Kapitel 6

 

6

 

John Morlay kam am nächsten Tag nach Büroschluß zu dem Laden in der Penton Street. Er wäre wieder fortgegangen, wenn er nicht einen Lichtschimmer durch eine Spalte in den Vorhängen gesehen hätte. Als er klingelte, wurde ihm sofort geöffnet, und in der ersten Überraschung legte Mrs. Carawood das Buch nicht beiseite, in dem sie eben noch gelesen hatte.

 

Die verächtliche Bemerkung Julian Lesters fiel ihm ein, und ein Blick auf den Titel bestätigte, daß sie einen gerade nicht sehr hohen literarischen Geschmack besaß. Als sie entdeckte, daß er auf das Buch sah, stellte sie es hastig zu den anderen Bänden ins Regal.

 

»Sie lesen wohl sehr viel, Mrs. Carawood?«

 

»Ja. Aber andere Bücher als Sie, Mr. Morlay.«

 

»Nun, ich bin aber vielleicht deshalb doch nicht klüger«, entgegnete er lächelnd. »Es gab auch bei mir eine Zeit, in der ich gern aufregende Romane las.«

 

»Ach, jetzt sind Sie zu alt dazu?« fragte sie so naiv, daß er beinahe laut aufgelacht hätte.

 

»Selbst wenn man älter wird, hat man noch einen Hang zum Abenteuer. Diese Geschichten faszinieren immer.«

 

Er war mit keiner besonderen Absicht gekommen. In Wirklichkeit hatte ihn eigentlich nur der Wunsch hergetrieben, mehr von Marie zu hören. Aber das wollte er sich selbst nicht eingestehen. Es fiel ihm schwer, die Sprache auf die junge Dame zu bringen, und sie kam ihm auch in keiner Weise entgegen. Herman verschwand in die Küche, kam bald darauf mit einem Tablett zurück und servierte Tee. Mrs. Carawood sagte entschuldigend, daß das ihr Lieblingsgetränk sei, das sie zu jeder Tageszeit genießen könne. John hatte dieselbe Schwäche. Schließlich blieb ihm nichts übrig, als direkt auf sein Ziel loszusteuern.

 

»Ich möchte Sie fragen, Mrs. Carawood, ob Sie sich schon Pläne über die Zukunft der Gräfin Fioli gemacht haben?«

 

Sie sah ihn besorgt an.

 

»Ich mache mir allerhand Gedanken darüber. Mylady müßte irgend etwas anfangen. Es ist nicht gut, wenn sie nichts zu tun hat. Sie kann sehr gut schreiben und hat einen vorzüglichen Stil; vielleicht könnte sie einen Roman verfassen?«

 

»Ich glaube, das ist nicht das Richtige«, entgegnete er lächelnd.

 

Sie wurde rot und nickte. Er ärgerte sich, daß er sie durch seine Worte verletzt hatte. Sie war ziemlich empfindlich, wenn es sich um ihre mangelnde Bildung handelte. Erst nach einiger Zeit hatte er sie wieder so weit beruhigt, daß sie über Marie mit ihm sprach. Aber dann erfuhr er viel von ihrer Kindheit und von ihrem außergewöhnlichen Verstand. Die Frau erzählte ihm, Marie sei als kleines Kind schon so schön gewesen, daß sich alle Leute nach ihr umgedreht hätten.

 

»Sie hatte einen Kinderwagen, der allein zwanzig Pfund kostete«, erklärte Mrs. Carawood stolz. »Innen war er ganz mit feinem Leder ausgeschlagen, natürlich rosa, wie es sich für ein Mädchen gehört …«

 

So sprach sie dauernd weiter, und John hörte ihr zu, ohne daß sein Interesse erlahmte. Im Gegenteil, er konnte nicht genug von Marie erfahren.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte sie plötzlich.

 

»Nein. Enttäuscht Sie das?«

 

Sie sah ihn offen an.

 

»Sie sind ein Gentleman – und ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Vielleicht können die Leute sagen, es sei ein großer Fehler, Marie der Gesellschaft eines jungen Mannes anzuvertrauen. Aber sie ist ja noch so jung, und Sie sind ein Gentleman.«

 

Ihre Worte hatten ihm plötzlich die Lage klargemacht, in der er sich befand. Bisher hatte er es vermieden, darüber nachzudenken.

 

»Mit anderen Worten, Mrs. Carawood, Sie wollen nicht haben, daß ich mich in die Gräfin Fioli verliebe?«

 

Er wollte die Frage im Scherz stellen, aber das gelang ihm nur halb.

 

»Nun gut«, fuhr er fort, »wenn das doch passieren sollte, verspreche ich Ihnen, mich zuerst an Sie zu wenden, Mrs. Carawood, bevor ich ihr ein Sterbenswörtchen davon sage.«

 

»Es ist ja auch nur zu erklärlich, daß sich die Leute in sie verlieben«, erwiderte sie und nickte. »Dagegen kann man nichts machen. Ich würde auch nichts dazu sagen; nur –«

 

»Ich verstehe Sie sehr gut, Sie haben eine große Verantwortung. Und wenn ich mich Hals über Kopf in sie verlieben sollte, werde ich doch nie vergessen, daß ich beruflich für Sie tätig bin.«

 

Mrs. Carawood seufzte tief. Das hatte sie ihm auch sagen wollen, als sie zu ihm gekommen war, aber sie hatte damals nicht den Mut gefunden, ihre Gedanken in Worte zu kleiden. Sie fürchtete, ihn damit zu beleidigen, und sie brauchte doch einen Freund in der Not.

 

John Morlay ging unruhig zu seiner Wohnung zurück. In wenigen Tagen hatte sich sein ganzes Leben geändert; er sah die Welt jetzt mit anderen Augen an. Das Schicksal hatte ihn gegen seinen Willen in eine sonderbare Lage gebracht, aber eigentlich war er gar nicht böse darüber.

 

Kapitel 7

 

7

 

Wehmütig dachte Marie daran, daß die Tage von Cheltenham nun hinter ihr lagen. Sie mußte sich zusammennehmen, um die Tränen zurückzuhalten, die sich ihr in die Augen drängen wollten, als sie im Zug saß. Sie fühlte sich niedergeschlagen, nicht wegen des Lebens, das sie zurückgelassen hatte, sondern weil sie Angst vor der Zukunft empfand.

 

Sie saß allein in der Ecke eines Abteils erster Klasse. Zeitungen und illustrierte Zeitschriften lagen neben ihr, aber sie hatte keine Lust, darin zu lesen.

 

Als der Zug in Gloucester einlief, nahm sie einen Brief aus ihrer Handtasche und las ihn halb lächelnd, halb stirnrunzelnd, denn der Brief hatte einen ganz merkwürdigen Inhalt. Auf John Morlay konnte sie sich sehr gut besinnen; die Züge dieses interessanten Mannes vergaß ein junges Mädchen nicht so leicht. Sie hatte öfter an ihn denken müssen, nachdem er ihr zum erstenmal vorgestellt worden war. Und dann war er vor ein paar Tagen nach Cheltenham gekommen. Sie hatte sich damals schon gewundert, was er dort zu tun hatte, aber der Brief gab ihr nun eine Erklärung:

 

 

›Meine liebe Contessa, ich muß Ihnen eine große Neuigkeit mitteilen, wenn Mrs. Carawood sie Ihnen nicht schon erzählt hat. Mit großer Genugtuung, aber auch mit leiser Furcht, habe ich eine Anstellung als Schutzengel, Begleiter und offizieller Familienfreund erhalten.

 

Ich werde Sie bei Ihrer Ankunft in Paddington abholen und während Ihres Aufenthaltes in Ascot stets in Ihrer Nähe sein. Vielleicht ist Ihnen diese Aussicht ein wenig unangenehm, aber ich bin sicher ein Schutzengel, der sich nicht zu sehr aufdrängen wird. Hoffentlich langweile ich Sie nicht zu sehr. Ich bitte Sie, es mir ganz frei und offen zu sagen, wenn Sie mich nicht brauchen können. Ich werde Sie zu Gesellschaften begleiten, und wenn es notwendig ist, tanze ich auch mit Ihnen, falls die Herren fehlen. Aber das wird wohl nur selten vorkommen. Um diesen Verpflichtungen in jeder Beziehung gerecht werden zu können, übe ich heimlich in meinem Büro. Als Tanzpartnerin nehme ich meinen Stuhl. Also, stellen Sie sich vor, wie ich hinter verschlossenen Türen mit dem Stuhl im Arm die schönsten Bewegungen und Drehungen mache. Ich möchte die erschreckten und erstaunten Gesichter meiner Angestellten sehen, wenn sie mich durchs Schlüsselloch beobachten.

 

Ich muß Ihnen übrigens noch die schauerliche Mitteilung machen, daß ich ein Detektiv bin. Selbst wenn Sie etwas enttäuscht sein sollten, muß ich aber doch der Wahrheit die Ehre geben und Ihnen erklären, daß es nicht meine Pflicht ist, böse Leute zu verhaften. Ich befasse mich auch nicht mit Morden, Einbrüchen und Gewalttätigkeiten, sondern bin hauptsächlich ein Detektiv für Handelsauskünfte und rechne meistens große Geschäftsbücher nach. Im Grunde habe ich wenig mit dem berühmten Sherlock Holmes gemein.

 

Mrs. Carawood hält es für nötig, daß jemand auf Sie aufpaßt, und deshalb hat sie mich für diesen angenehmen Posten engagiert. Ich bin also in gewisser Weise ein Angestellter. Sie müssen mich daher John nennen, etwa so, als ob ich Ihr Diener wäre. Nennen Sie mich aber bitte nicht Mr. Morlay, denn ich bin kein Butler. Eines verspreche ich Ihnen: Ich werde nicht die Sünden Ihrer Vergangenheit ausspionieren, ich werde auch keine Proben Ihrer Fingerabdrücke nehmen und nicht den Versuch machen, Ihnen irgendwelche Verbrechen in die Schuhe zu schieben, die in der Vergangenheit passiert sind.

 

Mit dem Ausdruck meiner aufrichtigen Verehrung

John Morlay‹.

 

 

Marie hatte den Brief schon mehrmals durchgelesen und amüsierte sich auch jetzt wieder darüber. Zu diesem Zweck hatte er ihn ja auch geschrieben. Diese Mitteilung war ihr in keiner Weise unangenehm; sie wußte ja, daß Mrs. Carawood etwas nervös und ängstlich war, wenn es sich um sie handelte. Und John Morlay war im Grunde genommen ein wirklich netter junger Mann. Marie dachte sogar darüber nach, ob sie sich wohl in ihn verlieben würde. Solche Gedanken waren in ihrem Alter natürlich, und außerdem hatten ihre Freundinnen ihr oft von ihrer Sehnsucht nach romantischen Erlebnissen vorgeschwärmt.

 

Als der Zug im Bahnhof einlief, hielt der Wagen, in dem Marie saß, direkt vor John Morlay.

 

Es hatte geregnet, und er sah in dem Regenmantel, der bis über die Knie reichte, besonders stattlich und groß aus.

 

»Melde mich zur Stelle«, begrüßte er sie, nahm ihre Hand und drückte sie vorsichtig. »Ich bin mir noch nie in meinem Leben so wichtig vorgekommen. Und wenn ich offen sein soll«, fuhr er feierlich fort, obwohl sie ihn freudestrahlend anlachte, »habe ich mich nur dadurch dazu bringen können, meine Pflicht voll und ganz aufzunehmen, daß ich mir vorstellte, Sie wären ein großer Kasten voll Gold, den ich auf die Bank von England bringen muß, damit er unterwegs nicht von bösen Dieben gestohlen wird. Der Wagen zum Transport wartet«, fügte er mit einer würdevollen Handbewegung hinzu. Sie lachte nur noch mehr, so daß seine anfängliche Nervosität vollkommen schwand.

 

»Sie haben einen sehr schönen Anfang gemacht, Mr. Morlay – ach so, ich muß Sie ja John nennen.«

 

»Ja, sagen Sie John. Soll ich Sie sofort nach Pimlico bringen, oder wollen wir erst eine Tasse Tee zusammen trinken?«

 

»Wenn ich es mir überlege, ist eine Einladung zum Tee verlockend. Ich habe immer um elf Uhr morgens gefrühstückt. In unserer Schule war das eine strenge Regel.«

 

Er fuhr mit ihr zum Hyde Park, wo eben ein Erfrischungspavillon geöffnet wurde. Unter einem großen Baum ließen sie sich in bequemen Stühlen nieder und tranken Tee.

 

»Sie sind wohl mit Mrs. Carawood sehr befreundet?«

 

»Ja, wir sind wie Bruder und Schwester«, erklärte John feierlich.

 

»Aber Sie müssen mir wirklich richtig Auskunft geben. Ich glaube ja, daß sie Sie sehr gut kennt, sonst hätte sie mich niemals Ihrer Obhut anvertraut.«

 

»Ich denke, sie hat große Menschenkenntnis«, erwiderte er. »Im Ernst, Contessa –«

 

»Wollen Sie nun auch so gut sein, mich als Zimmermädchen zu betrachten und mich einfach Marie zu nennen?« fragte sie vergnügt. In der Schule hatte ich den Spitznamen Moggy, aber wir kennen uns noch nicht lange genug, daß Sie den schon verwenden dürften.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Gut, dann bleibt es bei Marie. Und ich heiße John.«

 

Morlay war über sich selbst erstaunt. Noch nie hatte er soviel Witze gemacht, niemals war er so aus sich herausgegangen. Er war doch ein gesetzter, ruhiger Geschäftsmann in mittleren Jahren, der sich eigentlich dementsprechend würdevoll benehmen mußte. Einige Zeit scherzte er noch mit ihr, dann wurde sie plötzlich ernst.

 

»Die Welt lag früher für mich so fern, aber jetzt ist alles plötzlich Wirklichkeit geworden; es gibt so viele Dinge, vor denen ich mich fürchte. Ich kann es kaum begreifen – noch vor einer Woche habe ich einen Aufsatz über Wilhelm den Eroberer geschrieben, und jetzt sitze ich hier neben Ihnen im Hyde Park. Es ist alles so sonderbar, so phantastisch – und daß Sie an meiner Seite sitzen, ist das Seltsamste von allem –«

 

»Kennen Sie eigentlich Julian Lester?«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Ja. Warum fragen Sie danach? Selbstverständlich kenne ich ihn«, erwiderte sie fast vorwurfsvoll. »Er hat Sie mir doch vorgestellt. Er ist mit einer meiner Freundinnen entfernt verwandt, und ich finde ihn eigentlich ganz nett. Sie nicht auch?«

 

»Ja, er ist recht nett«, sagte John wenig begeistert. »Schreibt er Ihnen öfter?«

 

Hätte er auch nur einen Augenblick nachgedacht, so hätte er niemals gewagt, eine derartige Frage an sie zu richten. Ein erstaunter Blick aus ihren tiefblauen Augen traf ihn.

 

»Natürlich schreibt er mir«, entgegnete sie etwas kühl und warf den Kopf leicht zurück. »Sprechen Sie jetzt als Detektiv?«

 

»Ach, das war nur eine neugierige Frage. Ich habe mich um Dinge gekümmert, die mich nichts angehen«, erklärte er schnell, um den Fehler wiedergutzumachen. »Sehen Sie, Marie, ich muß doch wissen, wer Ihre Freunde sind und mit wem Sie ???fehlende Zeile im Buch che Ansprüche; gern las sie Abenteuerromane, wie überhaupt aus Versehen dem falschen Mann mit dem großen Gummiknüppel, den ich mir für Ihren Schutz angeschafft habe, auf den Kopf. Von morgen ab werde ich ihn wie ein Gewehr über der Schulter tragen, wenn ich mit Ihnen ausgehe.«

 

Die nächste Viertelstunde saß er neben ihr und schwieg. Sie plauderte über ihre Mitschülerinnen und ihre Lehrerinnen, über Kissenschlachten im Schlafsaal und all die kleinen Ereignisse, die jungen Mädchen wichtig erscheinen.

 

Nur widerwillig zahlte er schließlich die Rechnung und brachte Marie zum Wagen zurück. Je mehr sie sich der Wohnung in der Penton Street näherten, desto ruhiger und ernster wurde sie.

 

»Kennen Sie Nanny wirklich sehr gut?«

 

»Sie meinen Mrs. Carawood? Nein, das nicht. Ich traf sie das erstemal an dem Tag, als ich nach Cheltenham kam.«

 

Marie seufzte.

 

»Ach, sie ist so gut und lieb zu mir gewesen! Wissen Sie, Mr. – John, manchmal kommt mir der Gedanke, daß ich gar nicht so reich bin, wie die Leute immer glauben.«

 

»Wie kommen Sie denn darauf?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie unsicher. »Julian hat schon ein paarmal mit mir darüber gesprochen, das heißt, er hat es eigentlich nur angedeutet, daß ich entsetzlich reich sein soll. Aber ich weiß doch von all den Dingen gar nichts. Schließlich drang er darauf, daß ich Nanny fragen sollte, ob sie einen Teil meines Vermögens in Aktien angelegt habe – ich vergaß den besonderen Namen der Papiere …«

 

»Aber warum glauben Sie denn, daß Sie nicht reich sind?«

 

»Weil mir Nanny das sicher gesagt hätte«, entgegnete sie ruhig. »Ich habe manchmal das Gefühl, daß ich nicht einen Penny besitze und daß sie mich nur auf diese gute Schule geschickt hat, weil sie mich so gern hat.«

 

Ihre Stimme zitterte ein wenig, und John schwieg.

 

»Würde es Sie sehr schmerzen, wenn Sie arm wären?«

 

Sie schüttelte wieder den Kopf.

 

»Nur in einer Beziehung: Ich möchte etwas für sie tun. Sie hat so hart gearbeitet, und diese Villa in Ascot ist eine große Verschwendung. Wenn sie sich nicht um mich sorgen und mir ein so glänzendes Leben verschaffen wollte, könnte sie bestimmt ihre Kleiderläden zumachen und brauchte für den Rest ihres Lebens nicht mehr zu arbeiten.«

 

»Haben Sie ihr nicht schon einmal den Rat gegeben?«

 

»Doch einmal«, gab Marie zu. »Aber das hat sie sehr verletzt. Oh, ich glaube, es würde einen großen Unterschied für mich machen, wenn ich nicht so reich wäre.«

 

»Ja, da haben Sie recht«, sagte er so nachdenklich, daß sie ihn verwundert ansah.

 

Und sie hatte auch allen Grund dazu, denn John Morlay wurde zum erstenmal in seinem Leben rot.

 

Kapitel 23

 

23

 

Es dauerte einige Zeit, bis sie die Feder aufnahm und Eintragungen in das Geschäftsbuch machte, das vor ihr lag. Sie blätterte um, bis sie an die Stelle kam, wo sie ihre persönlichen Ausgaben einschrieb. Die Aufwendungen für Marie wurden in ein anderes Buch eingetragen.

 

Sie schaute erst wieder auf, als sie ein schwaches Geräusch hörte, und sah zur Tür, die zum Gang führte. Vermutlich war Herman noch einmal heruntergekommen. Die Tür blieb jedoch geschlossen, und Mrs. Carawood wandte sich wieder ihrem Buch zu.

 

Es war vollkommen ruhig in dem Zimmer, deshalb schrak sie heftig zusammen, als eine Diele im Gang draußen knarrte.

 

Einige Sekunden herrschte tiefe Stille, dann wiederholte sich dieses Geräusch. Sie erhob sich zitternd, und ihre Augen wurden größer und größer, als sie sah, daß sich die Tür langsam öffnete.

 

»Herman!« rief sie scharf. »Machen Sie doch keinen solchen Unsinn und erschrecken Sie mich nicht so!«

 

Die Tür ging weiter auf, und dann zeigte sich ein Mann mit bleichem, ungesundem Gesicht. Seine Augen flackerten unheimlich, seine Backenknochen traten scharf hervor. Trotz der drückenden Hitze hatte er die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Rock bis oben zugeknöpft.

 

Sie öffnete den Mund und rang verzweifelt nach Atem.

 

»Joe!« stieß sie heiser hervor. »Um Himmels willen, Joe!«

 

Der Mann starrte sie an. Er hatte nicht erwartet, diese Frau hier zu sehen, und auch er schrak im ersten Augenblick zusammen. Aber dann trat er entschlossen ins Zimmer und machte die Tür zu. Wie eine Geistererscheinung stand er vor ihr, ein häßliches Grinsen verzerrte seine Züge.

 

»Was, du … verdammt noch mal!«

 

Sie fühlte ein Würgen in der Kehle und konnte nicht sprechen.

 

»Du dachtest wohl, ich wäre verreckt? Gehofft hast du natürlich, daß ich nicht mehr aufstehen würde! Warum bist du denn in so zerrissenen Kleidern zu mir gekommen? Wolltest mir wohl weismachen, daß du kein Geld hättest! Also du bist Mrs. Carawood!«

 

Sie nickte. Leise begann sie zu reden.

 

»Du hast aber doch regelmäßig von mir Geld erhalten. Ich habe es immer ans Gefängnis nach Broadmoor geschickt und nachher an die andere Adresse. Woher wußtest du, daß ich hier wohne? Ich dachte …«

 

Sie zitterte an allen Gliedern und lehnte sich an den Tisch, um nicht umzusinken.

 

»Ja, ich kenne dich, und ich weiß von früher her, was du denkst! Du glaubst, ich würde dort in dem Haus in Rotherhithe bleiben, bis man mich auf den Kirchhof hinaustrüge! Aber ich sterbe nicht so bald! Jetzt bin ich nach Hause gekommen – jetzt bin ich wieder daheim bei meiner Frau, die mich so liebt!« Seine Stimme klang beißend höhnisch.

 

Sie starrte ihn an wie vom Schlage gerührt. Vergeblich versuchte sie, sich zu fassen. Plötzlich wurde ihr klar, was das alles zu bedeuten hatte – neunzehn Jahre hatte sie unentwegt gearbeitet, neunzehn Jahre hatte sie träumen dürfen. Sie hatte sich ihr eigenes Glück aufgebaut, die häßliche Vergangenheit begraben, und nun brach alles in einem einzigen kurzen Augenblick zusammen. Ihre Träume vom Glück wurden in den Schmutz gezerrt, und alle ihre Anstrengungen, sich emporzuarbeiten, waren umsonst gewesen!

 

Sie schluchzte auf, sank auf den Stuhl und bedeckte die Augen mit den Händen, als ob sie ihn nicht sehen wollte.

 

»Ach, wie schrecklich!« stieß sie mühsam hervor.

 

»Ach, wie schrecklich!« äffte er ihre Worte nach und drehte sich dann um, als er auf der Straße schwere Schritte hörte. Der Schatten eines Helms fiel von draußen auf den Fenstervorhang. »Einer von der Polente!« zischte er.

 

Sie sah auf, eine wilde Hoffnung riß sie aus ihrer Gefühllosigkeit. »Joe, du wirst doch nicht von der Polizei gesucht?« rief sie.

 

In diesem Augenblick hatte sie kein Erbarmen mit ihm, sie dachte nur an all die Schrecken, an all die Erniedrigung, an die Häßlichkeit, die seine Rückkehr wieder in ihr Leben brachte. Wie hatte sie früher, als sie noch mit ihm zusammenlebte, von einer Wohnung zur anderen fliehen müssen! Überall mußte sie sich verbergen, sie war seine Sklavin gewesen, ohne daß er es ihr gedankt hätte. Dann war sie ihm entkommen, weil er zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, und hatte glücklich die Jahre der Freiheit verlebt, die doppelt froh und angenehm waren nach all dem Elend, das sie vorher durchgemacht hatte. Und wenn es das Los der Menschen war, zu leiden, hatte sie nicht genug gelitten? Sie eilte zur Tür.

 

»Nein, die Polizei ist nicht hinter mir her«, sagte er heiser. »Ich bin aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem ich den letzten Tag und die letzte Stunde meiner Strafe abgesessen habe. Lauf doch hin und schrei hinter dem Schutzmann her, wenn es dir Spaß macht. Meine Papiere sind in Ordnung, ich bin entlassen – ich bin frei wie der Vogel in der Luft!«

 

Dann lachte er so teuflisch, daß Mrs. Carawood das Blut in den Adern erstarrte, aber sie fühlte, daß er die Wahrheit sprach, und trat von der Tür zurück. In der Ferne verhallten die Schritte des Polizeibeamten.

 

»Ist er fort?« fragte er spöttisch.

 

Sie nickte und sank wieder in den Stuhl. In der Ferne grollte der Donner, und sie schauderte zusammen.

 

»Neunzehn Jahre habe ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken«, sagte er, »wie er vor mir am Boden lag und der Mond in sein bleiches, blutiges Gesicht schien.« Seine Finger krampften sich zusammen, obwohl er sich dieser Bluttat rühmte. »Aber ich habe es dem Schwein heimgezahlt! Warum mußte dieser Kerl mich auch stören? Es war doch nicht sein Geld, das ich der Bank klauen wollte. Was ging den blöden Affen das an!«

 

»Er – er war ein Beamter, und du warst ein Dieb!«

 

»Ja, deswegen ist er jetzt auch tot, und ich lebe«, entgegnete er brutal.

 

Sie rang die Hände.

 

»Man sollte denken, daß es dir Freude macht, dich daran zu erinnern. Sprich doch nicht davon, es wäre möglich, daß jemand es hört, wenn du es sagst, Joe!«

 

»Na, und wenn sie es hören? Mir kann doch keiner mehr was tun, ich habe die Strafe abgesessen!«

 

In dem Augenblick wurde der Raum taghell erleuchtet – ein Blitz zerriß das Gewölk. Sie sah sein kreidebleiches Gesicht in dem fahlen Licht; Wahnsinn glühte in seinen Augen.

 

»Hast du deinen Freunden gesagt, daß du einen so schönen Mann hast?« fragte er.

 

Sie schüttelte den Kopf. Sie versuchte immer wieder, ihre Gedanken zu sammeln, aber es gelang ihr nicht.

 

»Nein, Gott sei Dank, ich habe es überwunden. Ich habe mein eigenes Leben gelebt und mich in die Höhe gearbeitet. Andere Frauen wären wahrscheinlich daran zugrunde gegangen.«

 

Mit unsicheren Schritten trat er auf sie zu, als ihre Stimme leiser wurde und erstarb. Dann stand er vor ihr und hob wie früher brutal die Faust. »Bring mir was zu essen!«

 

»Ja, ich werde etwas suchen«, erwiderte sie und schwieg dann plötzlich.

 

Die Tür öffnete sich, und Herman trat in Hemdsärmeln herein. Die Hosenträger hingen herunter; er schien sich hastig angekleidet zu haben.

 

Er sah verhältnismäßig harmlos aus, aber Joe war doch eingeschüchtert.

 

»Wer ist das?« fragte er.

 

»Der Junge –« begann sie.

 

Er sagte nichts, sondern starrte Herman nur an. Dann verzerrte sich sein Gesicht plötzlich, und er faßte mit einer Hand an die Kehle, während er mit der anderen nach der Westentasche tastete. Schließlich brachte er ein kleines Fläschchen zum Vorschein, das er hastig an die Lippen führte. Dann atmete er tief auf. Die beiden anderen beobachteten, daß er sich langsam wieder erholte.

 

»So, jetzt ist es besser. Ich stelle die Medizin hierher, wo ich sie immer sehen kann. Das ist das neue Mittel … Sie gaben es mir heute morgen im Krankenhaus … Es ist viel besser als die alte Brühe, die ich im Gefängnis zu schlucken bekam …!«

 

Er sah wieder zu Herman hinüber.

 

»Was ist geschehen, Mrs. Carawood?« fragte der junge Mann atemlos. Fast schien es ihm, als ob sich eine der Kriminalgeschichten, die er so gern hatte, hier vor seinen Augen abspielte.

 

»Mrs. Carawood!« ahmte Joe seine Stimme nach.

 

»So heiße ich«, sagte sie, »Laß den Jungen fortgehen, bevor wir uns aussprechen. Herman, gehen Sie zu Bett. Dies ist ein Mann, den ich vor Jahren näher kannte.«

 

Herman nahm mechanisch die kleine Flasche und stellte sie auf den Kamin.

 

»Aber er sieht – so sonderbar aus. Ich weiß nicht – soll ich nicht Mr. Fenner rufen?« fragte er leise, als sie nach der Tür wies.

 

»Nein, nein, es ist schon alles in Ordnung. Er geht gleich wieder!«

 

»So, ich bin also ein Mann, den du vor Jahren näher kanntest«, lachte er höhnisch, als Herman gegangen war. »Und dabei bin ich dein Mann!«

 

Wütend schaute er sie an, während der Regen gegen die Fenster peitschte.

 

»Meinst du, ich wüßte es nicht?« sagte sie bitter.

 

»Ist das dein Junge – er nannte dich Mrs. Carawood?«

 

»Nein, er gehört nicht mir. Er war ein armer kleiner Knirps, als ich ihn eines Tages im Polizeigericht sah. Ich nahm ihn zu mir und zog ihn auf. Er ist so dankbar, als ob er mein eigenes Kind wäre.«

 

»So, um den Bengel hast du dich gekümmert, aber es ist dir nicht ein einziges Mal eingefallen, mich im Gefängnis zu besuchen. Gibst du das zu?«

 

»Ja. Ich bin nicht zu dir gekommen.«

 

»Ich weiß schon, was du gedacht hast. Du glaubtest, es wäre mit mir zu Ende, und darüber warst du froh. Aber du hast mich nicht zum letztenmal gesehen. Jetzt nennst du dich Mrs. Carawood. Was hat das zu bedeuten? Hast du wieder geheiratet?«

 

»Nein, eine Ehe war gerade genug für mich. Aber du hast recht, ich wollte nicht wieder mit dir zusammenleben.«

 

»Was sagst du da?«

 

Er erhob sich drohend.

 

»Ich habe vor Gericht gelogen, um dich zu retten. Ich habe alles für dich getan, weil ich mit dir verheiratet war; ich habe schwere Zeiten bei dir durchgemacht und dir immer geholfen. Stets habe ich zu dir gehalten, und immer war die Polizei hinter uns her, und wir mußten von einer Wohnung zur anderen fliehen. Und wenn ich mir etwas Geld gespart und ein paar Möbel gekauft hatte, dann hast du sie wieder versetzt … Schließlich war ich froh, als ich nicht mehr mit dir zusammenleben mußte.«

 

»Du …«

 

»Ich habe gebetet, daß sie dich henken sollten!« fuhr sie trotzig fort. »Aber ich habe ihnen nicht geholfen, daß sie dich zum Tode verurteilen konnten – trotz allem habe ich gelogen, um dein Leben zu retten. Und nun kommst du zu mir zurück!« rief sie verzweifelt.

 

Draußen blitzte es unaufhörlich, der Donner rollte, und ein wolkenbruchartiger Regen ging nieder.

 

»Jetzt verstehe ich alles«, erwiderte er heiser. »Du wolltest also, daß sie mich henken sollten!« Er packte sie am Arm, und seine scharfen Fingernägel gruben sich in ihr Fleisch, so daß sie stöhnte. »Dafür sollst du mir noch büßen! Morgen fliegt das Firmenschild mit den goldenen Buchstaben herunter, und dann kommt dein richtiger Name hin – Hoad! Und jetzt scher dich fort und hol mir etwas zu essen, oder …«

 

Sie dachte an die früheren Zeiten und taumelte, als sie hinausging, um etwas zu essen zu holen. Sie mußte sich anstrengen, um nicht umzusinken. Wenn sie auch eine andere Frau geworden war und sich nicht mehr durch ihn einschüchtern lassen wollte, war sie doch immer noch in seiner Gewalt. Er brauchte nur auf die Straße zu gehen und die Wahrheit hinauszuschreien. Könnte sie doch nur ein paar Stunden ruhig nachdenken – sicher würde sie dann einen Ausweg finden.

 

»Was ist aus deinem Kind geworden?« fragte er heftig, als sie mit einem Tablett zurückkam. »Du hast doch ein Kind bekommen, nachdem ich ins Gefängnis kam?«

 

Sie zitterte.

 

»Ja – es war ein kleiner Junge …«

 

»Das hat man mir im Zuchthaus erzählt. Du hast wohl niemals daran gedacht, daß ich als Vater das gern wüßte?«

 

»Er ist doch gestorben, nachdem er kaum eine Woche alt war. Konntest du etwas anderes erwarten nach all den Sorgen und all dem Kummer, die ich durchgemacht hatte?« fragte sie atemlos.

 

»Ach, du und dein Kummer!«

 

Für den Augenblick mußte sie ihn beruhigen, bis sich irgendein Ausweg zeigte.

 

»Es tut mir leid, ich habe nur Brot und Käse im Haus, Joe, aber ich kann dir Schinken und etwas Fleisch besorgen. Sie lassen mich in der Wirtschaft drüben sicher hinten zur Küche hinein. Ich will etwas holen, wenn du es wünschst.«

 

»Du wirst das Haus nicht verlassen«, sagte er argwöhnisch. »Erlaube dir bloß keine Tricks!«

 

Plötzlich lachte er laut auf, als er sich daran erinnerte, daß er ein freier Mann war.

 

»Butter und Käse genügen mir«, erklärte er und begann mit einem wahren Heißhunger zu essen.

 

»Ich muß dich etwas fragen –«, begann er.

 

Aber dann fuhr er zusammen, als draußen eine Autohupe ertönte. Mrs. Carawood kannte den Ton nur zu gut. Sie sprang zur Tür und sah durch die Scheiben, gegen die der Regen mit unverminderter Gewalt schlug.

 

»Schnell, hinter die Holzwand, Joe!« rief sie ihm zu.

 

»Wer ist das?« fragte er eigensinnig. »Warum soll ich mich denn verstecken? Ich habe dir doch gesagt, daß ich ein freier Mann bin.«

 

»Du weißt es nicht. Vielleicht sind deine Papiere doch nicht ganz in Ordnung. Nur für eine Minute …« Sie sprach unzusammenhängend, und ihre Furcht steckte ihn an. »Joe, um Himmels willen, es ist sicherer.«

 

Der alte Instinkt, sich immer zu verstecken, überwältigte ihn, und er verschwand.

 

Mrs. Carawood öffnete die Tür – es war Marie, die vom Theater zurückkehrte.

 

*

 

Kapitel 24

 

24

 

Ihr Herz setzte aus zu schlagen, als Marie in dem Raum hin und her ging, und als das Kleid des jungen Mädchens die Holzwand streifte, hätte die Frau beinahe laut aufgeschrien.

 

»Was gibt’s denn?« fragte Mrs. Carawood, indem sie eine Ohnmacht niederkämpfte. »Ist etwas geschehen?«

 

Marie hatte ihre Handtasche hier im Zimmer liegengelassen. Das war sehr wichtig, denn die Billetts für die Nachtvorstellung lagen darin. Außerdem enthielt sie ihr Taschentuch, etwa zwanzig Pfund in Banknoten und vor allem einen Brief von John Morlay, den er ihr geschrieben hatte und den außer ihr wohl niemand verstehen konnte.

 

»Was ist denn das für ein Fläschchen, Nanny?« fragte sie und nahm die Medizinflasche vom Kamin.

 

»Stell es sofort wieder hin!« rief Mrs. Carawood. Es schien ihr furchtbar zu sein, daß Marie etwas mit den Fingern berührte, was in Joes Taschen gewesen war. »Es ist – es ist Medizin.«

 

Gehorsam stellte Marie es hin und drehte sich überrascht um.

 

»Bist du denn krank? Warum hast du mir das nicht gesagt?«

 

Mrs. Carawood war am Tisch niedergekniet. Sie hatte die kleine seidene Handtasche entdeckt, die dort am Boden lag.

 

»Hier ist die Tasche!« sagte sie und reichte sie ihr.

 

Marie sah Mrs. Carawood ein wenig ängstlich an.

 

»Ich bin durchaus nicht krank, Marie, es ist nur die Hitze. Vielleicht wird es mir wieder besser, wenn wir in Ascot sind.«

 

John war auch hereingekommen und sah sich ebenfalls erstaunt im Zimmer um. Irgend etwas stimmte hier nicht – was mochte es nur sein?

 

Mrs. Carawood sah totenbleich aus, und er entdeckte, was Marie entgangen war: die Teller und Schüsseln mit Brot und Käse, die auf dem Tisch standen.

 

»Ich – ich kann jetzt nicht sprechen. Ihr dürft euch nicht aufhalten, sonst wird es zu spät zur Vorstellung.«

 

Sie wußte, daß sie eine schlechte Schauspielerin war. Außerdem hatte sie beobachtet, daß John das Geschirr gesehen hatte.

 

»Können wir nicht jemanden holen, der Ihnen hilft, Mrs. Carawood?« fragte Morlay. »Wir dürfen Sie in dem Zustand doch nicht allein lassen.«

 

»Ich habe Herman hier im Haus – er ist noch nicht zu Bett gegangen«, log sie.

 

Schließlich gelang es ihr, die beiden fortzuschicken. Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte sie sich um, als der Wagen endlich fortfuhr und das rote Schlußlicht kleiner und kleiner wurde. Joe kam hinter der Trennungswand hervor und sah seine Frau schweigend an.

 

»Das waren eine Dame und ein Herr, die ab und zu in meinem Laden kaufen, Joe«, erklärte sie verzweifelt.

 

Er ging auf sie zu und hielt ihr die Faust vors Gesicht. Seine Augen blitzten drohend.

 

»Belüge mich nicht!« fuhr er sie an. »Mit dem Mädchen bist du ja sehr vertraut.«

 

Sie gab sich die größte Mühe, ruhig zu sprechen.

 

»Nein, ich lüge nicht, Joe. Und wenn du die ganze Wahrheit wissen willst – es ist eine Gräfin …«

 

Er trat noch einen Schritt näher und riß sie hoch. Mit wütenden Blicken stierte er sie an, und ein triumphierendes Lächeln zeigte sich in seinen häßlichen Zügen. Er packte sie bei der Schulter und schüttelte sie wild hin und her.

 

»Soll ich dir sagen, wer diese feine junge Dame ist? Das ist unsere Tochter …!«

 

Wenn er sie nicht gehalten hätte, wäre sie umgefallen.

 

»Sag doch nicht solchen Unsinn, Joe«, sagte sie heiser.

 

Er schüttelte sie wieder heftig.

 

»Meinst du, ich hätte sie mir nicht genau angesehen?« schrie er sie an. »So hast du früher ausgesehen! Genau die Stimme hattest du. Es ist dein Lachen und deine ganze Haltung – jede Bewegung habe ich erkannt. Denkst du vielleicht, du könntest mich belügen? So habe ich während all dieser Jahre an dich gedacht, wie ich sie jetzt hier gesehen habe.«

 

Sie riß sich von ihm los.

 

»Du bist wahnsinnig. Wenn du dich nicht in acht nimmst, wirst du wegen übler Nachrede wieder ins Gefängnis gesteckt. Ihre Mutter war eine Gräfin!«

 

»Was sagst du da? Ich wäre verrückt? Wieviel hast du an dem Schwindel verdient? Warum hast du das überhaupt getan? Das muß ja ein feiner Handel gewesen sein!«

 

Sie kämpfte noch verzweifelt, aber sie wußte schon, daß es vergeblich war.

 

»Joe, dein Verstand hat gelitten, als sie dich freigelassen haben«, sagte sie atemlos. »Du mußt dir diese Ideen aus dem Kopf schlagen. Es kommen Hunderte von jungen Mädchen her, die ihre Kleider hier kaufen. Du wirst doch nicht etwa behaupten, daß sie alle deine Töchter sind.«

 

*

 

Kapitel 25

 

25

 

»Das junge Mädchen, das eben hier war, ist meine Tochter.«

 

Joe Hoad schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Teller tanzten. Er war derselbe wie früher; sie erkannte ihn an diesem unglaublichen Jähzorn.

 

»Das ist unser Kind, und ich werde mit ihr reden. Du hast sie in Luxus erzogen, während ihr Vater im Zuchthaus saß! Und dann noch dieser junge Kerl, der hier im Laden herumtanzte! Ich könnte dir alle Knochen im Leib erschlagen, wenn ich daran denke, wieviel Geld du für das Mädchen verschwendet hast, während du mich hättest unterstützen sollen. Für mich hast du kaum ein Pfund die Woche übrig gehabt!«

 

Er stürmte zur Tür, aber sie eilte ihm nach und hielt ihn am Ärmel fest. Trotz allem fühlte sie Mitleid, als sie sah, daß sein Arm fast nur aus Haut und Knochen bestand. Er mußte schwer krank sein. Vielleicht gelang es ihr, ihn zu beruhigen; vielleicht würde er freundlicher werden, wenn sie ihm zeigte, daß sie sich um ihn sorgte, und wenn sie ihn pflegte. Früher hatte er das nie verstanden und hatte es auch nie gewollt. Er war überrascht, als sie plötzlich in freundlichem Ton zu ihm sprach.

 

»Joe, wenn ich es nun zugebe – was dann?«

 

»Was dann, was dann?« fragte er brutal. »Ist gar nicht nötig, daß du das zugibst. Ich wußte es gleich, als ich ihr Lachen hörte. Laß mich los, du alte Hexe! Ich werde mich jetzt meiner Tochter vorstellen!«

 

»Sie sind doch schon fort!« schrie sie und taumelte zurück. »Ich will dir alles sagen, Joe, du sollst alles wissen, was du willst.«

 

»Das mußt du wohl auch, du Kanaille«, brummte er.

 

»Joe, versuche doch einmal, mich zu verstehen. Ja, es ist unser Kind. Ich habe niemals einen Jungen gehabt, nur die kleine Marie! Und als ich wußte, daß ich niederkommen sollte, fürchtete ich mich vor dem Kind – ich wollte es nicht haben. Ich dachte daran, welch schreckliches Leben ihm bevorstand. Ich hatte mich immer verstecken und fliehen müssen, immer hatten wir schwere Sorgen, nirgends waren wir sicher. Sollte das so weitergehen?«

 

Er brummte, aber sie erkannte, daß sein Interesse geweckt war, obwohl er sie argwöhnisch betrachtete und jedes ihrer Worte prüfte, ob sie ihn auch nicht belog.

 

»Ich haßte in Gedanken das Kind, bevor ich es sah – und als es dann schrie und mich ansah und so klein war, schämte ich mich, daß ich mich so gefürchtet hatte, und ich liebte es ebenso heiß, wie ich es vorher gehaßt hatte. Aber ich gab mir das Versprechen, es anders zu erziehen. Es sollte nichts mit uns beiden zu tun haben.«

 

»Und mit welchem Recht hast du das Kind dem Vater vorenthalten?«

 

Unheimliche Lichter flackerten in seinen Augen, und sie schrak wieder vor ihm zurück.

 

»Ich dachte an die Zeit, als wir heirateten und du versuchtest, ehrlich zu bleiben. Damals sagtest du mir, daß das unmöglich wäre. Erinnerst du dich noch daran? Es zog dich wieder dazu, zu stehlen und einzubrechen. Du kämpftest vergeblich dagegen, weil es dir im Blut lag. Dein Vater war im Gefängnis gestorben, und es blieb dir keine Hoffnung. Aber Joe, jetzt glaubte ich nicht mehr daran. Hättest du nie etwas von deinem Vater gewußt, dann hättest du ein ehrlicher Mensch bleiben können. Ich komme mir so seltsam vor, wenn ich daran denke, aber wir waren die ersten Wochen in unserer Ehe glücklich, als wir noch auf dem Lande lebten und du arbeitetest. Erinnerst du dich nicht mehr an das kleine Haus in Chean, wo du die schönen Blumen den Weg entlang pflanztest, der zu unserem Haus führte?«

 

Er schwieg. Ihre Worte hatten ihn herausgerissen aus der furchtbaren Gegenwart, und plötzlich wachte in ihm etwas auf, was verschüttet und vergessen schien.

 

»Aber dann kam dein Vater aus dem Gefängnis und zog dich wieder mit sich. Und trotzdem habe ich dich geliebt … lange Zeit …«

 

Sie glaubte, daß sie ihn gerührt hatte. Vielleicht tat es ihm leid, daß sie ein so trauriges, hoffnungsloses Leben hatte führen müssen, aber der Eindruck dauerte nicht lange.

 

»Als du fort warst, hatte ich nur noch das Kind, das ich lieben konnte. Du weißt, welch harte Jugend ich im Findelhaus durchlebte. Ich habe nichts von Schönheit und Liebe kennengelernt, und ich war hungrig nach ein wenig Glück, nach ein wenig Romantik –«

 

»Ja, Romantik, das war ja immer deine Verrücktheit. Du hast immer nur geträumt, statt etwas Ordentliches zu tun.«

 

»Glaubst du?« fragte sie und hob stolz den Kopf.

 

Hier in diesem Laden hatte sie sich bewährt; hier hatte sie gezeigt, daß sie nicht nur träumte und romantischen Ideen nachhing. Und hatte sie nicht Marie erzogen? War das nicht der beste Beweis für ihre Tatkraft und Energie?

 

Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Eine ganz andere Frau stand plötzlich vor ihm. Die Jahre hatten sie verändert.

 

»Ich entschloß mich, sie anders zu erziehen. Wenn ich sie bei mir behalten hätte, wäre es doch eines Tages herausgekommen. Es wären Fragen aufgetaucht. Entweder mußte ich dann sagen, daß sie ein uneheliches Kind war oder daß du der Vater seist. Und ich hätte ihr alles erzählen müssen. Sie hätte versucht, ein fehlerloses Leben zu führen, aber jedesmal, wenn diese kleinen Versuchungen an sie herangetreten wären, denen wir ja alle mehr oder weniger ausgesetzt sind, hätte sie gesagt: ›Welchen Zweck hat es? Ich bin ja doch dazu geboren – mein Vater sitzt im Zuchthaus.‹ Und so hätte sie nicht einmal versucht, zu kämpfen –«

 

»Jedenfalls hast du es nicht geschickt genug angestellt. Du konntest mir nicht entgehen«, knurrte er.

 

Verzweifelt erkannte sie, daß es ihr nicht gelungen war, ihn umzustimmen.

 

»Vorher hatte ich nie mit gebildeten Leuten verkehrt«, fuhr sie fort, »obwohl ich im Waisenhaus eine gute Erziehung erhalten hatte. Erst als ich bei der Gräfin Fioli eine Stelle annahm, lernte ich das Leben dieser Leute kennen. Die Schönheit zog mich an, die freundliche Art, wie sie sprachen, aßen und sich bewegten – das alles machte großen Eindruck auf mich. Sie waren ja gut zu uns im Waisenhaus, aber niemals liebevoll. Und wenn ich dann an dich dachte, erinnerte ich mich, daß du niemals zärtlich und freundlich zu mir warst.«

 

Ihre Worte klangen bitter und resigniert. Sie hatte damals im Waisenhaus vom Leben geträumt, das vor ihr lag, und als sie dann später in Stellung war, hatte sie angefangen, billige Romane zu lesen, die ihr eine schöne Welt eröffneten. Sie hatte davon geträumt, daß auch sie einmal einen Grafen oder einen Prinzen heiraten würde, und dann heiratete sie Joe Hoad, den Sohn eines Verbrechers.

 

»Verstehst du denn nicht, daß ich für mein Kind sorgte? Ich wollte es nicht nur von uns und unserem Unglück befreien. Ein Kind schlägt seinen Eltern nach. Wenn es sie vor sich sieht, ahmt es sie nach. Ich habe es doch hier in unserer Gegend zur Genüge gesehen. Gute Eltern haben gute Kinder. Schlechte Eltern haben schwache Kinder, die schließlich doch auf die schiefe Ebene kommen, wie zum Beispiel Herman. Aber sie bleiben auf dem rechten Pfad, wenn man sie von allem Bösen und Schlechten fortnimmt. Ach, und ich wünschte, du hättest einmal die Gräfin Fioli kennengelernt! Wenn du gesehen hättest, wie liebevoll sie zu mir war…«

 

Sie hielt inne, aber er starrte sie nur verständnislos an.

 

»Marie war sieben Monate alt, als ich zu der Gräfin Marie Fioli nach Bournemouth kam. Ich hatte die Kleine in Pflege gegeben, und später erzählte ich der Gräfin von ihr. Ihr eigenes Kind war gestorben, und sie grämte sich deshalb. Nach einiger Zeit erlaubte sie, daß ich Marie für einen Monat zu mir nehmen konnte. Damals lieh sie mir ihren großen, prachtvollen Kinderwagen, mit rotem Glacéleder ausgeschlagen und goldenen Kronen darauf. Ich fuhr das Kind vor dem Haus auf und ab, denn sie war gut zu mir und schickte mich an die frische Luft, obwohl sie doch selbst so krank war. Sie war erst kurze Zeit von Italien fort und kannte in England nur wenig Leute. Man redete viel über sie. Die meisten glaubten, daß die kleine Marie ihr Kind wäre. Die anderen Kindermädchen waren fest davon überzeugt; sie hätten es auch nicht verstehen können, daß eine Frau so gutherzig war, zu gestatten, daß ein Mädchen ihr eigenes Kind bei sich hatte. Dann starb sie. Sie war nicht reich, wie die Leute sagen. Sie hinterließ mir etwa hundert Pfund für die Dienste, die ich ihr geleistet hatte. Dann hatte sie noch ein Legat für die Schule in Rom ausgesetzt, in der sie erzogen worden war. Das war alles. In Bournemouth redeten die Leute damals unheimlich viel. Sie sagten, daß sie ihrem kleinen Kind ein ungeheuer großes Vermögen hinterlassen hatte. Wir zogen dann fort – Marie und ich. Und von da ab hieß das Kind – ›Mylady‹.«

 

*

 

Kapitel 26

 

26

 

Er lachte hart auf.

 

»Das sieht dir wieder ähnlich! Du hast dir den Kopf mit dummen Geschichten vollgekeilt, bis du darüber den Verstand verloren hast. Aber bis jetzt hast du mir immer noch nicht erzählt, woher du das Geld hast.«

 

Sie war müde und erschöpft.

 

»Ich habe das Geld bekommen wie alle ehrlichen Leute – ich habe schwer dafür arbeiten müssen. Zunächst hatte ich ein kleines Kapital, das war ein großer Vorteil. Ich fing bescheiden an; Marie gab ich zu guten Leuten in Pflege, während sie noch ganz klein war. Und nachher hatte ich Glück. Das Geschäft, das ich begann, schlug gut ein, und ich konnte etwas Geld sparen. Zeit zum Ausruhen blieb mir nie. Ich brachte Marie dann auf die Schule, zuerst nach Bexhill, wo sie mit lauter netten und anständigen Kindern zusammenkam, und später nach Cheltenham. Das war das Beste, was ich für sie tun konnte.«

 

Er sah sie unter seinen buschigen Augenbrauen düster an.

 

»Du hast alles Geld, das du mir hättest schicken sollen, für sie verschwendet! Verdammt noch mal, warum hast du mir nicht gesagt, wo du warst? Wenn ich diesen Auftrag nicht angenommen hätte, dann hätte ich dich wahrscheinlich nie wieder gesehen. Deinetwegen hätte ich im Rinnstein verrecken können!«

 

»Ja, ich wollte dich vergessen«, entgegnete sie entschlossen. »Hauptsächlich des Kindes wegen. Ich mußte zwischen dir und ihr wählen. Du hattest all dieses Elend über uns gebracht. Ich will nicht sagen, daß es allein deine Schuld war. Deine Erziehung ist auch daran schuld – die Umgebung, in der du aufgewachsen bist. Aber Marie tat mir so leid. Und so entschied ich mich für sie und ließ dich fallen. Ihr beide hattet nicht zusammen Platz in meinem Leben. Manche Frauen hätten vielleicht anders darüber gedacht, aber ich bin nicht wie die anderen. Ich bin zur Mutter geboren; die Liebe zu Dir hast du in mir erkalten und erstarren lassen. Und das Kind war so lieb«, fuhr sie fort. »Als sie hierherkam, dachten alle Nachbarn, ich wäre die Pflegerin, und ich sagte nichts dagegen. Ohne großes Zutun von meiner Seite entwickelte sich das eigentlich alles von selbst. An ihr wollte ich all das wiedergutmachen, was an mir versäumt worden war. Sie sollte all das Glück genießen, von dem ich nur träumte, ohne es jemals zu erreichen. Und so hatte ich etwas, wofür ich lebte, kämpfte und arbeitete, ein großes Ziel, zu dem ich aufblicken konnte. Es gab Zeiten, in denen es mir fast zu schwer wurde. Ich fühlte mich manchmal namenlos elend und allein…«

 

»Was soll ich dann erst sagen – vollständig von der Welt abgeschlossen? Meinst du denn, ich hätte mich nicht einsam gefühlt? An mich hast du natürlich nicht gedacht!«

 

Sie schüttelte den Kopf. Wie hätte sie auch an ihn denken sollen? Höchstens mit Schaudern und mit Abscheu.

 

»Ich konnte nicht an euch beide denken, das habe ich dir doch schon vorher gesagt«, erwiderte sie leise.

 

Sie sah ihn fragend an. Hatte sie ihn beruhigen können?

 

»Sie wird ja wohl den reichen Kerl heiraten?« fragte er.

 

»Ich weiß es nicht – aber ich hoffe, daß es dazu kommt.«

 

»Hat er denn Geld?«

 

Sie nickte. »Ja, ich glaube.«

 

Er erhob sich und ging mit schlürfenden Schritten im Laden auf und ab.

 

»Wenn er Geld hat, kann er auch für sie zahlen«, sagte er.

 

In diesem Augenblick schien das Gewitter seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Es war, als ob der Himmel über ihnen einstürzte. Verwirrt sah sie ihn an.

 

»Joe, das ist doch ganz unmöglich! Das kannst du ihm doch nicht sagen. Du darfst dich ihm doch nicht aufdrängen!« rief sie.

 

»Natürlich werde ich ihm das sagen!«

 

Als er sah, daß sie unter der Wucht seiner Worte zusammenschrak, freute er sich. Befriedigt sah er, wie sie litt.

 

»Laß mich nur, ich werde schon so viel aus ihm herausholen, als irgend möglich ist – er muß blechen, sonst mache ich ihm die Hölle heiß! Ich weiß, wer er ist – er heißt Morlay. Und dabei ist dieser Lump ein Detektiv! Donnerwetter, er soll meine Tochter heiraten? Lieber würde ich sehen, daß sie verreckt!«

 

»Joe, ich will dir Geld geben«, versprach sie ihm.

 

»Selbstverständlich wirst du mir Geld geben.«

 

Sie feuchtete ihre trockenen Lippen mit der Zunge an.

 

»Du willst ihm alles sagen – daß du Maries Vater bist und daß du einen Polizisten erschossen hast?«

 

»Halt’s Maul!« schrie er wild. Seine Hände zuckten.

 

»Nun ja, das mußt du ihm doch mitteilen, wenn du ihm überhaupt etwas sagst. Glaubst du, er wird dir dann weiterhelfen? Nein, du kannst nicht wieder alles zugrunde richten! Du darfst ihr Leben nicht ruinieren!« rief sie.

 

»Wenn die Göre überhaupt etwas wert ist, wird sie sich gern um mich kümmern. Ich bin ihr Vater.«

 

Sie schaute ihn furchtsam an und erkannte, daß sie ihn nicht weiter reizen durfte.

 

»Joe«, sagte sie nervös, »vielleicht war es nicht recht von mir, daß ich nicht an dich gedacht habe. Du hast jetzt deine Tochter gesehen – habe ich denn keinen Erfolg gehabt? War es nicht richtig, was ich tat? Bist du nicht stolz auf sie?«

 

»Immer kannst du nur von ihr quatschen. Wo bleibe ich?« fuhr er sie wütend an.

 

»Spreche ich denn von mir? Ich habe doch auch auf alles verzichtet!« rief sie leidenschaftlich. »Nein, Joe, du darfst es ihr nicht sagen und alles verderben!«

 

»Doch, gerade das werde ich tun! Ich werde es ihr sagen, denn du sagst ja selbst, daß sie mein Kind ist. Sie muß vor allem für das Gute zahlen, das sie genossen hat!«

 

»Darin irrst du – sie ist uns gar nichts schuldig!« rief sie verzweifelt. »Kinder sind ihren Eltern nichts schuldig, sondern Eltern schulden ihnen etwas!«

 

Aber die beiden redeten aneinander vorbei.

 

»Ich bin ihr Vater«, erklärte er eigensinnig. »Und wenn sie das nicht begreift, werde ich es ihr schon beibringen. Wenn man natürlich so eine dumme Göre Mylady nennt, setzt man ihr Flausen in den Kopf, aber die werde ich ihr schon austreiben! Und dir bringe ich auch noch Vernunft bei! Wenn ich daran denke, was du alles für sie getan hast, und daß du das ebensogut für mich hättest tun können, dann packt mich die Wut! Sie hast du mit allem Luxus umgeben, und ich konnte derweilen im Gefängnis hocken!«

 

Seine Stimme überschlug sich und klang schrill und laut. Einen Augenblick duckte er sich, dann sprang er auf sie zu.

 

»All die vielen Jahre – die vielen Jahre!«

 

Sie glaubte, das Ende all ihrer Leiden wäre gekommen, denn seine Finger packten sie an der Kehle.

 

Es wurde ihr rot vor den Augen, und der Regen draußen wurde in ihren Ohren zum betäubenden Orkan.

 

Sie hatte nur noch den ungewissen Eindruck, daß sich die Tür öffnete. Dann ließ plötzlich der Druck an ihrer Kehle nach.

 

Es war Herman. Er war in sein Zimmer zurückgekehrt und hatte angestrengt auf die Stimmen unten im Laden gelauscht. Das Gewitter hatte etwas nachgelassen; nach einem furchtbaren Donnerschlag hörte Herman draußen nur noch den Regen. Und als der Wind die Regentropfen gegen die Fenster peitschte, so daß die Stimmen von unten kaum noch zu hören waren, hielt er es oben nicht länger aus.

 

Mit eisernem Griff packte er den Mann bei den Schultern und riß ihn zurück. Joe schwankte und starrte Herman an.

 

»Scheren Sie sich zum Teufel!« rief er wild.

 

»Was hat sie Ihnen getan?« schrie ihn Herman an.

 

Mrs. Carawood öffnete die Augen … Es kam ihr selbst in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß Herman nichts von der Wahrheit erfahren durfte.

 

»Es ist schon gut, Herman«, sagte sie mit großer Mühe und richtete sich auf. »Ich bin nur ohnmächtig geworden.«

 

»Aber ich habe doch selbst gesehen, wie dieser Schuft Sie erwürgen wollte!«

 

»Lassen Sie meine Frau in Ruhe!«

 

Herman schaute verstört von einem zum anderen.

 

»Was, das ist Ihre Frau?«

 

Bittend wandte er sich an Mrs. Carawood, aber sie ließ hilflos den Kopf sinken.

 

»Es stimmt, was er sagt, Herman. Mylady – ist meine Tochter. Sie ist keine Gräfin … Ich habe nur für sie gearbeitet, und nun wird er alles ruinieren. Jetzt wird sie mir Vorwürfe machen, Herman, und sie wird mich hassen … Ach, ich wünschte, ich wäre tot!«

 

Joe hatte sich inzwischen gesetzt und sah sich nach einem Kissen um. Als er keines fand, riß er einen Mantel vom Kleiderhaken, knüllte ihn zusammen und legte ihn hinter seinen Rücken. Dann zeigte er mit dem Daumen zur Tür.

 

»’raus mit euch!« befahl er. »Ich werde die Nacht hier schlafen, und ich will nicht länger gestört sein. Ich will auch einmal meine Ruhe haben!«

 

Sie war froh, daß sie entkommen konnte. Wenigstens hatte sie ein paar Stunden Zeit. Mit schweren Schritten ging sie zur Tür. Ihr Gesicht war eingefallen, und sie sah alt aus. Aber ein Gedanke wenigstens war tröstlich: Marie würde heute abend nicht nach Hause zurückkommen. John wollte sie zu einer Schulfreundin bringen.

 

Herman sah ihr besorgt nach, als sie die Treppe hinaufging. Dann hörte er sie in ihrem Zimmer, das über dem Laden lag.

 

Unentschlossen stand er in der Nähe der Tür. Er wollte diesen Eindringling nicht alleinlassen. Mrs. Carawood hatte mit ihm gekämpft und war unterlegen, aber der Kerl hatte auch noch mit ihm zu rechnen!

 

»Was stehen Sie denn noch hier herum – scheren Sie sich zum Teufel!«

 

»Ich geh‘ nicht fort!« sagte Herman ruhig. »Wenn einer hier ‚rausfliegt, dann sind Sie es! Was fällt Ihnen ein, Mrs. Carawood so zuzusetzen! Sie brechen ihr das Herz, und niemand ist so gut zu mir gewesen wie sie …«

 

Die Tränen waren ihm nahe, aber dann ballte er die Fäuste, als sich Joe unsicher erhob.

 

»Also jetzt endlich ‚raus!« sagte Joe und zeigte auf die Tür. »Wenn Sie nicht schnell machen, packe ich Sie beim Kragen und zeige Ihnen mal, was es heißt, sich frech gegen mich zu benehmen. Ich bin Joe Hoad, und mir kommt es nicht auf eine Schlägerei an. Ich habe einmal einem Polizisten das Lebenslicht ausgeblasen! Wenn Sie also jetzt nicht bald verschwinden, dann bekommen Sie es mit mir zu tun!«

 

»Wenn Sie einen Polizisten ermordet hätten, wären Sie ja an den Galgen gekommen. Aber ich weiß, was ich tun werde – ich rufe die Polizei. Sie scheinen ja verrückt zu sein! Wahrscheinlich sind Sie aus irgendeinem Irrenhaus entsprungen!«

 

Joe hatte sich zu sehr aufgeregt. Seine Züge verzerrten sich, die Mundwinkel zuckten, und er rang vergeblich nach Worten.

 

Herman konnte nichts verstehen. Er beobachtete erstaunt, wie der Mann nach dem Herzen griff. Hoads Augen traten aus den Höhlen, als er keine Luft mehr bekam. Er tastete nach dem Gesims über dem Kamin, dann gelang es ihm, ein paar Worte hervorzustoßen.

 

»Schnell … das Fläschchen…!«

 

Herman kam näher.

 

»Schnell … schnell … sonst kratze ich ab!«

 

Mit zwei Schritten hatte Herman den Kamin erreicht.

 

Der Mann starrte auf die Medizin und winkte verzweifelt.

 

»Sie – Sie haben ja auch kein Mitleid und kein Erbarmen mit ihr gehabt«, sagte er und faßte einen schrecklichen Entschluß.

 

Ohne Zögern schraubte er den Verschluß des Fläschchens ab, schüttete den Inhalt in den Kamin und warf die leere Flasche hinterher, daß sie zersplitterte. Im selben Augenblick glitt Joe zu Boden. Herman blieb vollkommen ruhig und lauschte angestrengt. Von oben hörte er kein Geräusch, nur der Regen rauschte draußen auf die Straße. Er drehte das Licht aus, öffnete die Ladentür und schlich dann auf Zehenspitzen zu der Stelle zurück, wo der reglose Körper lag. Mühsam zerrte er ihn zur Tür und schleifte ihn auf den Gehsteig hinaus. Es regnete in Strömen – niemand war zu sehen.

 

*

 

Kapitel 27

 

27

 

Draußen auf der Straße hallten Schritte, die plötzlich anhielten. Ein Polizeibeamter blieb vor der Gestalt stehen, die auf dem Gehsteig lag.

 

»Sie, stehen Sie auf!« sagte er und schüttelte den Mann. »Das ist hier kein Platz zum Schlafen!«

 

Als er den Arm des Mannes losließ, fiel er steif herunter. Der Beamte erschrak, beugte sich über ihn und faßte sein Gesicht an. Es war eiskalt, und als er den Puls fühlen wollte, konnte er nur noch feststellen, daß er nicht mehr schlug.

 

Im nächsten Augenblick schrillte seine Polizeipfeife.

 

Bei der Leichenschau konnte nichts weiter festgestellt werden. Nach den Papieren, die man bei dem Toten gefunden hatte, handelte es sich um einen Joe Hoad, alias Smith, der nach Verbüßung einer langjährigen Strafe aus dem Zuchthaus entlassen worden war. Der Polizeiarzt stellte fest, daß der Mann an einem schweren Herzleiden gelitten hatte, das jeden Augenblick den Tod herbeiführen konnte. Und so stand denn auch auf dem Totenschein, daß der Mann am Herzschlag gestorben war.

 

Mrs. Carawood wurde allgemein für äußerst sentimental und großzügig gehalten, weil sie den Mann mit der Begründung, daß er vor ihrer Haustür gestorben sei, auf ihre Kosten und nicht nach Armenrecht beerdigen ließ.

 

Am Abend nach dem Begräbnis saß sie mit Herman in dem Zimmer hinter dem Laden.

 

»Er ist tot. Das ist das einzige, worauf es ankommt«, sagte Herman.

 

Sie war ganz außer sich, daß er so kaltblütig darüber sprechen konnte. Ihre Augen waren rot vom Weinen.

 

»Es tut mir jetzt doch leid um ihn, Herman.«

 

»Es ist besser, daß er tot ist.«

 

Mrs. Carawood berührte dankbar die Hand des Jungen.

 

»Wir wollen jetzt schlafen gehen«, sagte sie. »Während der letzten Tage haben wir beide wenig Ruhe gehabt. Wie gut, daß Marie in Ascot ist. Wenn ich nur mit Mr. Morlay alles besprechen könnte – er würde mich verstehen!«

 

Mrs. Carawood wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als draußen jemand an der Ladentür rüttelte.

 

»Vielleicht will uns ein Nachbar besuchen? Es ist ja noch nicht allzu spät. Gehen Sie hin und sehen Sie nach, wer es ist.«

 

Schnell hatte Herman das Licht wieder angedreht. Seine Finger zitterten aber doch ein wenig, als er die Tür aufschloß.

 

»Kann ich Sie noch sprechen, Mrs. Carawood?« fragte der Herr, der in den Laden trat.

 

Es war John Morlay. Er kam von Ascot – fast jeden Nachmittag brachte er mit Marie draußen zu.

 

»Ist irgend etwas passiert?« fragte sie besorgt.

 

»Nein, nicht das geringste.«

 

Er war in äußerst froher Stimmung. Sie wollte Herman fortschicken, aber er bat, daß der Junge bleiben sollte. Sie hatte eine Ahnung, daß es jetzt zur Aussprache kommen würde.

 

»Ich mußte Sie heute abend noch sehen, und ich bin davon überzeugt, daß auch Sie mich sprechen wollten. Vielleicht haben Sie mir etwas zu sagen?«

 

Es trat eine kleine Pause ein.

 

»Ich weiß alles über Marie«, fuhr er schließlich fort. »Es gibt nur ein überlebendes Mitglied der Familie Fioli – das ist Emilio Benito Fioli, hier in London als Pater Benito bekannt.«

 

»Was, Sie wissen alles?« fragte sie atemlos.

 

John lächelte.

 

»Pater Benito hat mich wegen Marie aufgesucht. Er war in großer Aufregung, denn er wußte, daß seine Schwester kinderlos gestorben war. Und merkwürdigerweise hatte er auch erfahren, daß Sie ein Töchterchen hatten. Das übrige war leicht zu erraten. Nun sagen auch Sie mir alles.«

 

Allmählich faßte sie sich und erzählte ihm ihre Geschichte bis zu dem Augenblick, in dem sie sich von Joe getrennt hatte und nach oben gegangen war. Sie erzählte von dem schweren Kampf, den sie mit Joe Hoad ausgefochten hatte, und sie sagte ihm, wie sehr sie ihr Kind liebte.

 

John Morlay war es gewohnt, von schlechten Leuten zu hören. Er wußte auch, daß die meisten zu schwach waren, sich von ihrer Vergangenheit frei zu machen, und deshalb erschien ihm dieses Erlebnis wie ein Wunder. Als Mrs. Carawood schwieg, wandte er sich an Herman.

 

»Und was geschah dann?«

 

»Ich sagte ihm, daß er das Haus verlassen sollte!« entgegnete Herman heiser.

 

»Und tat er das nicht?«

 

»Nein, im Gegenteil, er wollte mich hinauswerfen … aber dann wurde er so sonderbar, und … und … dann sagte er, ich sollte ihm seine Medizin geben.«

 

John sah den jungen Mann fest an. »Und was machten Sie?«

 

»Ich habe sie ihm nicht gegeben.«

 

Hermans Worte klangen fast wie eine Herausforderung.

 

John zog die Augenbrauen hoch; man hätte das eventuell Herman als Mord auslegen können.

 

»Wenn Sie ihm die Medizin wirklich gegeben hätten, so hätte das vermutlich auch nichts genützt«, sagte er schließlich.

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie gerade heute abend gekommen sind«, meinte Mrs. Carawood. »Als Joe Hoad mich hier überfiel, dachte ich an Sie. Ich wußte keinen anderen, der mir helfen könnte, und nun … Ich mache mir solche Sorgen …«

 

»Um Marie?«

 

Sie nickte. »Weiß jemand etwas von der Sache?«

 

»Nur wir beide, Herman und Pater Benito.«

 

»Der Pater wird nichts sagen, Herman wird auch schweigen; es muß unser gemeinsames Geheimnis bleiben. Es ist aber noch jemand da, der dahintergekommen ist – ich habe heute abend mit ihm gesprochen. Es ist Polizeiinspektor Peas. Aber der wird Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Wir sind Ihnen damals abends nach Rotherhithe gefolgt.«

 

Sie schrak zusammen und wurde rot.

 

»Ich wurde gerufen, weil er einen schweren Herzanfall hatte, und ich ließ den besten Doktor für ihn kommen. Er wohnte bei einem Mann, dem ich einmal geholfen habe. Ich hatte nur Angst davor, daß Joe Hoad erfahren würde, daß ich Geld hatte. Als ich damals in Ihrem Büro war, habe ich ihn auch gesehen.«

 

John Morlay nickte.

 

»Ja, das habe ich erfahren. Aber Marie darf nichts davon wissen.«

 

»Ihr Mann muß es aber wissen –«, sagte sie.

 

»Der weiß es bereits«, erwiderte John Morlay, und als sie ihn überrascht ansah, fuhr er fort: »Meiner Meinung nach kann die Sache sehr bald in Ordnung gebracht werden.«

 

»Würden Sie … nach allem, was Sie erfahren haben …? Nein, Mr. Morlay, das können Sie doch nicht!«

 

»Aber ich möchte es doch so gern. Ich bin der glücklichste Mann, wenn Sie Ihre Einwilligung geben.«

 

*

 

Julian Lester gelang es mit Hilfe seiner Kenntnisse mühelos, sich die Beute Harrys des Kammerdieners und dessen Kameraden anzueignen. Zwischen den beiden Dieben, die die Westkanadische Bank beraubt hatten, kam es daraufhin zu einer Schießerei, weil jeder glaubte, der andere hätte ihn betrogen. Sie wurden verwundet ins Krankenhaus eingeliefert, und ihre wirren Reden verrieten der Polizei bald, daß sie die gesuchten Bankräuber waren.

 

Julian Lester aber ging ins Ausland. Bevor er London verließ, schrieb er John Morlay noch einen Brief. Darin drückte er mit gewandten Worten aus, daß er das Beste für Johns Zukunft erhoffe und daß er sich immer gern ihrer freundschaftlichen Beziehungen erinnern würde.

 

Aus seinem Abschiedsbrief an Marie sprach verhaltene Zärtlichkeit. Er machte ihr keine Vorwürfe, sondern erklärte, daß manche Dinge eben einfach nicht zu ändern seien. Er würde in ein fernes Land gehen und sie zu vergessen suchen. Aber er wüßte, daß auch die Zeit niemals die Erinnerung an die eine Frau auslöschen könne, die ihm im Leben wertvoll erschienen sei. All dies schrieb er und noch vieles andere.

 

Und dem Briefpapier, das er benützt hatte, entströmte ein feiner Duft.

 

Kapitel 2

 

2

 

Manchmal kamen argwöhnische Leute in Morlays Büro, und gewöhnlich hatten sie auch allen Grund, an der Redlichkeit ihrer Mitmenschen zu zweifeln. Sie wollten den Inhaber des Detektivinstituts beauftragen, diese verdächtigen Mitmenschen zu beobachten, damit belastendes Material für eine Anzeige beim Staatsanwalt herbeigeschafft werden konnte. Aber mitten in ihrer Erzählung unterbrach Mr. Morlay sie gewöhnlich mit einigen Worten des Bedauerns und erklärte, daß er ihr Ersuchen ablehnen müsse. Das geschah besonders, wenn es sich um mißtrauische Eheleute handelte.

 

John Morlay war allerdings tatsächlich Inhaber eines Detektivinstituts, aber er hatte sich spezialisiert und bearbeitete nur Handelsauskünfte. Er beobachtete auch Leute und ihre Tätigkeit, aber nur von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr nachmittags, und in dieser Zeit sündigen die meisten Menschen am wenigsten. Er hatte mit Scheinkapitalisten zu tun, die Fabrikanten ruinieren, mit Schwindelgründungen, mit unehrlichen Kaufleuten, mit pflichtvergessenen Kassierern und anderen Angestellten. Seit fünfzig Jahren befaßte sich die Firma mit diesem einträglichen, aber wenig abwechslungsreichen Beruf.

 

John Morlay saß wieder in seinem Büro, von dem aus er den Hanover Square überschauen konnte, und hatte ganz vergessen, daß es so friedliche, stille Orte wie Ascot gab, wo eine geheimnisvolle junge Gräfin eine Besitzung wie Little Lodge hatte.

 

Selford, ein alter Angestellter, trat in das Privatbüro.

 

»Wollen Sie Mr. Lester sprechen?« fragte er.

 

Wenn John Morlay gesagt hätte, was er dachte, hätte er die Frage verneint, aber so verzog er nur das Gesicht.

 

»Lassen Sie ihn hereinkommen.«

 

John Morlay haßte den jungen Mann zwar nicht gerade, da Julian unter Umständen ganz amüsant und unterhaltend sein konnte, aber er zog doch andere Besucher vor. Julian trug etwas zu elegante Anzüge und juwelengeschmückte Manschettenknöpfe; sein Benehmen war reichlich affektiert. Die Perlnadel, mit der er den Schlips zusammenhielt, war etwas zu groß und auffällig. Morlay konnte auch nicht leiden, daß Julian seinen Hut stets so vorsichtig auf den Tisch legte, als ob dieser eine Kostbarkeit wäre. Er sah auf die Uhr, dann auf seinen Notizblock und stellte mit Befriedigung fest, daß er in einer Viertelstunde einen Besuch erwartete und dann Gelegenheit hatte, Julian zu verabschieden.

 

Lester trat herein und sah wie immer tadellos aus. Kein Stäubchen war auf seinem Jackett zu sehen. Er legte den Hut genauso hin, wie John Morlay es erwartet hatte, und zog dann seine hellen Glacéhandschuhe langsam aus. Die beiden waren vollständige Gegensätze: John Morlay schlank, hager, blauäugig und sonnengebräunt; Julian dagegen mehr der Typ eines hübschen Jungen, etwas ausdruckslose Züge, olivfarbene, glatte Haut und kleiner, modisch geschnittener schwarzer Schnurrbart.

 

»Nehmen Sie Platz«, sagte John. »Sie sehen vergnügt aus – wen haben Sie denn wieder um sein Geld gebracht?«

 

Julian zupfte an den Bügelfalten seiner Hose, bevor er sich niederließ, und bemerkte dann das Lächeln Morlays.

 

»Sie haben gut lachen, Sie sind ein reicher Mann. Ich dagegen bin ein armer Teufel, der zusehen muß, wie er seine Schneiderrechnungen bezahlt.«

 

Morlay zog eine Schublade des Schreibtisches auf, nahm einen silbernen Kasten heraus und bot seinem Besucher eine Zigarre an.

 

»Danke, nein, ich rauche niemals Zigarren. Aber vielleicht gestatten Sie, daß ich eine meiner eigenen Zigaretten rauche? Danke.«

 

Er zog ein Silberetui aus der Tasche, entnahm ihm eine Zigarettenspitze und paßte die Zigarette ein.

 

»Und wie kommt es, daß Sie in diese Gegend Londons verschlagen werden? Es ist doch ein großes Rennen heute nachmittag? Ascot steht vor der Tür, und sicher haben Sie ein Dutzend Einladungen erhalten?«

 

»Ihre Ironie ist an mir verschwendet«, entgegnete Julian und entfernte etwas Asche von seinem Knie. »Ich bin hergekommen, um geschäftlich mit Ihnen zu sprechen.«

 

»Zum Teufel, das ist ja interessant!« John hob erstaunt die Augenbrauen.

 

Julian nickte.

 

»Ich sage es Ihnen natürlich im Vertrauen, und selbstverständlich zahle ich für Ihre Bemühungen. Ich weiß zwar nicht, welche Preise Sie verlangen –«

 

»Ach, darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Aber ich möchte Ihnen vor allem erklären, daß ich keine Nachforschungen in Scheidungssachen anstelle und mich auch nicht mit Werkspionage beschäftige.«

 

Julian atmete tief ein, blies einen Rauchring nach dem anderen zur Decke und beobachtete, wie sie sich an dem weißen Plafond zerteilten.

 

»Ich bin Junggeselle und nehme mich gut in acht; ich finde das Leben auch ohne weiblichen Anhang schon kompliziert genug.«

 

Er rauchte eine Zeitlang schweigend.

 

»Kennen Sie eigentlich die Gräfin Marie Fioli?« fragte er dann plötzlich.

 

John sah ihn überrascht an.

 

»Ich habe von ihr gehört; noch vor ein paar Tagen sprach ich über sie. Aber ich habe sie noch nicht persönlich kennengelernt.«

 

Julian lächelte.

 

»Sie müssen tatsächlich ein Herz von Eis haben. Ich habe Sie doch kurz vor Weihnachten der jungen Dame vorgestellt, und zwar bei Rumpelmeyer.«

 

»Ach, dieses junge Mädchen? Aber die ist doch –«

 

»Sie ist achtzehn«, erklärte Julian geduldig, »und sie kommt diese Woche aus dem Internat, mitten im Jahr. Außergewöhnlich, aber in vieler Beziehung sehr angenehm. Meine verstorbene Mutter heiratete mit siebzehn, mein seliger Vater war nicht älter als achtzehn. Eheschließungen in jugendlichem Alter sind nichts Außergewöhnliches in unserer Familie.«

 

»Da war aber Ihr Vater sehr voreilig, und Sie sind der beste Beweis für meine Behauptung. Soll Marie Fioli mit achtzehn heiraten?«

 

Julian machte eine leichte Bewegung mit seiner Zigarette.

 

»Ich bin noch nicht definitiv entschlossen; es müssen erst noch einige dunkle Punkte aufgeklärt werden, aber sie ist wirklich ein charmantes Mädchen.«

 

»Ich kann mich jetzt auf sie besinnen«, entgegnete Morlay nachdenklich. »Sie ist sehr schön.« Plötzlich sah er auf. »Sie sind doch nicht etwa ihretwegen gekommen?«

 

Julian nickte.

 

»Ich bin arm, John, das habe ich Ihnen ja bereits gesagt. Ich habe ein Einkommen von dreihundert Pfund im Jahr und verdiene mir noch etwas dazu durch die Artikel, die ich für Zeitschriften schreibe. Ich habe keine Eltern mehr, die eine passende Frau für mich aussuchen und – was noch wichtiger ist – auch die nötigen Nachforschungen über die junge Dame anstellen könnten.«

 

John lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte herausfordernd.

 

»Nach und nach begreife ich, was Sie von mir wollen. Ich soll also an Stelle Ihrer Eltern herausbringen, ob das Vermögen der jungen Dame so groß ist, daß es sich lohnt, ihr einen Antrag zu machen?«

 

Zu seinem größten Erstaunen schüttelte Julian Lester den Kopf.

 

»Auf die Höhe ihres Vermögens kommt es durchaus nicht an. Ich bin ganz sicher, daß sie wohlhabend ist, ich habe allen Grund, das anzunehmen. Selbst nach all den Abzügen bleibt genug übrig, daß eine junge Dame ihres Standes glänzend davon leben kann.«

 

»Nicht zu vergessen den jungen Mann, der sie heiratet«, erwiderte John sarkastisch. »Erklären Sie mir aber bitte, was Sie damit sagen wollen, daß ›genug übrigbleibt‹. Ist sie bestohlen worden?«

 

Julian erhob sich, ging zum Fenster und sah düster auf den Hanover Square hinunter.

 

»Ich weiß es nicht. Es ist alles so seltsam. Die alte Frau hat ihr einen kleinen Landsitz bei Ascot gekauft, der ungefähr fünftausend Pfund kostet. Natürlich habe ich die Kaufurkunde nicht gesehen und weiß daher auch nicht, ob das Grundstück auf den Namen von Marie oder auf den Namen der alten Frau eingetragen wurde.«

 

»Von welcher alten Frau sprechen Sie denn?«

 

Julian kehrte zu seinem Stuhl neben dem Schreibtisch zurück, drückte sorgfältig die Zigarette aus und legte die Zigarettenspitze wieder in das Etui, bevor er antwortete.

 

»Haben Sie eigentlich schon einmal etwas von einer Mrs. Carawood gehört?« Als John den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Das kann man auch nicht verlangen. Sie ist die Inhaberin eines Damenmodengeschäfts, das heißt, sie hat im ganzen vielleicht ein Dutzend Filialen in London.«

 

John nickte. Er besann sich jetzt auf die Firma.

 

»Vor neunzehn Jahren war Mrs. Carawood Kindermädchen bei der Gräfin Fioli, einer Witwe, die ein Haus und ein Grundstück in Bournemouth besaß. Die Fiolis sind eine altitalienische Familie. Die Gräfin starb. Ich habe zwar nachgeforscht, konnte aber nicht feststellen, ob sie ein Testament hinterlassen hat. Ich habe nur so viel herausbringen können, daß Mrs. Carawood eine ziemlich reiche Frau wurde, nachdem man ihr die Erziehung des Kindes anvertraute. Vier Jahre später eröffnete sie ihr erstes Geschäft, und in kurzen Abständen folgten mehrere andere. Sie hat jetzt eine ganze Reihe von Läden in London, die alle ziemlich gut gehen und zusammen eine große Einnahmequelle bilden.«

 

»Und was hat das mit dem Kind zu tun?«

 

»Ich muß zugeben«, erwiderte Julian zögernd, »daß sie sehr viel für Marie getan hat. Sie schickte sie auf eine gute Vorbereitungsschule und später in eins der besten Internate Englands. Mit rührender Sorgfalt hat sie sich um das junge Mädchen gekümmert. Aber die Sache scheint doch einen Haken zu haben. Offenbar hat sie das Geld, das die Erbschaft meines armen, kleinen Mädchens ausmacht –«

 

»Offenbar?« unterbrach ihn John. »Es gibt viele Leute, die mit einem kleinen Vermögen angefangen haben und erfolgreiche Geschäftsleute geworden sind. Vor allem möchte ich eines klar wissen: Ist sie mit Ihnen verlobt? Ich meine die junge Gräfin Fioli, über die Sie soviel erzählt haben.«

 

Julian zögerte.

 

»Nein, das gerade nicht.«

 

»Warum soll denn Mrs. Carawood ihr Geld nicht auf ehrliche Weise verdient haben? Das tun doch viele Leute.«

 

»Von einer solchen Frau kann ich es kaum glauben«, erwiderte Julian entschieden. »Sie ist völlig ungebildet, kann gerade lesen und schreiben. Sie werden mich am besten verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß sie auf ihre alten Tage noch unzählige von diesen billigen Schundheften verschlingt.«

 

Eine peinliche Pause entstand.

 

»Und was soll ich denn nun in Ihrem Interesse tun?« fragte John schließlich.

 

Julian fühlte sich etwas unbehaglich.

 

»Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll … Vor allem möchte ich genaue Angaben haben, jedenfalls bestimmtere, als ich sie mir beschaffen konnte. Zunächst über das Geld – dann, wie es investiert ist –«

 

»Nun, allem Anschein nach doch in den Geschäften von Mrs. Carawood«, entgegnete John trocken. »Ich möchte hierüber aber genaue Auskunft haben; ich kann doch nicht eher heiraten, als bis ich sicher weiß, daß –«

 

»Daß sie genug Geld hat, um Sie zu unterhalten«, ergänzte John Morlay grob. »Es tut mir leid, daß Ihr Auftrag nicht zu den Obliegenheiten meines Geschäftes gehört.«

 

Julian zuckte die Schultern, erhob sich und nahm Hut und Handschuhe.

 

»Das fürchtete ich von Anfang an. Aber, bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Marie ist ein sehr hübsches, anständiges Mädchen, und selbst wenn sie so arm wäre wie – wie ich, dann würde das meine Zuneigung zu ihr nicht im geringsten beeinflussen. Nur wäre es nicht recht von mir, sie zu heiraten, wenn ich nicht den Lebensstandard aufrechterhalten könnte … Sie verstehen schon, was ich meine.«

 

»Ja, Sie sind rührend selbstlos – ich weiß es.«

 

John begleitete ihn zur Tür, und als er zurückkam, lächelte er. Es fiel ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Blicke von den Dokumenten und Schriftstücken ab, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Die Inhaberin eines Kleidergeschäfts, die einen schönen Landsitz in Ascot kaufen konnte, erregte natürlich sein Interesse und zugleich auch seinen Argwohn. Er nahm das Telefonbuch zur Hand und fand Mrs. Carawoods Namen unter der Adresse Penton Street Nr. 47, Pimlico. Allem Anschein nach war dies ihr Hauptquartier.

 

John hatte keine Verabredung für den Abend; am nächsten Morgen wollte er nach Marlow fahren. Als er sein Büro verließ und den Hanover Square überquerte, hatte er noch nicht die geringste Absicht, das Geschäft in der Penton Street zu besuchen, und er wußte selbst nicht, wie es kam, daß er plötzlich ein Taxi anrief und dem Chauffeur die Adresse von Mrs. Carawood in der Penton Street nannte.

 

Der Laden war kleiner, als John erwartet hatte, aber das Schaufenster zeigte eine sehr geschmackvolle Auslage. Als er eintrat, wurde er von einer Verkäuferin in einem einfachen schwarzen Kleid empfangen, die ihm gleich mitteilte, daß Mrs. Carawood nicht anwesend sei. »Wenn Sie in einer Privatangelegenheit kommen, rufe ich vielleicht besser Herman.«

 

Bevor er antworten konnte, war sie hinter einer Trennungswand verschwunden, und gleich darauf erschien ein großer, schlanker junger Mann, der eine grüne Arbeitsmütze trug. Er hatte rotblonde Locken und war nicht sehr sauber gekleidet. Auch die Stahlbrille trug nicht dazu bei, seine äußere Erscheinung zu heben.

 

»Wünschen Sie Mrs. Carawood zu sprechen? Es tut mir leid, sie ist nicht hier. Sie ist nach Cheltenham gefahren, um Mylady zu besuchen.«

 

Er sagte dies mit einem gewissen Stolz und warf sich dabei in die Brust. Den Titel betonte er besonders.

 

John Morlay hatte sich inzwischen in dem Geschäft umgesehen, das sehr gut ausgestattet war. Schönes Paneel bedeckte die Wände bis zur Decke; der Boden war mit Parkett ausgelegt. Die Damenkleider und -mäntel hingen in großen Schränken mit Spiegelscheiben. An der hinteren Seite war eine Trennungswand eingebaut, und Herman sah mehrmals dorthin. Zuerst glaubte John Morlay, der Mann hätte ihm etwas vorgelogen und Mrs. Carawood wäre doch zugegen.

 

»Vielleicht kommen Sie ins Büro«, sagte Herman und warf wieder einen Blick in den hinteren Teil des Ladens. Nun verstand John, daß der Angestellte sich nur überlegt hatte, ob er den fremden Herrn dorthin führen könnte.

 

Das Büro war ein verhältnismäßig kleiner Raum. Es standen ein großer Schreibtisch mit Stuhl darin und verschiedene Bücherregale. Die unteren Fächer enthielten die Geschäftsbücher und die Korrespondenz von Mrs. Carawood, während oben Dutzende von billigen Abenteuer- und Kriminalgeschichten lagen.

 

»Mrs. Carawood fährt jetzt sehr oft nach Cheltenham, bis Mylady nach Ascot zieht«, erklärte Herman. »Sie hat noch verschiedenes vorzubereiten.«

 

John lächelte.

 

»Unter Mylady verstehen Sie doch die Gräfin Fioli?«

 

Herman nickte eifrig.

 

»Sind Sie ein Freund von ihr?« fragte er dann.

 

»Das möchte ich nicht gerade behaupten, aber ich kenne die junge Dame oberflächlich.«

 

Herman strahlte.

 

»An Mylady kann man sehen, daß der alte Fenner unrecht hat.«

 

»Wer ist denn Mr. Fenner?«

 

John war erstaunt über die Herzlichkeit, mit der er hier empfangen wurde. Erst später erfuhr er, daß das Faktotum von Mrs. Carawood hohe Achtung vor allen Leuten hatte, die Mylady kannten oder mit ihr verkehrten.

 

»Fenner ist ein Sozialdemokrat. Er kann sehr gut reden, hat Bildung und so weiter.«

 

»Spricht er denn schlecht von Mylady?« fragte Morlay, der sich heimlich amüsierte.

 

Herman schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das tut er nicht! Das ist das einzige Gute an Mr. Fenner. An Königen, an Lords und an Grafen läßt er keinen guten Faden, aber über Mylady hat er noch nie etwas Schlechtes gesagt.«

 

John Morlay lenkte geschickt die Unterhaltung auf Mrs. Carawood und ihre Geschäfte und erfuhr, daß sie insgesamt acht Läden in der Stadt hatte, die alle gut gingen. An diesem Nachmittag war sie nach Cheltenham gefahren; Herman nannte die genaue Abfahrtszeit des Zuges.

 

»Mrs. Carawood liest wohl sehr viel«, erkundigte sich John, während er die Bücherregale betrachtete.

 

Herman lächelte verklärt.

 

»Sie hat jede Geschichte gelesen, die hier steht.« Zärtlich fuhr er mit der Hand über die Rücken der Bücher und Heftromane. »Und ich habe jede gehört!«

 

»Sie wollen wohl sagen, daß Sie auch alle diese Geschichten gelesen haben?«

 

»Nein, ich kann nicht lesen, auch nicht schreiben«, erklärte er einfach. »Aber wenn das Geschäft geschlossen ist, liest Mrs. Carawood mir vor.«

 

»Ist denn Mr. Fenner damit einverstanden?« fragte John Morlay lächelnd.

 

»Es kommt gar nicht darauf an, was er tut oder nicht tut. Er sagt, ich bekäme dadurch falsche Vorstellungen, aber das versteht er nicht.«

 

John Morlay war sehr erstaunt und nachdenklich, als er langsam zum Viktoria-Bahnhof ging. Und dann tat er etwas, was ihm selbst ganz unerklärlich war: Er nahm ein Taxi, fuhr zu seiner Wohnung zurück, packte einen Koffer und ließ sich dann zur Station Paddington bringen, wo er in den Zug nach Cheltenham stieg. Plötzlich hatte er das unwiderstehliche Verlangen, Mrs. Carawood kennenzulernen – vielleicht aber wünschte er noch mehr, Mylady wiederzusehen.

 

Kapitel 20

 

20

 

Diese scherzhafte Bemerkung machte Eindruck auf Julian. Er dachte sofort an den alten Mann, den er in seiner Wohnung ertappt und dessen Adresse er sich notiert hatte.

 

Als er jedoch die verschiedenen Möglichkeiten erwog, sah er wieder davon ab. Die Sache erschien ihm zu gefährlich. Aber langsam und allmählich kam er doch wieder auf diesen Plan zurück. Er selbst wollte ja dieses waghalsige Abenteuer nicht unternehmen; er hatte gerade genug von Herman gesehen und gehört und wollte nicht riskieren, ihm in die Arme zu fallen. Aber er selbst brauchte sich diesen Unannehmlichkeiten ja auch nicht auszusetzen; er konnte doch einen anderen für sich arbeiten lassen, wie er es früher schon getan hatte. Man konnte dem Mann ja genügend Geld zahlen, so daß er schweigen würde. Er überdachte alle möglichen Folgen und Einzelheiten, und je mehr er über den Plan nachsann, desto besser gefiel er ihm.

 

Er schrieb eine kurze Nachricht und brachte sie selbst zur Post. Allerdings mußte er mit der Gefahr rechnen, daß der Brief in falsche Hände fiel, aber auch dann konnte man ihm nichts anhaben. Mit diesem tröstlichen Gedanken wartete er auf eine Antwort.

 

Um neun Uhr klingelte es. Er legte die Zeitung hin, öffnete die Wohnungstür und begrüßte Mr. Smith, der an diesem Abend noch abstoßender aussah als sonst.

 

»Kommen Sie herein«, sagte er.

 

Der Mann nahm die Mütze in die Hand und folgte ihm in das kleine Arbeitszimmer.

 

»Nehmen Sie Platz.«

 

Julian wies ihm einen Stuhl an, der vom Schreibtisch möglichst weit entfernt stand. Es hatte fast den Anschein, als ob ihm die Atmosphäre, die dieser Mann in die Wohnung brachte, unangenehm sei.

 

»Nun, wie geht es Ihnen?«

 

»Ich bin am Verhungern«, erwiderte der andere in schlechter Laune. »Man kann überhaupt keine anständige Arbeit bekommen, Wenn diese Polypen immer hinter einem her sind.«

 

»Polypen? Ach, Sie meinen die Kriminalbeamten von Scotland Yard? Werden Sie denn von denen verfolgt?«

 

»Ja, die schikanieren mich, wo und wann sie nur können«, log Smith glatt. »Wenn man gerade eine Anstellung erhalten könnte, kommen sie dazu und erzählen dem neuen Chef, daß man ein alter Verbrecher ist, der im Zuchthaus gesessen hat. Und dann liegt man wieder auf der Straße.«

 

Das war eines dieser Märchen, mit denen er schon klügere Leute als Julian getäuscht hatte. Aber der junge Mann kümmerte sich im Augenblick nicht darum, was Smith sagte. Er dachte nur an seinen Plan. »Ich habe eine kleine Sache für Sie.«

 

Die Worte waren ihm entschlüpft, bevor er sich richtig darüber klar wurde, daß er damit diesem gefährlichen Mann auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war.

 

Smith verzog das Gesicht.

 

»Leider bin ich schon zu alt und zu schwach, um schwer arbeiten zu können«, protestierte er. »Ich habe die besten Jahre meines Lebens im Gefängnis verbracht, da können Sie nicht von mir erwarten –«

 

»Ich glaube, bei der Sache brauchen Sie sich nicht sehr anzustrengen«, entgegnete Julian bedächtig. »Und die hundert Pfund, die Sie dadurch verdienen können, sind auch nicht zu verachten. Dazu kommt, daß Sie meinen Auftrag innerhalb einer Stunde erledigen können.«

 

Er sah, wie die Augen des anderen interessiert aufleuchteten.

 

»Vor allem muß ich betonen, daß das, was ich Ihnen sage, nichts mit mir persönlich zu tun hat. Es geschieht im Interesse eines Freundes, der von gewisser Seite erpreßt werden soll.«

 

Smith nickte.

 

»Ach, die haben Sie wohl in die Enge getrieben?« fragte er gespannt. »Nun, das kann jedem passieren, daß er in eine solche Patsche kommt. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.«

 

»Ich habe Ihnen doch schon erklärt, daß es sich nicht um mich, sondern um einen guten Freund handelt. Ich weiß nicht einmal, ob alles, was er mir gesagt hat, wahr ist. Es wäre ja auch möglich, daß er sich einen Scherz mit mir macht, vielleicht ist an der ganzen Sache nichts Wahres. Eine gewisse Mrs. Carawood soll Briefe und Dokumente besitzen, die ihm wahrscheinlich schaden können. Besonders in der letzten Zeit ist die Gefahr größer geworden, da er die Absicht hat, sich zu verheiraten.«

 

»Wo wohnt die Frau denn?«

 

»Penton Street siebenundvierzig. Notieren Sie sich das.«

 

Er schob ihm Bleistift und Papier zu, und Smith schrieb mit großer Anstrengung die Adresse auf.

 

»Das liegt in Pimlico – ist es ein kleines Haus?«

 

»Es ist ein Laden, in dem man alte Kleider kaufen kann. Soviel ich erfahren habe, verwahrt sie die Schriftstücke in einem schwarzen Holzkasten, der unter ihrem Bett steht.«

 

»Die Sache ist leicht«, erwidert Smith verächtlich. »Ist ein Wachhund auf dem Grundstück? Aber schließlich kommt es darauf nicht an. Schlafen Männer im Haus?«

 

»Nur ein junger Mann, sonst niemand. Sie selbst … nun, ich könnte es ja so einrichten, daß sie an dem betreffenden Abend nicht zu Hause ist. Nehmen wir einmal an, Sie gehen nächsten Donnerstagabend hin. Mit dem jungen Mann werden Sie schon fertigwerden. Außerdem erinnere ich mich, daß Mrs. Carawood einmal sagte, er gehe immer sehr früh zu Bett. Er schläft in einer Kammer unterm Dach. Das Zimmer von Mrs. Carawood selbst liegt im ersten Stock, und soweit ich unterrichtet bin, ist es die Tür linker Hand, wenn Sie die Treppe hinaufkommen. Ich muß noch sagen, daß der Kasten zwei Schlösser hat –«

 

»Ach, reden Sie doch nicht von Schlössern!« unterbrach ihn Smith. »Damit werde ich leicht fertig. Wenn sie die Papiere in einem Safe aufbewahrt hätte, dann hätte ich vielleicht die ganze Nacht damit zu tun, aber ein Holzkasten! Was für Briefe und Schriftstücke soll ich Ihnen denn bringen?«

 

»Nehmen Sie alle Dokumente, die Sie finden, an sich, stecken Sie sie in eine Ledertasche, bringen Sie sie vor meine Wohnungstür und gehen Sie dann wieder fort. Ich gebe Ihnen fünfzig Pfund vorher, und fünfzig Pfund erhalten Sie, wenn Sie die Sache erfolgreich durchgeführt haben. Sie finden das Geld unter der äußeren Matte vor meiner Wohnungstür. Und hier haben Sie einen Schlüssel zum Haus. Ich warte persönlich auf Sie, und wenn Sie ohne die Papiere kommen, kriegen Sie auch kein Geld.«

 

Smith sah ihn scharf an. »Ist die Sache nicht etwas riskant für Sie?« fragte er dann.

 

Julian wollte nicht daran erinnert werden. Er hatte sich schon überlegt, welches Alibi er vorbringen wollte, wenn die Sache vor die Polizei kommen sollte. Im schlimmsten Fall standen immer noch seine Aussagen gegen die des alten Zuchthäuslers, der wegen Mordes verurteilt worden war, und unter diesen Umständen war es nicht zweifelhaft, wem das Gericht Glauben schenken würde. Die Sache war das Risiko schon wert. Selbst wenn er keinen materiellen Vorteil davon haben sollte, hatte er sich doch in den Augen Maries gerechtfertigt.

 

»Ja, ich weiß wohl, daß ich für meinen Freund ein Risiko auf mich nehme«, sagte Julian ernst. »Aber ich traue Ihnen, daß Sie mich nicht verraten werden.«

 

Mr. Smith versicherte ihn natürlich seiner Anständigkeit.

 

Julian holte eine Whiskyflasche und goß dem Mann ein Glas ein. Smith taute auf, als er die Flasche sah.

 

»Keinen Whisky – ich trinke nur Kognak.« Julian kam seinem Wunsch nach. »Ja, Sie können mir die Sache ruhig anvertrauen, ich war immer zuverlässig. Ach, wenn ich doch nur noch meine Gesundheit und Kraft von früher und ein paar gute Leute hätte, auf die ich mich verlassen könnte.«

 

»Was würden Sie dann anfangen?« fragte Julian.

 

»Dann hätte ich bald ein paar hunderttausend Pfund.«

 

»Ach was, hunderttausend Pfund! Das ist doch Unsinn!«

 

»Nein, wirklich nicht, es ist die reine Wahrheit. Ich weiß eine Sache, auf die manche jahrelang warten würden, aber sie haben niemals Glück, daß ihnen so etwas über den Weg läuft. Ich sage Ihnen, da könnte man ein großes Vermögen machen.«

 

Julian bot dem Mann eine Zigarre an, aber Smith lehnte dankend ab.

 

»Ich habe mit dem Herzen zu tun. Vor einer Woche wäre ich beinahe erledigt gewesen, da wurde sogar ein bekannter Spezialarzt vom Westend gerufen, Sie scheinen das nicht zu glauben, aber es stimmt doch. Sie können alle Leute fragen, die in meiner Straße wohnen.«

 

»Wer hat denn dafür bezahlt?«

 

Smith berichtete eine merkwürdige Geschichte. Er war am Hanover Square gewesen und hatte jemanden beobachtet – eine Frau. Nachher hatte sich dann herausgestellt, daß sie nicht die Person war, die er suchte, sondern eine Herzogin.

 

»Ein Detektiv hat mir das gesagt, der ein Büro in dem Haus hat – er war eigentlich kein richtiger Spürhund, nur so eine Art Privatdetektiv.«

 

Julian richtete sich plötzlich in seinem Stuhl auf.

 

»Heißt er vielleicht Morlay?«

 

»Ja, ganz recht … Ich sah den Namen an der Tür.

 

»Und was passierte dann?«

 

Smith erzählte weiter. Nachdem Morlay ihn verlassen hatte, blieb er selbst noch auf der Straße stehen und starrte auf den Eingang des Hauses, als plötzlich ein Auto vorfuhr. Zwei Männer stiegen aus, die einen schweren Ledersack ins Haus trugen. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die Höhe, aber einen der beiden hatte er erkannt – es war Harry, der Kammerdiener.

 

Mit dem zusammen hatte er im Gefängnis gesessen, und zwar hatten sie benachbarte Zellen. Sie hatten auch in derselben Abteilung gearbeitet. Damals hatte ihm Harry von einer großen Sache erzählt, einem Ding, das er drehen wollte, sobald er wieder in Freiheit war. – Harry war nämlich Amerikaner und der geschickteste Bankräuber, den es auf der Welt gab.

 

»Als ich ihn sah, wußte ich, daß sie das Ding gedreht hatten«, sagte Smith. »Das ist ihre Methode: Einige Wochen, bevor sie den Plan ausführen, mieten sie ein feines Büro, und dort leben sie, nachdem sie das Geld aus der Bank geholt haben. Und ich sage Ihnen, ich bin froh, daß Harry mich in dem Augenblick nicht erkannt hat – sonst wäre ich jetzt eine Leiche.«

 

Julian lauschte atemlos. Smith ahnte nichts von dem Einbruch in der Westkanadischen Bank, da er keine Zeitungen las. Aber Julian wußte, daß die Diebe eine große Summe erbeutet hatten.

 

»Harry hat mir gesagt, man kann immer ein möbliertes Büro mit einem Safe mieten – das heißt, manchmal kaufen sie auch ein Geschäft für den Zweck, um einen anständigen Firmennamen zu haben. Das haben sie nämlich in diesem Fall getan. Und wenn dann nach einem Monat alles vorüber ist, bringen sie ihre Beute in Sicherheit. Da staunen Sie! Ja, das ist eine Sache. Die Polizei sucht sie überall, und die halten sich direkt vor ihrer Nase auf! Wenn ich noch jung wäre, würde ich das auch so machen.«

 

Julians Gedanken wirbelten durcheinander. Er vergaß sogar den Auftrag, den er dem Mann gegeben hatte.

 

*

 

Kapitel 21

 

21

 

»Kann ich Sie möglichst bald treffen?«

 

Marie war am Apparat. John Morlay war vom Frühstückstisch aufgestanden und wunderte sich, wer ihn schon morgens um halb acht anrief.

 

»Aber um Himmels willen, schlafen Sie denn überhaupt nicht?«

 

»Ich möchte mit Julian sprechen«, erklärte sie.

 

»Sie sind aber wohl die einzige, die einen solchen Wunsch hegt. Warum zerbrechen Sie sich Ihr Köpfchen deswegen?«

 

»Nanny hat eine furchtbare Nacht gehabt«, sagte sie mit zitternder Stimme.

 

Morlay vermutete richtig, daß dann auch Marie kaum geschlafen hatte.

 

»Aber Julian wird Ihnen doch auch nicht helfen können. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich zu Ihnen.«

 

»Nein, ich muß Julian sprechen«, erklärte sie hartnäckig. »Ich werde dafür sorgen, daß diese infamen Verdächtigungen Nannys aufhören.«

 

Er zögerte mit der Antwort, bis sie schließlich ungeduldig fragte, ob er noch am Apparat sei.

 

»Ja. Ich werde es so einrichten, daß Sie mit Julian sprechen können. Ich darf Sie aber doch begleiten?«

 

»Sie dürfen nur bis zu seiner Wohnung mitkommen. Ich will ihn allein sprechen«, entgegnete sie zu seiner größten Überraschung.

 

Sie trafen sich auf der Penton Street. Mrs. Carawood hatte sich hingelegt, um etwas zu ruhen, wie ihm Marie erzählte, und er bemerkte, daß auch sie ziemlich übernächtigt aussah. Schwere Schatten lagen unter ihren Augen. Er gab ihr den Rat, noch etwas zu schlafen.

 

»Nein, das werde ich nicht tun. Dazu bin ich zu unruhig. Ich habe mich furchtbar über Julian geärgert«, sagte sie müde. »Ich hätte ihm eigentlich eine Ohrfeige geben sollen, aber dazu war ich im Augenblick nicht imstande.«

 

»Es war auch besser so«, beruhigte er sie.

 

John Morlay war erstaunt, daß sie nicht entrüsteter über den Mann war, der Mrs. Carawood derartig beschimpft hatte. Im Gegenteil, sie sprach ruhig und vollkommen leidenschaftslos.

 

»In gewisser Weise tut er mir sogar leid. Aber ich muß ihm ein für allemal klarmachen, daß er sich nicht mehr für mich und mein Vermögen interessieren soll.«

 

»Das wird Ihnen bei Julian sehr schwer gelingen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Das glaube ich nicht«, sagte sie so selbstbewußt und zuversichtlich, daß er sie erstaunt ansah.

 

Während sie neben ihm im Auto saß, stellte er eine Frage. Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, er hat mir keinen Antrag gemacht. In gewisser Weise ist er sogar sehr nett und liebenswürdig. Er hat sich sogar nicht einmal die Mühe gegeben, sein Interesse an mir zu verheimlichen, dabei hat er mir aber nicht die Hand gedrückt oder versucht, mich zu küssen oder sonst etwas zu unternehmen, wogegen Sie in Ihrer Eigenschaft als Schutzengel protestieren könnten.«

 

Sie verabredeten, daß John draußen auf dem Treppenabsatz vor Julians Wohnung warten sollte, während sie hineinging, um mit ihm zu sprechen. Aber Julian brachte diese Pläne zum Scheitern. Als er in seinem bunten Morgenrock an der Wohnungstür erschien, gab er sich nicht damit zufrieden, sondern nötigte sie beide, näher zu treten. John war über diese Taktlosigkeit sehr betreten.

 

»Ich weiß wohl, ich habe mich schrecklich benommen. Es war entsetzlich von mir, aber das wollen wir jetzt vergessen. Bitte, kommen Sie doch herein. Ich werde versuchen, mein Unrecht wieder gutzumachen, soweit mir das möglich ist –«

 

Dann schloß er die Tür hinter ihnen.

 

»Wenn Sie eine Entschuldigung von mir verlangen, dann ist Ihre Forderung schon im voraus gewährt. Es war nicht richtig von mir, daß ich nach der Höhe des Vermögens fragte, aber offengestanden hat mich diese Frage um Ihretwillen sehr bewegt, und ich weiß auch jetzt noch nicht, ob Sie tatsächlich eine reiche Erbin oder das bedauerliche Opfer der Intrigen einer schlechten Frau sind.«

 

»Das hört sich ja beinahe so an, als ob Sie hier auf der Bühne stünden und irgendeine Rolle spielten«, sagte John, der trotz alledem die Kaltblütigkeit des Mannes bewunderte.

 

Julian führte die beiden in das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer, wo er am Abend vorher Mr. Smith empfangen hatte. Die Fenster standen auf, und das Sonnenlicht fiel herein.

 

»Sie sind ja in merkwürdig guter Stimmung«, meinte John.

 

Auch Marie machte eine derartige Bemerkung. Im stillen dachte sie aber, daß ihm nach der Unterredung mit ihr schon anders zumute sein würde.

 

»Warum soll ich denn nicht vergnügt sein? Das Leben liegt doch noch vor mir! Können Sie mir übrigens sagen, John, ob in Ihrem Bürohaus irgendwelche Räume leerstehen?«

 

Diese Frage überraschte Morlay.

 

»Wollen Sie denn ein Geschäft aufmachen?«

 

»Ich möchte einen ruhigen Platz mieten, wo ich mein Buch fertigschreiben kann«, erklärte Julian.

 

»Vor ein paar Monaten hätten Sie noch Büroräume in der zweiten Etage haben können. Das Büro wurde von einer Gesellschaft gemietet, die meines Wissens jetzt bankrott gegangen ist. Die Leute haben sie weitervermietet –«

 

»Kann ich Sie einmal allein sprechen, Julian?« unterbrach Marie diese lebhafte geschäftliche Unterhaltung.

 

»Aber gewiß«, erwiderte Julian und öffnete die Tür des kleinen Speisezimmers. »Morlay, Sie werden sicher ein paar Bücher finden, die Sie interessieren. Außerdem ist die Tür ja nicht zugeschlossen. Wenn Sie Hilfeschreie hören, können Sie also schnell ins Zimmer stürzen und Gräfin Marie wie ein Held retten.«

 

»Es tut mir unendlich leid, Marie«, sagte er, als die beiden allein waren. »Ich habe einen großen Fehler gemacht, und ich verspreche Ihnen, daß es nicht wieder vorkommen soll. Ich werde mich bessern. Aber wenn ich meine Behauptungen beweisen kann, wenn Sie tatsächlich um Ihr Vermögen gebracht worden sind –«

 

»Sie werden sich um diese Sache nicht mehr kümmern. Und wenn Sie noch dabei sind, Nachforschungen anzustellen, so wird das sofort aufhören«, erklärte sie ruhig.

 

Julian lächelte.

 

»Ich habe doch aber Ihre Interessen wahrzunehmen –«

 

»Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten.«

 

Sie nahm ein kleines rotes Lederetui aus ihrer Handtasche und reichte es ihm.

 

Er runzelte die Stirn, betrachtete es und öffnete es dann.

 

»Das ist ja der Ring, den ich Ihnen geschenkt habe. Wollen Sie ihn mir zurückgeben?«

 

Sie nickte.

 

»Das ist aber sehr unfreundlich. Vermutlich hat das alte Weib –«

 

»Ich dulde nicht, daß Sie Mrs. Carawood ein altes Weib nennen. Sie werden sehr höflich sein, was sie betrifft. Auf keinen Fall bekommen Sie sie wieder zu sehen, und Ihre Detektive werden keine weiteren Nachforschungen anstellen. Mich werden Sie auch nicht wiedersehen, und wenn Sie meinem Rat folgen, verlassen Sie in allernächster Zukunft das Land.«

 

Er betrachtete sie durch halbgeschlossene Augenlider, denn er hatte den drohenden Unterton ihrer Stimme wohl gehört.

 

»Warum sagen Sie mir das alles?«

 

»Als Sie mir den Ring gaben, sagten Sie doch, ich sollte ihn erst am Morgen betrachten. Ich war aber neugierig, öffnete das Kästchen schon am Abend und – fand einen anderen Ring darin. Es war nicht der, den ich Ihnen zurückgegeben habe.«

 

Das Reden fiel ihr im Augenblick schwer. Sie erwartete, daß er heftig protestieren würde, aber er schwieg.

 

»Der Ring, den ich an dem Abend sah, hatte einen langen, rechteckigen Saphir, der von vier Brillantklauen gehalten wurde. Nach der Beschreibung habe ich sofort gesehen, daß es sich um den Ring handelte, der ein paar Tage vorher aus dem Juweliergeschäft von Cratcher gestohlen worden war. Sie haben einen bösen Fehler gemacht und mir das falsche Etui überreicht. Die Kästchen haben dieselbe Größe und sind auch beide mit rotem Maroquinleder bezogen. Als Sie dann in die Stadt zurückfuhren, entdeckten Sie Ihren Irrtum und kehrten deshalb nach Ascot zurück. Sie nahmen nachts den Saphirring von meinem Frisiertisch und schickten mir am nächsten Tag per Post den Ring mit dem Rubin zu, den Sie vorher für mich bestimmt hatten.«

 

Julian sprach nicht, sein Gesicht glich einer Maske. Er errötete nicht einmal, sondern preßte nur die Lippen etwas mehr als sonst zusammen.

 

»Deshalb sage ich, Sie müssen England verlassen. Es ist vielleicht nicht recht, was ich tue; ich müßte wahrscheinlich zur Polizei gehen und der Behörde mitteilen, was ich herausgefunden habe!«

 

»Werden Sie das tun?« Seine Worte klangen hart wie Stahl.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß Sie ein solches Doppelleben führen, aber es ist nicht meine Sache, Sie zu verurteilen.«

 

»Weiß Morlay davon?«

 

»Natürlich weiß er das nicht«, entgegnete sie zornig. »Er würde nicht so ruhig bleiben, wie ich es jetzt bin.«

 

Julian holte tief Atem.

 

»Ich danke Ihnen«, sagte er schlicht. »Ich werde alles tun, was Sie gesagt haben, aber es dauert wahrscheinlich noch ein oder zwei Wochen, bis ich alles soweit abgewickelt habe, daß ich abreisen kann. Ich muß eine ganze Menge von Geschäften liquidieren.«

 

Sie reichte ihm die Hand, und er drückte sie.

 

»Es wäre möglich, daß ich Sie noch einmal sehen muß. Seien Sie nicht ungehalten, wenn ich noch einmal einen Besuch machen sollte. Aber ich verspreche Ihnen im voraus, daß ich Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten werde – ebensowenig Mrs. Carawood.«

 

Als die beiden gegangen waren, fiel ihm plötzlich ein, daß er Mr. Smith einen Auftrag gegeben hatte, der in offensichtlichem Widerspruch zu seinem Versprechen stand.

 

Den ganzen Tag versuchte er, mit Smith in Verbindung zu kommen. Dann kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er schließlich doch seinen Plan ausführen könnte. Er war zu neugierig, was der Inhalt des schwarzen Kastens sein mochte.

 

In der Zwischenzeit hatte er sehr viel zu tun. Er stellte die Büroräume fest, die Harry, der Kammerdiener, gemietet hatte, und fuhr nach Balham, um den früheren Inhaber zu sprechen. Es war ein armer Erfinder, der mit großen Hoffnungen eine Firma gegründet hatte, im Laufe der Monate aber einsehen mußte, daß er die Räume nicht halten konnte. Schließlich hatte er sie einem liebenswürdigen Amerikaner zur Verfügung gestellt, der nicht nur die Büros, sondern auch die Einrichtung mietete.

 

»Ich habe die Möbel nicht verkauft, weil ich immer noch hoffte, von neuem beginnen zu können, aber jetzt sind so traurige Verhältnisse eingetreten, daß ich dazu gezwungen werde.«

 

»Deswegen bin ich gerade hergekommen. Ich bin bereit, Ihnen die Möbel abzukaufen.«

 

Nach einigem Hin und Her holte der Erfinder ein Aktenstück und alle Rechnungen und Quittungen über seine Anschaffungen. Darunter befand sich auch der Lieferschein für den Rexor-Safe. Die Nummer des Schrankes war auf dem Schriftstück vermerkt; Julian notierte sie auf seiner Manschette.

 

Am Nachmittag reiste er nach Sheffield und hatte dort eine Besprechung mit dem Geschäftsführer der Rexor-Company, der ein alter Freund von ihm war. Julian hatte sich schon oft mit ihm über Schlösser und Geldschränke unterhalten, ja, er hatte ihm damals sogar zugesagt, einen Artikel über seinen Besuch in der Fabrik in einer Zeitung erscheinen zu lassen, aber das hatte er natürlich später vergessen.

 

»Merkwürdigerweise«, erklärte Julian, bevor er das Büro verließ, »habe ich neulich einen Ihrer Schränke gekauft, aber leider nur einen Schlüssel erhalten.«

 

»Wissen Sie zufällig die Nummer?«

 

Als Julian Lester nach London zurückfuhr, hatte er einen Duplikatschlüssel in Besitz.

 

Am nächsten Tag besuchte er das Haus, um sich persönlich zu orientieren. Die beiden Leute, die das Büro gemietet hatten, kamen morgens um neun. Sie sahen sehr respektabel aus und trugen große Hornbrillen. Auch erschienen sie nicht zusammen, sondern tauchten aus verschiedenen Richtungen auf. In dem Haus erzählte man sich, daß sie im Begriff wären, mehrere Konfitürengeschäfte zu gründen. Große Mengen von Süßigkeiten wurden abgeliefert und in ihrem Büro verstaut.

 

In der Hinterstraße lag ein Nebengebäude, das man leicht von einem Balkon aus erreichen konnte … Ein weit vorstehendes Geländer erleichterte die Absicht … Nach allem, was er sah, mußte es nicht schwer sein. Nur schade, daß die Nächte so kurz waren.

 

Julian mietete sich eine Garage in derselben Hinterstraße. Der Eigentümer verlangte eine hohe Anzahlung, aber Mr. Lester machte nicht die geringsten Schwierigkeiten, zahlte gern, kam kurz darauf mit einem eleganten Sportwagen zurück und abonnierte bei der nahen Tankstelle, daß der Wagen regelmäßig dort gereinigt werden sollte.

 

Er sah die beiden Leute, als sie am Abend das Büro verließen, und fragte sich, wer von beiden wohl Harry der Kammerdiener sein mochte. Soweit er sich besinnen konnte, gab es diesen Spitznamen schon seit langem in der Unterwelt, und darüber wunderte er sich. Wahrscheinlich gab es einen wirklichen Harry, der ein verflucht scharfer Junge sein mußte; einer dieser Leute hier bediente sich wahrscheinlich des Namens nur aus reiner Eitelkeit.

 

Die Zeitungen schrieben sehr viel über den Einbruch in der Westkanadischen Bank. Zwei verdächtige Leute wurden in Southampton verhaftet. Julian wünschte, daß die Polizei weiterhin solche Fehler machte. Die Beute, die den Räubern in die Hände gefallen war, betrug etwa hundertachtzigtausend Pfund. Privat hatte er sich davon überzeugt, daß in den Bekanntmachungen der Polizei die Nummern der Banknoten nicht aufgeführt worden waren. Man hatte sich darauf beschränkt, die Anzahl und Höhe der gestohlenen Werte anzugeben. Aus den Zeitungen ersah er, daß Inspektor Peas die Bearbeitung des Falles in Händen hatte; er gab sich die allergrößte Mühe, das Verbrechen aufzuklären. John traf ihn zufällig und erfuhr, wie die Sache vor sich gegangen war. Ein Nachtwächter war in Verdacht geraten, der seit dem Diebstahl verschwunden war.

 

»Es müssen amerikanische Verbrecher gewesen sein, und wenn ich mich nicht sehr täusche, ist Harry der Kammerdiener daran beteiligt«, sagte Peas. »Zur Zeit ist er nicht in Frankreich – seine Bekannten erklären hartnäckig, er sei nach Berlin gefahren. Das heißt so viel, daß er sich in London aufhält. Wenn diese Galgenvögel mit dem Geld entkommen, habe ich meinen Beruf verfehlt und reiche meine Kündigung ein. Ich glaube, wenn die gewußt hätten, daß ich den Fall untersuche, wäre es nicht zu dem Einbruch gekommen. Wie geht es eigentlich Mrs. Carawood? War sie vor kurzem in Rotherhithe? Und wie geht es denn dem armen Mr. Hoad?«

 

»Wer, zum Teufel, ist denn Hoad?«

 

»Er nennt sich zur Zeit nicht Mr. Hoad, sondern manchmal Smith, manchmal Salter. Er hatte einen Anfall von Herzschwäche an dem Abend, als wir nach Rotherhithe gingen. Und jemand hat so viel Geld gehabt, den teuersten Spezialisten für ihn zu bezahlen.«

 

»Meinen Sie Mrs. Carawood?«

 

Peas nickte.

 

»Ja! Wahrscheinlich ist er mit ihr verwandt, aber sie wollte nicht haben, daß er erfährt, wie gut es ihr geht. Deshalb hat sie sich damals diese Lumpen angezogen. Solche Geheimnisse sind sehr bald enthüllt, wenn sich ein erstklassiger Beamter damit beschäftigt.«

 

»Wie steht es dann mit dem Einbruch in der Westkanadischen Bank?« fragte John boshaft.

 

»Das ist auch kein Geheimnis«, entgegnete Peas ruhig. »Das ist einfach ein Einbruch unter Anwendung von Gewalt.«

 

*