18

 

Mr. Fenner fühlte sich nicht recht wohl. Eines Nachmittags sprach er in dem Laden in der Penton Street vor und erzählte, daß es seinem Arbeitsherrn nicht gut gehe. In den letzten Tagen waren die Kräfte des Mannes mehr und mehr geschwunden, aber trotzdem besaß er noch einen gewaltigen Lebenswillen und verhältnismäßig viel Ausdauer und Kraft.

 

»Alles im Leben erreicht seinen Höhepunkt und kommt zu einem Ende«, erklärte Mr. Fenner düster. »Wenn der alte Mann stirbt, muß ich mir eine neue Stelle suchen. Ich könnte es nicht übers Herz bringen, länger in dem Geschäft zu arbeiten, wenn er das Zeitliche segnet. Das Leben ist augenblicklich sehr hart für mich, Herman«, sagte er und nahm auf einem Stuhl Platz.

 

»Hier haben Sie ein Kissen, dann sitzen Sie weicher«, erwiderte der junge Mann, der Mitleid mit ihm hatte.

 

Mr. Fenner betrachtete sich in dem großen Spiegel, dem er gegenübersaß.

 

»Herman, halten Sie mich eigentlich für einen hübschen Mann?« fragte er dann nachdenklich.

 

»Ich soll Ihr Aussehen beurteilen?« erwiderte Herman skeptisch.

 

»Ja, Sie sollen mir sagen, ob ich noch gut aussehe.«

 

Herman sah ihn kritisch von der Seite an.

 

»Wollen Sie mich etwa auf den Arm nehmen?«

 

»Nein, ich frage ganz im Ernst«, entgegnete Fenner mit rauher Stimme.

 

Herman schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, aber ich habe niemals gefunden, daß Sie so besonders gut aussehen – ich meine vor allem Ihr Gesicht.«

 

»Nun, darauf kommt es gerade an«, entgegnete Fenner kurz und ärgerlich. »Würden Sie dann vielleicht sagen«, fuhr er jedoch in sanfterem Ton fort, »daß ich intelligent aussehe?«

 

»Was ist das?« fragte Herman.

 

»Sehe ich so aus, als ob ich sehr klug wäre?«

 

Herman wußte sich nicht recht zu helfen. Er sagte schließlich, daß er keine Ahnung habe, wie kluge Leute aussähen.

 

Es fiel Mr. Fenner schwer, seinen Mißmut zu unterdrücken.

 

»Aber Herman, Sie haben doch schon Illustrierte angesehen. Da müssen Sie doch wissen, wie intelligente Leute aussehen.«

 

»Ich betrachte mir nur die großen Verbrecher und Mörder, die anderen interessieren mich nicht. Mr. Fenner, wissen Sie, ich könnte tatsächlich einen Mord begehen, ob Sie es glauben oder nicht! Wenn jemand Mrs. Carawood etwas zuleide täte, würde ich ihn glatt umbringen. Und dann würde ich dabeistehen und zusehen, wie er stirbt!

 

Mr. Fenner lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter.

 

»Wenn es darauf ankäme, würden Sie es doch nicht tun. Das dürften Sie ja auch gar nicht«, sagte er, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. »Ich muß sagen, daß ich Mrs. Carawood auch sehr gern habe, aber …«

 

»Oder wenn jemand der jungen Gräfin etwas täte. Die haben Sie doch auch sehr gern?«

 

Fenner mußte erst überlegen. Bei dem jungen Mädchen war es doch anders: Für Marie Fioli hatte er nicht soviel übrig.

 

Die beiden wurden gleich darauf in ihrer Unterhaltung gestört. Die Tür öffnete sich langsam: Ein tadellos gekleideter junger Mann trat in den Laden und nickte der Verkäuferin lächelnd zu. Julian Lester war zu einem Entschluß gekommen.

 

Das Auftauchen Johns gefährdete seinen Plan. Wenn er sich schon vor einer Woche schnell über den Vermögensstand Maries informieren wollte, so war die Sache jetzt noch eiliger für ihn geworden. Die letzten Bemerkungen des jungen Mädchens hatten ihm gezeigt, daß John Eindruck auf sie gemacht hatte.

 

Kurz drauf erschien auch Mrs. Carawood im Laden; sie hatte vom Wohnzimmer aus gesehen, daß Julian aus einem Taxi stieg. Mr. Fenner beobachtete die beiden eifersüchtig.

 

»Wer ist denn eigentlich dieser Fatzke?« fragte er Herman aufgeregt. »Er scheint ja mit Mrs. Carawood sehr vertraut zu sein!«

 

Julian hatte natürlich keine Ahnung, was der Mann von ihm dachte, und nahm auch nicht die geringste Notiz von ihm. Er ging sofort auf sein Ziel los.

 

»Nein, Marie ist nicht hier, Mr. Lester. Sie ist mit Mr. Morlay ausgegangen.«

 

»So?« Er strich nachdenklich den Schnurrbart. »In letzter Zeit bekomme ich sie recht wenig zu sehen.«

 

»Sie scheinen sich ja sehr für sie zu interessieren«, erwiderte Mrs. Carawood und sah ihn kühl an.

 

»Selbstverständlich interessiere ich mich für sie. Sie ist doch eine romantische Erscheinung.«

 

»Ich wüßte nicht …«, begann Mrs. Carawood.

 

»Aber selbstverständlich ist sie romantisch«, entgegnete Julian überzeugt und lauter, als notwendig gewesen wäre. »Es ist doch zum Beispiel schon romantisch, daß sie als Mitglied einer großen, altitalienischen Adelsfamilie von einer Engländerin erzogen wurde, die sowohl ihre Amme als auch ihre Pflegerin war. Wenn ich recht verstanden habe, ist sie doch seit ihrer frühesten Kindheit in Ihrer Obhut gewesen?«

 

»Ja, das stimmt.«

 

»Und ihre Mutter hat Sie zu ihrer Pflegerin gemacht?«

 

Sie merkte, daß er aufs Ganze ging, und erschrak. Sie hatte ihn immer freundlich behandelt, in der Voraussetzung, daß er ihr helfen würde, wenn es darauf ankam. Daß er einmal die freundliche Maske fallen lassen könnte, war ihr undenkbar erschienen. Aber Julian war im Augenblick alles gleich.

 

»Marie hat sich in der letzten Zeit sehr merkwürdig gegen mich verhalten. Ich weiß nicht, ob man mich ins schlechte Licht bei ihr gesetzt hat oder ob etwas geschehen ist, wovon ich nichts weiß. Deshalb bin ich jetzt direkt zu Ihnen gekommen. Sind Sie nun also ihre Pflegerin oder ihr Vormund?«

 

Sein Ton klang unfreundlich und hart, als ob er ein Staatsanwalt wäre, der einen Angeklagten ausfragt.

 

»Ihre Mutter hat mich zu Ihrem Vormund gemacht«, erwiderte sie langsam und entschlossen.

 

»Dann haben Sie doch sicher ein Dokument, ein Schriftstück darüber – und sicher hat die Gräfin auch ein Testament hinterlassen?«

 

Mrs. Carawood antwortete nicht.

 

»Sicher haben Sie doch mindestens eine Kopie von dem letzten Willen ihrer Mutter?«

 

»Ich habe keine Kopie«, sagte sie schließlich, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Dokumente und Papiere besitze ich nicht. Sie gab die Tochter in meine Obhut und bat mich, für sie zu sorgen, weil sie keine anderen Verwandten auf der Welt hatte.«

 

Er bemerkte, daß sie plötzlich über die Schulter schaute. Im nächsten Augenblick eilte sie an ihm vorbei und öffnete die Tür für Marie. Das junge Mädchen lachte herzlich. John Morlay folgte ihr in den Laden. Er schien die Ursache ihrer Heiterkeit zu sein, denn er trug eine große Puppe im Arm und sagte, daß das eine weitere Zierde der Villa in Ascot sein würde.

 

Julian beobachtete die beiden und folgte aufmerksam ihrer Unterhaltung. Sie waren bei einem Tanztee gewesen, und Marie beteuerte, daß John ausgezeichnet tanze. Die Puppe war ihr von dem Vorstand des Klubs geschenkt worden. Es war nicht die Gelegenheit, große Enthüllungen zu machen, und ein anderer, der nicht ein so dickes Fell gehabt hätte wie Julian Lester, würde die Auseinandersetzung sicher verschoben haben. Aber er hielt es für seine Pflicht, zu sprechen. Er glaubte, daß man schlecht über ihn geredet hatte, und machte dafür Mrs. Carawood verantwortlich. Marie trat auf ihn zu.

 

»Julian, ich habe Sie ja tagelang nicht gesehen!«

 

Sie war offen und freundlich zu ihm.

 

»Es scheint schon Jahre her zu sein«, entgegnete er und drückte lächelnd ihre Hand. »Wo haben Sie den Ring?«

 

Sie warf den Kopf zurück.

 

»In Ascot.«

 

»Hat er Ihnen gefallen?«

 

»Ich habe Ihnen doch einen Brief geschrieben und darin alles gesagt.«

 

Julian sah auf die Puppe.

 

»Was würden Ihre Vorfahren zu dergleichen sagen!« meinte er ironisch zu John gewandt. »Die werden sich noch in ihren Gräbern umdrehen.«

 

»Der letzte meiner Vorfahren wurde verbrannt, also kann er sich nicht im Grab umdrehen«, entgegnete John leichthin, nahm Julian beim Arm und ging mit ihm in eine ruhige Ecke. »Vor einer Woche wollten Sie mich beauftragen, Auskünfte für Sie einzuholen. Ich sehe, daß Sie jetzt einen anderen Mann für diesen Zweck gefunden haben.«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Julian und hob erstaunt die Augenbrauen.

 

»Gestern habe ich Sie in der Oxford Street gesehen. Sie sprachen mit dem Privatdetektiv Martin.«

 

Julian Lester lachte.

 

»Aber John, Sie sind ja wirklich ein guter Detektiv!«

 

»Ich möchte Ihnen nur eins sagen«, erklärte John und wählte sorgsam die Worte. »Mir scheint Ihr Interesse für Mrs. Carawood und Marie doch die Grenzen des Anstands zu –«

 

Julian unterbrach ihn. »Zu überschreiten? Sie halten das für unverschämt?«

 

»Nein, so harte Worte wollte ich nicht gebrauchen. Ich bin immer etwas geradeheraus und sage den Leuten genau, was ich denke. Was wollen Sie denn eigentlich herausbekommen, wenn Sie Detektive zur Beobachtung von Mrs. Carawood engagieren?«

 

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein«, sagte Julian und sah sich um. Aber Marie war mit Mrs. Carawood hinter die hölzerne Trennwand getreten und konnte nicht hören, was sie sprachen. »Ich bin darauf gefaßt, von dem Auskunftsbüro die Mitteilung zu bekommen, daß Mrs. Carawood um große Summen betrogen worden ist – oder daß sie selbst ein Vermögen betrügerischerweise beiseite gebracht oder wenigstens große Teile davon unterschlagen hat. Ich habe die Register in Somerset House nach dem Testament durchsucht, aber ich konnte es nicht finden. Die Fiolis hatten einen exzentrischen Charakter, sie verloren eine große Summe bei einem Bankenzusammenbruch vor etwa fünfzig Jahren, und seit der Zeit war bekannt, daß sie allen Banken mißtrauten und ihr Geld in bar aufbewahrten. Ich nehme deshalb an, daß Maries Mutter vor ihrem Tode Mrs. Carawood eine große Summe aushändigte. Ich will durch meine Erkundigungen nur feststellen, wo dieses Geld aufbewahrt wird und wie groß das Vermögen ist. Und im Anschluß daran habe ich die Absicht, Mrs. Carawood zu zwingen, sich über ihre Funktion als Vormund auszuweisen.«

 

John nickte nachdenklich.

 

»Ist das denn im Augenblick notwendig? Glauben Sie denn, daß Marie überhaupt noch einen Heiratsantrag von Ihnen annimmt, wenn Sie sich ihr jetzt erklären?«

 

Julian wurde durch diese Frage etwas, außer Fassung gebracht.

 

»Ich möchte dagegen fragen: Meinen Sie denn, daß Sie mehr Glück hätten als ich?« erwiderte er grob. »Soll die ganze Sache darauf hinauslaufen, daß Sie glauben, mich bei ihr in den Schatten gestellt zu haben? Vielleicht haben Sie mit dieser Annahme nicht unrecht, aber selbst wenn es so wäre, lasse ich mich doch von meinem Vorhaben nicht abbringen. Unter diesen Umständen könnten Sie mich als einen Mann betrachten, der kein weiteres persönliches Interesse an der Aufklärung der Verhältnisse hat, sondern auch nur für Marie arbeitet – wären Sie mit dieser Wendung einverstanden?«

 

John schüttelte den Kopf.

 

»Nein, davon bin ich nicht überzeugt.« Julian lachte.

 

»Trotzdem werde ich im Interesse Maries handeln und deshalb mit allem Nachdruck darauf dringen, die Wahrheit herauszubekommen.«

 

»Und wie wollen Sie denn die Wahrheit herausbringen?«

 

Herman kam in dem Augenblick mit einem großen schwarzen Holzkasten in den Laden und setzte ihn auf den Tisch. Julian war sprachlos, denn er erkannte ihn nach der Beschreibung, vor allem an den beiden Schlössern.

 

*