Kapitel 10

 

10

 

Er ließ Sands viel Zeit, denn er brauchte selbst Ruhe, um seinen Plan auszudenken. So kam er zur Charles Street, aber nicht auf dem direkten, geraden Weg, sondern in einem großen Kreis. Er ging in die kleine Hinterstraße, die an der Rückseite der großen Häuser entlangführte. Manche hatten einen direkten Zugang von dort aus, zum Beispiel das Haus von John Sands.

 

Es dauerte einige Zeit, bis Jimmy seinen Plan zur Ausführung bringen konnte, weil plötzlich ein verspätetes Auto in die kleine Nebenstraße einbog, und es verging noch eine halbe Stunde, bis der Chauffeur alles in Ordnung gebracht hatte und die Garage wieder abschloß.

 

Die Mauer, die das Grundstück auf der Hinterseite umgab, war über zweieinhalb Meter hoch und oben mit Glasscherben besetzt. Aber etwas weiter die Straße hinunter schloß sich daran eine andere Mauer an, deren Oberfläche glatt war. Jimmy sprang, so hoch er konnte, und es gelang ihm, die Oberkante mit den Händen zu erreichen. Dann zog er sich hinauf und saß bald rittlings oben. Auf der anderen Seite stand ein niedriger Schuppen für Fahrräder, der allerdings zum Nachbarhaus gehörte. Jimmy ging auf der Trennungsmauer zwischen beiden Häusern entlang und sprang dann herunter. Als er ein paar Schritte gegangen war, befand er sich auf einem mit großen Steinen ausgelegten Hof, von dem aus eine kleine Seitentür ins Innere des Hauses von John Sands führte. Daneben lag ein großes, mit schweren Eisengittern versehenes Fenster. Zu seinen Füßen sah er ein Gitter, das allem Anschein nach die Entlüftungsanlage des Kellers verschloß, Er versuchte vorsichtig, die Tür zu öffnen, und zu seinem größten Erstaunen gab sie dem Druck seiner Hand sofort nach. Entweder hatte Mr. Sands selbst vergessen, sie zu schließen, oder irgendein Dienstbote war nachlässig gewesen. Jimmy befand sich nun in einem Gang. Auf der einen Seite lag die Küche, auf der anderen das Wohnzimmer. Er blieb stehen, zog seine Schuhe aus und überlegte sich, welche Erklärung er geben sollte, wenn Mr. Sands ihn als Einbrecher in seinem Haus vorfand.

 

Er selbst wußte nicht, was er hier zu finden hoffte, aber er war fest davon überzeugt, daß er Anhaltspunkte entdecken würde, durch die er schließlich Faith Leman aus dem Gefängnis befreien konnte. Jimmy hatte bei der Zeitung stets die Berichte über die Kriminalfälle und Kriminalprozesse geschrieben, und es war ihm verschiedene Male gelungen, die Lösung für die verwickeltsten Fälle zu finden. Er kannte die Verbrecher, die in der City von New York tätig waren, und die kühne, unerschrockene Art, mit der er selbst an Verbrecherjagden teilnahm, hatte ihn bis zu einem gewissen Grade berühmt gemacht. Es war nicht das erstemal, daß er ohne weiteres in fremde Häuser eindrang. Einmal war er dabei einem berüchtigten New Yorker Revolverhelden in die Hände gefallen.

 

Im Haus herrschte vollkommene Ruhe. Wenn Sands zurückgekehrt war, mußte er gleich schlafen gegangen sein. Jimmy entdeckte nicht den geringsten Lichtschimmer.

 

Langsam tastete er sich an der Wand entlang, bis er an eine Ecke kam. Ein unheimliches Gefühl erfaßte ihn plötzlich, so daß er zitterte. Grausen packte ihn, als er einen Augenblick später wieder den langgezogenen Schreckenslaut hörte. Wie angewurzelt blieb er stehen. In der nächsten Sekunde hörte er Schritte und versuchte, sich zu verstecken. Es gelang ihm auch, den Seitengang zu erreichen, aber im gleichen Augenblick rannte er gegen ein Tablett, das merkwürdigerweise an die Wand gelehnt stand. Mit furchtbarem Poltern fiel es auf den mit Fliesen ausgelegten Boden, aber nichts rührte sich im Haus. Er drückte sich hart gegen die Wand. Die Schuhe hatte er unter dem Arm, und alle seine Muskeln waren gespannt. Er war bereit, im nächsten Augenblick Hals über Kopf zu fliehen, aber die Schritte, die er eben noch gehört hatte, waren verstummt. Er wartete ein paar Sekunden und wollte eben wieder vorsichtig um die Ecke spähen, als sich eine große schwere Hand auf seine Schulter legte und ihn zurückzog.

 

Plötzlich flog etwas an seinem Gesicht vorbei. Er fühlte es an dem Luftzug. Dann legte sich eine Hand auf seinen Mund, und jemand zischte ihm ins Ohr:

 

»Kommen Sie. Machen Sie keinen Lärm.«

 

Trotz seines Schreckens hatte er das Gefühl, gehorchen zu müssen.

 

Der Fremde führte ihn den Korridor entlang auf den hinteren Hof und schloß die Tür.

 

»Schnell über die Mauer!« flüsterte er.

 

Jimmy folgte der Aufforderung. Kaum stand er schweratmend auf der Straße, als der andere auch schon neben ihm auftauchte.

 

»Ziehen Sie Ihre Schuhe nicht an! Machen Sie, daß Sie ins Freie kommen.«

 

Jimmy lief, so schnell er konnte, zum südlichen Ende der Charles Street. Dort blieb er stehen und zog eilig die Schuhe an.

 

»Ich weiß ja gar nicht, wer Sie sind«, sagte er dann.

 

Der andere lachte, und Jimmy Cassidy sah ihm ins Gesicht.

 

»Donnerwetter, Blessington!«

 

Der Detektiv nickte.

 

»Jimmy, seien Sie froh, daß Sie mit dem Leben davongekommen sind«, erwiderte der Inspektor ernst.

 

»Wie kamen Sie denn ins Haus?«

 

»Ich war in der Speisekammer und beobachtete Sie. Aber in dem Haus konnten Sie nichts finden, ich habe die Zeit gründlich ausgenützt, während Sie mit Mr. Sands spazierengingen. Ich kam gerade an, als Sie durch die Diele zur Haustür gingen.«

 

»Haben Sie diesen schrecklichen Laut gehört? Es muß irgendein Schmerzensschrei gewesen sein.« Jimmy zitterte, als er daran dachte.

 

»Ich hörte ihn. Es war furchtbar.«

 

»Was war denn das eigentlich?«

 

»Das wollte ich ja auch entdecken, während Sie fort waren. Ich hörte es, als ich über die Mauer stieg, und erschrak auch zu Tode. Es klang wie der Schrei einer Katze.«

 

»Die Erklärung gab mir auch Sands. Aber sagen Sie, was tun Sie eigentlich hier? Haben Sie John Sands im Verdacht?«

 

»Ich traue niemand, dafür bin ich schließlich Polizeibeamter. Und ich habe Sie im Verdacht, Jimmy, daß Sie eine große Dummheit begehen. Heute abend sind Sie ja noch einmal mit heiler Haut davongekommen. Haben Sie denn nicht bemerkt, daß in Ihrer Nähe ein weißer Schrank stand, von dem Sie sich scharf abhoben?«

 

Jimmy hatte das wohl bemerkt, der Tatsache aber weiter keine Bedeutung beigelegt.

 

»Man konnte Sie gegen den hellen Hintergrund deutlich sehen. Ich fürchtete, daß unser Freund Sie treffen würde.«

 

»Er hat doch nicht geschossen.«

 

»Nein, er hat keine Pistole gebraucht. Es klang, als ob es ein Pfeil gewesen wäre. Haben Sie nicht gesehen, daß an allen Wänden seines Arbeitszimmers solche Waffen hängen? Ach nein, in seinem Arbeitszimmer sind Sie ja noch nicht gewesen, das können Sie nicht gesehen haben. Wenn Sie aber einmal hinkommen, betrachten Sie sich einmal die Waffensammlung, die er dort untergebracht hat. Darunter befinden sich viele gute Bogen und Pfeile, und Sands versteht es allem Anschein nach, sie zu gebrauchen. Ich möchte fast annehmen, daß er einige Zeit in Ostasien oder im Malaiischen Archipel gelebt hat. Die Holzmasken über seinem Schreibtisch stammen bestimmt von den Papuas.«

 

»Aber konnten Sie denn wenigstens herausfinden, was dieser entsetzliche Schrei zu bedeuten hatte? Es war eigentlich mehr ein Stöhnen, als ob jemand furchtbare Qualen und folternde Schmerzen zu ertragen hätte.«

 

»Nein, das konnte ich nicht herausbringen. Darin habe ich Pech gehabt. Ich hoffte immer, es noch einmal zu hören. Das erstemal hörte ich den Schrei, als ich über die Mauer kletterte, um ins Haus einzudringen, und als ich ihn zum zweitenmal hörte, war es zu spät. Sie hatten ja diesen entsetzlichen Spektakel unten im Gang gemacht. Es war höchste Zeit, daß wir beide das Haus verließen.«

 

»Der Schrei schien aus dem Keller zu kommen«, meinte Jimmy.

 

»Das habe ich zuerst auch geglaubt, aber ich habe den Keller durchsucht und nichts Verdächtiges gefunden. Schließlich nahm ich an, daß es tatsächlich eine Katze gewesen sein müßte.«

 

»Aber es war keine Katze, darauf kann ich einen Eid leisten«, erwiderte Jimmy erregt. »Was suchten Sie eigentlich in dem Haus, Blessington?«

 

»Ich wollte etwas mehr über Mr. Sands erfahren, und ich hielt seine Abwesenheit für eine glänzende Gelegenheit dazu. Dieser Fall ist so kompliziert, daß ich mir irgendwelche anderen Anhaltspunkte verschaffen muß. Übrigens werden Sie sich freuen, wenn ich Ihnen sage, daß wir Miss Leman aus der Haft entlassen haben.«

 

»Sie haben Sie freigelassen?« rief Jim froh und drückte ihm die Hand. »Wo ist sie denn jetzt?«

 

»Sie ist in ihr Hotel zurückgekehrt und liegt jetzt hoffentlich im Bett. Machen Sie keine Dummheiten, Jimmy. Die Lage ist immerhin noch kritisch genug für sie. Ich müßte sie morgen wieder verhaften, wenn weitere Verdachtsmomente gegen sie auftauchten. Jimmy, Sie sind doch noch ein großes Kind!«

 

Jimmy achtete nicht auf diese Bemerkung, er war ganz aufgeregt vor Freude.

 

»Ich bin ganz außer mir. Wenn Sie erst jemand auf freien Fuß lassen, sind Sie auch davon überzeugt, daß er unschuldig ist.«

 

»Ganz unrecht haben Sie nicht. Wir konnten ihre Angaben, daß sie die kleine Flasche mit der Blausäure tatsächlich durch die Post erhalten hat, nachprüfen. Glücklicherweise hat Miss Leman der Aufwartefrau die Flasche gezeigt und sie um Rat gebeten, wie man das Reinigungsmittel benützen könnte. Die beiden überlegten sich dann, daß sie es vorläufig beiseite stellen wollten, bis sie sich genau davon überzeugt hätten, was es wäre. Das war Punkt eins. Punkt zwei: Die verschleierte Dame in Schwarz, die Sie aus Lemans Haus kommen sahen, ist auch von einem unserer Beamten beobachtet worden. Er hat sie ganz deutlich gesehen; ihr Gesicht konnte er allerdings auch nicht erkennen. Sie blieb an der Ecke von Berkeley Square stehen, um einen Brief in einem länglichen Kuvert in den Kasten zu werfen. Der Beamte hat auch bemerkt, daß sie diesen länglichen Brief in der Hand trug, als sie die Wohnung verließ. Nun ist natürlich nichts Auffälliges daran, daß eine Frau aus einem Haus in der Davis Street herauskommt, um einen Brief in einen Postkasten am Berkeley Square einzuwerfen. Unser Mann dachte deshalb auch nicht mehr daran, bis der Mord bekannt wurde. Und drittens habe ich mir überlegt, daß jemand das andere Glas Kognak ausgetrunken haben mußte, das für Mr. Sands eingeschenkt worden war. Der oder die Täterin muß das Glas wieder gefüllt haben, Sie können sich doch noch darauf besinnen, daß die Kognakflasche auf dem Büfett stand?«

 

Jimmy nickte.

 

»Weiterhin konnte ich – zum Glück für Miss Leman – feststellen, daß sie die beiden Likörgläser in Gegenwart der Aufwartefrau eingoß und die Flasche wieder ins Büfett stellte. Unter diesen Umständen war es natürlich vollkommen ausgeschlossen, die junge Dame noch weiter in Haft zu behalten. Da noch kein direkter Haftbefehl gegen sie ergangen war, habe ich es auf meine eigene Kappe genommen, sie freizulassen. Das war um so leichter, als noch keine Anklage gegen sie erhoben war.«

 

»Gott sei Dank!« erwiderte Jimmy erleichtert. »Nun kann ich wenigstens ruhig schlafen. Es wäre leider grausam, sie noch zu stören, und doch möchte ich sie gerade jetzt wiedersehen.«

 

»Hören Sie doch auf mit solchen Dummheiten«, entgegnete Blessington. »Verliebte Leute scheinen tatsächlich alle einen Klaps zu haben. Nehmen Sie sich zusammen, Sie sind doch sonst so ein tüchtiger Kerl! Im andern Fall würde ich ja schließlich nicht Ihre Bekanntschaft pflegen. Sie sind darauf aus, eine große interessante Geschichte für Ihre amerikanischen Blätter zu schreiben, und ich bin darauf aus, große Verbrechen aufzudecken. Sie wissen bedeutend mehr über Verbrechen und Verbrecher als Ihre Kollegen, und ich wäre sehr froh, wenn Sie mir bei der Aufklärung dieses Falles helfen würden.«

 

»Selbstverständlich, soviel ich nur kann. Aber es erscheint mir noch fraglich, ob auch Sie mir helfen wollen«, sagte Jimmy etwas grimmig. »Sie haben ganz recht, ich bin darauf aus, eine Millionengeschichte zu schreiben –«

 

»Den Stoff dazu sollen Sie schon bekommen. Und ich sage Ihnen, Jimmy, es wird eine Sensation geben. Vor allem müssen Sie mir aber dabei helfen, diese Dame in Schwarz wiederzufinden. Und dann müssen wir den Brief erhalten, den sie in den Briefkasten am Berkeley Square geworfen hat.«

 

Kapitel 11

 

11

 

John Sands hatte einen Abscheu vor Unannehmlichkeiten und Störungen. Aus dem Grunde konnte er auch alle möglichen anderen Leute nicht leiden, die von der gewöhnlichen Norm abwichen. Aber es kam ihm nicht darauf an, ob seine Mitmenschen ehrliche Bürger waren oder Verbrecher. Für ihre moralischen Eigenschaften interessierte er sich nicht im mindesten. Hauptsache war, daß sie ihn nicht in seinem Wohlleben störten. Er beschwerte sich auch nicht darüber, daß Einbrecher in die Häuser eindrangen, sondern nur darüber, daß derartige Leute seinen Frieden und seine Ruhe stören konnten. Solange die Verbrecher bei anderen Leuten ihre Künste versuchten, hatte er nichts dagegen. Der Fleischer, der ihn belieferte, oder der Chauffeur eines Taxis mochten seinetwegen die größten Verbrecher sein, wenn sie nur ihn nicht belästigten. Ein Verbrecher war in seinen Augen nicht schlimmer als ein Wäscher, der seine Hemden durchgerieben hatte oder die Kragen mit dem Plätteisen verbrannte.

 

Am nächsten Morgen ging er um elf Uhr zur Polizeiwache und beklagte sich.

 

»Ich möchte die Polizei nicht unnötig stören«, sagte er, »aber ich muß doch einen Einbruch zur Anzeige bringen, der in meinem Haus verübt wurde. Soviel ich weiß, ist das nötig, um das Eigentum wiederzuerlangen, das mir von den Einbrechern gestohlen wurde. Ich muß allerdings zugeben, daß ich bis jetzt nichts vermißt habe.«

 

»Ganz recht«, bemerkte Blessington, der zufällig zugegen war und Sands‘ Worte durch die offene Tür gehört hatte. »Wann ist denn der Einbruch passiert?« fragte er, als er in den Wachraum trat.

 

»Heute morgen in aller Frühe«, entgegnete John Sands und nickte dem Detektiv zu. »Guten Morgen, Mr. Blessington. Man möchte fast sagen, daß das Sprichwort recht hat: ›Wenn man einmal der Polizei in die Hände fällt, kommt man nicht mehr von ihr los.‹«

 

»Nanu, so schlimm ist es doch nicht! Sie haben doch erst das zweitemal mit uns zu tun.«

 

Blessington war ein großer, hagerer Mann mit einem bronzebraunen Gesicht, der nur sehr selten lächelte. Aber jetzt zwinkerte er John Sands vertraulich zu.

 

»Es war etwa zwei Uhr in der Nacht«, fuhr Sands fort. »Ich kam gerade von einem Spaziergang mit Mr. Cassidy zurück und ging in mein Arbeitszimmer, einen kleinen Raum, in dem ich gewöhnlich meine schriftlichen Arbeiten erledige. Er liegt direkt neben meinem Schlafzimmer. Plötzlich hörte ich unten im Haus ein Geräusch.«

 

Blessington nickte.

 

»Wo liegt denn Ihr Haus?« fragte er unschuldig.

 

»Charles Street Nummer 79. Ein kleines, bescheidenes Gebäude. Ich dachte, Sie würden es kennen.«

 

»Charles Street Nummer 79«, wiederholte der Inspektor und machte sich eine genaue Notiz. »Es tut mir leid, daß Ihnen das passiert ist. Erzählen Sie nur ruhig weiter, Mr. Sands.«

 

»Ich habe keinen Revolver im Haus, so nahm ich einen Bogen und ein paar Pfeile von der Wand. Ich habe nämlich eine Sammlung, die ich von einem Aufenthalt in Borneo mitbrachte, und ich kann ziemlich gut mit diesem Bogen schießen. In dem dunklen Gang sah ich einen der Einbrecher und schoß auf ihn, aber allem Anschein nach habe ich ihn verfehlt. Es müssen zwei Leute gewesen sein; sie flohen in den kleinen Hof, der auf der Rückseite des Hauses liegt, kletterten über die Mauer und entkamen.«

 

»Sind Sie denn den beiden gefolgt?«

 

»Nein.« Mr. Sands lächelte. »Dazu war ich nicht in der Stimmung.«

 

»Aber nun eine wichtige Frage: Vermissen Sie etwas?«

 

»Nein. Ich habe die beiden wohl gestört, bevor sie ihr Vorhaben ausführen konnten.«

 

»Gut. Dann werde ich mir einmal Ihr Haus ansehen, Mr. Sands«, erklärte Blessington sofort.

 

»Aber ich gebe Ihnen doch die Versicherung, daß ich nichts vermisse«, widersprach Sands schnell.

 

»Das ist ganz gleich. Wenn hier auf der Polizei ein Einbruch gemeldet wird, dann gehört es zu unserer Pflicht, das Haus genau zu inspizieren. Fingerabdrücke oder sonstige Spuren an den Fensterscheiben könnten einen Anhaltspunkt dafür geben, wer die Täter waren.«

 

»Nun gut. Es ist mir allerdings sehr unangenehm, wenn die Polizei in mein Haus kommt.« Als Sands dies sagte, lachte er leise. »Aber wenn Sie wollen, können Sie ruhig mitkommen.«

 

Für Blessington war dies eine außerordentlich günstige Gelegenheit. Er hätte niemals gedacht, daß Sands über diesen mitternächtlichen Besuch eine Anzeige bei der Polizei erstatten würde. Nun begleitete er Sands nach dessen Wohnung und unterhielt sich unterwegs mit ihm über die kommende Kricketsaison. Außerdem besprach er die Möglichkeiten und Aussichten, die das Rennpferd des Königs beim nächsten Derby haben würde. Diese beiden Themen interessieren alle guten Engländer aufs höchste, und Mr. Sands schien mit der Gesellschaft des Detektivs sehr zufrieden.

 

Die Durchsuchung des Hauses war bald erledigt.

 

Blessington ging durch das Speisezimmer und die große Diele; er stieg die Treppe hinauf, inspizierte Schlaf-, Bade- und Arbeitszimmer und sah sich schließlich noch den Keller an.

 

In einem großen Gang blieb er stehen.

 

»Was stand denn früher hier?« fragte er und deutete auf die verstaubte Wand.

 

Er wußte aber sehr wohl, was in der vorigen Nacht noch dort gestanden hatte.

 

»Ein Schrank, der hier immer im Weg war.«

 

»Was hatte er denn für eine Farbe?«

 

»Er war weiß gestrichen.«

 

»Haben den etwa die Einbrecher gestohlen?«

 

Mr. Sands glaubte, der Inspektor wolle einen Witz machen.

 

»Nein, das nicht. Ich habe ihn heute morgen fortschaffen lassen. Ich telefonierte einem Spediteur und ließ ihn zu meinem Landhaus bringen.«

 

»Zeigen Sie mir doch einmal Ihre Waffensammlung und auch den Bogen und den Pfeil, den Sie in der vergangenen Nacht benützten.«

 

Sands sah ihn erstaunt an.

 

»Aber was wollen Sie denn damit? Das würde doch nicht den Einbrecher, sondern höchstens mich selbst belasten!«

 

»Trotzdem möchte ich mir die Waffen einmal ansehen. Ich wollte vorhin schon fragen, als wir oben waren.«

 

»Ich hatte allerdings auch die Absicht, sie Ihnen zu zeigen, aber Sie gingen so schnell weiter. Nun, ich werde sie holen.«

 

Die Wände des unteren Ganges waren mit gelber Farbe gestrichen. Durch ein Fenster schien die Sonne herein und erleuchtete die eine Wand hell. Und gerade in der Mitte dieses Sonnenflecks war schwach ein Fingerabdruck zu erkennen. Leute, die nicht gewohnt waren, auf solche Dinge zu achten, hätten ihn sicherlich übersehen.

 

»Das ist Blut«, sagte Blessington zu sich selbst und wartete, bis er Sands die Treppe hinaufgehen hörte. Schnell nahm er dann seine kleine Miniaturkamera aus der Westentasche und stellte genau auf den Fingerabdruck ein. Er machte im ganzen drei Aufnahmen, und als Mr. Sands mit Bogen und einem Pfeil in der Hand zurückkam, war der Fotoapparat längst wieder verschwunden.

 

»Sehr hübsche Waffen«, meinte Blessington. »Der Bogen ist ja reich geschnitzt und verziert. Ich bin noch nicht ganz davon überzeugt, daß wir recht haben, wenn wir Feuerwaffen gebrauchen. Unter manchen Umständen ist so eine lautlose Schußwaffe bei weitem vorzuziehen. Glauben Sie, daß Sie den Mann getroffen haben?«

 

»Hoffentlich habe ich ihn verfehlt. Zuerst war ich allerdings furchtbar ärgerlich, aber es würde mir doch leid tun, wenn ich einen anderen Menschen mit diesen bösen Waffen verletzen sollte. Sehen Sie sich einmal die Pfeilspitzen an, die haben ganz gemeine Widerhaken.«

 

Der Inspektor nahm einen der Pfeile in die Hand, betrachtete die gezackte Spitze und gab ihn Sands zurück.

 

»Haben Sie übrigens etwas von Mrs. Leman gehört?« fragte er auf dem Rückweg zum Wohnzimmer. »Die Verhandlung der Totenschau ist für übermorgen angesetzt.«

 

»Merkwürdigerweise habe ich heute morgen einen Brief von ihr erhalten, und ich muß sagen, ich mache mir jetzt ziemliche Sorgen.«

 

Er öffnete ein kleines Geheimfach im Paneel und nahm einen Brief heraus, der in Paris zur Post gegeben war. Der Stempel war allerdings nicht leserlich.

 

»Es liegt Ihnen natürlich etwas daran, den Inhalt des Schreibens zu erfahren«, sagte Sands und reichte Blessington den Bogen.

 

Oben stand: »Café de Lyon«; das Datum war zwei Tage alt.

 

 

Lieber Mr. Sands! Ich bin des Aufenthalts in Paris so müde, daß ich mich entschlossen habe, von hier fortzugehen. Diese Zeilen schreibe ich in einem Restaurant, eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges. Ich fahre von hier aus nach Marseille; was ich dann unternehme, weiß ich noch nicht. Vielleicht gehe ich nach Narbonne, nach Barcelona; vielleicht ziehe ich aber auch San Remo und später Rom vor. Es hat keinen Zweck, meinem Mann einen Brief zu schreiben, denn er antwortet doch nicht. Würden Sie daher so liebenswürdig sein, ihm von mir auszurichten, welche Reisepläne ich habe. Ich danke Ihnen vielmals für die tausend Pfund, die Sie mir geschickt haben und die ich ordnungsgemäß erhielt. Vielleicht wird es Ihnen schwerfallen, meine Interessen zu vertreten. Ich schicke Ihnen deshalb eine Generalvollmacht, die nach meiner Trauung ausgefertigt wurde. Daraus ersehen Sie, daß Sie alle Schritte in meinem Interesse unternehmen können, die Sie für notwendig halten.

 

Mit verbindlichen Grüßen

Margaret Leman

 

 

»Sehen Sie, hier ist die Vollmacht«, sagte Sands.

 

»Das Schriftstück ist in englischer Sprache aufgesetzt.«

 

»Ja, es wurde noch für Mrs. Leman ausgefertigt, bevor sie das Land verließ. Sie wünschte das ausdrücklich. Es ist das erstemal, daß ich diese Vollmacht ausgeliefert erhalte. Es paßt mir aber wenig, daß sie mir das Schriftstück zugesandt hat, denn es ist eine Menge unangenehmer Arbeit damit verbunden.«

 

Blessington hielt das Dokument gegen das Licht. Die Wassermarke war zwei Jahre alt, und die Vollmacht war von Harry Leman selbst unterzeichnet und bestätigt.

 

»Sie wurde unmittelbar nach der Trauung aufgesetzt«, bemerkte Sands. »Mrs. Leman hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit, sie praktisch zu verwenden, und ich wünschte nur, sie hätte sie auch in Frankreich gelassen.«

 

Blessington reichte wortlos das Schriftstück zurück.

 

»Kann ich Sie in zwei Stunden noch einmal besuchen?«

 

»Es würde mir ein großes Vergnügen bereiten.«

 

»Haben Sie sich an der Hand verletzt?« fragte der Inspektor und zeigte auf den Verband.

 

»Ja. Ich habe gestern schon mit Cassidy darüber gesprochen. Er fragte mich auch, und ich sagte ihm, daß ich von einem Hund gebissen worden bin.«

 

Eine Stunde später kehrte Blessington schon zurück.

 

»Ich möchte einmal Ihre Küche sehen«, sagte er.

 

Mr. Sands führte ihn hin.

 

Blessington hatte gar nicht die Absicht, den Raum zu betreten, aber auf dem Weg kam er durch den gelbgestrichenen Gang mit dem blutigen Fingerabdruck. Er sah wohl die Wand, aber der Abdruck war inzwischen verschwunden. In der Zwischenzeit hatte Sands die Stelle mit Farbe überstrichen.

 

»Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben«, sagte der Hauseigentümer, als sich der Detektiv die Küche angesehen hatte. »Nachdem Sie heute morgen fortgingen, habe ich hier eine Entdeckung gemacht, der ich entnehme; daß ich doch einen der beiden Einbrecher verwundet habe.«

 

Er zeigte auf die Wand.

 

»Ich habe dort einen Blutfleck gefunden und deshalb die Stelle neu gestrichen. Erst später kam mir der Gedanke, daß Sie vielleicht ein Interesse daran hätten. Es schien mir fast so, als ob es ein Fingerabdruck wäre.«

 

»Wenn es nicht ein Fingerabdruck war, ist es unwichtig.«

 

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten«, erwiderte Sands. »Ich verstehe sehr wenig von solchen Dingen. Zuerst hielt ich es nur für einen Flecken.«

 

Blessington kehrte zur Haustür zurück. Draußen wartete in einiger Entfernung ein Taxi. Jimmy war im Wagen geblieben. Als Blessington zu ihm zurückkehrte, runzelte er die Stirn.

 

»Fahren Sie nach Scotland Yard«, sagte er zum Chauffeur, sprang in den Wagen und schlug die Tür laut hinter sich zu.

 

»Jimmy«, sagte er und seufzte, »dieser Kerl ist furchtbar schwierig zu behandeln. Ich weiß nicht, was ich von ihm denken soll. Manchmal macht er sich direkt verdächtig, und dann klärt sich hinterher wieder alles zur Zufriedenheit auf. Sobald ich glaube, ich habe ihn gefaßt, hat er auch schon ein unanfechtbares Alibi bereit.«

 

»Nun, und was ist mit dem weißgestrichenen Schrank?« fragte Jimmy, nachdem er erfahren hatte, was sich bei dem ersten Besuch zugetragen hatte.

 

»Den hat er heute morgen mit einem Lastauto aufs Land schaffen lassen. Übrigens hat er mir das selbst gesagt, und außerdem hat der Detektiv, der das Haus bewacht, es bestätigt. Unglücklicherweise hat er den Namen des Spediteurs nicht festgestellt, aber wir haben immer noch die Möglichkeit, das später nachzuholen.«

 

»Warum legen Sie so großen Wert auf den weißgestrichenen Schrank?«

 

»Ach, das ist weiter nicht wichtig«, erwiderte Blessington.

 

Als sie nach Scotland Yard kamen, entließen sie den Chauffeur und gingen sofort zur fotografischen Abteilung.

 

»Sind die Abzüge fertig?« fragte Blessington den diensttuenden Beamten.

 

»Jawohl, sie sind sehr klar und deutlich ausgefallen.« Bei diesen Worten überreichte er dem Inspektor drei Abzüge, die dieser näher ans Licht hielt.

 

»Ja, sie sind einigermaßen gut ausgefallen. Jimmy, sehen Sie einmal her. Hier sind die Fingerabdrücke. Man kann jede Linie genau sehen. Wenn jetzt meine Vermutung richtig ist, können wir feststellen, ob Mrs. Leman gestern abend spät im Haus von John Sands war. Er versuchte mir ja vorzuschwindeln, daß sie im Süden Frankreichs umherreist.«

 

»Das wäre großartig«, entgegnete Jimmy. »Geben Sie mir doch bitte auch einen Abzug – danke schön.«

 

Er nahm ihn und steckte ihn in seine Brieftasche.

 

»Das ist alles Material für die Millionengeschichte«, sagte er dann. »Enden damit vorläufig unsere Feststellungen?«

 

»Ja, wir können den Abdruck nicht eher gebrauchen, als bis wir Mrs. Leman gefunden haben, und ich weiß auch noch nicht genau, wozu das führen soll. Es ist ja schließlich kein Verbrechen, wenn man sich in London aufhält, während andere Leute behaupten, man wäre in Paris oder in Südfrankreich.«

 

»Zeigen Sie noch einmal her«, bat Jimmy und nahm einen der beiden Abzüge. Er betrachtete ihn nachdenklich und sah dann Blessington an. Es war ihm eine gute Idee gekommen.

 

»Wer mag denn eigentlich diese Mrs. Leman sein? Es wäre doch möglich, daß sie zur Unterwelt gehört und eine Verbrecherin ist. Wir haben doch hier eine große Kartothek von all den Leuten, die einmal verurteilt worden sind oder einmal in Händen der Polizei waren.«

 

Blessington kniff die Augen zusammen. »Das ist ein glänzender Gedanke, Jimmy. Wir wollen sofort einmal nachsehen!«

 

Sie gingen beide zur Registratur und händigten dem Beamten einen Abzug aus. Dieser betrachtete den Fingerabdruck genau, machte ein paar Notizen auf eine Karte, nachdem er durch ein Vergrößerungsglas die einzelnen Merkmale genau herausgesucht hatte, und reichte die Karte dann dem Sergeanten. Nach kaum zehn Minuten kam der Beamte mit einem großen Karton zurück, auf dem eine Anzahl von Fingerabdrücken und Fotografien zu sehen waren. Diese verglich der Beamte mit dem Foto.

 

»Sehen Sie, wir haben sie schon gefunden. Das ist der Zeigefinger. Die Abdrücke sind vollkommen gleich.«

 

»Wer ist es denn?« fragte Blessington begierig.

 

»Margaret Maliko«, sagte der Beamte, »eine Gefangene, die zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, aber im Oktober vorletzten Jahres aus dem Gefängnis von Aylesbury entwich.«

 

Kapitel 12

 

12

 

»Dann ist die Sache ja soweit klar. Margaret Maliko ist niemand anders als Margaret Leman«, erklärte Jimmy.

 

Später saßen die beiden in der Halle des Hotels Magificent.

 

»Diese Margaret Leman ist über acht Millionen Dollar wert, daran läßt sich nichts ändern, ganz gleich, ob sie nun Margaret Leman oder Margaret Maliko heißt. Der alte Mann hat kein Testament hinterlassen. Vielleicht hat er keinen bestimmten Rechtsanwalt und nahm deshalb immer einen anderen, wenn er gerade juristischen Beistand brauchte. Sie war übrigens auch die Frau, die von sieben bis acht Uhr bei ihm war. Und sie hat den Brief in den Postkasten gesteckt. Er ist weiterverfolgt worden, aber nur bis zu einem gewissen Punkt«, fügte er vorsichtig hinzu.

 

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Jimmy erregt. »Dieser Brief, der am Berkeley Square aufgegeben wurde, war unfrankiert und an Mrs. Leman selbst adressiert.«

 

»Da haben Sie vollkommen recht, Jimmy. Ich habe nämlich auf Ihre Vermutung hin, daß keine Marke auf dem Brief war, gehandelt. Dadurch gelang es mir, den Brief weiterzuverfolgen. Es ist nur wenigen Leuten bekannt, daß Briefe, die unfrankiert in den Kasten kommen, einer besonderen Prüfung unterzogen werden. Es wird darüber eine Liste auf dem Hauptpostamt geführt. Ich habe bei der Gelegenheit übrigens feststellen können, daß der Brief die Adresse ›Mrs. Leman, Kennigton House, Hove‹ trug.

 

Nun ist Kennigton House kein großes Gebäude, wie Sie vielleicht nach dem großartigen Namen annehmen könnten, sondern eine kleine Vorstadtvilla in der Nähe von Brighton. Ich habe einen Beamten hingeschickt, um Nachforschungen anzustellen, aber unglücklicherweise ist es ihm nicht gelungen, den Brief in seinen Besitz zu bringen. Es scheint, daß das Postamt in Hove den Auftrag hat, alle Briefe, die dort für Mrs. Leman ankommen, umzuleiten. Und welche Adresse hat sie Ihrer Meinung nach wohl dort angegeben?«

 

»Mr. John Sands‘?« vermutete Jimmy.

 

»Nein, jetzt haben Sie das erstemal unrecht«, erwiderte Blessington. »Nein, Jimmy, die Sache ist nicht so plump arrangiert. Marseille, hauptpostlagernd. Was sagen Sie dazu? Wie kamen Sie übrigens auf die Annahme, daß der Brief nicht frankiert war?«

 

»Ich hatte eine Ahnung, daß er ein wichtiges Dokument enthielt, das die Dame nicht bei sich tragen durfte. Sie steckte es in den Briefumschlag. Sie erinnern sich doch noch, daß wir eine große Menge solcher Kuverts auf dem Tisch sahen, als wir Mr. Leman tot auffanden. Sicher hatte der alte Geizhals keine Briefmarken in der Wohnung, aber sie war ängstlich besorgt, das Schriftstück in Sicherheit zu bringen. Deshalb adressierte sie es an sich selbst und warf es in den ersten Briefkasten, den sie sah. Es ist aber eine sehr einfache Sache, den Brief zu bekommen. Sie brauchen doch nur Ihren Agenten in Marseille zu beauftragen, ihn von der Post abzuholen.«

 

»Das erscheint Ihnen so einfach, Jimmy. Der Brief wurde aber gestern abend aufgegeben und ging heute morgen mit der Post ab. Auf jeden Fall wollen wir einmal den Versuch machen. Vielleicht gelingt es uns. Ich habe an meinen guten Freund Pollot in Marseille telegrafiert, und wenn irgend jemand den Brief aus der Post herausholen kann, dann ist er es. – Ihre Freundin kommt aber spät.«

 

Der Detektiv sah auf die Uhr.

 

»Was wollen Sie übrigens mit Faith Leman machen?«

 

»Sie muß mit dem nächsten Schiff nach Amerika zurückfahren«, erklärte Jimmy. »Sobald Mrs. Leman an die Öffentlichkeit tritt und ihre Erbschaft einkassiert, werde ich Faith einen Heiratsantrag machen.«

 

»Aber warum denn nicht schon früher?« fragte Blessington.

 

»Weil immer noch etwas dazwischenkommen kann und Faith vielleicht doch noch die Erbin wird.«

 

»Aber zum Kuckuck, was macht denn das aus? Sie sind doch nicht so voreingenommen, daß sie sich durch die finanzielle Lage des jungen Mädchens daran hindern lassen, mit ihr glücklich zu werden?«

 

»Aber – aber – wenn sie reich ist – und ich arm bin –«

 

»Ach, das ist pure Eitelkeit, weiter nichts. Ich weiß nicht, warum die jungen Leute von heute so blöd sind! Wenn Sie reich wären und Miss Faith Leman arm, und wenn Sie als Märchenprinz daherkämen, um sie als Aschenbrödel aus dem Staub zu sich zu heben, dann würde Ihnen das so passen. Ich, habe noch niemals verstanden, warum das Vermögen bei der Ehe immer nur auf einer Seite vorhanden sein soll. So arm ich bin, hoffe ich doch immer, daß ich noch einmal die Aufmerksamkeit eines wunderschönen jungen Mädchens mit dunklen, märchenhaften, melancholischen Augen auf mich ziehen werde, die mindestens ein Vermögen von drei Millionen besitzt.«

 

»Nein, Sie verstehen nicht, wie ich es meine«, entgegnete Jimmy nachdenklich.

 

»Ich verstehe Sie nur zu gut. Glauben Sie, daß Sie niemand versteht, weil Sie auch an der Kinderkrankheit leiden, die alle einmal durchgemacht haben? Gehen Sie doch frischweg zu ihr hin und sagen Sie ihr, Sie lieben sie, und Sie können nicht anders, und Sie müssen sie heiraten.«

 

»Um Himmels willen, seien Sie jetzt ruhig«, sagte Jimmy aufgeregt. »Da kommt sie.«

 

Faith Leman ging durch die Hotelhalle, und Jimmy war wieder ganz bezaubert von ihr. Die Unannehmlichkeiten und Aufregungen der letzten vierundzwanzig Stunden hatten sie aber doch mitgenommen. Sie sah müde aus, und dunkle Schatten lägen unter ihren Augen. Selbst der alte, zugeknöpfte, zynische Blessington mußte zugeben, daß sie eine schöne Erscheinung war.

 

Plötzlich blieb sie regungslos stehen, als sie den Polizeibeamten sah, und errötete.

 

»Ich möchte Ihnen einen sehr guten Freund vorstellen, Faith. Mr. Blessington hat Sie zwar zuerst verhaftet, aber dann hat er den größten Teil der Nacht damit zugebracht, entlastendes Material für Sie herbeizuschaffen.«

 

»Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, Mr. Blessington«, erwiderte sie und reichte ihm die Hand. »Aber es war ein entsetzliches Erlebnis für mich, und die Erinnerung daran …«

 

»Ich weiß es«, erwiderte der Polizeiinspektor. »Sie müssen einen bösen Schock erhalten haben, aber glauben Sie ja nicht, daß es mir Freude macht, hübsche junge Damen festzunehmen und in den Kerker zu werfen. Nein, ganz im Gegenteil.«

 

Sie gingen zusammen in den Speisesaal des Hotels und nahmen an einem reservierten Tisch Platz.

 

»Ich möchte Sie noch etwas fragen«, sagte der Inspektor.

 

Sie sah ihn argwöhnisch an.

 

»Ich hoffe, Sie sind nicht in amtlicher Eigenschaft hierhergekommen, um mich einem intensiven Verhör zu unterziehen?«

 

»Daran läßt sich leider nichts ändern. Sowohl Jimmy wie ich haben nun einmal einen Beruf, der uns zwingt, an alle möglichen Leute alle möglichen Fragen zu richten. Das ist der einzige Weg, Dinge ausfindig zu machen. Aber beruhigen Sie sich nur, ich werde nicht viele Fragen an Sie stellen. Nur drei brauchen Sie mir zu beantworten. Erstens: Hat Ihr Onkel Briefmarken im Hause gehabt?«

 

»Nein, das war auch so eine Eigenheit von ihm. Das Geld für Briefmarken tat ihm immer zu leid. Auf keinen Fall wollte er sich Marken auf Vorrat hinlegen. Wenn er einen Brief absenden wollte, mußte einer aus dem Haushalt zur Post gehen und bekam dann so viel Kleingeld mit, wie das Porto ausmachte.«

 

»Das stimmt ja mit seinem sonstigen Charakter vorzüglich überein. Nun kommt die zweite Frage: Sie haben doch Schreibmaterial für Ihren Onkel auf den Tisch gelegt. Haben Sie auch Briefumschläge dazugetan? Ich sah sie nämlich in seinem Zimmer.«

 

»Ja«, sagte sie und nickte.

 

»Haben Sie auch Tinte und Feder bereitgestellt?«

 

»Nein«, erwiderte sie, nachdem sie kurze Zeit nachgedacht hatte. »Nur einen Bleistift. Onkel hat selten mit Tinte geschrieben.«

 

»Gut. Und doch stand eine kleine Flasche Tinte bei dem Papier, als ich ins Zimmer ging. Und jetzt ergibt sich für uns eine weitere Frage. In dem Zimmer wurde ein Zettel gefunden, auf dem Ihr Onkel mit Bleistift etwas notiert hatte. Darauf stand auch der Name der ›Suevic‹, das ist ein Dampfer der White-Star-Linie. Weiterhin war der Hafen von Plymouth erwähnt, wo die Dampfer dieser Gesellschaft anlegen. Die ›Suevic‹ ist auf der australischen Route eingesetzt. Kennen Sie vielleicht jemand, der etwas mit Australien zu tun hat oder der Ihren Onkel gebeten hat, ihm hundert oder dreihundert Pfund zu leihen, um damit nach Australien reisen zu können? Dann stand auch noch eine Nummer auf dem Papier: 1 – 17941 –«

 

»Jetzt habe ich es!« rief Jimmy, der bis jetzt geschwiegen hatte, aufgeregt. »Sehen Sie den Zusammenhang noch nicht?«

 

Er erhob sich halb von seinem Stuhl. »Erinnern Sie sich nicht an das Aktenstück von Margaret Maliko? Sie haben doch ihre Karte im Archiv gesehen – das ist ihre Nummer im Strafgefängnis! Dahinter stand noch das Wort ›Gift‹ –«

 

Er sah Blessington erwartungsvoll an.

 

»Was hat das Wort ›Gift‹ zu bedeuten?« fragte er dann.

 

»Das ist die kurze Bezeichnung des Verbrechens, das Margaret Maliko begangen hat. Sie wurde zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt, weil sie ihren Mann mit Gift ums Leben gebracht hat.«

 

Jimmy holte tief Atem und sank in seinen Stuhl zurück.

 

»Dann war es also Margaret Maliko, die meinen Onkel besuchte?« fragte Faith entsetzt und starrte den Polizeiinspektor mit weitgeöffneten Augen an. »Und sie hat sich schon einmal einen Giftmord zuschulden kommen lassen! Dann muß sie doch die Täterin sein –«

 

Im Augenblick sprach alles dafür – aber die Annahme Miss Lemans stimmte nicht mit dem überein, was der Inspektor vermutete. Auch Jimmy war anderer Meinung.

 

»Blessington, ich kann es nicht recht glauben, daß diese Frau das Verbrechen begangen haben soll. Es ist wohl ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß sie eine der letzten Personen war, die ihn lebend sahen, aber nach allem, was wir wissen, ist sie doch in bestem Einvernehmen von dem alten Mann geschieden. Verstehen Sie denn noch nicht? Leman wollte sie fortschicken. Er half ihr, nach Australien zu gehen. Sie muß ihm etwas Wichtiges mitgeteilt haben, und dafür verlangte sie eine große Geldsumme. Wenn ich die Zahlen auf dem Papier richtig beurteile, hat sie mit ihm um die Höhe des Betrages gehandelt. Leman hat ihr hundert Pfund geboten und die Summe allmählich auf dreihundert Pfund erhöht. Und auch die Adresse war darauf vermerkt: ›Hauptpostlagernd, Melbourne.‹ Sie muß ihm Einzelheiten aus ihrem Leben erzählt haben – er hat ihre Nummer als Strafgefangene notiert. Die Zahl 20 bedeutet die zwanzigjährige Zuchthausstrafe – jetzt löst sich alles mit einmal spielend auf. Warum sollte sie ihn denn umbringen, wenn er ihr helfen wollte?«

 

Blessington biß sich auf die Lippen.

 

»In allem, was Sie gesagt haben, liegt ein gut Teil Wahrheit, aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Es bleiben noch mehrere Lücken, die gefüllt werden müssen. Sie wäre nicht zu Leman gegangen, um ihr Geheimnis zu verkaufen, wenn sie nicht allen Grund gehabt hätte, sofort das Land zu verlassen. Vermutlich wollte sie das Geld dringend haben, und es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie es sofort bekommen hat, denn Leman hatte niemals größere Summen im Haus. Habe ich recht, Miss Leman?«

 

Das junge Mädchen nickte.

 

»Onkel hat es immer vermieden, auch nur kleinere Beträge in der Wohnung aufzubewahren. Wenn er Geld brauchte, ging er zur Depositenkasse in der Oxford Street.«

 

»Die Unterredung zwischen den beiden fand zu einer so späten Stunde statt, daß die Banken schon geschlossen waren«, fuhr Blessington fort. »Sie konnte das Geld frühestens am nächsten Tag ausgezahlt erhalten. Warum sollte sie ihn also vergiften? Das wäre doch gar nicht in ihrem Interesse gewesen. Und warum sollte sie mit dem Vorsatz in seine Wohnung gekommen sein, ihn zu ermorden? Nein, die Erklärung des Mordes stimmt nicht.«

 

»Ach, das ganze Verbrechen ist entsetzlich und grauenhaft. Ich mag nichts mehr davon hören«, meinte Faith und schauderte zusammen.

 

»Aber es ist doch furchtbar interessant«, sagten Jimmy und Blessington zu gleicher Zeit.

 

Kapitel 13

 

13

 

Für den Rest des Tages stellte Jimmy auf eigene Faust Nachforschungen über den weißen Schrank aus dem Keller von Mr. Sands an. Der Polizei war es nicht gelungen, die Sache aufzuklären; sie hatte die Spur verloren, und man konnte nicht feststellen, auf welche Weise das Möbelstück aus London fortgeschafft worden war. Keiner der Beamten hatte auch nur eine Spur finden können. Selbst eine Umfrage bei den verschiedenen Spediteuren, die Lastautos verwendeten, hatte keinen Erfolg gehabt. Die Anzahl der in Betracht kommenden Firmen war so groß, daß die Polizei unmöglich alle Leute fragen konnte.

 

Die Verhandlung der Totenschau wurde vertagt. Blessington machte sich die günstige Gelegenheit zunutze und stellte während der Verhandlung ein paar Fragen an Mr. Sands.

 

»Sie wollen wissen, wo mein Landhaus liegt? Nun, das hat einen sehr hochtönenden Namen, ist aber nur eine bescheidene Villa in einem nicht allzu großen Garten. Es liegt an der Straße nach Brighton, und man kann es sehr leicht finden.«

 

Er sah den Polizeiinspektor sonderbar an.

 

»Wollen Sie mir vielleicht offen sagen, warum Sie sich so sehr für mein Privateigentum interessieren?«

 

»Ja, ich will ganz offen mit Ihnen sein, Mr. Sands«, erwiderte der Detektiv und lächelte. »Ich möchte noch einmal diesen weißen Schrank sehen, denn ich bin der Ansicht, daß die Einbrecher ihren Namen und ihre Adresse auf der glatten Oberfläche zurückgelassen haben.«

 

»Mit anderen Worten, Sie suchen nach Fingerabdrücken. Es tut mir sehr leid, daß ich den blutigen Flecken von der Wand entfernt habe, aber wenn Sie glauben, die Untersuchung des Schrankes könnte Ihnen weitere Anhaltspunkte geben, dann will ich Ihnen nichts in den Weg legen. Fahren Sie doch zu meinem Landhaus und lassen Sie sich das Möbelstück zeigen. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie hin.«

 

»Ich danke Ihnen für Ihr liebenswürdiges Angebot, aber ich habe selbst einen Wagen und werde damit hinfahren.«

 

Jimmy begleitete Blessington. Als sie ankamen, fanden sie das Haus doch etwas größer und stattlicher, als man nach den Worten von Mr. Sands hätte annehmen können. Es lag in einiger Entfernung von der Straße hinter großen Bäumen versteckt – ein altes, schönes Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, nicht allzu groß, aber sehr bequem und luxuriös eingerichtet. Ein Hausverwalter und seine Frau waren die einzigen Dienstboten, die die Besitzung in Ordnung halten mußten. Der Verwalter bestätigte auch sofort, daß ein weißgestrichener Schrank bei ihm abgeliefert worden sei.

 

»Ja, das Möbelstück wurde ziemlich spät gestern abend hergebracht. Ich hatte mich schon hingelegt und mußte noch einmal aufstehen. Übrigens hat es Mr. Sands persönlich hergeschafft. Ich weiß nicht, was an dem Schrank sein soll, er sieht recht gewöhnlich aus. Aber Mr. Sands machte viel Umstände damit; es lag ihm daran, daß der Schrank hier eingestellt wurde, da er für ihn einen ziemlichen Wert repräsentiere. Ich habe mich schon darüber gewundert, warum er das Stück nicht als Frachtgut hierhergehen ließ. Das habe ich auch zu meiner Frau gesagt.«

 

»Gestern abend spät wurde der Schrank also bei Ihnen abgeliefert?« fragte Jimmy nachdenklich. »Er ist doch in aller Frühe von London fortgeschickt worden. Ein etwas sehr langer Transport! Nun, sehen wir uns dieses seltsame Stück einmal an.«

 

Der Verwalter führte sie zum Arbeitszimmer. Alle Möbel waren mit Bezügen versehen, und in der einen Ecke stand auch der weiße Schrank. Es war ein einfaches Möbelstück, aber Blessington und Jimmy betrachteten es eingehend.

 

»Waren Sie hier in dem Zimmer, als er hereingebracht wurde?«

 

»Ja.«

 

»Haben Sie gesehen, wie der Schrank geöffnet wurde?«

 

»Jawohl«, erwiderte der Verwalter erstaunt.

 

»Was, er wurde in Ihrer Gegenwart aufgemacht?« fragte Jimmy.

 

Das widerlegte allerdings die Annahmen, die sich die beiden unabhängig voneinander gebildet hatten.

 

»Was war denn darin?« fragte der Polizeiinspektor.

 

»Nichts. Es war genauso, wie Sie ihn jetzt vor sich sehen.«

 

Der Verwalter drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Das Innere war vollkommen glatt, ohne die geringsten Zeichen von Gebrauch. Wenn Mrs. Leman freiwillig oder unfreiwillig in dem Schrank versteckt gewesen war, konnte man jedenfalls keine Spur davon finden.

 

»Nun, damit sind wir geschlagen«, sagte Jimmy enttäuscht.

 

»Was dachten Sie denn?« fragte Blessington.

 

»Wahrscheinlich dasselbe wie Sie. Schließen Sie die Tür, ich möchte mir das Stück noch einmal genauer ansehen.«

 

Diesmal gab er sich mehr Mühe, und als er fertig war, nahm er Blessington am Arm und verließ mit ihm das Zimmer.

 

»Donnerwetter, beinahe hätte ich mich hinters Licht führen lassen!«

 

»Ja, ich weiß auch nicht, was ich sagen soll«, entgegnete der Detektiv verwundert. »Haben Sie etwas herausbekommen?«

 

»Das ist doch gar nicht der Schrank, der unten im Haus von Mr. Sands stand!«

 

»Woher wollen Sie denn das wissen?«

 

»Aus einem sehr guten Grund. Unser Freund hat doch einen Pfeil auf mich abgeschossen. Der flog dicht an meinem Kopf vorüber und blieb in der Tür des Schrankes stecken. Ich habe nun die Oberfläche genau untersucht, es läßt sich aber keine Stelle finden, an der der Pfeil eingedrungen sein könnte.«

 

»Wissen Sie denn genau, daß der Pfeil ins Holz eindrang?«

 

»Ob er steckenblieb, weiß ich nicht. Jedenfalls muß aber die Metallspitze des Pfeils gegen die Türfläche geprallt sein, und dabei wurde die glatte Farbschicht irgendwie verletzt. Ich hörte doch, daß der Pfeil dagegenschlug.«

 

»Ja, das stimmt, ich habe es auch gehört«, pflichtete der Detektiv bei. »Sie haben recht, der Pfeil muß irgendwo gelandet sein. Und da Sie vor dem Schrank standen, bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn Sands tatsächlich das ist, wofür wir ihn halten, hat er natürlich vorausgeahnt, daß wir nach dem Verbleib des Schrankes forschen würden. Deshalb ist er einfach fortgegangen und hat einen anderen gekauft. Die Tatsache, daß dieses Möbelstück erst spät gestern abend ankam, ist genügend Beweis dafür. Dieser Sands ist ein schlauer Kerl – er beschafft sich immer gleich im voraus ein Alibi. Den Tag haben wir tatsächlich verloren.«

 

»Das würde ich noch nicht sagen«, meinte Jimmy, der sich auf der Rückseite eines Briefes eifrig Notizen machte.

 

»Für Sie mag es allerdings verlorene Zeit gewesen sein, denn Sie wollen ja keine Millionengeschichte darüber schreiben.«

 

*

 

Es war schon spät am Abend, als sie zur Stadt zurückfuhren, aber als sie ankamen, wurde Blessington in Scotland Yard ein Telegramm überreicht. Die beiden hatten sich in der Stadt getrennt; Jimmy war zu seinem Hotel zurückgegangen, wo er noch auf seinem Zimmer arbeitete. Man hörte von draußen das unermüdliche Klappern seiner Schreibmaschine, und als Blessington eintrat, sah er, daß der Boden über und über mit Schreibpapier bedeckt war.

 

»Jimmy, seien Sie jetzt endlich vernünftig und jagen Sie nicht immer so hinter dem schnöden Mammon her! Hören Sie zu, ich habe eine Neuigkeit. Der Brief wurde in Marseille angehalten. Eben erhielt ich ein Telegramm von der dortigen Polizeidirektion, in dem man mir mitteilte, daß der Brief tatsächlich abgefangen worden ist und uns als Einschreiben zugehen wird. Er muß übermorgen in London eintreffen. Ich habe telegrafisch verschiedene Instruktionen nach Marseille durchgegeben, aber ich weiß nicht, ob man sich dort danach gerichtet hat.«

 

Jimmy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nickte.

 

»Wenn wir den Brief haben, kommen wir sicher ein gutes Stück weiter. Wie steht es aber mit Sands?«

 

»Ich habe Befehl gegeben, ihn ständig zu beobachten. Wir lassen ihn nicht mehr ohne weiteres umherlaufen, bis wir den Fall aufgeklärt haben. Es ist allerdings möglich, daß wir ihm ein großes Unrecht antun. Und wie sieht es denn hier aus? Hat Miss Leman ihre Rechtsanwälte heute aufgesucht?«

 

Jimmy nickte und machte ein trauriges Gesicht.

 

»Sie hat sowohl englische als auch amerikanische Anwälte aufgesucht, aber alle haben übereinstimmend erklärt, daß Lemans ganzes Vermögen an seine Frau ginge, da er verheiratet war und ohne Testament starb. Es ist ganz gleich, welche Verbrechen sie auch begangen haben mag. Es hat auch keinen Zweck, die Rechtmäßigkeit der Ehe anzuzweifeln. Sie hat zwar einen falschen Namen angegeben, und es ist auch möglich, daß die beiden sagten, sie seien in Griddelsea ansässig, um in so kurzer Zeit heiraten zu können. Aber das sind alles Gründe, mit denen man eine Nichtigkeitsklage nicht durchbringen kann. Es bedeutet nur, daß sich einer oder beide schuldig gemacht haben und deshalb bestraft werden können. Der alte Leman ist aber tot, und bei ihr machen ein paar Tage Gefängnis mehr oder weniger nichts aus. Das ist die rechtliche Lage«, erklärte Jimmy gutgelaunt.

 

»Dann steigen also Ihre Chancen, Jimmy«, sagte Blessington ironisch. »Sie scheinen ja sehr vergnügt zu sein.«

 

Warum sollte ich denn nicht vergnügt sein? Natürlich tut es mir furchtbar leid, daß sie das Vermögen verliert, aber dadurch gewinne ich. Und ich weiß wirklich nicht, was ich in ihrem Interesse wünschen soll.«

 

»Verliebtheit«, erklärte Blessington ernst, »ist eine der schlimmsten Krankheiten. Man könnte fast in Versuchung kommen, derartig verliebte Leute ins Irrenhaus zu stecken!«

 

»Machen Sie die Tür von außen zu«, erwiderte Jimmy höflich. »Sie stören mich hier in Ausübung meiner literarischen Tätigkeit.«

 

Nachdem Blessington gegangen war, arbeitete er noch eine halbe Stunde weiter, dann sammelte er die Bogen von der Erde auf und schloß sie in einer Schublade ein. Nachdem er seinen Rock angezogen hatte, ging er den Korridor entlang, bis er zu dem Raum kam, den Faith als Wohnzimmer innehatte. Als er klopfte, kam sie an die Tür.

 

»Ich bin müde von der Arbeit«, sagte er. »Wollen wir noch einen kurzen Spaziergang machen?«

 

Draußen war es warm, und die Sterne funkelten am Himmel. Selbst die kleinen Anlagen mitten in dem großen Steinmeer Londons atmeten Frieden und Ruhe.

 

Lange Zeit gingen die beiden schweigend nebeneinander her, bevor Jimmy zu sprechen begann.

 

»Faith, sind Sie davon überzeugt, daß die Rechtsanwälte sich nicht irren?«

 

»Ja, Jimmy. Aber warum fragen Sie?« entgegnete sie erstaunt. »Die Antwort, die ich erhielt, war so klar und präzise wie nur irgend möglich. Die Bestimmungen im amerikanischen Erbrecht sind fast genau dieselben wie in England. Ich habe überhaupt keine Möglichkeit, auch nur auf einen Teil der Erbschaft zu klagen, und ich möchte von dem Geld auch nichts anrühren. Nur meine Mutter macht mir Sorgen. Wenn mein Onkel ihr wenigstens eine kleine Rente ausgesetzt hätte!«

 

»Also sind Sie wirklich ohne Vermögen?«

 

»Ja, Jimmy. Das habe ich Ihnen doch schon so oft gesagt. Warum fragen Sie mich denn immer wieder?«

 

Jimmy versuchte zu sprechen, aber er war nicht dazu imstande. Erst nach einiger Zeit räusperte er sich umständlich, aber als er sprach, klang seine Stimme immer noch heiser.

 

»Faith, ich glaube, daß ich bald sehr viel Geld verdienen werde. Holland Brown wird mir ja nicht gerade eine Million Dollar für die Aufklärung des Verbrechens zahlen, aber immerhin wird es schon eine runde Summe werden. Abgesehen davon habe ich auch selbst etwas Vermögen, und ich kann bestimmt ein paar hundert Dollar in der Woche verdienen, wenn ich erst richtig in Fahrt bin.«

 

»Ja, Jimmy?« erwiderte sie in einem Ton, als ob sie über eine Sache sprächen, für die sie sich notgedrungen interessieren müßte.

 

»Faith, Sie haben mir neulich einmal gesagt, daß Sie mich nicht liebten, und offen gestanden glaube ich auch, daß Sie mich überhaupt nicht lieben.«

 

»Wie kommen Sie nur auf den Gedanken, daß ich Sie überhaupt nicht liebe?« fragte sie unlogischerweise.

 

»Sie sagten doch … Es scheint einfach nicht möglich zu sein.«

 

»Sie meinen, daß ich Sie liebe?« fragte sie naiv. »Jimmy, es ist nicht nett, daß Sie so etwas sagen.«

 

»Ich wollte es Ihnen doch nur erklären«, erwiderte er und wurde über und über rot. »Es ist doch ganz klar, daß Sie einen Mann wie mich nicht gern haben können.«

 

»Warum nicht? Ich halte Sie für einen lieben und guten Charakter, und wenn ein junges Mädchen einen solchen Mann nicht mag, dann ist das ein großes Armutszeugnis für sie selbst.«

 

Jimmy wurde es heiß; er konnte kaum noch sprechen. Er empfand es als unfair, jetzt die Lage auszunützen, und er war sehr böse auf sich, daß er sich plötzlich selbst in eine Situation gebracht hatte, in der er nicht mehr ein noch aus wußte.

 

»Faith«, brachte er schließlich hervor, »ich meinte vorhin nicht nur gern haben, sondern heiß und aufrichtig lieben. Ich meinte, daß Ihre Liebe stark genug wäre, mich zu heiraten.«

 

»Ja, Jimmy«, sagte sie leise.

 

»Sehen Sie, das meine ich«, fuhr er fort und bekam Mut, als er sah, daß sie verlegen wurde.

 

»Ich meine eine solche Liebe, die zur Ehe führt.«

 

Es folgte eine lange Pause.

 

»Also nehmen wir einmal an, daß sie – ihn liebt«, erwiderte sie schließlich. »Ist sie dann auch verpflichtet, ihm einen Heiratsantrag zu machen?«

 

Jimmy wußte sich im Augenblick nicht zu helfen.

 

»Nein, das nicht«, sagte er endlich. »Wenn Sie mich lieben, dann sagen Sie nur: Jimmy, ich will es versuchen.«

 

»Wann soll ich das sagen?«

 

»Ich meine, wenn ich Sie bäte, mich zu heiraten, weil ich Sie mehr liebe als alles andere auf der Welt, dann müßten Sie sagen –«

 

Sie legte beide Hände auf seine Schultern.

 

»Aber warum sagst du es mir nicht gleich?« flüsterte sie. »Fällt es dir denn so schwer?«

 

Jimmy nahm sie glückstrahlend in die Arme …

 

Eine Stunde später fand der junge Mann wieder zur harten Wirklichkeit zurück, als er beinahe von einem Taxi überfahren worden wäre.

 

»Ach, es ist alles so herrlich!« sagte sie. »Ich weiß immer noch nicht, ob ich wache oder träume … Aber Jimmy, glaubst du nicht, daß ich dich in deinem Beruf stören werde?«

 

»Du sollst mich stören?« erwiderte Jimmy begeistert. »Faith, deine Liebe macht mich glücklicher, als ich jemals war, und ich freue mich ja so sehr – daß du die Erbschaft nicht bekommst, sonst hätte ich niemals den Mut gefunden, dir einen Antrag zu machen.«

 

Sie drückte seinen Arm fest an sich.

 

»Ich habe schon gefürchtet, daß du es nicht tun würdest, und der Gedanke war mir so peinlich, daß ich es dir sagen müßte. Aber wenn nichts übriggeblieben wäre, hätte ich es trotzdem gewagt.«

 

Jimmy sagte nichts mehr. Er war sehr glücklich.

 

Kapitel 14

 

14

 

»Hallo, Jimmy.«

 

Der Journalist saß behaglich auf einer Bank im Hyde Park und nahm eben den Hut ab. Dann sah er sich nach dem Mann um, der ihn anrief. Er sah nur noch eine Hand, die ihm aus einem Auto zuwinkte und einen grauen Filzhut schwenkte, außerdem das Ende einer langen Zigarre. Aus all diesen Anzeichen schloß er, daß es niemand anders sein konnte als Holland Brown. Das Auto bremste, der Zeitungsmagnat lehnte sich über den Rand des Wagens und streckte Jimmy die Hand entgegen.

 

»Es ist ja alles im Fluß«, sagte er. »Ich bin Ihnen äußerst dankbar, daß Sie die ersten Nachrichten vom Selbstmord des alten Leman an mich geschickt haben. Aber was steckt denn dahinter?«

 

Jimmy zwinkerte ihm zu.

 

»Neun Kapitel meiner Millionengeschichte haben sich schon abgespielt, Mr. Brown. Ich weiß nur noch nicht, in welchem Kapitel ich die Enthüllung bringen soll.«

 

Holland Brown war trotz seiner äußeren Ruhe und Behaglichkeit doch ein sehr tüchtiger Zeitungsmann. Er hatte sich von unten emporgearbeitet und kannte das Zeitungsgeschäft. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und sah Jimmy durchdringend an.

 

»Ich habe tatsächlich das Gefühl, daß Sie dabei sind, eine Millionengeschichte zu schreiben. Selbstmord kann das nicht sein.«

 

»Lesen Sie später in Kapitel sechs nach, wenn Sie die Geschichte bekommen.«

 

»Sollte ich in Paris sein, wenn Sie Ihre Geschichte beenden, dann schicken Sie sie mir nicht zu. Senden Sie mir nur ein Telegramm, dann komme ich sofort im Flugzeug nach London, Ich werde Ihnen natürlich nicht eine Million Dollar dafür zahlen, denn ich will nicht haben, daß mich die Leute für verrückt halten, aber auf ein glänzendes Honorar können Sie rechnen.«

 

»Schön, ich werde meine Rechnung danach einrichten, Mr. Brown.«

 

»Kann ich etwas tun, um Ihnen zu helfen?«

 

Jimmy dachte einen Augenblick nach.

 

»Ist Mrs. Brown in Paris?«

 

»Nein, sie ist im Augenblick in London, und zwar mit unseren beiden Töchtern. Aber warum fragen Sie?«

 

»Sehen Sie, es ist eine junge Dame in diesen Fall verwickelt.«

 

»Ach, meinen Sie die Nichte des alten Leman? Aber warum werden Sie denn so furchtbar rot, Jimmy? Sie wollen doch nicht etwa die Millionengeschichte heiraten?«

 

»Nein, selbstverständlich heirate ich nicht die Geschichte«, erwiderte Jimmy. »Aber ich wäre Mrs. Brown sehr zu Dank verpflichtet, wenn sie sich Miss Lemans annehmen würde. Sie steht ganz allein in London und hat kaum Damenbekanntschaften.«

 

»Ich werde das Auto zu ihrer Wohnung schicken. Wo ist sie augenblicklich? Meiner Frau wird es Freude machen, ihr zu helfen.«

 

Plötzlich sah er Jimmy an.

 

»Ist das Mädchen am Ende irgendwie in Gefahr?« fragte er schnell.

 

Jimmy nickte.

 

»Ich weiß nicht, was es ist, und ich kann auch keine Gründe dafür angeben, aber ich habe das Gefühl, daß sie sich in großer Gefahr befindet. Hier ist ihre Adresse.«

 

Er schrieb sie auf ein Blatt seines Notizbuches und gab es seinem früheren Chef.

 

»Heute nachmittag um zwei werde ich den Wagen schicken ist es so recht? Meine Frau oder auch meine Töchter werden sie im Hotel abholen.«

 

Jimmy schüttelte Brown dankbar die Hand und setzte sich beruhigt wieder auf seine Bank. Den Morgen hatte er gut verbracht. Eine der Hauptschwierigkeiten, die ihm Sorge bereiteten, war nun aus der Welt geschafft.

 

Er mußte zu Faith gehen, ihr erzählen-, was er getan hatte, und vor allem ihre Einwilligung einholen. Es gab noch eine Menge zu tun; außerdem hatte er eine Verabredung zum Mittagessen mit Blessington. Und er wußte, daß er viel ruhiger und besser arbeiten konnte, wenn sich Faith in Sicherheit befand. Er fuhr sofort mit einem Taxi zum Hotel und schickte einen Pagen zu ihrem Zimmer. Aber der kam zurück und sagte ihm, die junge Dame sei vor einer halben Stunde ausgegangen. Er wartete, bis es Zeit war, zu Tisch zu gehen, und bat Blessington dann telefonisch, zu ihm ins Hotel zu kommen. Aber als der Inspektor in die Hotelhalle trat, war Faith immer noch nicht angekommen.

 

»Vielleicht speist sie außerhalb?« meinte er.

 

Jimmy schüttelte den Kopf.

 

»Sie hat mir ausdrücklich versprochen, mich vor dem Essen zu treffen, und ich weiß, daß sie ihre Verabredung mit mir unter allen Umständen einhalten wird – besonders unter den jetzigen Umständen«, fügte er hinzu.

 

Blessington fragte nicht, was Jimmy damit meinte, aber er erriet, was es zu bedeuten hatte.

 

»Haben Sie etwas Neues erfahren?« fragte Jimmy.

 

»Ich sammle Material, damit Sie eine schöne Geschichte schreiben können. Der eingeschriebene Brief muß übrigens morgen hier eintreffen. Allem Anschein nach hat jemand von London aus Sands‘ Agenten in Marseille ebenfalls telegrafisch angewiesen, den Brief in Empfang zu nehmen. Die Polizei hat den Betreffenden sofort verhaftet, aber das geschah so spät, daß er die Möglichkeit hatte, vorher noch entsprechend nach London zu telegrafieren. Die französische Polizei ist überhaupt furchtbar langweilig. Es dauert eine Ewigkeit, bis die sich in Bewegung setzt. Als sie dann den Mann schließlich hinter Schloß und Riegel hatten, war das Unglück schon geschehen. Er verweigert jede Aussage darüber, wer sein Auftraggeber hier in London ist. Aber das macht ja weiter keine Schwierigkeiten, denn ich weiß es.«

 

»Ist es bestimmt Sands?«

 

Blessington nickte.

 

»Das unterliegt nicht dem geringsten Zweifel.«

 

»Haben Sie noch etwas Neues von Margaret Leman gehört?«

 

»Nein. Die Polizei in Marseille hat telegrafiert, daß sie dort nicht anwesend sei. Sie ist auch in keinem Hotel an der Riviera als Gast eingetragen. Wir können ohne weiteres annehmen, daß sie England niemals verlassen hat – vielleicht ist sie überhaupt nicht von London fortgekommen.

 

Ich möchte Sie übrigens noch warnen, Jimmy. Ich erzähle Ihnen das nicht etwa, um Sie unnötig zu erschrecken, aber sorgen Sie vor allem dafür, daß Ihre Freundin nicht in Gefahr gerät.«

 

»Was meinen Sie damit?«

 

»Wenn sie von ihren Einkäufen heute vormittag zurückkehrt, darf sie unter keinen Umständen mehr ausgehen, ganz gleich, wer sie einlädt. Auch nicht zu Theater, Konzert oder anderen Veranstaltungen, die junge Damen ohne Begleitung besuchen.«

 

»Sie haben mir noch nicht alles gesagt. Was halten Sie zurück, Blessington?«

 

»Gut, ich werde es Ihnen sagen«, erwiderte der Polizeiinspektor leise. »Ich habe unserem Agenten in Marseille den Auftrag gegeben, den Brief zu öffnen und mir den Inhalt telegrafisch mitzuteilen.«

 

Jimmy fragte nicht, aber sein Herz schlug schneller, und er wußte bereits, daß neue Unannehmlichkeiten und Sorgen für ihn auftauchen würden.

 

»Das Dokument, das der Brief enthielt«, fuhr Blessington fort, »ist ein Testament, das Harry Leman am Abend vor seiner Ermordung ausgefertigt hat. Und er hat darin sein ganzes Vermögen ohne Einschränkung seiner Nichte vermacht.«

 

Jimmy taumelte zurück, als ob er einen Schlag erhalten hätte.

 

»Sie wollen mich doch nur zum besten halten«, sagte er heiser.

 

»Durchaus nicht. Das steht im Testament. Und was noch wichtiger ist, die Urkunde ist von Margaret Leman gegengezeichnet.«

 

»Aber – aber«, stammelte Jimmy.

 

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

 

»Was das alles zu bedeuten hat, kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Ich kann es nicht einmal vermuten. Sie sind der einzige, der diese merkwürdige Unterhaltung rekonstruieren kann, die an dem Abend vor Lemans Tod stattfand.«

 

»Ein Testament! Dann wird Faith also doch noch eine reiche Frau?«

 

Jimmy fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

 

Blessington sah, daß die Nachricht den jungen Mann mehr mitnahm, als er ursprünglich geglaubt hatte. Aber schließlich faßte sich Jimmy wieder.

 

»Ich kann natürlich nur Vermutungen aufstellen, aber ich denke mir den Hergang folgendermaßen: Aus Gründen, die wir noch erfahren werden, ging Margaret Maliko zu Lemans Haus. Allem Anschein nach war er nicht ihr Gatte, sonst hätte sie das Testament überhaupt nicht unterschrieben. Wahrscheinlich hat sie ihm alles eingestanden und als Gegenleistung von ihm verlangt, daß er sie in Sicherheit bringen sollte. Vermutlich hat sie Australien vorgeschlagen. Leman hat doch den Namen eines Schiffs aufgeschrieben, ebenso das Abfahrtsdatum und die Summe, die für die Reise notwendig war. Ich nehme an, daß sie ihm den Plan zu seiner Ermordung aufgedeckt hat, und ihre Mitteilung brachte ihn in solche Bestürzung, daß er kurz vor Toresschluß doch noch ein Testament machte, um die Intrigen der Gegenseite zu durchkreuzen und die anderen daran zu hindern, sich sein Geld anzueignen.«

 

»Es hängt alles zusammen«, stimmte Blessington zu. »Glauben Sie, daß die Frau im Haus war, als das Verbrechen begangen wurde? Um ein Verbrechen handelt es sich doch zweifellos.«

 

Jimmy nickte.

 

»Lassen Sie mich die Sache aufschreiben. Ich kann viel klarer denken, wenn ich eine Feder in der Hand habe.«

 

Er trat an einen Schreibtisch und bedeckte einen Bogen nach dem anderen mit seiner großen, klaren Schrift. Aber während er arbeitete, hatte er ständig das ungewisse Gefühl, daß ihm schweres Unglück drohte. Ja, er hatte im Unterbewußtsein die Empfindung, daß Faith in Gefahr war. Aber trotzdem fesselte ihn seine Arbeit so sehr, daß seine Feder geradezu über das Papier flog. Und nach und nach gelang es ihm, die Millionengeschichte zu rekonstruieren. Der Polizeiinspektor hatte auf einem Stuhl neben ihm Platz genommen. Seine Aufmerksamkeit teilte sich zwischen dem eifrig arbeitenden Jimmy und der Schwingtür, die jeden Augenblick in Bewegung gesetzt wurde. Faith Leman war immer noch nicht zurückgekehrt.

 

»So, jetzt habe ich alles ausgearbeitet«, sagte Jimmy schließlich. »Die Trauung war nur eine Schiebung; eine Verheiratung Harry Lemans hat gar nicht stattgefunden, das wurde von John Sands nur so hingestellt. Er hat den ganzen Plan ausgedacht und zur Durchführung gebracht. In der Strafgefangenen, die ihm in den Weg kam, sah er die Frau, die er derartig unter Druck halten konnte, daß sie alles tat, was er wollte. Die konnte nicht zur Polizei gehen und ihn anzeigen! Ob er gleich von Anfang an die Absicht hatte, Leman zu ermorden, oder ob er nur hoffte, daß der Millionär bald eines natürlichen Todes sterben würde, ist im Augenblick gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß er eine Frau hatte, die er als Mrs. Leman ausgeben konnte. Ja, und – zum Donnerwetter, jetzt weiß ich es!« rief Jimmy plötzlich. »Sands hat sie geheiratet, nicht Leman!

 

Es ist ihm gelungen, Leman für einen Tag unter irgendeinem Vorwand aus der Stadt zu locken, und von all den Standesbeamten in England hat er sich den ausgesucht, der nicht mehr lange leben konnte. Dazu gehörten natürlich unendlich langwierige Nachforschungen, aber Sands hat eine unheimliche Geduld bei der Sache bewiesen. Margaret Leman ist in Wirklichkeit Margaret Sands!«

 

Der Polizeiinspektor nickte.

 

»Fahren Sie nur fort! Was ist sonst noch passiert?«

 

»Es klappt alles vorzüglich! Leman starb an demselben Tag, an dem ich seine Trauungsurkunde ausfindig gemacht hatte. Sands wußte, daß ich die Absicht hatte, den alten Mann zu besuchen, und damit ging sein Plan in die Brüche. Er hatte den Mord geplant – aber noch viel mehr, er hatte von vornherein für ein Alibi gesorgt und alles so eingerichtet, daß der Verdacht auf einen anderen fallen mußte. Sands hatte Faith die kleine Flasche mit Blausäure geschickt! Ich erinnere mich jetzt, daß sie mir erzählte, sie hätte mit Sands über einen Fleck in ihrem Kleid gesprochen. Jetzt wird alles klar, Blessington. Sands ging mit mir zur Wohnung in der Davis Street, aber er ging zuerst allein –«

 

Blessington sprang auf.

 

»Selbstverständlich haben Sie recht. Ich habe mich auch täuschen lassen. Harry Leman hatte doch die Gewohnheit, zwei Likörgläser voll Kognak einschenken zu lassen, eins für sich selbst, das andere für seinen Freund. Sicherlich würde er nicht einen Kognak für einen Gast haben eingießen lassen, wenn er wußte, daß der ihm nach dem Leben trachtete. Faith hatte natürlich keine Ahnung, um was es sich bei dem Besuch von Sands handeln würde. Sie wußte nur, daß er wie gewöhnlich um acht Uhr ihren Onkel besuchen würde. Deshalb hatte sie beide Gläser eingeschenkt.

 

Sands hat Sie unten allein gelassen und ist die Treppe hinaufgegangen, um mit Leman zu sprechen. Der alte Millionär hat sich zunächst wohl nichts anmerken lassen, um Sands nicht vorzeitig zu warnen. Der ging aber gleich zu dem kleinen Büfett, das an der Wand stand, und es gelang ihm, unbemerkt die Blausäure in Lemans Glas zu schütten. Dieses bot er ihm dann an.«

 

Der Polizeiinspektor hielt einen Augenblick inne und überlegte, ob er in seine Schlußfolgerung alles einbezogen hatte, und Jimmy erzählte weiter.

 

»Es wäre ja möglich gewesen, daß Leman zögerte. Auf jeden Fall hatte er dann aber das Glas geleert und ist ein paar Sekunden darauf zu Boden gestürzt. Entweder war er sofort tot, oder er lag in den letzten Zügen. Sands hat ihn aufgehoben und aufs Sofa gelegt. Um Leman nicht stutzig zu machen, hatte er zuerst auch ausgetrunken. Das hätte ihn natürlich verraten können. Er wußte aber, wo die Kognakflasche aufbewahrt wurde, nahm sie heraus und füllte sein Glas aufs neue. Aber nun kommt der Fehler: Er hat die Flasche auf dem Büfett stehenlassen.«

 

»Meinen Sie, er wußte nicht, daß die Frau zugegen war und sich im anderen Zimmer befand?«

 

»Ja, sie muß in dem kleinen Zimmer gewesen sein, das man durch die Tür hinter dem Sofa erreichen kann«, erwiderte Jimmy schnell. Wahrscheinlich war sie Zeugin der Unterhaltung. Sie muß alles gehört haben, was Sands und Leman vor dessen Tod noch miteinander sprachen.«

 

»Wo mag sie jetzt wohl sein?« fragte der Inspektor. Jimmy schüttelte nur den Kopf, erhob sich ein wenig ungeduldig und sah auf die Uhr.

 

»Blessington, ich habe das Gefühl, daß wir hier unsere Zeit vergeuden. Faith Leman müßte doch längst wieder ins Hotel zurückgekommen sein – es ist halb zwei!«

 

»Vielleicht hat sie in der Stadt jemand getroffen«, versuchte Blessington ihn zu beruhigen, obwohl er das selbst für sehr unwahrscheinlich hielt. »Es hat keinen Zweck, Aufsehen zu erregen. Wir wollen doch vor allem Miss Leman nicht lächerlich machen.«

 

»Besser lächerlich als tot«, entgegnete Jimmy erregt und ging zur Tür.

 

Kapitel 8

 

8

 

Mrs. Carawood war ein Rätsel, selbst für die Leute, die geschäftlich mit ihr zu tun hatten. Der Laden in der Penton Street war durchaus nicht ihr bestes Geschäft, obwohl sie von dort aus ihre vielen Niederlassungen leitete. Sie hatte eine Filiale in der Nähe des Hanover Square, eine andere in der Upper Regent Street und einige in den großen Vorstädten Londons.

 

Zuerst hatte sie einen Handel mit gebrauchten Kleidern eröffnet, aber jetzt bestand nur noch in einem Geschäft eine Abteilung mit getragenen Mänteln. Sie hatte hauptsächlich berufstätige junge Mädchen zu Kundinnen, denen sie für billiges Geld die modernsten Modelle verschaffte. Bei ihr kostete die Ware natürlich nur ein Viertel des Preises, den die vornehmen Läden im Westen Londons forderten. Es kam keine Mode auf, die sie nicht auch sofort führte. Sie hatte sich auf diese Kundschaft spezialisiert, und ihr Geschäft warf verhältnismäßig viel ab. Nachdem sie dieses Gebiet einmal entdeckt hatte, blieb sie auch dabei und hütete sich, Experimente zu machen. Die Grossisten kannten sie als eine fleißige, tüchtige Frau; die Geschäftsführer in ihren verschiedenen Filialen wußten, daß sie in kürzester Zeit die Bücher revidieren und daß man ihr nichts vormachen konnte. Aber niemand kannte sie eigentlich genauer. Selbst die Leute, die sich noch darauf besinnen konnten, wie sie ihren ersten Laden aufmachte, und die ihre spätere erfolgreiche Laufbahn verfolgten, wußten nichts von ihrem Privatleben.

 

Sie wohnte über dem Geschäft in der Penton Street, aber bei ihren Einkünften hätte sie leicht eine größere und luxuriösere Wohnung haben können. Sie stellte nur verhältnismäßig einfache Ansprüche; gern las sie Abenteuerromane, wie überhaupt ein romantischer Zug durch ihr Leben ging. Stundenlang konnte sie an ihrem Schreibtisch sitzen und vor sich hinträumen. Und Herman, der sie sehr gut kannte, störte sie niemals dabei.

 

Für diesen hochaufgeschossenen jungen Mann war sie das größte kaufmännische Genie, das jemals gelebt hatte.

 

Jetzt, da Marie zurückgekommen war, hatte sie keine Zeit mehr zum Träumen. Alle ihre geschäftlichen Sorgen, selbst die neuen Herbstmoden, wurden unwichtig.

 

Sie mußte vor allem erklären, warum sie John Morlay engagiert hatte, aber das ging verhältnismäßig leicht.

 

»Eine gute Idee«, sagte Marie ernsthaft. »Ich glaube kaum, daß sich andere Leute soviel Mühe und Sorge um ihre Schutzbefohlenen machen.«

 

»Er ist ein Gentleman, und ich schenke ihm volles Vertrauen«, entgegnete Mrs. Carawood. »Es gibt mir ein gewisses Sicherheitsgefühl, daß ich ihn um Rat fragen kann, wenn …« Sie zögerte.

 

»Woran denkst du, Nanny? Glaubst du, daß Leute, die sich unsterblich in mich verlieben, mich entführen? Oder daß mich Banditen gefangennehmen, um nachher Lösegeld für mich zu fordern?«

 

Sie sah plötzlich den Ausdruck des Schreckens im Gesicht der Frau und änderte sofort ihren scherzhaften Ton.

 

»Niemand wird mir etwas tun, Nanny!«

 

»Nein«, entgegnete Mrs. Carawood kurz.

 

»Ich habe keinen bösen Feind oder einen längst verschollenen Onkel?«

 

Mrs. Carawood wurde dunkelrot.

 

»Nein, das nicht«, sagte sie laut. »Wer hat dir denn solche Gedanken in den Kopf gesetzt?«

 

»Niemand – ich mache nur einen Scherz. Ich habe auch gar nichts gegen Mr. Morlay. Er ist sehr nett, viel netter als Julian. Der ist zwar auch sehr liebenswürdig und freundlich, aber ich weiß nicht – irgend etwas fehlt ihm. In der Schule sagten wir, er hat nicht den richtigen Dreh. Es ist sehr beruhigend, wenn man einen Mann wie John Morlay in der Nähe hat. Er ist ein Mittelding zwischen Vater, Bruder und gutem Onkel.«

 

Eine längere Pause trat ein.

 

»Nanny, wie war denn eigentlich mein Vater?«

 

Mrs. Carawood fuhr zusammen. »Dein Vater, mein Liebling?« fragte sie heiser. »Warum fragst du denn danach?«

 

Marie lachte leise.

 

»Nun, das ist doch nicht unnatürlich. Hast du eigentlich ein Foto von ihm?«

 

Die ältere Frau schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Ich habe ihn niemals gesehen. Er starb vor deiner Geburt, und bevor ich ins Haus deiner Mutter kam.«

 

Marie stützte sich auf die Stuhllehne und sah auf die sonnenbeschienene Straße hinaus.

 

»Wenn ich nur wüßte, wie er aussah«, sagte sie nachdenklich. »Merkwürdig, sich vorzustellen, daß er gar nicht Englisch sprechen konnte! Wohnte er eigentlich in Rom? Ich hoffe es. Ich habe schon versucht, mir einmal vorzustellen, wie er gelebt hat. Bestimmt besaß er eine sehr große, stattliche Villa, die im Innern kühl und dunkel war. Im Winter waren die Zimmer etwas feucht, und überall hingen alte Familienwappen.«

 

»Ja, sein Haus war wahrscheinlich größer als dein kleines Haus in Ascot.«

 

Mrs. Carawood war traurig, und Marie fühlte, daß sie ihre Sorgen unter einem Lächeln verbergen wollte. Nur selten hatte Marie Fioli bisher an ihre alte Familie gedacht. Im großen und ganzen war sie ein Kind ihrer Zeit und hatte nur moderne Interessen.

 

Mrs. Carawood holte die Grundrisse und Pläne der kleinen Villa hervor, ebenso eine Mappe, in der sich die Abbildungen der Möbel von Ascot befanden.

 

Marie wußte sehr wenig über Mrs. Carawood, die in ihrer Gegenwart niemals von geschäftlichen Dingen sprach. Ihr Schreibtisch in dem kleinen Büro war immer sehr gut aufgeräumt, und als Marie einmal nach Briefpapier suchte, entdeckte sie, daß alle Schubladen sorgfältig abgeschlossen waren. Nie hatte sie mit Marie über deren Vermögen gesprochen.

 

Marie bekam alles Geld, das sie brauchte. Mrs. Carawood zahlte jeden Monat eine beträchtliche Summe auf ein besonderes Bankkonto ein.

 

Sie hatte Marie sicher sehr gern. Nur ein einziges Mal wurde sie ärgerlich, und Marie dachte noch mit Schrecken an dieses Erlebnis.

 

Es war am Abend des gleichen Tages. Den ganzen Nachmittag hatte sie mit John Morlay Einkäufe gemacht und war dann zur Penton Street zurückgekehrt, um den Abend mit Mrs. Carawood zusammen zu verbringen. Herman, der auch im Haus schlief, war von seiner Herrin ins Kino geschickt worden, und so waren die beiden allein.

 

Mrs. Carawood war in Maries Zimmer gegangen, um die Koffer auszupacken und Maries Garderobe durchzusehen. Marie schrieb indessen unten im Erdgeschoß Briefe an ihre Freundinnen im College in Cheltenham. Plötzlich hörte sie, daß die Glocke an der Seitentür klingelte. Sie öffnete die Tür, obwohl Mrs. Carawood ihr besonders ans Herz gelegt hatte, dies nicht zu tun, sondern sie zu rufen.

 

In dem kleinen Flur brannte das Licht nicht, und nachdem Marie vergeblich am Schalter gedreht hatte, öffnete sie die Tür.

 

Draußen stand ein Mann.

 

»Sind Sie es, Mrs. Carawood?« fragte er leise. »Heute abend hat er dies hinterlassen und gesagt, daß er morgen eine Antwort wünsche. Ich komme morgen früh um acht wieder.«

 

»Ich bin nicht Mrs. Carawood«, entgegnete Marie, »aber ich werde ihr die Bestellung ausrichten.«

 

Einen Augenblick stutzte er, aber dann beruhigte er sich.

 

»Schon gut. Geben Sie ihr das. Aber bestimmt, Miss, und erzählen Sie ihr auch genau, was ich Ihnen gesagt habe.«

 

Sie schloß die Tür und nahm den Brief ins Wohnzimmer mit. Die Schrift war sehr schlecht und zeigte, daß der Schreiber wenig Bildung besaß. Das Kuvert war an Mrs. Hoad adressiert, und in einer Ecke stand ›Dringend‹.

 

Mrs. Hoad? Der Mann mußte sich geirrt haben. Marie ging wieder zur Tür und sah die Straße entlang, aber er war spurlos verschwunden. Vielleicht konnte sie eine Adresse in dem Brief selbst finden? Unentschlossen betrachtete sie das Kuvert von außen. Als sie es aber gerade öffnen wollte, hörte sie Mrs. Carawood hinter sich und drehte sich um. Ihre Blicke begegneten sich.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Mrs. Carawood scharf.

 

Sie riß Marie den Brief aus der Hand, warf einen Blick auf die Adresse und steckte dann den Umschlag in ihre Tasche.

 

»Laß es dir niemals einfallen, Briefe aufzumachen, Marie – nie wieder!«

 

Ihre Stimme klang hart, fast drohend.

 

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Mrs. Carawood um und verließ das Zimmer.

 

*

 

Kapitel 9

 

9

 

Inspektor Peas liebte es, Leute unerwartet zu besuchen. Gesellschaftlich war er nicht sehr auf der Höhe; er hielt nie Verabredungen ein, nicht einmal mit seinen Vorgesetzten, und wenn er zufällig in die Nähe eines Freundes kam, den er versprochen hatte zu besuchen, klingelte er einfach, auch wenn der Zeitpunkt denkbar ungeeignet war.

 

Eines Abends kam er auch zu John Morlay und fand seinen Bekannten damit beschäftigt, den Gothaer Adelskalender durchzusehen. Peas schaute verächtlich auf das kleine Buch, das ein vollkommenes Verzeichnis des ganzen Adels Europas enthält, legte den Hut auf den Boden und nahm Platz.

 

»Es hat doch keinen Zweck, das Ding zu lesen«, sagte er. »Wenn Sie wissen wollen, welcher Gaul das Rennen in Ascot macht, kann ich Ihnen einen Tip geben, der todsicher ist.«

 

Peas hatte eine Schwäche: Er schloß gern Rennwetten ab. Allerdings wußte er mit Pferden ziemlich gut Bescheid und verdiente sogar Geld damit, obgleich ihm das als Polizeibeamten eigentlich streng verboten war.

 

John schlug das Buch zu. Unaufgefordert nahm sich Peas eine Zigarette.

 

»Den Kerl hätten wir gestern abend beinahe gefaßt.«

 

»Wen meinen Sie denn?« fragte John und stopfte seine Pfeife.

 

»Ich meine den Einbrecher, dem die Zeitungen den Spitznamen ›Die einsame Hand‹ gegeben haben.«

 

»Ach, den! Es gibt aber sicherlich ein ganzes Dutzend solcher Leute, die keine Komplicen haben.«

 

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

 

»Es gibt nur drei, die den Einbruch verübt haben könnten. Einer von ihnen sitzt im Gefängnis, ein anderer liegt im Krankenhaus – also bleibt nur noch der eine übrig. Wir haben alle anderen Möglichkeiten eliminiert.«

 

»Großartig ausgedrückt!« erwiderte John ironisch.

 

Peas blies vier Ringe hintereinander in die Luft.

 

»Es kann auch eine Frau sein. Da hätten die Zeitungen ja wieder etwas zu schreiben.«

 

»Warum glauben Sie denn, daß es eine Frau ist?« fragte John neugierig.

 

»Der Einbrecher wäre beinahe durch den Wachmann in der Bond Street gefangen worden. Der Wächter hatte sich versteckt und beobachtete ihn, und als er unerwartet zusprang und ihn fassen wollte, schrie der Kerl!«

 

»Es kommt auch vor, daß Männer schreien.«

 

Peas nickte.

 

»Das habe ich auch gesagt. Aber der Wachmann schwört, daß der Einbrecher nach Parfüm roch.«

 

»Auch Männer benützen Parfüm«, entgegnete John, und Peas mußte das wieder zugeben.

 

»Na, auf jeden Fall ist der Kerl entkommen – an einer Regenröhre ist er hinuntergeklettert. Zuerst glaubten sie, er wäre so rechtzeitig überrascht worden, daß er nichts hätte stehlen können, aber heute morgen entdeckte man; daß er eine Vitrine geöffnet und einen großen, viereckigen Saphir mitgenommen hat.«

 

»Damit wäre die Sache also erledigt«, sagte John.

 

Peas seufzte schwer.

 

»Die Leute wollen es nicht verstehen«, erklärte er. »Sie wissen, daß ich den Fall bearbeite, und da müßte ihnen doch ganz klar sein, daß ich den Dieb fasse, wenn überhaupt ein Mensch dazu imstande ist. Aber was tun sie? Große Artikel erscheinen in den Zeitungen: ›Was macht die Polizei?‹ Sie behaupten, wir schlafen in Scotland Yard, bringen lange Listen von Einbrüchen, die nicht aufgeklärt worden sind, und sagen, ein großer Prozentsatz von Verbrechen würde überhaupt nicht gesühnt … Aber man muß andererseits doch auch folgendes bedenken: Wenn ein Mann heute in der Bond Street in einen Juwelierladen einbricht und man nichts mehr von ihm hört, wird er doch seine verbrecherischen Neigungen nicht mit einemmal los. Er begeht also weitere Diebstähle und wird vielleicht drei Monate später in Liverpool gefaßt. Dort packt ihn die Polizei, er wird verurteilt, und niemand weiß etwas davon.«

 

»Warum vermuten Sie eigentlich, daß es eine Frau war?« fragte John noch einmal.

 

Peas sah ihn nachdenklich an und spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wolle.

 

»Kennen Sie Mrs. Carawood?« fragte er dann unerwartet.

 

John Morlay sah ihn groß an.

 

»Mrs. Carawood? Ja. Ich habe sogar schon beruflich mit ihr zu tun gehabt.«

 

Der Inspektor nickte.

 

»Sie ist eine ziemlich wohlhabende Frau. Man könnte sie sogar reich nennen.

 

John lachte.

 

»Sie meinen doch nicht etwa, daß sie den Einbruch verübt hat?«

 

Zu seinem Erstaunen stellte Peas das nicht in Abrede.

 

»Sie hat eine Menge Geld – mehr als sie aus ihrem alten Kleiderhandel beziehen kann. Sie muß also sonst noch ein Nebengeschäft haben, und ich möchte herausbringen, was das ist.«

 

»Was könnte das denn sein, wenn Sie sie von dem Einbruch freisprechen?« fragte John ironisch.

 

»Sie fährt zweimal im Jahr nach Antwerpen. Das ist etwas merkwürdig für eine Frau, die ein Kleidergeschäft betreibt. Auf der anderen Seite ist es nicht merkwürdig für jemanden, der Schmuckstücke verkaufen will.«

 

»Ach, das ist doch Unsinn«, unterbrach ihn John ärgerlich. »Ich weiß nicht, ob sie nach Antwerpen fährt oder nicht; aber wenn sie das tut, bin ich ganz sicher, daß sie guten Grund dazu hat.«

 

»Es ist nicht einmal ein Gedanke«, entgegnete Peas diplomatisch. »Es ist nur die vorsichtige Erwägung einer entfernten Möglichkeit. Haben Sie schon einmal überlegt, was ein Fragezeichen ist? Ein Angelhaken, den Sie auswerfen, um etwas zu fangen. Sehen Sie, das ist einer meiner eigenen Geistesblitze. Ich habe schon daran gedacht, einmal in den Zeitungen darüber zu schreiben.«

 

»Nun, die werden sich ja freuen«, erwiderte John spöttisch. Aber das focht Inspektor Peas nicht an.

 

»Ich bin ein Mann von großer Erfahrung. Ich bezweifle, ob es sonst noch jemanden in Scotland Yard gibt, der soviel über die inneren Zusammenhänge der Verbrechen weiß wie ich. Bei dem schlimmsten Fall, den ich einmal bearbeitete, handelte es sich um ein verschüchtertes Mädchen. Wenn man sie verhörte, war sie entsetzlich bescheiden und wurde fast bei jeder Antwort rot. Sie vergiftete ihren Bruder, und niemand konnte ihr etwas nachweisen. Später vergiftete sie ihren Mann und kam damit durch. Wenn ich damals gleich die Sache bearbeitet hätte, wäre es anders ausgegangen, aber unglücklicherweise wurde der Fall meinem Vorgesetzten übertragen, und so ist sie jetzt mit einem reichen Argentinier verheiratet und sitzt im Vorstand aller möglichen Wohltätigkeitsvereine – sehen Sie, so ist das Leben.«

 

»Wozu erzählen Sie mir solche Märchen?« fragte John ärgerlich.

 

Peas war inzwischen aufgestanden und betrachtete ein Bild.

 

»Das ist ein richtiges Ölgemälde, und wahrscheinlich handgemalt«, erklärte er. Denselben dummen Witz hatte er mindestens schon vierzigmal gemacht. Plötzlich wandte er sich um.

 

»Diese Mrs. Carawood hat eine ganze Anzahl von Geschäften in London. Soweit ich herausgebracht habe, lebt sie verhältnismäßig bescheiden. Bei ihr wohnt ein sehr ungebildeter junger Mann, den sie auf ihre Art und Weise adoptiert hat. Ich möchte nur wissen, was sie mit der Gräfin Fioli zu tun hat.«

 

»Was soll das heißen?« entgegnete John gereizt. »Sie ist die Pflegerin der jungen Dame; die alte Gräfin hat bei ihrem Tod das Kind der Obhut von Mrs. Carawood anvertraut.«

 

Wieder verzog Peas ungläubig die Lippen.

 

»Mich geht die Sache ja nichts an, aber es ist alles so merkwürdig und ungewöhnlich. Das junge Mädchen gefällt mir sehr gut, ich habe sie schon mehrmals gesehen. Ich war auch auf dem Bahnsteig in Paddington, als Sie sie abholten – sie hat eine Villa in Ascot, die ziemlich viel Geld kostet. Der Lebensunterhalt dort ist nicht billig.«

 

Er sprach nicht weiter über dieses Thema, sondern kam wieder auf den Einbrecher zurück.

 

»Im allgemeinen kümmern wir uns in Scotland Yard nicht um so einfache Einbrüche, aber natürlich achten wir auf das Auftauchen ungewöhnlicher Verbrecher in London, wenn wir sie nicht mit den bisher bekannten in Verbindung bringen können.

 

Die Polizei hat herausgefunden, daß sich die Verbrechen dieses neuen Mannes ziemlich gleichen. Seine Methoden sind ungewöhnlich. Er hat weder jemanden, der Schmiere steht, noch sonst einen Verbündeten, der ihm hilft. Und jedesmal benützt er einen Schlüssel, um die Geldschränke zu öffnen, wenn andere Leute ein Stemmeisen nehmen würden.«

 

»Haben Sie einen Anhaltspunkt?« fragte John, der sich für diese Sache weniger interessierte.

 

Peas nickte.

 

»Ja. Ich versuche auch damit weiterzukommen, aber ich habe mich wohl gehütet, meinen Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Es besteht nämlich immer Gefahr, daß sich andere Leute das zunutze machen und nachher den Erfolg für sich in Anspruch nehmen.«

 

Peas warf sich in die Brust und lächelte. Es kam selten vor, daß er in so heiterer Stimmung war, und John sah ihn erstaunt an.

 

»Werden Sie übrigens auch an der Gesellschaft teilnehmen?«

 

»An welcher Gesellschaft?«

 

»An der Hauseinweihung in Ascot. Na, Sie werden auf jeden Fall eingeladen.«

 

»Woher wollen Sie denn das wissen?«

 

»Ich weiß alles«, erklärte Peas.

 

John war am nächsten Morgen eifrig tätig. Er hatte eine telefonische Unterredung mit Mrs. Carawood, die ihn bat, sie und Marie nach Ascot zu begleiten. Zu seiner Verwunderung erfuhr er, daß die Hauseinweihung tatsächlich beabsichtigt war und nicht nur in der Phantasie des Polizeiinspektors existierte. Am Sonnabend vor dem Rennen sollte sie stattfinden, und von da ab sollte Marie ihren eigenen Haushalt führen. Er verabredete sich mit ihr und begleitete sie am nächsten Morgen bei ihren Einkäufen. Die beiden kauften Porzellan, Gläser, Silberbestecke und alle möglichen anderen Haushaltsgegenstände.

 

Mrs. Carawood kam es nicht so sehr auf den Preis an. Sie handelte nicht, und er war erstaunt über die großen Summen, die sie bei dieser Gelegenheit ausgab.

 

Zu seinem größten Ärger tauchte auch Julian auf. Er erzählte, daß er bei seinem Verleger gewesen sei. John erinnerte sich nun auch dunkel, daß Julian ein Buch über irgendeine geheimnisvolle Angelegenheit schreiben wollte. Diese Absicht hatte der junge Mann schon, solange er ihn kannte.

 

Für John Morlay waren diese Einkäufe ziemlich langweilig, aber Julian fühlte sich hier in seinem Element. Er wußte mit allen Haushaltsdingen Bescheid, und der Einkauf schöner Gegenstände machte ihm große Freude. John Morlay trat immer mehr in den Hintergrund, und schließlich ärgerte er sich so sehr, daß er sich verabschiedete. Und er fühlte sich zurückgesetzt, als Marie nicht den geringsten Versuch machte, ihn zurückzuhalten.

 

Er aß in einem kleinen Klub in der Nähe der St. James’s Street, und zufällig saß er bei Tisch gerade dem Verleger gegenüber, den Julian am Morgen aufgesucht hatte.

 

»Sagen Sie mir, hat denn dieser Lester heute morgen die Leute getroffen, von denen er soviel erzählte? Er hat mein Telefon eine ganze halbe Stunde lang benutzt. Schließlich hat er sich mit Ihrem Büro in Verbindung gesetzt. Der Mensch ist wirklich ziemlich aufdringlich.«

 

»Bin ganz Ihrer Ansicht«, erwiderte John. Dann fiel ihm das Buch ein, das Julian schreiben wollte.

 

»Sie werden ja sicher ein dickes Manuskript von ihm bekommen?«

 

Der Verleger lächelte. »Das ist noch nicht so ganz sicher. Bis jetzt hat er es noch gar nicht geschrieben. Er hat immer so viele Bedenken, daß er gar nicht vorwärtskommt. Schon seit Jahren sammelt er alle möglichen Daten und Einzelheiten. Er wird nicht ein Zehntel des Geldes zurückbekommen, das er dafür ausgelegt hat.«

 

»Was ist denn der Inhalt? Schreibt er vielleicht darüber, wie man sich kleiden und benehmen soll?«

 

»Ich möchte auch gern wissen, wovon es handelt. Zuerst wollte er eine Geschichte der englischen Flotte verfassen. Das letzte Mal, als ich mit ihm darüber sprach, beschränkte er sich nur auf unterirdische Gewölbe und Gefängnisse in den Adelssitzen. Dann äußerte er auch schon die Absicht, über unsere modernen Strafgefängnisse zu schreiben. Er hat mir das Buch schon vor vier Jahren versprochen – ich habe aber noch keine einzige Seite seines Manuskripts erhalten. Er tut immer so geheimnisvoll damit. Glücklicherweise verlangt er keinen Vorschuß. Schließlich braucht er das ja auch nicht.«

 

»Ich dachte, er wäre nicht sehr vermögend?« fragte John.

 

Zu seinem Erstaunen schüttelte der Verleger den Kopf.

 

»Er ist ziemlich reich, aber geizig. Ich bin fest davon überzeugt, daß er mich heute morgen nur deshalb besucht hat, weil er nichts für das Telefon ausgeben wollte. Übrigens war er vor zwei Monaten auch bei mir, gerade an dem Tag, als die amerikanischen Börsen zusammenbrachen. Daher weiß ich auch, daß er ziemlich wohlhabend sein muß. An dem Tag hat er gegen dreißigtausend Pfund verloren, und doch tut er so, als ob nichts geschehen wäre. Es scheint ihm nichts auszumachen, und das kann doch nur der Fall sein, wenn er ein großes Vermögen hat. Er ist nicht nur reich, er will auch immer noch reicher werden. Er will eine sehr wohlhabende junge Dame heiraten – heute morgen hat er eine Bemerkung darüber gemacht. Wissen Sie vielleicht, um wen es sich handelt?«

 

»Ich kenne eine solche junge Dame, aber ganz bestimmt wird er die nicht heiraten«, erklärte John grimmig.

 

*

 

Auch John Morlay bekam einen Beweis für Julians übertriebene Sparsamkeit, die man schon Geiz nennen konnte. Am nächsten Sonnabend kam Julian elegant gekleidet zu Morlay und bat, ihn im Wagen nach Ascot mitzunehmen. Julian machte aus seinem Herzen keine Mördergrube und erklärte unterwegs, warum er ihn um den Gefallen gebeten habe. Seinem Chauffeur zahlte er nur einen verhältnismäßig geringen Lohn, weil er ihm Sonnabends und sonntags immer freigab. »Wenn er mich am Wochenende nach Ascot fahren sollte, würde mich das fast zwei Pfund kosten, ganz abgesehen vom Benzin.«

 

»Sie sind ein ganz gemeingefährlicher Geizhals!«

 

»Regen Sie sich doch nicht auf, mein lieber Junge. Wenn Sie durchaus etwas zum Fenster hinauswerfen wollen, dann lesen Sie lieber Kieselsteine auf. Aber Sie sollten kein Geld wegwerfen, ein Pfund ist eben ein Pfund. Es kann Ihnen doch gleich sein, ob Sie mich im Auto mitnehmen oder nicht – kostet Sie ja keinen Cent mehr. Sie tun einem anderen damit einen Gefallen, das muß Ihnen doch eine innere Befriedigung geben. Wenn ich in kleinen Dingen nicht sparte, wäre ich auch nicht imstande, Ihnen ein großes Honorar anzubieten, falls ich Ihre Dienste in Anspruch nehme. Und ich könnte auch nicht den Stoff für mein Werk sammeln.«

 

»Ach, das Buch über die unterirdischen Gefängnisse?«

 

Julian lächelte.

 

»Sie haben mit meinem Verleger gesprochen. Auch ein Mann, der niemals den Mund halten kann. Nein, ich schreibe nicht über unterirdische Gefängnisse, aber es wird trotzdem sehr interessant werden. Der Verleger hat mir zwar gesagt, daß ich kein Geld damit verdiene, aber mein Name wird bekannt.«

 

»Nun, das können Sie leichter erreichen, wenn Sie irgendeinen aufsehenerregenden Mord begehen«, entgegnete John ironisch.

 

Julian schüttelte den Kopf. Er nahm die Bemerkung sogar ernst.

 

»Ich kenne niemanden so gut, daß ich ihn umbringen könnte.«

 

Sie mußten einige Zeit warten, bis die Schranken beim Eisenbahnübergang in Sunningdale geöffnet wurden.

 

»Es tut mir furchtbar leid, daß Sie meinen Auftrag nicht angenommen haben. Ich traue Ihnen nämlich vollkommen. Wahrscheinlich gibt es aber auch gar nichts Geheimnisvolles über Mrs. Carawood herauszubringen. Ich hoffe jedenfalls, daß es so ist.«

 

»Aber Sie vermuten doch, daß noch eine große Summe von dem Vermögen der jungen Gräfin Fioli übriggeblieben ist?«

 

Julian nickte, ohne sich im mindesten zu schämen.

 

»Sie dürfen deshalb aber nicht glauben, daß ich Marie nur des Geldes wegen heiraten will.«

 

»Sie werden sie überhaupt nicht heiraten, mein Freund«, erwiderte John kurz. »Erstens mag sie Sie nicht, und zweitens dulde ich es nicht. Es wäre besser, wenn Sie sich darum kümmerten, daß endlich das Manuskript zu Ihrem Buch fertig wird.«

 

Julian lächelte selbstzufrieden.

 

*

 

Das Haus in Ascot war wirklich nicht sehr groß. Die schöne Diele, mit weißer Holztäfelung verkleidet, war allerdings geräumig, aber Wohn- und Speisezimmer waren ziemlich klein.

 

Marie kam ihnen bis zur Haustür entgegen und führte John dann durch das ganze Gebäude. Sie war wie ein Kind, das sich über ein neues Spielzeug freut, fühlte sich als Hausherrin und zeigte ihm sogar Küche und Keller, Speisekammer, den elektrischen Kochherd, den neuen Kühlschrank und all die vielen modernen Einrichtungen, die die Hausarbeit erleichtern. Mrs. Carawood hatte kein Geld gespart. Schließlich führte sie ihn auch noch die Treppe hinauf und zeigte ihm ihr wunderbares Schlafzimmer mit angrenzendem Ankleideraum und Bad. Es war traumhaft schön.

 

»Ach, es ist herrlich!« rief sie. »Ich werde das ganze Jahr hierbleiben. Der Garten wird mit Blumen bepflanzt – es ist wundervoll!«

 

»Und was machen Sie sonst noch?« fragte John ruhig.

 

Sie sah ihn plötzlich ernst an, und er machte sich schon Vorwürfe, daß er ihre fröhliche Stimmung gestört hatte.

 

»Ich weiß es noch nicht – ich habe es mir auch schon überlegt, daß ich etwas tun muß. Heute morgen habe ich mit Nanny darüber gesprochen. Sie will nicht zulassen, daß ich das ganze Jahr hierbleibe, ich soll nur ein paar Monate in Ascot verbringen. Während der anderen Zeit soll ich Reisen ins Ausland machen. Aber ich muß doch etwas arbeiten, John! Ich werde mir eine Schreibmaschine kaufen und stenografieren lernen. Julian hat schon gesagt, daß er mir dann sein Manuskript diktiert. Er zahlt mir ein sehr anständiges Monatsgehalt.«

 

»Nun, das wird nicht so viel sein. Julian zahlt schlecht«, entgegnete John unfreundlich. »Hat Mrs. Carawood nicht einen anderen Plan?«

 

»Nein, sie mag nichts davon hören, daß ich etwas arbeite. Sie sagt immer, das sei ganz unnötig.«

 

Große Glastüren führten vom Schlafzimmer auf den Balkon. Die beiden traten hinaus und sahen den kleinen, gepflegten Garten unter sich und durch eine Öffnung zwischen den Bäumen eine weite Fläche fruchtbarer Felder. Dahinter erhob sich eine Kette von Hügeln, und darüber wölbte sich der strahlende Abendhimmel. Es war ruhig, still und friedlich. Der Wind trug einen Duft von Tannen und frischgeschnittenem Gras herüber.

 

»Sie dürfen sich nicht mit einem ruhigen Leben hier zufriedengeben«, sagte er nach einer langen Pause. »Schön, Sie stehen morgens in dieser schönen Umgebung auf, lesen die Zeitungen, spielen etwas Golf und Tennis, fahren dann zur Stadt, um Einkäufe zu machen, kommen zurück und legen sich schlafen. Wollen Sie sich damit zufriedengeben? Nein, Sie sind zu Besserem als einem so eintönigen Leben bestimmt.«

 

Sie seufzte und nickte dann.

 

»Ich habe mir verschiedenes überlegt –«

 

»Aber fangen Sie ja nicht an, sich in wohltätigen Vereinen oder dergleichen zu betätigen!«

 

»Aber was kann ich denn sonst tun?« fragte sie ungeduldig und vorwurfsvoll.

 

»Sie müssen arbeiten! Sagen Sie doch Mrs. Carawood, daß Sie ihr im Geschäft helfen wollen. Lernen Sie etwas über Kleider!«

 

»Das habe ich ihr ja auch schon gesagt, aber sie war ganz entsetzt, als sie das hörte. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu heiraten …« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Was sagen Sie dazu?«

 

In diesem Augenblick trat Mrs. Carawood mit Julian auf den Balkon, und dadurch wurde John der Antwort enthoben.

 

Julian paßte vorzüglich in diese Umgebung. Er war ein angenehmer Gesellschafter, konnte unterhaltend sein, wenn man es von ihm verlangte, aber er konnte auch schweigen, wenn es am Platz war. Er verstand es, Mrs. Carawood viel Angenehmes über den schönen Landsitz zu sagen, und ließ sich durch die Abendlandschaft in eine geradezu lyrische Stimmung bringen.

 

Früher hatte sich John Morlay niemals viel um Julian gekümmert. Er wußte eigentlich nur, daß sich der junge Mann sehr elegant kleidete und immer tadellos gebundene Krawatten trug. In Julians Gegenwart fühlte sich John immer etwas unbeholfen und schlecht angezogen. Für gewöhnlich lächelte er nur über diese übertriebene Betonung des Äußeren, aber heute fühlte er sich zum erstenmal in den Schatten gestellt.

 

Julian war wirklich ein ausgezeichneter Unterhalter; alles, was er sagte, klang interessant und paßte gut zu den Brillantknöpfen. Er kannte alle möglichen Leute, auch berühmte Schriftsteller und Maler, und wußte höchst intime Skandalgeschichten aus ihrem Privatleben.

 

John schwieg während des größten Teils der Mahlzeit, aber dann kam doch ein Gespräch mit Mrs. Carawood zustande. Sie selbst trug nicht viel zu der Unterhaltung bei; in dieser Umgebung schien sie mehr denn je durch ihren Mangel an Bildung und Umgangsformen bedrückt zu sein. John übernahm gern die Führung, und in kurzer Zeit hatte er sich in seine Rolle gefunden. Es gelang ihm sogar, Julian in den Schatten zu stellen, so daß selbst Marie ihm zuhörte.

 

Vor allem wollte er feststellen, ob Mrs. Carawood tatsächlich ab und zu nach Antwerpen reiste. Es war ja möglich, daß sich die Sache sehr einfach und harmlos aufklärte. Geschickt brachte er die Unterhaltung auf den Weltkrieg, auf Belgien, Brüssel und die Städte an der Küste.

 

»Kennen Sie auch Antwerpen, Mrs. Carawood?«

 

Sie sah ihn schnell an und zögerte ein wenig.

 

»Ja, ich bin schon dort gewesen.«

 

»Was, du warst in Antwerpen, Nanny?«

 

Marie schien das bisher nicht gewußt zu haben.

 

»Ja, mein Liebling, ich war dort – ich hatte geschäftlich in der Stadt zu tun. Es gibt dort eine Konfektionsfabrik, bei der ich viel einkaufe. Die Leute sind sehr geschickt im Kopieren französischer Modelle und die Preise günstig.«

 

»Merkwürdig, daß gerade in Antwerpen eine solche Firma existiert«, meinte Julian. »Ich habe noch nie gehört, daß gute Modemodelle aus Antwerpen kommen.«

 

»Wieso?« fragte Mrs. Carawood kühl. »Eines der besten Modelle der letzten Saison wurde von einem Fischer in Aberdeen entworfen.«

 

Die Unterhaltung wandte sich wieder anderen Dingen zu, und Julian gelang es aufs neue, Marie in ein angeregtes Gespräch zu verwickeln. Er neigte sich näher zu ihr, und sie schien recht vertraut mit ihm zu sein. Die Unterhaltung mit Mrs. Carawood wurde für John Morlay immer weniger interessant.

 

Plötzlich lehnte sich Marie über den Tisch.

 

»Nanny, kann Julian mir wohl ein Geschenk machen?«

 

»Ein Geburtstagsgeschenk«, sagte Julian bescheiden.

 

Mrs. Carawood schien nicht sehr erfreut zu sein, denn sie runzelte die Stirn.

 

»Es ist ja eigentlich nichts dagegen einzuwenden«, erwiderte sie jedoch, da ihr kaum etwas anderes übrigblieb.

 

Ihre Stimme klang ablehnend. John fühlte, daß die Frau Julian nicht leiden konnte; infolgedessen wuchs seine Zuneigung zu ihr.

 

»Es ist nur ein Ring – ein kleines Schmuckstück«, entschuldigte sich Julian. »Ich sah ihn neulich bei Crather in der Bond Street. Das Geschäft wurde übrigens bestohlen, es ist dort eingebrochen worden.«

 

»Maries Geburtstag liegt aber doch schon drei Monate zurück«, bemerkte Mrs. Carawood.

 

»In der Schule hätte sie den Ring doch nicht tragen können«, protestierte Julian.

 

Sie sah John an, als ob sie erwartete, daß er sich dazu äußern solle.

 

»Das mag stimmen«, gab sie dann zu. »Ich habe es nicht gern, wenn du Schmuck trägst …, aber das ist ja schließlich ein Geschenk, das dir jemand anders auch machen könnte.«

 

Sie zögerte und machte eine kleine Pause. »Ich meine, es bedeutet nichts –«

 

»Nein, es bedeutet durchaus nichts«, entgegnete Marie lachend und wandte sich wieder an Julian. »Also, ich gebe Ihnen die Erlaubnis. Sie können den Umfang meines Fingers messen. Ich habe eine gewisse Schwäche für Smaragde.« Sie streckte den Finger aus.

 

Julian seufzte.

 

»Der Ring, den ich Ihnen schenken wollte, hat gerade keinen so kostbaren Stein. Es ist ein italienischer Siegelring.«

 

»Aus poliertem Aberdeen-Granit«, sagte John hitzig. »Sie können ihn ruhig annehmen, Marie, es ist kein wertvolles Geschenk.«

 

Julian sah ihn verärgert an.

 

*

 

Kapitel 6

 

6

 

John Morlay kam am nächsten Tag nach Büroschluß zu dem Laden in der Penton Street. Er wäre wieder fortgegangen, wenn er nicht einen Lichtschimmer durch eine Spalte in den Vorhängen gesehen hätte. Als er klingelte, wurde ihm sofort geöffnet, und in der ersten Überraschung legte Mrs. Carawood das Buch nicht beiseite, in dem sie eben noch gelesen hatte.

 

Die verächtliche Bemerkung Julian Lesters fiel ihm ein, und ein Blick auf den Titel bestätigte, daß sie einen gerade nicht sehr hohen literarischen Geschmack besaß. Als sie entdeckte, daß er auf das Buch sah, stellte sie es hastig zu den anderen Bänden ins Regal.

 

»Sie lesen wohl sehr viel, Mrs. Carawood?«

 

»Ja. Aber andere Bücher als Sie, Mr. Morlay.«

 

»Nun, ich bin aber vielleicht deshalb doch nicht klüger«, entgegnete er lächelnd. »Es gab auch bei mir eine Zeit, in der ich gern aufregende Romane las.«

 

»Ach, jetzt sind Sie zu alt dazu?« fragte sie so naiv, daß er beinahe laut aufgelacht hätte.

 

»Selbst wenn man älter wird, hat man noch einen Hang zum Abenteuer. Diese Geschichten faszinieren immer.«

 

Er war mit keiner besonderen Absicht gekommen. In Wirklichkeit hatte ihn eigentlich nur der Wunsch hergetrieben, mehr von Marie zu hören. Aber das wollte er sich selbst nicht eingestehen. Es fiel ihm schwer, die Sprache auf die junge Dame zu bringen, und sie kam ihm auch in keiner Weise entgegen. Herman verschwand in die Küche, kam bald darauf mit einem Tablett zurück und servierte Tee. Mrs. Carawood sagte entschuldigend, daß das ihr Lieblingsgetränk sei, das sie zu jeder Tageszeit genießen könne. John hatte dieselbe Schwäche. Schließlich blieb ihm nichts übrig, als direkt auf sein Ziel loszusteuern.

 

»Ich möchte Sie fragen, Mrs. Carawood, ob Sie sich schon Pläne über die Zukunft der Gräfin Fioli gemacht haben?«

 

Sie sah ihn besorgt an.

 

»Ich mache mir allerhand Gedanken darüber. Mylady müßte irgend etwas anfangen. Es ist nicht gut, wenn sie nichts zu tun hat. Sie kann sehr gut schreiben und hat einen vorzüglichen Stil; vielleicht könnte sie einen Roman verfassen?«

 

»Ich glaube, das ist nicht das Richtige«, entgegnete er lächelnd.

 

Sie wurde rot und nickte. Er ärgerte sich, daß er sie durch seine Worte verletzt hatte. Sie war ziemlich empfindlich, wenn es sich um ihre mangelnde Bildung handelte. Erst nach einiger Zeit hatte er sie wieder so weit beruhigt, daß sie über Marie mit ihm sprach. Aber dann erfuhr er viel von ihrer Kindheit und von ihrem außergewöhnlichen Verstand. Die Frau erzählte ihm, Marie sei als kleines Kind schon so schön gewesen, daß sich alle Leute nach ihr umgedreht hätten.

 

»Sie hatte einen Kinderwagen, der allein zwanzig Pfund kostete«, erklärte Mrs. Carawood stolz. »Innen war er ganz mit feinem Leder ausgeschlagen, natürlich rosa, wie es sich für ein Mädchen gehört …«

 

So sprach sie dauernd weiter, und John hörte ihr zu, ohne daß sein Interesse erlahmte. Im Gegenteil, er konnte nicht genug von Marie erfahren.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte sie plötzlich.

 

»Nein. Enttäuscht Sie das?«

 

Sie sah ihn offen an.

 

»Sie sind ein Gentleman – und ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Vielleicht können die Leute sagen, es sei ein großer Fehler, Marie der Gesellschaft eines jungen Mannes anzuvertrauen. Aber sie ist ja noch so jung, und Sie sind ein Gentleman.«

 

Ihre Worte hatten ihm plötzlich die Lage klargemacht, in der er sich befand. Bisher hatte er es vermieden, darüber nachzudenken.

 

»Mit anderen Worten, Mrs. Carawood, Sie wollen nicht haben, daß ich mich in die Gräfin Fioli verliebe?«

 

Er wollte die Frage im Scherz stellen, aber das gelang ihm nur halb.

 

»Nun gut«, fuhr er fort, »wenn das doch passieren sollte, verspreche ich Ihnen, mich zuerst an Sie zu wenden, Mrs. Carawood, bevor ich ihr ein Sterbenswörtchen davon sage.«

 

»Es ist ja auch nur zu erklärlich, daß sich die Leute in sie verlieben«, erwiderte sie und nickte. »Dagegen kann man nichts machen. Ich würde auch nichts dazu sagen; nur –«

 

»Ich verstehe Sie sehr gut, Sie haben eine große Verantwortung. Und wenn ich mich Hals über Kopf in sie verlieben sollte, werde ich doch nie vergessen, daß ich beruflich für Sie tätig bin.«

 

Mrs. Carawood seufzte tief. Das hatte sie ihm auch sagen wollen, als sie zu ihm gekommen war, aber sie hatte damals nicht den Mut gefunden, ihre Gedanken in Worte zu kleiden. Sie fürchtete, ihn damit zu beleidigen, und sie brauchte doch einen Freund in der Not.

 

John Morlay ging unruhig zu seiner Wohnung zurück. In wenigen Tagen hatte sich sein ganzes Leben geändert; er sah die Welt jetzt mit anderen Augen an. Das Schicksal hatte ihn gegen seinen Willen in eine sonderbare Lage gebracht, aber eigentlich war er gar nicht böse darüber.

 

Kapitel 7

 

7

 

Wehmütig dachte Marie daran, daß die Tage von Cheltenham nun hinter ihr lagen. Sie mußte sich zusammennehmen, um die Tränen zurückzuhalten, die sich ihr in die Augen drängen wollten, als sie im Zug saß. Sie fühlte sich niedergeschlagen, nicht wegen des Lebens, das sie zurückgelassen hatte, sondern weil sie Angst vor der Zukunft empfand.

 

Sie saß allein in der Ecke eines Abteils erster Klasse. Zeitungen und illustrierte Zeitschriften lagen neben ihr, aber sie hatte keine Lust, darin zu lesen.

 

Als der Zug in Gloucester einlief, nahm sie einen Brief aus ihrer Handtasche und las ihn halb lächelnd, halb stirnrunzelnd, denn der Brief hatte einen ganz merkwürdigen Inhalt. Auf John Morlay konnte sie sich sehr gut besinnen; die Züge dieses interessanten Mannes vergaß ein junges Mädchen nicht so leicht. Sie hatte öfter an ihn denken müssen, nachdem er ihr zum erstenmal vorgestellt worden war. Und dann war er vor ein paar Tagen nach Cheltenham gekommen. Sie hatte sich damals schon gewundert, was er dort zu tun hatte, aber der Brief gab ihr nun eine Erklärung:

 

 

›Meine liebe Contessa, ich muß Ihnen eine große Neuigkeit mitteilen, wenn Mrs. Carawood sie Ihnen nicht schon erzählt hat. Mit großer Genugtuung, aber auch mit leiser Furcht, habe ich eine Anstellung als Schutzengel, Begleiter und offizieller Familienfreund erhalten.

 

Ich werde Sie bei Ihrer Ankunft in Paddington abholen und während Ihres Aufenthaltes in Ascot stets in Ihrer Nähe sein. Vielleicht ist Ihnen diese Aussicht ein wenig unangenehm, aber ich bin sicher ein Schutzengel, der sich nicht zu sehr aufdrängen wird. Hoffentlich langweile ich Sie nicht zu sehr. Ich bitte Sie, es mir ganz frei und offen zu sagen, wenn Sie mich nicht brauchen können. Ich werde Sie zu Gesellschaften begleiten, und wenn es notwendig ist, tanze ich auch mit Ihnen, falls die Herren fehlen. Aber das wird wohl nur selten vorkommen. Um diesen Verpflichtungen in jeder Beziehung gerecht werden zu können, übe ich heimlich in meinem Büro. Als Tanzpartnerin nehme ich meinen Stuhl. Also, stellen Sie sich vor, wie ich hinter verschlossenen Türen mit dem Stuhl im Arm die schönsten Bewegungen und Drehungen mache. Ich möchte die erschreckten und erstaunten Gesichter meiner Angestellten sehen, wenn sie mich durchs Schlüsselloch beobachten.

 

Ich muß Ihnen übrigens noch die schauerliche Mitteilung machen, daß ich ein Detektiv bin. Selbst wenn Sie etwas enttäuscht sein sollten, muß ich aber doch der Wahrheit die Ehre geben und Ihnen erklären, daß es nicht meine Pflicht ist, böse Leute zu verhaften. Ich befasse mich auch nicht mit Morden, Einbrüchen und Gewalttätigkeiten, sondern bin hauptsächlich ein Detektiv für Handelsauskünfte und rechne meistens große Geschäftsbücher nach. Im Grunde habe ich wenig mit dem berühmten Sherlock Holmes gemein.

 

Mrs. Carawood hält es für nötig, daß jemand auf Sie aufpaßt, und deshalb hat sie mich für diesen angenehmen Posten engagiert. Ich bin also in gewisser Weise ein Angestellter. Sie müssen mich daher John nennen, etwa so, als ob ich Ihr Diener wäre. Nennen Sie mich aber bitte nicht Mr. Morlay, denn ich bin kein Butler. Eines verspreche ich Ihnen: Ich werde nicht die Sünden Ihrer Vergangenheit ausspionieren, ich werde auch keine Proben Ihrer Fingerabdrücke nehmen und nicht den Versuch machen, Ihnen irgendwelche Verbrechen in die Schuhe zu schieben, die in der Vergangenheit passiert sind.

 

Mit dem Ausdruck meiner aufrichtigen Verehrung

John Morlay‹.

 

 

Marie hatte den Brief schon mehrmals durchgelesen und amüsierte sich auch jetzt wieder darüber. Zu diesem Zweck hatte er ihn ja auch geschrieben. Diese Mitteilung war ihr in keiner Weise unangenehm; sie wußte ja, daß Mrs. Carawood etwas nervös und ängstlich war, wenn es sich um sie handelte. Und John Morlay war im Grunde genommen ein wirklich netter junger Mann. Marie dachte sogar darüber nach, ob sie sich wohl in ihn verlieben würde. Solche Gedanken waren in ihrem Alter natürlich, und außerdem hatten ihre Freundinnen ihr oft von ihrer Sehnsucht nach romantischen Erlebnissen vorgeschwärmt.

 

Als der Zug im Bahnhof einlief, hielt der Wagen, in dem Marie saß, direkt vor John Morlay.

 

Es hatte geregnet, und er sah in dem Regenmantel, der bis über die Knie reichte, besonders stattlich und groß aus.

 

»Melde mich zur Stelle«, begrüßte er sie, nahm ihre Hand und drückte sie vorsichtig. »Ich bin mir noch nie in meinem Leben so wichtig vorgekommen. Und wenn ich offen sein soll«, fuhr er feierlich fort, obwohl sie ihn freudestrahlend anlachte, »habe ich mich nur dadurch dazu bringen können, meine Pflicht voll und ganz aufzunehmen, daß ich mir vorstellte, Sie wären ein großer Kasten voll Gold, den ich auf die Bank von England bringen muß, damit er unterwegs nicht von bösen Dieben gestohlen wird. Der Wagen zum Transport wartet«, fügte er mit einer würdevollen Handbewegung hinzu. Sie lachte nur noch mehr, so daß seine anfängliche Nervosität vollkommen schwand.

 

»Sie haben einen sehr schönen Anfang gemacht, Mr. Morlay – ach so, ich muß Sie ja John nennen.«

 

»Ja, sagen Sie John. Soll ich Sie sofort nach Pimlico bringen, oder wollen wir erst eine Tasse Tee zusammen trinken?«

 

»Wenn ich es mir überlege, ist eine Einladung zum Tee verlockend. Ich habe immer um elf Uhr morgens gefrühstückt. In unserer Schule war das eine strenge Regel.«

 

Er fuhr mit ihr zum Hyde Park, wo eben ein Erfrischungspavillon geöffnet wurde. Unter einem großen Baum ließen sie sich in bequemen Stühlen nieder und tranken Tee.

 

»Sie sind wohl mit Mrs. Carawood sehr befreundet?«

 

»Ja, wir sind wie Bruder und Schwester«, erklärte John feierlich.

 

»Aber Sie müssen mir wirklich richtig Auskunft geben. Ich glaube ja, daß sie Sie sehr gut kennt, sonst hätte sie mich niemals Ihrer Obhut anvertraut.«

 

»Ich denke, sie hat große Menschenkenntnis«, erwiderte er. »Im Ernst, Contessa –«

 

»Wollen Sie nun auch so gut sein, mich als Zimmermädchen zu betrachten und mich einfach Marie zu nennen?« fragte sie vergnügt. In der Schule hatte ich den Spitznamen Moggy, aber wir kennen uns noch nicht lange genug, daß Sie den schon verwenden dürften.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Gut, dann bleibt es bei Marie. Und ich heiße John.«

 

Morlay war über sich selbst erstaunt. Noch nie hatte er soviel Witze gemacht, niemals war er so aus sich herausgegangen. Er war doch ein gesetzter, ruhiger Geschäftsmann in mittleren Jahren, der sich eigentlich dementsprechend würdevoll benehmen mußte. Einige Zeit scherzte er noch mit ihr, dann wurde sie plötzlich ernst.

 

»Die Welt lag früher für mich so fern, aber jetzt ist alles plötzlich Wirklichkeit geworden; es gibt so viele Dinge, vor denen ich mich fürchte. Ich kann es kaum begreifen – noch vor einer Woche habe ich einen Aufsatz über Wilhelm den Eroberer geschrieben, und jetzt sitze ich hier neben Ihnen im Hyde Park. Es ist alles so sonderbar, so phantastisch – und daß Sie an meiner Seite sitzen, ist das Seltsamste von allem –«

 

»Kennen Sie eigentlich Julian Lester?«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Ja. Warum fragen Sie danach? Selbstverständlich kenne ich ihn«, erwiderte sie fast vorwurfsvoll. »Er hat Sie mir doch vorgestellt. Er ist mit einer meiner Freundinnen entfernt verwandt, und ich finde ihn eigentlich ganz nett. Sie nicht auch?«

 

»Ja, er ist recht nett«, sagte John wenig begeistert. »Schreibt er Ihnen öfter?«

 

Hätte er auch nur einen Augenblick nachgedacht, so hätte er niemals gewagt, eine derartige Frage an sie zu richten. Ein erstaunter Blick aus ihren tiefblauen Augen traf ihn.

 

»Natürlich schreibt er mir«, entgegnete sie etwas kühl und warf den Kopf leicht zurück. »Sprechen Sie jetzt als Detektiv?«

 

»Ach, das war nur eine neugierige Frage. Ich habe mich um Dinge gekümmert, die mich nichts angehen«, erklärte er schnell, um den Fehler wiedergutzumachen. »Sehen Sie, Marie, ich muß doch wissen, wer Ihre Freunde sind und mit wem Sie ???fehlende Zeile im Buch che Ansprüche; gern las sie Abenteuerromane, wie überhaupt aus Versehen dem falschen Mann mit dem großen Gummiknüppel, den ich mir für Ihren Schutz angeschafft habe, auf den Kopf. Von morgen ab werde ich ihn wie ein Gewehr über der Schulter tragen, wenn ich mit Ihnen ausgehe.«

 

Die nächste Viertelstunde saß er neben ihr und schwieg. Sie plauderte über ihre Mitschülerinnen und ihre Lehrerinnen, über Kissenschlachten im Schlafsaal und all die kleinen Ereignisse, die jungen Mädchen wichtig erscheinen.

 

Nur widerwillig zahlte er schließlich die Rechnung und brachte Marie zum Wagen zurück. Je mehr sie sich der Wohnung in der Penton Street näherten, desto ruhiger und ernster wurde sie.

 

»Kennen Sie Nanny wirklich sehr gut?«

 

»Sie meinen Mrs. Carawood? Nein, das nicht. Ich traf sie das erstemal an dem Tag, als ich nach Cheltenham kam.«

 

Marie seufzte.

 

»Ach, sie ist so gut und lieb zu mir gewesen! Wissen Sie, Mr. – John, manchmal kommt mir der Gedanke, daß ich gar nicht so reich bin, wie die Leute immer glauben.«

 

»Wie kommen Sie denn darauf?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie unsicher. »Julian hat schon ein paarmal mit mir darüber gesprochen, das heißt, er hat es eigentlich nur angedeutet, daß ich entsetzlich reich sein soll. Aber ich weiß doch von all den Dingen gar nichts. Schließlich drang er darauf, daß ich Nanny fragen sollte, ob sie einen Teil meines Vermögens in Aktien angelegt habe – ich vergaß den besonderen Namen der Papiere …«

 

»Aber warum glauben Sie denn, daß Sie nicht reich sind?«

 

»Weil mir Nanny das sicher gesagt hätte«, entgegnete sie ruhig. »Ich habe manchmal das Gefühl, daß ich nicht einen Penny besitze und daß sie mich nur auf diese gute Schule geschickt hat, weil sie mich so gern hat.«

 

Ihre Stimme zitterte ein wenig, und John schwieg.

 

»Würde es Sie sehr schmerzen, wenn Sie arm wären?«

 

Sie schüttelte wieder den Kopf.

 

»Nur in einer Beziehung: Ich möchte etwas für sie tun. Sie hat so hart gearbeitet, und diese Villa in Ascot ist eine große Verschwendung. Wenn sie sich nicht um mich sorgen und mir ein so glänzendes Leben verschaffen wollte, könnte sie bestimmt ihre Kleiderläden zumachen und brauchte für den Rest ihres Lebens nicht mehr zu arbeiten.«

 

»Haben Sie ihr nicht schon einmal den Rat gegeben?«

 

»Doch einmal«, gab Marie zu. »Aber das hat sie sehr verletzt. Oh, ich glaube, es würde einen großen Unterschied für mich machen, wenn ich nicht so reich wäre.«

 

»Ja, da haben Sie recht«, sagte er so nachdenklich, daß sie ihn verwundert ansah.

 

Und sie hatte auch allen Grund dazu, denn John Morlay wurde zum erstenmal in seinem Leben rot.

 

Kapitel 3

 

3

 

Mrs. Carawood ging durch den großen, grauen Steinbogen, der den Eingang zu dem bekannten und berühmten Mädchen-College in Cheltenham bildete, und wandte sich nach links, wo die Steintreppe lag.

 

Die einzelnen Klassen kamen aus den verschiedenen Wohngebäuden zum Haupthaus, lange Reihen junger Mädchen zu zweien und zweien, in dunkelblauen Röcken und weißen Blusen. Dazu trugen sie Krawatten in den Farben der Schule.

 

Der Portier eilte auf Mrs. Carawood zu, als er sie erkannte.

 

»Guten Morgen! Haben Sie Mylady schon gesehen?«

 

»Nein, Mr. Bell«, sagte die untersetzte Frau freundlich. »Ich kam gestern spät mit dem Abendzug. Geht es ihr gut?«

 

Ihre Stimme hatte einen gewissen Anklang an den Londoner Jargon. Dem Portier gefiel sie, wenn er das Äußere und die Manieren dieser Frau auch nicht gerade sehr fein fand. Jedenfalls war sie anders als die Eltern der jungen Damen, die hier erzogen wurden, und er fühlte sich mit ihr eigentlich gesellschaftlich auf einer Stufe.

 

»Es ging ihr sehr gut, als ich sie gestern sah. Wollen Sie sie heute nach Hause mitnehmen?«

 

Mrs. Carawood schüttelte den Kopf.

 

»Nein«, erwiderte sie kurz und ging dann weiter.

 

Am oberen Ende der Treppe wurde sie von einer der Lehrerinnen empfangen, die als Zeichen ihrer Würde eine Art Medaillon um den Hals trug. Diese geleitete sie durch eine große Tür in einen Saal, wo sie ihr einen Platz anwies. Sie befand sich oben auf der Galerie, die die große Halle auf drei Seiten umgab. Unten war auf der einen Seite ein Podium aufgeschlagen und mit schweren, blausamtenen Vorhängen drapiert. Auf dem Tisch standen ein silbernes Lesepult und eine Vase mit prachtvollen Blumen. Im Hintergrund präludierte eine Orgel. Die Mädchen der einzelnen Klassen nahmen ihre Plätze ein, bis der große Raum und die Galerien gefüllt waren.

 

Zuletzt erschienen die Schülerinnen des obersten Jahrgangs, die besondere Sitze hatten. Eins der Mädchen sprach mit einer älteren Dame und entfernte sich dann. Mrs. Carawoods Augen leuchteten auf, als sie bald darauf die schlanke Gestalt auf sich zukommen sah.

 

Es war Marie. Ihr Gesicht hatte sich vor Freude gerötet, und sie kam eilig auf Mrs. Carawood zu. Sie reichte der alten Frau die Hand und drückte einen Augenblick die Wange an die ihre.

 

Nun erschienen unten die Lehrerinnen. Eine trug das große Gebetbuch. Eine große, majestätisch aussehende Dame folgte ihr. Sie hatte ernste, würdevolle Züge, schaute aber etwas müde auf die Versammlung.

 

John Morlay saß auf der gegenüberliegenden Seite der Galerie und beobachtete Mrs. Carawood und Marie Fioli. Er war einer der ersten gewesen, die die Galerie des großen Saals betreten hatten, und wartete nun schon über eine Viertelstunde, während die vielen jungen Mädchen nach und nach den Raum füllten.

 

Jetzt fiel ihm ein, daß er Mrs. Carawood schon in Ascot gesehen hatte, als sie aus dem Auto stieg. Sie mußte etwa fünfzig Jahre alt sein, hatte eine dunkle Gesichtsfarbe und angenehme, freundliche Züge. Sie erinnerte John Morlay in gewisser Weise an eine Zigeunerin, denn sie hatte schwarze Haare, die noch nicht im mindesten ergraut waren. Und auf diese Entfernung hin konnte er auch nicht die kleinen Falten in ihrem Gesicht sehen, so daß es glatter und jugendlicher erschien, als es in Wirklichkeit war.

 

Aufs höchste erstaunt und interessiert betrachtete er Marie Fioli, als sie hereinkam. Er konnte sich zwar noch auf das schlanke junge Mädchen besinnen, das er vor einigen Monaten kennengelernt hatte, aber sie hatte sich inzwischen sehr verändert. Eine Frau konnte man sie noch nicht nennen, aber sie war unter keinen Umständen mehr ein Kind. John war geradezu begeistert von ihrem Aussehen. Als er sie das letztemal gesehen hatte, war sie jungenhaft schlank, etwas ungelenk und befangen gewesen. Aber nun bewegte sie sich harmonisch und natürlich, anmutig und formvollendet.

 

Es wurde eine kurze Andacht abgehalten, aber Morlay hörte die Worte der Direktorin nicht; er konnte den Blick nicht von Maries Gesicht abwenden. Und je länger er zu ihr hinüberblickte, um so verächtlicher und gemeiner erschien ihm die kaltblütige Art, mit der sich Julian Lester in den Besitz ihres Vermögens setzen wollte. Der Auftrag, den ihm der junge Mann erteilt hatte, war häßlich. John Morlay wollte nichts damit zu tun haben.

 

Als die Andacht vorüber war, traten Mrs. Carawood und Marie Fioli aus der Galerie in den Gang. Die alte Frau war immer in einer gewissen Hochstimmung, wenn sie bei der jungen Gräfin weilen durfte. Sie bemerkte den Fremden, der in ihrer Nähe stand und sie beobachtete. Es war ein großgewachsener, schlanker, hübscher Mann, der sie freundlich anlächelte.

 

»Ich habe doch die Ehre, Gräfin Fioli vor mir zu sehen?« fragte er höflich und hielt den Hut in der Hand.

 

Marie sah ihn einen Augenblick überrascht an, dann lachte sie leise.

 

»Ach, ich besinne mich auf Sie – Sie sind doch Mr. Morlay?«

 

Er war erstaunt, daß sie sich noch an ihn erinnerte.

 

»Mr. Lester hat Sie mir doch bei Rumpelmeyer vorgestellt.«

 

Allmählich glättete sich die Stirn der älteren Frau wieder, und John glaubte zu bemerken, daß sie erleichtert aufatmete. Sie gingen zusammen bis zum äußeren Schultor, wo das junge Mädchen unversehens Mrs. Carawood umarmte und küßte. Dann nickte sie John noch einmal lächelnd zu und verschwand im Haus.

 

Einige Sekunden schwiegen die beiden anderen. Mrs. Carawood schaute noch auf die Tür, in der Marie verschwunden war.

 

John staunte, daß diese Frau die junge Gräfin so sehr verehrte. Schon dieses kurze Zusammensein hatte sie in freudige Erregung gebracht.

 

»Sie haben Ihre kleine Freundin sicher sehr gern?« sagte er freundlich.

 

Sie schrak zusammen und wandte sich nach ihm um.

 

»Ja, ich habe sie gern«, erwiderte sie. »Es ist, als ob sie mein eigenes Kind wäre.«

 

»Ich habe gehört, daß sie die Schule bald verlassen wird?«

 

Sie nickte.

 

»Nächste Woche. Sie wird jetzt ihren eigenen Haushalt führen.«

 

Mrs. Carawood erklärte das mit einem gewissen Stolz.

 

»Ist sie nicht noch etwas sehr jung, um schon ihr eigenes Haus in Ascot zu halten? Oder geht sie vielleicht vorher noch nach Italien?«

 

Ihre Blicke trafen sich, und er sah, daß sie argwöhnisch wurde.

 

»Nein«, erklärte sie kurz. Aber als ob sie ihren scharfen Ton bedauerte, fügte sie gleich hinzu: »Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll. Sie ist wirklich noch sehr jung.«

 

»Zu jung, um zu heiraten«, entgegnete Morlay.

 

Er hätte vor allem gern erfahren, ob sie die Annäherungsversuche dieses eleganten Taugenichts Lester begünstigte, und seine unausgesprochene Frage wurde beantwortet, als er in ihr düsteres Gesicht sah.

 

»Ja, noch viel zu jung«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Außerdem hat Marie auch nicht den Wunsch, von mir fortzugehen.«

 

Er konnte nicht gut noch länger bleiben, zog höflich den Hut und entfernte sich. Sie sah ihm nach, bis er um die nächste Ecke bog, und wandte sich dann an den Portier.

 

»Wer war eigentlich der Herr, Mr. Bell?«

 

»Meinen Sie den Mann, mit dem Sie eben sprachen?«

 

Sie nickte.

 

»Das ist Mr. Morlay. Er kam vor zwei Jahren einmal hierher. Man hatte ihn gerufen, damit er einen Betrug aufdecken sollte. Er ist nämlich so eine Art Privatdetektiv …«

 

Ihre Hand zitterte plötzlich, und ihr Gesicht wurde grau. Der Portier sprach noch weiter über Mr. Morlay, aber sie hörte seine Worte nicht.

 

Ein Privatdetektiv! Ihr Herz schlug wild, während ihre Lippen noch einmal leise das Wort formten. Ein Privatdetektiv!