Kapitel 14

 

14

 

Die Uhren draußen schlugen eins, als Julian in das Haus trat. Er stieg die nur spärlich beleuchtete Treppe hinauf, blieb auf dem zweiten Podest stehen, nahm seinen Schlüssel heraus und öffnete die Wohnungstür. Er bewegte sich fast lautlos; nur als die Tür aufging, gab es ein leises Geräusch.

 

Aber dieses schwache Knarren genügte, um jemand zu warnen. Als Julian die Tür weit aufmachte, sah er für den Bruchteil einer Sekunde einen Lichtschimmer durch die halboffene Tür seines Schlafzimmers. Es war nur ein kurzer Augenblick, dann war es wieder vollständig dunkel.

 

Julian Lester hatte viele Fehler, aber Mangel an Mut konnte man ihm nicht vorwerfen. Er schloß die Wohnungstür leise und riegelte sie von innen ab. Dann wandte er sich nach links, trat in sein Arbeitszimmer und schaltete dort das Licht ein. Aus einer Schublade nahm er eine Browning, ging in die Diele zurück und drehte dort das Licht an. Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen, aber er wußte ganz genau, daß sie vorher offengestanden hatte. Kurz entschlossen riß er sie auf und schaltete auch hier das Licht ein.

 

»Hände hoch, mein Freund!«

 

Der Mann mit dem bleichen, ungesunden Gesicht taumelte zur Wand zurück. Er war geblendet durch das helle Licht; außerdem sah er, daß Julian die Schußwaffe gegen ihn hob. Aber er machte keinen Versuch, die Hände zu bewegen.

 

»Ich kann die Arme nicht hochheben«, sagte er heiser. »Ich habe einen bösen Herzfehler …«

 

Er sah alt, schrecklich alt aus und hatte von vielen Falten durchfurchte Züge, tiefliegende Augen, buschige, überhängende Brauen und graue Haare. Sein Gesicht zuckte nervös, als er in die Mündung der Waffe sah.

 

»Ich bin geschlagen! Ich werde mich ruhig verhalten. Wollen Sie mir nicht eine Chance geben? Ich bin nach einer Gefängnisstrafe auf Lebenszeit eben aus Dartmoor entlassen worden. Sie wollen doch einen alten Mann nicht wieder ins Zuchthaus zurückschicken?«

 

Seine Stimme klang weinerlich und bittend. Julian sah ihn verächtlich an. Die Kleider des Einbrechers waren abgetragen, die Schuhe schäbig. Alles an ihm stieß Julian ab.

 

»Wie sind Sie denn hier hereingekommen?« fragte er.

 

Das offene Fenster ließ diese Frage überflüssig erscheinen.

 

Der Mann hatte sofort eine Erklärung und Entschuldigung zur Hand, aber auf Julian machte das keinen großen Eindruck. Er hörte ihm mit eisiger Ruhe zu. Als erstklassiger Berufseinbrecher verachtete er diese Fehler eines Amateurs. Schließlich ließ er den Mann vor sich hergehen und brachte ihn in sein Arbeitszimmer. Als er die Wohnung oberflächlich durchsuchte; sah er, daß nichts fehlte. Wahrscheinlich waren sie beide zugleich in der Wohnung angekommen: der Einbrecher durch das Fenster, er selbst durch die Tür.

 

»Ich bin am Verhungern.«

 

»Wie heißen Sie? Es ist allerdings lächerlich, einen Mann wie Sie nach seinem Namen zu fragen.«

 

»Smith«, erwiderte der Mann und grinste.

 

Zuerst wollte Julian nach der Polizei schicken, aber er hatte noch nie eine solche Situation erlebt, und sie machte ihm eine gewisse Freude. Er ließ also den Mann in die kleine Küche gehen. Seine Aufwartefrau hatte ihm hier ein einfaches Abendbrot zurechtgemacht, und da Julian im Klub gegessen hatte, brauchte er es nicht.

 

»Setzen Sie sich und essen Sie!« sagte er.

 

Nach anfänglichem Zögern setzte sich der Mann hin. Am Verhungern schien er nicht gewesen zu sein, denn er aß sehr wenig, und Julian schloß daraus mit Recht, daß der Einbrecher gewohnheitsmäßig log.

 

Julian überlegte sich, was Morlay unter diesen Umständen wohl getan hätte. Natürlich hätte er sofort die Polizei benachrichtigt und den armen Teufel verhaften lassen. Julian hätte das jetzt auch noch tun können, aber dann fiel ihm etwas anderes ein.

 

»So, Sie sind also zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt worden? Das bedeutet in England zwanzig Jahre.«

 

Smith nickte.

 

»Welches Verbrechen haben Sie denn begangen?«

 

Der Mann warf Julian einen prüfenden Blick zu.

 

»Mord!« sagte er dann mit kaltblütiger Ruhe, so daß selbst Julian ein Schauer überlief. »Ich war gerade bei einem Einbruch und habe dabei einen Polizisten niedergeknallt. Das heißt, das war ein Zufall«, setzte er schnell hinzu, als er sah, welchen schlechten Eindruck das auf den anderen machte. »Dann hat eine Menge von gemeinen Lügnern gegen mich ausgesagt. Man hätte mich auch gehenkt, aber jemand hat eine Petition für mich eingereicht.«

 

»Das war es also«, erwiderte Julian. Er hatte nun einen Entschluß gefaßt.

 

»Kommen Sie mit, wenn Sie mit dem Essen fertig sind«, sagte er kurz.

 

Smith atmete erleichtert auf und sprang so schnell und behende auf, wie man es ihm bei seinem Alter kaum zugetraut hätte.

 

»Ich …«, begann er, dann sah Julian plötzlich, daß sich die Züge des Mannes schmerzlich verzerrten. Seine ungesunde, bleiche Gesichtsfarbe wurde dunkelrot und ging an manchen Stellen in ein sonderbares Blau über. Nervös suchte er in seinen Taschen und holte schließlich eine kleine Medizinflasche hervor. Mit zitternden Händen entfernte er den Korken, setzte sie an die Lippen und trank, bevor er kraftlos in einem Stuhl zusammenbrach. Julian sah den Mann bestürzt, fast furchtsam an und atmete auf, als Smith allmählich wieder zu sich kam.

 

»Es ist das Herz«, sagte Smith schnell. »Solche Anfälle habe ich zuweilen. Ich muß immer die Medizin bei mir tragen, sonst kratze ich ab.«

 

Er verschloß die Flasche wieder und steckte sie in die Westentasche.

 

»Ich möchte etwas für Sie tun«, sagte er dann. »Sie sind der erste, der freundlich zu mir gewesen ist.«

 

Julian wußte, daß das die gewöhnliche Redensart der alten Sträflinge war, mit der sie andere Leute freundlich zu stimmen hofften. Aber er war durch den Anfall so abgelenkt, daß er sich täuschen ließ und diese Versicherung mit Zufriedenheit hinnahm.

 

»Wenn Sie sich bekehren ließen und von jetzt ab ein anständiges Leben führten, gäbe es viele Leute, die Ihnen gern helfen würden.«

 

»Das sagen Sie so, aber es ist nicht der Fall. Hinter einem Sträfling sind immer alle her. Wenn Sie mir eine anständige, ruhige Arbeit geben könnten –«

 

Er sprach weiter, aber Julian hörte nicht zu. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Dieser Mann konnte ihm bei gewissen Gelegenheiten nützliche Dienste leisten und im schlimmsten Fall für ihn selbst als Sündenbock gelten.

 

»Wo wohnen Sie denn? Wie kann ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen?«

 

Smith sagte ihm das gern, und Julian schrieb die Adresse auf die Rückseite einer seiner Visitenkarten.

 

»Hier sind zehn Shilling«, erklärte er dann und gab dem Mann das Geld. »Vielleicht habe ich einmal etwas für Sie zu tun. Besuchen Sie mich von Zeit zu Zeit hier – nein, es ist besser, ich schicke nach Ihnen, wenn ich Sie brauche.«

 

Er brachte den Mann zur Haustür und begleitete ihn auf die Straße.

 

Julian war mit sich und seinem Erfolg zufrieden. Er hatte ein gutes Werk getan; es hatte ihn nur zehn Shilling gekostet und ein wenig Essen. Als er sich zu Bett legte, fühlte er eine gewisse Unruhe, so daß er schließlich aufstand und die Schubladen im Arbeitszimmer genau untersuchte. Aber er konnte nur feststellen, daß der Einbrecher nichts genommen hatte. Zufrieden legte er sich wieder hin.

 

Am nächsten Vormittag hatte Julian mit Komiteesitzungen in einem wohltätigen Verein zu tun, und später ging er mit dem Sekretär der Gesellschaft zu Tisch.

 

Um drei Uhr hatte er eine Verabredung am Belford Square. Ein kleiner Herr mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen ging vor Julians Haus auf und ab und wartete auf ihn. Lester begrüßte ihn mit einem Kopfnicken und führte ihn dann in seine Wohnung.

 

»Jawohl«, erwiderte der Mann und zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche. »Ich war in dem Laden und habe mich mit dem jungen Herman angefreundet.«

 

Er berichtete über einige Einzelheiten, die jedoch keinen großen Wert hatten. Julian überließ nichts dem Zufall, er wollte unter allen Umständen sichergehen. Dieser Agent war bei einer guten Detektei angestellt, an die sich Julian gewandt hatte, nachdem John Morlay seinen Auftrag abgelehnt hatte.

 

»Das ist sehr gut. Halten Sie sich an den Jungen und sehen Sie, was Sie aus ihm herausbekommen können. Sie wissen, daß ich soviel wie möglich über Mrs. Carawood erfahren möchte. Wie sie ihr Geschäft angefangen hat, woher sie ihr Geld hat und so weiter. Abgesehen von dem Geld, das ich Ihrer Firma bezahle, werde ich Ihnen eine recht schöne Belohnung aussetzen, wenn Sie alles wunschgemäß herausbringen.«

 

»Sie können sich auf mich verlassen«, erwiderte Martin optimistisch. »Bevor eine Woche um ist, kann ich den Jungen um die Finger wickeln.«

 

»Das hoffe ich auch«, entgegnete Julian trocken. Er hatte seine eigenen Ansichten über Herman und wußte, daß dieser nicht so leicht zu behandeln war.

 

Dieser Martin konnte ebenso nützlich sein wie John, und nachdem Julian es sich genauer überlegte, kam er zu der Entscheidung, daß es schließlich für ihn gut war, wenn die Firma Morlay den Fall nicht weiter bearbeitete.

 

*

 

Es war elf Uhr morgens, als Mrs. Carawood einen Rundgang bei ihren Geschäften begann. Aus einiger Entfernung hinter dem Laden in der Penton Street kam vom Hof eine Stimme, die ein einfaches Lied sang, und auch das nicht einmal ganz richtig. Der Mann sägte, und zum Takt der Säge sang er. Von Zeit zu Zeit kam Herman auf den Hof und schüttelte den Kopf, aber der Gesang verstummte nicht.

 

»Warum machen Sie denn solchen Spektakel?« rief der junge Mann schließlich. »Die Säge knirscht doch schon genügend!«

 

»Ich bin erstaunt, daß Sie meinen Gesang nicht leiden können«, erwiderte Mr. Fenner freundlich, aber vorwurfsvoll.

 

Er machte eine Pause und wischte die Hände an der Schürze ab. »Ist Mrs. Carawood ausgegangen?«

 

Seine Stimme klang etwas betrübt. Er hatte an diesem Tag extra Urlaub von seiner Firma genommen, um im Laden Mrs. Carawoods eine Anzahl kleiner Reparaturen vorzunehmen, die meistens nicht notwendig waren.

 

»Sie ist zu den anderen Läden gegangen, um einmal nachzusehen, wie es dort steht«, entgegnete Herman und machte sich wieder eifrig daran, Schuhe zu putzen. »Sind Sie jetzt mit der Tür fertig?«

 

Fenner nickte.

 

»So ziemlich. Ich muß noch ein wenig nachputzen und dann die hellen Stellen mit Politur überstreichen.«

 

Er schaute nachdenklich auf Herman.

 

»Hören Sie mal zu, Freund.«

 

Herman drehte sich nach ihm um.

 

»Gibt es hier noch etwas anderes für mich zu tun? Ich habe den ganzen Tag frei, und ich möchte mich gern nützlich machen. Und wenn ich Mrs. Carawood frage, sagt sie immer, es gäbe nichts für mich zu tun.«

 

»Wenn Mrs. Carawood das sagt, wird es wahrscheinlich auch so sein. Wollen Sie sich eigentlich ganz bei uns einquartieren?«

 

»Werden Sie nicht ausfallend«, warnte ihn Fenner. »Kommen Sie mal her und sehen Sie sich die Tür an.«

 

Herman warf einen Blick in den Laden. Die Verkäuferin war zum Mittagessen fortgegangen.

 

»Ich kann den Laden nicht alleinlassen.«

 

»Es ist doch eine Klingel an der Tür.«

 

Mr. Fenner ließ sich nicht so leicht abweisen. Er brauchte vor allem eine Bestätigung seiner Tätigkeit. Und jetzt wollte er möglichst noch eine Tür aushängen und daran herumbasteln. Er mußte irgendeinen Vorwand haben, sich hier im Haus aufzuhalten, denn er fühlte sich nur hier wohl, in der Nähe der Frau mit dem dunklen Gesicht, die er seit langem verehrte.

 

Während Herman noch überlegte, ob er der Aufforderung Folge leisten sollte, öffnete sich die Tür, und ein Herr trat in den Laden.

 

Kapitel 1

 

1

 

Zu den Untugenden John Morlays gehörte vor allem Neugierde. Deshalb blieb er natürlich eines Morgens auch vor dem Gartentor einer kleinen Villa in Ascot stehen. In dem schmucken, aber nicht allzu großen Haus wurde eifrig gearbeitet, und das erregte seine Aufmerksamkeit. Er sah durch eine Öffnung in der gradlinigen Hecke, wie Arbeiter eben einen Schrank hineintrugen. Weiter hinten bemerkte er einen frischgemähten Rasenplatz mit einem Bassin, und jenseits erhob sich das Wohngebäude aus roten Ziegeln. Breite weiße Sandsteinquadern bildeten die Fensterumrahmungen des zierlich wirkenden Hauses. Es lag ziemlich versteckt, so daß es wohl nur Leute wie John Morlay entdecken konnten, die Zeit und Lust hatten, planlos in der Gegend umherzustreifen. Es lag auch nicht an einer richtigen Straße, sondern an einem Weg, der sich in den Wiesen verlor. In der Nähe von Ascot gibt es eine ganze Anzahl ähnlicher Landsitze.

 

Allem Anschein nach zog hier ein neuer Mieter ein – vielleicht hatte das kleine Grundstück sogar seinen Besitzer gewechselt. John folgte den Arbeitern, die mühsam schwere Möbelstücke den Kiesweg entlangschleppten. Der Weg war erst vor kurzem gesäubert worden, und das kleine Bassin, in dem sonst Wasserlilien gestanden haben mochten, war vollkommen ausgeräumt und mit klarem Wasser gefüllt. Ein Gärtner stand auf dem Rasen, lehnte sich auf den Griff seines kleinen Rasenmähers und wischte sich über die Stirn. Er grüßte John mit einer gewissen Ehrerbietung, wie es Dienstboten Fremden gegenüber tun, von denen sie nicht recht wissen, ob sie Freunde ihrer neuen Arbeitgeber sind oder nichts auf dem Grundstück zu suchen haben.

 

»Sieben Millionen Kaulquappen waren in dem Teich«, erklärte er großartig und etwas zusammenhanglos.

 

»Ich habe nur sechs Millionen gezählt«, erwiderte John vergnügt, und der Mann sah ihn verdutzt an. »Nun gut, wir wollen uns die Sache fünfzig zu fünfzig teilen. Ich will zugeben, daß es sechseinhalb waren.«

 

»Als ich herkam, stand das Gras so hoch«, versuchte der Gärtner es aufs neue und deutete mit der Hand eine Höhe zwischen Hüfte und Knie an.

 

»Das ist noch gar nichts. In meinem Garten steht es so hoch, daß ich mich darin verirren kann. Ziehen hier eigentlich neue Mieter ein?«

 

»Ach, die?« Der Gärtner wies mit dem Daumen nach der offenen Haustür. »Nein, die haben es gekauft. Die alte Lady Coulson hat viele Jahre hier gelebt. Sie hat immer grüne Hüte auf den Pferderennen von Ascot getragen. Sicher können Sie sich noch auf sie besinnen?«

 

John hatte das Gefühl, daß er mindestens ein nachdenkliches Gesicht machen müßte. »Nein«, sagte er, nachdem er sich besonnen hatte. »Wie viele grüne Hüte trug sie denn?«

 

Der Gärtner sah ihn argwöhnisch von der Seite an und sagte langsam: »Eine Gräfin hat sie jetzt.«

 

»Die Hüte? Ach so, Sie meinen die Besitzung!«

 

»Eine junge Gräfin. Ich habe sie noch nicht gesehen. Sie kommt direkt vom College hierher. Ein Zimmermädchen und eine Köchin sind schon engagiert, auch eine Aufwartefrau – ich komme nur ab und zu her.«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte John interessiert.

 

»Ich bin nur für zwei Tage in der Woche angestellt.« Er schüttelte den Kopf. »Das sollen die mir aber erst mal vormachen, hier in zwei Tagen mit allem fertig zu werden! Wenn der Garten richtig in Ordnung kommen soll, muß ein Mann die ganze Zeit hier arbeiten. Hier gibt es kein Gewächshaus – überhaupt gar nichts. Was soll denn im Winter werden? Da müssen die Pflanzen doch herausgenommen werden.«

 

Der Gärtner machte sich wieder mit seiner Grasschneidemaschine zu schaffen.

 

John Morlay ging zur Haustür und schaute in die Diele. Der Fußboden war mit einem Läufer ausgelegt, und es roch nach neuer Farbe. Ein Elektriker in weißem Arbeitskittel ließ einen Draht fallen, um den Fremden genauer zu betrachten. Morlay wandte sich um und ging langsam um das Haus herum. Es war wirklich ein herrlicher kleiner Besitz, der sich für eine junge Gräfin besonders eignete. John überlegte, welche von den vielen Gräfinnen, die er kannte, wohl die glückliche Eigentümerin wäre.

 

Als er sich umdrehte, entdeckte er noch einen anderen Mann im Garten. Der Fremde war groß, breitschultrig, nicht mehr jung und trug schäbige Kleider. Sein Gesicht hatte eine ungesunde Farbe, und der abstoßende Eindruck seiner Züge wurde noch durch den unwirschen, verbitterten Blick erhöht, mit dem der Mann das Haus musterte. Etwas Scheues lag in seinem Wesen, als ob er fürchtete, von dem Grundstück gewiesen zu werden. Aber dann faßte er Mut und kam langsam auf John Morlay zu.

 

»Können Sie mir hier eine Stelle oder Arbeit geben?«

 

Die barsche Stimme paßte zu dem unfreundlichen Wesen.

 

John Morlay betrachtete den Mann neugierig, der einen alten Soldatentornister auf dem Rücken trug. Die Schuhe waren etwas zu groß und an den Seiten aufgeplatzt, die Hosen unten ausgefranst. Das Hemd stand am Hals offen, so daß man die sonnverbrannte Brust sehen konnte. John wußte nach der äußeren Erscheinung des Fremden sofort, mit wem er es zu tun hatte.

 

»Ich habe leider keine Arbeit für Sie, mein Sohn. Wie lange sind Sie denn schon wieder heraus?«

 

Der Mann blinzelte ihn an und verzog das unrasierte Gesicht ärgerlich. »Wie?«

 

»Wie lange Sie schon wieder heraus sind?«

 

Der Fremde sah in den Garten, auf das Haus, auf den Himmel, überallhin, nur nicht auf John.

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

 

»Seit wann sind Sie aus dem Gefängnis entlassen?«

 

»Seit sechs Monaten«, lautete die trotzige Antwort. »Sie sind wohl von der Polente?«

 

»In gewisser Weise – ja«, erwiderte John mit einem leichten Lächeln. »Warum haben Sie denn gesessen?«

 

Der Mann sah ihn fest an.

 

»Das geht nur mich etwas an. Sie können mir nichts anhaben, ich brauche mich nirgends zu melden. Ich bin nicht auf Bewährung entlassen, ich habe meine ganze Strafe abgesessen.« Seine Stimme wurde immer rauher und lauter. »Jeden Tag und jede Stunde. Ich habe keinen Strafnachlaß bekommen; wie einen Hund haben sie mich behandelt – und das habe ich ihnen heimgezahlt. Ich lasse mich nicht unterkriegen, so bin ich!«

 

Zwei Transportarbeiter kamen an ihnen vorbei. Einer trug ein Ölgemälde. Von Johns Standpunkt aus war es schwer, die dargestellte Person und den künstlerischen Wert zu unterscheiden; er sah nur, daß es sich um das Porträt einer jungen Dame in hellblauem Kleid handelte. Ihre Haare waren goldblond, und eine Vase stand neben ihr.

 

Der frühere Sträfling trat befangen von einem Fuß auf den anderen. Es war klar, daß er möglichst bald fort wollte. Aber die jahrelange Gewohnheit, von Vorgesetzten ausgefragt zu werden, hielt ihn zurück. Morlay erkannte dies, entließ ihn mit einem Auf Wiedersehen und schaute ihm dann nach, wie er mit steifen Schritten über den Rasen auf die Straße hinausging.

 

Nach einer Weile schlenderte Morlay zum Haus zurück, und nachdem er sich genügend umgesehen hatte, wandte er sich wieder an den Gärtner.

 

»Was ist es denn für eine Gräfin?«

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe es nicht recht behalten. Es ist ein fremder Name italienisch! Mit einem F fängt er an.«

 

»Danke für die Auskunft.«

 

John schlenderte durch das Gartentor hinaus. Am Ende der kurzen Straße stand das Lastauto, das die Möbel gebracht hatte, und er ging darauf zu. Als er dort ankam, hielt gerade ein anderes Auto an, und eine ziemlich behäbige Frau von mittleren Jahren stieg aus.

 

Vielleicht war sie die neue Haushälterin. Aber John fiel ein, daß der Gärtner nichts von einer solchen Angestellten erwähnt hatte. Er kümmerte sich auch nicht weiter um sie. Was gingen ihn die Dienstboten einer jungen italienischen Gräfin an?

 

Langsam ging er auf die Hauptstraße zu und hielt Ausschau nach seinem Bekannten, dem Kriminalinspektor Peas. Schließlich entdeckte er ihn in einiger Entfernung.

 

Die Gegend hier war romantisch, und auch diese junge italienische Gräfin umgab eine gewisse Romantik. Wahrscheinlich gehörte sie zu jenen Damen der vornehmen Welt, die sich hier nur während der Rennen blicken ließen. Zu dieser Zeit würde der kleine Landsitz dann fröhliche Partys sehen, aber nachher war wieder alles vorüber; Vorhänge wurden vorgezogen, die Türen abgeschlossen. Die junge Gräfin fuhr an die Riviera oder an den Lido, bis die Saison sie wieder zu ihrer idyllisch-schönen Besitzung zurückrief, die dann von neuem von den Handwerkern hergerichtet wurde. Peas, der John mit lebhaften Schritten entgegenkam, brachte diesen aus seiner Versunkenheit zur Wirklichkeit zurück.

 

Der Polizeibeamte war auf Ersuchen der lokalen Behörde von Scotland Yard hierhergeschickt worden, um einen Einbruchdiebstahl aufzuklären, und hatte John Morlay eingeladen, ihn zu begleiten. Teils, weil er gern jemandem von seiner Tüchtigkeit erzählte, teils, weil John Morlay ein großes, elegantes Auto besaß, in dem er bequem seinen Bestimmungsort erreichen konnte.

 

In kurzer Zeit begann die Saison in Ascot, und es waren schon viele der angesehenen Familien hergekommen, darunter auch ein Graf, dessen junge Gattin sich sehr für Saphire interessierte. Sie besaß eine ganze Reihe von Schmuckstücken, die mit diesen Steinen besetzt waren: Ringe, Nadeln, Armbänder und andere Gegenstände. Sie nahm ihre Juwelen stets auf Reisen mit, obwohl dies ziemlich gefährlich war.

 

Als sie eines Abends eine Party gab, stellte ein Unbekannter eine Leiter an das Fenster ihres Schlafzimmers, brach den Safe auf, der rechts neben ihrem Bett stand, und raubte drei Kassetten mit kostbarem Schmuck. Der Einbrecher wäre unbemerkt entkommen, wenn ihn nicht das Zimmermädchen im Schlafzimmer überrascht hätte. Zuerst sah sie den Mann nicht, und obwohl sie ihn nachher bemerkte, konnte sie nicht viel über sein Aussehen berichten, da er einen schwarzen Seidenstrumpf über das Gesicht gezogen hatte. Sie wollte schon um Hilfe schreien, aber eine Hand legte sich wie eine Eisenklammer auf ihren Mund.

 

Sie las aufregende Kriminalgeschichten und wußte daher auswendig, wie es bei solchen Gelegenheiten herging. Infolgedessen fiel sie auch in Ohnmacht. »Der Mann würgte mich, bis ich die Besinnung verlor!« sagte sie aus.

 

Inspektor Peas verhörte sie. Er war ein hagerer Mann mit Sommersprossen und kaum vierzig Jahre alt. Er schien noch etwas zu jung für seinen Posten zu sein, denn das Mädchen ärgerte sich über seine Fragen und beklagte sich danach, daß er keine Manieren besäße und sie nicht über den Einbruch selbst befragt, sondern seine Zeit mit nutzlosen Erkundigungen nach ihren Privatverhältnissen vergeudet hätte. Zum Beispiel wollte er wissen, wer ihr Freund sei, welchen Beruf er habe, ob er in Ascot wohne und ob er sie schon einmal in dem Haus besucht habe.

 

»Das Mädchen hat einen absolut anständigen Charakter«, protestierte ihre Herrin ungnädig.

 

»Ich habe leider die Erfahrung gemacht, daß es kaum Menschen mit anständigem Charakter gibt«, erwiderte Peas gelangweilt. »Jedenfalls nehme ich das als Polizeibeamter zunächst an, bis das Gegenteil bewiesen ist.«

 

Er war gerade nicht in der besten Stimmung, als er Morlay traf.

 

»Es ist ein ganz gewöhnlicher Wald- und Wieseneinbruch, bei dem der Kerl eine Leiter benützt hat. Das Dienstmädchen ist ebenso dumm wie alle anderen. Die fängt gleich an zu heulen, wenn man sie fragt, ob sie einen Freund hat, mit dem sie öfter mal ausgeht. Wie soll man da vorwärtskommen? Solche Einbrüche werden doch meistens vorher richtig ausbaldowert. Wo haben Sie denn Ihr Auto?«

 

»In den königlichen Stallungen. Ich wollte es in einer gewöhnlichen Garage unterstellen, aber jemand hat Sie erkannt und mich gefragt: ›Ist Ihr Begleiter nicht der große Kriminalbeamte, Inspektor Peas? Wir können nicht zugeben, daß das Auto seines Freundes bei den Wagen gewöhnlicher Leute steht.‹«

 

»Lachen Sie, dann lacht die Welt mit Ihnen«, entgegnete Peas selbstzufrieden. »Wenn man meine Fähigkeiten bedenkt, ist es geradezu ein Verbrechen, daß man mich zur Aufklärung eines solchen Falles in die Provinz schickt.«

 

John Morlay wußte nicht recht, ob Peas alle diese Bemerkungen über seine Tüchtigkeit nur zum Scherz machte, oder ob er sie ernst meinte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder mochte man den Inspektor gern, oder man konnte ihn nicht ausstehen. In jedem Fall aber mußte man einen gewissen Humor besitzen, um den Mann ertragen zu können. Und John Morlay hatte diesen Humor.

 

»Der Fall liegt so einfach, daß ihn ein sechsjähriges Kind verstehen könnte«, sagte Peas verächtlich, während sie zu Morlays Wagen gingen, der in der Garage eines kleinen Hotels stand. »Er mag ja für die Polizeibeamten von Ascot seine Schwierigkeiten haben, aber nicht für einen Mann von meinem Ruf. Es handelt sich um dieselbe Bande, die schon seit Wochen hier in der Gegend die Landhäuser plündert. Es ist wohl nicht nötig, daß ich Ihnen die Sache näher erkläre, Mr. Morlay, denn Sie sind ja kein berufsmäßiger …«

 

»Übrigens sah ich in der Nachbarschaft einen früheren Sträfling«, unterbrach ihn John und berichtete dann über den Vorfall.

 

Peas hörte ihm zu und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, den kenne ich nicht. Aber wer den Einbruch verübt hat, war sicher kein alter Mann. Ich glaube übrigens, daß der Einbrecher, der die Saphire gestohlen hat, ganz allein arbeitet.«

 

Peas kannte Ascot sehr gut, wie er seinem Bekannten auf der Rückfahrt nach London erzählte; aber da er stets behauptete, alle Menschen und alle Orte sehr gut zu kennen, nahm ihn Morlay nicht ernst.

 

»Ich kenne die ganzen alteingesessenen Familien hier«, erklärte der Inspektor, »aber es sind auch viele neue Villen in der Gegend gebaut worden. Die Leute ziehen ein und ziehen aus. Die junge Gräfin Fioli zum Beispiel kenne ich noch nicht –«

 

»Gräfin Fioli!«

 

Der Wagen geriet einen Augenblick ins Schleudern, denn Mr. Morlays innere Erregung übertrug sich auf das Steuer.

 

»Ach, ich kenne sie – oberflächlich.«

 

»Trotzdem sollten Sie vernünftig fahren. Sie sind ja eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit«, erwiderte Peas vorwurfsvoll. »Mir kann so etwas nicht passieren. Ich bleibe vollkommen ruhig und kaltblütig, wenn ich am Steuer sitze. Selbst wenn ein Kerl seitlich aus den Büschen springt und mir ein Schießeisen entgegenhält, zucke ich nicht mit der Wimper –«

 

»Hören Sie doch endlich auf, nur von sich selbst zu reden, Peas. Ist die Gräfin Fioli die Inhaberin der neuen Villa dort drüben?«

 

Der Inspektor nickte.

 

»Sie kommt direkt vom Internat – geht mitten im Jahr ab, eigentlich ein schlechtes Zeichen. Schulen und Pensionate lieben das nicht. Nächste Woche kommt sie hierher. Ihr Vormund oder ihre Erzieherin hat das Haus gekauft, das ist alles, was man weiß. Wieder eine neue Gelegenheit, die sich die Diebe nicht entgehen lassen werden. Es wird nicht lange dauern, bis dort eingebrochen wird, und dann nimmt man natürlich wieder die Intelligenz von Scotland Yard in Anspruch.«

 

»Damit meinen Sie doch sich selbst?«

 

»Wen denn sonst? Nennen Sie mir drei Männer in Europa, die meinen Verstand besitzen oder mir in bezug auf kriminalistische Fähigkeiten auch nur das Wasser reichen können«, erwiderte Peas selbstzufrieden.

 

Kapitel 4

 

4

 

Joan Bray war einundzwanzig, aber sie sah viel jünger aus. Sie war schlank – Letty sagte von ihr, daß sie schrecklich mager wäre, doch das war übertrieben. Die Narth waren Leute mit vollen Gesichtern, sie hatten alle ein rundes Kinn und schöne Köpfe, waren aber ein wenig phlegmatisch. Dagegen war Joan geschmeidig an Körper und lebhaft an Geist, jede ihrer Bewegungen war bestimmt und bewußt. Wenn sie ruhig dasaß, hatte sie die Haltung einer Aristokratin (sie weiß immer, wo sie ihre Hände hintun soll, gab Letty widerwillig zu). Man merkte ihr an, daß es ihr Freude machte, sich zu bewegen. Zehn Jahre lang war sie vernachlässigt, unterdrückt und beiseitegeschoben worden, wenn man sie nicht zu sehen wünschte und sie hatte dabei weder ihren Lebensmut noch ihr Vertrauen verloren.

 

Sie stand nun mit einem schelmischen Lächeln in ihren grauen Augen im Zimmer, sah von einem zum andern und merkte, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Die Zartheit ihres Teints und ihr hübsches Aussehen konnten selbst von der etwas herausfordernden Schönheit ihrer Cousinen weder in den Schatten gestellt noch hervorgehoben werden. Sie glich einem Bilde, dessen wundervolle Feinheiten nicht durch Glanzlichter oder Schlagschatten hätten unterstrichen werden müssen.

 

»Guten Abend, Mr. Narth.« Sie redete ihn immer formell an. »Ich habe die Vierteljahresabrechnung fertiggestellt – sie ist einfach schauderhaft!«

 

Zu jeder anderen Zeit hätte Stephen diese Nachricht schwer getroffen, aber die Aussicht, ein großes Vermögen zu erben, hatte die Frage, hundert Pfund mehr oder weniger zu besitzen, für ihn vollständig gleichgültig gemacht.

 

»Nimm doch Platz, Joan«, sagte er. Verwundert nahm sie einen Stuhl und setzte sich abseits.

 

»Willst du bitte diesen Brief lesen?« Er reichte das Schreiben über den Tisch zu Letty, die es ihr gab.

 

Schweigend las sie, und als sie fertig war, kam ein Lächeln in ihre Züge.

 

»Das ist wirklich eine wundervolle Nachricht. Ich bin sehr froh«, sagte sie und blickte spöttisch von einer Cousine zur andern. »Und wer wird die glückliche Braut sein?«

 

Ihre unzerstörbare Heiterkeit war in Mabels Augen eine Beleidigung. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Joan annahm, daß die eine oder andere von ihnen sich in eine obskure Chinesenstadt vergraben sollte, ließ sie bis in den Nacken erröten.

 

»Sei doch nicht so dumm, Joan«, sagte sie scharf. »Das ist noch eine Frage, die überlegt werden muß –«

 

»Meine Liebe« – Stephen sah ein, daß man taktvoll vorgehen mußte – »Clifford Lynne ist ein wirklich guter Mensch, einer der besten, die es gibt«, sagte er begeistert, obgleich er Clifford Lynnes Charakter, Aussehen oder Verhältnisse nicht genauer kannte als die irgendeines Arbeiters, dem er heute nachmittag mit seinem Auto begegnet war. »Dies ist das größte Glück, das uns jemals in den Weg gekommen ist. Tatsächlich«, sagte er vorsichtig, »ist dies nicht der einzige Brief, den ich von unserem alten Freund Joseph erhalten habe. Da ist nämlich noch ein anderes Schreiben, in dem er sich viel deutlicher ausdrückt.«

 

Joan sah ihn an, als ob sie nun erwarte, daß er ihr diesen mysteriösen Brief zeigen würde. Aber er tat nichts dergleichen aus dem ganz einfachen Grunde, weil dieser Brief überhaupt nicht existierte, höchstens in seiner Phantasie.

 

»Wirklich, liebe Joan, Joseph wünscht, daß du diesen Mann heiratest.«

 

Langsam stand das Mädchen auf, ihre feingezogenen Augenbrauen schoben sich in die Höhe.

 

»Er will, daß ich ihn heirate?« wiederholte sie. »Aber ich kenne doch den Mann gar nicht.«

 

»Ebensowenig wie wir«, sagte Letty ganz ruhig. »Darum handelt es sich auch gar nicht, ob man jemand kennt. Überhaupt, wie willst du irgendeinen Mann genauer kennen, den du heiraten sollst? Du siehst eben einen Mann jeden Tag einige Minuten, und du hast nicht die geringste Ahnung, was sein eigentlicher Charakter ist. Erst wenn du später verheiratet bist, kommt sein wirkliches Wesen zum Vorschein.«

 

Aber das alles machte Mr. Narth die Sache nicht leichter. Durch ein Zeichen bedeutete er Letty zu schweigen.

 

»Joan,« sagte er, »ich bin immer gut zu dir gewesen. Ich habe dir ein Heim gegeben und habe noch mehr für dich getan, wie du wohl weißt.«

 

Er sah seine Töchter an und gab ihnen ein Zeichen, sich zu entfernen. Als sich die Tür hinter Letty geschlossen hatte, begann er:

 

»Joan, ich muß mich einmal ganz frei mit dir aussprechen.« Es war nicht das erstemal, daß er offen mit ihr redete, und sie wußte, was jetzt kommen würde. Sie hatte einen Bruder gehabt, einen wilden Jungen mit leichtsinnigem Charakter, der früher bei der Firma Narth Brothers angestellt war, dann aber mit der Kasse durchbrannte – es waren einige hundert Pfund Sterling – aber er hatte diese Entgleisung mit dem Leben bezahlt, als er zu einem Hafen fliehen wollte. Man fand ihn auf einer Chaussee in Kent tot unter den Trümmern seines Autos. Dann war da noch die Geschichte mit der alten kranken Mutter Joans, die in den letzten Lebensjahren von Mr. Narth unterhalten wurde (»Es ist doch unmöglich, daß wir sie ins Armenhaus gehen lassen, Vater«, hatte Mabel gesagt. »Wenn das in die Zeitungen kommt, wird es einen bösen Skandal geben« – Mabel war eben Mabel schon mit sechzehn Jahren).

 

»Ich möchte dich nicht an alles erinnern, was ich für deine Familie getan habe«, begann Stephen und fing nun an, ihr alles ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ich habe dich in mein Haus aufgenommen und habe dir eine gesellschaftliche Stellung gegeben, die du sonst nicht gehabt hättest. Jetzt hast du einmal Gelegenheit, mir deine Dankbarkeit dafür zu zeigen. Ich wünsche sehr, daß du diesen Mann heiratest.«

 

Sie biß auf ihre Lippe, aber sie hob den Blick nicht von dem Teppich.

 

»Hörst du, was ich sage?«

 

Sie nickte und erhob sich langsam.

 

»Wollen Sie wirklich, daß ich ihn heirate?«

 

»Ich will, daß du eine reiche Frau wirst«, sagte er mit Nachdruck. »Ich fordere von dir gar nicht, daß du irgendein Opfer bringst; ich gebe dir eine Gelegenheit glücklich zu werden. Neun von zehn Mädchen würden sich nicht einen Augenblick besinnen.«

 

Es klopfte an der Tür. Der Diener kam herein und brachte auf einem Silbertablett ein Telegramm. Mr. Narth öffnete es, las und war starr.

 

»Er ist tot«, sagte er leise. »Der alte Joe Bray ist wirklich tot!«

 

Aber schon kalkulierte er. Jetzt war der 1. Juni. Wenn er Joan in einem Monat verheiratete, konnte er den Konkurs der Firma North Brothers vermeiden. Ihre Augen trafen sich, ihr Blick war ruhig, sicher, aber fragend, der seine kalt, berechnend und gefühllos.

 

»Willst du ihn also heiraten?« fragte er.

 

Sie nickte.

 

»Ja, ich glaube«, sagte sie ruhig.

 

Der Seufzer der Erleichterung, mit dem er aufatmete, gab ihr einen Stich und ließ sie zum erstenmal die Bitterkeit des Lebens fühlen.

 

»Du bist ein sehr kluges Mädchen, und du wirst es nicht bereuen«, sagte er eifrig, als er um den Tisch herum kam und ihre kalten Hände in die seinen nahm. »Ich kann dir versichern, Joan –«

 

Er drehte sich um, denn es klopfte wieder. Der Diener trat ein:

 

»Ein Herr wünscht Sie zu sehen.«

 

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als auch schon der Besucher hinter ihm ins Zimmer trat. Er war ein großer Mann und trug einen getüpfelten, schlechtsitzenden Anzug aus rauhem Stoff. Seine Schuhe waren aus rohem Leder und schienen selbstgefertigt zu sein. Er hatte nicht einmal einen Kragen um. Ein weiches Hemd wurde am Hals sichtbar. Ein zerbeulter Hut in seiner Hand vervollständigte das Bild. Aber Joan schaute nur sein Gesicht an. Noch niemals hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie konnte nur staunen. Seine langen, braunen Haare waren gewellt, er trug einen langen, ungepflegten Bart, der bis aus die Brust herabreichte.

 

»Wer zum Teufel –« begann Mr. Narth erstaunt.

 

»Mein Name ist Clifford Lynne«, sagte die Erscheinung. »Soviel ich weiß, soll ich hier jemand heiraten. Wo ist sie?«

 

Sie starrten den wunderlichen Mann an und Letty, die ihm auf dem Fuß gefolgt war, lachte nervös auf.

 

»Mr. Lynne –« stotterte Stephen Narth.

 

Bevor der Mann antworten konnte, kam eine dramatische Unterbrechung. Draußen hörte man jemand leise mit dem Diener sprechen. Als Mr. Narth nachschaute, sah er eine Gestalt mit einem viereckigen Kasten.

 

»Was ist das?« fragte er scharf.

 

Der Diener streckte seine Hand aus der Tür und kam mit dem Kistchen ins Zimmer. Es war ganz nm und maß ungefähr eine Spanne im Quadrat. Es ließ sich durch einen Schiebedeckel öffnen.

 

»Mr. Lynne?« fragte der Diener verlegen wie jemand, der sich in einer Lage befindet, in der er sich nicht zu helfen weiß.

 

Der bärtige Mann drehte sich schnell herum. Alle seine Bewegungen hakten etwas Abgerissenes, wie Joan unbewußt beobachtete.

 

»Für mich?«

 

Er stellte den Kasten auf den Tisch und runzelte bedenklich die Stirn. Auf den Deckel waren fein säuberlich die Worte gemalt:

 

Clifford Lynne, Esq.
(bei seiner Ankunft zu überreichen).

 

Als er seine Hand ausstreckte, um den Schiebedeckel zu öffnen, schauderte Joan zusammen. Es kam ihr eine unerklärliche Ahnung, daß dem Mann eine schreckliche Gefahr drohe, sie wußte aber nicht welche.

 

»Was zum Teufel ist das?« fragte der erstaunte Fremde.

 

Der Kasten stand offen, aber man konnte nichts sehen als eine Masse weicher Watte … ab er sie bewegte sich in unheimlichen Windungen.

 

Plötzlich aber kam aus dem weißen Lager ein Kopf mit zwei schwarzen, perlförmigen Augen hervor, die bösartig aufglühten.

 

Im Bruchteil einer Sekunde schob sich hinter dem Kopf ein langer gewundener Körper hervor, schwankte hin und her, mit einmal zuckte er zurück und der häßliche Kopf schoß nach vorne.

 

Die Schlange hatte aber die Entfernung unterschätzt – nun lag sie lang auf dem Tisch, der Kopf hing über die Kante, der Schwanz war noch in der Watte versteckt. Nur für kurze Zeit lag sie so ausgestreckt da.

 

Während alle starr vor Schrecken standen, glitt sie geschmeidig auf den Fußboden. Wieder erhob sie ihr Haupt, ihr Körper wand sich hin und her, und dann holte sie aus zum Sprung …

 

Eine Explosion betäubte alle – durch einen Nebel von blauem Dunst sah Joan, wie sich die kopflose Schlange auf dem Boden in Todeskrämpfen wand.

 

»Verdammte Höllenbande!« sagte Clifford Lynne verwundert. »Wer warf diesen Stein?«

 

Kapitel 5

 

5

 

»Ein Chinese hat es gebracht«, stotterte der Diener.

 

»Ein Chinese!« stieß Clifford Lynne hervor.

 

Der Diener zeigte verschüchtert durch das große Fenster, das auf den Rasenplatz zuging.

 

Einen Augenblick stand Clifford Lynne wie gelähmt, plötzlich setzte er mit einem großen Sprung durch das offene Fenster und sauste wie ein Sturmwind quer über die Rasenfläche. Zwei Sekunden später war er über die hohe Staudenhecke verschwunden. Er nahm sie in wundervollem Anlauf.

 

Kaum war er verschwunden, da war der Bann gebrochen. Joan mußte sich um Letty kümmern, die mit verkrampften Händen schluchzte und lachte. Unter dem Tisch wand sich die sterbende Schlange. Der Raum war von weißem, beißendem Qualm erfüllt.

 

Auf den Knall hin kam Mabel in das Zimmer gestürzt. Sie sah die Schlange auf dem Erdboden, blickte erschreckt von ihrer Schwester zu Joan und von Joan auf ihren schreckensbleichen Vater.

 

»Dieser schreckliche Kerl – er hat versucht Letty zu töten!« Sie war furchtbar in ihrer falsch angebrachten Wut.

 

»Seid still!«

 

Stephen Narth machte mit dieser scharfen Bemerkung der hysterischen Aufregung ein Ende. Er fühlte sich mit einmal als Hausherr.

 

»Seid ganz still, alle miteinander, ihr verflixten Mädels! Keine von euch hat soviel Verstand wie Joan!«

 

Letty erhob sich taumelnd, sie blickte um sich, ob sie jemand bemitleidete.

 

»Das war eine wirkliche Schlange.«

 

Narth schaute entsetzt auf das sich windende Ding und machte dabei trotz seiner ernsten Würde eine etwas lächerliche Figur. »Ach, bringen Sie das Tier aus dem Zimmer. Aber mit der Feuerzange. Hat er es totgeschossen, Joan? Ich habe gar nicht gesehen, daß er eine Pistole gebraucht hat.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Auch ich habe nichts gesehen. Ich hörte nur den Schuß.«

 

Mr. Narth zeigte auf die Schlange. Der Diener kam mit der Feuerzange und faßte den noch zuckenden Schwanz.

 

»›Verdammte Höllenbande‹, hat er gesagt«, bemerkte Joan in tiefem Nachdenken.

 

Die beiden Mädchen sahen ihren Vater an.

 

»Wer war denn das, ein Strolch, Vater?« fragte Letty.

 

Mr. Narth schüttelte den Kopf.

 

»Clifford Lynne«, sagte er. Die beiden waren starr.

 

»Diese Vogelscheuche?« rief Letty aufs höchste entrüstet. »Der … ! Das also war der Mann, den ich – wir –«

 

Narth sah bedeutungsvoll auf Joan. Sie stand am offenen Fenster und hatte ihre Augen mit der Hand gegen die Nachmittagssonne geschützt. In diesem Augenblick kam der Diener zum Rasenplatz und hielt ein langes, strickähnliches Ding in der Feuerzange.

 

Clifford Lynne kam über die Hecke in raschem Lauf. Sein unmöglich langer Bart wehte nach allen Seiten auseinander. Als er die Schlange sah, hielt er an.

 

»Ein Gelbkopf«, sagte er nachdenklich. »Und ein gelber Bursche!«

 

Letty war still, als der merkwürdige Mann gemächlich ins Zimmer kam, die Hände in den Hosentaschen.

 

»Hat jemand hier in der Nähe einen Chinesen gesehen?« fragte er.

 

Letty und Mabel sprachen zu gleicher Zeit. Aber er wandte sich an Joan, die weder zitterte, noch sonst Furcht zeigte.

 

»Chinesen – und gleich zwei?« sagte er bedeutungsvoll. »Ich dachte es mir gleich!«

 

Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Dann kehrte er zum Tisch zurück und nahm die Watte aus dem Kasten heraus, Lage für Lage.

 

»Tatsächlich nur eine! Was für eine Gemeinheit!«

 

Er lugte wieder in den sonnigen Garten hinaus.

 

»Ich dachte mir, sie würden ihre Messer gebrauchen. Diese Schlingel können ganz wunderbar mit dem Messer werfen. Es ist jetzt gerade ein Jahr her, daß so ein Chinesenschuft einen meiner Vormänner auf der Mine durch einen Messerwurf tötete – auf eine Entfernung von über hundert Meter.«

 

Er hakte sich dabei an Joan gewandt, und seine Stimme klang freundlich und zuvorkommend.

 

»Haben Sie den Täter erwischt?« fragte sie.

 

Der Mann mit dem großen Bart nickte.

 

»Nach den im Gebirge herrschenden Gesetzen haben wir ihn gefaßt und einfach aufgehängt. Ein tüchtiger Kerl in mancher Beziehung – aber zu temperamentvoll. Und die einzige Möglichkeit, mit solchen temperamentvollen Kulis umzugehen, ist, daß man sie aufhängt.«

 

Sein Blick fiel auf Letty, die seine Ansicht über Temperament ungehörig, ja beleidigend fand. Er sah, wie sich ihre rosigen Lippen lächelnd kräuselten, aber es berührte ihn nicht unangenehm.

 

»Sind Sie es?« fragte er.

 

Sie begann zu sprechen. »Nein – nein – ich – was wollen Sie damit sagen?«

 

Sic wußte ganz genau, was er meinte.

 

»Ich soll jemand heiraten.«

 

Er blickte nun auf Mabel Narth, die dunkelrot wurde. Ihre kindlich blauen Augen blickten ihn feindselig mit aller Verachtung, die sie für ihn fühlte, an.

 

»Weder meine Schwester noch ich sind so glücklich«, sagte sie mit spöttischem Unterton. »Sie müssen sich an Joan wenden …« Sie blickte sich nach Mr. Narth um. »Vater!«

 

Verlegen genug stellte er seine Nichte vor.

 

»Oh!« stieß Clifford Lynne hervor.

 

Und dieses »Oh!« konnte alles mögliche bedeuten. Es konnte ebenso Enttäuschung als auch bewunderndes Erstaunen sein.

 

»Nun gut, hier bin ich. Und ich bin bereit zum –« Er zögerte, da er im Augenblick kein Wort fand. Joan hätte schwören mögen, daß das Wort, das er wahrscheinlich gebraucht haben würde, »Opfer« heißen sollte, aber er war höflich genug und sagte »bereit zur Erfüllung der Bedingung«.

 

»Der alte Joe ist gestorben«, sagte der Fremde. »Ich vermute, daß Sie das wissen? Der arme alte Schwärmer! Für viele wäre es besser gewesen, wenn er schon sechs Monate früher gestorben wäre. Eine gute alte Seele, früher ein großer Sportsmann – aber er war immer ein wenig verrückt.«

 

Wieder wandte er sich zu Joan. Nach seinem blitzartig dramatischen Auftreten konnte sie ihn nun genauer beobachten. Er war ungefähr einhundertachtzig Zentimeter groß und selbst seine unmögliche Kleidung konnte doch seinen schönen Körperbau nicht ganz verleugnen. Sein Gesicht war stark gebräunt, sein zerzauster Bart war ebenso braun wie sein Haar und seine struppigen Augenbrauen. Alles an diesem Mann lebte; diese ungeheure Energie und Lebendigkeit war das erste, was einen starken Eindruck auf Joan machte. Sie besah sich seine unförmigen Schuhe. Während der eine mit einem Riemen zugeschnürt war, war der andere mit Bindfaden zugebunden.

 

Für Mr. Narth war der Augenblick gekommen, sich in Szene zu setzen und seine Autorität zu wahren. Die Umstände machten ihn zur gewichtigsten Persönlichkeit im Raum. Er war nicht nur der Herr dieses Hauses, sondern er war vor allem auch der Haupterbe. Und dieser Mann hier war nur der Geschäftsführer des alten Joe Bray, einer, dem man keine guten Worte zu geben brauchte, sondern nur zu befehlen hatte. Er war nur ein Angestellter – und in Zukunft der Angestellte von Mr. Narth. Denn wenn er Joes Vermögen erbte, so ging doch damit auch zweifellos all die Autorität auf ihn über, die damit verknüpft war.

 

»Hm – Mr. – Lynne, ich denke doch, daß diese Auslassungen über den Zustand meines armen Vetters ungehörig sind, und ich kann nicht zugeben, daß Sie sein ehrenvolles Ansehen schmähen.«

 

Der Fremde sah ihn etwas verwundert von der Seite an.

 

»Ah – Sie sind Narth – ich habe schon von Ihnen gehört! Sie sind also der Gentleman, der das Geld anderer Leute verspekuliert hat!«

 

Stephen Narth wurde abwechselnd rot und blaß. Für den Augenblick hatte er die Sprache verloren. Die Roheit dieser Äußerung lähmte ihn. Wäre Mr. Narth vernünftig gewesen, so hätte er diesen Punkt überhaupt nicht weiter erörtert.

 

»Diese Dinge sind ja allbekannt«, sagte Lynne, indem er sich den Bart strich. »Sie können dem Lichtkegel der öffentlichen Meinung nicht entfliehen!«

 

Jetzt bekam Stephen Narth seine Stimme wieder.

 

»Ich denke gar nicht daran, solche böswilligen Gerüchte hier zur Diskussion zu stellen«, sagte er. Dabei warf er Clifford Lynne einen Blick zu, aus dem tödlicher Haß loderte. »Es ist doch notwendig, daß ich Ihnen gegenüber im Moment feststelle, daß ich nach Mr. Brays Testament der Haupterbe bin und – der – Eigentümer –«

 

»Vielleicht in Zukunft«, murmelte Lynne. »Sie möchten, daß ich meine Stelle weiter behalten soll. Ich bin dazu bereit. Brauchen Sie mich?«

 

Er sah Joan interesselos, fast dumm an. Sie verspürte heftige Neigung zu lachen.

 

»Also«, begann er wieder zu sprechen, »bin ich hier und bereit. Gott weiß, ich habe es wirklich nicht nötig, mich mit kleinen Mädchen abzugeben, aber die Sache liegt so: Joe sagte zu mir: ›Willst du mir dein Wort geben?‹ und ich antwortete ›Ja‹.«

 

Er schaute in Gedanken noch immer zu Joan hinüber.

 

Erwartete er etwa eine Antwort von ihr?

 

Offensichtlich nicht, denn er fuhr fort:

 

»Aber die letzten Vorfälle machen die Sache kompliziert. Ich hatte keine Ahnung, daß wir die »Freudigen Hände« beunruhigen würden – aber ich habe nun einmal mein Wort gegeben und bin hergekommen, um es zu halten!«

 

Mr. Narth hielt nun den Augenblick für gekommen, ohne sich etwas zu vergeben, wieder gleichberechtigt an der Unterhaltung teilzunehmen.

 

»Die ›Freudigen Hände‹? So sagten Sie doch – was in aller Welt sind denn die ›Freudigen Hände‹«

 

Der Fremde schien die unberufene Einmischung nicht übelgenommen zu haben, und Stephen Narth hatte das deutliche Gefühl, daß die Äußerung, die der Fremde vor einigen Sekunden getan hatte, nur eine Feststellung von Tatsachen war, ohne irgendwelche beleidigenden Nebenabsichten. Clifford Lynne wußte darum, aber er schien es nicht zu verurteilen.

 

»Ich habe das kleine Haus hier in der Nähe – ›Slaters Cottage‹ heißt es doch wohl – genommen«, sagte Clifford in seiner seltsam abgerissenen Art. »Ein unheimliches Loch, aber mir sagt es zu. Zu meinem Schrecken sehe ich, daß ich Ihren Teppich beschädigt habe.«

 

Dabei sah er düster auf die Spuren der Tragödie, die sich vorhin abgespielt hatte.

 

»Immerhin, Schlangen haben gar kein Recht, auf Teppichen herumzukriechen«, sagte er erleichtert, als ob er froh wäre, eine Entschuldigung dafür zu finden, daß er hier diese Unordnung angerichtet hatte.

 

Mr. Narth machte ein langes Gesicht.

 

»Sie werden hier wohnen?« fragte er, und schon hakte er auf der Zunge, dem Fremden den Rat zu geben, bei seinen späteren Besuchen durch den Dienstboteneingang zu kommen. Aber irgend etwas hinderte ihn daran, diese unhöfliche Bemerkung auszusprechen. Einen Mann, der ein so großes Verbrechen so gleichgültig übersah, der todbringende Waffen bei sich trug, die er so schnell gebrauchen und wieder verschwinden lassen konnte, daß kein menschliches Auge eine Bewegung seiner Hand sah, durfte man nicht ungestraft beleidigen. Deshalb sagte er:

 

»›Slaters Cottage‹ ist eigentlich kein angenehmer Aufenthalt für Sie. Es ist nicht viel besser als eine Ruine. Das Anwesen wurde mir neulich für hundertzwanzig Pfund angeboten. Ich habe es aber abgelehnt –«

 

»Da haben Sie sich ein gutes Geschäft entgehen lassen«, sagte Clifford Lynne ruhig. »Da drinnen steht nämlich ein Kamin aus der Tudor-Zeit, der diese Summe zweimal wert ist.«

 

Während er sprach, hatte er fast geistesabwesend auf Joan geblickt.

 

»Ich würde gar nicht erstaunt sein, wenn ich mich in ›Slaters Cottage‹ dauernd niederließe«, fügte er fast belustigt hinzu. »Dort ist eine hübsche Spülküche, wo die Frau einem die Wäsche waschen kann, auch drei ziemlich gute Räume sind vorhanden – wenn erst einmal die Rattenlöcher zugestopft sind. Ich persönlich allerdings habe gar nichts gegen Ratten.«

 

»Und ich liebe sie direkt«, sagte Joan kühl, denn sie hatte sofort die Herausforderung gemerkt und gab sie schnell zurück.

 

Für eine Sekunde schien der leise Schimmer eines Lächelns in seinen Augen aufzublitzen.

 

»Also, ich wohne hier. Aber seien Sie nicht traurig, daß Sie deswegen Ihr Ansehen einbüßen könnten. Ich werde nur selten hier vorsprechen.« Dabei spitzte er den Mund. »Solch ein Chinesenschuft! Natürlich sah mich der Kerl hereinkommen und lieferte seine Sendung gleich ab. Er konnte es ja auch gar nicht vorher tun, sonst hätten sie die Bewegungen des Tieres in dem Kasten gehört. Oder die Schlange wäre gestorben – es waren keine Löcher in dem Deckel.«

 

Mr. Narth räusperte sich.

 

»Wollen Sie uns glauben machen, daß dieses Reptil in böser Absicht gegen Sie losgelassen wurde?«

 

Clifford Lynne betrachtete ihn belustigt.

 

»Eine lebendige Giftschlange ist meiner Meinung nach kein Geburtstagsgeschenk,« sagte er höflich, »und ich hasse Gelbköpfe – sie können tödlich verletzen!« Mit plötzlicher Energie schlug er sich auf den Oberschenkel und lachte. »Warum hat er das wohl getan? Natürlich! ›Gelbe Schlange‹! Ich bilde mir nicht ein, daß er das vergessen hat!«

 

Wieder suchten seine Augen das Mädchen.

 

»Sie werden einen netten, lustigen Mann bekommen … Ich behielt Ihren Namen nicht … Joan, nicht wahr? Ich dachte, daß die Joans alle verheiratet seien, aber vielleicht denke ich dabei an die Dorothys! Sie sind ungefähr einundzwanzig Jahre alt, nicht wahr? Alle Joans sind ungefähr einundzwanzig Jahre alt und alle Patricias ungefähr siebzehn, und die meisten Mary Anns beziehen eine Alterspension.«

 

»Und alle Cliffords spielen Theater«, gab sie zur Antwort.

 

Diesmal lachte er wirklich. Es war ein leises, angenehmes und kultiviertes Lachen, das so gar nicht im Einklang mit seinem verbotenen Äußeren stand. Ein ganz anderer, neuer Mensch schien sich unter dem abstoßenden, rauhen Gewand zu verbergen.

 

»Was fällt Ihnen ein, was sagen Sie da?« er drohte scherzend mit dem Finger. »Aber ich habe die Antwort verdient.«

 

Er langte plötzlich tief in seinen kuriosen Rock, brachte eine große Messinguhr hervor und sah nach der Zeit.

 

»Sie geht nicht«, sagte er entrüstet. Nachdem er sie energisch geschüttelt hatte, hielt er sie ans Ohr. »Wieviel Uhr ist es jetzt?«

 

»Sechs«, sagte Mr. Narth.

 

»Ich wußte, daß es nicht mittags halb eins sein könnte«, sagte der Besucher ruhig und stellte die Zeiger richtig. »Ich komme wieder. Ich will mir für den Augenblick ein Logis in London mieten. Aber ich werde morgen oder einen Tag später wieder hier sein. – Gehören Sie zur Kirche von England?«

 

Diese Frage hatte er an Joan gerichtet, die bejahend nickte.

 

»Auch ich gehöre so etwas dazu,« sagte Mr. Lynne, »aber ich schwärme auch für Weihrauch und gute Musik. Auf Wiedersehen, Dorothy!«

 

»Sie meinen Agnes«, sagte Joan. In ihren Augen war wieder ein schalkhaftes Lächeln. Sie streckte ihre Hand aus und fühlte, wie er sie kräftig schüttelte. Er würdigte keines der anderen Familienmitglieder eines solchen Grußes und verabschiedete sich mit einem Nicken, das für alle galt. Dann ging er rasch aus der Tür in die Halle. Mr. Narth dachte, daß er fort sei. Gerade wollte er anfangen zu sprechen, als der bärtige Mann wieder in der Türe erschien.

 

»Kennt einer von Ihnen einen Herrn mit Namen Grahame St. Clay?« fragte er.

 

Blitzartig erinnerte sich Mr. Narth an die Konferenz, die er heute morgen gehabt hatte. »Ach ja, ich kenne einen Herrn Grahame St. Clay. Allerdings nicht genau – aber einer meiner Direktoren ist ein Freund von ihm«, sagte er. Clifford zog die Augenbrauen hoch.

 

»So – er kennt ihn?« sagte er ruhig. »Und Sie haben ihn noch nie gesehen?«

 

Mr. Narth schüttelte den Kopf.

 

»Morgen abend können Sie mir erzählen, was Sie über ihn denken.«

 

»Aber ich werde ihn wirklich nicht treffen«, sagte Mr. Narth.

 

»Doch, Sie werden ihn sicher sehen«, sagte Clifford leise. Wieder zeigte sich ein Schein von Mißtrauen in seinen klaren, blauen Augen. »Bestimmt, Sie werden St. Clay sehen, denselben St. Clay, der die gelbe Rasse hochbringen will!«

 

Im nächsten Augenblick war er fort, indem er die Haustür hinter sich zuschlug. Er war wirklich ein Mann mit etwas heftigen Manieren, wie Mr. Narth feststellen konnte.

 

»Gott sei Dank, daß ich ihn nicht heirate«, sagte Mabel, und Letty, die sich kaum von ihrem Anfall erholt hatte, stimmte ihr zu.

 

Nur Joan sagte nichts. Sie war verwirrt, aber der fremde Mann war ihr sehr interessant, und sie fühlte nicht die geringste Furcht.

 

Kapitel 6

 

6

 

Am Ende des Fahrweges, der von der Landstraße zum Hause führte, stand Mr. Clifford Lynnes Wagen. »Wagen« ist vielleicht ein etwas zu ehrenvoller Name für die Maschine, die er einige Tage vorher für fünfunddreißig Pfund gekauft hatte. Er ließ den Motor laufen, da er aus Erfahrung wußte, daß er ohne diese Vorsichtsmaßregel eine halbe Stunde brauchte, um die Maschine wieder in Gang zu bringen. Unter Rattern und Stoßen, Quietschen und Knarren brachte er das Auto auf die Straße und fuhr mit viel Lärm etwa hundert Meter weit, dann bog er in einen Fahrweg ein, der in das Gebüsch führte.

 

Das Ende des Weges brachte ihn zu dem grauen Steingebäude Slaters Cottage. Alle Fenster waren zerbrochen. In den sechziger Jahren hatte ein Besitzer des Hauses, der hoch hinaus wollte, einen kleinen Säulenvorbau errichten lassen, der sich jetzt in der Mitte stark gesenkt hatte. Mehrere Dutzend Ziegel fehlten auf dem Dach. Das einstöckige Gebäude bot ein Bild der Vernachlässigung und Verwüstung.

 

Eine Gruppe von drei Männern stand vor der Tür. Clifford kam gerade in dem Augenblick an, als sie sich einig geworden waren. Einer der Leute ging auf ihn zu, als er aus dem ratternden Wagen sprang.

 

»Sie können mit diesem Trümmerhaufen hier nichts anfangen«, sagte er. Wie man aus dem Zollstock ersehen konnte, der aus seiner hinterm Hosentasche hervorguckte, gehörte er dem Baugewerbe an. »Die Fußböden sind verfault, das Haus muß ein neues Dach haben, und außerdem brauchen Sie eine neue Wasserleitung und Kanalisation.«

 

Ohne ein Wort zu verlieren, ging Lynne an ihm vorbei in das Gebäude. Es bestand aus zwei Räumen, einem zur Linken und einem zur Rechten vom Mittelgang aus, den er jetzt betrat. Am Ende der Halle lag eine kleine Küche, in der ein verrosteter Herd stand. An diese war eine Spülküche angeschlossen. Durch die zerbrochenen Fenster an der Rückseite sah man einen verwitterten Schuppen, der repariert war und dadurch das Glanzstück des ganzen Anwesens bildete.

 

Der Fußbodenbelag ächzte und krachte unter seinen Schritten. An einer Stelle war er ganz verfault, und ein großes Loch gähnte Lynne entgegen. Die früheren Tapeten hingen in zerrissenen, farblosen Fetzen von den Wänden, und die Decke konnte man vor Spinnweben kaum mehr erkennen.

 

Er kam wieder zu der Gruppe vor der Haustür. Er stopfte umständlich seine Pfeife aus einem großen Canvasbeutel, den er aus seiner Tasche hervorholte.

 

»Sind Sie ein Baumeister oder ein Poet?« fragte er den Mann mit dem Zollstock.

 

Der Baumeister grinste.

 

»Ich verstehe etwas vom Bauen«, sagte er, »aber ich bin kein Zauberer. Um dieses Haus in einer Woche herzurichten, brauche ich drei von Aladdins Zauberlampen.«

 

Clifford steckte seine Pfeife in den Mund und zündete sie gemächlich an.

 

»Wenn wir nun von der Möglichkeit absehen, den dienstbaren Geist aus Aladdins Lampe zu engagieren, wieviel Leute brauchen Sie dann, um die Reparaturen auszuführen?«

 

»Es ist keine Frage, wieviel Leute ich anstellen kann, es ist letzten Endes eine Geldfrage«, sagte der Baumeister. »Sicher kann in einer Woche alles fertig sein, aber das würde Sie fast tausend Pfund kosten. Und das ganze Haus ist nicht soviel wert.«

 

Clifford blies eine Rauchwolke in die Luft und beobachtete, wie sie sich zerteilte.

 

»Stellen Sie doch zweihundert Mann ein und lassen Sie sie in achtstündigen Schichten Tag und Nacht arbeiten. Noch heute abend können sie den Fußboden aufreißen. Holen Sie so viel Lastwagen als Sie brauchen, und lassen Sie alles Material als Eilgut verladen. Also, ich will Eichenfußböden haben – dann einen Baderaum – elektrisches Licht muß gelegt werden – ferner bauen Sie mir eine Warmwasserleitung in das Haus – vor die Fenster müssen eiserne Läden kommen – diesen Weg wandeln Sie in eine gute Fahrstraße um – außerdem möchte ich ein Schwimmbassin hinter dem Hause haben – – das ist alles, wie ich denke.«

 

»In sieben Tagen?« staunte der Baumeister.

 

»Besser noch in sechs«, antwortete Lynne. »Entweder nehmen Sie die Arbeit an, oder ich werde einen anderen finden.«

 

»Aber Mr. Lynne, für das Geld, das Sie diese Sache kostet, können Sie eines der schönsten Häuser in Sunningdale kaufen –«

 

»Aber mir gefällt gerade diese Wohnung hier«, sagte Clifford Lynne. »Und dann noch eins: das Haus muß sicher vor Schlangen sein.«

 

Er blickte in seinem kleinen Besitztum umher. Der Zaun, der die Grenzen bezeichnete, wurde von dem Geäst der Bäume verdeckt.

 

»Alle diese Kiefern würden besser umgehauen«, sagte er. »Ich brauche eine klare, übersichtliche Feuerzone.«

 

»Was für eine Zone?« fragte der Baumeister neugierig.

 

»Außerdem müssen die eisernen Fensterläden Schießscharten haben – ich vergaß, Ihnen das zu sagen. Geben Sie mal Ihr Buch her.«

 

Er nahm dem Architekten das Notizbuch aus der Hand und begann zu skizzieren.

 

»Solche Form sollen sie haben und ungefähr diese Abmessungen«, sagte er, indem er ihm das Buch zurückgab. »Nehmen Sie den Auftrag an?«

 

»Ich will ihn übernehmen«, sagte der Baumeister, »und ich kann Ihnen versprechen, daß das Haus in einer Woche bewohnbar sein wird. Aber es wird Sie unheimlich viel kosten.«

 

»Ich weiß, was mich die Sache kostet, wenn das Haus nicht fertig ist«, unterbrach ihn Clifford Lynne.

 

Er steckte seine Hand in die Tasche, zog ein Lederetui mit Banknoten heraus, öffnete es und entnahm ihm zehn Scheine, jeden zu hundert Pfund.

 

»Ich will mit Ihnen keinen Kontrakt machen, weil ich eben ein Geschäftsmann bin. Heute ist Mittwoch, die Möbel werden nächsten Dienstag ankommen. Lassen Sie Öfen in jedem Raum aufstellen, und heizen Sie tüchtig. Es ist möglich, daß ich Sie für eine Woche nicht sehe, aber hier gebe ich Ihnen meine Telephonnummer. – In dieser Richtung legen Sie einen Graben bis zur Hauptstraße an, ferner brauche ich eine Telephonanlage, und denken Sie daran, daß der Zuführungsdraht unterirdisch gelegt sein muß – und zwar recht tief. Schlangen können nämlich graben!« fügte er leise hinzu.

 

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, stieg er in sein Auto und fuhr damit unter vielem Stoßen und Schaukeln die Straße entlang. Plötzlich war er den Blicken entschwunden.

 

»Ich werde in nächster Zeit nicht viel schlafen können«, sagte der Baumeister, und damit hatte er auch recht. –

 

Am nächsten Morgen regnete es, leise fielen die Tropfen. Es sah so aus, als ob es den ganzen Tag anhalten würde. Das war wenigstens die Ansicht von Mr. Narths Chauffeur, der gewohnt war, resigniert den Wechsel des englischen Klimas zu beobachten.

 

Mr. Stephen Narth dagegen rühmte sich, daß er überhaupt keine Notiz vom Wetter nehme. Aber irgend etwas lag in dem dunklen Himmel und der traurigen Landschaft, das mit seiner geistigen Verfassung übereinstimmte, so daß sich das Wetter auf ihn selbst übertrug und seine Niedergeschlagenheit noch vergrößerte.

 

Er sagte sich selbst immer wieder auf dem Wege von Sunningdale zu seinem Bureau, daß gar kein Grund vorläge, nicht guten Mutes zu sein. Sicher waren die Erlebnisse des gestrigen Tages nicht angetan, ihn aufzumuntern. Aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß es einen Weg gab, die Bedingung des alten Bray zu erfüllen, und die Tatsache, daß Joan sich bereit erklärt hatte, seinen Wünschen nachzukommen, war doch sicher erfreulich, und man konnte gratulieren.

 

Clifford Lynne beeinträchtigte natürlich seine Freude und war ihm ein Dorn im Auge. Merkwürdigerweise hatte das Auftauchen der Giftschlange im Wohnzimmer Mr. Narth nicht weiter beunruhigt. Sicherlich war es außergewöhnlich, ihm war aber nichts davon bekannt, daß Gelbköpfe giftig seien, auch konnte er den Zusammenhang nicht übersehen, wie der mysteriöse Kasten in sein Haus gebracht worden war. So machte er es denn wie gewöhnlich und suchte ein Problem zu vergessen, das er nicht aufklären konnte. So war es ja auch viel einfacher. Die Lösung ging ja andere Leute an.

 

Der ganze Vorfall hatte, soweit er ihn betraf, nur die Bedeutung, daß der Teppich in seinem Wohnzimmer zu einem Reinigungsinstitut gebracht werden mußte, wo man die beiden kleinen Löcher wieder stickte. Clifford Lynne nahm natürlich die ganze Sache viel zu theatralisch. Das war ein Lieblingsausdruck von Mr. Narth, mit dem er alle Ereignisse des Lebens abtat, die besonders aufregend auf ihn wirkten. Wenn nun alles gesagt und vollbracht war – und dieser Gedanke brachte ihn in besonders gute Stimmung – dann war das große Vermögen Joe Brays in seinen Händen. Die Wolken, die den Horizont am Tage vorher verdunkelt hakten, zerteilten sich. Es blieb ihm jetzt nur noch übrig, die Hochzeit möglichst zu beschleunigen, und die Reichtümer Joes in Besitz zu nehmen, sobald die Bedingung erfüllt war.

 

Er war in glücklichster Stimmung, als er durch den Privateingang in sein Bureau eintrat und konnte den beiden Leuten, die ihn dort erwarteten, ein heiteres Gesicht zeigen. Major Spedwell hatte sich über das eine Ende des Tisches gelegt, eine Zigarre zwischen den Zähnen, während Mr. Leggat am Fenster stand. Er schaute in den strömenden Regen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

 

»Hallo, meine Herren!« sagte Narth freundlich. »Sie sehen gerade so vergnügt aus wie Leichenbitter bei einer Beerdigung.«

 

Leggat drehte sich um.

 

»Weshalb sind Sie denn so vergnügt?« fragte er.

 

Stephen Narth hatte sich noch nicht überlegt, ob er seinen Kollegen einen vollständigen Einblick in seine Lage geben sollte. Denn mit dem Gelde, das ihm von der Brayschen Firma zukam, konnte er seine fragwürdigen Bekanntschaften abschütteln und zum Teufel jagen. Denn man kann nur mit Geld die Fehltritte der Vergangenheit abwaschen. Dann könnte er mit einem reinen Blatt und einem großen Kredit auf der Bank von vorn anfangen.

 

»Joe ist tot«, polterte er heraus, »und hat mir den größten Teil seines Vermögens vermacht.«

 

In seiner Freude war ihm diese unvorsichtige Äußerung entschlüpft, und er war schon böse über seine eigene Dummheit, bevor er diese Worte ganz ausgesprochen hatte.

 

Wenn Stephen erwartet hatte, daß diese Nachricht für die anderen eine Sensation bedeute, so war er enttäuscht.

 

»So, so«, sagte Leggat sarkastisch. »Und wann werden Sie das Geld in die Hand bekommen?«

 

»In ein oder zwei Monaten«, sagte der andere leichtfertig.

 

»Ein oder zwei Monate bedeuten einen oder zwei Monate zu spät«, sagte Major Spedwell. Dabei überzog sein dunkles Gesicht ein widriges Grinsen. »Ich habe heute morgen die Rechnungsrevisoren gesehen. Unter allen Umständen müssen die fünfzigtausend Pfund bis morgen beigebracht werden.«

 

»Tatsächlich,« unterbrach ihn Leggat, »wir sind fertig, Narth. Wir müssen das Geld in den nächsten vierundzwanzig Stunden aufbringen. Wenn keine Wenns und Abers in dem Testament enthalten sind, können Sie das Geld ja auf Grund der Dokumente leicht leihen. Ist eigentlich eine Bedingung in dem Testament?«

 

Narth runzelte die Stirn. Was wußte der andere? Aber Leggat sah ihm unentwegt in die Augen.

 

»Es ist eine Bedingung in dem Testament«, gab Narth zu. »Aber die ist praktisch schon erfüllt.«

 

Leggat schüttelte den Kopf.

 

»Damit können Sie gar nichts anfangen«, sagte er. »Ist das Testament so abgefaßt, daß Sie morgen fünfzigtausend Pfund darauf leihen können?«

 

»Nein«, sagte Narth kurz. »Ich kenne den wahren Wert des Vermögens nicht, und außerdem ist eine Bedingung –«

 

»Stimmt!« sagte Spedwell. »So ist die Lage, und die Lage ist äußerst gefährlich. Sie können nicht einen Sechser auf ein Testament bekommen, in dem eine Bedingung enthalten ist, die noch nicht erfüllt wurde, und auf ein Vermögen, dessen wahren Wert Sie nicht kennen. Ich wette, Sie haben noch nicht einmal eine Kopie dieses Testamentes.«

 

Stephen Narths Augen wurden klein.

 

»Sie reden wie ein Buch, Major«, sagte er. »Irgend jemand hat Ihnen mehr erzählt, als ich selber weiß.«

 

Major Spedwell drehte sich ungemütlich um.

 

»Jemand hat gar nichts erzählt«, sagte er bissig. »Das einzige, was mich und Leggat interessiert, ist, ob Sie bis morgen fünfzigtausend Pfund ausbringen können. Und da wir wissen, daß Sie es nicht können, haben wir Ihnen viel Unannehmlichkeiten erspart. Wir haben nämlich unseren Freund St. Clay gebeten, hierherzukommen und mit Ihnen zu sprechen.«

 

»Ihr Freund St. Clay? Ist das der Mann, den Sie gestern nannten?«

 

Plötzlich erinnerte sich Stephen Narth an die Prophezeiung Clifford Lynnes: »Sie werden ihn morgen sehen.«

 

»Hat denn Grahame St. Clay so viel Geld, daß er es wegwerfen kann?«

 

Spedwell nickte langsam.

 

»Ja, das kann er, und er ist auch bereit, es zu tun. Und wenn Sie meinen Rat annehmen, Narth, dann wirft er es sogar an Sie weg.«

 

»Aber ich kenne ihn doch nicht; wo kann ich ihn denn treffen?«

 

Spedwell ging auf die Türe zu, die nach dem Hauptbureau führte.

 

»Er wartet schon draußen, bis wir die Sache mit Ihnen besprochen haben.«

 

Stephen Narth sah ihn verwirrt an. Ein Mann, der fünfzigtausend Pfund ausleihen konnte, wartete auf die günstige Gelegenheit, sie zu verlieren?!

 

»Hier?« fragte er ungläubig.

 

Major Spedwell öffnete die Tür.

 

»Hier ist Mr. Grahame St. Clay«, sagte er.

 

Ein tadellos gekleideter Herr trat in das Bureau.

 

Narth starrte ihn mit offenem Munde an. Denn Grahame St. Clay war zweifellos ein Chinese.

 

Kapitel 7

 

7

 

»Mr. Grahame St. Clay«, stellte Spedwell den Fremden noch einmal vor. Mechanisch streckte Narth seine Hand aus.

 

Bis zu diesem Augenblick waren für Stephen Narth alle Chinesen gleich. Aber als er in die tiefbraunen Augen dieses Mannes sah, wurde ihm klar, daß er sich von allen anderen unterschied. Er konnte nur nicht genau sagen, wie. Seine Augen standen weit auseinander, seine Nase war dünn und lang, die schmalen Lippen unterschieden ihn von allen anderen seiner Landsleute, die er gewohnt war, mit dem mongolischen Typ zu bezeichnen. Vielleicht gab das volle Kinn Grahame St. Clay ein anderes Aussehen. Besonders beim Sprechen unterschied er sich stark von anderen Chinesen, die Stephen North jemals gesehen oder gehört hatte.

 

»Ist dies Mr. Narth?« fragte er. »Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wirklich, ich denke, daß sie mir manche Vorteile bringen wird.«

 

Seine Sprache war die eines wohlerzogenen Mannes mit einem leicht nasalen Anflug und übertrieben korrekter Aussprache, wodurch sich Leute auszeichnen, die auf einer höheren Schule erzogen sind und ihre Studien an einer größeren Universität vollendet haben.

 

»Kann ich Platz nehmen?«

 

Narth nickte schweigend, und der Ankömmling legte eine schöne Ledermappe vor sich auf den Tisch.

 

»Sie sind ein wenig bestürzt, da Sie sehen, daß ich ein Chinese bin.« Mr. St. Clay lachte leise bei diesen Worten. »›Gelbe Gefahr‹, das ist doch wohl der Ausdruck, den man gewöhnlich für uns braucht, nicht wahr? Doch ich muß sehr dagegen protestieren, daß man mich eine Gefahr nennt, da ich der gutmütigste Mensch bin, der jemals von China hierherkam«, sagte er gutgelaunt.

 

Während er dies sagte, öffnete er seine Mappe und zog ein flaches Paket daraus hervor, das mit einem roten Band verschnürt war. Äußerst sorgfältig entfernte er die Schnur, nahm die oberste Lage von steifer Pappe weg und enthüllte vor den Augen Stephen Narths ein dickes Bündel Banknoten. Narth konnte von seinem Sitz aus sehen, daß es Tausendpfundscheine waren.

 

»Fünfzig, denke ich, beträgt die Summe, die Sie benötigen«, sagte Mr. St. Clay. Mit der Geschicklichkeit eines Bankkassierers zählte er die erforderliche Zahl ab und legte das kleine Bündel auf die Seite. Behutsam verpackte er den übrigen Stoß Banknoten wieder und legte ihn in die Mappe zurück. »Wir sind doch alle Freunde hier, denke ich.« Mr. St. Clay sah von einem zum andern. »Ich kann doch hier frei sprechen.«

 

Narth nickte.

 

»Nun wohl.« Er faltete zum Erstaunen Narths die Banknoten zusammen und steckte das Geld in seine Westentasche. »Natürlich ist eine Bedingung an die Verleihung des Geldes geknüpft. Selbst ich, nur ein Chinese ohne banktechnische Ratgeber, kenne mich doch so weit in den Handelsgebräuchen aus, daß ich diese große Summe nicht ohne eine Bedingung ausleihen könnte. Frei heraus gesagt, Mr. Narth, ich verlange von Ihnen, daß Sie einer der Unseren werden.«

 

»Einer der Ihrigen?« fragte Narth langsam. »Ich verstehe nicht ganz, was Sie sagen.«

 

Spedwell vervollständigte die Information.

 

»Mr. St. Clay hat eine große Organisation in diesem Lande geschaffen. Es ist eine Art von –« Er machte eine Verlegenheitspause.

 

»Geheimgesellschaft!« vollendete Mr. St. Clay höflich. »Klingt das nicht sehr mysteriös und abschreckend? Aber in Wirklichkeit hat das nichts zu sagen. Ich habe mir ein bestimmtes Lebensziel gesetzt, und dazu brauche ich die Hilfe intelligenter Männer, denen ich vertrauen kann. Wir Chinesen haben mehr oder weniger die Eigenschaft von Kindern. Wir lieben Pomp und Geheimniskrämerei. Wir sind tatsächlich die wirklichen Exoten in der Welk, besonders spielen wir gerne mit den Dingen, und die ›Freudigen Hände‹ sind – frei heraus gesagt – meine Erfindung. Unser Ziel ist es, das chinesische Volk in die Höhe zu bringen und gleichsam Licht in der Finsternis zu verbreiten.« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Und außerdem noch allerhand ähnliche Dinge.«

 

Stephen Narth lächelte.

 

»Das scheint ein sehr lobenswertes Ziel zu sein. Ich werde mich freuen, mich Ihnen anschließen zu können.«

 

Die dunklen Augen des Chinesen hatten eine fast hypnotische Gewalt. Sie durchbohrten ihn eine Sekunde lang, so daß er das schreckenerregende Gefühl hatte, daß er augenblicklich seinen Willen einer größeren, aber wohlwollenden Macht unterstellt hatte. Denn das war das Merkwürdige an dem Chinesen, daß er eine Atmosphäre des Wohlwollens um sich verbreitete.

 

»Also, es ist gut«, sagte Mr. St. Clay einfach, zog das Paket Banknoten aus seiner Tasche und legte es höflich auf den Tisch. Dabei wehrte er ab. »Nein, nein – ich brauche keine Quittung. Zwischen Gentlemen ist das vollkommen unnötig. Haben Sie etwa einen Grad in Oxford oder Cambridge erreicht? – Ach, das ist schade. Ich ziehe es vor, mit Leuten zu verkehren, die durch dieses Band gewissermaßen mit mir verknüpft sind. Aber es genügt mir, daß Sie ein Gentleman sind.«

 

Er stand plötzlich auf.

 

»Ich denke, das ist alles. In drei Tagen werden Sie mehr von mir hören, und ich muß Sie bitten, daß Sie sich von irgendwelchen Verabredungen und Geschäften zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit im Laufe der nächsten Woche frei halten. Ich hoffe, diese Bedingung ist nicht zu beschwerlich?«

 

Lächelnd stellte er diese Frage.

 

»Durchaus nicht«, sagte Stephen Narth und nahm mit zitternden Händen das Geld an sich. Es war ihm unmöglich, den Grund seiner Erregung anzugeben.

 

»Mr. St. Clay, ich muß Ihnen meinen tiefgefühlten Dank aussprechen. Sie haben mich aus einer sehr verzweifelten Lage befreit. Wie verzweifelt sie eigentlich war, können Sie gar nicht wissen.«

 

»Ich weiß alles«, sagte der Chinese ruhig.

 

Plötzlich erinnerte sich Stephen an etwas.

 

»Warum nannte er Sie denn ›Gelbe Schlange‹?«

 

Der Chinese starrte ihn mit großen Augen an und dachte, daß er nicht recht gehört habe, so daß Stephen seine Frage wiederholen mußte.

 

»Mr. Clifford Lynne nannte mich so«, sagte St. Clay langsam.

 

Nur einen kurzen Augenblick zeigte das unergründliche Gesicht dieses Mannes, daß der unbewußt gegen ihn gerichtete Pfeil ihn schwer verwundet hatte.

 

»Gelbe Schlange … wie gemein! Wie ähnlich sieht das Clifford Lynne!«

 

Sofort nahm er sich wieder zusammen, und mit einem tiefen, wohllautenden Lachen griff er nach seiner Mappe.

 

»Sie werden von mir hören –« begann er.

 

»Noch einen Augenblick, Mr. St. Clay«, sagte Narth. »Sie sprachen von dem Ziel Ihres Bundes. Was ist denn dieses Ziel eigentlich?«

 

Der Chinese sah ihn einen Augenblick gedankenvoll an. »Die Herrschaft der Welt!« sagte er einfach. Mit einem Kopfnicken wandte er sich und ging.

 

Auf diese Weise trat Grahame St. Clay, Bachelor of Arts, in das Leben Stephen Narths ein, und von diesem Augenblick an war sein Geschick mit Stahlklammern an den Willen eines Mannes gebunden, der ihn zuerst beherrschte und dann zugrunde richtete.

 

Kapitel 8

 

8

 

Joan Bray war gewöhnt, früh aufzustehen, und bei ihrer Stellung im Narthschen Haushalt war das auch notwendig. Mr. Narth hatte keinen Hausmeister angestellt. Seiner Meinung nach war das eine unnötige Ausgabe, solange Joan die Arbeit versehen konnte. Nach und nach hatte sie alle die Pflichten auf sich genommen, die einem Hausmeister zustanden, ohne auch nur den geringsten Entgelt dafür zu erhalten. Sie vermittelte zwischen der Dienerschaft und der Familie. Sie regelte die großen monatlichen Abrechnungen mit den Kaufleuten und hatte dafür die heftigsten Auseinandersetzungen mit Mr. Narth auszuhalten, der jede Ausgabe für den Haushalt als eine unnötige Geldverschwendung ansah.

 

Ihr Tag war ganz mit Tätigkeit ausgefüllt. Sie hatte sich angewöhnt, um sechs Uhr aufzustehen, um morgens eine Stunde in der frischen Luft zuzubringen, bevor die Pflichten des Haushaltes sie ganz in Anspruch nahmen. Der gestrige Regen hatte den Boden aufgeweicht, und die Luft war abgekühlt. Aber es war ein herrlicher Morgen, der zum Spazierengehen einlud. Ein azurblauer Himmel wölbte sich über die Landschaft, er war mit weißen Spitzenwolken behängt.

 

Ihr Morgenspaziergang hatte heute ein ganz besonderes Ziel. Das große Ereignis in Slaters Cottage war das Tagesgespräch in Sunningdale. Sie hatte von ihrem Fenster aus gestern abend gesehen, wie beladene Lastwagen heranfuhren und im Gehölz verschwanden. In der Nacht erlebte sie ein seltsames und anregendes Schauspiel. Ihre Wohnung war nahe genug an Slaters Cottage, daß sie den Klang der Hämmer und Spitzhacken hören konnte. Die schwarzen Schatten der Baumgruppen hoben sich phantastisch von dem unheimlich rötlichen Licht der qualmenden Naphthalampen ab.

 

Mr. Narth war über diese außerordentliche Geschäftigkeit in seiner nahen Nachbarschaft sehr ungehalten. Gestern abend spät hatte er noch einen Gang nach Slaters Cottage unternommen und einmal nachgesehen, wie weit Clifford Lynne seine Verrücktheit treiben wollte. Bis jetzt wußte Joan nur vom Hörensagen, was in dem Landsitz vorging, und nun hatte sie Gelegenheit, sich persönlich nach dem Stand der Dinge umzusehen. Sie bog von der Landstraße ab und nahm den Weg nach Slaters Cottage. Aber weit kam sie nicht. Eine Gruppe von Männern war damit beschäftigt, den frisch angelegten Weg mit einer Teerlösung zu bestreichen. Drei schwerbeladene Lastwagen sperrten den Zugang zum Wohnhaus, das von Leuten wimmelte und sie an einen aufgestörten Ameisenhausen erinnerte. Der Baumeister des Ortes, den sie persönlich gut kannte, kam lächelnd auf sie zu.

 

»Miß Joan, was denken Sie von all diesen Dingen? Es ist doch ein Unsinn, wenn man ein kleines Landhaus, das kaum hundert Pfund wert ist, für tausend Pfund repariert?«

 

Sie konnte nur staunen. Während der Nacht waren das Dach und die Sparren abgedeckt worden, so daß nur das reine Skelett des Hauses übrigblieb.

 

»Wir haben die Fußböden herausgenommen, die Rohrleitung ist heute morgen um vier Uhr fertig geworden«, sagte der Baumeister stolz. »Im Umkreis von zwanzig Meilen habe ich jeden verfügbaren Arbeiter angestellt.«

 

»Aber warum in aller Welt macht Mr. Lynne das?« fragte sie.

 

»Ach, Sie kennen ihn?« fragte der Mann erstaunt, während sie errötete. Sie konnte ihm doch unmöglich erklären, daß Slaters Cottage später einmal ihr Heim werden sollte (wie sie sich augenblicklich einbildete), und daß dieser exzentrische Bauherr ihr späterer Gatte sei.

 

»Ja, ich kenne ihn«, sagte sie verlegen. »Er ist – ein Freund von mir.«

 

»Oh!«

 

Sichtlich nahm diese Entdeckung einen großen Teil der Zutraulichkeit des Baumeisters. Aber Joan konnte sich schon denken, was er hätte sagen wollen.

 

Sie mußte herzlich lachen, als sie auf die Straße zurückkam. Dieser launenhafte Wiederaufbau von Slaters Cottage in einer solchen Geschwindigkeit war gerade das, was sie von Clifford Lynne erwartet hatte. Warum sie das tat, wußte sie selbst nicht. Aber es schien, als ob er gerade ihr sein innerstes Wesen gezeigt hätte, und sie die einzige in der Familie war, die ihn verstand.

 

Sie hörte ein Trappeln von Pferdehufen hinter sich und bog seitlich aus.

 

»Guten Morgen, Joan!« hörte sie seine tiefe, wohllautende Stimme.

 

Erstaunt drehte sie sich um. Sie sah den Mann vor sich, mit dem sich ihre Gedanken eben so sehr beschäftigt hatten. Er ritt auf einem alten, zottigen Pony mit schläfrigen Augen. Das Pferd sah genau so zerzaust aus wie er selbst.

 

»Wieviel Mühe muß es Sie gekostet haben, ein Pferd zu finden, das so gut zu Ihnen paßt! Auch habe ich Ihr Auto gesehen, das Ihrem sonstigen Stil so gut entspricht.«

 

Clifford Lynne kniff die Augen zusammen, als ob er lachen wollte, aber man hörte keinen Laut. Sie hätte allerdings darauf geschworen, daß er sich innerlich vor Lachen schüttelte.

 

»Sie sind gerade nicht sehr höflich«, sagte er, als er vom Pferde absprang, »und obendrein aggressiv! Aber wir wollen keinen Streit anfangen, bevor wir verheiratet sind. Wo haben Sie eigentlich mein Auto gesehen?«

 

Auf diese Frage antwortete sie ihm nicht.

 

»Warum mühen Sie sich ab, dieses schreckliche; alte Landhaus neu aufzubauen. Mr. Carter, der Baumeister, sagte, es würde Sie Tausende kosten.«

 

Eine Weile sah er sie an, ohne zu sprechen, indem er mit seinem Barte spielte.

 

»Ich habe mir das so schön ausgedacht«, sagte er. »Ich bin nämlich etwas exzentrisch veranlagt. Wenn man so lange in einem heißen Klima lebt, ist es leicht möglich, daß der Verstand etwas darunter leidet. Ich habe eine Menge solcher Menschen kennengelernt. Auch finde ich es recht romantisch«, sagte er belustigt. »Ich habe mir gedacht, man müßte auch einige Kletterrosen und Geißblatt ans Haus pflanzen und dann einen schönen Gemüsegarten anlegen! Hühner gehörten auch hierher – ach, sagen Sie mir doch, haben Sie Hühner gerne?« fragte er so unschuldig wie möglich. »Wissen Sie, schwarze Dorkings oder weiße Wyandottes oder irgendeine andere Sorte. Oder mögen Sie Enten lieber?«

 

Sie hatten das Ende der Straße erreicht. Das zottige Pony war gehorsam gefolgt.

 

»Der alte Bray war so darauf versessen, daß Sie eine aus unserer Familie heiraten sollten, stimmt das?«

 

Diese Frage kam ihm so plötzlich und unerwartet, daß er einen Augenblick ganz verdutzt war.

 

»Warum fragen Sie eigentlich? Wenn Sie es durchaus wissen wollen – ja«, sagte er.

 

»Und Sie hatten Mr. Bray sehr gerne?«

 

Er nickte.

 

»Sehen Sie, ich lebte so lange mit ihm zusammen, und er war wirklich ein zu netter, alter Kerl. Wie ich die Cholera hatte, pflegte er mich persönlich, und hätte ich ihn damals nicht gehabt, so wäre ich abgekratzt, wie man so zu sagen pflegt. Ich hatte ihn wirklich gern.«

 

»Sie hatten ihn so gern,« sagte sie herausfordernd, »daß, als er Sie darum bat, nach England zu gehen und eine seiner Verwandten zu heiraten, Sie ihm das feierlich versprachen –«

 

»Das habe ich nicht direkt getan«, unterbrach er sie. »Ich habe kein Versprechen für lange Zeit auf mich genommen. Aber, um Ihnen einmal die Wahrheit zu sagen, ich dachte, er wäre verrückt.«

 

»Aber Sie haben es ihm doch versprochen«, sagte sie hartnäckig. »Und soll ich Ihnen sagen, was Sie ihm noch dazu versprochen haben?«

 

Er schwieg.

 

»Sie verpflichteten sich dem armen Joe Bray gegenüber, daß Sie nichts sagen würden, was die junge Dame, die Sie heiraten sollten, abstoßen und seine Pläne durchkreuzen könnte!«

 

Für einen kurzen Augenblick war der Mann mit dem langen Bart vollständig verwirrt.

 

»Hellseherei habe ich nie gern gehabt, das sieht der Hexerei zu ähnlich. Ich kenne nämlich eine alte Frau oben im Lande in der Nähe von Kung-chang-fu, die –«

 

»Weichen Sie mir nicht aus, Mr. Lynne. Also Sie versprachen Mr. Bray, daß, wenn sich in der Verwandtschaft eine junge Dame finden würde, die Sie heiraten könnten, Sie nichts sagen würden, um sie abzustoßen, und keine Abneigung gegen diese Heirat zeigen würden.«

 

Er kraute sich den Bart.

 

»Schon gut, es ist ja möglich, daß Sie recht haben«, gestand er. »Aber ich habe nichts gesagt«, fügte er schnell hinzu. »Habe ich Ihnen vielleicht gesagt, daß ich ein Hagestolz bin und die Ehe nicht leiden kann? Habe ich Ihnen etwa erzählt, daß der alte Joe Bray mir damit mein Leben verdorben hat? Bin ich etwa vor Ihnen auf die Knie gefallen und habe Sie gebeten, mir einen Korb zu geben? Sagen Sie doch selbst, Joan Bray!«

 

Sie schüttelte den Kopf, und das Lachen in ihren Augen teilte sich ihren Lippen mit.

 

»Also Sie haben mir gar nichts gesagt! Aber Sie haben sich selbst zu einem Popanz herausstaffiert –«

 

»Und entsetzlich abstoßend gemacht?« fragte er hoffnungsfreudig.

 

Aber sie schüttelte wieder den Kopf.

 

»Oh, doch nicht so ganz. Ich werde Sie heiraten. Ich vermute, daß Sie das verstanden haben?«

 

Die Erregung prägte sich so deutlich in seinen Gesichtszügen aus, daß sie es sehen konnte.

 

»In der Tat, ich habe es nicht nötig, Sie zu heiraten,« sagte sie mürrisch, »aber da sind – ich habe meine Gründe –«

 

»Der alte Narth hat Sie dazu gezwungen!« sagte er vorwurfsvoll.

 

»Genau so wie der alte Bray Sie dazu gezwungen hat!« antwortete sie schlagfertig. »Es ist eine merkwürdige Situation, und es könnte tragisch werden, wenn man nicht so darüber lachen müßte! Ich weiß nicht, was geschehen wird, aber ich hätte einen großen Wunsch, den Sie mir erfüllen könnten.«

 

»Und das wäre?«

 

»Gehen Sie doch zum Barbier und lassen Sie sich Ihren lächerlich großen Bart abrasieren. Ich möchte mich gern einmal davon überzeugen, wie Sie wirklich aussehen.«

 

Er seufzte schwer.

 

»In dem Fall bin ich gefangen«, sagte er. »Denn wenn Sie erst einmal mein Gesicht gesehen haben, werden Sie mich nie wieder freigeben. Ich war nämlich einer der hübschesten Männer in China.«

 

Er streckte ihr seine Hand entgegen.

 

»Dann kann man Ihnen ja gratulieren«, sagte sie einfach und brach in ein herzhaftes Lachen aus. Und sie war noch am Lachen, als sie den Weg zu ihrem Haus einbog und Mr. Narth in die Arme lief, der die Stirne runzelte.

 

Kapitel 9

 

9

 

»Worüber freust du dich so?« fragte Stephen, der im Augenblick allen Grund hatte, nicht sehr erfreut zu sein.

 

»Ich habe gerade mit meinem Bräutigam gesprochen«, sagte sie.

 

Bei diesen Worten klärte sich Stephens Gesicht auf.

 

»Ach so, den wilden Mann!« antwortete er.

 

Er trug einen Brief in seiner Hand. Die Morgenpost wurde in Sunningdale früh bestellt.

 

»Joan, ich möchte, daß du heute zur Stadt kommst und mit mir zu Mittag speist.«

 

Diese Einladung war eine große Überraschung für sie. Gewöhnlich nahm sie ihre Mahlzeiten allein ein, wenn sie zur Stadt kam.

 

»So ein nettes, kleines Essen in meinem Bureau. Ich möchte, daß du dabei einen meiner Freunde kennenlernst. Hm – ein äußerst feiner Mensch, der in Oxford sein Examen gemacht hat, dazu hat er noch eine Menge anderer Dinge gelernt.«

 

Das Benehmen von Mr. Narth fiel ihr noch mehr auf als seine Worte. Er sah so schlecht aus, daß sie sich wunderte, warum er so verstört war.

 

»Ist Letty auch dabei?« fragte sie.

 

»Nein, nein«, sagte er schnell. »Nur du – und ich – und außer meinem Teilhaber Mr. Spedwell noch – hm – mein Freund. Ich nehme an, daß du nicht diese dummen Vorurteile gegen – Fremde hast –«.

 

»Fremde? Warum? Nein! Sie wollen wohl sagen, daß er nicht Europäer ist?«

 

»Ja, das wollte ich«, sagte Mr. Narth und hustete. »Er ist Asiate – um es genau zu sagen, Chinese. Aber er ist eine außerordentlich einflußreiche Persönlichkeit in seinem Lande. Er ist ein Mandarin oder Gouverneur einer Provinz oder sonst etwas Hohes. Aber abgesehen davon ist er ein vollkommener Gentleman. Ich würde dich nicht bitten, mit jemand zusammenzukommen, wenn ich nicht selbst mit ihm verkehrte.«

 

»Aber warum, Mr. Narth. Wenn Sie doch wünschen –«

 

»Er heißt Grahame St. Clay und hat große Handelsbeziehungen sowohl in unserem Lande als auch über See.«

 

»Grahame St. Clay?«

 

Wo hatte sie doch diesen Namen gehört? Sie konnte sich im Augenblick nicht erinnern. Sie fragte noch, wann sie in der Stadt sein sollte, dann ging sie in das Haus und wunderte sich sehr, weshalb gerade sie als Gast von Mr. Narth geladen war, und warum er so ängstlich besorgt war, daß sie seinen neuen Freund treffen sollte. Sie hatte den Namen früher nicht gehört, bis –

 

Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, aber sie konnte sich nicht mehr darauf besinnen, wann ihr dieser Name genannt worden war.

 

Mr. Narth fühlte sich etwas erleichtert, ging zu der Bibliothek zurück und las den Brief noch einmal. Das war nun die erste Folge seiner Anleihe, und schon bedauerte er, es getan zu haben, da er dadurch dem Chinesen das Recht gab, ihn mit »Lieber Narth« anzureden. Der Brief enthielt nur ein Dutzend Zeilen in tadelloser Handschrift.

 

»Nachdem ich Sie heute getroffen hatte, hörte ich, daß Ihre hübsche Nichte, Miß Joan Bray, sich mit Clifford Lynne verlobt hat, den ich oberflächlich kenne. Ich würde mich sehr freuen, die Bekanntschaft dieser jungen Dame zu machen. Würden Sie so liebenswürdig sein, mit ihr zum Mittagessen zu Albemarle zu kommen oder, wenn es Ihnen besser paßt, in ein anderes Lokal in der City. Wählen Sie selbst Zeit und Ort. Arrangieren Sie bitte diese kleine Sache, und geben Sie mir durchs Telephon Antwort, sobald Sie in Ihr Bureau kommen.«

 

Es war ein Eilbrief, der gestern abend in London aufgegeben war. Der Ton, den St. Clay ihm gegenüber anschlug, war einem Manne wie Narth sehr zuwider. Um seinem Charakter voll gerecht zu werden, muß man zugeben, daß es ihm keine großen Gewissensbisse verursachte, Joan mit diesem Manne zusammenzubringen. In diesem Punkt war er großzügig und skrupellos. Hätte es sich um Letty oder Mabel gehandelt, wäre es etwas anderes gewesen. Aber es war ja nur Joan.

 

Trotzdem er sich durchaus nicht scheute, in der Öffentlichkeit mit einem Orientalen zu speisen, hatte er sich doch dafür entschieden, das Essen in dem Sitzungszimmer seines Geschäfts abzuhalten, wo er seinen Bekannten schon manches kleine Mahl gegeben hatte.

 

Als er an diesem Morgen ins Bureau kam, fand er dort Major Spedwell, der auf ihn wartete, und zu seinem Erstaunen war der alte Militär weniger mürrisch als sonst.

 

»Soeben habe ich St. Clay gesehen«, sagte er. »Haben Sie das Essen für ihn arrangiert? Er legt großen Wert darauf.«

 

»Warum?« fragte Narth.

 

Spedwell zuckte die Achseln. »Der Himmel mag es wissen – St. Clay ist ein sonderbarer Vogel. Er ist freigebig wie ein Fürst – vergessen Sie das nicht, Narth. Er kann für Sie sehr nützlich werden.«

 

»Womit beschäftigt er sich eigentlich?« fragte Narth.

 

»Sie meinen, welche Geschäfte er betreibt? Alle möglichen. Er hat eine Fabrik in Peckham, aber er hat auch noch viele andere Geschäftshäuser und Firmen, aus denen er sein Einkommen bezieht. Sie haben Glück, Narth, daß er Sie gerne mag.«

 

»Oh!« stöhnte der andere. Er war durchaus nicht begeistert von dieser Mitteilung.

 

Spedwell sah ihn mit einem seltsam trockenen Lächeln auf seinem abstoßenden Gesicht an.

 

»Sie haben bis jetzt doch ein ganz ruhiges Leben geführt, Narth – ich meine, das Leben eines durchschnittlichen Geschäftsmannes aus der City. Sie haben sich doch noch nie mit abenteuerlichen Unternehmungen befaßt, wobei Blut vergossen wurde, oder starke Dinge passierten?«

 

»Beim Himmel, nein«, sagte Stephen Narth, indem er ihn anstarrte. »Warum?«

 

»Ich fragte nur so«, sagte der andere gleichgültig. »Nur können Sie nicht erwarten, daß Sie Ihr ganzes Leben lang eine so friedliche Kruke bleiben werden.«

 

»›Kruke‹ ist ein Wort, das ich durchaus nicht liebe«, sagte Stephen scharf.

 

»Das dachte ich mir gleich«, gab der andere zu. »Ich möchte nur feststellen, daß man unmöglich alle geschäftlichen Schwierigkeiten dadurch überwinden kann, daß man sich in einen gepolsterten Sessel setzt und neue Schwindeleien ausheckt. Darüber brauchen Sie nicht gleich in die Luft zu gehen, Narth. Wir kennen doch die Welt und wissen ganz genau, daß die Firma Narth Brothers in den letzten zehn Jahren nur von Schwindel und Betrug lebte. Entweder kommt eine so friedliche Kruke wie Sie dabei langsam zu Vermögen – oder sie kommt ins Gefängnis – und Sie sind dabei eben niemals zu Vermögen gekommen und werden auch nie dazu kommen.«

 

Stephen Narth sah ihm gerade ins Gesicht.

 

»Was ist denn eigentlich der Sinn von all diesem Gerede?« fragte er.

 

Der Major drehte gedankenvoll an seinem kleinen Schnurrbart.

 

»Ich will Sie nur warnen, das ist alles«, sagte er. »Selbst für jeden Baumpfropfer kommt einmal der Moment, wo er etwas anderes tut als Bäume pfropfen – wenigstens versucht er es einmal – verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

 

»Ihre Worte sind heute wirklich recht unklar«, sagte Narth sarkastisch. »Zuerst haben Sie mich eine Kruke und dann einen Baumpfropfer genannt! Mir wäre es lieber, wenn Sie etwas liebenswürdiger und deutlicher sprechen würden!«

 

Der Major nahm einen Stuhl und stellte ihn auf die andere Seite des Schreibtischs. Dann setzte er sich und kreuzte die Arme auf der Tischplatte.

 

»St. Clay stellt Sie auf die Probe«, sagte er. »Und wenn er sieht, daß Sie am selben Strang mit ihm ziehen, [Zeilenende fehlt im Buch. Re.]

 

Narth sah ihn an.

 

»Eine Million Pfund ist leicht gesagt – aber es ist eine ungeheuer große Summe«, sagte er.

 

»Mehr als eine Million!« antwortete Spedwell entschieden. »Das ist das größte Geschäft, in das Sie jemals hineingeraten sind, mein Freund!«

 

Narth war verwirrt. Eine Million – selbst wenn man sie noch nicht verdient hatte – war eine entsetzlich große Summe. Aber wozu all diese Überlegungen? War er denn nicht der Erbe von Joe Brays großem Vermögen?

 

»Ich weiß gar nicht, warum ich mich mit Ihnen über solche Dinge unterhalte«, sagte er. »Joe Bray war doch wirklich kein armer Mann.«

 

Sekundenlang spielte ein Lächeln auf dem mürrischen Gesicht des andern.

 

»Wieviel glauben Sie denn aus der Erbschaft zu bekommen?« fragte er, fügte dann aber schnell hinzu: »Es ist schon möglich, daß Sie ein dickes Paket erhalten werden – aber wenn Sie mit St. Clay zusammen spielen, können Sie bedeutend mehr machen.«

 

Als der Major wegging, ließ er Stephen Narth unruhig und verwirrt zurück. Seitdem er die Nachricht von der Erbschaft Joe Brays erhalten hatte, legte er sich zum erstenmal die Frage vor, ob denn seine siegessichere Stimmung auch ganz berechtigt sei. Aber Joe war ein reicher Mann gewesen, der Inhaber äußerst wertvoller Konzessionen, ein Bankier, der mit seinem Gelde die ganze Regierung finanzierte – und wenn alles wahr war, was man sich in der City über ihn erzählte, mußte der alte Joe ein ungeheures Vermögen besessen haben, und das war doch ein beglückender Gedanke für ihn.

 

Ein Viertel vor eins kam Grahame St. Clay, tadellos gekleidet, in grauem Cut und spiegelblankem Zylinder. Narth hatte nun Zeit, ihn etwas näher zu betrachten. Er war ein wenig zu elegant gekleidet, die Diamantnadel in seiner Krawatte war etwas zu groß. Dabei hatte er sich stark parfümiert, und wenn er sein seidenes Taschentuch zog, verbreitete sich eine intensive Duftwolke, die Mr. Narth unangenehm auf die Nerven fiel.

 

»Haben Sie meinen Brief erhalten?« Der andere sprach wie der Vorgesetzte zu seinem Angestellten.

 

Mr. Narth ärgerte sich. Das Benehmen dieses Mannes hatte etwas aufreizend Beleidigendes für ihn. Der Chinese sah unverfroren Mr. Narth über die Schulter und las den Brief, den er soeben geschrieben hatte. Ohne Aufforderung nahm er sich einen Stuhl und setzte sich.

 

»Kommt dieses Mädchen?«

 

»Miß Bray wird mit uns speisen«, sagte Narth ein wenig steif und mit einem gewissen Unterton in seiner Stimme, der St. Clay warnte, nicht zu weit zu gehen. Er lachte.

 

»Mein lieber Freund, Sie schöpfen Verdacht gegen mich! Seien Sie doch friedlich! So kommen wir nicht weiter, besonders da wir uns eben kennengelernt haben! Sehen Sie, Narth, in meinem Vaterland bin ich eine Persönlichkeit von großem Einfluß, und ich habe die Gewohnheiten eines großen Herrn. Sie müssen das nicht so genau nehmen!«

 

Jemand klopfte an der Tür. Perkins, der Sekretär, kam herein und sah lautlos auf Stephen.

 

»Ist Miß Bray gekommen?«

 

»Jawohl«, sagte Perkins. »Soll ich ihr sagen, daß sie warten soll?«

 

»Lassen Sie sie hereinkommen!«

 

Zum erstenmal in seinem Leben wurde es Stephen Narth klar, daß Joan ein sehr hübsches Mädchen war. Sicher hatte sie noch nie so hübsch ausgesehen wie heute morgen. Sie trug ein blaues Tailormade und einen roten Hut. Das Kostüm stand ihr ausgezeichnet und hob ihren zarten Teint und ihre tiefblauen Augen.

 

Offensichtlich machte sie Eindruck auf St. Clay. Er sah sie mit großen Augen an, so daß sie errötete.

 

»Darf ich dir Mr. St. Clay vorstellen?« sagte Narth.

 

Sie wollte ihm eben die Hand geben, als die Tür zum Privatbureau plötzlich aufsprang und ein junger Mann hereinkam. Er war sehr gut gekleidet – das war der erste Eindruck, den Joan von dem Ankömmling hatte. Seine Kleider konnten nur in Sackville Street angefertigt sein. Er war noch jung an Jahren, aber doch kein Kind mehr. Ein leichtes Grau färbte seine Schläfen, und dünne Falten zeigten sich an seinen Augen. Mit einer faltigen Toga bekleidet, hätte man ihn mit seiner Adlernase und seinem beherrschenden Gesichtsausdruck für einen Tribunen des alten Rom halten können.

 

Er stand an der Tür und blickte bald St. Clay, bald Narth an – aber mit keinem Blick streifte er die junge Dame. Einen Augenblick lang war Narth bei dem plötzlichen Einbruch in sein Privatkontor wie vom Donner gerührt.

 

»Was wünschen Sie?« fragte er. »Sie müssen sich irren, dies ist ein Privatbureau –«

 

»Ich irre mich durchaus nicht«, sagte der Fremde. Bei dem Klang dieser Stimme wandte sich das Mädchen um und sah ihn mit großem Erstaunen an. »Der Irrtum ist auf Ihrer Seite, Narth, und noch nie haben Sie einen größeren Fehler gemacht, als wie Sie die Kühnheit besaßen, meine zukünftige Frau an einen Tisch mit diesem verdammten Mordbuben einzuladen! Fing-Su!«

 

Mr. St. Clay, B. A., bedeckte mechanisch seine Hände und verneigte sich.

 

»Exzellenz!« sagte er in der Mandarinensprache.

 

Joan seufzte verwirrt. Der schönste Mann Chinas hatte seine Wirkung auf sie nicht verfehlt – denn der Fremde in der Tür war Clifford Lynne!

 

Kapitel 36

 

36

 

Joan war aus einem unruhigen Schlaf emporgeschreckt. Harte Schläge fielen gegen die Tür, die bald darauf in Trümmer sank. Fing-Su stand im Hintergrund und gab seine Befehle. Er war verwundert und konnte sich nicht erklären, mit welcher Ruhe sie sich in ihr Schicksal ergab und sich in den draußen wartenden Wagen tragen ließ. Die Nacht war für einen solchen Transport günstig. Die Straßen lagen leer, und die beiden geschlossenen Wagen fuhren in höchster Geschwindigkeit nach Rotherhithe. Sie erregen nicht den geringsten Verdacht. Erst als sie auf der trostlos verlassenen Werft ausstieg, bemerkte sie, daß sie einen Leidensgefährten hatte, einen Mann, um dessen Kopf ein weißes Tuch geschlagen war. Jetzt erst hörte sie sein Stöhnen und Wimmern. Sie stieg eine gebrechliche Treppe zum Wasser hinunter und wurde von kräftigen Armen in das Boot gehoben. Auf die Fahrt vom Ufer bis zum Schiff konnte sie sich nicht mehr besinnen. Sie hatte nur noch eine ganz vage Vorstellung, daß jemand sie eine steile Leiter in die Höhe trug, dann wurde sie auf ein nasses und schlüpfriges Deck niedergesetzt. Sie nahm all ihre Kräfte zusammen und richtete sich in die Höhe. Jetzt entdeckte sie im Regen Fing-Su, der sie keinen Augenblick aus den Augen ließ. Dann brachte man sie durch eine Tür in eine spärlich möblierte Kabine. – –

 

Fing-Su ging zur Türe und rief einen Namen, der ihrer Meinung nach wie »Mammy« klang. Sogleich watschelte eine fette Chinesin herein. Sie wischte ihre Hände an einer schmutzigen Schürze ab.

 

»Das ist Ihr Schlafzimmer!« sagte Fing-Su, indem er sich an Joan wandte.

 

Er drückte die Klinke herunter, und die Tür öffnete sich handbreit.

 

»Höre zu, Amah!« Er sprach zu der Chinesin im Honan-Dialekt. »Du wirst bei diesem Mädchen bleiben und sie nicht außer acht lassen. Wenn sie schreit, hast du dafür zu sorgen, daß sie ruhig ist, und wenn du das nicht tust –« Er hob seinen Spazierstock drohend. Die alte Frau fuhr erschrocken zurück.

 

Das Schiff war jetzt in Fahrt. Das Heulen der Sirenen durchbrach die finstere Nacht. Joan stand am Tisch, hörte das Raffeln des Maschinentelegraphen und gleich darauf die dumpfen, regelmäßigen Töne der Schiffsschraube, die den ganzen Dampfer leicht erzittern ließen. Das alles war doch nur ein böser, gespenstischer Traum, es konnte nicht wahr sein. Und doch spielte sich alles in Wirklichkeit ab. Sie war an Bord eines Schiffes, das die Themse zum Meer hinabfuhr – sie zitterte.

 

Was würde das Ende dieser Reise bringen?

 

Dann rief sie sich die Worte des Majors ins Gedächtnis zurück und wußte, daß er Wort gehalten hatte. Der Umstand, daß die Chinesen die Tür einschlagen mußten, bewies deutlich, daß er an dieser Schurkerei keinen Anteil hatte. Wo mochte er selbst sein? dachte sie verwundert. Wie ein greller Blitz durchzuckte sie der Gedanke an den wimmernden Mann mit dem weiß verhüllten Kopf. Das war er sicher gewesen. Aber nur einen Augenblick dachte sie daran. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Mann mit dem steinharten Gesicht um Gnade flehen würde.

 

»Sie hier wohnen, Missie«, sagte die dicke Amah, die durch Fing-Sus Drohung noch ganz aus der Fassung gebracht war. Sie sprach in gebrochenem Englisch. »Ich gehen machen Bett von Missie –«

 

Sie öffnete die Tür weiter und ging nach innen. Joan glaubte einen Augenblick ein sonderbares Fußscharren zu hören, aber sie achtete nicht darauf, bis sie plötzlich eine Stimme vernahm:

 

»Kannst du das Licht ausmachen?«

 

Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden, denn sie erkannte Clifford Lynnes Stimme!

 

Es dauerte einige Zeit, bevor sie den Lichtschalter suchen konnte – dann fand sie ihn neben der Tür. Lange zitterten ihre Finger so, daß sie den Hebel nicht umdrehen konnte. In dem Augenblick, als das Licht ausgedreht wurde, kam jemand schnell an ihre Seite. Ein starker Arm umfaßte ihre Schultern, und ihre Spannung löste sich in einem krampfhaften Schluchzen, als sie ihren Kopf an seiner Brust barg. Ein langes, tiefes Schweigen folgte, das nur ihr leiser werdendes Weinen unterbrach. Dann sprach jemand ängstlich:

 

»Ich bin ihr einziger Verwandter –« Es war Joe Brays Stimme. »Es ist natürlich und passend für ein junges Paar –«

 

»Halt den Mund!« zischte Lynne. Der Humor, der in der außergewöhnlichen Situation lag, daß der alte Joe Clifford ablösen wollte, um das Mädchen zu trösten, kam in diesem Augenblick nicht zur Geltung.

 

Schritte näherten sich dem Fenster.

 

»Warum hast du das Licht ausgemacht?« hörte man Fing-Su fragen.

 

»Junge Frau zieht sich aus«, sagte Cliff, indem er im Honan-Dialekt die Stimme der dicken Chinesin genau nachahmte.

 

Er hörte die murrenden Worte Fing-Sus:

 

»Warum entkleidet sie sich nicht im Schlafzimmer?«

 

Aber scheinbar war er beruhigt und ging wieder fort.

 

Clifford konnte durch das Fenster sehen, daß das Schiff in der Mitte der Fahrrinne stromabwärts fuhr. Die Maschinen arbeiteten nur mit halber Kraft. Er war erstaunt, daß Fing-Su das Mädchen in einem so exponierten Teil des Schiffes untergebracht hatte. In Gravesend mußten doch sicher Beamte der Londoner Hafenpolizei hier vorbeikommen, ebenso der Lotse, der das Schiff in die See hinaussteuern sollte. In einer Stunde würde die Morgendämmerung einsetzen, und das steigerte doch die Gefahr der Entdeckung noch mehr. Draußen hörte er die Kulis eifrig arbeiten, und nach einiger Zeit verdunkelte sich die eine Fensterluke. Er konnte sehen, daß sie draußen vor der äußeren Wand der Kabine Warenballen auftürmten.

 

Ihre Lage begann gefährlich zu werden.

 

»Wir hätten Fing-Su sofort hier anhalten sollen, als er die Tür öffnete«, sagte Inspektor Willing. Aber Clifford schüttelte den Kopf.

 

»Das klingt sehr einfach, war aber nicht durchführbar – übrigens habe ich das bestimmte Gefühl, daß er es nicht wagen wird, die Kabine zu betreten, bevor das Schiff auf hoher See ist«, sagte er ernst. »Wir werden noch schlimme Erfahrungen machen. Gibt es denn keine Möglichkeit, die Tür zu öffnen?«

 

Willing drückte mit aller Gewalt dagegen, schüttelte dann aber den Kopf.

 

»Man könnte leicht die Luken eindrücken«, meinte er.

 

Trotz der ernsten Situation mußte Clifford lächeln.

 

»Aber selbst Sie könnten doch nicht durch eine so kleine Luke ins Freie kommen, Inspektor!« sagte er trocken.

 

»Wir könnten aber die Aufmerksamkeit der Hafenpolizei auf uns lenken.«

 

»Zwei unbewaffnete Beamte würden uns sehr wenig nützen. Bevor sie Hilfe herbeirufen könnten, wären wir längst tot – dabei immer noch vorausgesetzt, daß Fing-Su die Leute überhaupt erst von Bord kommen ließe. Früher oder später müssen sie doch die Tür öffnen, und in dem Augenblick, in dem Fing-Su diese Kabine betritt, wird es uns nicht mehr schlecht gehen – höchstens ihm!«

 

Der Morgen brach an, aber sie sahen wenig von dem hellen Tageslicht, denn Ballen auf Ballen türmte sich vor dem Deckhaus, bis die kleinen Luken vollständig verdunkelt waren. Dadurch wurde auch die Zufuhr von frischer Luft ganz abgeschnitten, die Atmosphäre wurde dumpf und das Atmen beschwerlich. Diese Folgen schien Fing-Su übersehen zu haben. Sie waren gezwungen, sich in den hinteren Raum zurückzuziehen, wo die Luft frisch war. Hier saßen sie nun Stunde um Stunde und lauschten. Die Schiffsmaschinen standen still, und die »Umveli« hielt fast eine Stunde lang mitten im Strom. Ihr Mut sank mehr und mehr, als sie wieder dumpfes Dröhnen hörten. Nach einiger Zeit begann das Schiff leicht zu rollen – sie waren auf offenem Meer.

 

Augenscheinlich waren die Ballen nur vor die Fenster und Türen der äußeren Kabine gelegt, um sie den Blicken zu entziehen. Clifford hatte ganz richtig vermutet. Denn kaum waren sie auf freier See, als das Tageslicht wieder hereinkam. Zu gleicher Zeit drang auch wieder frische Luft in die Kabine.

 

Das Frühstück mußte bald hereingebracht werden, und sie warteten gespannt, daß die Tür sich öffnen sollte. Die alte Amah hatte aufgehört zu weinen und zu lamentieren. In ihr Schicksal ergeben saß sie nun mürrisch in einer Ecke der engen Kabine. Trotzdem schien sie sich nicht mit ihrer Gefangenschaft aussöhnen zu können. Ihre Zähne schlugen zusammen. Sie hätten besser auf sie achtgegeben, wenn sie geahnt hätten, daß sie ihre Pläne durchkreuzen würde. Clifford Lynne erfuhr erst später, daß der Koch, der das Frühstück hereinbringen sollte, ihr Sohn war, und daß sie aus Angst um sein Leben einen gellenden Schrei ausstieß, als sie hörte, daß die Tür aufgeschlossen wurde. Bevor man sie zurückhalten konnte, war sie aus der hinteren Kabine hervorgekommen und schrie dauernd weiter. Der alte Joe Bray war hinter ihr her, faßte sie rund um die Taille und hielt ihr mit der Hand den Mund zu. Aber es war schon zu spät. Jemand sah durch eins der kleinen Fenster. Es war Fing-Su. Clifford konnte feststellen, daß er ihn erkannt hatte. Kurz entschlossen zog er seine Pistole und feuerte zweimal. Das Glas der Luke splitterte durch den Raum.

 

»Das ist nun leider geschehen«, brummte der Detektiv.

 

Sie hörten draußen einen schrillen Pfiff, und als Clifford einen kurzen Blick durch eine der Fensterluken warf, sah er, wie ein Schwarm bewaffneter Chinesenkulis vom Vorderdeck herkam. Einige schnallten sich erst noch ihre Revolvergürtel um. Er hatte gerade noch Zeit, vom Fenster zurückzutreten. Ein Schuß zersplitterte das zweite Fenster. Ein umherfliegender Glassplitter ritzte seine Backe. Gleich darauf ging auch das dritte Fenster in Trümmer, und drei Gewehrläufe erschienen in den leeren Öffnungen. Sie warfen sich auf den Fußboden und suchten Deckung dicht an der Außenwand des Deckhauses. Als die Schüsse krachten, hatte Clifford mit raschem Griff einen Gewehrlauf erfaßt und riß die Waffe nach innen. Mit seiner freien Hand griff er nach Joan und zog sie zu sich.

 

»Bleibe ruhig hier liegen!« sagte er. »Du bist hier ganz sicher –«

 

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und mit einem Schrei lief die alte Amah ins Freie. Alle waren erfreut darüber. Gleich darauf erschien ein dunkler Gegenstand an der Ecke des Eingangs. Clifford hatte schon seine Waffe entsichert, um zu feuern – da merkte er, daß es nur ein Besen mit einem Scheuertuch war.

 

»Nicht feuern, Cliff«, warnte Joe Bray. Er hatte in jeder Hand eine Pistole, aber bis jetzt hatte er noch keine Patrone vergeudet. »Sie wollen uns nur zu nutzlosem Schießen verleiten. Wir haben keine andere Munition als die paar Rahmen in unseren Revolvern.«

 

Clifford schüttelte den Kopf. Draußen hörte man Fing-Sus nervös-hastige Befehle, dazwischen tönte eine tiefe, ruhigere Kommandostimme. Clifford vermutete mit Recht, daß es der Kapitän des Schiffes sei. Wie er sich durch einen vorsichtigen Blick aus der Luke überzeugen konnte, war er ein Neger.

 

Plötzlich verschwanden die Gewehrläufe, und sie hörten, wie etwas auf dem Deckboden entlang gezogen wurde. Die Zugangstür wurde zugeschlagen und verkeilt.

 

»Gehen Sie alle in die hintere Kabine«, rief Willing. Clifford schob Joan vor sich her und erreichte den Raum in demselben Augenblick, als die Messingöffnung eines großen Wasserschlauches durch eines der zerbrochenen Fenster gelegt wurde.

 

Gleich darauf rauschte Wasser in den Raum. Clifford sah sich schnell um. Es konnte nicht schnell genug abfließen. Die Ventilatoren konnten solche Massen nicht hinauslassen. Ein zweiter Schlauch erschien, und das Wasser stand schon eine halbe Handbreit hoch. Es lief bereits über die erhöhte Bordschwelle der inneren Kabine. Jetzt wurden noch zwei weitere Schläuche in Tätigkeit gesetzt.

 

Clifford stellte schnell eine Berechnung an und grinste. Lange bevor das Wasser die Höhe der Fensteröffnung erreicht hatte, mußte sich etwas ereignen, das Fing-Su nicht bedacht hatte. Soviel hatte er noch von seiner Schulmathematik behalten, um zu wissen, daß sich durch diese Wassermassen der Schwerpunkt des Schiffes verlegen mußte.

 

Höher und höher stieg das Wasser, nur wenig lief durch die Ventilationsöffnungen und die Türspalten ab. Es war nur noch eine Frage kurzer Zeit, daß Fing-Su für sein eigenes Leben zu fürchten hatte.

 

»Lynne!« rief Fing-Su. »Übergeben Sie Ihre Waffen. Ich will Sie gut behandeln und werde Sie alle zur Küste bringen.«

 

Clifford Lynne antwortete nicht. Er hatte nur den Wunsch, einen Augenblick das Gesicht dieses Schurken zu sehen, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Plötzlich legte sich die »Umveli« in einem Wellental nach rechts über. Das Wasser spritzte und gurgelte. Es stieg Joe Bray bis an den Hals, er stand an der Steuerbordseite. Lange hing das Schiff nach der Seite über und richtete sich nur allmählich wieder auf. Das Übergewicht von sechzig Tonnen Wasser in solcher Höhe machte sich fühlbar. Die blinde Wut Fing-Sus rächte sich an ihm selber.

 

Draußen hörte man erregtes Stimmengewirr. Die Schläuche wurden nach und nach alle zurückgezogen. Mit kräftigen Hammerschlägen wurden die Bolzen von der Türe weggeschlagen. Unter dem Gewicht des Wassers sprang die Tür krachend auf. Das Wasser ergoß sich in reißendem Strom über das Deck.

 

»Ich sah voraus, daß es so kommen würde«, sagte Lynne. »Die Kapitäne müssen stets genau auf so etwas achten.«

 

Es zeigte sich, daß er recht hatte, denn die Schläuche erschienen nicht wieder. Man hörte Fing-Sus Stimme.

 

»Lassen Sie Mr. Bray herauskommen – ich will mit ihm sprechen. Aber er muß ohne Waffen kommen!«

 

Nach einer kurzen Beratung gab Joe die Pistolen seinem Freund und ging auf das nasse Deck hinaus. Fing-Su stand hinter einem großen Ballen Manchesterware, einen Revolver in der Hand.

 

»Wollen Sie sofort Ihren Revolver hinlegen, Sie Chinesenhund!« knurrte er. »Hören Sie endlich auf, Theater zu spielen, Sie armer Tropf!«

 

Fing-Su ließ die Pistole in die Ledertasche gleiten, die er an seinem Gurt trug.

 

»Mr. Bray,« begann er, »Beschuldigungen und Zank haben im Moment keinen Zweck –«

 

»Wollen Sie wohl Ihre verflucht gebildete Sprache beiseite lassen, Sie verdammter Kuli«, rief der alte Mann. »Lassen Sie sofort das Schiff wenden, sonst werden Sie wahrscheinlich in Ihrer gelben Speckschwarte am Galgen zappeln müssen!«

 

Fing-Su lächelte.

 

»Unglücklicherweise ist das nicht möglich«, sagte er. »Wirklich und buchstäblich –«

 

»Immer noch spricht dieser Strauchdieb wie ein Universitätsdoktor«, brüllte Joe. Dann fing er an, chinesisch zu schimpfen, und diese Sprache ist so recht dazu geschaffen, um einem andern die schlimmsten Gemeinheiten an den Kopf zu werfen.

 

Fing-Su hörte dem Wortschwall zu, ohne sich dadurch im mindesten aus der Fassung bringen zu lassen. Als Joe endlich atemlos schwieg, sagte er:

 

»Wir vergeuden nur Zeit, Mr. Bray. Überreden Sie Ihre Freunde, die Waffen zu strecken – und es wird ihnen nichts Böses geschehen. Andernfalls werde ich sie aushungern. Ich habe durchaus nicht die Absicht, Joan etwas zuleide zu tun.«

 

»Für Sie ist sie immer noch Miß Bray«, wütete Joe. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Chinesische Kulis kamen in großer Anzahl herbei und hörten Joe zu. Sie gruppierten sich um Fing-Su, und da sie die Sprache ja verstanden, hörten sie schaudernd die Schmeicheleien, die für ihren Herrn bestimmt waren. Denn Joe Bray suchte natürlich die delikatesten Komplimente für den Chinesen aus.

 

Fing-Su hatte einen Anzug, der der Seefahrt Rechnung trug: weißleinene Beinkleider, eine blaue Marineoffiziersjacke mit unzähligen goldenen Streifen um die Ärmelaufschläge und eine große Offiziersmütze, um die ein breites, goldenes Band lief.

 

»Sie sind ein verrückter, gewöhnlicher Mensch«, sagte er ruhig. »Aber ich habe es nicht nötig, Ihnen mit gleicher Münze zu erwidern. Gehen Sie zu Ihren Freunden und bringen Sie ihnen meine Botschaft.«

 

Eine Sekunde lang sah es so aus, als ob Joe noch eine persönliche Mitteilung ihm ins Gesicht schreiben wollte, aber Fing-Sus Revolver hielt ihn davon ab. Nachdem er seinem Herzen noch mit einigen kräftigen Worten Luft gemacht hatte, ging er verärgert zu seinen Gefährten zurück.

 

»Er hat ungefähr ein Dutzend bewaffneter Leute bei sich,« berichtete er, »und er hat die Absicht, uns auszuhungern, Cliff. Wenn ich daran denke, wie leicht ich diesen Burschen beruhigen konnte, als er noch ein Kind war –«

 

»Hat Fing-Su das Kommando über das Schiff?«

 

»Außer ihm ist auch noch ein Kapitän da«, sagte Joe. »Der ist herausgeputzt wie einer von der Dark-Town-Kapelle. Jeder Fetzen seiner Kleidung ist mit Goldlitzen verziert. Aber der hat nichts zu sagen, den großen Mund hat Fing-Su.«

 

»Mr. Bray, wer mag der Mann sein, der mit mir zusammen auf das Schiff gebracht wurde?« fragte Joan. Dadurch erfuhren sie, daß noch ein anderer Gefangener an Bord der »Umveli« sein mußte.

 

Clifford war auch der Meinung, daß es nicht Spedwell sein konnte – er hatte seinen eigenen Verdacht. Aber der war unbegründet, denn Ferdinand Leggat lag in einer tiefen Grube, die bei flackerndem Laternenlicht in dieser Nacht bis tief zu den Fundamenten der Fabrik ausgehoben worden war.

 

Kapitel 37

 

37

 

Während sie unten berieten, stieg Fing-Su zu seiner Kabine hinauf. Auf seinen Befehl brachte man einen bedauernswerten Menschen aus einem dunklen Loch, in dem er gesessen hatte. Stephen Narth war nur noch ein Wrack in seinem etwas ruinierten Frackanzug. Er hatte keinen Kragen mehr, sein Gesicht war schmutzig und unrasiert. Auch seine nächsten Freunde würden ihn so kaum erkannt haben. Die letzte grauenvolle Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Er war wieder bei Verstand, aber der Chinese sah, daß er dicht vor dem Zusammenbruch stand.

 

»Warum haben Sie mich auf dieses Schiff gebracht?« fragte er mit hohler Stimme. »Das ist kein faires Spiel, Fing-Su! Wo ist dieses Schwein von Spedwell?«

 

Fing-Su hätte darauf viel antworten können.

 

Spedwell war entwischt, aber sein eigenes Interesse ließ ihn ja schweigen. Er hatte Spedwell mit seinem hochmütigen Lächeln immer gehaßt, der sich in seinem anmaßenden Ton immer als Herr aufspielte. Er hatte ihn viel mehr gehaßt als den Trinker Leggat. Spedwell war für ihn ein brauchbarer Lehrer, er hatte sich wichtige, grundlegende Kenntnisse durch ihn aneignen können. Fing-Su hatte eine leichte Auffassungsgabe, war von Natur reich begabt und konnte schnell lernen. Obgleich er während seiner Universitätsstudien nicht mit militärischen Dingen in Berührung gekommen war, hatte er doch von Spedwell in dem einen Jahr ihrer Bekanntschaft eine Menge profitiert.

 

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo er ist«, sagte er. »Und ich werde ihm den Tod Leggats niemals verzeihen.«

 

Narth starrte ihn an.

 

»Dann war es also sein Plan?«

 

»Vollkommen«, sagte Fing-Su mit Nachdruck. Er war ein aalglatter Lügner, der seine Behauptungen jedoch immer glaubwürdig vortragen konnte. Und Narth war in einer solchen geistigen Verfassung, daß er geneigt war, irgendeine Version der gestrigen Vorgänge zu glauben, die seine eigene Schuld verringerte.

 

Mit ein paar Sätzen tischte ihm Fing-Su eine Darstellung der gestrigen Aufnahmefeier auf, die den Mann mit dem schwachen Gewissen besänftigte. Dann erzählte ihm der Chinese die wichtigen Neuigkeiten.

 

»Hier? An Bord? Joan?« keuchte Narth. »Aber wie kam sie denn hierher, und was macht Lynne an Bord dieses Schiffes?«

 

»Das möchte ich ja gerade wissen«, sagte Fing-Su schnell. »Gehen Sie hinunter und sprechen Sie mit ihm. Zeigen Sie ihm, daß es vollständig sinnlos ist, Widerstand zu leisten. Versprechen Sie ihm mein Wort, daß ihnen nichts geschehen soll, daß sie an Bord gut verpflegt werden und alle Bequemlichkeiten haben, bis ich sie in Bordeaux an Land setze. Sie müssen sich natürlich verpflichten, mir keine weiteren Schwierigkeiten zu machen.«

 

Er erklärte ihm noch länger die einzelnen Punkte seines Auftrages, und fünf Minuten später konnte Clifford Lynne von seinem Beobachtungsposten aus eine zusammengesunkene Gestalt sehen, die zur Kabine kam. Dann erkannte er ihn. Jetzt war ihm klar, wer mit Joan an Bord gekommen war. Aber was mochte aus Leggat geworden sein?

 

Schweigend hörte er Stephens Vorschlag an. Dann schüttelte er den Kopf.

 

»Ich würde eher mit einem lebendigen Haifisch einen Vertrag machen«, sagte er. »Gehen Sie zu Fing-Su zurück und sagen Sie ihm, daß es ihm nicht gelingen wird, uns zu ertränken oder auszuhungern, und daß er an dem Tage, wo wir an Land gehen und ich frei werde, gefangengesetzt wird, um seine Verurteilung wegen Mordes zu erwarten.«

 

»Es hat doch keinen Zweck, mit ihm zu streiten!« jammerte Narth in weinerlichem Tone.

 

Seine Nerven ließen ihn im Stich. Er war ja niemals ein starker Mann gewesen, aber jetzt war er nur noch ein Schatten des Stephen Narth, den Clifford zuerst kennengelernt hatte.

 

»Ist Leggat an Bord?« fragte Clifford.

 

Narth schüttelte den gebeugten Kopf und flüsterte etwas, das nur sein scharfes Ohr vernehmen konnte.

 

»Tot?« sagte er ungläubig. »Hat Fing-Su ihn ums Leben gebracht?«

 

Aber bevor er die Frage ausgesprochen hatte, lief Stephen Narth wie ein Wahnsinniger aus der Kabine.

 

Ihre Lage war gefährlich. Die Küste entschwand den Blicken mehr und mehr, und wenn nicht ein Wunder geschah, gab es keine andere Möglichkeit als Hungertod oder Übergabe. Und was Übergabe für Joan Bray bedeutete, konnte Clifford Lynne sich vorstellen. Unmittelbar nachdem sich Narth entfernt hatte, wurde die Tür der Kabine von außen abgeschlossen und zugeriegelt. Auf Inspektor Willings Rat ließen sie die schweren eisernen Blendfenster, die die Luken bedeckten, herunter und schraubten sie fest. Nun war es allerdings nicht mehr möglich, das Vorderdeck zu überschauen, auch die frische Luft war abgesperrt. Aber es ließ sich in der Kabine aushalten, zumal die gelbe Amah sie nicht mehr störte.

 

Clifford konnte sich nicht genug über die Ruhe und Gelassenheit Joans in diesen Augenblicken höchster Gefahr wundern. Wie es schien, war sie die Zuversichtlichste von allen, und obgleich sie der Hunger schon zu quälen begann, hörte man keine Klage von ihr.

 

Die Aussicht, noch länger in diesem engen Raum ausharren zu müssen, war entsetzlich. Glücklicherweise hatten sie keinen Mangel an Trinkwasser, denn der Inhalt des Waschtisch-Reservoirs war zwar ein wenig abgestanden, aber man konnte davon trinken. Clifford versuchte die Tür des inneren kleinen Raumes aufzudrücken, aber sie gab nicht nach.

 

»Wahrscheinlich führt sie zu den Offizierskabinen«, sagte Willing.

 

Joe Bray schaute in Gedanken auf die Tür.

 

»Wir können nicht heraus, aber sie können herein«, sagte er. »Besser wäre es, wenn wir sie verbarrikadierten. Oder sie werden uns in den Rücken fallen, Cliff. Wenn ich an das arme Mädchen denke –« Er schluckte.

 

»Welches arme Mädchen?«

 

Clifford hatte Mabels Existenz im Augenblick ganz vergessen.

 

Sie überließen Joan das kleine Schlafzimmer und setzten sich um den Tisch in der großen Kabine. Sie hatten alles durchsucht, ob sich nicht irgendwo Proviant vorfinden möchte, aber sie hatten nicht einmal einen Schiffszwieback gefunden, obgleich Inspektor Willing vermutete, daß eine große, schwarze Truhe im Schlafzimmer Joans eiserne Rationen für den Notfall enthielte. Aber sie konnten den Kasten weder öffnen noch fortbewegen.

 

Schließlich entdeckte Joe in seiner Rocktasche eine Tafel Schokolade, die Hälfte davon gab er Joan.

 

»Gewöhnlich habe ich ein Dutzend Tafeln bei mir, weil ich gern Süßigkeiten esse. Was ich im Augenblick haben möchte, das wäre ein gekochtes Huhn mit Knödeln –«

 

»Um alles in der Welt, seien Sie ruhig«, knurrte Willing.

 

Sie versuchten es mit Unterhaltungsspielen, um die Zeit totzuschlagen, aber dieser Versuch, sich über die Gefahr hinwegzutäuschen, war ein böser Fehlschlag.

 

Es wurde sechs Uhr – es wurde sieben Uhr. Joan war eingeschlafen, als Clifford nach ihr sah. Er hatte die Tür zum Schlafzimmer geschlossen, damit die Unterhaltung der Männer sie nicht stören sollte. Plötzlich öffnete sich die Verbindungstür, und das Mädchen erschien mit schreckensbleichem Gesicht in der Öffnung.

 

»Was gibt es?« fragte Clifford und sprang zu ihr hin.

 

»Es klopft jemand an der Tür«, sagte sie ganz leise. Sie zeigte auf die hintere Türe in der Wand. Lynne hielt sich in der Nähe und lauschte.

 

Tap, tap, tap!

 

Wieder hörte man das leise Pochen. Dann vernahm er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Sprungbereit wartete er, die Pistole in der Hand.

 

»Seien Sie unbesorgt«, flüsterte eine Stimme. »Machen Sie keinen Lärm, sonst hört man Sie.«

 

Die Tür öffnete sich zuerst einen Zoll breit und dann langsam etwas weiter. Das Gesicht eines Schwarzen wurde sichtbar. Er trug die verschossene Mütze eines Schiffsoffiziers.

 

»Ich bin Haki, der Zahlmeister«, flüsterte er. Seine Hand reichte einen schmalen Canvassack herein. »Wenn Fing-Su davon erfährt, ist es mit mir zu Ende«, fügte er schnell hinzu. Unmittelbar darauf schloß sich die Türe wieder und der Riegel wurde vorgeschoben.

 

In diesem kurzen Augenblick sah Clifford, daß die Vermutung des Detektivs stimmte. Er hatte einen schmutzigen Korridor wahrgenommen, in dem Kabinentüren sichtbar waren. Auch hatte er einen Raum gesehen, der nach dem Gang zu offen stand. Er trug nun den Sack in die große Kabine und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Ein Dutzend Brötchen, ziemlich frisch, ein großes Stück Käse und ein Stück Salzfleisch fielen auf die Platte. Clifford schöpfte Verdacht, brach ein Brötchen durch und hielt es dicht ans Licht.

 

»Wir müssen es riskieren«, sagte er. »Ich will zuerst davon essen, und wenn mir in einer halben Stunde nichts passiert ist, dann werden wir eine Mahlzeit halten, die besser schmecken soll wie ein Diner bei Ritz!«

 

Er schnitt eine Scheibe Fleisch ab, versuchte den Käse und das Brot. Er fühlte eine brutale Genugtuung, als er die hungrigen Blicke seiner Begleiter auf sich gerichtet sah. Die halbe Stunde ging vorüber, dann holte er Joan aus ihrer Kabine, und mit ihren Taschenmessern machten sie eine Mahlzeit für sie zurecht.

 

»Das eine steht jedenfalls fest – wir haben einen Freund an Bord. Welche Nationalität hatte der Mann wohl?« fragte Willing.

 

Clifford hatte in seiner Jugend zwei Jahre an der afrikanischen Küste zugebracht.

 

»Er ist ein Kru-Neger«, sagte er. »Sie sind keine schlechten Menschen, aber notorische Diebe.«

 

Sie hoben eine Portion des Essens für den nächsten Morgen auf, und auf Cliffords ernste Vorstellungen hin legte sich Joan wieder nieder und fiel in einen unruhigen Schlaf. Sie hörte das heimliche Klopfen an der Hintertüre nicht. Aber Clifford, der sich in die Nähe ihrer halbgeschlossenen Kabinentür gesetzt hatte, hörte das Zeichen. Leise ging er zur Tür und öffnete sie, ohne Joe zu wecken.

 

»Alle an Deck sind betrunken«, sagte der schwarze Offizier in einem selbstverständlichen Ton, als ob er den Normalzustand an Bord schildere. »Der Kapitän fürchtet, daß man diese Tür entdeckt. Es ist möglich, daß sie später versuchen, einen Angriff auf Sie zu machen – Sie müssen sich jedenfalls darauf vorbereiten. Wenn sie nicht kommen sollten, dann will ich um vier Uhr hier sein, und Sie müssen sich dann fertiggemacht haben, das Schiff zu verlassen.«

 

»Warum?« fragte Clifford.

 

Der Mann sah den Gang entlang, bevor er antwortete. »Gewehrfeuer ist nicht so schlimm, aber wenn man fürchten muß, ermordet zu werden, so ist das schrecklich. Der Kapitän denkt ebenso wie ich.«

 

»Wer ist denn ermordet worden?«

 

Der Mann sprach nicht sogleich. Hastig schloß er die Tür und kam erst nach einer halben Stunde wieder.

 

»Ich hörte, wie der wachthabende Offizier herunterkam«, sagte er im selben Plauderton. »Die Chinesen tun das oft – verlassen die Brücke mitten im Kanal, das ist doch empörend! Es ist hohe Zeit, daß wir diesen Kahn verlassen. Der verrückte Mensch ist umgebracht worden. Er kam gestern abend mit der jungen Dame an Bord.«

 

»Narth?« flüsterte Clifford todeserschrocken.

 

Der Mann nickte.

 

»Sicher. Er hatte Streit mit Fing-Su und der Chinese schlug ihm mit einer Flasche den Schädel ein. Sie warfen ihn über Bord – gerade nachdem ich Ihnen das Essen gebracht hatte.«

 

Er sah sich wieder um, dann machte er Cliff eine sehr wichtige Mitteilung.

 

»Der Kapitän und zwei Mann der Besatzung werden ein Rettungsboot aussetzen – etwa um vier Uhr«, flüsterte er. »Sie müssen an einem Tau in das Boot hinunterklettern. Wird die junge Dame das auch können?«

 

»Ja, das wird sie«, sagte Clifford, und die Tür schloß sich.

 

Er konnte sich vorstellen, was vorging. Bisher hatte Fing-Su, seitdem ihn die Träume von Kaiserherrschaft verrückt gemacht hatten, immer die Unterstützung erfahrener Ratgeber. Leggat war klug auf seine Weise, und Spedwell war in Sachen, die sein besonderes Fach angingen, unübertrefflich. Beide waren vorsichtige Leute, vor deren Urteil der chinesische Millionär Respekt hakte. Aber jetzt hatte Fing-Su keinen anderen Herrn mehr als seine eigene Laune. Sein Urteil wurde nur noch von seiner verwirrten Phantasie geleitet.

 

Die Wartezeit dehnte sich ins Endlose. Sie saßen im Kreis in der kleinen Kabine und wagten nicht zu sprechen aus Furcht, das Signal zu überhören oder von dem Angriff überrascht zu werden, den der Zahlmeister vorausgesagt hatte. Die Zeiger der Uhr schienen so langsam vorwärts zu gehen, daß Cliff ein- oder zweimal dachte, seine Uhr wäre stehengeblieben.

 

Drei Uhr war vorbei, der Klang der Schiffsglocke kam schwach durch die geschlossenen Luken. Dann hörte man ein Klopfen an der Tür und sie drehte sich in ihren Angeln. Der Zahlmeister erschien wieder in der Türöffnung. Er trug schwere Wasserstiefel und hatte einen Revolvergürtel umgeschnallt. Er wartete und winkte ihnen, zu kommen. Clifford folgte und nahm Joan bei der Hand, Joe Bray und Willing bildeten die Nachhut. Joe hielt in jeder Hand eine Pistole und war wütend wie ein angeschossener Eber.

 

Sie mußten an der erleuchteten Küche vorbei, und ihr Führer legte den Finger an die Lippen. Joan konnte den breiten Rücken des chinesischen Koches sehen, der sich über einen dampfenden Kochtopf bückte. Aber sie kamen sicher vorbei zu dem hinteren Wellendeck.

 

Zwei eiserne Türen in der Schiffsseite waren geöffnet. Über den Rand des Decks spannte sich ein straffes Tau. Als Clifford hinuntersah, bemerkte er, daß das Seil an einem großen, gedeckten Boot befestigt war, in dem drei vermummte Männer saßen. Er wandte sich an Joan und flüsterte ihr ins Ohr:

 

»Laß dich an diesem Tau langsam hinunter.«

 

Der Zahlmeister legte eine dünne Leine um die Taille der jungen Dame, band sie fest und sagte mit leiser Stimme:

 

»Verlieren Sie keine Zeit … ich hatte ein Radiotelegramm in der Nacht.« Er erklärte nicht weiter, was dies mit der Flucht zu tun hatte.

 

Während die beiden oben die Sicherheitsleine hielten, glitt Joan langsam an dem rauhen Tau hinab, das ihr die Finger wundscheuerte.

 

Das Boot an der Schiffsseite schien mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zu rasen, obgleich es sich nicht schneller vorwärtsbewegte als der Dampfer. Einer der Männer reichte nach oben, faßte sie ohne viel Federlesens um die Taille und zog sie in das Boot. Joe Bray folgte und zeigte eine jugendliche Beweglichkeit, als er sich Hand über Hand in die Dunkelheit hinabließ. Der Zahlmeister war der letzte, der das Schiff verließ und mit größter Eile über den Bug des Bootes kletterte.

 

»Macht klar!« sagte eine grobe Stimme.

 

Der Zahlmeister suchte auf dem Boden des Bootes, fand eine Axt und kappte das Tau mit einem Hieb. Gleich darauf wurden sie in dem Kielwasser des Schiffes hin- und hergeworfen und von einer Seite auf die andere geworfen. Es fehlte nicht viel, daß das Boot umschlug, denn die eisernen Wände der »Umveli« streiften die Rudergabeln. Als das Boot vom Schiff abgekommen war, hörten sie einen Schrei. Ein Scheinwerfer leuchtete von der Brücke auf. Trotz des gurgelnden Wassers und des Geräusches der Schiffsschraube hörten sie deutlich einen Pfiff – die »Umveli« beschrieb einen großen Kreis.

 

»Sie haben uns bemerkt«, stieß Clifford zwischen den Zähnen hervor.

 

Der Zahlmeister grinste vor Furcht, starrte auf das wendende Schiff und brummte. Er wandte sich um, rannte zur Mitte des Bootes und half einem der schwarzen Matrosen, den Mast aufzurichten. Der Kapitän, eine groteske Gestalt in goldverbrämter Mütze und den bunten Rangabzeichen, zog verzweifelt das Segel hoch. Ein frischer Nordwestwind blies scharf. Im nächsten Augenblick legte sich das Boot auf die Seite und lag in voller Fahrt vor dem Winde. Aber wie konnten sie hoffen, einem Dampfer zu entrinnen, der fünfzehn Knoten die Stunde machte?

 

Die Sirenen des Schiffes heulten. Sie schauten zu dem Dampfer hinüber, der sie nun verfolgte. Von der Kommandobrücke leuchtete das Aufblitzen einer Signallampe, und der Kapitän erklärte laut die Bedeutung der Zeichen.

 

»Gelber Nigger!« das war alles, trotzdem der Kapitän der dunkelste Mann war, den Clifford jemals gesehen halte.

 

Das Boot lavierte. Der Kapitän hatte scheinbar sehr guten Mut, mehr als alle anderen. Clifford ließ sich an der Seite Joans nieder, die in eine wasserdichte Decke eingehüllt auf dem Boden des Bootes lag.

 

»Keine Angst haben, Liebling«, sagte er.

 

Sie sah ihn mit einem wehmütigen Lächeln an, und diese Antwort genügte ihm.

 

Der Kapitän sprach ein rauhes Küstenenglisch, das drastisch und bilderreich war.

 

»Elefant nicht fangen Fliege«, sagte er. »Große Schiff es nicht fangen kleine Boot! Wenn Chines Kutter auf Wasser bringen, Kutter es nicht fangen Segelboot!«

 

»Trotzdem ist die Gefahr groß genug, Kapitän!«

 

Der Neger mit dem breiten Gesicht mußte es zugeben.

 

»Jetzt sie bringen den Tak-tak-Gewehr«, sagte er, »aber bald sehen anderen Schiff.«

 

Mit dieser Hoffnung mußten sie sich trösten. Noch waren sie im englischen Kanal, der Hauptwasserstraße Nordeuropas. Hier ist der Schiffsverkehr außergewöhnlich stark. Aber im Augenblick konnte man keine Rauchfahne oder irgendein Segel entdecken.

 

Clifford wandte sich an den Zahlmeister.

 

»Ob wir durchkommen oder nicht, in jedem Fall sind wir Ihnen zu großem Dank verpachtet, mein Freund.« Hakis Gesicht strahlte.

 

»Wir hätten früher von Bord gehen müssen, aber der Kapitän wollte noch nicht«, sagte er. »Schließlich hat er sich aber nach dem Radiotelegramm doch entschlossen!«

 

»Radiotelegramm?«

 

Der Zahlmeister zog einen schmutzigen Streifen Papier aus seiner Tasche hervor.

 

»Das habe ich letzte Nacht erhalten«, sagte er. Clifford hatte Mühe, die gekritzelten Worte zu entziffern.

 

Verlassen Sie das Schiff vor vier Uhr. Alle mitnehmen, die leben bleiben sollen. Wenn Miß Bray an Bord, mitnehmen. Admiralität sendet Zerstörer »Sunbright«, Sie einzuholen.                          Soldat.

 

»Das ist der Major«, erklärte der Zahlmeister. »Wir nannten ihn Soldat. Aber es wäre ja möglich gewesen, daß die ›Sunbright‹ uns nicht bekommen hätte – aber wenn sie uns eingeholt hätte, dann wäre keiner am Leben geblieben, der Fing-Su hätte belasten können.«

 

Clifford war verwundert, was der Kapitän mit dem Tak-tak-Gewehr meinte, aber leider kam die Aufklärung nur zu schnell.

 

Tak-tak-tak-tak-tak-tak!

 

Sie hatten ein Maschinengewehr auf der oberen Reling in Stellung gebracht. Die Geschosse ließen das Wasser hoch aufspritzen. Die Schüsse lagen in einiger Entfernung vor dem Boot. Der Kapitän wandte mit starkem Ruck das Steuer und nahm einen anderen Kurs. Sie waren etwas weniger als fünfhundert Meter von dem Dampfer entfernt. Clifford begriff, daß es eine verhältnismäßig leichte Sache sei, das Boot mit Schüssen zu durchlöchern, wenn es erst einmal heller war. Fing-Su würde sie nicht entkommen lassen, da ja sein Leben davon abhing.

 

Tak-tak-tak-tak-tak-tak!

 

Diesmal lagen die Schüsse hoch, die Geschosse fegten durch die Canvassegel. Ein großer Holzsplitter flog vom Mast.

 

»Hinlegen!« rief der Zahlmeister mit schriller Stimme und gestikulierte wie wahnsinnig.

 

Schon das drittemal sah er nach seiner silbernen Uhr.

 

Die »Umveli« hatte wieder volle Fahrt aufgenommen. Als sie in die Höhe des Bootes kam, drehte sie auf dasselbe zu. Wieder änderte der Kapitän den Kurs und schwenkte in einem großen Bogen direkt in entgegengesetzte Richtung ein. Einzelne Schützen feuerten von Bord – die Treffer lagen unheimlich nahe. In das Klick-klack der aufschlagenden Gewehrkugeln mischte sich nun auch das Dröhnen einer schweren Waffe.

 

»Ein Siebenpfünder«, sagte Joe kurz. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als etwas gegen den Mast schlug.

 

Ein Krachen und Splittern! Der Mast mit dem Segel sank auf die Seite.

 

»Jetzt ist es zu Ende mit uns«, sagte der Zahlmeister. Er nahm mit großer Kaltblütigkeit seinen Revolver aus der Ledertasche und entsicherte.

 

Sie konnten sehen, wie von der »Umveli« Boote heruntergelassen wurden. Es waren drei, sie kamen nacheinander auf das Wasser. Die »Umveli« selbst fuhr nur noch ganz langsam, die Maschinen waren auf rückwärts gestellt. Aber der Kapitän ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen. Mit Hilfe eines seiner Matrosen kappte er Mast und Segel und warf sie über Bord. Im Nu waren die Ruder in die Gabeln gelegt.

 

»Alle Mann an die Ruder!« rief er mit lauter Stimme.

 

Clifford folgte sofort der Aufforderung.

 

Aber das Boot war groß und viel weniger handlich als die leichten Kutter, die sie verfolgten.

 

»Es muß ein Wunder geschehen, um uns zu retten!« sagte Clifford – und das Wunder geschah.

 

Zwei Boote stießen bereits von dem Dampfer ab, das dritte füllte sich gerade mit Matrosen, als von dem unteren Deck eine hell aufleuchtende Stichflamme emporschlug und ein ohrenbetäubender, krachender Knall ertönte. Gleich darauf folgte eine zweite noch heftigere Explosion.

 

Sekundenlange Stille trat ein, dann hörte man wirre Kommandorufe und die schrillen Pfeifen der Offiziere. Die beiden Boote, die bereits abgestoßen hatten, kehrten um. Dichter schwarzer Rauch strömte über die Decks. Der Schornstein und der größte Teil des Schiffes wurden im lichten Morgen unsichtbar.

 

»Was mag an Bord explodiert sein?« fragte der Zahlmeister heiser. Aber der Kapitän rief:

 

»Rudert alle Mann!«

 

In scharfem Takt hoben und senkten sich die Ruder.

 

»Das Schiff sinkt«, rief Joe entsetzt. Und er sprach die Wahrheit.

 

Ein halber Zentner Dynamit hatte nicht nur ein unheimlich großes Loch durch die Decks geschlagen, sondern auch die großen Munitionsvorräte in Brand gesteckt, die der Dampfer als Fracht führte. Major Spedwell hakte das Uhrwerk des Zeitzünders so gestellt, daß die Sprengladung sechsundzwanzig Stunden nach Abfahrt des Schiffes explodieren mußte. Die »Umveli« hing stark nach der einen Seite über. Es sah aus, als ob sie todmüde umsinken wollte. Dichte Rauchmassen qualmten aus den Luken. Flammen züngelten aus dem Schiffsrumpf. Plötzlich ein wildes Durcheinanderrennen von Menschen nach den Booten.

 

In ihrer Verwirrung hatten die Geretteten zu rudern aufgehört und stützten sich auf die Riemen. Ihre Augen starrten auf das grausige Schauspiel.

 

Da rief der Zahlmeister warnend: »Wir tun besser, soweit wie möglich von dem Schiff fortzukommen!«

 

Kurze Zeit nachher hörte man noch eine dritte Explosion. Die »Umveli« brach in sich zusammen. Ihr zackig zerrissener Rumpf versank in einem wildaufschäumenden, ungeheuren Wasserwirbel.

 

Nur vier Boote waren auf der Wasserfläche noch zu sehen. Sie nahmen den Kurs auf sie.

 

»Rudern!« schrie der Kapitän. Wieder griffen sie in die Riemen.

 

Aber ihre Anstrengungen führten zum Erfolg. Als Clifford Lynne sich umsah, erblickte er steuerbords eine schwarze Rauchfahne am Horizont und konnte im Morgengrauen ein langes, graues Schiff erkennen.

 

Sie erreichten S.M. Zerstörer »Sunbright« fünfundzwanzig Minuten, ehe die Reste der Schiffsmannschaft an dem Fallreep anlegten. Sie waren vor Furcht und Entsetzen halb wahnsinnig, warfen ihre Gewehre ins Wasser und ergaben sich auf Gnade und Ungnade.

 

Fing-Su war nicht unter ihnen, und als Clifford einen der zitternden Offiziere fragte, erfuhr er das Geschick des Kaisers in einigen wenigen kurzen Worten.

 

»Fing-Su … ich sah seinen Kopf … und seinen Körper … hier ein Stück und dort ein Stück …«