed speiste dort mit ihrem Begleiter zu Abend. Der langweilige junge Mann, der sie eingeladen hatte, zeichnete sich lediglich dadurch aus, daß er der Inhaber einer großen Wollfirma war. Trotzdem wurde es zwei Uhr morgens, bis sie aufbrachen. Der junge Herr hätte Ella Creed sehr gern nach Hause begleitet, aber sie lehnte in einer plötzlichen Anwandlung von Schicklichkeitsgefühl ab.

 

Ein Taxi brachte sie zu ihrem hübschen kleinen Haus in St. John’s Wood, 904 Acacia Road. Das Grundstück lag hinter einer hohen Mauer; eine Zufahrt führte durch ein schmiedeeisernes Tor bis zu einem mit Fliesen belegten, glasüberdachten Gang, auf dem man zur eigentlichen Haustür kam.

 

Nachdem sie den Taxichauffeur bezahlt hatte, klinkte sie das äußere Tor auf und schloß dann von innen zu. Ein Blick zu ihrem erleuchteten Zimmer sagte ihr, daß ihr Mädchen auf sie wartete. Sie ging die Zufahrt entlang …

 

»Wenn Sie schreien, drehe ich Ihnen den Hals um!«

 

Diese Worte wurden ihr direkt ins Ohr gezischt, und sie blieb starr vor Schrecken und Furcht stehen. Aus den dunklen Sträuchern, die die Zufahrt an dieser Stelle einsäumten, tauchte eine breitschultrige, drohende Gestalt auf. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen, da es von einem schwarzen Taschentuch halb bedeckt war; weiter hinten sah sie zu ihrem Entsetzen eine zweite Gestalt. Ihre Knie wankten, und sie taumelte einen Schritt zurück.

 

Endlich holte sie keuchend Luft und öffnete den Mund, um zu schreien – aber eine große, schwere Hand legte sich sofort über ihr Gesicht.

 

»Hören Sie! Ich bringe Sie um, wenn Sie nur einen Laut von sich geben!«

 

Dann wurde es Ella Creed glücklicherweise schwarz vor den Augen, und sie, die schon oft eine Ohnmacht vorgetäuscht hatte, verlor zum erstenmal in ihrem Leben wirklich das Bewußtsein.

 

Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich in halbsitzender Stellung gegen die Haustür gelehnt. Die beiden dunklen Gestalten waren verschwunden – und ebenso ihre Perlen und ihre Smaragdspange. Es wäre nichts weiter als ein gewöhnlicher Raubüberfall gewesen, wenn sie nicht an einer Schnur um ihren Hals eine Karte gefunden hätte, auf der das Bild einer gefiederten Schlange war.

 

Kapitel 10

 

10

 

Ganz in der Nähe des Zeitungsviertels liegt der Klub, in dem alle Journalisten verkehren. In dieser frühen Morgenstunde war die Bibliothek leer; Peter Dewin zog sich einen bequemen Sessel zum Kamin, nahm den Geldbeutel heraus und prüfte noch einmal seinen Inhalt.

 

Schon der Schlüssel gab ihm zu denken. Früher mußte auf seinem Griff eine gut leserliche Inschrift eingraviert gewesen sein; man konnte noch Spuren der ausgekratzten Buchstaben erkennen. Wahrscheinlich war es schon lange her, daß jemand daran herumgefeilt hatte, denn die angefeilten Stellen waren längst nicht mehr blank, sondern sahen genauso aus wie das übrige Metall.

 

Dann stopfte Peter seine Pfeife und untersuchte sorgfältig das Pappstück mit den beiden Buchstabenreihen:

 

 

F. T. B. T. L. Z. S. Y.

H. V. D. V. N. B. U. A.

Er brauchte nicht lange herumzutüfteln. Mit Geheimschriften hatte er sich schon oft beschäftigt, und so fand er bald die Lösung des Rätsels. Als er die übereinanderliegenden Buchstaben von oben nach unten las, entdeckte er, daß sie in alphabetischer Reihenfolge geschrieben waren – nur fehlte jedesmal der dazwischenliegende Buchstabe. Er nahm sein Notizbuch und schrieb das Ganze mit den fehlenden Buchstaben auf:

 

 

F. T. B. T. L. Z. S. Y.

G. U. C. U. M. A. T. Z.

H. V. D. V. N. T. U. A.

Die mittlere Reihe ergab jetzt das Wort »Gucumatz«, mit dem Peter nicht viel anfangen konnte.

 

Der Klub hatte eine kleine Bibliothek, in der auch ein gutes Konversationslexikon stand, Peter zog den betreffenden Band heraus und schlug nach – plötzlich hielt er freudig überrascht inne. »Gucumatz, auch Kukumats. Dieser Name wurde von den alten Azteken dem Schöpfer des Weltalls gegeben. In Mexiko war Gucumatz als Quetzalcoatl bekannt. Er wurde stets als eine gefiederte Schlange dargestellt, gleichgültig wie er bei den einzelnen Völkern genannt wurde. In gewissen Gegenden Zentralamerikas wird Gucumatz heute noch verehrt. Der Ursprung der Legende läßt sich auf das Auftauchen eines weißen Mannes mit langem Bart zurückführen, der eines Tages an der Küste Mexikos landete. Ob es sich dabei vielleicht um einen seefahrenden Wikinger gehandelt hat, kann nur vermutet werden …«

 

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und fuhr sich durchs Haar. Wieder stieß er hier auf die gefiederte Schlange! Ob Joe Farmer etwas von ihrer Existenz gewußt hatte? Er konnte beim besten Willen noch keinen Zusammenhang zwischen dem seltsamen Wort aus Urzeiten und den sehr greifbaren Warnungen der gefiederten Schlange finden. Übrigens war das System, einen Buchstaben zwischen zwei anderen auszulassen, eine sehr primitive Form einer Geheimschrift.

 

Unbestreitbar lag über dem Ganzen etwas Unheimliches. Zum erstenmal, seitdem er mit der Geschichte zu tun hatte, fühlte er sich sehr unbehaglich. Er hatte den Eindruck; jeden Moment in ein Wespennest zu stechen – und das hatte dann möglicherweise sehr üble Folgen für ihn selbst.

 

Zum Mittagessen wollte er sich mit Paphne Olroyd in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Soho Square treffen. Er war ihr gegenüber in einer schwierigen Lage. Sie war die Sekretärin Mr. Crewes gewesen und hatte auch Farmer gekannt – zweifellos konnte sie ihm viele nützliche Hinweise geben, auf der andern Seite wollte er ihre Freundschaft aber auch nicht für seine eigennützigen Zwecke in Anspruch nehmen.

 

Als er sie begrüßt hatte, setzte er ihr in aller Offenheit seine Bedenken auseinander.

 

»Fragen Sie nur, ich habe mich allmählich schon daran gewöhnt!«

 

Über Leicester Crewe konnte sie Dewin aber auch nicht viel Neues berichten – daß Mr. Crewe ein sehr erfolgreicher Börsenmakler war, war ihm sowieso bekannt.

 

Daphne war drei Jahre bei Crewe angestellt gewesen – seit dem Zeitpunkt, als er das Haus am Grosvenor Square gekauft hatte. Sie kannte auch Joe Farmer als einen häufigen, aber nicht gerade gern gesehenen Gast.

 

»Wer ist eigentlich diese Mrs. Staines?« erkundigte sich Peter. »Ich möchte möglichst den ganzen Bekanntenkreis Crewes kennenlernen.«

 

»Ich weiß es auch nicht genau. Sie ist eng mit Mr. Crewe befreundet und ist auch eine Freundin der Schauspielerin Ella Creed.«

 

»Alles reiche Leute, wie? Hat Mrs. Staines irgendeinen Beruf?«

 

»Sie ist eine vornehme Dame«, entgegnete Daphne lächelnd, »und vornehme Damen arbeiten bekanntlich nicht. Im übrigen war sie immer sehr liebenswürdig und ist mir eigentlich recht sympathisch. Mr. Crewe hat mir auch öfter erzählt, daß sie sehr klug ist. Als ich ihr einmal etwas bringen mußte, zeigte sie mir in ihrer Wohnung einige Zeichnungen, die sie selbst gemacht hatte. Sie haben mich außerordentlich beeindruckt.«

 

»Dann ist sie also Künstlerin? Malt sie auch?«

 

Daphne dachte nach.

 

»Nein, ich glaube nicht, wenigstens habe ich nur Schwarzweißzeichnungen bei ihr gesehen. Eine besondere Vorliebe scheint sie für mythologische Darstellungen zu haben. Einige hübsche Sachen, auf die sie sehr stolz ist, hängen gerahmt in ihrem Wohnzimmer. Darunter befindet sich eine Zeichnung, die halb so groß wie diese Tischplatte ist. Bestimmt fehlt es ihr nicht an Talent. Miss Creed kenne ich nicht so gut, ich habe sie nur einmal gesehen, und dabei benahm sie sich ziemlich hochmütig. Ist sie eigentlich eine gute Schauspielerin?«

 

»Sie ist erfolgreich«, entgegnete Peter vorsichtig. »Zur Zeit tritt sie in musikalischen Lustspielen auf, die ihr anscheinend keine Gelegenheit zur Entfaltung ihrer Talente geben.«

 

Er dachte einen Augenblick nach.

 

»Eigentlich kann man sie schon eine gute Schauspielerin nennen. Ich sah sie vor einigen Jahren in einem erfolgreichen Stück. Eine tragische Szene gelang ihr dabei wirklich großartig. Wenn man sie so auf der Bühne gesehen hat, kann man kaum glauben, daß sie ihren Angestellten und dem Regisseur das Leben zur Hölle macht. Nun erzählen Sie mir aber, was Sie heute in Ihrer neuen Stellung erlebt haben.«

 

»Ich habe eine Menge interessante Dinge katalogisiert – Speerklingen, kleine Figuren, Tongefäße und alte Waffen, die Mr. Beale in Zentralamerika ausgegraben hat. Darunter waren auch vier gefiederte Schlangen«, erzählte sie.

 

Peter lachte.

 

»Sie werden bald eine Kapazität auf diesem Gebiet sein! Aber wie schaffen Sie das nur – Sie hatten doch bis jetzt keine Ahnung von aztekischer Kultur?«

 

Sie sagte ihm, daß Mr. Beale ihr alles genau erkläre. Sie mußte kleine Namensschilder schreiben und sie an jedes Stück der Sammlung ankleben.

 

»Eine Anzahl der Gegenstände war schon beschriftet.«

 

Peter dachte erst wieder an diese Bemerkung, als sie später ihre Handtasche öffnete, um ihr Taschentuch herauszunehmen. Ein Stück rundes Papier fiel dabei auf den Tisch. Er betrachtete es neugierig. Es war ungefähr so groß wie ein Sixpence, und darauf stand in roter Schrift das Wort »Zimm«. Dahinter war eine Zahl.

 

»Das war an einer alten Aztekenlampe, die Mr. Beale in einer Stadt mit einem furchtbar komischen Namen fand.«

 

Er schwieg einen Augenblick.

 

»Wozu tragen Sie denn das Ding mit sich herum?«

 

Sie erklärte ihm auf seine Frage, daß sie einen Zipfel ihres Taschentuchs naß gemacht hatte, um das Papier zu entfernen. Dabei müsse es wohl an dem Taschentuch hängengeblieben sein.

 

Aber er hörte ihr gar nicht zu, sondern beobachtete einen Gast – einen Mann mit schwarzem Bart, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er saß in einer Ecke des Speisesaals und schien ganz in seine Zeitung vertieft zu sein.

 

Peter Dewin besaß ein phänomenales Gedächtnis. Er gehörte zu den Menschen, die spaltenlange Artikel lesen und sie fast Wort für Wort wiederholen können. Ohne sich zu irren, konnte er den Inhalt der Zeugenaussagen eines Falles angeben, der vor zehn Jahren verhandelt wurde, ebenso Bemerkungen der Richter und die Plädoyers der Verteidiger, wenn er den Bericht darüber gelesen hatte.

 

»Was haben Sie denn?« fragte sie besorgt, als sie seinen geistesabwesenden Gesichtsausdruck bemerkte.

 

»Ach so – bitte entschuldigen Sie!« Er wandte sich zerknirscht seiner Nachbarin zu. »Ich dachte gerade nach. Woher sagten Sie doch, daß dieses Etikett stammt?«

 

Sie erzählte ihm noch einmal, daß sie es von einer Lampe aus gebranntem Ton entfernt hätte.

 

»Merkwürdig, sie hatten auch Lampen, diese alten Azteken. Sie mag manchem heimgeleuchtet haben, will ich wetten! Ob es da auch Klubs und Vereine gab? Sie tranken doch so ein Zeug, das sie Tiki oder Miki nannten; es soll so ähnlich geschmeckt haben wie ein altes irisches Getränk. Und wenn sie dann eines; seligen Todes starben, krähte kein Hahn danach.«

 

»Wovon reden Sie denn, um Himmels willen?« fragte sie erstaunt.

 

»Von Lampen«, entgegnete er verwirrt. »Es ist komisch mit mir, Daphne, wenn ich mich mit irgendwelchen Problemen herumschlage, kann mich nichts davon ablenken. Habe ich Sie eben Daphne genannt? – Bitte entschuldigen Sie vielmals, ich hasse nichts mehr als zudringliche Leute. Aber wir wollen unsern Kaffee trinken.«

 

Er versuchte vergeblich, seine Erregung zu verbergen. Irgendeine Entdeckung schien alle seine Gedanken in Anspruch zu nehmen.

 

»Nun seien Sie nicht gar so schweigsam und erzählen Sie mir, was Sie so intensiv beschäftigt!«

 

Er sah sie abwesend an und lachte dann plötzlich.

 

»Sie sind wirklich ein netter Kerl«, sagte er übermütig. »Und es ist nicht recht von mir, daß ich mich so unhöflich benehme. Ich mag Sie nämlich sehr gern.«

 

Dann erzählte er ihr, daß sie seit Jahren das erste Mädchen sei, das er zum Essen eingeladen hätte. Sie war erstaunt zu erfahren, daß er schon einunddreißig Jahre alt war.

 

»Meine letzte Verabredung mit einer Dame hatte ich aus beruflichen Gründen. Sie war mit der Ricks-Bande bekannt, die Kreditbriefe gefälscht und über hunderttausend Pfund unterschlagen hatte. Ich war damals ein blutjunger Reporter.«

 

Um seine Aufregung zu verbergen, erzählte er Daphne die Geschichte. Er machte das so geschickt, daß sie seinem Bericht von dem genial angelegten Schwindel gespannt lauschte. Warum ihm ausgerechnet der Fall Ricks in den Sinn gekommen war, wußte er selbst nicht so recht – etwas in seinem Unterbewußtsein erinnerte ihn daran.

 

»… es war der jetzige Oberinspektor Clarke, der die Bande seinerzeit überführte. Er war damals noch Sergeant, und diesem Erfolg verdankte er seine Beförderung zum Inspektor. Ricks erschoß sich auf einem Schiff, als er über den Kanal fuhr. Zwei Mitglieder der Bande flohen nach Amerika. Einer wurde ausgeliefert, aber den eigentlichen Fälscher des Geldes haben sie nicht bekommen … Ricks selber war zwar ein hervorragender Zeichner, aber die Polizei war der Meinung, daß die gefälschten Platten von seiner sechzehnjährigen Tochter hergestellt waren. Man konnte aber nichts nachweisen, und es wurde nicht einmal ein Verfahren gegen sie eingeleitet. Sie war sehr hübsch – soviel ich weiß, fuhr sie schließlich zu Verwandten nach Frankreich …«

 

Plötzlich brach er ab.

 

»Heiliger Himmel«, murmelte er.

 

»Was ist los?«

 

Er versuchte ruhig zu sprechen.

 

»Tut mir leid – ich bin heute so nervös. Warum sprechen wir auch ausgerechnet über den Fall Ricks! Ich möchte nur wissen, wie ich darauf gekommen bin. Aber merkwürdig, wie alles stimmt – sogar das hier!«

 

Er nahm das kleine Etikett und schaute es noch einmal prüfend an.

 

»Darf ich das behalten? Vielleicht bringt es mir Glück«, sagte er und schob es einfach in die Tasche, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten.

 

»Ich werde wirklich nicht schlau aus Ihnen«, meinte sie kopfschüttelnd.

 

»Eines Tages werde ich Ihnen alles erklären«, erwiderte er geradezu feierlich.

 

Als sie sich erhoben, stand auch der bärtige Mann auf und folgte ihnen zum Ausgang. Auf der Straße war er plötzlich nicht mehr zu sehen. Dewin winkte einem Taxi; sie stiegen ein, und er nannte dem Chauffeur ihre Wohnung.

 

Auf der Fahrt war er ziemlich schweigsam und schaute nur ab und zu durch das kleine Rückfenster des Wagens.

 

»Sie haben sich nun schon dreimal umgesehen, seitdem wir das Restaurant verlassen haben«, sagte sie schließlich. »Was gibt es denn hinter uns Interessantes?«

 

»Sieht so aus, als ob wir Nebel bekommen – wollte nur mal sehen …« Das übrige ging in einem halblauten Gemurmel unter.

 

Er wartete auf der Straße, bis er hörte, daß sie die Tür von innen zugeschlossen hatte. Dann schlenderte er langsam ein Stück zurück – der kleine Sportwagen, der ihrem Taxi vom Restaurant aus gefolgt war, hielt in einer Entfernung von fünfzig Metern mit abgeblendeten Scheinwerfern. Als er geradewegs auf das Auto zuging, gab der Fahrer plötzlich Gas, entfernte sich ein Stück im Rückwärtsgang, wendete dann und verschwand in der Dunkelheit.

 

Dewin zögerte. Wenn dies eine Gefahr für ihn bedeutete, konnte sie sich ebensogut auch auf Daphne erstrecken. Der Gedanke beunruhigte ihn, wenn die Bedrohung bis jetzt auch keine feste Form angenommen hatte. Immerhin war ihnen der Wagen vom Restaurant an gefolgt, und er war sich völlig sicher, daß der Schwarzbärtige, der in der Ecke gesessen hatte und sich anscheinend nur um seine Zeitung gekümmert hatte, mit ihrer Überwachung beauftragt war.

 

Sollte er umkehren und Daphne warnen? Diese Absicht gab er sofort wieder auf, denn er wollte sie auf keinen Fall beunruhigen. Was sollte er machen? Er konnte sich doch nicht bis morgen früh auf die Treppenstufen ihres Hauses setzen? Das Außergewöhnliche seiner Lage kam ihm zum Bewußtsein; er fühlte sich wie in einem schlechten Kriminalfilm. In seiner Phantasie tauchten nacheinander alle möglichen düsteren Gefahren auf, über die er sich dann gleich lustig zu machen versuchte. Wer sollte auch Interesse an einem jungen Mädchen haben, dessen einzige Schuld es war, daß sie als Sekretärin bei einem Gelehrten angestellt war und dieselbe Stellung vorher bei einem Geschäftsmann zweifelhaften Rufes innegehabt hatte.

 

Er ging zu seinem Taxi zurück und ließ sich wieder in das Restaurant fahren. Glücklicherweise kannte er den Besitzer sehr gut und konnte sich daher ohne weiteres einige Fragen erlauben. Zu seinem Erstaunen erhielt er volle Auskunft über den Fremden.

 

»Er ist Privatdetektiv bei der Firma Stebbings. Wie er heißt, weiß ich nicht – vielleicht ist es sogar Stebbings selber. Er war schon öfters hier; da er für gewöhnlich aber einen meiner Gäste beobachtet, freue ich mich nicht sehr über seine Besuche.«

 

Dewin fiel ein Stein vom Herzen. Privatdetektive sind im allgemeinen ziemlich harmlose Leute, die zumindest keine unmittelbare Lebensgefahr für die Leute darstellen, die sie beobachten. Besonders in England beschränkt sich ihre Tätigkeit meistens auf harmlose Ermittlungen.

 

Mit leichterem Herzen machte sich Peter auf den Weg zum »Orpheum«, dem Theater, das Miss Creed gehörte.

 

Ella Creed war eben auf der Bühne, als er ankam, und er mußte in einem zugigen Vorraum warten, bis eine Platzanweiserin kam und ihn aufforderte, in Miss Creeds Garderobe zu kommen. Miss Creed sah abgespannt aus.

 

»Zwei Vorstellungen am Tag und eine schlaflose Nacht wegen des armen Mr. Farmer – ich bin halbtot«, sagte sie. »Etwas zu trinken, Mr. Dewin?«

 

Sie erwähnte den Mord erst, als ihre Garderobiere den Raum verlassen hatte.

 

»Mr. Dewin, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel vor und sah ihn mit einem bezaubernden Augenaufschlag an. »Der arme Joe trug einen Schlüssel bei sich, den er mir an jenem Abend geben wollte … Mr. Crewe erzählte mir, daß er zufällig in Ihre Hände geraten ist. Würden Sie ihn mir bitte zurückgeben?«

 

Dewin tat äußerst erstaunt.

 

»Meinen Sie etwa den Schlüssel in dem Geldbeutel? Ich habe mir schon überlegt, wem er gehören könnte. Ja, Miss Olroyd hat ihn mir gegeben. Ich wollte ihn gleich am andern Tag der Polizei abliefern, aber er ist mir in der Nacht von einem Einbrecher gestohlen worden«, log Peter seelenruhig. »Von einem Mann, der mein Jackett mitlaufen ließ. Wie Sie vermutlich wissen werden, war er in großer Eile, und der Schlüssel ist ihm wahrscheinlich dabei aus der Tasche gefallen.«

 

Sie blickte ihn einen Augenblick verdutzt an und fragte dann scharf: »Woher soll ich denn das wissen?«

 

»Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen«, antwortete Dewin gelassen.

 

Offensichtlich kam ihr diese Erklärung unerwartet, denn sie schwieg eine Weile.

 

»Aber es ist doch merkwürdig, daß Sie den Schlüssel in die Tasche Ihres Jacketts steckten«, begann sie dann wieder.

 

»Das ist allerdings seltsam«, sagte Dewin höflich. »Ich hätte ihn, eigentlich in meinen Schuh stecken sollen. Für gewöhnlich pflege ich Schlüssel auch dort aufzubewahren.«

 

Ella Creed sah ihn mißtrauisch und ärgerlich an, denn ihr Sinn für Humor war nicht sehr ausgeprägt.

 

»Es ist einfach furchtbar«, sagte sie dann. »Ich meine, daß der Schlüssel verlorengegangen ist …«

 

»Ach, es war wohl der Schlüssel zu Ihrem Schmuckkasten?« fragte er unschuldig. »Oder zu dem Schrank, in dem die gefiederte Schlange steckt?«

 

Sie sprang auf.

 

»Was wollen Sie damit sagen, zum Kuckuck?« fragte sie. »Gefiederte Schlange? Was soll das heißen, Dewin? Wissen Sie, was ich glaube? Das Ganze ist nur ein Trick, den ihr Zeitungsleute erfunden habt, um damit andere Leute zu erschrecken!«

 

Ella Creed war manchmal leicht zu durchschauen, und Dewin wußte, daß sie ihm jetzt nichts vormachte.

 

»Hören Sie mir einmal zu, Miss Creed«, sagte er ernst. »Die gefiederte Schlange ist keine Erfindung von Zeitungsleuten, die auf Sensation aus sind. Im allgemeinen pflegen Zeitungen auch nicht die Ermordung von Barbesitzern vorher anzukündigen. Haben Sie tatsächlich noch nie von der gefiederten Schlange gehört, bevor Sie die mysteriösen Karten erhielten?«

 

»Ganz bestimmt nicht!«

 

»Auch Farmer nichts?«

 

»Er hat sicher nichts davon gewußt! Gefiederte Schlangen, das ist doch Unsinn! Ich möchte nur wissen, wer hinter der ganzen Geschichte steckt. Die Leute sollten sich endlich klar darüber werden, daß sie mir keine Angst einjagen können. Falls sie etwa auf Geld aus sind, so ist bei mir nichts zu holen. Meine Wertsachen liegen alle sicher auf der Bank.«

 

»Man hat bei Ihnen eingebrochen, nicht wahr«, sagte er schnell. »Wurde eigentlich außer den unechten Schmuckstücken noch etwas gestohlen?«

 

Sie merkte, daß sie schon zuviel gesagt hatte und wollte das Thema wechseln, aber er blieb hartnäckig bei seiner Frage.

 

»Nun ja«, sagte sie zögernd, »es ist tatsächlich bei mir eingebrochen worden, aber die Diebe haben nichts Wertvolles mitgenommen.«

 

Ihm war klar, daß sie ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Was mochte sie wohl verbergen?

 

»Es wurde Ihnen also doch etwas gestohlen?« bohrte er.

 

Draußen wurde an die Tür geklopft. Ihr Auftritt begann in wenigen Minuten.

 

»Ich muß mich schleunigst umziehen …«

 

»Was war es?« fragte er.

 

»Ein Ring«, erwiderte sie ärgerlich. »Ein Ding, das keine fünf Pfund wert ist.«

 

»Was für ein Ring – doch nicht ein Trauring?«

 

»Trauring …« Sie mußte erst Luft holen, bevor sie ihm antwortete. Er hätte nicht herausfordernder fragen können, wenn er die Wahrheit gewußt hätte! »Es war ein Siegelring, ein ganz altes Ding, das ich schon viele Jahre hatte. Aber nun verschwinden Sie!«

 

Peter Dewin wartete auf dem Gang vor der Garderobe. Dahinter steckte bestimmt etwas. Doch würde es schwierig sein, noch mehr aus Ella Creed herauszuholen. Sie erschien nach wenigen Minuten fertig angekleidet zum zweiten Akt. Als er auf sie zutrat, winkte sie nervös ab.

 

»Ich kann heute abend nicht mehr mit Ihnen sprechen, Mr. Dewin. Es hat keinen Zweck, wenn Sie warten.«

 

Als sie in Richtung Bühne verschwunden war, begann er, ihre Garderobieren auszuhorchen.

 

»Miss Creed scheint heute abend nicht in der besten Laune zu sein«, begann er kühn.

 

Die ältere der beiden lächelte verächtlich.

 

»Ich möchte nur wissen, wann sie überhaupt mal gute Laune hat! Heute war es wieder ganz besonders schlimm, Es ist wirklich kaum auszuhalten.«

 

»Hat Ihnen Miss Creed irgend etwas von dem Einbruch in ihrer Wohnung erzählt?«

 

»Soviel ich weiß, wurde ihr ein Ring gestohlen. Für gewöhnlich trug sie ihn bei ihren Auftritten. Ich hätte kein Pfund dafür gegeben.«

 

»Wie sah er denn ungefähr aus?«

 

Das jüngere Mädchen konnte ihm eine ziemlich genaue Beschreibung des Ringes geben.

 

»Es war so eine Art Wappen darauf, drei Weizengarben mit einem Adler in der Mitte. Mr. Crewe sagte, ihr immer, sie solle doch das alte Ding ins Feuer werfen, aber das brachte sie nicht übers Herz.«

 

Ella Creed galt allgemein als ziemlich geizig.

 

»Sind Sie schon lange hier beschäftigt?« fragte Dewin teilnahmsvoll.

 

»Schon viel zu lange«, kam die verärgerte Antwort. »Ich bin nun seit mehr als zwanzig Jahren in diesem Beruf, aber so etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Es ist mir ganz gleich, wenn ich entlassen werde. Dabei habe ich Miss Creed schon gekannt, als sie noch ein kleines Chormädchen war, lange bevor sie zu Geld kam und das ›Orpheum‹ pachtete. Sie hat von Anfang an ein unwahrscheinliches Glück gehabt.«

 

Das Mädchen legte den Finger an die Lippen und lauschte auf die fernen Klänge der Kapelle.

 

»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte sie dann. »Sie wird in einer Minute hier sein, um sich umzuziehen.«

 

Peter Dewin war klug genug, das Feld zu räumen; er hatte das Theater schon längst verlassen, als Ella Creed atemlos in ihren Ankleideraum kam.

 

»Bringen Sie mir sofort Schreibpapier und ein Kuvert«, befahl sie. »Rufen Sie dann Mr. Crewe an« und fragen Sie ihn nach der Adresse von Miss Daphne Olroyd – aber etwas schnell bitte!«

 

Kapitel 11

 

11

 

Daphne Olroyd saß in der Küche ihrer kleinen Wohnung vor ihrem Frühstück, als es an der Tür läutete. Sie öffnete und sah draußen Peter stehen.

 

»Ist das ein offizieller Gegenbesuch?« fragte sie und bat ihn einzutreten.

 

»Je nachdem – ich weiß noch nicht recht … Mir ist etwas eingefallen, was ich Sie unbedingt noch fragen wollte.«

 

Was er dann aber vorbrachte, war so offenkundig an den Haaren herbeigezogen, daß sie gleich wußte, daß der eigentliche Grund seines Morgenbesuches ein ganz anderer war.

 

Tatsächlich hatte er eine ruhelose Nacht verbracht; um vier Uhr morgens war er bereits; so nervös gewesen, daß er sich am liebsten angezogen hätte, um nachzusehen, ob es ihr auch gut ginge. Er konnte ihr doch aber jetzt nicht sagen, daß er nur deshalb gekommen war, weil er sie dauernd von irgendwelchen Gefahren umgeben sah.

 

Warum er überhaupt auf so dumme Gedanken kam, war ihm unbegreiflich. Der sonst so schlaue Peter war nicht einmal mehr imstande, seinen eigenen Gemütszustand richtig zu beurteilen.

 

»Ich habe eine Einladung zum Abendessen von … Raten Sie mal von wem«, sagte Daphne, nachdem sie ihm einen Platz angeboten hatte.

 

»Doch nicht von Miss Creed?« fragte er auf gut Glück und war verblüfft, als sie bejahte.

 

Sie nickte, ging in ihr Schlafzimmer und holte das Schreiben, das er verwundert las:

 

»Meine liebe Miss Olroyd,

 

ich würde mich gerne über verschiedene Dinge mit Ihnen unterhalten. Wären Sie so liebenswürdig, mich heute abend am Theater abzuholen? Wir könnten dann irgendwo miteinander zu Abend essen. Wir sind uns nun schon so oft begegnet, ohne daß wir richtige Bekanntschaft geschlossen hätten. Vor allem möchte ich auch einige Fragen an Sie richten, die den Tod meines armen Freundes Mr. Farmer betreffen. Vielleicht wird es Sie bei dieser Gelegenheit interessieren, auch einmal einen Blick hinter die Kulissen eines Theaters zu werfen? Bitte rufen Sie mich doch in meiner Wohnung in St. John’s Wood an.

 

Mit freundlichen Grüßen

Ihre

Ella Creed«

 

Er faltete den Brief wieder zusammen und gab ihn Daphne zurück.

 

»Werden Sie hingehen?«

 

Sie sah ihn nachdenklich an.

 

»Ich weiß noch nicht recht. Eigentlich wäre es sehr unhöflich, wenn ich ablehnte, andererseits kenne ich sie ja kaum. Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?«

 

»Ich wüßte keinen Grund, warum Sie nicht hingehen sollten«, entgegnete Peter. Dabei hatte er aber das unangenehme Gefühl, daß es besser sei, wenn sie diese unerwartete Einladung nicht annehmen würde.

 

»Ich werde es mir noch überlegen«, meinte Daphne und steckte den Brief wieder in ihre Handtasche. »Heute abend habe ich sowieso nichts vor – und eigentlich würde ich tatsächlich ganz gern einmal hinter die oft erwähnten Theaterkulissen schauen.«

 

An diesem Morgen hatten sie genügend Zeit, um zu Fuß zu Gregory Beales Haus zu gehen. Sorglos schlenderten sie durch den Park und fühlten sich ganz als zwei junge Leute, die momentan keine allzu großen Sorgen hatten.

 

»Wie wäre es denn, wenn ich Sie heute abend zum Essen einladen würde?« erkundigte er sich vorsichtig, als sie vor Mr. Beales Haus angelangt waren.

 

»Sie haben doch so viel zu tun«, erwiderte sie schnell. »Und ich möchte auch nicht, daß diese Einladungen zur Gewohnheit werden.«

 

»Es wäre die erste gute Gewohnheit, die ich jemals hatte!«

 

Sie lachte nicht, wie er erwartet hatte, und ihre Entgegnung war ziemlich zurückhaltend.

 

»Sie sollten nicht gar zu selbstsicher sein, Mr. Dewin noch nicht.«

 

Er glaubte, daß er sie durch irgendeine leichtsinnige Bemerkung beleidigt hätte, wußte aber beim besten Willen nicht, was er falsches gesagt oder getan hatte. Sie dagegen war über sich selbst verwundert, daß sie so unfreundlich zu ihm gewesen war.

 

Sie trennten sich etwas kühl, und während Peter Dewin weiterschlenderte, quälten ihn unangenehme Gedanken. Schließlich legte er sich die naheliegende Frage vor, ob er sich nicht bereits verliebt habe, brach diese nutzlosen Überlegungen aber mit einem tiefen Seufzer ab.

 

Mit dem Bus fuhr er nach Scotland Yard und ließ sich bei Oberinspektor Clarke melden. Er wurde sofort zu einem kleinen Kriegsrat zugezogen, der schon vor seiner Ankunft begonnen hatte.

 

»Kommen Sie herein, Dewin«, sagte Clarke. Der große, starke Mann mit dem grauen Schnurrbart war einer der fähigsten Männer von Scotland Yard. »Wir diskutieren gerade über die gefiederte Schlange. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.«

 

»Die Zusammenhänge sind mir auch noch nicht ganz klar«, erwiderte Peter prompt. »Ich kam eigentlich her, um mir bei Ihnen neue Informationen zu holen.«

 

»Hier können Sie wenig Neuigkeiten erfahren«, brummte Sweeney, ein Mitarbeiter von Clarke. »Wir sind auf einem toten Gleis festgefahren.«

 

»Worüber wollten Sie uns denn ausholen, Dewin?« fragte Clarke.

 

»Wissen Sie etwas über einen gewissen Hugg?«

 

Clarke nickte nach kurzem Nachdenken.

 

»Ich habe ihn einmal hinter schwedische Gardinen gebracht«, sagte er. »Er ist ein Einbrecher, der vor ein paar Monaten auf Bewährungsfrist entlassen wurde und sich regelmäßig bei der Polizeiwache von King’s Gross melden muß. Er hat mir das erzählt, als ich ihn vor einiger Zeit zufällig auf der Straße sah und ansprach. Was hat er denn jetzt wieder ausgefressen?«

 

»Er wollte mir nur Material für einen Artikel anbieten«, sagte Peter, »und das ist schließlich kein Verbrechen. Dann möchte ich noch gerne wissen, ob Sie mir Auskunft über die Ricks-Bande geben können?«

 

Sweeney, der sich gerade mit einem Kollegen unterhielt, schaute interessiert auf.

 

»Meinen Sie die Falschmünzerbande? Die habe ich seinerzeit ausgehoben – mit Ausnahme des Mädchens, das damals noch ein Kind war. Ist sie denn wieder in London aufgetaucht?«

 

»Sie hat doch eigentlich die Fälschungen gemacht, nicht wahr?« fragte Peter, indem er die Frage des andern überhörte. »Hatte sie denn so viel Talent?«

 

»Ja, sie war wirklich sehr geschickt«, antwortete Clarke. »Als sie zwölf Jahre alt war, erhielt sie einmal von der Chelsea-Gesellschaft eine Goldmedaille für ihre Zeichnungen.«

 

»Können Sie sich an ihren Namen erinnern?« fragte Peter.

 

Keiner wußte ihn mehr, aber er ließ sich ohne weiteres in den Akten feststellen.

 

»Sie hieß Paula.«

 

Peter bekam Herzklopfen vor Aufregung.

 

»Paula – Paula Ricks – sie hat also die Entwürfe für die falschen Banknoten gezeichnet?«

 

Clarke nickte langsam.

 

»Daran ist nicht zu zweifeln. Mag sein, daß sie keine englischen Noten gemacht hat, aber bestimmt hat sie die französischen Tausendfrancscheine gefälscht. Der Sachverständige der Bank von Frankreich erklärte damals, die Fälschungen seien ganz raffiniert ausgeführt. Es waren keine Photographien, sondern Zeichnungen, die später geätzt wurden. Wir konnten damals allerdings nicht gegen das Mädchen vorgehen, weil es noch zu jung war. Ihr Vater betrieb die Falschmünzerei geradezu als Hobby und konnte nicht mehr davon lassen. Wenn er sich nicht erschossen hätte, wäre er für immer im Zuchthaus gelandet. – Glauben Sie, daß die Zeichnungen der gefiederten Schlange von ihr stammen?«

 

Peter schüttelte entschieden den Kopf.

 

»Gegen diese Vermutung möchte ich einiges wetten.«

 

»Nanu«, rief Clarke verdrießlich, als der Reporter ihnen lässig zuwinkte und zur Tür ging. »Was sind denn das für Manieren? Nichts als Fragen stellen und dann wieder verschwinden?«

 

Peter drehte sich um.

 

»Ich habe mir nun verschiedene Meinungen über die gefiederte Schlange und den Mord angehört und mir allerlei daraus zusammengereimt. Ich verspreche Ihnen das eine, Clarke, daß Sie alles Material meiner Geschichte bekommen, bevor sie in Druck geht. Zuerst muß ich aber noch ein Schloß finden, das sich mit einem bestimmten Schlüssel öffnen läßt. Und außerdem muß ich noch wissen, wozu Joe Farmer das verdammte Wort Gucumatz gebraucht hat.«

 

Dann ging er, ohne eine Antwort abzuwarten.

 

Kapitel 8

 

8

 

Die Geschichte von der Narbe und dem Eindruck, den sie auf Mrs. Groat gemacht hatte,, stimmte Jim nachdenklich. Er versuchte die Sache auf seine Weise zu erklären, aber Eunice lachte.

 

»Ich werde diese Stelle wieder aufgeben«, sagte sie, »aber ich muß noch so lange dort bleiben, bis alle Papiere von Mrs. Groat geordnet sind. Es sind noch ganze Stöße von Briefen und Dokumenten aller Art zu ordnen und einzutragen. Mrs. Groat hat mir das schon gesagt. Und es scheint doch auch nicht gut zu sein, wenn ich meinen Dienst verlasse, während die alte Frau so krank ist. – Ihre Vermutung, daß ich die junge Dame sein soll, die das große Vermögen erbt, ist auf keinen Fall richtig. Meine Eltern lebten in Südafrika, Jim. Sie sind viel zu romantisch, als daß Sie ein guter Detektiv sein könnten.«

 

Er leistete sich den Luxus, ein Taxi zu nehmen und sie nach Grosvenor Square zurückzubringen. An der Haustür verabschiedete er sich von ihr.

 

Während sie sich noch auf der Treppe unterhielten, öffnete sich die Tür, und Jackson begleitete einen kleinen, starken Mann mit großem, braunem Bart heraus.

 

Offenbar sah Jackson die beiden Leute nicht, er sah sie jedenfalls nicht an.

 

»Mr. Groat wird erst um sieben Uhr nach Hause zurückkommen, Mr. Villa«, sagte er laut.

 

»Sagen Sie ihm, daß ich vorgesprochen hätte«, entgegnete der andere ebenso laut und ging an Jim vorbei.

 

»Wer ist denn der Mann mit dem Bart?« fragte Jim, aber Eunice konnte ihm keine Auskunft geben.

 

Jim war mit der Erklärung über ihre Herkunft nicht zufrieden. Einer seiner Schulfreunde lebte unten in Kapstadt, und als er zu dem Büro zurückging, sandte er ihm ein langes Telegramm mit bezahlter Antwort. Er fühlte, daß er hinter einem Schatten herjagte, aber trotzdem tat er es. Dann ging er mißmutig nach Hause und war bedrückt von der Hoffnungslosigkeit der Aufgabe, die er sich gestellt hatte.

 

Am nächsten Tage erhielt er eine Nachricht von Eunice, daß sie nicht zum Tee kommen könnte. Der Tag war für ihn langweilig und verloren. Obendrein erhielt er noch die Antwort auf sein Telegramm, die alle romantischen Träume zerstörte, soweit sie Eunice Weldons Anwartschaft auf das Millionenvermögen der Dantons betrafen. Eunice May Weldon war am 12. Juni 1910 in Rondebosch geboren. Ihre Eltern waren Henry Weldon, ein Musiker, und Margaret May Weldon. Sie war in der Kirche von Rondebosch getauft worden, und ihre beiden Eltern waren tot.

 

Über die beiden Endzeilen des Telegramms war Jim erstaunt.

 

»Eine ähnliche Anfrage wegen der Eltern Eunice Weldons kam vor sechs Monaten von der Firma Selenger & Co., Brade Street Buildings.«

 

»Selenger &. Co.«, sagte Jim nachdenklich. Das war ein neues Rätsel. Wer mochte denn sonst noch Nachforschungen über das junge Mädchen anstellen? Er nahm das Telefonadreßbuch, schlug die Firma nach und fand sie auch gleich. Schnell nahm er seinen Hut, rief ein Taxi an und fuhr zur Brade Street. Nach einigem Suchen entdeckte er auch das Geschäftshaus. Es war ein mittelgroßer Häuserblock, und auf dem umfangreichen Firmen Verzeichnis am Eingang war auch die Firma Selenger & Co. vermerkt. Ihre Büros befanden sich im Erdgeschoß, Zimmer Nr. 6.

 

Der Raum war verschlossen und wurde anscheinend nicht benützt. Jim suchte den Portier unten auf.

 

»Nein, Sir«, sagte der Mann kopfschüttelnd. »Selengers haben jetzt nicht auf. Am Tag ist niemand hier, nur nachts.«

 

»Nachts?« wiederholte Jim erstaunt. »Das ist aber eine etwas ungewöhnliche Zeit, um Geschäfte zu machen.«

 

Der Portier sah ihn unliebenswürdig an.

 

»Die Leute müssen wohl selbst am besten wissen, wie sie ihre Geschäfte machen«, sagte er mit Nachdruck.

 

Es dauerte einige Zeit, bevor Jim den beleidigten Mann beruhigen konnte. Dann erfuhr er aus der Unterhaltung mit ihm, daß Selengers offenbar bevorzugte Mieter waren. Wegen einer Beschwerde dieser Firma war sein Vorgänger entlassen worden, und die Neugierde einer Reinmachefrau über die nächtliche Tätigkeit dieser Leute führte zu der sofortigen Entlassung dieser Vorwitzigen.

 

»Ich glaube, sie handeln mit ausländischen Aktien«, sagte der Portier. »Es kommen viele Auslandstelegramme hier an, aber ich habe den Inhaber des Geschäfts noch niemals gesehen. Er kommt stets durch den Seiteneingang herein.«

 

Dieser zweite Eingang zu den Büroräumen der Firma ging von einem kleinen Hof aus. Selenger & Co. war die einzige Firma in diesem Gebäude, die zwei Eingänge zu ihren Büros hatte. Und außerdem war es nur ihnen gestattet, die ganze Nacht hindurch zu arbeiten.

 

»Selbst die Bankagenten in der zweiten Etage müssen um acht Uhr schließen«, erklärte der Portier. »Und das ist sehr hart für sie, besonders wenn eine Hausse in Aktien ist. Dann haben sie gewöhnlich so viel Arbeit, daß sie bis zwölf aufhalten könnten. Aber um acht wird ganz streng geschlossen. Die Mieten sind hier nicht besonders hoch, und es ist eine große Nachfrage nach Büros in der City heutzutage. Die Zeiten werden hier strikt innegehalten; das war schon so zu Mr. Dantons Zeit.«

 

»Mr. Dantons Zeit?« fragte Jim schnell. »War er denn der Eigentümer des Gebäudes? Sie meinen doch den Schiffsreeder Danton, der ein großes Millionenvermögen besaß?«

 

Der Mann nickte.

 

»Jawohl, Sir«, sagte der Portier, der anscheinend mit der Wirkung seiner Worte sehr zufrieden war. »Aber er hat es verkauft oder sonstwie veräußert – schon vor einigen Jahren. Ich weiß es zufällig, weil ich damals als Bürobote in demselben Hause angestellt war. Ich kann mich sehr genau auf Mr. Danton besinnen – sein Büro lag in der ersten Etage; es war ganz herrlich dort.«

 

»Wer bewohnt die Räume denn jetzt?«

 

»Ein Ausländer, Levenski. Er ist aber niemals hier.«

 

Jim hielt die Nachrichten, die er erhalten hatte, für so wichtig, daß er sich aufmachte, um Mr. Salter in seiner Wohnung zu besuchen. Er erfuhr nur, daß der Rechtsanwalt nichts von diesem Geschäftshaus in der Brade Street wußte. Er konnte sich lediglich darauf besinnen, daß es eine Privatspekulation Dantons war. Es kam in seinen Besitz, als die früheren Eigentümer in Konkurs gerieten. Er hatte das Gebäude später ohne Rücksprache mit seinem Anwalt veräußert. Jim stand wieder vor einem Rätsel.

 

Kapitel 9

 

9

 

Ich kann heute nicht im Büro bleiben, ich habe verschiedene wichtige Dinge zu erledigen«, sagte Jim.

 

Mr. Salter sah auf. »Geschäfte, Steele?« fragte er höflich.

 

»Nicht nur Geschäfte.« Jim hatte den Eindruck, daß Mr. Salter wußte, um was es sich handelte.

 

»Es ist gut.« Salter setzte seine Brille wieder auf und wandte sich der Arbeit zu.

 

»Ich möchte Sie aber noch etwas fragen, Mr. Salter. Deswegen kam ich ja eigentlich hierher, sonst hätte ich Ihnen meine Abwesenheit auch telefonisch erklären können.«

 

Der Rechtsanwalt legte geduldig die Feder wieder hin.

 

»Ich verstehe nicht recht, warum dieser Mr. Groat so viele spanische Freunde hat? Da ist zum Beispiel eine junge Dame, die er sehr häufig sieht, Comtessa Manzana. Haben Sie schon von ihr gehört?«

 

»Ich lese ihren Namen gelegentlich in der Zeitung.«

 

»Es verkehren noch andere Spanier bei ihm, besonders ein gewisser Villa. Auch habe ich erfahren, daß Mr. Groat fließend spanisch spricht.«

 

»Das ist merkwürdig.« Mr. Salter lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Sein Großvater hatte auch viele spanische Freunde. Vielleicht ist irgendwie eine spanische Verwandtschaft in der Familie. Der alte Danton, ich meine damit Jonathan Dantons Vater, verdiente den größten Teil seines Vermögens in Spanien und Zentralamerika. Die Dantons waren eigentlich eine sonderbare Familie. Sie lebten alle sehr zurückgezogen und für sich, und ich glaube, Jonathan Danton hat während seiner letzten zwanzig Jahre nur ein Dutzend Worte mit seiner Schwester gewechselt. Sie waren nicht böse miteinander, das war nur eine seiner Eigentümlichkeiten. Ich kenne auch andere Familien, in denen dergleichen vorkommt. Schweigsame Leute, aber sehr ehrenhaft.«

 

»Hat der Großvater Dantons Mrs. Groat irgendein Vermögen hinterlassen? Er hatte doch nur zwei Kinder? Einen Sohn und diese Tochter?«

 

Septimus Salter nickte.

 

»Er hat ihr keinen Pfennig vermacht. Sie lebte in Wirklichkeit von der Mildtätigkeit ihres Bruders. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde sie der alte Mann nicht leiden mochte. Jonathan wußte ebensowenig darüber wie ich, denn der Alte sprach nie darüber. Jonathan hat sich verschiedene Male mit mir darüber unterhalten, was seine Schwester wohl getan haben mochte, daß sie sich die Abneigung ihres Vaters zuzog. Diese Abneigung, um nicht zu sagen Feindschaft, war auch der Grund, warum er seine Tochter in seinem Testament vollständig überging.

 

Vielleicht ärgerte sich der alte Mann über ihre Heirat mit Mr. Groat, denn dieser hatte keine große gesellschaftliche Stellung. Er war nur ein Angestellter in Dantons Liverpooler Büro. Er wußte sich in Gesellschaft nicht zu bewegen, hatte ein unfreundliches Wesen und stand mit seiner Frau niemals auf gutem Fuß. Die arme Lady Mary war die einzige, die immer gut zu ihm war. Seine Frau haßte ihn aus einem Grunde, den ich nicht näher kenne. Als er starb, hinterließ er sein ganzes Geld einem entfernten Vetter. Es waren ungefähr fünftausend Pfund. Der Himmel mag wissen, woher er die hatte. – Aber nun machen Sie, daß Sie fortkommen, Steele!« sagte Mr. Salter verzweifelt. »Sie bringen mich immer wieder auf diese alten Geschichten.«

 

Jim ging an diesem Morgen zuerst zum Ministerium des Innern. Er wollte das Geheimnis aufklären, das über Madge Benson lag. Weder das Polizeipräsidium noch die Zentraldirektion der Gefängnisse waren gewillt gewesen, einem Privatmann irgendwelche Auskunft zu geben, und in seiner Verzweiflung hatte er sich direkt ans Büro des Unterstaatssekretärs gewandt. Glücklicherweise hatte er dort einen Freund, einen Mann von mittlerem Alter, mit dem er während des Krieges in Frankreich war.

 

Er empfing ihn in seinem Büro mit einer Wärme, die Jim zeigte, daß er nicht vergessen war.

 

»Nehmen Sie Platz. Ich kann Ihnen leider nur wenig in dieser Angelegenheit mitteilen.« Er nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch auf. »Eigentlich dürfte ich Ihnen ja überhaupt nichts darüber sagen – aber hier ist die Auskunft, die mir die Gefängnisdirektion gesandt hat.«

 

Jim las die wenigen Zeilen, die darauf standen.

 

»Madge Benson, 26 Jahre alt, Hausmädchen. Ein Monat Gefängnis wegen Diebstahls. Verurteilt vom Polizeigericht in Marylebone. 5. Juni 1911. Überführt nach Holloway-Gefängnis. Entlassen am 2. Juli 1911.«

 

»Wegen Diebstahls?« sagte Jim nachdenklich. »Man weiß natürlich nicht, was sie gestohlen hat?«

 

Der Beamte schüttelte den Kopf.

 

»Ich würde Ihnen den Rat geben, den Gefängniswärter in Marylebone aufzusuchen. Diese Leute haben oft ein außerordentlich gutes Gedächtnis für Personen. Außerdem könnten Sie ja auch noch die Akten über ihre Verurteilung einsehen. Aber es wäre besser, wenn Sie Mr. Salter darum bitten, einen Antrag zu stellen. Einem Rechtsanwalt wird man die Auskunft nicht verwehren.«

 

Aber das war ja gerade das, was Jim nicht tun wollte.

 

Kapitel 48

 

48

 

Digby Groat wußte nichts von dem Besuch des Kapitäns und war zufrieden, daß der Wachtposten von der Kabine zurückgezogen war. Jetzt stand nichts mehr zwischen ihm und der Frau – nur noch ihre eigene Kraft und Stärke. Er liebte sie in seiner Art, so verworfen er auch sonst war. Er kam den Gang entlang und klopfte an die Tür, denn er fand einen Gefallen daran, diese gesellschaftliche Form aufrechtzuerhalten, die doch im Augenblick bedeutungslos war. Als aber keine Antwort kam, öffnete er die Tür langsam und trat ein.

 

Eunice stand am anderen Ende der Kabine. Die seidenen Vorhänge waren zurückgezogen, und die Tür zu ihrem Salon stand weit offen. Sie war vollständig angekleidet und hielt die Hände auf dem Rücken.

 

»Mein Liebling«, sagte Digby schmeichelnd und liebenswürdig, »warum ermüden Sic Ihre schönen Augen? Sie hätten sich zu Bett legen und schlafen sollen.«

 

»Was wollen Sie?«

 

»Was könnte ein Mann, der eine so schöne Frau hat, anderes wünschen, als sich mit ihr zu unterhalten und das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu genießen?« fragte er heiter.

 

»Bleiben Sie stehen«, rief sie ihn scharf an, als er den Versuch machte, weiter vorzudringen. Ihre gebieterische Stimme veranlaßte ihn, zu gehorchen.

 

»Aber Eunice«, sagte er kopfschüttelnd. »Sie machen soviel Unannehmlichkeiten und Umstände – das ist doch in dieser Situation nur töricht von Ihnen. Sie brauchen nur vernünftig zu sein, dann gibt es nichts in der Welt, was ich Ihnen nicht geben könnte und möchte!«

 

»Sie können mir nichts geben und haben nichts zu verschenken außer dem Geld, das Sie mir gestohlen haben«, sagte sie eisig. »Warum sprechen Sie denn vom Schenken, wenn ich doch diejenige bin, der alles gehört? Sie können höchstens mein Mitleid erregen.«

 

Er starrte sie an und war verblüfft über ihre Ruhe, da sie doch in größter Gefahr schwebte. Er lachte auf und ging langsam auf sie zu. Seine dunklen Augen glühten.

 

»Bleiben Sie stehen!« rief Eunice wieder und zeigte nun die Waffe, um ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen.

 

Digby starrte auf die Mündung der Pistole, die auf ihn gerichtet war und taumelte zurück. »Legen Sie das Ding weg«, schrie er heiser. »Verdammt, wollen Sie es wohl tun? Sie sind doch überhaupt nicht gewöhnt, mit Feuerwaffen umzugehen! Das Ding könnte ja losgehen!«

 

»Es wird auch losgehen«, sagte Eunice mit tiefer, eindringlicher Stimme. All der Abscheu, der in ihr aufgespeichert war, kam zum Durchbruch. »Digby Groat, ich sage Ihnen, daß ich Sie wie einen Hund erschießen werde und daß ich mich freue, wenn Sie niederstürzen. Ich werde weniger Erbarmen mit Ihnen haben als Sie mit dem Spanier, den Sie ermordeten.«

 

»Legen Sie die Waffe fort! Wer hat sie Ihnen gegeben? Um Gottes willen, Eunice, machen Sie keinen Unsinn damit!«

 

»Es gab Zeiten, da ich Sie sehr gern getötet hätte«, sagte sie. »Hätte ich damals eine Waffe gehabt, lebten Sie nicht mehr.« Als sie sah, wie er sich feige zurückzog, senkte sie die Pistole.

 

Er wischte sich mit einem seidenen Taschentuch den kalten Schweiß von der Stirn. Seine Knie zitterten.

 

»Wer hat Ihnen die Pistole gegeben?« fragte er heftig. »Sie hatten sie noch nicht, als wir von Kennett Hall abfuhren. Wo haben Sie sie her? Haben Sie sie in einer der Schubladen gefunden?« Er sah nach dem Schreibtisch. Eine der Schubladen stand halb offen.

 

»Darauf kommt es gar nicht an, Mr. Groat. Gehen Sie jetzt aus meiner Kabine und lassen Sie mich in Ruhe.«

 

»Ich hatte gar nicht die Absicht, Ihnen irgendwie zu nahe zu treten«, sagte er furchtsam. Er sah noch sehr bleich aus. »Es war nicht nötig, mich mit der Pistole zu bedrohen. Ich wollte Ihnen Gute Nacht sagen.«

 

»Da hätten Sie sechs Stunden früher kommen sollen«, sagte sie ironisch.

 

»Hören Sie mich an, Eunice«, beharrte er und wollte sich ihr wieder nähern. Aber als sie die Pistole wieder auf ihn richtete, sprang er zur Tür. »Wenn Sie mir so drohen, gehe ich«, rief er und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Sie lehnte sich gegen die silbernen Bettpfosten, denn sie war am Ende ihrer Kraft. Sie mußte sich jetzt niederlegen und wenigstens etwas ruhen. Schlafen durfte sie ja nicht, da ihr immer noch Gefahr drohte. Sie ging in das nebenan liegende Wohnzimmer, dann in das Bad, um zu sehen, ob man von dort aus in ihre Räume eindringen könne, aber sie war von dieser Seite aus sicher. Sie hatte alle Paneele untersucht, ob sie keine Geheimtüren fände.

 

Kaum hatte sie wieder ihr Schlafzimmer erreicht, als sie plötzlich von hinten angefallen wurde. Digby Groat hatte sich heimlich hereingeschlichen und neben der Tür auf sie gewartet. Seine Hand entwand ihr die Pistole, die Waffe fiel polternd zu Boden. Im nächsten Augenblick schloß er sie in seine Arme.

 

»Ich werde deinen Widerstand brechen«, sagte er atemlos. »Dein Gesicht soll nahe an dem meinen sein, ich will deine schönen Augen sehen, deinen herrlichen Mund fühlen!«

 

Er preßte seine Lippen auf die ihren und drückte begehrliche Küsse auf ihre Wangen, ihren Hals, ihre Augen.

 

Sie fühlte, wie ihre Kräfte versagten. Er preßte sie so stark an sich, daß ihr Rückgrat schmerzte. Der plötzliche Schrecken hatte sie so gelähmt, daß sie sich nicht mehr gegen seine Liebkosungen wehren konnte. Sie blickte starr auf seine Augen, die ihr so nahe waren. Sie war gelähmt wie ein Vogel durch den Blick einer Schlange.

 

»Du bist jetzt mein – hörst du – du wirst Jim Steele vergessen – du wirst alles vergessen und nur noch daran denken, daß ich dich anbete!« Als er sah, daß sie zur Tür schaute, wandte er sich plötzlich um.

 

Der kleine Kapitän stand dort, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und beobachtete den Vorgang. Seine Züge waren undurchdringlich und hart.

 

Digby ließ Eunice los.

 

»Was, zum Teufel, haben Sie denn hier zu tun? Machen Sie, daß Sie hinauskommen!« schrie er.

 

»Ein Flugzeug ist hinter uns her. Wir haben einen Funkspruch von ihm bekommen.«

 

Digby erschrak. Mit dieser Möglichkeit hatte er nicht gerechnet.

 

»Was ist es für ein Flugzeug? Wie heißt der Funkspruch?«

 

»›Nichts gesichtet. Fliege nach Süden.‹ Dann ist noch die genaue Lage des Flugzeugs angegeben. Wenn es weiter nach Süden kommt, wird Mr. Steele uns finden.«

 

Digby taumelte einen Schritt zurück.

 

»Steele?« fragte er heiser.

 

Der Kapitän nickte.

 

»Mit diesem Namen war die Botschaft unterzeichnet. Ich glaube, es ist ratsam für Sie, an Deck zu kommen.«

 

»Ich komme an Deck, wann es mir beliebt«, schrie Digby. Der Teufel in ihm erwachte, und er verlor seine Selbstbeherrschung vollständig.

 

»Werden Sie jetzt so gut sein und an Deck kommen?«

 

»Ich werde kommen, wenn ich diese Angelegenheit hier geregelt habe.«

 

»Sie haben erst Ihre Angelegenheiten an Deck zu regeln!«

 

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen!« brüllte Digby.

 

Er hatte nicht gesehen, daß der Kapitän eine Bewegung machte; aber plötzlich ertönte ein Schuß, dessen betäubender Knall die enge Kabine erfüllte. Ein Holzpaneel hinter Digbys Kopf splitterte.

 

Groat starrte auf den Revolver in der Hand des Brasilianers. Er hatte die Zusammenhänge im Augenblick noch nicht erfaßt.

 

»Ich hätte Sie ebensogut auch erschießen können«, sagte der Kapitän ruhig. »Aber ich habe zuerst einmal einen Warnungsschuß dicht an Ihrem Ohr vorbei abgegeben. Kommen Sie bitte mit an Deck!«

 

Digby gehorchte.

 

Verstört und bleich lehnte er an der Reling und sah finster auf den Brasilianer, der zwischen ihn und die Frau getreten war, die er hatte demütigen wollen.

 

»Nun sagen Sie mir, was das alles heißen soll, Sie Schwein!«

 

»Ich habe Ihnen vieles zu sagen, was Sie nicht gern hören werden«, entgegnete der Kapitän.

 

Plötzlich dämmerte Digby eine Erkenntnis auf. »Haben Sie ihr den Revolver gegeben?«

 

»Ja. Ich wollte Sie davor bewahren, unüberlegte Handlungen zu begehen, mein Freund. Spätestens in einer Stunde wird Steele uns gesichtet haben. Ich kann Ihnen auf der Karte zeigen, wo er schon ist. Wollen Sie noch mehr Verbrechen begangen haben, wenn er an Bord kommt?«

 

»Das ist meine Sache«, zischte Digby Groat. Sein Atem ging schnell; er fühlte, daß er ersticken würde, wenn die Wut, die sich in ihm aufgespeichert hatte, nicht irgendwie zur Entladung kam.

 

»Aber es ist auch meine Sache, denn ich beabsichtige nicht, in ein englisches Gefängnis zu ziehen. In England ist es mir zu kalt, ich würde den Winter nicht überleben. Es bleibt jetzt nur noch eins übrig. Wir müssen strikt unseren westlichen Kurs einhalten. Hoffentlich bemerkt uns das Flugzeug nicht; wenn es uns entdeckt, ist es zu Ende.«

 

»Machen Sie, was Sie wollen«, sagte Digby, wandte sich kurz um und ging in seine Kabine.

 

Er war geschlagen, und das Ende kam heran. Er nahm aus einer Schublade eine kleine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit und entleerte sie in ein Glas, das er in Reichweite auf den Tisch stellte. Er würde keine großen Schmerzen spüren – ein Schluck, dann schlief er ein, und alles war vorbei. Dieser Gedanke beruhigte ihn.

 

Kapitel 49

 

49

 

Eine kleine Rauchfahne fern im Süden ließ Jim einer falschen Fährte nacheilen, denn das Schiff erwies sich nur als ein Frachtdampfer, der seinen drahtlosen Anruf nicht beantwortet hatte, weil der eine Mann, der den Apparat bedienen konnte, in seiner Kabine schlief. Jim erkannte, den Charakter des Schiffes, als er sich auf zwei Meilen genähert hatte. Sofort warf er seine Maschine herum und verfolgte einen Kurs nach Nordwesten.

 

Er sah sich nach seinem Passagier um; aber Inspektor Maynard fühlte sich sehr wohl auf seinem Sitz.

 

Jim wurde ängstlich. Er konnte höchstens vier Stunden in der Luft bleiben, und zwei waren schon vergangen. Er mußte noch genügend Brennstoff behalten, um das Land wieder zu erreichen. Er durfte höchstens noch eine halbe Stunde weitersuchen.

 

Er war schon fast verzweifelt, als er in großer Entfernung eine dünne Rauchfahne sah. Das Schiff selbst konnte er noch nicht erkennen. Er sandte einen Funkspruch, aber es kam keine Antwort. Er wartete eine Minute, dann klapperte der Sender wieder. Als das Stillschweigen anhielt, wurde er ärgerlich und funkte in scharfem Ton. Dann hörte er plötzlich einen hohen, schrillen Ton – der Dampfer antwortete.

 

»Was für ein Schiff ist das?«

 

Er wartete und zweifelte nicht, daß es irgendein kleiner Handelsdampfer sein würde. Wieder kam das hohe Summen.

 

»P-e-a-l-i-g-o«, war die Erwiderung.

 

*

 

Digby lehnte sich über die Brüstung, um zu sehen, was die Leute taten, die draußen in einem Boot niedergelassen wurden. Ais er entdeckte, daß sie den alten Namen ›Pealigo‹ zustrichen und ›Malaga‹ daraus machten, war er beruhigt und erfreut.

 

Er ging in bester Stimmung zum Kapitän. »Das war ein guter Gedanke von Ihnen!«

 

Der Kapitän nickte: »Natürlich in Ihrem Auftrag.«

 

»Selbstverständlich!« lächelte Digby. »Auf meinen Befehl.« Er stand neben dem Kapitän und unterhielt sich mit ihm. Es fiel ihm auf, daß der Mann dauernd nach Norden ausschaute und den Himmel absuchte.

 

Der Funker kam die Treppe zur Brücke herauf und überreichte dem Kapitän eine Botschaft.

 

Wenn sie aber entkommen sollten! – Es war immerhin möglich, daß sie allen Verfolgungen entgingen, die die Polizei gegen sie inszeniert hatte. Sie konnten auch das Land erreichen, daß er sich als Ziel gesteckt hatte. Vom Kapitän konnte er nicht erwarten, daß er dieses Risiko auf sich nahm, nachdem er die drahtlose Warnung erhalten hatte. Der wollte sich nach jeder Seite decken.

 

Wenn sie erst weit draußen auf dem offenen Meer waren, entfernt von den allgemeinen Schiffahrtswegen, würde der kleine Brasilianer seine Haltung ändern, und dann –! Digby nickte. Der Kapitän handelte eigentlich ganz klug. Es war Wahnsinn von ihm, daß er die Erfüllung seiner Wünsche jetzt erzwingen wollte.

 

Eunice konnte sich ja nicht vom Schiff entfernen. Sie fuhr mit ihm in derselben Richtung, zu demselben Ziel. Und es würden Wochen kommen, erfüllt von heißem, glühendem Sonnenschein, wo sie auf dem Vorderdeck nebeneinander sitzen und miteinander plaudern würden. Er nahm sich fest vor, jetzt vernünftig zu sein und sich nicht mehr wie ein Höhlenmensch zu gebärden. Wenn sie eine Woche lang hier auf dem Schiff zusammengelebt hatten, und er sie nicht in ihrer Freiheit störte, würde sie auch ihr Betragen ändern – aber immerhin gab es noch ein großes Wenn, das sah er wohl. Steele würde nicht ruhen, bis er ihn gefunden hatte. Aber zu der Zeit konnte sich Eunice auch schon an ihn gewöhnt haben und mit ihrem Los zufrieden sein.

 

Diese Gedanken beruhigten ihn. Er schloß das Glas wieder in den Schrank und schlenderte an Deck zurück. Zum ersten Male sah er das Schiff bei Tage. Es war eine wunderbare Jacht. Die Decks waren schneeweiß gestrichen, die blankgeputzten Messingstücke glänzten, und vorn auf dem Promenadendeck standen unter einem großen Sonnensegel Korbmöbel, die zum Sitzen einluden.

 

Er beobachtete den Horizont; es war kein Schiff in Sicht. Die vielen kleinen Wellen auf der See glitzerten im strahlenden Sonnenschein. Eine tiefschwarze Rauchfahne zog sich vom Schiff weit über das Meer hin, denn der ›Pealigo‹ raste jetzt mit einer Geschwindigkeit von zweiundzwanzig Knoten in der Stunde vorwärts. Der Kapitän betrog ihn also nicht; sie fuhren mit Volldampf nach Westen. Digby Groat war beruhigt.

 

Rechts in der Ferne zeigte sich ein unregelmäßiger, hellroter Streifen; es war die irische Küstenlinie.

 

Die Stühle sahen so schmuck und einladend aus, daß er sich niedersetzte und sich behaglich ausstreckte.

 

Wieder wandten sich seine Gedanken Eunice zu, die eben an Deck kam. Zuerst sah sie ihn nicht und ging zur Reling. Sie atmete freier in der erquickenden Morgenluft.

 

Wie schön sie doch war! Er konnte sich nicht darauf besinnen, einer Frau begegnet zu sein, die eine so schöne Haltung hatte.

 

Sie wandte sich um und machte eine Bewegung, als ob sie in ihre Kabine zurückgehen wollte. Aber er winkte ihr, und zu seinem Erstaunen kam sie näher. »Stehen Sie nicht auf«, sagte sie kühl. »Ich finde schon selbst einen Stuhl. Ich möchte mit Ihnen sprechen, Mr. Groat.«

 

Er schaute sie nur verwundert an.

 

»Ich habe nachgedacht, und ich kann Ihnen vielleicht einen Vorschlag machen, der Sie veranlaßt, den Kurs des Schiffes zu ändern und mich an der Küste von Irland oder England abzusetzen.«

 

»Was könnten Sie mir denn anderes bieten als sich selbst?«

 

»Ich biete Ihnen Geld«, erwiderte sie kurz. »Ich weiß nicht, durch welches Wunder es geschehen ist, aber ich bin die Erbin eines großen Vermögens, und Sie wissen, daß Sie durch meine Erbschaft arm geworden sind.«

 

»Aber abgesehen davon verfüge ich auch über große Mittel«, sagte er offensichtlich erheitert. »Was wollen Sie mir denn anbieten?«

 

»Die Hälfte meines Vermögens; wenn Sie mich nach England zurückbringen.«

 

»Und was wollen Sie mit der anderen Hälfte anfangen?« fragte er ironisch. »Wollen Sie mich damit vor dem Galgen retten? Nein, nein, meine junge Freundin, ich habe mich zu sehr verstrickt, als daß Ihr Plan ausführbar wäre. Ich werde Sie nicht mehr stören und werde warten, bis wir unser Ziel erreicht haben. Dann werde ich Sie um Ihre Hand bitten. Ihr Angebot war fair, das muß ich zugeben. Aber ich bin jetzt zu weit gegangen, um umkehren zu können. Im Augenblick hassen Sie mich, das Gefühl wird sich legen.«

 

»Niemals!« Sie erhob sich und wollte gehen; aber er ergriff sie bei der Hand und zog sie zurück. »Sie lieben einen anderen?«

 

»Sie haben kein Recht, diese Frage an mich zu stellen.«

 

»Ich frage Sie ja gar nicht – ich stelle nur fest. Sie lieben einen anderen – und zwar Jim Steele.« Er beugte sich vor. »Aber merken Sie sich, bevor ich Sie diesem Mann überlasse, bringe ich Sie um!«

 

Sie lächelte nur verächtlich.

 

»Was ist es?« fragte Digby schnell.

 

Ohne ein Wort reichte ihm der Brasilianer das Blatt.

 

›Weißes Schiff nach Westen, sendet Name, Nummer und Heimathafen.‹

 

»Woher kommt das?«

 

Der Kapitän erhob sein Fernglas und suchte wieder den nördlichen Himmel ab. »Ich kann nichts sehen«, sagte er stirnrunzelnd. »Möglicherweise ist es ein Anruf von einer Landstation. Ein Schiff kann ich auch nicht entdecken.«

 

»Wir wollen anfragen, wer es ist«, sagte Digby.

 

Die drei Männer gingen in die Funkkabine, und der Funker hängte die Hörer um. Plötzlich begann er zu schreiben. Digby beobachtete atemlos die Bewegung seines Bleistifts.

 

›Drehen Sie bei, ich komme an Bord.‹

 

»Was soll das heißen?« fragte Digby.

 

Der Kapitän trat unter dem Sonnensegel vor ins Freie und richtete sein Glas aufs neue zum Himmel. »Ich kann es nicht verstehen«, sagte er.

 

»Das Signal kam von ganz nahe, Kapitän, es war kaum drei Meilen entfernt«, unterbrach ihn der Funker.

 

Der Kapitän rieb sich das Kinn. »Dann wäre es das beste, wenn ich stoppte.«

 

»Sie werden keinen solchen Unsinn machen!« rief Digby stürmisch. »Sie werden weiterfahren, bis ich Ihnen den Befehl gebe, zu halten!«

 

Sie gingen zur Brücke zurück. Der Kapitän legte die Hand auf den Maschinentelegrafen. Er war unentschlossen.

 

Plötzlich fiel dicht vor ihnen, keine halbe Meile entfernt, etwas in die See, und das Wasser spritzte hoch auf.

 

»Was war denn das?« fragte Digby.

 

Als Antwort schoß an der Stelle eine große Rauchwolke empor, die sich immer mehr verbreiterte und einen undurchdringlichen Schleier bildete. Der Kapitän hielt sich die Hand über die Augen und schaute empor. Direkt über dem Schiff erblickte er ein silberhelles Flugzeug. Es war so klein, daß er es kaum ausmachen konnte.

 

»Sehen Sie, in der Luft kann sich viel ereignen.« Er drehte den Maschinentelegrafen auf ›Halt‹.

 

»Was war das?« fragte Digby wieder.

 

»Eine Rauchbombe. Und ich ziehe eine Rauchbombe in einer halben Meile Entfernung einer echten Bombe auf mein schönes Schiff vor!«

 

Digby starrte ihn einen Augenblick entsetzt an, dann sprang er mit einem Wutschrei auf ihn zu und riß den Maschinentelegrafen auf ›Volldampf voraus‹. Aber zwei Matrosen packten ihn sofort von hinten, und der Kapitän drehte den Maschinentelegrafen wieder auf ›Halt‹. »Melden Sie dem Flieger, dem Sie eben ja auch den Namen des Schiffes gesendet haben«, wandte er sich an den Funker, »daß ich Mr. Digby Groat in Ketten legen lasse.«

 

Aus dem blauen Himmelsgewölbe fiel das silberhelle Flugzeug herab, kreiste erst in großem Bogen um das Schiff und ging dann wie ein Vogel aufs Wasser nieder, ganz dicht neben der Jacht.

 

Schon vorher hatte der Kapitän ein Boot heruntergelassen, und während sich die Matrosen noch abmühten, Groat in Fesseln zu schließen, der wie ein Wahnsinniger um sich schlug, kam Jim Steele an Bord und folgte dem Kapitän nach unten.

 

Eunice hörte trotz, des Geräusches der Schiffsmaschinen das Summen des niedergehenden Flugzeuges. Sie eilte zum Fenster und zog die seidenen Gardinen fort.

 

Nun konnte sie das weiße Flugzeug sehen, das wie eine Mücke summte und jetzt aus der Sicht verschwand, weil es auf die andere Seite des Schiffes wechselte. Was hatte das wohl zu bedeuten? In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Ein Mann ohne Kragen und Weste, mit verwildertem Haar und zerrissenem Hemd, stand im Eingang. Sein verzerrtes Gesicht blutete. Ein Glied einer Handschelle war um sein Handgelenk befestigt. Es war Digby Groat, der von teuflischer Wut besessen war.

 

Sie wich nach dem Bett zurück, als er auf sie zukam. Heller Wahnsinn loderte in seinen Augen. Und plötzlich trat ein zweiter Mann in den Raum. Groat fuhr herum und begegnete dem stahlharten, kalten Blick Jim Steeles.

 

Mit einem markerschütternden Schrei sprang er wie ein wildes Tier den Mann an, den er so tödlich haßte. Aber er konnte den Schlag mit der schweren Handschelle nicht mehr ausführen, denn Jim traf ihn zweimal mit der Faust, so daß er bewußtlos zu Boden taumelte.

 

Im nächsten Augenblick lag Eunice in den Armen Jims.

 

 

Ende

 

Kapitel 5

 

5

 

Jim sprang auf und starrte verwundert auf diese unerwartete Erscheinung. Einen Augenblick lang standen sie sich schweigend gegenüber, Eunice war starr vor Schrecken und Überraschung.

 

»Jim – Mr. Steele!« sagte sie atemlos.

 

Im nächsten Augenblick legte er den Arm um ihre Schultern.

 

»Was ist geschehen?« fragte er schnell. Seine Stimme klang heiser.

 

Sie zitterte und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. »Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« flüsterte sie.

 

»Darf ich fragen, was das alles zu bedeuten hat?« fragte jemand leise. Eunice drehte sich um.

 

Ein Mann stand in der offenen Tür. Im ersten Augenblick erkannte sie ihn nicht. Selbst Jim, der doch Digby Groat schon oft aus der Nähe gesehen hatte, wußte nicht, wer es war, denn er war in einen langen, weißen Mantel gehüllt, der bis auf die Füße reichte. Eine weiße Kappe war so eng über seinen Kopf gezogen, daß die Haare vollständig bedeckt waren, Weiße Gummibänder hielten seine Ärmel nach oben, und seine Hände steckten in braunen Gummihandschuhen.

 

»Darf ich Sie fragen, Miss Weldon, warum Sie mitten in der Nacht vor meiner Haustür stehen, in so leichten Kleidern, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit geeignet sind? Kommen Sie herein und erklären Sie mir alles«, sagte er, als er zurückging. »Grosvenor Square ist nicht an solche nächtlichen Vorführungen gewöhnt.«

 

Sie klammerte sich an Jims Arm und ging mit ihm in die Halle zurück. Digby schloß die Haustür.

 

»Mr. Steele, Sie machen Ihren Besuch zu sehr früher Morgenstunde!«

 

Jim erwiderte nichts. Er achtete nur auf Eunice, die von Kopf bis Fuß zitterte. Er führte sie zu einem Stuhl.

 

»Sicher sind hier nähere Erklärungen notwendig«, sagte er dann kühl, »aber meiner Meinung nach von Ihrer Seite, Mr. Groat.«

 

»Von meiner Seite?« Auf diese Aufforderung war Digby offenbar nicht vorbereitet.

 

»Meine Anwesenheit hier ist schnell erklärt«, sagte Jim. Ich stand eben vor dem Haus, als die Tür aufging und Miss Weldon erschrocken herauseilte. Vielleicht sagen Sie mir, Mr. Groat, wie es kommt, daß diese Dame so außer sich ist?« Eine eisige Drohung lag in seinem Ton, »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das alles zu bedeuten hat. Ich arbeitete die letzte halbe Stunde in meinem Laboratorium. Erst als die Haustür geöffnet, wurde, kam mir zum Bewußtsein, daß irgend etwas nicht in Ordnung sein müßte.«

 

Eunice war wieder zu sich gekommen, und die Farbe kehrte allmählich in ihr Gesicht zurück. Aber ihre Stimme zitterte noch, als sie erzählte, was ihr zugestoßen war. Die beiden hörten ihr aufmerksam zu.

 

Jim beobachtete die Haltung Digbys und war beruhigt, als er sah, daß Digby sich ebensowenig wie er selbst die rätselhafte Erscheinung erklären konnte. Als Eunice zu Ende war, nickte Groat.

 

»Der fürchterliche Schrei, den Sie in meinem Laboratorium hörten«, sagte er lächelnd, »ist bald erklärt. Niemand wurde verletzt, oder wenn er verletzt wurde, war es zu seinem eigenen Vorteil. Mein kleiner Hund hatte sich einen Glassplitter in die Pfote getreten, und ich war gerade dabei, ihn herauszuziehen.«

 

Sie seufzte erleichtert auf.

 

»Es tut mir leid, daß ich soviel Unruhe gemacht habe«, sagte sie bedauernd, »aber ich – ich fürchtete mich zu sehr.«

 

»Sind Sie sicher, daß jemand in Ihrem Raum war?« fragte Digby.

 

»Ganz sicher.«

 

Aus einem ungewissen Gefühl heraus sagte sie ihm aber nichts von der Karte mit der blauen Hand.

 

»Und Sie glauben, daß die Person vom Balkon aus in Ihr Zimmer gekommen ist?«

 

Sie nickte.

 

»Kann ich Ihr Zimmer einmal ansehen?«

 

Sie zögerte einen Augenblick.

 

»Ich möchte erst gehen und ein wenig aufräumen«, sagte sie, denn sie erinnerte sich daran, daß sie die graue Karte auf ihrem Bett hatte liegenlassen. Und sie wollte unter keinen Umständen, daß Mr. Groat sie lesen sollte.

 

Ohne weitere Aufforderung folgte Jim Steele Digby nach oben und ging mit ihm zusammen in den prachtvoll ausgestatteten Raum. Auch er war über die ungewöhnlich schöne Einrichtung erstaunt. Aber der Eindruck, den sie auf ihn machte, sprach nicht zugunsten Digby Groats.

 

»Es stimmt, das Fenster ist nur angelehnt. Sie hatten es vorher bestimmt geschlossen?«

 

Das Mädchen nickte. »Ja, ich besinne mich genau, daß ich das große untere Fenster zugemacht habe. Ich öffnete die beiden Oberfenster, um in der Nacht frische Luft im Zimmer zu haben.«

 

»Aber wenn diese Person vom Balkon hereinkam«, meinte Digby, »wie ist sie denn dorthin gekommen?«

 

Er öffnete das bis zum Fußboden reichende Fenster, trat hinaus und ging den schmalen Balkon entlang bis zu dem viereckigen Balkon über dem Hauptportal. Hier befand sich eine andere große Fenstertür, die auf das Hauptpodest der großen Treppe führte. Er versuchte, sie zu öffnen, aber sie war fest geschlossen. Er ging durch das Zimmer des Mädchens zurück. »Merkwürdig«, sagte er vor sich hin.

 

Erst hatte er angenommen, daß seine Mutter vielleicht das Schlafzimmer des jungen Mädchens nach irgendwelchen glitzernden Schmuckstücken abgesucht hätte. Aber die alte Frau war nicht gewandt und beweglich genug, um den Balkon zu erklettern, auch hatte sie nicht den Mut, mitten in der Nacht einen solchen Raubzug zu unternehmen.

 

»Ich habe den Eindruck, daß Sie geträumt haben müssen, Miss Weldon«, sagte er lächelnd. »Und nun gebe ich Ihnen den guten Rat, sich zu Bett zu legen und zu schlafen. Es tut mir leid, daß Ihr Aufenthalt in meinem Hause mit einem so unangenehmen Vorfall beginnt.«.

 

Er hatte bis jetzt das zufällige Erscheinen Jim Steeles nicht erwähnt und sprach auch nicht darüber, bis sie sich von Eunice verabschiedet hatten und wieder unten in der Halle standen.

 

»Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Sie gerade vor der Tür waren. Was machten Sie dort? Haben Sie etwa Daktyloskopie dort studieren wollen?«

 

»Ja, so etwas Ähnliches.«

 

Mr. Groat zündete sich eine Zigarette an.

 

»Ich dachte, Sie seien tagsüber so beschäftigt, daß Ihnen keine Zeit übrigbliebe, sich nachts auf dem Grosvenor Square herumzutreiben.«

 

»So, meinen Sie?«

 

Digby lachte plötzlich.

 

»Sie sind ein merkwürdiger Mensch«, sagte er. »Kommen Sie einmal mit, ich will Ihnen mein Laboratorium zeigen.«

 

Auch Jim hatte den Wunsch, es zu sehen, und die Einladung ersparte ihm die Frage, woher der schreckliche Schmerzenslaut gekommen war, den Eunice gehört hatte.

 

Sie gingen durch den langen Gang und traten durch die weiße, rohrgeflochtene Tür in einen großen Anbau. Die Wände waren fensterlos und mit weißen Kacheln bedeckt. Der Raum wurde tagsüber durch ein großes Oberlicht erleuchtet, das nachts von blauen Gardinen verhüllt war. Der Raum wurde durch zwei starke Lampen erhellt, die von der Decke herabhingen.

 

In der Mitte stand ein kleiner, eiserner Tisch, dessen Füße mit Hartgummirollen versehen waren. Die Platte war weiß emailliert, und merkwürdige Schrauben waren in Zwischenräumen auf der Oberfläche angebracht.

 

Jim interessierte sich weniger für den Tisch als für das Tier, das darauf geschnallt war. Sein Körper wurde durch zwei eiserne Federn darauf festgehalten, von denen sich eine, über den Hals und die andere über das Rückgrat spannte. Die vier Pfoten waren durch dünne Schnürbänder befestigt. Der rauhhaarige Terrier sah Jim mit einem flehenden Blick an, der fast menschlich war. Jim hatte sofort Mitgefühl mit dem armen Tier.

 

»Ist das Ihr Hund?«

 

Digby sah ihn von der Seite an.

 

»Ja, er gehört mir. Warum fragen Sie?«

 

»Sind Sie denn mit Ihrer Operation fertig, und haben Sie ihm den Glassplitter aus der Pfote gezogen?«

 

»Nein, ich bin noch nicht ganz fertig«, sagte Digby kühl.

 

»Sie halten Ihren Hund aber nicht sehr sauber, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf.«

 

Digby wandte sich um.

 

»Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen?«

 

Jim ließ sich nicht beirren. Er sah Digby fest an:

 

»Ich habe den Eindruck, daß das nicht Ihr Hund ist, sondern ein armer Terrier, der sich verlaufen hat. Sie haben ihn vor einer halben Stunde auf der Straße gefunden und ihn in das Haus gelockt.«

 

»Nun – und?«

 

»Ich will Ihnen alle weitere Mühe ersparen und Ihnen sagen, daß ich Sie dabei beobachtet habe.«

 

Digbys Augen wurden klein.

 

»Ach, sehen Sie einmal an«, sagte er höflich. »Dann sind Sie also hinter mir hergewesen und haben mich beobachtet?«

 

»Das gerade nicht«, erwiderte Jim ruhig. »Ich habe nur meine Neugierde etwas befriedigt.«

 

Bei diesen Worten legte er seine Hand auf den Hund und streichelte seine Ohren freundlich.

 

Digby lachte.

 

»Nun, wenn Sie das alles wissen, dann kann ich Ihnen auch sagen, daß ich im Begriff bin, eine interessante Operation an dem Tier vorzunehmen. Ich will einen Teil seines Gehirns entfernen, um zu sehen –«

 

Jim schaute sich um.

 

»Wo haben Sie denn Ihre Betäubungsmittel?« fragte er freundlich. Es war ein böses Anzeichen, wenn er so leise und liebenswürdig sprach.

 

»Betäubungsmittel? Großer Gott, Sie werden doch nicht glauben, daß ich mein Geld verschwende, um einen Hund zu chloroformieren?«

 

Digbys Hand lag dicht vor dem Kopf des Hundes, und das unvernünftige Tier neigte sich vor und leckte ihm die Hand.

 

»Du verdammtes, schmutziges Vieh!« rief er und wischte seine Hand mit einem Tuch ab. Er nahm eine dichte Gummikappe und streifte sie über Mund und Nase des Tieres.

 

»Nun versuche noch einmal zu lecken«, sagte er lachend. »Nun kann das Vieh auch keinen Spektakel mehr machen. Sie sind ein wenig zu weichherzig, Mr. Steele. Sie wissen doch, daß die medizinische Wissenschaft ihre großen Fortschritte den Tierversuchen verdankt.«

 

»Ich kenne wohl den Wert der Vivisektion, aber sie muß unter gewissen Vorsichtsmaßregeln vorgenommen werden. Alle anständig denkenden Ärzte, die mit lebenden Tieren experimentieren, betäuben sie, bevor sie das Messer gebrauchen. Und alle Ärzte müssen ein Zeugnis und einen Erlaubnisschein von der Ärzteschaft haben, bevor sie solche Experimente machen dürfen. Wollen Sie so liebenswürdig sein, mir diesen Schein zu zeigen?«

 

Digbys Züge verdüsterten sich.

 

»Belästigen Sie mich hier nicht«, sagt er unwirsch. »Ich brachte Sie hierher, um Ihnen mein Laboratorium –«

 

»Und wenn Sie mich nicht mitgenommen hätten«, unterbrach ihn Jim, »dann wäre ich doch hereingegangen, denn ich hätte mich unter keinen Umständen mit Ihrer Erklärung zufriedengegeben. Ich weiß schon, daß Sie mir sagen wollen, daß der Hund sich nur fürchtete und nur so furchtbar heulte und winselte, als Sie ihm dieses schreckliche Eisenband um den Hals legten. Ich gebe Ihnen drei Minuten Zeit, Mr. Groat, den Hund von seinen Fesseln zu befreien.«

 

Digby war furchtbar wütend.

 

»Und wenn ich es nicht tue?« fragte er, schwer atmend.

 

»Dann werde ich mit Ihnen dasselbe machen, was Sie mit dem Hund gemacht haben. Glauben Sie nicht, daß ich dazu, imstande wäre?«

 

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen.

 

»Nehmen Sie jetzt die Klammern von dem Hund!«

 

Ihre Blicke maßen sich. Böser Haß glühte in Digbys Augen, aber dann fügte er sich, und in einer Minute war das Tier frei. Jim nahm den kleinen, zitternden Hund in seine Arme und streichelte ihn. Digby beobachtete die Szene düster, seine Zähne knirschten vor Wut.

 

»Ich werde Ihnen das nicht vergessen, und es soll Ihnen noch leid tun, daß Sie mich bei meiner Arbeit gestört haben!«

 

Jim sah ihn fest an.

 

»Ich habe mich noch niemals im Leben vor einer Drohung gefürchtet«, erwiderte er ruhig, »ich tue es auch jetzt nicht. Ich gebe gern zu, daß die Wissenschaft die Vivisektion braucht, aber nur unter gewissen Voraussetzungen. Leute Ihrer Art, die nur darauf bedacht sind, harmlose Tiere zu quälen, um ihre grausamen, wollüstigen Begierden zu befriedigen, bringen selbst die vornehmste Wissenschaft in Mißkredit. Mr. Groat, ich habe Sie durchschaut, Sie haben nicht die leiseste Absicht, der Wissenschaft zu dienen oder der leidenden Menschheit zu helfen. Als ich in dieses Laboratorium trat«, sagte er, als er schon auf der Türschwelle stand, »habe ich zwei Tiere gesehen – das größere von beiden lasse ich zurück.«

 

Er schlug die Tür zu und trat in den Gang hinaus. Digbys Eitelkeit war maßlos gekränkt.

 

Plötzlich kam Jim wieder zurück zu ihm.

 

»Haben Sie die Tür nach der Straße geschlossen, als Sie nach oben gingen?«

 

Digby runzelte die Stirn und vergaß im Augenblick die Beleidigung, die Jim ihm zugefügt hatte.

 

»Ja – warum fragen Sie?«

 

»Sie steht weit offen. Vermutlich hat der mitternächtliche Besucher Ihr Haus verlassen.«

 

Kapitel 6

 

6

 

Im hellen Sonnenschein des Morgens vergaß Eunice ihre Furcht und schämte sich wegen ihres Betragens in der Nacht. Aber die graue Karte war eine Tatsache. Sie zog sie unter ihrem Kissen hervor und grübelte darüber nach. Es mußte jemand in ihrem Zimmer gewesen sein. Und der Betreffende war nicht ihr Feind. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der ihr Herzklopfen verursachte. Konnte Jim –? Aber sie schüttelte den Kopf. Eine innere Stimme sagte ihr, daß es Jim nicht gewesen war. Unmöglich konnte es seine Hand gewesen sein, die sie berührt hatte, denn sie kannte deren Form ganz genau und erinnerte sich zu gut an seinen warmen und starken Händedruck.

 

Sie ging zum Frühstück ins Speisezimmer und fand dort Mr. Groat, einen tadellos gekleideten Weltmann. Er war froh und guter Laune, und man konnte ihm nicht das geringste Zeichen von Ermüdung anmerken, obgleich er sich erst um vier Uhr zur Ruhe gelegt hatte.

 

Er begrüßte sie höflich.

 

»Guten Morgen, Miss Weldon, ich hoffe, Sie haben sich von Ihrem nächtlichen Schrecken erholt?«

 

»Es tut mir so leid, daß ich Ihnen Umstände und Mühe gemacht habe«, sagte sie bedauernd und lächelte ihn an.

 

»Ach, das ist nicht der Rede wert«, entgegnete er herzlich. »Ich war nur froh, daß unser Freund Steele zugegen war, der Sie beruhigen konnte. – Miss Weldon, ich muß mich noch bei Ihnen entschuldigen ich habe Ihnen gestern abend eine kleine Lüge gesagt.«

 

Sie sah ihm voll ins Gesicht.

 

»So? Es wird nicht so schlimm gewesen sein«, meinte sie lachend.

 

»Ich erzählte Ihnen doch, daß ich meinem kleinen Hund einen Glassplitter aus der Pfote gezogen hätte. Es war aber in Wirklichkeit gar nicht mein Hund, ich hatte ihn auf der Straße aufgelesen und wollte ein kleines Experiment mit ihm machen. Sie wissen, daß ich Arzt bin?«

 

Sie zitterte.

 

»Also daher kamen die entsetzlichen Laute?« fragte sie etwas erschreckt.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, der Hund fürchtete sich nur. Ich hatte ihn überhaupt noch nicht verwundet und wollte es auch gar nicht tun. Ihr Freund hat mich dann aber überredet, den armen Kerl laufen zu lassen.«

 

Sie atmete erleichtert auf.

 

»Darüber freue ich mich sehr. Es wäre mir schrecklich gewesen, wenn Sie es getan hätten.«

 

Er lachte leise, als er seinen Platz bei Tisch einnahm.

 

»Steele dachte zuerst, daß ich meine Tierversuche mache, ohne die Tiere zu chloroformieren, aber das ist natürlich absurd. Es ist sehr schwer, Leuten, die nicht vom Fach sind, zu erklären, welche Fortschritte die medizinische Wissenschaft durch die Tierversuche gemacht hat. Natürlich werden alle diese Experimente durchgeführt, ohne daß die Tiere auch nur den geringsten Schmerz spüren«, sagte er leichthin. »Ich würde ebensowenig daran denken, einen kleinen Hund zu verletzen, als Sie mit dem Messer zu schneiden.«

 

»Davon bin ich auch überzeugt«, sagte sie dankbar.

 

Digby Groat war ein schlauer Mann. Er wußte genau, daß Jim wieder mit Eunice zusammentreffen und ihr von seinem Erlebnis im Laboratorium auf seine Art erzählen würde. Es war daher notwendig, daß er ihr die Geschichte zuerst mitteilte, denn er wollte sie nicht irgendwie verletzen, sondern in möglichst gute Beziehungen zu ihr kommen. Er hatte sie zu seinem eigenen Vorteil und zu seinem Amüsement in das Haus gebracht, und er erkannte jetzt, daß sie noch viel schöner und begehrenswerter war, als er sich jemals vorgestellt hatte.

 

Digby war ein Kenner weiblicher Schönheit und war eigentlich vor dem Frühstück etwas bange gewesen, denn das schöne Aussehen der Frauen verträgt selten helles Tageslicht. Er war noch niemals wirklich verliebt gewesen, obgleich er schon viele Frauen kennengelernt und wieder verabschiedet hatte. Aber Miss Weldon hatte von allen bis jetzt den tiefsten Eindruck auf ihn gemacht. Sicher würde sie ihm einige Wochen die Langeweile verkürzen und ihn den grauen Alltag vergessen lassen, bis wieder eine neue Sensation kam.

 

Die Probe fiel glänzend für sie aus. Ihre zarte Haut, durch kein Verschönerungsmittel berührt, war fleckenlos rein, ihre glänzenden Augen strahlten, und ihr ganzes Aussehen sprach von Gesundheit und Natürlichkeit. Ihre Hände waren vollkommen.

 

Eunice selbst fühlte sich weder von ihm angezogen noch durch ihn abgestoßen. Digby Groat war für sie einer der vielen, denen man im Leben begegnet, die man sieht oder nicht sieht, die interessant oder unangenehm wirken können. Mit einigen wird man vorübergehend bekannt, spricht mit ihnen, einige sieht man nur im Vorübergehen, und sie verschwinden aus dem Gesichtskreis, um nie wieder aufzutauchen.

 

»Meine Mutter kommt niemals zum Frühstück herunter«, erwähnte Digby im Laufe der Unterhaltung. »Glauben Sie, daß Ihre Beschäftigung Sie befriedigen wird?«

 

»Ich weiß noch nicht, worum es sich handelt.«

 

»Meine Mutter ist ein wenig sonderbar, ich möchte fast sagen, exzentrisch. Aber ich glaube, Sie sind verständig genug, um mit ihr fertig zu werden. Die Arbeit wird in der ersten Zeit gerade nicht sehr schwer sein. Ich hoffe, daß Sie später vielleicht fähig sein werden, mir bei meinen anthropologischen Studien zu helfen.«

 

»Das klingt schrecklich wichtig. Was bedeutet das?«

 

»Ich studiere Gesichter und Köpfe«, sagte er leichthin, »und habe zu diesem Zweck viele Fotografien aus allen Teilen der Welt gesammelt. Mit der Zeit will ich eine Sammlung von über einer Million Bildern zusammenbringen. Diese Wissenschaft ist in unserem Lande bis jetzt sehr vernachlässigt worden. Die Italiener haben viel darin geleistet. Wahrscheinlich haben Sie schon von Mantegazza und Lombroso gehört?«

 

Sie nickte.

 

»Das sind die großen Kriminalisten, nicht wahr?« sagte sie zu seinem Erstaunen.

 

»Ach, Sie haben sich schon etwas damit beschäftigt?«

 

»Das ist sehr verlockend für mich!« Sie sah ihn begeistert an.

 

»Ich würde Ihnen sehr gern bei dieser Arbeit helfen, wenn Ihre Mutter nicht zu viel Arbeit für mich hat.«

 

»Die wird Ihnen schon freigeben können.«

 

Ihre Hand lag auf dem Tisch ganz nahe bei der seinen, und er war in Versuchung, sie zu streicheln. Aber er beherrschte sich und berührte sie nicht. Er wußte menschliche Charaktere gut und schnell zu beurteilen. Wenn es eine andere Frau gewesen wäre, hätte er seine Hand liebenswürdig auf die ihre gelegt; sie hätte verwirrt gelacht, die Augen niedergeschlagen, und das übrige hätte sich dann schon gefunden. Aber bei Eunice durfte er nicht so vorgehen, sonst würde sie wahrscheinlich heute abend nicht mehr im Hause sein. Aber er konnte ja warten, und sie war es auch wert, daß man auf sie wartete, denn sie war wirklich entzückend. Die halbe Freude des Lebens liegt in der Jagd nach Vergnügen, und die Jagd danach ist nur eine Form heftigen Vorgenusses. Manche Menschen finden die größte Befriedigung darin, sich in ihrer Phantasie Freuden auszumalen, die früher oder später in Erfüllung gehen müssen, und Digby Groat gehörte zu diesen.

 

Als sie aufschaute, begegnete sie einem seiner brennenden Blicke und errötete. Mit Überwindung sah sie ihn noch einmal an; aber nun war nichts Ungewöhnliches mehr an ihm zu sehen.

 

Kapitel 7

 

7

 

Die ersten Tage in ihrer neuen Stellung waren eine harte Probe für Eunice Weldon.

 

Sie beklagte sich am dritten Tag während des Frühstücks bei Digby, daß Mrs. Groat ihr überhaupt nichts zu tun gebe.

 

»Ich fürchte, daß ich hier überflüssig bin«, sagte sie. »Es ist nicht recht, daß ich unter diesen Umständen Gehalt von Ihnen annehme.«

 

»Warum denn?« fragte er schnell.

 

»Ihre Mutter zieht es vor, ihre Briefe allein zu schreiben. Außerdem scheint ihre Korrespondenz wenig umfangreich zu sein!«

 

»Ach was, Unsinn!« erwiderte er scharf. Als er aber sah, daß er sie durch seinen Ton beleidigte, sprach er liebenswürdig weiter. »Meine Mutter ist nicht daran gewöhnt, daß man ihr hilft, sie ist eine der Frauen, die alles allein tun wollen. Deshalb sieht sie ja auch so angegriffen und alt aus, weil sie sich so sehr abgearbeitet hat. Es gibt hundert Aufgaben, die sie Ihnen übertragen könnte. Aber Sie müssen es der alten Frau zugute halten, Miss Weldon. Es dauert lange Zeit, bevor sie Zutrauen zu fremden Menschen faßt.«

 

»Das kann ich verstehen«, erwiderte sie und nickte.

 

»Meine arme Mutter ist ganz auf sich beschränkt«, meinte er lächelnd, »aber ich bin sicher, daß sie Ihnen noch genügend zu tun gibt, wenn sie Sie erst kennenlernen wird.«

 

Nach dem Frühstück ging er gleich in das kleine Wohnzimmer seiner Mutter. Er fand sie nicht dort, sondern in ihrem Ankleidezimmer, wo sie dicht am Kamin neben einem offenen Feuer saß. Er schloß die Tür sorgfältig und ging zu ihr hinüber. Sie schaute ihn furchtsam an.

 

»Warum gibst du dem Mädchen nichts zu tun?« fragte er. scharf.

 

»Ich habe doch nicht so viel zu tun«, entgegnete sie weinerlich. »Hör, Digby, das ist eine ganz überflüssige Ausgabe, ich kann sie gar nicht leiden.«

 

»Du wirst ihr von heute ab Arbeit geben – ich möchte dir das nicht noch einmal sagen müssen!«

 

»Sie wird mich nur ausspionieren. Du weißt doch, daß ich seit Jahren keine Briefe mehr geschrieben habe, mit Ausnahme des Briefes an den Rechtsanwalt, den ich auf deine Veranlassung hin schrieb.«

 

»Also du wirst ihr Arbeit geben«, wiederholte Digby Groat. »Hast du mich verstanden? Lasse sie doch alle die Rechnungen durchsehen, die du in den letzten Jahren bekommen hast. Sie soll sie sortieren und alle Ausgaben sorgfältig in ein Buch eintragen. Auch deine Bankabrechnungen kannst du ihr geben. Sie soll die Schecks damit vergleichen. Verdammt noch einmal – wenn du nur wolltest, hättest du wirklich genug für sie zu tun! Das kannst du doch wahrhaftig veranlassen; es ist schauderhaft, daß ich dich immer beaufsichtigen muß!«

 

»Ich will es tun, Digby«, erwiderte sie schnell. »Du bist wieder recht hart und böse zu mir. Ich hasse dies ganze Haus!«, rief sie plötzlich heftig. »Ich hasse die Leute hier im Hause. Heute morgen habe ich in ihr Zimmer gesehen, das sieht ja aus wie ein Palast. Es muß ja Tausende von Pfund gekostet haben, nur diesen Räum einzurichten. Das ist doch einfach eine Sünde, so viel für ein einfaches Mädchen auszugeben!«

 

»Das geht dich gar nichts an! Du sollst ihr für die nächsten vierzehn Tage Arbeit geben!«

 

Eunice war überrascht, als Mrs. Groat sie rufen ließ.

 

»Ich habe etwas für Sie zu tun, Miss – ich kann mir Ihren Namen nicht merken.«

 

»Eunice«, sagte das junge Mädchen lächelnd.

 

»Ich kann den Namen Eunice nicht leiden«, murmelte die alte Frau vor sich hin. »Die letzte hieß Lola, eine Ausländerin – ich war froh, als sie ging. – Haben Sie denn keinen anderen Namen?«

 

»Weldon ist mein Familienname. Sie können mich ›Weldon‹ oder ›Eunice‹ nennen, oder wie es Ihnen beliebt, Mrs. Groat.«

 

Die alte Frau räusperte sich.

 

Vor ihr stand eine große Schublade mit Schecks, die von der Bank zurückgekommen waren.

 

»Sehen Sie diese Papiere durch«, sagte sie, »und machen Sie irgend etwas damit. Ich weiß nicht, was.«

 

»Soll ich sie vielleicht an die Rechnungen heften, zu denen sie gehören?«

 

»Ja, das meine ich. Sie wollen es doch nicht hier machen? Aber es ist doch besser, daß Sie nicht damit aus meinem Zimmer gehen; ich wünsche nicht, daß die Dienstboten in meinen Abrechnungen herumschnüffeln.«

 

Eunice stellte die Schublade auf den Tisch, nahm die Rechnungen und die Abschnitte des Scheckbuches, holte sich eine kleine Flasche Leim und machte sich an die Arbeit. Ihre goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres verstorbenen Vaters, legte sie auf den Tisch, weil sie sie bei der Arbeit störte. Mrs. Groats habgierige Blicke waren sofort darauf gerichtet, und mit einem Male rückte sie näher.

 

Die Arbeit schien sehr umfangreich zu sein, aber Eunice ging methodisch vor, und als der Gong zu Tisch rief, war sie schon fertig.

 

»Bitte, Mrs. Groat«, sagte sie lächelnd, »ich habe alle Schecks aufgearbeitet.«

 

Sie stellte die Schublade beiseite und wollte ihre Armbanduhr wieder anlegen, aber sie war verschwunden. In diesem Augenblick öffnete sich die große Tür, und Digby Groat trat herein.

 

»Hallo, Miss Weldon«, sagte er zuvorkommend, »es ist Zeit zum Lunch. Hast du nicht den Gong gehört, Mutter? Du mußt Miss Weldon jetzt gehen lassen.«

 

Eunice schaute sich überall um.

 

»Haben Sie irgend etwas verloren?« fragte Digby schnell.

 

»Ich kann meine Armbanduhr nicht finden; ich habe sie vor einiger Zeit hier auf den Tisch gelegt, und sie ist jetzt nicht mehr da.«

 

»Vielleicht ist sie in der Schublade«, stammelte die alte Frau und vermied es, ihren Sohn anzusehen.

 

Digby schaute sie einen Augenblick an und wandte sich dann an Eunice.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein und Jackson den Auftrag geben, meinen Wagen um drei Uhr bereitzuhalten?« sagte er freundlich.

 

Er wartete, bis das Mädchen die Tür geschlossen hatte.

 

»Wo ist die Uhr?« fragte er rauh.

 

»Die Uhr, Digby?«

 

»Willst du die Uhr hergeben?« schrie er, und sein Gesicht wurde dunkel vor Wut.

 

Sie steckte die Hand zögernd in die Tasche und holte die Uhr hervor. »Sie sieht doch so schön aus«, stotterte sie.

 

Digby riß sie ihr aus der Hand.

 

Gleich darauf kam Eunice wieder zurück.

 

»Wir haben sie gefunden«, sagte Digby lächelnd. »Sie war unter den Tisch gefallen.«

 

»Ich dachte, da hätte ich auch nachgesehen. Sie ist nicht sehr wertvoll, aber sie dient einem doppelten Zweck.« Sie legte die Uhr um ihr Handgelenk.

 

»Welchen anderen Zweck hat sie denn noch; als die Zeit anzugeben?« fragte Digby.

 

»Ich verdecke damit eine häßliche Narbe«, sagte sie und zeigte ihr Handgelenk. Er sah einen runden, roten Fleck, etwa so groß wie ein Halbschillingstück, der wie eine alte Brandnarbe aussah.

 

»Das ist ja merkwürdig«, meinte Digby, als er darauf schaute. Plötzlich hörte er einen unterdrückten Aufschrei seiner Mutter. Sofort wandte er sich nach ihr um und blickte in ihr verzerrtes Gesicht. Ihre Augen starrten auf Eunice.

 

»Digby, Digby!« schrie sie mit gebrochener Stimme. »O mein Gott!«

 

Sie fiel über den Tisch, und bevor er sie erreichen konnte, war sie auf den Boden gesunken.

 

Er beugte sich über seine Mutter und wandte sich dann langsam zu dem erschrockenen Mädchen.

 

»Sie hat sich so über die kleine Narbe auf Ihrer Hand aufgeregt«, sagte er langsam. »Was bedeutet das?«