Kapitel 20

 

20

 

Diese scherzhafte Bemerkung machte Eindruck auf Julian. Er dachte sofort an den alten Mann, den er in seiner Wohnung ertappt und dessen Adresse er sich notiert hatte.

 

Als er jedoch die verschiedenen Möglichkeiten erwog, sah er wieder davon ab. Die Sache erschien ihm zu gefährlich. Aber langsam und allmählich kam er doch wieder auf diesen Plan zurück. Er selbst wollte ja dieses waghalsige Abenteuer nicht unternehmen; er hatte gerade genug von Herman gesehen und gehört und wollte nicht riskieren, ihm in die Arme zu fallen. Aber er selbst brauchte sich diesen Unannehmlichkeiten ja auch nicht auszusetzen; er konnte doch einen anderen für sich arbeiten lassen, wie er es früher schon getan hatte. Man konnte dem Mann ja genügend Geld zahlen, so daß er schweigen würde. Er überdachte alle möglichen Folgen und Einzelheiten, und je mehr er über den Plan nachsann, desto besser gefiel er ihm.

 

Er schrieb eine kurze Nachricht und brachte sie selbst zur Post. Allerdings mußte er mit der Gefahr rechnen, daß der Brief in falsche Hände fiel, aber auch dann konnte man ihm nichts anhaben. Mit diesem tröstlichen Gedanken wartete er auf eine Antwort.

 

Um neun Uhr klingelte es. Er legte die Zeitung hin, öffnete die Wohnungstür und begrüßte Mr. Smith, der an diesem Abend noch abstoßender aussah als sonst.

 

»Kommen Sie herein«, sagte er.

 

Der Mann nahm die Mütze in die Hand und folgte ihm in das kleine Arbeitszimmer.

 

»Nehmen Sie Platz.«

 

Julian wies ihm einen Stuhl an, der vom Schreibtisch möglichst weit entfernt stand. Es hatte fast den Anschein, als ob ihm die Atmosphäre, die dieser Mann in die Wohnung brachte, unangenehm sei.

 

»Nun, wie geht es Ihnen?«

 

»Ich bin am Verhungern«, erwiderte der andere in schlechter Laune. »Man kann überhaupt keine anständige Arbeit bekommen, Wenn diese Polypen immer hinter einem her sind.«

 

»Polypen? Ach, Sie meinen die Kriminalbeamten von Scotland Yard? Werden Sie denn von denen verfolgt?«

 

»Ja, die schikanieren mich, wo und wann sie nur können«, log Smith glatt. »Wenn man gerade eine Anstellung erhalten könnte, kommen sie dazu und erzählen dem neuen Chef, daß man ein alter Verbrecher ist, der im Zuchthaus gesessen hat. Und dann liegt man wieder auf der Straße.«

 

Das war eines dieser Märchen, mit denen er schon klügere Leute als Julian getäuscht hatte. Aber der junge Mann kümmerte sich im Augenblick nicht darum, was Smith sagte. Er dachte nur an seinen Plan. »Ich habe eine kleine Sache für Sie.«

 

Die Worte waren ihm entschlüpft, bevor er sich richtig darüber klar wurde, daß er damit diesem gefährlichen Mann auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war.

 

Smith verzog das Gesicht.

 

»Leider bin ich schon zu alt und zu schwach, um schwer arbeiten zu können«, protestierte er. »Ich habe die besten Jahre meines Lebens im Gefängnis verbracht, da können Sie nicht von mir erwarten –«

 

»Ich glaube, bei der Sache brauchen Sie sich nicht sehr anzustrengen«, entgegnete Julian bedächtig. »Und die hundert Pfund, die Sie dadurch verdienen können, sind auch nicht zu verachten. Dazu kommt, daß Sie meinen Auftrag innerhalb einer Stunde erledigen können.«

 

Er sah, wie die Augen des anderen interessiert aufleuchteten.

 

»Vor allem muß ich betonen, daß das, was ich Ihnen sage, nichts mit mir persönlich zu tun hat. Es geschieht im Interesse eines Freundes, der von gewisser Seite erpreßt werden soll.«

 

Smith nickte.

 

»Ach, die haben Sie wohl in die Enge getrieben?« fragte er gespannt. »Nun, das kann jedem passieren, daß er in eine solche Patsche kommt. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.«

 

»Ich habe Ihnen doch schon erklärt, daß es sich nicht um mich, sondern um einen guten Freund handelt. Ich weiß nicht einmal, ob alles, was er mir gesagt hat, wahr ist. Es wäre ja auch möglich, daß er sich einen Scherz mit mir macht, vielleicht ist an der ganzen Sache nichts Wahres. Eine gewisse Mrs. Carawood soll Briefe und Dokumente besitzen, die ihm wahrscheinlich schaden können. Besonders in der letzten Zeit ist die Gefahr größer geworden, da er die Absicht hat, sich zu verheiraten.«

 

»Wo wohnt die Frau denn?«

 

»Penton Street siebenundvierzig. Notieren Sie sich das.«

 

Er schob ihm Bleistift und Papier zu, und Smith schrieb mit großer Anstrengung die Adresse auf.

 

»Das liegt in Pimlico – ist es ein kleines Haus?«

 

»Es ist ein Laden, in dem man alte Kleider kaufen kann. Soviel ich erfahren habe, verwahrt sie die Schriftstücke in einem schwarzen Holzkasten, der unter ihrem Bett steht.«

 

»Die Sache ist leicht«, erwidert Smith verächtlich. »Ist ein Wachhund auf dem Grundstück? Aber schließlich kommt es darauf nicht an. Schlafen Männer im Haus?«

 

»Nur ein junger Mann, sonst niemand. Sie selbst … nun, ich könnte es ja so einrichten, daß sie an dem betreffenden Abend nicht zu Hause ist. Nehmen wir einmal an, Sie gehen nächsten Donnerstagabend hin. Mit dem jungen Mann werden Sie schon fertigwerden. Außerdem erinnere ich mich, daß Mrs. Carawood einmal sagte, er gehe immer sehr früh zu Bett. Er schläft in einer Kammer unterm Dach. Das Zimmer von Mrs. Carawood selbst liegt im ersten Stock, und soweit ich unterrichtet bin, ist es die Tür linker Hand, wenn Sie die Treppe hinaufkommen. Ich muß noch sagen, daß der Kasten zwei Schlösser hat –«

 

»Ach, reden Sie doch nicht von Schlössern!« unterbrach ihn Smith. »Damit werde ich leicht fertig. Wenn sie die Papiere in einem Safe aufbewahrt hätte, dann hätte ich vielleicht die ganze Nacht damit zu tun, aber ein Holzkasten! Was für Briefe und Schriftstücke soll ich Ihnen denn bringen?«

 

»Nehmen Sie alle Dokumente, die Sie finden, an sich, stecken Sie sie in eine Ledertasche, bringen Sie sie vor meine Wohnungstür und gehen Sie dann wieder fort. Ich gebe Ihnen fünfzig Pfund vorher, und fünfzig Pfund erhalten Sie, wenn Sie die Sache erfolgreich durchgeführt haben. Sie finden das Geld unter der äußeren Matte vor meiner Wohnungstür. Und hier haben Sie einen Schlüssel zum Haus. Ich warte persönlich auf Sie, und wenn Sie ohne die Papiere kommen, kriegen Sie auch kein Geld.«

 

Smith sah ihn scharf an. »Ist die Sache nicht etwas riskant für Sie?« fragte er dann.

 

Julian wollte nicht daran erinnert werden. Er hatte sich schon überlegt, welches Alibi er vorbringen wollte, wenn die Sache vor die Polizei kommen sollte. Im schlimmsten Fall standen immer noch seine Aussagen gegen die des alten Zuchthäuslers, der wegen Mordes verurteilt worden war, und unter diesen Umständen war es nicht zweifelhaft, wem das Gericht Glauben schenken würde. Die Sache war das Risiko schon wert. Selbst wenn er keinen materiellen Vorteil davon haben sollte, hatte er sich doch in den Augen Maries gerechtfertigt.

 

»Ja, ich weiß wohl, daß ich für meinen Freund ein Risiko auf mich nehme«, sagte Julian ernst. »Aber ich traue Ihnen, daß Sie mich nicht verraten werden.«

 

Mr. Smith versicherte ihn natürlich seiner Anständigkeit.

 

Julian holte eine Whiskyflasche und goß dem Mann ein Glas ein. Smith taute auf, als er die Flasche sah.

 

»Keinen Whisky – ich trinke nur Kognak.« Julian kam seinem Wunsch nach. »Ja, Sie können mir die Sache ruhig anvertrauen, ich war immer zuverlässig. Ach, wenn ich doch nur noch meine Gesundheit und Kraft von früher und ein paar gute Leute hätte, auf die ich mich verlassen könnte.«

 

»Was würden Sie dann anfangen?« fragte Julian.

 

»Dann hätte ich bald ein paar hunderttausend Pfund.«

 

»Ach was, hunderttausend Pfund! Das ist doch Unsinn!«

 

»Nein, wirklich nicht, es ist die reine Wahrheit. Ich weiß eine Sache, auf die manche jahrelang warten würden, aber sie haben niemals Glück, daß ihnen so etwas über den Weg läuft. Ich sage Ihnen, da könnte man ein großes Vermögen machen.«

 

Julian bot dem Mann eine Zigarre an, aber Smith lehnte dankend ab.

 

»Ich habe mit dem Herzen zu tun. Vor einer Woche wäre ich beinahe erledigt gewesen, da wurde sogar ein bekannter Spezialarzt vom Westend gerufen, Sie scheinen das nicht zu glauben, aber es stimmt doch. Sie können alle Leute fragen, die in meiner Straße wohnen.«

 

»Wer hat denn dafür bezahlt?«

 

Smith berichtete eine merkwürdige Geschichte. Er war am Hanover Square gewesen und hatte jemanden beobachtet – eine Frau. Nachher hatte sich dann herausgestellt, daß sie nicht die Person war, die er suchte, sondern eine Herzogin.

 

»Ein Detektiv hat mir das gesagt, der ein Büro in dem Haus hat – er war eigentlich kein richtiger Spürhund, nur so eine Art Privatdetektiv.«

 

Julian richtete sich plötzlich in seinem Stuhl auf.

 

»Heißt er vielleicht Morlay?«

 

»Ja, ganz recht … Ich sah den Namen an der Tür.

 

»Und was passierte dann?«

 

Smith erzählte weiter. Nachdem Morlay ihn verlassen hatte, blieb er selbst noch auf der Straße stehen und starrte auf den Eingang des Hauses, als plötzlich ein Auto vorfuhr. Zwei Männer stiegen aus, die einen schweren Ledersack ins Haus trugen. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die Höhe, aber einen der beiden hatte er erkannt – es war Harry, der Kammerdiener.

 

Mit dem zusammen hatte er im Gefängnis gesessen, und zwar hatten sie benachbarte Zellen. Sie hatten auch in derselben Abteilung gearbeitet. Damals hatte ihm Harry von einer großen Sache erzählt, einem Ding, das er drehen wollte, sobald er wieder in Freiheit war. – Harry war nämlich Amerikaner und der geschickteste Bankräuber, den es auf der Welt gab.

 

»Als ich ihn sah, wußte ich, daß sie das Ding gedreht hatten«, sagte Smith. »Das ist ihre Methode: Einige Wochen, bevor sie den Plan ausführen, mieten sie ein feines Büro, und dort leben sie, nachdem sie das Geld aus der Bank geholt haben. Und ich sage Ihnen, ich bin froh, daß Harry mich in dem Augenblick nicht erkannt hat – sonst wäre ich jetzt eine Leiche.«

 

Julian lauschte atemlos. Smith ahnte nichts von dem Einbruch in der Westkanadischen Bank, da er keine Zeitungen las. Aber Julian wußte, daß die Diebe eine große Summe erbeutet hatten.

 

»Harry hat mir gesagt, man kann immer ein möbliertes Büro mit einem Safe mieten – das heißt, manchmal kaufen sie auch ein Geschäft für den Zweck, um einen anständigen Firmennamen zu haben. Das haben sie nämlich in diesem Fall getan. Und wenn dann nach einem Monat alles vorüber ist, bringen sie ihre Beute in Sicherheit. Da staunen Sie! Ja, das ist eine Sache. Die Polizei sucht sie überall, und die halten sich direkt vor ihrer Nase auf! Wenn ich noch jung wäre, würde ich das auch so machen.«

 

Julians Gedanken wirbelten durcheinander. Er vergaß sogar den Auftrag, den er dem Mann gegeben hatte.

 

*

 

Kapitel 15

 

15

 

Herman ging langsam in den Laden zurück.

 

»Hallo!« sagte er unfreundlich.

 

»Guten Morgen, Herman!«

 

»Ich habe Ihnen nicht die Erlaubnis gegeben, mich Herman zu nennen«, entgegnete der junge Mann und wurde rot. »Wollen Sie etwas kaufen? Dann kann ich Ihnen gleich von vornherein sagen, daß die Verkäuferin nicht hier ist.«

 

»Aber mein Lieber …«, begann Mr. Martin.

 

»Ich will nicht, daß Sie mich ›mein Lieber‹ nennen«, erklärte Herman laut.

 

Er sah sich um. Fenner war verschwunden.

 

»Und versuchen Sie nur nicht, mir einen Safe aufzuschwatzen, um mein Geld darin einzuschließen, denn ich habe keins. Und fragen Sie mich auch nicht, ob Mrs. Carawood einen Safe kaufen will. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß sie das nicht tut.«

 

Martin grinste übers ganze Gesicht.

 

»Aber gerade sie braucht doch sicher einen sehr guten und sehr starken Safe. Verstehen Sie denn nicht, daß es gefährlich ist, wenn sie ihr ganzes Geld in einem Kasten unter dem Bett aufbewahrt?«

 

»Davon habe ich nichts gesagt«, erwiderte Herman unwirsch und sah ihn wütend an. Einen Augenblick dachte Martin schon, daß der junge Mann ihn angreifen würde.

 

»Ich komme doch nur als Geschäftsmann her«, begann er wieder freundlich, um den anderen zu beruhigen und zu entwaffnen. »Ich wollte Mrs. Carawood doch nur einen Safe anbieten, damit sie ihre Wertsachen einschließen kann. Und ich liefere ihn zu außerordentlich günstigen Bedingungen.«

 

»Und ich sage Ihnen, daß sie keine Schränke zu außerordentlich günstigen Bedingungen braucht!« rief Herman heftig. »Sie verdient ihr Geld auf ehrliche Weise.«

 

Er ging zur Ladentür und machte sie weit auf.

 

»Sie kommen nur hierher, um zu spionieren und sich umzusehen. Sie wollen mich dazu bringen, alles auszuplaudern. Sie sind ein ganz gemeiner Schnüffler – so, jetzt habe ich es Ihnen gesagt, und wenn Sie nicht bald gehen, dann rufe ich die Polizei!«

 

»Ich wollte doch Mrs. Carawood sprechen.«

 

Herman zeigte majestätisch auf die Straße hinaus.

 

»Dann können Sie draußen warten.«

 

Es war erst zwei Tage her, daß der neue, von Mr. Julian Lester engagierte Privatdetektiv den Laden zum erstenmal aufgesucht hatte. Er hatte es so gerissen angestellt, daß sowohl Mrs. Carawood als auch ihre Verkäuferinnen zu der Zeit gerade ausgegangen waren, und durch seine schlauen Kniffe hatte er Herman dazu gebracht, ihm verschiedenes zu erzählen. Auf diese Weise hatte er mancherlei über das Geschäft erfahren. Er wußte, daß Mrs. Carawood ein Bankkonto besaß; er hatte sogar gehört, wie hoch dasselbe war. Und er wußte auch von dem schwarzen Kasten, den sie unter ihrem Bett verwahrte und dessen Schlüssel sie stets bei sich trug. Die letzten zwei Tage hatte sich Herman die größten Vorwürfe gemacht, daß er so viel verraten hatte, aber er hatte nicht gewagt, ihr das mitzuteilen. Er verehrte und liebte sie mehr als sein Leben, und seine Reue verwandelte sich nun in Zorn und Ärger gegen den Privatdetektiv. Herman packte eine Bürste mit langem Handgriff und ging damit auf ihn los; aber Martin wartete nicht, bis es zu Handgreiflichkeiten kam.

 

Er hatte verschiedene Einzelheiten Julian noch nicht mitgeteilt, aber jetzt brauchte er daraus kein Geheimnis mehr zu machen. Aus der kurzen Unterredung hatte er ersehen, daß er aus dieser Quelle keine weiteren Nachrichten schöpfen konnte. Er eilte deshalb nach Bedford Square, um Julian zu treffen, und er hatte auch Glück.

 

»Nun, was bringen Sie Neues?«

 

Etwas umständlich erzählte ihm der Privatdetektiv, was er erfahren hatte und was er vermutete.

 

»Sie hat nahezu zwanzigtausend Pfund auf der Bank und einen Umsatz von etwa tausend Pfund in der Woche. Ich nehme auch an, daß sie Anteilscheine und Aktien auf der Bank hat. Dokumente und Schriftstücke bewahrt sie bei sich auf.«

 

»Meinen Sie nicht, daß sie die in einem Tresor auf der Bank deponiert hat?«

 

»Nein, sie sind in dem schwarzen Holzkasten. Es war nicht leicht, aus diesem Herman etwas herauszubekommen, aber zufällig hat er es mir gegen seinen Willen gesagt. Ich ging als Vertreter in den Laden und wollte einen Geldschrank verkaufen. Dabei kam natürlich verschiedenes zur Sprache. Es ist ein ziemlich großer Kasten. Ich versuchte, ihn zu überreden, daß er ihn mir zeigte, aber so dumm war er nicht. Der Kasten hat zwei Schlösser, und sie trägt die Schlüssel an einer Kette um den Hals. Die Schlafzimmertür ist immer verschlossen, und der Kasten wird nur selten geöffnet, höchstens einmal, wenn die Gräfin in die Stadt kommt.«

 

»Hat er Ihnen das gesagt?« fragte Julian schnell.

 

Der Mann zögerte. »Ausdrücklich hat er mir das nicht gesagt. Ich mußte vielmehr seine verschiedenen Äußerungen zusammenstellen und kombinieren. Eines möchte ich noch sagen: Ich glaube nicht, daß es vorteilhaft ist, wenn wir beide zusammen gesehen werden. Als wir gestern auf der Straße miteinander sprachen, sah ich, daß Mr. Morlay vorüberging, und ich bin fest davon überzeugt, daß er uns bemerkt hat.«

 

»Das halte ich auch für wahrscheinlich«, lächelte Julian. »Aber er weiß sowieso, daß ich Nachforschungen anstelle.«

 

Mr. Martin war neugierig; das gehörte zu seinem Beruf.

 

»Entschuldigen Sie, aber Sie haben mir noch wenig über Ihre Absichten mitgeteilt. Was wollen Sie eigentlich herausfinden? Meine Aufgabe würde mir bedeutend leichter fallen, wenn ich wüßte, worauf Sie hinaus wollen …«

 

»Sie wünschen, daß ich Sie ganz ins Vertrauen ziehe?«

 

»Ich weiß nicht, was die Frau Ihrer Meinung nach getan haben soll. Bisher konnte ich nur entdecken, daß sie ihre Wertsachen in einem Holzkasten unter ihrem Bett verwahrt, und das ist doch dem Gesetz nach keine strafbare Handlung.«

 

»Nein, das nicht. Ich will Ihnen also vertraulich etwas mitteilen, Martin. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß diese Frau wichtige Tatsachen verheimlicht, die eine junge Dame betreffen – ich meine die Gräfin Marie Fioli. Diese junge Dame besitzt vermutlich ein großes Vermögen, weiß aber selbst nichts davon. Es ist jedoch unbedingt notwendig für mich, daß ich genau über ihre finanzielle Lage unterrichtet werde.«

 

Martin verstand nun.

 

»Das ist also der Kernpunkt der ganzen Sache. Aus gewissen Gründen kann ich es mir nicht leisten, Nachforschungen auf dem gewöhnlichen, langsamen Weg zu betreiben. Ich muß schnell zu einer Entscheidung kommen …«

 

»Ich begreife. Sie wollen wissen, ob sich noch ein anderer um sie bewirbt, dem es nicht darauf ankommt, ob sie Vermögen besitzt oder nicht.«

 

Diese Bemerkung war an sich eine Taktlosigkeit, aber Julian fühlte sich dadurch nicht beleidigt. Er hatte zwar nicht gern mit Privatdetektiven zu tun, aber die Lage war kritisch, und er war deshalb bereit, für zuverlässige Nachrichten viel Geld auszugeben. Es konnte sich ja hier eine günstige Gelegenheit für ihn ergeben, wie sie sich in seinem ganzen Leben nicht wieder bieten würde. Abgesehen von seinen vielen Verfehlungen war er kein allzu schlechter, aber auch kein besonders guter Charakter.

 

Er liebte Marie so sehr, als es ihm seiner Veranlagung nach möglich war, und wenn er sie geheiratet hätte, wäre er sicher freundlich und liebevoll zu ihr gewesen und hätte ihre Interessen mit der größten Ehrlichkeit wahrgenommen.

 

Er schickte Martin fort und gab ihm eine kleine Summe als Anzahlung auf eine spätere Sonderbelohnung. Dann ging er in sein Schlafzimmer, brachte seine Frisur in Ordnung, knüpfte die Krawatte neu und betrachtete sich kritisch in dem großen Spiegel. Marie war in der Stadt, und er mußte vor allem den guten Eindruck, den er auf sie gemacht hatte, aufrechterhalten.

 

Auf dem Weg nach Pimlico dachte er darüber nach, ob er tatsächlich mit seiner Vermutung recht hatte, daß sich Morlay in das schöne Mädchen verliebt hatte. Er hielt es eigentlich kaum für möglich, daß sich Leute in altmodischer Weise ineinander verlieben konnten, und John war seiner Meinung nach kein Mann, der sich ohne weiteres in ein schönes Gesicht vergaffte. Das Vermögen Marie Fiolis bedeutete nichts für Morlay, davon war Julian fest überzeugt. John war sehr wohlhabend; er hatte ein großes Vermögen von seinem Vater geerbt und bezog außerdem glänzende Einnahmen aus seinem gutgehenden Geschäft.

 

Julian schob die Möglichkeit ohne weiteres beiseite. Als er den Laden in der Penton Street erreichte, fand er Herman, der noch ganz aufgeregt von der Auseinandersetzung mit Martin war. Aber Julian lächelte er freundlich zu.

 

»Nein, Mrs. Carawood ist nicht zu Hause.«

 

»Ist sie nach Ascot gefahren, um die Contessa Fioli abzuholen?«

 

»Nein, Mr. Morlay ist hingefahren, um Mylady herzubringen. Er ist mit ihr engagiert.«

 

»Was, er ist mit ihr engagiert? Meinen Sie Mr. John Morlay?«

 

Herman nickte heftig.

 

»Ja, ein sehr netter Herr.«

 

»Aber wie in aller Welt ist das möglich …«, begann Julian, dann schwieg er.

 

Sollte der Junge meinen, daß Marie mit Morlay verlobt war? John hatte doch den Eindruck gemacht, als ob er sich für das junge Mädchen überhaupt nicht interessierte! Er hatte von Marie wie von einem Kind gesprochen.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß Mr. Morlay mit der Gräfin verlobt ist und sie heiraten will?«.

 

Herman lachte.

 

»Nein, er ist doch engagiert, damit er auf sie aufpassen soll.«

 

Nun mußte Julian laut auflachen.

 

Wenn Herman auch nicht über Mrs. Carawood sprechen wollte, so erzählte er doch um so mehr von Contessa Fioli. In diesem Punkt konnte man ihn ausholen.

 

»Ob ich die Contessa Fioli kenne? Selbstverständlich kenne ich sie! Mrs. Carawood hat sie doch hier in diesem Haus erzogen, als ich noch ein Kind war. Damals war ich hier Laufbursche und mußte die kleinen Aufträge erledigen. Mrs. Carawood hatte in jener Zeit noch nicht all die verschiedenen Läden.«

 

Julian hätte gern gewußt, welche Pläne für Maries Leben hier in der Stadt bestanden, und fragte danach.

 

»Contessa Fioli wird eine eigene Wohnung haben, ebenso ein eigenes Mädchen und eigene Dienerschaft. Aber sie wird wohl auch häufig hierherkommen, wenn sie in der Stadt ist.«

 

»Ist sie eigentlich sehr reich?« fragte Julian gleichgültig.

 

Herman runzelte die Stirn.

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich würde es nicht verstehen, wenn eine Gräfin nicht reich wäre!«

 

In diesem Augenblick trat Mrs. Carawood in den Laden. Sie sah hübsch und jugendlich aus mit einem neuen Hut und einem dunkelgrünen Mantel, den sie aber sofort ablegte. Hier in dieser Umgebung erschien sie Julian natürlicher als auf dem Landsitz in Ascot. Sie war eine Frau aus dem Volk; um das festzustellen, brauchte er keine großen Nachforschungen vorzunehmen. Das konnte man deutlich erkennen und auch an ihrem Akzent hören. Sie sprach eine ziemlich unverfälschte Londoner Mundart.

 

»Guten Morgen, Mr. Lester«, sagte sie und sah ihn fragend an. »Sind Sie gekommen, um mit Marie wegen des Rings zu sprechen? Der wurde wieder zurückgeschickt.«

 

»Das weiß ich schon«, erwiderte Julian. »Ich wollte mit Marie nur so ein wenig plaudern.« Sie sah ihn argwöhnisch von der Seite an.

 

»Auch mit Ihnen wollte ich mich gern einmal unterhalten über Marie. Ich habe mir die Sache heute morgen überlegt und sagte mir, daß es vielleicht am besten sei, Ihnen mitzuteilen, was ich für Contessa Fioli empfinde. Was wollen Sie nun mit der jungen Dame tun, nachdem sie die Schule verlassen hat?«

 

Sie sah ihn immer noch halb abweisend, halb zweifelnd an.

 

»Was ich mit ihr tun werde? Ich kann doch Mylady höchstens einen Rat geben! Sie ist nun erwachsen und kann machen, was sie will. Das sollte Ihnen doch klar sein. Es ist jetzt anders, nachdem sie eine junge Dame ist. Und junge Damen nehmen nicht gern den Rat ihrer alten Erzieherinnen an.«

 

»Aber wenn sie nun auf Ihren Rat hörte – was würden Sie ihr dann sagen?«

 

»Ich würde ihr den Rat geben, jemanden zu heiraten, den sie liebt, und nicht jemanden, der auf ihr Vermögen aus ist.«

 

Sie hatte ihm eine günstige Gelegenheit gegeben, die er nicht ungenützt vorübergehen lassen wollte.

 

»Aber wie können Leute hinter ihrem Vermögen her sein? Es weiß doch überhaupt niemand, ob sie Geld hat.«

 

»Ich weiß es.«

 

»Vielleicht sind es ein paar tausend Pfund«, sagte er aufs Geratewohl. »Aber das würde doch kaum einen Mitgiftjäger reizen.«

 

»Es ist gleich, ob sie viel oder wenig hat. Sie wird den rechten Mann heiraten«, erklärte Mrs. Carawood kategorisch. »Ich glaube, ich habe Ihnen das auch schon in Ascot gesagt, Mr. Lester. Der rechte Mann, der sie schätzt und liebt, will nicht genau wissen, wieviel Vermögen sie geerbt hat. Und jetzt habe ich keine Zeit mehr. Sie müssen mich entschuldigen …«

 

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von Julian, der darüber nicht unzufrieden war.

 

*

 

Kapitel 16

 

16

 

Es war nicht leicht, mit Mrs. Carawood zu verhandeln. Sie nahm keine Geschenke oder Gefälligkeiten an; sie führte ihr Geschäft rücksichtslos und stand bei den Grossisten Londons in dem Ruf, gute kaufmännische Begabung zu besitzen.

 

»Ist Mr. Fenner gegangen?« fragte sie, als Julian verschwunden war.

 

»Nein, der ist noch unten im Hof und arbeitet an der Tür.«

 

»Um Gottes willen! Er hat ja soviel Zeit dazu gebraucht, daß er inzwischen ein Haus hätte bauen können!« erklärte Mrs. Carawood.

 

Nachdem Herman ihn gerufen hatte, erschien Mr. Fenner selbst auf der Bildfläche.

 

»Haben Sie die Tür repariert?«

 

»Jawohl, Mrs. Carawood, ich bin eben damit fertig geworden und habe sie wieder eingehängt.«

 

»Das ist gut.« Sie schloß eine Schublade ihres Schreibtisches auf und nahm eine kleine Kassette heraus. »Wieviel habe ich Ihnen für Ihre Mühe zu zahlen? Was berechnen Sie mir dafür?«

 

Mr. Fenner schloß die Augen.

 

»Sie meinen dafür, daß ich die Tür repariert habe?« fragte er beleidigt. »Ich habe doch nur sozusagen mit dem Pinsel ein wenig Politur nachgestrichen.«

 

»Aber Fenner, seien Sie doch vernünftig. Wenn Sie es nicht gemacht hätten, dann hätte ich doch einem andern den Auftrag geben und ihn bezahlen müssen. Und ich will meine Freunde nicht ausnützen. Sagen Sie es schnell, damit wir die Sache erledigt haben. Contessa Fioli kann jeden Augenblick kommen.«

 

»Wozu hat man denn Freunde?« deklamierte Mr. Fenner mit dem Pathos eines Volksredners. »Doch nur dazu, daß sie einem helfen sollen, wenn man in Not ist.«

 

Er zeigte mit der Hand auf die hölzerne Zwischenwand, hinter der Mrs. Carawood gewöhnlich saß.

 

»Halten Sie es nicht für besser, daß ich dort hinten einen kleinen Raum einrichte statt dieser halbhohen Trennungswand?«

 

Sie legte mit einem Seufzer die Feder beiseite.

 

»Fenner, glauben Sie denn, daß ich Sie umsonst für mich arbeiten lassen würde? Herman!«

 

Der junge Mann trat in den Laden.

 

»Mrs. Carawood hat Sie gerufen«, erklärte Fenner hilfsbereit.

 

»Mylady kommt heute zurück, Mr. Fenner«, entgegnete Herman nach einem Blick auf seine Chefin.

 

»Ach, ich wünschte, sie wäre nicht adlig. Diese schrecklichen Klassenunterschiede!« Als ihn ein mißbilligender Blick von Mrs. Carawood traf, fuhr er fort: »Die Menschen sind doch alle gleich geboren. War etwa Adam ein Lord oder Eva eine Herzogin?«

 

Nun wurde es Mrs. Carawood zuviel, und sie unterbrach ihn.

 

»Wenn Sie weiter solchen Unsinn reden, werfe ich Ihnen noch etwas an den Kopf, Fenner! Warum sollte denn die Gräfin Fioli ihren Titel aufgeben? Sie wurde doch damit geboren! Das wäre genauso, als ob ich von Ihnen verlangen würde, Sie sollten Ihre Zunge nicht mehr gebrauchen. Auf jeden Fall ist Ihre Anwesenheit hier im Laden überflüssig, wenn Mylady herkommt.«

 

Fenner ließ sich dadurch nicht beeindrucken und gab Herman ein Zeichen. Der junge Mann verließ den Laden, weil er den Eindruck hatte, daß Mr. Fenner über Geldangelegenheiten reden wollte.

 

»Was fällt Ihnen ein, daß Sie Herman hinausschicken?«

 

»Es handelt sich um eine rein persönliche Angelegenheit«, sagt Fenner heiser und setzte sich. »Mrs. Carawood, schon seit zehn Jahren kenne ich Sie –«

 

Sie hob warnend die Hand, aber er sprach trotzdem weiter.

 

»Ich muß es einmal sagen. Zehn Jahre kenne ich Sie nun, und während dieser ganzen langen Zeit bin ich nicht ein einziges Mal betrunken gewesen. Habe ich mich nicht tadellos aufgeführt? Ich bin immer zuverlässig und treu gewesen. Ihr Geld will ich nicht. Geld widert mich an … Übrigens habe ich auch selbst eine schöne Summe gespart.«

 

Sie erhob sich langsam und lächelte nachsichtig.

 

»Fenner, Sie sind kein schlechter Mensch, obwohl Sie viel zuviel reden. Aber beruhigen Sie sich, ich heirate nicht mehr.«

 

»Wenn ich das sagen darf – Sie sind doch noch jung, Mrs. Carawood, und Sie haben auch weiter keinen Anhang und keine Familie.«

 

»Ich will aber nicht. Es hat keinen Zweck. Ich habe Sie ganz gern, Sie sind ein aufrechter, anständiger Mann, aber heiraten nein.«

 

Er nahm verlegen ein Buch vom Schreibtisch und blätterte es durch. »Was ist dies hier?«

 

Sie wandte sich um und nahm ihm den Band schnell ab.

 

»Lassen Sie Dinge liegen, die Sie nichts angehen«, sagte sie scharf.

 

Aber Mr. Fenner hatte schon den Titel gelesen.

 

»Nur ein Ladenmädchen. Eine rührende Geschichte von Liebe und Opfermut. Sie lieben also diese Art Romane, Mrs. Carawood?«

 

»Die habe ich schon seit meiner frühen Jugend gelesen«, antwortete sie gereizt.

 

»Ich gebe ja zu, daß sie ganz nett geschrieben sind«, erwiderte er großzügig. »Aber sehen Sie, ich habe verschiedene Werke von Herbert Spencer und John Stuart Mill gelesen – das ist Philosophie! Sie sollten auch einmal diese großen und klaren Gedanken in sich aufnehmen. Aber so etwas lesen Sie ja für gewöhnlich nicht.«

 

»Nein. Und ich lese auch diese Romane nicht alle selbst. Herman hat sie so gern.«

 

Mr. Fenner war empört.

 

»Es ist etwas Entsetzliches, wenn man keine Erziehung hat! – Wie steht’s denn mit dieser jungen Dame, die war doch wohl auf einem College?«

 

»Ja.«

 

Kühn nahm er wieder ein Buch vom Tisch.

 

»›Die Versuchung der Herzogin.‹ Mrs. Carawood, Sie sind immer romantisch gewesen.«

 

Aber damit hatte er eine sehr empfindliche Stelle bei ihr getroffen.

 

»Ja, ich bin romantisch, und wenn man sich auch mit Geschäften abgeben muß, ist es doch eine Freude, sich in der Phantasie Marmorhallen und Paläste vorzustellen.«

 

»Ich verstehe«, sagte Fenner. »Deshalb gehen die Leute auch soviel ins Kino.«

 

Sie nahm ihn an den Schultern und schob ihn in die Mitte des Zimmers.

 

»Fenner, ich sehe Sie ja von Zeit zu Zeit gern, aber haben Sie denn überhaupt nichts zu arbeiten? Sie verschwenden hier Ihre Zeit, und ich hasse es, wenn jemand das tut.«

 

Und nun gab er eine gewundene Erklärung ab. Sein Chef war krank. Mrs. Carawood kannte den alten Mann; er hatte eine Tischlerwerkstatt in der Penton Street und war ein etwas griesgrämiger Herr mit einer scharfen Zunge.

 

»Ich habe die ganzen sechzehn Jahre bei ihm gearbeitet, und es kommt mir so einsam und trostlos vor, wenn ich in die Werkstatt gehen soll und er nicht dort ist …«

 

Sie hörte nicht mehr auf ihn, denn Marie kam gerade zur Tür herein.

 

*

 

Kapitel 17

 

17

 

John Morlay hatte sich hingesetzt und dachte über sich und seine Probleme nach. Seit drei Tagen war die Ausübung seiner Pflicht ziemlich leicht gewesen. Mrs. Carawood hatte ihn nicht angeläutet, seine Anwesenheit war also offensichtlich nicht gewünscht worden. Ein normaler Mann hätte eine solche Ruhepause begrüßt, besonders wenn er wie Mr. Morlay viel zu tun gehabt hätte. Es mußten Besprechungen mit Kunden abgehalten, Bilanzen durchgesehen, unehrliche Kassierer verfolgt werden.

 

Aber Morlay ärgerte sich darüber. Sooft das Telefon klingelte, schlug sein Herz schneller. Er hatte einen glücklichen Abend mit Marie verbracht, als er mit ihr ins Theater gegangen war. Wie das Stück eigentlich hieß und was auf der Bühne gespielt wurde, wußte er allerdings nicht.

 

Das Schlimmste aber war, daß er zu den ungewöhnlichsten Stunden die Penton Street entlangwanderte. Einmal war er sogar um fünf Uhr morgens unter ihrem Fenster vorübergegangen. Und immer hatte er eine Entschuldigung für solche Extravaganzen. Vor langer Zeit hatte sein Doktor ihm einmal geraten, morgens vor dem Frühstück einen Spaziergang zu machen. Aber das war kein Grund dafür, sich nachts auf die gegenüberliegende Seite der Straße zu stellen und nach dem Licht in Maries Fenster zu sehen, wie das in der zweiten Nacht nach der Rückkehr von Ascot geschehen war. Was hätten wohl all seine ehrsamen Vorfahren gesagt, wenn sie das gewußt hätten! Das waren Leute gewesen, deren Liebesangelegenheiten sich in gewohnten Bahnen abgespielt hatten.

 

Er hätte sich auch nicht vorstellen können, daß Onkel Percival oder Onkel Jackson im Mondlicht vor einem Laden spazierengingen, in dem alte Kleider verkauft wurden.

 

Dreimal hatte er Mrs. Carawood besucht, in der Hoffnung, Marie Fioli zu sehen. Aber er hatte Pech, jedesmal war das junge Mädchen ausgegangen. Einmal war sie im Konzert, einmal mit Julian Lester bei einer befreundeten Familie zum Tee. Morlay begann Julian mit einer Leidenschaft zu hassen, die er selbst nicht begreifen konnte.

 

Und nun saß er da, stützte den Kopf in die Hände und ließ die Arbeit liegen. Nach einer Weile störte ihn ein Angestellter und meldete einen Besucher an.

 

»Was, ein Mönch?« fragte John überrascht. »Was will der denn? Lassen Sie ihn herein.«

 

Als der Fremde eintrat, kam John Morlay der Gedanke, daß er diesem Mönch mit dem langwallenden grauen Bart schon irgendwo begegnet sein mußte. Der Mann trug eine braune Kutte und einen härenen Strick als Gürtel, ging barhäuptig und hatte Sandalen an den Füßen. Plötzlich fiel Morlay ein, wo er ihn schon gesehen hatte.

 

»Ach, Pater Benito!« sagte er und reichte ihm die Hand.

 

»Nun, ich scheine ja sehr bekannt zu sein«, entgegnete der Pater trocken. »Nein, danke, Mr. Morlay, ich möchte mich nicht setzen. Vielleicht gestatten Sie, daß ich auf und ab gehe, ich bin nämlich etwas nervös. Aber ich verspreche Ihnen, Sie nicht zu lange aufzuhalten.«

 

Pater Benito war ein Franziskaner, dessen Predigten großes Aufsehen erregt hatten. Viele Leute waren in der Franziskanerkirche in Mayfair zusammengeströmt, und seine Angriffe auf gewisse Kreise der Gesellschaft hatten ihn sogar berühmt gemacht. John sprach mit ihm darüber. Der Pater verzog das Gesicht und lachte dann schalkhaft.

 

»In dieser Welt des Scheins und Trugs fällt ein Mann auf, der es offen und ehrlich meint. Aber bevor ich weiter mit Ihnen rede, Mr. Morlay, möchte ich Ihnen erklären, daß ich nicht in einer Angelegenheit meines Ordens zu Ihnen gekommen bin, sondern in einer rein persönlichen Sache. Ich unterhielt mich gestern mit einem Bekannten, und der sagte mir, daß ich mich an Sie wenden sollte, da Sie mir sicher den besten Rat geben könnten.«

 

»Ich habe niemals erwartet, einen Franziskaner unter meinen Kunden zu finden«, sagte John lächelnd.

 

Einen Augenblick schwieg der Pater, dann stellte er eine Frage, die John Morlay aufs höchste überraschte.

 

»Kennen Sie die Gräfin Marie Fioli?«

 

»Ja, sogar sehr gut.«

 

»Kennen Sie auch Mrs. Carawood, ihre Erzieherin?«

 

John nickte und wunderte sich noch mehr.

 

Pater Benito dachte eine Weile nach.

 

»Es handelt sich um eine sehr diskrete Angelegenheit. Ich stehe zwar in der Welt, gehöre ihr aber nicht an. Dinge, die für einen gewöhnlichen Menschen von höchster Wichtigkeit sind, haben für mich kein Interesse. Trotzdem entbinden mich meine kirchlichen Gelübde nicht von gewissen Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber. Ich bin besorgt, ja ich möchte sagen bestürzt, und zwar mehr, als ich es für möglich hielt …«

 

»Bezieht sich das auf die Gräfin?«

 

»Ja, in gewisser Weise«, entgegnete Pater Benito nach einer kurzen Pause und erzählte dann John Morlay eine längere Geschichte, die diesen maßlos verblüffte, ja erschreckte.

 

»Ist das Ihr Ernst?«

 

Pater Benito nickte.

 

»Es klingt unmöglich! Und doch muß ich Ihnen die Geschichte glauben.«

 

Pater Benito setzte sich nun doch und sprach eine halbe Stunde lang auf John Morlay ein. Schließlich war die Unterredung zu Ende, und John begleitete seinen Besucher bis zur Tür.

 

»Ich lege die Untersuchung der Angelegenheit vollkommen in Ihre Hände«, sagte der Pater, als er sich verabschiedete. »Und ich bin froh, daß ich es Ihnen gesagt habe, um so mehr, als ich fühle, daß die Interessen des jungen Mädchens in jeder Weise von Ihnen gewahrt werden. Das wäre nämlich meine größte Sorge.«

 

Den ganzen Nachmittag dachte John Morlay über das neue Problem nach. Endlich kam er zu dem Entschluß, Marie unter allen Umständen zu retten, was auch sonst geschehen mochte.

 

Er war noch tief in Gedanken versunken, als das Telefon klingelte und eine muntere Stimme ihn anrief.

 

»Nun, mein lieber Schutzengel? Ich möchte Sie bitten, mich zum Tee einzuladen.«

 

Er eilte die Treppe hinunter, um ihrer Aufforderung zu folgen.

 

*

 

Kapitel 18

 

18

 

Mr. Fenner fühlte sich nicht recht wohl. Eines Nachmittags sprach er in dem Laden in der Penton Street vor und erzählte, daß es seinem Arbeitsherrn nicht gut gehe. In den letzten Tagen waren die Kräfte des Mannes mehr und mehr geschwunden, aber trotzdem besaß er noch einen gewaltigen Lebenswillen und verhältnismäßig viel Ausdauer und Kraft.

 

»Alles im Leben erreicht seinen Höhepunkt und kommt zu einem Ende«, erklärte Mr. Fenner düster. »Wenn der alte Mann stirbt, muß ich mir eine neue Stelle suchen. Ich könnte es nicht übers Herz bringen, länger in dem Geschäft zu arbeiten, wenn er das Zeitliche segnet. Das Leben ist augenblicklich sehr hart für mich, Herman«, sagte er und nahm auf einem Stuhl Platz.

 

»Hier haben Sie ein Kissen, dann sitzen Sie weicher«, erwiderte der junge Mann, der Mitleid mit ihm hatte.

 

Mr. Fenner betrachtete sich in dem großen Spiegel, dem er gegenübersaß.

 

»Herman, halten Sie mich eigentlich für einen hübschen Mann?« fragte er dann nachdenklich.

 

»Ich soll Ihr Aussehen beurteilen?« erwiderte Herman skeptisch.

 

»Ja, Sie sollen mir sagen, ob ich noch gut aussehe.«

 

Herman sah ihn kritisch von der Seite an.

 

»Wollen Sie mich etwa auf den Arm nehmen?«

 

»Nein, ich frage ganz im Ernst«, entgegnete Fenner mit rauher Stimme.

 

Herman schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, aber ich habe niemals gefunden, daß Sie so besonders gut aussehen – ich meine vor allem Ihr Gesicht.«

 

»Nun, darauf kommt es gerade an«, entgegnete Fenner kurz und ärgerlich. »Würden Sie dann vielleicht sagen«, fuhr er jedoch in sanfterem Ton fort, »daß ich intelligent aussehe?«

 

»Was ist das?« fragte Herman.

 

»Sehe ich so aus, als ob ich sehr klug wäre?«

 

Herman wußte sich nicht recht zu helfen. Er sagte schließlich, daß er keine Ahnung habe, wie kluge Leute aussähen.

 

Es fiel Mr. Fenner schwer, seinen Mißmut zu unterdrücken.

 

»Aber Herman, Sie haben doch schon Illustrierte angesehen. Da müssen Sie doch wissen, wie intelligente Leute aussehen.«

 

»Ich betrachte mir nur die großen Verbrecher und Mörder, die anderen interessieren mich nicht. Mr. Fenner, wissen Sie, ich könnte tatsächlich einen Mord begehen, ob Sie es glauben oder nicht! Wenn jemand Mrs. Carawood etwas zuleide täte, würde ich ihn glatt umbringen. Und dann würde ich dabeistehen und zusehen, wie er stirbt!

 

Mr. Fenner lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter.

 

»Wenn es darauf ankäme, würden Sie es doch nicht tun. Das dürften Sie ja auch gar nicht«, sagte er, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. »Ich muß sagen, daß ich Mrs. Carawood auch sehr gern habe, aber …«

 

»Oder wenn jemand der jungen Gräfin etwas täte. Die haben Sie doch auch sehr gern?«

 

Fenner mußte erst überlegen. Bei dem jungen Mädchen war es doch anders: Für Marie Fioli hatte er nicht soviel übrig.

 

Die beiden wurden gleich darauf in ihrer Unterhaltung gestört. Die Tür öffnete sich langsam: Ein tadellos gekleideter junger Mann trat in den Laden und nickte der Verkäuferin lächelnd zu. Julian Lester war zu einem Entschluß gekommen.

 

Das Auftauchen Johns gefährdete seinen Plan. Wenn er sich schon vor einer Woche schnell über den Vermögensstand Maries informieren wollte, so war die Sache jetzt noch eiliger für ihn geworden. Die letzten Bemerkungen des jungen Mädchens hatten ihm gezeigt, daß John Eindruck auf sie gemacht hatte.

 

Kurz drauf erschien auch Mrs. Carawood im Laden; sie hatte vom Wohnzimmer aus gesehen, daß Julian aus einem Taxi stieg. Mr. Fenner beobachtete die beiden eifersüchtig.

 

»Wer ist denn eigentlich dieser Fatzke?« fragte er Herman aufgeregt. »Er scheint ja mit Mrs. Carawood sehr vertraut zu sein!«

 

Julian hatte natürlich keine Ahnung, was der Mann von ihm dachte, und nahm auch nicht die geringste Notiz von ihm. Er ging sofort auf sein Ziel los.

 

»Nein, Marie ist nicht hier, Mr. Lester. Sie ist mit Mr. Morlay ausgegangen.«

 

»So?« Er strich nachdenklich den Schnurrbart. »In letzter Zeit bekomme ich sie recht wenig zu sehen.«

 

»Sie scheinen sich ja sehr für sie zu interessieren«, erwiderte Mrs. Carawood und sah ihn kühl an.

 

»Selbstverständlich interessiere ich mich für sie. Sie ist doch eine romantische Erscheinung.«

 

»Ich wüßte nicht …«, begann Mrs. Carawood.

 

»Aber selbstverständlich ist sie romantisch«, entgegnete Julian überzeugt und lauter, als notwendig gewesen wäre. »Es ist doch zum Beispiel schon romantisch, daß sie als Mitglied einer großen, altitalienischen Adelsfamilie von einer Engländerin erzogen wurde, die sowohl ihre Amme als auch ihre Pflegerin war. Wenn ich recht verstanden habe, ist sie doch seit ihrer frühesten Kindheit in Ihrer Obhut gewesen?«

 

»Ja, das stimmt.«

 

»Und ihre Mutter hat Sie zu ihrer Pflegerin gemacht?«

 

Sie merkte, daß er aufs Ganze ging, und erschrak. Sie hatte ihn immer freundlich behandelt, in der Voraussetzung, daß er ihr helfen würde, wenn es darauf ankam. Daß er einmal die freundliche Maske fallen lassen könnte, war ihr undenkbar erschienen. Aber Julian war im Augenblick alles gleich.

 

»Marie hat sich in der letzten Zeit sehr merkwürdig gegen mich verhalten. Ich weiß nicht, ob man mich ins schlechte Licht bei ihr gesetzt hat oder ob etwas geschehen ist, wovon ich nichts weiß. Deshalb bin ich jetzt direkt zu Ihnen gekommen. Sind Sie nun also ihre Pflegerin oder ihr Vormund?«

 

Sein Ton klang unfreundlich und hart, als ob er ein Staatsanwalt wäre, der einen Angeklagten ausfragt.

 

»Ihre Mutter hat mich zu Ihrem Vormund gemacht«, erwiderte sie langsam und entschlossen.

 

»Dann haben Sie doch sicher ein Dokument, ein Schriftstück darüber – und sicher hat die Gräfin auch ein Testament hinterlassen?«

 

Mrs. Carawood antwortete nicht.

 

»Sicher haben Sie doch mindestens eine Kopie von dem letzten Willen ihrer Mutter?«

 

»Ich habe keine Kopie«, sagte sie schließlich, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Dokumente und Papiere besitze ich nicht. Sie gab die Tochter in meine Obhut und bat mich, für sie zu sorgen, weil sie keine anderen Verwandten auf der Welt hatte.«

 

Er bemerkte, daß sie plötzlich über die Schulter schaute. Im nächsten Augenblick eilte sie an ihm vorbei und öffnete die Tür für Marie. Das junge Mädchen lachte herzlich. John Morlay folgte ihr in den Laden. Er schien die Ursache ihrer Heiterkeit zu sein, denn er trug eine große Puppe im Arm und sagte, daß das eine weitere Zierde der Villa in Ascot sein würde.

 

Julian beobachtete die beiden und folgte aufmerksam ihrer Unterhaltung. Sie waren bei einem Tanztee gewesen, und Marie beteuerte, daß John ausgezeichnet tanze. Die Puppe war ihr von dem Vorstand des Klubs geschenkt worden. Es war nicht die Gelegenheit, große Enthüllungen zu machen, und ein anderer, der nicht ein so dickes Fell gehabt hätte wie Julian Lester, würde die Auseinandersetzung sicher verschoben haben. Aber er hielt es für seine Pflicht, zu sprechen. Er glaubte, daß man schlecht über ihn geredet hatte, und machte dafür Mrs. Carawood verantwortlich. Marie trat auf ihn zu.

 

»Julian, ich habe Sie ja tagelang nicht gesehen!«

 

Sie war offen und freundlich zu ihm.

 

»Es scheint schon Jahre her zu sein«, entgegnete er und drückte lächelnd ihre Hand. »Wo haben Sie den Ring?«

 

Sie warf den Kopf zurück.

 

»In Ascot.«

 

»Hat er Ihnen gefallen?«

 

»Ich habe Ihnen doch einen Brief geschrieben und darin alles gesagt.«

 

Julian sah auf die Puppe.

 

»Was würden Ihre Vorfahren zu dergleichen sagen!« meinte er ironisch zu John gewandt. »Die werden sich noch in ihren Gräbern umdrehen.«

 

»Der letzte meiner Vorfahren wurde verbrannt, also kann er sich nicht im Grab umdrehen«, entgegnete John leichthin, nahm Julian beim Arm und ging mit ihm in eine ruhige Ecke. »Vor einer Woche wollten Sie mich beauftragen, Auskünfte für Sie einzuholen. Ich sehe, daß Sie jetzt einen anderen Mann für diesen Zweck gefunden haben.«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Julian und hob erstaunt die Augenbrauen.

 

»Gestern habe ich Sie in der Oxford Street gesehen. Sie sprachen mit dem Privatdetektiv Martin.«

 

Julian Lester lachte.

 

»Aber John, Sie sind ja wirklich ein guter Detektiv!«

 

»Ich möchte Ihnen nur eins sagen«, erklärte John und wählte sorgsam die Worte. »Mir scheint Ihr Interesse für Mrs. Carawood und Marie doch die Grenzen des Anstands zu –«

 

Julian unterbrach ihn. »Zu überschreiten? Sie halten das für unverschämt?«

 

»Nein, so harte Worte wollte ich nicht gebrauchen. Ich bin immer etwas geradeheraus und sage den Leuten genau, was ich denke. Was wollen Sie denn eigentlich herausbekommen, wenn Sie Detektive zur Beobachtung von Mrs. Carawood engagieren?«

 

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein«, sagte Julian und sah sich um. Aber Marie war mit Mrs. Carawood hinter die hölzerne Trennwand getreten und konnte nicht hören, was sie sprachen. »Ich bin darauf gefaßt, von dem Auskunftsbüro die Mitteilung zu bekommen, daß Mrs. Carawood um große Summen betrogen worden ist – oder daß sie selbst ein Vermögen betrügerischerweise beiseite gebracht oder wenigstens große Teile davon unterschlagen hat. Ich habe die Register in Somerset House nach dem Testament durchsucht, aber ich konnte es nicht finden. Die Fiolis hatten einen exzentrischen Charakter, sie verloren eine große Summe bei einem Bankenzusammenbruch vor etwa fünfzig Jahren, und seit der Zeit war bekannt, daß sie allen Banken mißtrauten und ihr Geld in bar aufbewahrten. Ich nehme deshalb an, daß Maries Mutter vor ihrem Tode Mrs. Carawood eine große Summe aushändigte. Ich will durch meine Erkundigungen nur feststellen, wo dieses Geld aufbewahrt wird und wie groß das Vermögen ist. Und im Anschluß daran habe ich die Absicht, Mrs. Carawood zu zwingen, sich über ihre Funktion als Vormund auszuweisen.«

 

John nickte nachdenklich.

 

»Ist das denn im Augenblick notwendig? Glauben Sie denn, daß Marie überhaupt noch einen Heiratsantrag von Ihnen annimmt, wenn Sie sich ihr jetzt erklären?«

 

Julian wurde durch diese Frage etwas, außer Fassung gebracht.

 

»Ich möchte dagegen fragen: Meinen Sie denn, daß Sie mehr Glück hätten als ich?« erwiderte er grob. »Soll die ganze Sache darauf hinauslaufen, daß Sie glauben, mich bei ihr in den Schatten gestellt zu haben? Vielleicht haben Sie mit dieser Annahme nicht unrecht, aber selbst wenn es so wäre, lasse ich mich doch von meinem Vorhaben nicht abbringen. Unter diesen Umständen könnten Sie mich als einen Mann betrachten, der kein weiteres persönliches Interesse an der Aufklärung der Verhältnisse hat, sondern auch nur für Marie arbeitet – wären Sie mit dieser Wendung einverstanden?«

 

John schüttelte den Kopf.

 

»Nein, davon bin ich nicht überzeugt.« Julian lachte.

 

»Trotzdem werde ich im Interesse Maries handeln und deshalb mit allem Nachdruck darauf dringen, die Wahrheit herauszubekommen.«

 

»Und wie wollen Sie denn die Wahrheit herausbringen?«

 

Herman kam in dem Augenblick mit einem großen schwarzen Holzkasten in den Laden und setzte ihn auf den Tisch. Julian war sprachlos, denn er erkannte ihn nach der Beschreibung, vor allem an den beiden Schlössern.

 

*

 

Kapitel 19

 

19

 

Marie winkte den beiden.

 

»Kommen Sie doch her. Nanny will uns allen zeigen, wie ich aussah, als ich klein war. Das erste Bild ist aufgenommen worden, als ich erst so groß war.« Sie zeigte die Höhe mit der Hand.

 

Mrs. Carawood sagte etwas, aber es klang so undeutlich, daß niemand es verstehen konnte.

 

Als sich die beiden über den offenen Kasten beugten, fühlte John Morlay, daß sein Herz schneller schlug.

 

Er nahm das Foto, das Mrs. Carawood ihm reichte, und sah ein hübsches Baby darauf. Allem Anschein nach war es Marie.

 

»Sehen Sie, so sah sie mit vier Jahren und so mit dreizehn aus.« Sie reichte ihm die drei Bilder zu gleicher Zeit.

 

Julian beobachtete die Frau scharf und ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

 

»Einen Moment, Mrs. Carawood«, unterbrach er sie.

 

John wandte sich um, als er die Stimme des anderen hörte, die merkwürdig hart klang.

 

»Wollen Sie jetzt mir und John, der wahrscheinlich ein ganz besonderes Interesse daran hat, erklären, was sonst noch in diesem Kasten ist?«

 

Der Deckel wurde laut zugeschlagen. John Morlay sah Julian an, und ihre Blicke trafen sich.

 

»Es ist im Augenblick nicht die rechte Zeit zu einer solchen Auseinandersetzung.«

 

»Verzeihen Sie, meiner Meinung nach ist es gerade der richtige Augenblick«, entgegnete Julian fest. »Vor ein paar Tagen hat einer meiner Agenten, den ich, wie ich gestehen will, besonders zu diesem Zweck engagiert habe, die alten Jahrgänge des ›Bournemouth Herald‹ durchsucht und dabei diese Notiz gefunden, die vor achtzehn Jahren in dem Blatt stand.«

 

Er zog seine Brieftasche, nahm einen Zeitungsausschnitt heraus und las ihn laut vor:

 

»›Die kürzlich in ihrem Haus in Westgate Gardens verstorbene Gräfin Fioli soll ungewöhnlich reich gewesen sein. Seltsamerweise hatte sie kein Bankkonto. Man nimmt an, daß sie große Summen in ihrem Haus aufbewahrte. Obwohl man eifrig danach suchte, hat man aber bis jetzt nichts davon entdecken können.‹«

 

»Nun?« fragte John eisig. »Was soll das beweisen?«

 

»Das erklärt, daß Mrs. Carawood plötzlich wohlhabend wurde und eine Anzahl von Geschäften eröffnete, deren Einrichtung doch sehr viel Geld gekostet haben muß.«

 

Mrs. Carawood wurde blaß und hörte zitternd zu.

 

»Das ist eine infame Lüge«, sagte sie heiser. »Ich habe jeden einzelnen Shilling redlich verdient.«

 

Zuerst verstand Marie den Zusammenhang nicht, aber als sie den Sinn dieser Anklage erkannte, eilte sie an die Seite von Mrs. Carawood.

 

»Wie dürfen Sie so etwas behaupten!« rief sie entrüstet.

 

»Ich verstehe wohl, daß Sie aufgebracht sind«, entgegnete Julian gelassen. »Es spricht für Ihren guten Charakter, Marie, aber es bleibt doch immer noch die Frage zu beantworten – wo ist das Geld geblieben? Und wo ist das Testament? Das heißt, wenn Ihre verstorbene Mutter ein Testament gemacht hat! Dort ist es!« sagte er dann und zeigte auf den Kasten. »Sie haben sicher eine ganze Anzahl von Dokumenten und Papieren versteckt. Zeigen Sie mir die Schriftstücke.«

 

Mrs. Carawood schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Sie sollen die Papiere nicht sehen«, erklärte sie. »Auf keinen Fall werde ich das dulden!«

 

Die Aufregung war zu groß gewesen; Mrs. Carawood wurde ohnmächtig und sank über den schwarzen Kasten.

 

Mr. Julian Lester hatte schon manche kritische und schwierige Situation durchlebt, aber jetzt mußte er doch alle Energie zusammennehmen, um Herr der Lage zu bleiben. John und Marie sprachen beide auf ihn ein; Herman war außer sich vor Wut, und Morlay mußte dazwischentreten, um einen bösen Auftritt zu verhüten.

 

Die Anwesenden trennten sich darauf, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt.

 

*

 

Julian glaubte, daß man ihm bitter unrecht getan hätte und daß alle anderen sich irrten. In seiner egoistischen Weise betrachtete er sich als den Retter Maries vor den Intrigen und Gemeinheiten dieser Mrs. Carawood.

 

Er hielt sich für vollkommen berechtigt, diese Schlußfolgerungen aus den Tatsachen zu ziehen, und erkundigte sich bei einem Rechtsanwalt. Julian hatte viele Freunde, die ihm nützlich sein konnten. Er kannte Ärzte, die er gelegentlich um Rat fragte, ohne daß er dafür ein Honorar zu zahlen brauchte, und Juristen, von deren Wissen er kostenlos profitierte. Aber die Auskunft, die er jetzt erhielt, war nicht nach seinem Geschmack.

 

»Mein Lieber, Sie haben nicht das geringste Recht, derartige Forderungen zu stellen. Sie sind nicht einmal mit der jungen Dame verwandt, und wenn Sie die Sache vor Gericht bringen, werden Sie glatt mit Ihrer Klage abgewiesen, ja, der Richter wird Ihnen wahrscheinlich sagen, daß es eine Unverschämtheit ist, derartige Forderungen überhaupt zu stellen.«

 

»Aber wenn ich nun mit ihr verlobt wäre?«

 

»Auch das würde Ihnen nicht das mindeste Recht zu solchen Handlungen geben. Nur wenn Sie die Dame geheiratet hätten, wäre es anders. Dann könnten Sie als Gatte Aufklärung verlangen.«

 

Sein Freund setzte ihm noch auseinander, daß es ein sehr langwieriger und kostspieliger Prozeß werden würde, wenn er unter diesen Voraussetzungen nachprüfen ließ, inwieweit Mrs. Carawood zur Führung der Vormundschaft berechtigt sei. Als er schließlich noch ungefähr die Summen nannte, die ein Anwalt als Vorauszahlung verlangen würde, bekam Julian doch einen heilsamen Schrecken.

 

»Ich würde an Ihrer Stelle die Finger von der Sache lassen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann nehmen Sie einen Fernkurs für Einbrecher, kaufen sich ein Stemmeisen und versuchen, inoffiziell hinter das Geheimnis zu kommen!«

 

*

 

Kapitel 10

 

10

 

Bevor sie am Abend zur Stadt zurückkehrten, nahm Mrs. Carawood John beiseite und fragte ihn ein wenig ängstlich, was er an der Feier auszusetzen gehabt hätte, doch selbst wenn er keine Rücksicht auf sie nahm, konnte er eigentlich nur wenig beanstanden. Er sagte aber ganz offen, daß der Diener in der grauen Livree mit den Silberverschnürungen etwas zu aufdringlich gewirkt hätte. Sie selbst gab das auch sofort zu.

 

Morlay ließ Julian nur widerstrebend in Ascot zurück. Er war sehr ungehalten über das Telegramm aus New York, das ihn zwang, nach London zurückzukehren. Er hatte zwar versprochen, am Sonntagmorgen wiederzukommen, aber die Arbeit, die er in seinem Büro vorfand, beschäftigte ihn bis zum Nachmittag, und als er damit fertig war, glaubte er, es wäre zu spät, um noch aufs Land zu fahren.

 

Einen Sonntag allein in London zu verbringen ist eine traurige Angelegenheit. Er rief daher Inspektor Peas an, der Dienst in Scotland Yard hatte, und auf dessen Aufforderung hin fuhr er zum Polizeipräsidium am Themseufer. Als er in das Büro trat, fand er den Inspektor in Hemdsärmeln an einem Tisch, auf dem viele Fotos ausgebreitet lagen. Die meisten stellten Männer dar, und jedes war mit einer großen Nummer versehen. Die Gesichtszüge der abgebildeten Leute wirkten abstoßend, auch waren sie in wenig günstigen Stellungen aufgenommen.

 

»Eine Galerie von Schönheiten, finden Sie nicht auch? Sämtliche Herrschaften sind Einbrecher, die mindestens schon einmal bestraft worden sind, manche aber viel öfter. Sehen Sie zum Beispiel den hier? Der ist direkt eine Berühmtheit – sechsmal wegen Einbruchs verurteilt, zur Zeit noch im Gefängnis.«

 

»Sie suchen wohl immer noch nach Ihrer ›Einsamen Hand‹?« Peas nickte.

 

»Ich halte natürlich die Augen offen. Einmal schaue ich nach dem Verbrecher aus, andererseits aber auch nach dem Hehler. Die Leute, die diesen Schmuck zu Geld machen wollen, müssen schon ziemlich viel Erfahrung darin haben, denn je kostbarer die Stücke sind, die sie stehlen, desto schwieriger ist es, sie unterzubringen.«

 

»Es müßte aber doch leicht für Sie sein, alle Hehler in London zu kennen.«

 

»Jeder große Hehler ist der Kriminalpolizei in Scotland Yard auch bekannt. Wir haben aber in allen Fällen zu wenig Beweismaterial, um die Leute zur Verurteilung zu bringen. Außerdem hat es auch einen gewissen Vorteil, wenn wir sie in Freiheit lassen. Einige von ihnen wissen sogar genau, daß wir über ihre wahre Tätigkeit informiert sind, aber sie halten sich für so schlau, daß sie glauben, wir könnten sie nicht fassen. Das ist natürlich ein Irrtum.« John Morlay wußte wenig von der Art und Weise, wie die Polizei mit Verbrechern umging.

 

»Welche Leute kaufen denn gestohlene Schmucksachen auf? Sind es Händler?«

 

»Ein paar Juweliere sind darunter, einige haben sogar große Läden und einen ziemlich hohen Umsatz in ihrem offiziellen Geschäft. Ich kenne auch zwei Altkleiderhändler –«

 

John lachte laut auf.

 

»Mrs. Carawood ist also auch eine Hehlerin – ich meine, in Ihren Augen?«

 

»Nein, an die dachte ich im Augenblick nicht. Übrigens haben wir ihren letzten Besuch in Antwerpen genau untersucht. Sie fährt tatsächlich dorthin, um Kleider einzukaufen, hauptsächlich billige Seidenware. Wir haben eine Bestätigung vom Zollamt.«

 

Er schob die Fotos zusammen und machte ein Gummiband darum.

 

»Sie haben sie also nicht länger in Verdacht?«

 

»Doch, sie ist immer noch verdächtig. Und was das Wichtigste ist, ich bearbeite ihre Personalakten. Das ist ziemlich gefährlich für sie. Im Vertrauen kann ich Ihnen ja sagen, daß sie uns einiges zu raten aufgibt.«

 

Er sah auf die Uhr und drückte dann auf einen Klingelknopf.

 

»In zehn Minuten ist mein Dienst zu Ende. Wollen Sie einmal sehen, wie ein wirklicher Kriminalbeamter arbeitet? Wenn ich von einem wirklichen Kriminalbeamten spreche, meine ich natürlich einen Meister seines Fachs.«

 

»Mit anderen Worten – Sie meinen sich selbst.«

 

»Wen sonst?«

 

Bald darauf erschien ein Beamter und holte die Fotos, die Peas in einen Umschlag gesteckt hatte. Dann telefonierte der Inspektor noch mit einem gewissen Arty, der ihn ablösen sollte. Nachdem das alles erledigt war, zog Peas sein Jackett an und griff nach seinem Hut. Dann gingen die beiden in die warme Abendluft hinaus.

 

»Merkwürdig, daß Sie vorhin gerade von dieser Mrs. Carawood gesprochen haben«, sagte der Inspektor, als sie nach Westen wanderten. »Ich habe mich nämlich fest entschlossen, heute abend dieses kleine Geheimnis zu lüften. Ich glaube, der junge Mann in ihrem Laden kann mir einigen Aufschluß geben. Er scheint ehrlich zu sein. Auch dieser Fenner, der sehr oft hinkommt, ist wohl ein ganz brauchbarer, anständiger Mensch. Es ist doch merkwürdig, daß eine Frau, der eine junge Aristokratin nahesteht, keine Freunde in besseren Kreisen besitzt.«

 

»Wohin gehen Sie denn jetzt?« fragte John argwöhnisch.

 

»Zur Penton Street. Ich möchte mich mit Herman unterhalten.«

 

John schüttelte den Kopf.

 

»Ich werde Sie bis zur Tür des Ladens begleiten, aber ich will nicht Zeuge sein, wie ein richtiger Kriminalbeamter arbeitet. Wahrscheinlich könnte ich es nicht schweigend mitanhören, wenn Sie diesen Herman ausfragen. Er ist schließlich ein Angestellter meiner Auftraggeberin.«

 

»Viel werde ich wohl sowieso nicht aus ihm herausbringen. Aber vielleicht bekomme ich durch eine Unterredung mit ihm eine Anregung. Vielleicht macht er irgendeine brauchbare Andeutung. Er weiß natürlich bedeutend mehr über Mrs. Carawood, als er mir gesagt hat.«

 

»Haben Sie schon vorher mit ihm gesprochen?«

 

»Ja, mindestens ein halb dutzendmal.«

 

John Morlay war es ganz neu, daß Mrs. Carawood die Beamten von Scotland Yard derartig interessierte. Ab und zu hatte er ja einen Einblick in die Methoden der Polizei gehabt. Er wußte auch, daß es in Scotland Yard nichts Neues war, wenn sich die Beamten lange Zeit mit den Verhältnissen irgendwelcher Personen beschäftigten und alle möglichen Nachforschungen anstellten, die im Grunde auf nichts hinausliefen und keine greifbaren Resultate zeitigten, wenn sich herausstellte, daß die verdächtige Person vollkommen unschuldig war.

 

Die Dunkelheit brach herein, als sie zur Penton Street kamen. Die Straßen und Gassen lagen zu dieser späten Stunde vollkommen verlassen. Sie hielten dem Laden gegenüber an.

 

»Ich halte es für das beste, daß ich Sie allein lasse, wenn Sie Ihre Nachforschungen anstellen. Von Herman werden Sie ja wohl kaum irgendwelche Verbrechen erfahren. Im Gegenteil, es wird sich herausstellen, daß Mrs. Carawood vollkommen ehrlich ist.«

 

Peas war gerade im Begriff, zum Laden hinüberzugehen, als ein kleines Auto in die Straße einbog und vor der Seitentür des Geschäfts hielt. Mrs. Carawood stieg aus; John Morlay erkannte sie sofort. Allem Anschein nach war sie allein.

 

Als sie auf die Tür zuging, öffnete sich diese sofort und blieb eine Weile offenstehen. Nach einiger Zeit kam Herman heraus, schloß sie sorgfältig, stieg in den Wagen und fuhr fort.

 

»Heute abend können Sie sich also nicht mit Herman unterhalten«, sagte John.

 

Er war erstaunt über das plötzliche Auftauchen von Mrs. Carawood, denn er hatte sie doch in Ascot zurückgelassen, und soviel er wußte, hatte sie durchaus nicht die Absicht gehabt, zur Stadt zu fahren. Es war ihm außerdem vollkommen neu, daß sie selbst ein Auto besaß und fahren konnte. Vielleicht hatte sie den Wagen irgendwo in einer Garage in Ascot untergestellt. Nicht einmal Marie wußte davon.

 

»Ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, warum sie von Ascot nach London gekommen ist«, meinte der Inspektor nachdenklich.

 

»Es ist doch nichts Außergewöhnliches daran, wenn sie am Sonntagabend in die Stadt fährt«, erwiderte John.

 

Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts mehr darüber, sondern sprach von anderen Dingen, besonders über die Häuser in der Umgebung. Bevor verschiedene Hausinhaber hier Mietwohnungen eingerichtet hatten, war dies einmal eine vornehme Straße gewesen. Peas wußte sehr gut in Pimlico Bescheid.

 

Es hatte nicht den Anschein, als ob Herman bald zurückkehren würde. Peas machte gerade eine Bemerkung darüber, als sie sahen, daß sich die Seitentür des Ladens wieder öffnete und eine Frau vorsichtig auf die Straße trat. Sie schaute sich ängstlich nach rechts und nach links um. Wahrscheinlich hatte sie die beiden Männer nicht bemerkt. Es war Vollmond; die Seite der Straße, an der der Laden lag, war hell erleuchtet, aber die andere lag in tiefem Schatten.

 

John sah verblüfft zu der Frau hinüber. Mrs. Carawood war gut gekleidet gewesen, als sie aus dem Auto stieg und den Laden betrat, aber jetzt glich sie nahezu einer Vogelscheuche. Selbst bei Mondlicht konnte er erkennen, daß sie in Lumpen gehüllt war. Sie trug einen altmodischen, abgetragenen Hut und ein ärmliches Kleid und verschwand bald mit raschen Schritten in einer Seitenstraße.

 

»Was halten Sie davon?« fragte Inspektor Peas düster. »Die ist ja die reinste Lumpenliese!«

 

John nickte.

 

»Sind Sie neugierig und wollen Sie mich begleiten? Oder soll ich allein gehen?«

 

»Ich komme mit!« sagte John und folgte dem Inspektor schnell über die Straße.

 

Sie konnten die Frau bald wieder vor sich sehen und holten allmählich auf. So vergingen etwa zehn Minuten. Als sie dann wieder in die Hauptstraße einbog, rief sie ein Taxi an. Die Tür schlug hinter ihr zu. Das Auto fuhr ab und war schon außer Sicht, als es Inspektor Peas endlich gelang, ein zweites Taxi aufzutreiben. Aber nach einiger Zeit hatten sie das Glück, den ersten Wagen wieder zu erreichen. Die Fahrt ging durch Piccadilly, durch die verlassene Innenstadt, dann über die Tower-Brücke in der Richtung nach Rotherhithe. Dort stieg Mrs. Carawood aus. Die beiden fuhren an ihrem Wagen vorbei, um kein Aufsehen zu erregen, und als Inspektor Peas durch das hintere Fenster schaute, sah er, daß sie in eine enge Gasse einbog. Er ließ sofort den Wagen halten, sprang heraus und folgte ihr. Gerade als sie an der Straßenbiegung ankamen, konnten sie noch sehen, daß sie in einem kleinen Haus verschwand.

 

Es war keine verkommene, aber doch eine ziemlich ärmliche Gegend. Die Häuser waren klein, und Morlay schloß daraus, daß hier viele Arbeiter wohnten. Als sie die Straße weiter hinaufgingen, stellten sie fest, daß die Frau in Haus Nr. 17 gegangen war.

 

Sie kehrten zur Hauptstraße zurück. Das Auto, in dem Mrs. Carawood angekommen war, hatte inzwischen gewendet und wartete nun in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Straße. Dicht dahinter stand eine große, elegante Limousine, ein ungewöhnlicher Anblick in dieser Gegend. Peas ging darauf zu und betrachtete den Wagen.

 

»Wem gehört der Wagen?« fragte er.

 

»Sir George Horbin«, entgegnete der Chauffeur.

 

Das war der Name eines berühmten und bekannten Spezialarztes aus der Harley Street.

 

»Was macht Sir Horbin denn in dieser Gegend?«

 

»Er ist zu einem schweren Fall gerufen worden«, erwiderte der Chauffeur gleichgültig.

 

Einen Augenblick später warf er seine Zigarette fort und öffnete die Tür. Ein untersetzter Mann näherte sich dem Wagen und stieg eilig ein.

 

»Nach Hause!« sagte er kurz, und der Chauffeur fuhr ab.

 

»Die Leute hier in Rotherhithe müssen ja viel Geld haben«, meinte Peas. Er sah sich um und dachte darüber nach, ob hier in der Nähe ein Hospital oder ein Krankenhaus lag. Aber das war nicht der Fall.

 

Als die beiden wieder auf die andere Seite der Straße gingen und an der Ecke der kleinen Gasse vorüberkamen, sahen sie, daß Mrs. Carawood das Haus Nr. 17 verließ. Sie blieb einen Augenblick stehen und sprach noch mit einem Mann, dann eilte sie zur Hauptstraße zurück. Die beiden folgten ihr wieder bis zur Penton Street und warteten, bis sie ins Haus gegangen war.

 

Zehn Minuten später erschien das kleine Auto wieder vor der Seitentür. Herman stieg aus, öffnete die Tür mit einem Schlüssel, und kurz darauf trat Mrs. Carawood, elegant gekleidet, aus dem Haus.

 

»Die Garage muß hier in der Nähe liegen«, sagte Peas. »Herman hat nur so lange dort gewartet, bis sie ihn anrief. Ich glaube kaum, daß er etwas von dieser Verkleidung weiß.«

 

Mrs. Carawood stieg wieder ein, und sie schauten dem Wagen nach, bis das rote Schlußlicht außer Sicht kam.

 

»Ich glaube, es hat keinen Zweck, daß ich heute abend noch mit Herman spreche«, meinte der Inspektor. »Aber eines kann ich Ihnen sagen – wenn ich dieses Geheimnis nicht aufklären kann, reiche ich meine Kündigung ein und fange an, Kriminalromane zu schreiben.«

 

*

 

Am Dienstagmorgen fuhr John nach Ascot, wo er zur Frühstückszeit ankam. An diesem Tag wurden die Rennen eröffnet, und John Morlay trug einen eleganten Cut und Zylinder, da Mrs. Carawood eine Loge auf den Tribünen gemietet hatte. John hielt sich für sehr gut angezogen, bis er die kleine Villa erreichte und dort Julian sah. Dann wußte er, daß er seinen Meister gefunden hatte.

 

»Sieht er nicht fabelhaft aus?« fragte Marie. »Ich habe ihn schon den ganzen Morgen bewundern können. Warum er sich bereits vor dem Frühstück angezogen hat, mag der Himmel wissen. Wir haben doch noch viel Zeit bis zum Beginn des Rennens.«

 

»Glänzend«, gab John zu, seine Stimme klang aber etwas ironisch.

 

Mr. Julian Lester fühlte sich jedoch dadurch in keiner Weise angegriffen oder verlegen.

 

Als die beiden allein waren, erzählte er John, wie herrlich es am Sonntag noch gewesen sei. Den vorigen Abend hatte er mit Marie zugebracht, und er glaubte, daß er sich mit ihr verständigt hätte.

 

»Verstehen Sie unter Verständigung etwa Verlobung?« fragte John, dem bei diesem Gedanken schwach wurde.

 

»Das gerade nicht. Ich wollte damit nur sagen, daß Marie und ich nahezu dieselbe Lebensauffassung haben.«

 

»Das kann ich aber durchaus nicht glauben.« John erinnerte sich plötzlich an das nächtliche Abenteuer. »Ist Mrs. Carawood in die Stadt gefahren?«

 

»Nein, sie hat nur ein paar Freunde in der Nachbarschaft besucht. Ich habe sie nicht danach gefragt, wie die Leute heißen. Ich habe immer den Eindruck, daß man sie besser in Ruhe läßt. Es wäre ja möglich, daß sie – geschäftlich zu tun hätte –«

 

Julian nahm John beim Arm und ging mit ihm quer über den gutgepflegten Rasenplatz.

 

»Ganz offen gesagt, John, die Situation mit Marie ist ein wenig heikel. Wissen Sie auch, daß das arme Kind nicht die geringste Ahnung davon hat, wie ihr Geld angelegt ist oder ob sie überhaupt ein Vermögen besitzt? Sie sagte mir sogar, sie hätte das Gefühl, daß sie nicht einen einzigen Shilling besäße und ganz von der Güte von Mrs. Carawood abhängig wäre.«

 

»Warum sind Sie eigentlich so scharf darauf, etwas über das Vermögen der Contessa Fioli zu erfahren?« fragte John geradezu. »Sie sind doch selbst reich.«

 

Julian Lester wandte sich ihm schnell zu.

 

»Wie kommen Sie denn darauf, daß ich reich sein soll? Wer hat Ihnen das gesagt? Ich bin nicht reich – im Gegenteil, ich möchte sagen, verhältnismäßig arm! Alle Leute, die glauben, daß ich Geld habe, irren sich.«

 

Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Es schien fast, als ob er den Gedanken, Geld zu haben, als eine persönliche Beleidigung auffaßte.

 

»Sie sind ein sonderbarer Kerl«, erwiderte John. »Aber mir kann es ja gleich sein, ob Sie ein Millionär oder ein Bettler sind. Also, inwiefern hat Marie die gleiche Lebensauffassung wie Sie?«

 

»Sie müssen mich nicht derartig ausfragen, alter Junge. Wir haben jedenfalls in mancher Beziehung denselben Geschmack. Es ist direkt Seelenverwandtschaft.«

 

John lachte laut.

 

»Dabei gibt’s doch nichts zu lachen!«

 

»Einmal reden Sie von Seelenverwandtschaft, und dann wollen Sie unter allen Umständen wissen, wie groß das Vermögen von Marie Fioli ist. Das reimt sich nicht zusammen. Wenn Ihnen die Sache aber so ernst ist, dann gehen Sie doch direkt zu Mrs. Carawood und fragen sie, wie sie das Vermögen ihrer Pflegebefohlenen verwaltet. Bei der Gelegenheit können Sie auch gleich erfahren, wieviel es ist, und sich dann ein Urteil darüber bilden, ob es sich lohnt, Ihren Plan weiterzuverfolgen.«

 

Julian seufzte.

 

»Das ist mehr oder weniger vulgär. Ich dachte immer, Sie wären ein Mann von Welt und würden mir in einer solchen Krise helfen.«

 

*

 

Für John wurde die Woche, die so gut begonnen hatte, ziemlich langweilig. Die Rennen in Ascot verliefen in diesem Jahr glänzend, die festlich gekleidete Menge bot ein anregendes Bild, und die Rennen selbst waren spannend, aber John wurde alles vergällt durch die Anwesenheit Lesters. Julian hatte Zutritt zur Königlichen Loge; er war der einzige von den vieren, der dieses Privileg genoß. Er kannte fast alle Leute, die irgendeine Rolle in der Gesellschaft spielten, und zeigte Marie die Berühmtheiten. Schließlich gelang es ihm sogar noch, auch für sie eine Einlaßkarte zur Königlichen Loge zu bekommen.

 

John Morlay selbst kannte kein Minderwertigkeitsgefühl. Dem gesellschaftlichen Leben hatte er bis jetzt kein Interesse abgewonnen, und es war ihm ziemlich gleichgültig, ob er die Rennen von der Tribüne aus sah, wo der Platz sechs Shilling kostete, oder von der reservierten Loge des Königlichen Rennklubs. Hätte er sich Mühe gegeben und darum nachgesucht, so hätte auch er Zutritt dort haben können. Er war während des Krieges zweimal dekoriert worden, und man hätte ihm sicher keine Schwierigkeiten gemacht. Julian hatte eine gewisse Routine darin, andere Leute fühlen zu lassen, daß sie nicht zur Gesellschaft gehörten. Er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, in der Unterhaltung über vornehme Bekanntschaften zu sprechen, ja, er hatte sogar einmal die Dreistigkeit, anzudeuten, daß John ein Privatdetektiv sei, der zum Schutz Marie Fiolis engagiert worden sei.

 

Julian war ein dauerndes Problem für John. Er hatte viele Bekannte und verkehrte in Industriekreisen genauso wie unter Parlamentsmitgliedern. In allen Sätteln war er gerecht und konnte fließend über Fragen der Wirtschaft und der Politik sprechen. John bekam geradezu Achtung vor ihm. Wenn der Mann ein Abenteurer war, setzte er sich jedenfalls mit großem Erfolg in Szene. Von einem gemeinsamen Bekannten wußte John, daß Julian ohne die geringsten Mittel begonnen hatte. Das Einkommen aus der Erbschaft seines Vaters war nur eine fromme Legende.

 

Julians Geldgier war seinen Freunden bekannt. Er träumte von Millionen und war so geizig, daß er sich scheute, selbst Bruchteile eines Schillings auszugeben.

 

Jede Beschäftigung, die viel Geld einbrachte, interessierte ihn. Er hatte versucht, zum Film zu gehen, aber er genügte den Anforderungen nicht. Dann hatte er ein Drehbuch geschrieben, aber niemand wollte es drehen.

 

»Ein merkwürdiger Kerl!« sagten seine Bekannten.

 

Maries Reichtum beeindruckte ihn offenbar so stark, daß es auf ihre Persönlichkeit gar nicht anzukommen schien. John amüsierte sich über die augenfällige Art, mit der er ihr den Hof machte. Am Donnerstagabend äußerte auch Marie ihre Meinung über Julian, die vollständig mit der Johns übereinstimmte.

 

»Julian ist nach London gefahren. Er hat mir ein Geschenk gemacht, aber ich soll es nicht vor morgen früh betrachten – wir tun nämlich so, als ob ich jetzt Geburtstag hätte.«

 

»Ein Geschenk? Ach, Sie meinen den Siegelring mit dem geschliffenen Granit?«

 

»Sie sollen sich nicht lustig darüber machen. Ich bin sicher, daß es ein schöner Ring ist – Julian, hat einen ausgezeichneten Geschmack. Mrs. Carawood wünscht allerdings, daß ich ihn nicht annehme. Wenn ich ihn ins Feuer werfen würde, täte ich ihr sicher den größten Gefallen. Aber Julian ist wirklich erstaunlich. Er ist geizig, und er schämt sich kein bißchen deshalb. Dazu kommt, daß er sich so unheimlich für mein Vermögen interessiert. Er hat dauernd mit mir darüber gesprochen, bis mir schließlich die Sache zuviel wurde und ich drohte, zu Nanny zu gehen und eine genaue Aufstellung von ihr zu verlangen. Es muß schön sein, wenn man nur um seiner selbst willen geliebt wird.«

 

Sie mußten beide über die Äußerung lachen.

 

»Glauben Sie, daß er überhaupt imstande ist, einen anderen Menschen aufrichtig zu lieben?« fragte John.

 

»Ich bin sicher, wenn man mit ihm verheiratet wäre, würde er immer sehr nett und liebenswürdig sein. Er würde gute Dinners und hübsche Einladungen veranstalten; für gutes Essen und Trinken hat er viel übrig. Er würde auch sehr zuvorkommend sein und niemals davonlaufen, höchstens wenn er eine Dame findet, die doppelt soviel Geld hat. Und wenn ich tatsächlich so reich bin, wie er hofft, dann ist es ganz unmöglich, eine solche Dame zu finden.«

 

»Schätzen Sie ihn – haben Sie ihn gern?« fragte John unsicher.

 

»Julian? Ich muß sagen, in gewisser Weise bewundere ich ihn. Ich habe tatsächlich den Ring gesehen, den er mir schenken will. Er zeigte ihn mir, als wir die Bond Street entlanggingen und vor einem Schaufenster stehenblieben. Es ist ein Rubin mit schöner Goldfassung. Morgen darf ich das Geschenk erst auspacken. Wie ist es übrigens – haben die Juweliere viel durch den Einbruch verloren, von dem Sie mir erzählten?«

 

»Es waren nur ein paar auserlesene Stücke darunter – zum Beispiel ein länglicher Saphir, der von vier Diamantklammern gehalten wurde. Ich weiß es so genau, weil der Inhaber des Geschäfts zu meinen Kunden gehört.«

 

»Ach, sagen Sie mir doch, wie fühlt man sich eigentlich so als Detektiv?« fragte sie interessiert.

 

Er lachte.

 

»Sie würden sich langweilen, wenn Sie wüßten, wie monoton und ruhig mein Beruf ist. Ich muß Sie eines Tages einmal Inspektor Peas vorstellen, das ist ein richtiger! Der beste Mann, den es in Scotland Yard gibt – wenigstens hält er sich dafür.«

 

Kapitel 11

 

11

 

Mrs. Carawood schien sich über die Abreise Julians zu freuen und war beim Abendessen in heiterer Stimmung. Am Nachmittag hatte sie außerdem, auf ein Pferd gesetzt und gewonnen.

 

»Wer hat dir denn den guten Rat gegeben?« fragte Marie erstaunt.

 

Mrs. Carawood lächelte.

 

»Fenner kam zu den Rennen. Er weiß auf allen Gebieten Bescheid, sogar von Pferden versteht er etwas!«

 

Am Abend gingen sie spät zu Bett. Es war fast ein Uhr, als John sein Licht ausschaltete und sich zur Ruhe legte. Während des Abends hatte sich der Himmel bewölkt, und es waren ab und zu Regenschauer niedergegangen. John hörte fernes Donnergrollen.

 

Er hatte einen leichten Schlaf, und als das Unwetter losbrach, wachte er beim ersten Donnerschlag auf. In unregelmäßigen Zwischenräumen erhellten Blitze das Zimmer. Er zog die Vorhänge zurück und schaute hinaus; der Regen fiel wolkenbruchartig. Ein blendendhelles Lichtband lief am Himmel entlang, und fast unmittelbar darauf folgte der Donner. Unwillkürlich zuckte er zurück. Es mußte in der Nähe eingeschlagen haben, denn der Donner war scharf wie ein Peitschenknall gewesen.

 

Er sah auf die Uhr: Viertel nach zwei. Trotz des offenen Fensters war die Luft im Zimmer drückend. Er öffnete die Glastür weit und hörte im selben Augenblick einen wilden Schrei dann noch einen, und zwar aus der Richtung von Maries Zimmer. Einen Augenblick zögerte er, weil er nicht wußte, was er tun sollte. Wahrscheinlich war sie durch das Unwetter aufgeweckt worden und fürchtete sich. Dann trat er auf den Gang und hörte, wie eine Klinke niedergedrückt wurde. Die Tür zu Maries Zimmer flog auf.

 

»John …! Nanny …! Wer ist da?«

 

»Ich bin es«, erwiderte Morlay. »Ist etwas nicht in Ordnung – fürchten Sie sich?«

 

»Ja!« keuchte sie atemlos. »Aber nicht vor dem Gewitter –«

 

»Was ist denn geschehen, Liebling?« hörte man jetzt die Stimme von Mrs. Carawood.

 

»Es war jemand in meinem Zimmer …«

 

John schlüpfte schnell in seinen Morgenrock und eilte zu dem Zimmer des jungen Mädchens. Als er das Licht andrehte, sah er, wie bleich sie war.

 

Der Sturm tobte draußen mit unverminderter Stärke weiter, das Rauschen des Regens klang gewaltig, aber keiner der drei achtete darauf.

 

»Ich wachte plötzlich auf«, sagte Marie, noch ganz außer sich, »und sah, daß ein Mann in meinem Zimmer war … Er stand ganz nahe an meinem Frisiertisch. Wahrscheinlich ist er über den Balkon durch die offene Glastür hereingekommen. Ich schrie, plötzlich verschwand er.«

 

»Vermissen Sie etwas?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und versuchte zu lächeln. »Aber sicher habe ich den Schlaf dieser Nacht, meinen Frieden und meinen Glauben an Detektive eingebüßt!«

 

Er ging in ihr Zimmer; soviel er sehen konnte, war nichts angerührt worden. Die kostbaren Bürsten und Kämme in Goldfassung waren vollzählig vorhanden. Marie folgte ihm auf dem Fuß.

 

»Der Ring!« rief sie plötzlich. »Er ist fort.«

 

Sie sah unter den Frisiertisch und dahinter, aber das kleine rote Lederetui mit dem Geschenk Julians war verschwunden.

 

»Wo haben Sie ihn denn hingelegt?«

 

»Dorthin!« Sie zeigte auf die Ecke des Frisiertisches.

 

»Wissen Sie das auch ganz genau?«

 

Sie nickte.

 

»Ja, um halb zwei lag er noch hier auf der Ecke.«

 

»Aber wir haben uns doch kurz vor zwölf getrennt, Marie.«

 

Sie sah Mrs. Carawood an und senkte den Blick.

 

»Ja, aber ich habe mich nicht sofort hingelegt.«

 

Sie war ungewöhnlich ernst. Es mußte sie wohl noch ein anderes Ereignis mitgenommen haben. Noch im Augenblick vorher hatte sie gelacht und war zum Scherzen geneigt. John Morlay verstand sie nicht ganz.

 

»Würden Sie den Mann wiedererkennen?« fragte er.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

Er trat auf den Balkon hinaus und sah, daß eine Leiter ans Geländer gelehnt war. Mrs. Carawood folgte ihm und stieß die Leiter um, so daß sie der Länge nach auf den Rasen fiel.

 

»Sie müssen schon seit langer Zeit dieses Haus beobachtet haben. Die Leiter hängt sonst an der Hinterfront; die Einbrecher wußten also gut Bescheid.«

 

Der Vorfall machte auf Mrs. Carawood noch größeren Eindruck als auf Marie. Sie ließ sich aber wenig anmerken.

 

»Gehen wir nach unten und trinken eine Tasse heißen Kaffee. Das Gewitter geht auch allmählich vorüber«, meinte sie beruhigend.

 

Aber damit hatte sie nicht recht. Die Grundfesten des Hauses erzitterten noch unter den gewaltigen Donnerschlägen, als sie zusammen in dem Speisezimmer saßen und den Kaffee tranken, den Mrs. Carawood inzwischen zubereitet hatte.

 

Marie war ernst geworden. Sie saß am Tisch und schaute auf die polierte Fläche. Nervös faltete sie die Hände und runzelte die Stirn.

 

»Ich glaube, Julian wird sich sehr aufregen, wenn er das erfährt«, meinte Mrs. Carawood. »Obwohl der Ring sicher nicht viel gekostet hat.«

 

Marie seufzte und sah dann auf.

 

»Ich werde ihn zurückbekommen. Das ist ganz gewiß.«

 

»Ich würde mich darauf nicht zu sehr verlassen«, erwiderte John. »Es ist sehr schwer, gestohlene Stücke zurückzuerhalten. – Ich möchte wissen, ob der Einbrecher heute abend auch noch in einem anderen Haus war.«

 

»Und ich werde den Ring doch zurückbekommen.« Marie nickte und lächelte wieder. »Ich habe eine bestimmte Vorahnung. Ich glaube, wenn der Einbrecher den Ring sieht und die rührende Inschrift liest, steckt er das Kästchen in einen Briefumschlag und schickt es mir per Post wieder zu. Wenn wir heute von den Rennen zurückkommen, liegt es unten in der Diele.«

 

»Sie scheinen tatsächlich das zweite Gesicht zu haben«, entgegnete John.

 

»Es wäre nicht das erste Mal, daß ich etwas vorausgeahnt hätte.«

 

Trüb dämmerte der Morgen, als sie sich wieder zur Ruhe legten. John schlief fest und traumlos, bis er dadurch geweckt wurde, daß kleine Kieselsteine auf den Boden des Zimmers fielen. Als er aufwachte, traf gerade ein Stein die Fensterscheibe. Es gab ein Loch.

 

»Ach, das tut mir leid«, hörte er eine Stimme unten im Garten.

 

Es war Marie.

 

»Seit zehn Minuten beschäftige ich mich schon damit, Steine durch Ihr Fenster zu werfen. Kommen Sie doch herunter, hier gibt es etwas für Sie zu tun.«

 

Es dauerte zwanzig Minuten, bis er unten auf dem Rasen war. Die Sonne schien strahlend, der Himmel war klar und blau, und alle Anzeichen sprachen dafür, daß es ein herrlicher Tag werden würde.

 

»Kommen Sie doch mit mir in den Obstgarten.«

 

Auf der Hinterseite des Hauses waren mehrere Morgen Land mit Apfel-, Birn- und Pflaumenbäumen bepflanzt; auch köstliches Spalierobst, wie Pfirsiche und Aprikosen, wuchs dort.

 

»Der Gärtner sagt, wir pflanzen das bloß, damit es die Wespen auffressen.«

 

Sie legte den Arm in den seinen, und so gingen sie durch das hohe Gras zwischen den Bäumen.

 

»Ich möchte, daß Sie mir einen großen Gefallen tun, John.«

 

»Ihre Bitte ist bereits gewährt!«

 

»Vergessen Sie alles, was ich gestern abend über den Ring sagte – ich meine, daß ich ihn wiedererhalten würde. Übrigens ist heute nacht auch drüben in der Villa Mirfleet eingebrochen worden, drei Häuser von uns entfernt. Dort wurde ein kostbares Perlenhalsband gestohlen, die Einbrecher haben also nicht nur meinen Ring erbeutet.«

 

»Ist die Polizei benachrichtigt worden?«

 

»Die Polizei!« sagte sie verächtlich und sah ihn mit blitzenden Augen an. »Selbstverständlich! Seit sieben Uhr heute morgen wandert eine ganze Prozession von Kriminalbeamten und Polizisten in Zivil hier über den Rasen. Das frische Gras ist vollkommen niedergetreten. Ihr Freund, Inspektor Peas, war auch dabei.«

 

»Was, der war auch hier?«

 

»Während Sie in tiefem Schlummer lagen, habe ich längere Zeit mit ihm gesprochen«, entgegnete sie feierlich. »Ich habe ihm alle Einzelheiten erzählt, und alle Beamten haben eifrig in ihre Notizbücher geschrieben. Gerade während sie sich mit mir unterhielten, wurde der Einbruch in der Villa Mirfleet entdeckt, und dann sind sie alle verschwunden. Ich habe keinen von den Herren wiedergesehen.«

 

»Wer hat denn nach der Polizei geschickt?«

 

Sie zögerte.

 

»Ich weiß es nicht, ich glaube aber, es war Mrs. Carawood. Sie ist nicht zu Bett gegangen und war schon um fünf Uhr morgens wieder hier unten. Wahrscheinlich hat sie es einem Polizeibeamten in Ascot gesagt, und der hat es sofort seinem Vorgesetzten gemeldet. Auf jeden Fall glaube ich kaum, daß es mehr Polizeibeamte in Scotland Yard gibt, als heute morgen hier auf dem Grundstück waren.«

 

Sie wurde plötzlich ernst.

 

»Ich habe den Leuten nichts davon gesagt – ich meine davon, daß ich annehme, den Ring wiederzuerhalten. Versprechen Sie mir auch, daß Sie es keinem andern sagen?«

 

Er mußte laut auflachen, als er das hörte.

 

»Aber warum denn? Das Schmuckstück kommt doch sowieso nicht von selbst zurück. Einbrecher sind nicht sentimental. Wenn der Mann, der den Ring gestohlen hat, auch nur einen Shilling dafür bekommen kann, verkauft er ihn. Und wenn Sie glauben, das Schmuckstück wiederzuerhalten, würde ich Ihnen raten, Julian nichts von dem Diebstahl zu erzählen!«

 

»Ich habe es ihm aber bereits gesagt«, entgegnete sie schnell. »Ich habe ihn angerufen. Er war außerordentlich liebenswürdig.«

 

»Haben Sie ihm auch gesagt, daß Sie glauben, das Schmuckstück zurückzubekommen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sie sind doch ein merkwürdiges Mädchen.«

 

»Nicht wahr?«

 

Sie ließ seinen Arm los, trat einen Schritt von ihm zurück, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn ernst.

 

»Sie können mir auch noch einen anderen Gefallen tun«, sagte sie nach einer Weile. »Könnten Sie Mrs. Carawood überreden, daß sie den Dienstboten sagt, mich nicht mehr Mylady zu nennen? Ich weiß, sie hat es den beiden Mädchen beigebracht, so daß ihnen nichts anderes übrigbleibt, und ich möchte sie nicht verletzen. Aber vielleicht können Sie eine Andeutung machen. Sie werden schon irgendeine Ausrede finden. Sagen Sie, daß das in Ascot nicht Mode ist oder sonst etwas. Aber eines dürfen Sie nicht sagen: daß der italienische Adel nicht zur Führung dieses Titels berechtigt ist. Sie wird sonst wild und kämpft wie eine Löwin.«

 

»Haben Sie Julian eigentlich gern?«

 

»Nein. Wenn ich sage, daß ich ihn bewundere, meine ich damit etwas anderes. Man bewundert auch Gemälde, Blumen und andere schöne Dinge, ohne daß man eine persönliche Zuneigung zu ihnen hätte. Sie sind hübsch oder interessant, und dann bewundert man sie eben.«

 

»Schätzen Sie mich eigentlich?«

 

Er stellte die Frage geradezu, kam sich selbst aber dabei sehr töricht vor.

 

Sie nickte.

 

»Sie meinen, ob ich Sie bewundere? Nein, das tue ich nicht. Dazu sind Sie viel zu natürlich.«

 

»Gut, dann will ich noch eine andere Frage an Sie stellen. Was halten Sie von einer Verbindung zwischen Mai und Dezember?«

 

Sie lachte lange und herzlich.

 

»Nein, John, so dürfen Sie nicht fragen. Aber vielleicht habe ich eine Vorliebe für eine Heirat zwischen April und Juli. Sie sollten sich selbst nicht so alt machen! Das ist eine Schrulle, und es ist auch eitel, wenn Sie immer über Ihr würdiges Alter reden. So, nun wollen wir aber frühstücken.«

 

Er hätte diese Unterhaltung gern noch weiter fortgesetzt, aber Marie war wirklich hungrig und ließ sich nicht mehr zurückhalten.

 

Nach dem Frühstück ging er in den Ort, um Inspektor Peas aufzusuchen. Nach längerer Zeit fand er ihn auch in der Kantine der Polizeibaracke, die dem großen Tribünenstand auf der Rennbahn gegenüberlag. Dreihunderteinundsechzig Tage im Jahr liegt sie einsam und verlassen, aber während des viertägigen Rennens sind hier viele Polizeibeamte aus der ganzen Gegend zusammengezogen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und den Verkehr zu regeln.

 

Peas trank Bier und aß große Käsebrote dazu.

 

»Ich wollte eigentlich in der Offiziersmesse essen«, sagte er, »aber die einfachen Polizeibeamten sind ebenso gut für mich. Im Herzen bin ich demokratisch gesinnt. Jeder Polizeibeamte ist mein Kamerad, und sie achten mich deshalb auch besonders. Die Vorgesetzten, die sich immer über die anderen erhaben fühlen, sind bei der Mannschaft nicht beliebt.«

 

John ging einen Augenblick mit ihm auf den Hof hinaus.

 

Peas wußte nicht viel. Ein Einbruch hatte stattgefunden; ein Perlenhalsband war gestohlen worden, ebenso ein Ring.

 

»Es wundert mich nur, daß der Mann ausgerechnet in Mrs. Carawoods Haus eingestiegen ist. Diese Einbrecher unterrichten sich doch vorher meistens sehr genau darüber, was in den einzelnen Villen zu holen ist. Ich kann mir die Sache nur so erklären, daß er das Haus verwechselt hat, aber auch das ist nicht sehr wahrscheinlich.«

 

»Glauben Sie, daß derselbe Mann die beiden Einbrüche verübt hat?«

 

»Zweifellos. Wir fanden genau dieselben Fußspuren auf beiden Grundstücken. Die Erde ist ziemlich weich vom Regen, und der Mann hat Abdrücke in den Blumenbeeten hinterlassen, die vollkommen klar und deutlich sind. Sein Fuß ist fast so klein wie ein Frauenfuß. Außerdem benützt er Baumwollhandschuhe bei der Arbeit. Er ließ einen davon am Fuß der Leiter zurück. Für die Untersuchung ist das leider gar kein Anhaltspunkt. Außerdem ist noch festgestellt worden, daß er in einem Auto hergekommen ist. Wir fanden die Spuren der Räder und Öl an der Stelle, wo er geparkt hat. Es hat sich auch ein Mann gemeldet, der den Wagen dort gesehen hat. Die Nummer hat er sich leider nicht gemerkt, und wenn wir sie auch hätten, würde sie für uns doch kaum von Wert sein, da es sich wahrscheinlich um einen gestohlenen Wagen handelte.«

 

Er sah John neugierig an.

 

»Ist Mrs. Carawood heute morgen wohlauf?«

 

»Ich habe sie noch nicht gesehen. Ich sagte schon – sie war fast die ganze Nacht auf und hat sich jetzt hingelegt.«

 

Peas nickte.

 

»Hat Sie Ihnen nichts über ihren Ausflug nach Rotherhithe gesagt? Aber Sie haben natürlich auch nicht danach gefragt.«

 

»Sie sagte nichts. Übrigens muß ich feststellen, daß Sie Mrs. Carawood wirklich nicht sehr gut leiden können.«

 

»Ich schätze sie mehr als alle anderen Frauen, die ich in der langen Zeit meiner Dienstjahre gesehen und kennengelernt habe«, lautete die erstaunliche Antwort. »Ich habe sogar eine gewisse Bewunderung für diese Dame.«

 

»Bezieht sich Ihre Bewunderung darauf, daß sie eine gute Staatsbürgerin ist oder eine Verbrecherin?« fragte John leichthin.

 

Mr. Peas antwortete nicht. Er hatte seine Geheimnisse. John fühlte, daß der Inspektor ein paarmal nahe daran gewesen war, sie ihm mitzuteilen. Peas war so veranlagt, daß er nicht ohne eine Zuhörermenge leben konnte, die ihm Beifall zollte. Es mußte ihm daher ungeheuer schwerfallen, ein Geheimnis für sich zu behalten, aber in diesem Fall tat er es doch.

 

John ging mit Marie zum Rennplatz und aß dort mit ihr zu Mittag. Den ganzen Nachmittag über sahen sie den Rennen zu, für die sich auch John mehr als sonst interessierte. Ein guter Freund hatte ihm die richtigen Tips gegeben.

 

Die kleine Unterhaltung mit Marie über den Einbruchsdiebstahl hatte er längst vergessen, als sie von den Rennen zurückkehrten und in die Halle traten. Mit einem Aufschrei eilte sie zu dem Seitentisch, auf dem ein Päckchen lag.

 

»Wann ist es angekommen?« fragte sie das Mädchen.

 

»Heute nachmittag.«

 

Sie riß das Papier ab und hielt ein kleines rotes Lederetui in der Hand, das sie sofort öffnete.

 

Auf weißem Plüsch lag der schöne Ring mit dem Rubin.

 

»Nun, was sagen Sie jetzt?« rief sie John triumphierend zu.

 

»Ist das der Ring?« fragte er ungläubig.

 

»Ja, das ist das Geschenk Julians.«

 

Mrs. Carawood war inzwischen eingetreten und sah erstaunt das Schmuckstück an.

 

»Der Ring ist wieder da, und hier ist auch eine kleine Notiz. Ein Zettel …«

 

»Es ist schon so, wie ich dachte.«

 

Sie las die Worte vor, die auf dem schmutzigen Papier standen:

 

»Sehr verehrte Miss, es tut mir leid, daß ich Ihr Geschenk genommen habe.«

 

Marie betrachtete den Ring, indem sie ihn von einer Seite zur anderen drehte.

 

»Willst du das Schmuckstück nicht tragen, Liebling?« fragte Mrs. Carawood, als Marie den Ring ins Etui zurücklegte.

 

»Nein, Nanny«, entgegnete das junge Mädchen ruhig. »Die Farbe paßt nicht zu meinem Kleid, und ich werde wahrscheinlich auch niemals ein Kleid anziehen, das dazu paßt. Deshalb werde ich den Ring vermutlich niemals tragen.«

 

John nahm das Etui in die Hand und sah sich den Rubin an.

 

Seiner Schätzung nach war das Schmuckstück höchstens zwanzig bis fünfundzwanzig Pfund wert. Es war eine Nachbildung eines altvenezianischen Schmucks. Die Goldarbeit war besonders gut.

 

Kapitel 12

 

12

 

John Morlay kehrte am Abend in die Stadt zurück. Er war etwas verwirrt und verstand die Zusammenhänge nicht ganz.

 

Sonnabend und Sonntag waren arbeitsreiche Tage für ihn. Durch den langen Aufenthalt in Ascot war viel liegengeblieben, und er mußte sich beeilen, das Versäumte nachzuholen. Am Montagmorgen saß er schon um acht Uhr an seinem Schreibtisch, als ihm Mrs. Carawood gemeldet wurde.

 

Er begrüßte sie wie eine alte Freundin und schob sofort den besten Sessel für sie zurecht. Als er jedoch mit ihr über die angenehmen Tage in Ascot sprechen wollte, erkannte er, daß sie nervös und unruhig war.

 

Plötzlich erhob sie sich wieder, trat an das Fenster und schaute auf den Platz hinaus. Ihre Aufmerksamkeit schien sich zwischen den Vorgängen draußen und im Zimmer zu teilen.

 

Allem Anschein nach fiel es ihr ziemlich schwer, zu sagen, warum sie gekommen war. John glaubte bestimmt, daß sie ihm etwas ganz Neues mitteilen würde.

 

»Es handelt sich wie gewöhnlich um Marie«, begann sie schließlich. »Ich mache mir im Augenblick sehr viel Sorgen um sie.«

 

»Meinen Sie wegen des Einbruchs?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Das war eine dumme Sache, aber es kann jedem anderen ebenso gehen. Mr. Morlay, ich weiß, daß Sie sehr viel zu tun haben.«

 

»Das stimmt. Im Moment bin ich sehr beschäftigt«, gestand er ohne weiteres und zeigte auf die großen Stöße von Briefen, die er noch beantworten sollte.

 

»Können Sie – ich meine, kann ich Ihnen so viel Geld zahlen, daß es Ihnen möglich wird, Ihre ganze Zeit für Marie zu verwenden?«

 

Sekundenlang war er versucht, zu sagen, daß er alle Geschäfte beiseite lassen wollte, wenn er nur ihr helfen und beistehen könnte.

 

»Ich traue den Menschen nicht«, fuhr sie fort, »denn ich kenne sie gut. Aber auf Sie kann ich mich verlassen, das weiß ich. Sie haben Marie gern.«

 

Als sie das sagte, sah sie ihn durchdringend an.

 

»Ja«, entgegnete er ruhig. »Ich schätze sie sehr.«

 

Es kostete sie ungeheure Anstrengung, die nächste Frage zu stellen.

 

»Lieben Sie Marie – oder bilden Sie es sich nur ein?«

 

Er sah ihr offen ins Gesicht.

 

»Ich liebe sie, und ich bin alt genug, um meine Gefühle richtig beurteilen zu können.«

 

Sie atmete schnell.

 

»Sie liebt Sie auch. Ja, ich glaube, daß Marie Sie gern hat … das wäre auch ganz nach meinem Wunsch … aber man muß alles mögliche beachten. Ich habe die halbe Nacht nicht schlafen, können und immer wieder darüber nachdenken müssen. Wenn sie nun überhaupt kein Geld hat – ich meine, wenn sie nicht einmal ein paar Pfund besitzt?«

 

»Das würde für mich keinen Unterschied machen.«

 

»Bedeutet Ihnen etwa auch der Titel nichts?«

 

Es lag etwas in dem Ton ihrer Stimme, worüber John Morlay lachen mußte.

 

»Aber meine liebe Mrs. Carawood, in England gibt es so viele Prinzessinnen und Herzoginnen! Es ist ja sehr schön, daß Marie eine Contessa ist, aber mir bedeutet es wirklich nicht viel. Es wäre mir ebenso lieb, wenn sie nur Miss Jones hieße.«

 

Sie seufzte schwer. »Ich glaube Ihnen.«

 

Trotzdem war sie in gewisser Weise enttäuscht, daß er den alten Grafentitel so wenig schätzte.

 

»Sie sind ein Gentleman, der mit Leuten aus aller Herren Länder zusammenkommt, und deshalb denken Sie anders als ich. Ich bin in der Beziehung vielleicht noch etwas altmodisch. Marie habe ich nicht gesagt, daß ich hierherkommen würde«, fügte sie dann hastig hinzu. »Und ich werde ihr auch nicht erzählen, was ich eben mit Ihnen besprochen habe. Aber wenn Sie derartig denken, und wenn sie damit einverstanden ist, dann habe ich auch nichts dagegen.«

 

Es kam ihm zum Bewußtsein, wie schwer es ihr fiel, das zu sagen, und er fragte sich, was sie wohl dazu getrieben haben mochte. Es war nicht der Einbruch in der Villa, auch nicht die Rücksicht auf Julian. Noch vor ein paar Tagen hatte sie ihm mit allem Nachdruck erklärt, daß Marie zu jung zum Heiraten sei, und nun wählte sie selbst einen Mann für sie aus.

 

John war merkwürdig erregt, und als er sprach, zitterte seine Stimme.

 

»Es wäre wunderbar, wenn Marie ebenso darüber dächte wie Sie. Geld spielt für mich nicht die geringste Rolle; ich habe selbst genug.«

 

»Ich weiß es, Mr. Morlay. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen und bin über Ihre Familie unterrichtet. Ich könnte Ihnen genau sagen, wieviel Geld Sie besitzen und wieviel Sie in Aktien angelegt haben. Ich mußte das tun, um sicher zu sein, bevor ich Ihnen etwas sagte, und es gibt ja genug Auskunftsbüros in London. Sobald ich zu dem Entschluß kam, daß Marie bald heiraten müßte …« Sie hielt plötzlich inne.

 

»Bis wann soll sie denn heiraten?«

 

Mrs. Carawood seufzte wieder ungeduldig.

 

»Das kann ich noch nicht sagen, aber es wird wohl bald sein. Kennen Sie Polizeiinspektor Peas? Er ist ein Kriminalbeamter, der sich mit Verbrechen beschäftigt. Sie wissen schon, wie ich es meine, Mr. Morlay.« Sie war etwas verwirrt. »Er ist ein richtiger Kriminalist.«

 

»Ich kenne ihn sehr gut.«

 

»Er ist in mein Geschäft gekommen, hat sich dort nach mir erkundigt und meine Angestellten ausgefragt. Wissen Sie vielleicht, warum er das getan hat?«

 

John konnte ihr aufrichtig sagen, daß er keinen Grund dafür wüßte.

 

»Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen deswegen machen, Mrs. Carawood. Die Polizei muß natürlich alle möglichen Nachforschungen anstellen. Die Leute wollen zum Beispiel wissen, warum Sie in letzter Zeit öfter nach Antwerpen reisten …«

 

Er hörte einen erschrockenen Laut und schaute auf. Sie stand am Fenster; ihr Gesicht war bleich, und sie atmete aufgeregt. Einen Augenblick glaubte er schon, sie würde ohnmächtig umsinken, und eilte zu ihr, um sie zu stützen. Aber sie machte eine abwehrende Bewegung.

 

»Was sagten Sie eben?« fragte sie heiser. »Warum ich nach Antwerpen reiste? Nun, das ist sehr einfach. Ich habe dort für mein Geschäft Einkäufe gemacht – das kann ich leicht beweisen. Die Polizei kann ja in mein Büro kommen – ich kann die Frachtbriefe vorlegen.«

 

»Was kommt es auch darauf an?«

 

Sie sank in einen Stuhl und sah ihn an. Ihre Hände zitterten. Er ging rasch in eine Ecke des Zimmers, goß ein Glas Wasser ein und reichte es ihr. Sie trank gierig und lächelte ihn dann dankbar an.

 

»Es ist wirklich nichts. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich noch ein wenig hier in Ihrem Büro bleibe, um mich zu erholen? Und gibt es einen hinteren Ausgang?«

 

»Ja«, erwiderte er erstaunt.

 

»Vielleicht könnte einer Ihrer Angestellten mir ein Taxi besorgen und vor dem hinteren Eingang halten lassen. Ich werde nach Hause fahren, möchte aber nicht die Vordertür benützen. Ich fühle mich noch so schwach, daß ich eventuell ohnmächtig werden könnte, und ich mag nicht die Aufmerksamkeit der Leute auf der Straße erregen. Wenn mir etwas passieren sollte, kann mich wenigstens niemand sehen.«

 

»Soll ich einen Arzt rufen?« fragte er ängstlich.

 

»Nein, die Ruhe im Auto ist die beste Arznei für mich.«

 

John beauftragte eine seiner Stenotypistinnen, ein Taxi zu rufen und die Dame nach Hause zu begleiten. Als er ins Büro zurückkehrte, stand Mrs. Carawood am offenen Fenster und sah auf den Platz hinunter. Allmählich hatte sie wieder etwas Farbe bekommen und fühlte sich offensichtlich wohler.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen soviel Unannehmlichkeiten mache, Mr. Moday. Gelegentlich bekomme ich solche Schwächeanfälle – wann werden Sie Marie wieder treffen?«

 

»Vielleicht morgen«, sagte er.

 

Sie nickte.

 

»Morgen kommt sie in die Stadt, dann können Sie sie zum Tee abholen. Ich weiß wirklich nicht genau, wie sie über Sie denkt, aber jedenfalls ist ihr Urteil über Sie nicht schlecht – das weiß ich. Sie ist zwar noch jung, hat aber bereits ein sehr selbständiges Urteil. In der Beziehung ist sie viel reifer als ihre Altersgenossinnen. – Wenn Sie Marie heiraten, wird sie Ihren Namen führen. In gewisser Weise tut mir das leid …«

 

»Ach, wegen des Titels?« John lächelte. »Nun, deshalb brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Sie wird, wenn sie mich heiratet, in absehbarer Zeit Lady Morlay werden. Ich habe einen Onkel, der nicht verheiratet ist, und bin der nächste Erbe, der nach seinem Tod den Titel eines Baronets führen darf.«

 

Das war eine Neuigkeit, die Mrs. Carawood von der Auskunftei nicht erfahren hatte. Sie strahlte und fragte ihn, welche gesellschaftliche Stellung die Frau eines Baronets hätte.

 

Durch diese Mitteilung war er bedeutend in ihrer Achtung gestiegen.

 

Während sie noch mit ihm sprach, kam einer der Angestellten und meldete, daß der Wagen vor der Tür stehe. Mrs. Carawood ging die Treppe hinunter. John sah ihr nach, als sie abfuhr, dann kehrte er langsam in sein Büro zurück. Er war sehr glücklich.

 

Kapitel 13

 

13

 

John Morlay aß verhältnismäßig früh zu Mittag; es war erst halb eins, als er auf den Hanover Square hinaustrat. Zuerst sah er den Mann nicht, der an der Ecke stand; erst als er an ihm vorüberkam, wurde ihm bewußt, daß er ihn früher schon getroffen haben mußte. Er drehte sich um und trat einen Schritt zurück.

 

»Hallo, mein Freund, hier sind Sie aber weit fort von Ascot! Sie sind doch derselbe, den ich vor einigen Wochen dort in einem Garten gesehen habe?«

 

Der frühere Sträfling sah angegriffen und elend aus.

 

»Wir leben hier in einem freien Land. Ich kann ebensogut hier sein wie in Ascot. Sie können mir nichts anhaben. Man kann mich nicht verhaften, weil ich mich hier herumtreibe … Sie können mich ja zur Polizeiwache mitnehmen und mich dort durchsuchen lassen! Sie werden nichts in meinen Taschen finden, wenn Sie es nicht vorher hineinstecken!«

 

Er sprach trotzig und schnell, aber John wußte, daß sich nur Furcht dahinter verbarg. Der Mann hatte etwas von einem gehetzten Tier in seinem Wesen, und John Morlay fühlte Mitleid mit ihm.

 

»Ich habe nicht die Absicht, Sie verhaften zu lassen oder Sie zur Polizeiwache zu bringen. Ich will Ihnen auch gar keinen Vorwurf machen. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«

 

»Wenn Sie mir Geld geben wollen, dann nicht. Ich habe genug. Sind Sie aus dem Haus dort gekommen?« Er zeigte auf die Tür.

 

»Ja.«

 

»Wohnen Sie dort?« fragte er argwöhnisch.

 

»Ich habe mein Büro dort. Auch verschiedene andere Firmen haben in dem Gebäude Räume gemietet. Außer mir noch ein Rechtsanwalt, ein Exporteur und Buchrevisoren. Aber warum fragen Sie danach?«

 

Der Mann feuchtete seine Lippen mit der Zunge an und sah sich ängstlich nach rechts und nach links um.

 

»Haben Sie nicht eine Frau in dem Haus gesehen? Sie muß etwas jünger sein als ich, hat eine dunkle Gesichtsfarbe und ist sehr gut gekleidet …«

 

Der frühere Sträfling sah Morlay durchdringend an, als er diese Frage stellte.

 

John wußte, daß der Mann Mrs. Carawood meinte. Instinktiv hatte er das Gefühl, es abstreiten zu müssen.

 

»Nein. Sind Sie mit ihr befreundet?«

 

»Ich weiß es nicht … Ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Ich weiß nicht bestimmt, ob sie es ist, aber sie sieht ihr sehr ähnlich. So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Sie stand dort oben an dem Fenster.« Er zeigte auf das offene Fenster von Johns Büro. »Ich habe sie gesehen. Sie hat mich auch erkannt, denn sie ging gleich ins Zimmer zurück.«

 

Nun wußte John plötzlich, warum Mrs. Carawood so sehr erschrocken war. Nicht die Erwähnung Antwerpens hatte sie so aufgeregt. Sie mußte diesen Mann gesehen und erkannt haben.

 

»Ich sah, wie sie zur Haustür hineinging, und sagte mir: ›Die sieht genauso aus.‹ Und darum blieb ich hier und beobachtete das Haus. Als ich dann nach dem oberen Stockwerk schaute, entdeckte ich sie wieder.«

 

»Wenn es das Fenster dort oben war, kann ich Sie beruhigen. Das ist mein Büro, und die Dame, die dort stand, war die Herzogin von Crelbourne.«

 

»Was, eine Herzogin? Ich meine die Frau mit der dunklen Gesichtsfarbe.«

 

John nickte.

 

»Ja. Ich kenne sie schon seit Jahren.«

 

Der andere strich sich übers Kinn.

 

»Dann vergeude ich hier nur unnötig meine Zeit. Es ist merkwürdig – ich hätte schwören mögen, daß sie es war …«

 

Er zuckte die Schultern, und ohne sich zu verabschieden, ging er fort.

 

Er hatte Geld, aber nicht im Überfluß; Geld, um sich das nötige Essen und den Lebensunterhalt zu verschaffen, aber für Kognak reichte es nicht, und danach lechzte er besonders. Er hätte ganz gut und bequem von dem Geld leben können, das er monatlich erhielt, aber das war nicht nach seinem Wunsch. Er stellte sich das Leben anders vor. Seitdem er aus dem Gefängnis gekommen war, sah er ein, daß sich die alten Methoden vollkommen geändert hatten. Es war nicht mehr so leicht wie früher, in ein Haus einzudringen und einfach ein paar Silbergegenstände zu stehlen. Die letzten drei Tage war er in London umhergewandert und hatte versucht, eine Gelegenheit zu leichten Diebstählen auszukundschaften, aber er merkte, daß sich eine neue Wissenschaft für Einbrüche entwickelt hatte. Selbst die Ganovensprache war nicht mehr dieselbe; viele Ausdrücke waren ihm fremd. Und es gab junge Leute, die eine besondere Taktik ausgearbeitet hatten, um in gute Wohnungen zu kommen. Unter irgendeinem Vorwand drangen sie ein, rafften an Pelzen, teuren Kleidungsstücken und sonstigen beweglichen Sachen zusammen, was in Reichweite war, und verschwanden dann so schnell wie möglich wieder. Die ganze Angelegenheit durfte höchstens eine Minute dauern. In seinen jungen Jahren hatte er klettern können, aber jetzt war ihm das unmöglich. Der Arzt hatte ihm gesagt, daß er jeden Augenblick damit rechnen müßte, einem Herzschlag zu erliegen. Deshalb trug der Mann auch eine für ihn kostbare Medizin in einem kleinen Fläschchen in der Tasche. Sie konnte ihm das Leben retten, wenn er einen Anfall bekam. Er war froh, daß er sie bis jetzt noch nicht nötig gehabt hatte.

 

Er haßte die Welt, aber am meisten die Frau, die er eben zu erkennen geglaubt hatte. Sollte das wirklich eine Herzogin gewesen sein? Sie sah doch so gewöhnlich aus. Allerdings war er noch nie einer Dame von so hohem Adel begegnet.

 

John ging zu seinem Klub und war während des Mittagessens sehr nachdenklich. Er hatte sich schon halb vorgenommen, zu dem Laden in der Penton Street zu gehen und mit Mrs. Carawood zu sprechen. Warum hatte sie sich vor diesem schäbigen früheren Sträfling gefürchtet? Welche Beziehungen bestanden zwischen ihr und ihm, daß sein Anblick sie so erschreckte?

 

Er wünschte, er hätte sich Inspektor Peas anvertrauen können, aber der war gefährlich. Man wußte niemals, wie weit man sich auf ihn verlassen konnte. Er gehörte zu diesen jungen, skrupellosen Beamten, denen kein Geheimnis heilig war, wenn sie dadurch beruflich vorwärtskamen.

 

Julian trat in den Speisesaal, als John gerade mit dem Essen fertig war. Mr. Lester war auch ein Mitglied des Klubs, kam aber nur selten her. Es ging ihm dort etwas zu bürgerlich zu. Die Mitglieder waren zwar wohlhabend, aber keine großzügigen Kapitalisten, die ihr Geld in gewagten Spekulationen anlegen wollten.

 

Die Speisekarte war außerordentlich preiswert, und wenn Julian nicht das Glück hatte, von jemandem eingeladen zu werden, erschien er hier.

 

Als er John erkannte, kam er mit langen Schritten quer durch den Saal auf ihn zu.

 

»Es ist doch schrecklich, daß die arme Marie solches Pech hatte!« sagte er. »Ausgerechnet sie muß von einem Einbrecher erschreckt werden! Kaum zu glauben, daß der Mann den Ring zurückgeschickt hat! Ich verstehe die heutigen Zeiten nicht mehr.«

 

»Ich bin kein Sachverständiger für kriminelle Angelegenheiten«, erwiderte John. »Und wenn Sie denken, Sie können sich hier mit mir lange und angenehm unterhalten, dann irren Sie sich sehr. Trocknen Sie Ihre Tränen mit der Serviette, denn ich gehe in ein paar Minuten fort.«

 

»Sie scheinen ja recht hochmütig zu sein«, erwiderte Julian leise.

 

Er schien in bester Stimmung zu sein, trug eine Nelke im Knopfloch und erzählte John strahlend, daß er am Nachmittag nach Wolverhampton zu fahren beabsichtigte, um Material für sein Buch zu sammeln.

 

»Ich möchte nur wissen, was Sie in dem Nest finden wollen«, entgegnete John erstaunt.

 

»Sie sind ziemlich unhöflich. Ich weiß gut genug, welches Material ich für mein Buch brauche. Dazu muß man eben Bildung und Geschmack haben.«

 

»Trotzdem ist mir immer noch nicht klar, welches Material Sie in Wolverhampton sammeln könnten. Ich habe nichts gegen den Ott, im Gegenteil, es wohnen ein paar gute Kunden von mir dort. Aber für Sie ist das wirklich ein merkwürdiger Platz. Was wollen Sie denn dort?«

 

Mr. Lester wich dieser Frage aus. Er wollte mit John über Marie sprechen, wurde jedoch nicht dazu ermutigt. Vor allem hätte er gern gewußt, welchen Eindruck sein Geschenk auf das junge Mädchen gemacht hatte.

 

»Es war eine Sensation«, entgegnete John ironisch. »Die Leute kamen aus der Königlichen Loge und standen stundenlang Schlange, um sich das Wunderding anzusehen. Ich hatte niemals geahnt, daß ein synthetischer Edelstein und ein bißchen Gold – zusammen kaum fünfzehn Pfund wert – solchen Eindruck machen könnten.«

 

»Erlauben Sie mal, der Ring hat fünfundzwanzig Pfund gekostet«, sagte Julian stolz. »Es ist außerdem absolut nicht fein, über einen anderen Menschen zu lachen, weil er nicht Geld genug hat, um kostbare Geschenke zu machen. Es ist nicht die Gabe an sich –«

 

»Es ist der Geist, in dem sie geschenkt wird«, unterbrach ihn John. »Aber warum machen Sie denn jetzt in Geistreicheleien?«

 

Mr. Julian Lester ließ sich nicht anmerken, daß ihn die Reden Johns irgendwie ärgerten. Über dergleichen war er erhaben. Er fühlte sich John und der anderen Welt überlegen, und heute hatte er besonderen Erfolg gehabt. Es war ein guter Tag für ihn gewesen. Er hatte eine große Anzahl von Aktien in einem Augenblick kaufen können, in dem sie den niedrigsten Stand erreicht hatten, und in weniger als einer Woche würde ihm diese Kapitalanlage mindestens fünfzig Prozent Gewinn einbringen.

 

Er trug am Ende einer Goldkette ständig ein kleines Buch bei sich, in das er Tag für Tag die wachsende Summe seines Vermögens einschrieb. Auf dem Deckel war die Zahl 500 000 eingraviert. Das war seine Devise, sein Motto, das Wappenzeichen, das Ziel, auf das er lossteuerte. Der Gedanke an diese fünfhunderttausend Pfund beherrschte ihn vollkommen; danach richtete er alle seine Handlungen, ja sein ganzes Leben ein. Als er diese hohe Zahl eingravieren ließ, hatte er nicht einmal hundert Pfund auf der Bank. Manchmal waren die Summen, die er eintrug, verhältnismäßig hoch; manchmal gingen sie wieder herunter. Es war ein ewiges Steigen und Fallen, aber im allgemeinen bewegte sich die Kurve in aufsteigender Linie. Selbst den schwarzen Börsentag in Wall Street hatte er glücklich überstanden.

 

Julian hatte mit so gut wie nichts angefangen und sich vorgenommen, sich zurückzuziehen, wenn er ein Vermögen von einer halben Million zusammengebracht hatte. Bei seiner Veranlagung schien es nicht ausgeschlossen, daß er sein Ziel erreichte. Außerdem spielte er immer mit dem Gedanken, eine nicht zu intelligente reiche Erbin zu heiraten. Das war sein Lieblingstraum. Die Hoffnung, einmal eine Millionärstochter aus dem Wasser zu retten, hatte er allerdings schon lange aufgegeben. Früher, als er diesen Plan besonders schätzte, hatte er deshalb sogar Schwimmunterricht genommen.

 

So selbstzufrieden er sonst auch war, er hatte doch einen gewissen Sinn für Tatsachen und wußte sehr bald, wann er mit einem Plan nichts erreichen konnte. Das brachte ihn dann aber nicht etwa zur Verzweiflung; er nahm alle Schicksalsschläge mit philosophischer Ruhe hin.

 

Marie Fioli war in diesem Augenblick noch kein Fehlschlag für ihn, aber es stand doch ein sehr großes Fragezeichen hinter ihrem Vermögen. Und bevor diese Angelegenheit nicht auf die eine oder andere Weise geklärt war, konnte er sie nicht zum Abschluß bringen.

 

Julian nahm niemals ein zu großes Risiko auf sich, auch machte er keine unnötigen Anstrengungen. Solange der Heiratsplan mit Marie aussichtsreich war, arbeitete er in dieser Richtung, und er war optimistisch genug, das Beste zu hoffen. Vielleicht konnte er durch diesen Plan die Höchstgrenze seiner Hoffnungen erreichen. Er war auch nicht darauf versessen, die Summe von fünfhunderttausend Pfund unbedingt bis auf den Shilling genau zu erreichen: Das war nur ein allgemeines Ziel. Ob es etwas mehr oder weniger wurde, war gleichgültig.

 

Niemand kannte Julian durch und durch. Und kaum jemand in England wußte etwas von der schönen kleinen Villa in der Nähe von Florenz, die er sich vor einem Jahr gekauft hatte. Dorthin wollte er sich zurückziehen.

 

Jetzt fuhr er mit seinem Notizbuch und einem teuren Fotoapparat nach Wolverhampton. Seine Aufnahmen entwickelte er selbst. Das große Werk, das er einmal schreiben wollte und das niemals veröffentlicht werden würde, sollte von der Schlosserkunst handeln. Er hatte dieses Fach mit größter Sorgfalt studiert; er hatte Gelegenheit, alle großen Fabriken in England, die sich in dieser Richtung betätigen, zu besuchen, und seine Spezialkenntnisse ermöglichten es ihm, mit den Ingenieuren und Direktoren auf vertraulichem Fuß zu verkehren. Dadurch erfuhr er Dinge, die so leicht kein anderer hörte. Als Schriftsteller, der sich für dieses Fach besonders interessierte, hatte er Zutritt zu den Fabrikarchiven und lernte die Geheimnisse aller modernen Schlösser kennen. Er fotografierte Schlüssel und Schlösser, und manchmal erlaubte man ihm sogar, Modelle davon zu machen. In der Beziehung war er jedoch nicht sehr gewissenhaft; er nahm auch Abdrücke ohne Genehmigung. Aber davon erfuhr dann niemand etwas.

 

So kam es, daß er sich nach einigen Jahren rühmte, jedes Schloß in den großen Banken öffnen zu können, einschließlich der allerneuesten Typen, die einbruchs-, feuer- und sonstwie sicher sein sollten.

 

Niemand hätte Julian zugetraut, daß er große Körperkräfte besaß, aber tatsächlich konnte er mit der Gewandtheit eines Affen an einer Dachröhre in die Höhe klettern. Auch besaß er Kenntnisse über Edelsteine, um die ihn die besten Juweliere in Hatton Garden beneidet hätten. Selbst auf große Entfernung hin konnte er den Wert des Rings, den eine Dame trug, abschätzen, und er sah auf den ersten Blick die Fehler einer Perlenkette, die selbst von Fachleuten als einwandfrei betrachtet wurde.

 

Ebenso wußte er, daß jede Perle eine gewisse Form hatte, die man wiedererkennen konnte, und daß sich selbst berühmte Perlenhalsbänder, die man auseinandernahm, von erfahrenen Fachleuten identifizieren ließen. Aus diesem Grund wollte er nichts mit Perlen zu tun haben. Er hatte die schwere Kunst gelernt, Diamanten zu teilen und in neue Formen umzuschleifen, so daß sogar die Frauen, die einen solchen Schmuck jahrelang getragen hatten, nicht fähig waren, die Steine wiederzuerkennen. Auch auf allen möglichen anderen Gebieten entwickelte Julian Lester große Fähigkeiten.

 

Die Ungewißheit über Maries Vermögen machte ihm viel Kopfzerbrechen. Diese Frage mußte möglichst schnell geklärt werden. Und sobald er zur Stadt zurückkam und die Fotos entwickelt hatte, machte er sich daran, diese Aufgabe zu lösen.

 

Er hatte eine Wohnung am Belford Square. Es war allerdings nur eine verhältnismäßig kleine Unterkunft; die Räume waren auch nur mit bescheidenem Luxus eingerichtet. Immerhin war sein Vater viel umhergereist; von ihm hatte Julian reich geschnitzte Schränke aus Japan und China, seidene Teppiche aus Isfahan, seltene Stickereien aus China, kostbare silber- und goldtauschierte Waffen geerbt. Die Sammlungen waren schon oft von Vorteil für ihn gewesen, wenn er Leute einladen mußte, die ihm bei seinen finanziellen Plänen behilflich sein sollten.