Kapitel 9

 

9

 

Es war zwei Uhr morgens, als John Sands zur Haustür ging, weil es draußen heftig pochte. Als er verschlafen öffnete, stand Jimmy Cassidy vor ihm, der sehr elend aussah.

 

»Treten Sie näher. Was ist denn geschehen? Sie sehen ja aus, als ob es Ihnen recht schlecht ginge.«

 

»Sie haben sie verhaftet«, erwiderte Jimmy heiser. »Ist das nicht furchtbar?«

 

»Wen haben sie verhaftet?«

 

»Wen?« Miss Leman! Und nur Sie allein sind daran schuld. Warum mußten Sie auch Blessington sagen, daß die beiden miteinander gestritten haben? Warum wollten Sie denn durchaus Miss Faith in Unannehmlichkeiten bringen?«

 

»Sie sind ja ganz von Sinnen und so aufgeregt, daß Sie nicht mehr klar denken können. Hier, trinken Sie ein Glas Wein.«

 

»Nein, danke.«

 

Jimmy schob das Glas beiseite.

 

»Ich will Ihren Wein nicht, ich will auch nicht, daß Sie mich beruhigen, Sands. Ich weiß sehr wohl, was hier vorgegangen ist, ich sehe vollkommen klar. In meinem Beruf haben wir keinen Respekt vor der Ehrbarkeit irgendwelcher Leute. Obwohl Sie immer taten, als ob Sie uninteressiert wären, wissen Sie etwas, und ich gehe nicht eher, als bis Sie es mir gesagt haben. Wer war diese Frau?«

 

»Ich weiß ja noch gar nicht, von welcher Frau Sie sprechen«, entgegnete John Sands geduldig. »Aber ich glaube, daß Sie die Dame meinen, die Sie aus der Wohnung kommen sahen. Übrigens haben nur Sie die Frau gesehen.«

 

»Aber die Tür war offen, das können Sie doch nicht abstreiten«, erwiderte Jimmy.

 

Einen Augenblick stutzte John Sands.

 

»Das stimmt allerdings«, sagte er dann, »daran hatte ich nicht gedacht. Niemand hat die Tür aufgelassen, und ich kann mir nicht denken, daß ich es gewesen sein sollte.«

 

»Nein, Sie haben sie wieder zugeschlossen, das habe ich deutlich gesehen. Übrigens habe ich auch das Schloß genau untersucht, bevor ich am Abend das Haus verließ. Es ist ein Yale-Schloß. Verzeihen Sie, wenn ich ein wenig kritisch bin, aber mich hat die ganze Sache furchtbar aufgeregt. Ich weiß ja, daß Sie keine bösen Absichten hatten, aber ich sorge mich so sehr um Miss Leman.«

 

Mr. Sands legte teilnahmsvoll die Hand auf Jimmys Schulter.

 

»Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Sie sich fühlen.«

 

»Aber Sie haben sich ja verletzt!« bemerkte Jimmy plötzlich.

 

»Ach, das ist weiter nichts. Ich habe mich heute abend ein wenig gestoßen … Doch ich will lieber gleich die Wahrheit sagen. Es ist nicht so schlimm, aber ich dachte, es wäre besser, wenn ich einen Verband anlegte, denn ich bin gebissen worden.«

 

»Wer hat Sie denn gebissen?«

 

»Ein Hund. Merkwürdig, nicht? Das Fenster meiner Speisekammer stand offen, er sprang herein, und als ich dazukam, griff er mich an.«

 

»Aber Sie sind auch im Gesicht zerkratzt.«

 

»Sie sehen aber auch alles«, sagte Sands jetzt ungeduldig. »Ich habe mich beim Rasieren geschnitten. Um aber auf Miss Leman zurückzukommen: Glauben Sie mir, ich werde mir alle Mühe geben, ihr zu helfen. Sie können sich auf mich verlassen, und wenn Geld notwendig ist für ihre Verteidigung – ich bin zwar kein reicher Mann, aber ich weiß, daß mein Freund Harry Leman das auch getan hätte, und ich fühle mich dazu verpflichtet.

 

Im Grunde genommen hatte der alte Leman ein gutes Herz, und seine Unfreundlichkeit war nur angenommen. Ich weiß ganz genau, daß er trotz all seiner äußeren Gehässigkeit seine Nichte sehr gern hatte und sogar stolz auf sie war.«

 

Er sprach ernst, und seine Stimme klang überzeugend.

 

»Ich selbst zweifle keinen Augenblick daran, daß sie unschuldig ist. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ein so schreckliches Verbrechen begangen hat. Ja, ich weiß, daß sie es nicht getan hat – wenn es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt.«

 

»Halten Sie es für einen Mord?« fragte Jimmy, der plötzlich ruhig geworden war.

 

»Ich möchte es bezweifeln. Leman war ein ganz eigentümlicher Charakter. Man konnte ihn beim besten Willen nicht für normal halten. Es gab Augenblicke, in denen er halb und halb den Verstand verloren hatte, und ein solcher Mann kann eventuell auch Selbstmord begangen haben. Ich kann mich besinnen, daß er zuweilen außerordentlich deprimiert war. Er ärgerte sich über Kleinigkeiten. Ein Mann, der ein so großes Vermögen besitzt, würde sich doch nicht darüber aufregen, wenn seine Aktien an der Börse um ein paar Punkte fallen! Wie schwierig war er immer, wenn seine Spekulationen nicht genau nach seinen Erwartungen verliefen! Aber Sie haben mir noch nichts Genaueres von der Verhaftung Miss Lemans erzählt.«

 

Jimmy antwortete nicht gleich. Er nahm sein Etui heraus und steckte sich eine Zigarette an.

 

»Miss Leman wurde von Blessington verhaftet, weil er eine kleine Flasche mit Blausäure in ihrem Schreibtisch fand.«

 

»Hat sie erklärt, wie sie in den Besitz der Flasche kam?«

 

»Sie hat gesagt, daß sie ihr per Post zugeschickt wurde. Ihrer Angabe nach war das Fläschchen in einem Reklamezettel eingewickelt, der einen Fleckenreiniger empfahl. Der Inspektor hat gleich bei dem nächsten Drogengeschäft angefragt und festgestellt, daß das Reinigungsmittel, das in dem gedruckten Handzettel empfohlen wurde, weit verbreitet ist. Aber der Drogist zeigte Blessington eine Probe davon, die dunkelbraun und nicht im mindesten so aussah wie die Flüssigkeit in Miss Lemans Schreibtisch. Daraufhin hat sich die Polizei entschlossen, Miss Leman zu verhaften. Vor einer halben Stunde ist sie auf der Polizeistation in der Bow Street eingeliefert worden.«

 

Jimmy gab sich alle Mühe, ruhig zu sprechen, aber seine Stimme zitterte doch leicht.

 

Mr. Sands schüttelte den Kopf.

 

»Ein außerordentlicher Fall. Sagen Sie mir nur das eine: Hat irgendeine Frau Veranlassung, auf Miss Leman eifersüchtig zu sein?«

 

Jimmy sah ihn erstaunt an.

 

»Wie meinen Sie das? Soviel ich weiß, kennt sie weiter keine Damen.«

 

Plötzlich störte ein schrecklicher Laut die Unterhaltung, ein jammervolles Stöhnen, als ob jemand entsetzliche Schmerzen ausstände. Es schwoll zu einem langanhaltenden, markdurchdringenden Schrei an, dann herrschte wieder tiefe Stille.

 

Die beiden sahen einander an.

 

»Was mag das gewesen sein?« fragte Jimmy, der bleich geworden war.

 

»Ach, das war nur meine Lieblingskatze«, erklärte Sands und lächelte ruhig, »manchmal, wenn ich in meinem Zimmer sitze und lese, fängt dieses Biest derartig zu heulen an, daß ich ganz nervös werde. Sie haben das Tier wohl noch nicht gesehen?« fragte er scherzend. »Aber wir kommen ganz von unserem ersten Thema ab. Wenn uns das Vieh noch einmal stören sollte, dann jage ich es aus dem Haus.«

 

Jimmy setzte sich und nahm mit zitternder Hand die Zigarette aus dem Mund. Sands war hinausgegangen, um das Tier zu beruhigen. Jimmy hörte, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde, dann ein leichtes Aufschlagen. Nach kurzer Zeit kam John Sands wieder zurück.

 

»Es tut mir leid, aber so etwas geht mir auf die Nerven. Besonders Sie müssen darunter leiden, weil Sie es nicht gewöhnt sind.«

 

»Es sieht fast so aus, als ob Sie heute im Krieg gewesen wären, Katzen bei Nacht und Hunde am Tag!«

 

Sands lachte.

 

»Ja, ich führe tatsächlich ein Hundeleben«, meinte er dann. »Es wäre besser, wenn wir einen kleinen Spaziergang machten. Ich werde Sie ein Stück begleiten, in der freien Luft kann man besser denken. Ich bin noch zu aufgeregt, um schlafen zu können.«

 

Sie gingen also zusammen durch die verlassenen Straßen. Sands sprach unaufhörlich und brachte die seltsamsten Theorien vor.

 

»Es tut mir furchtbar leid, daß ich in die ganze Affäre gegen meinen Willen hineingezogen worden bin. Ich möchte Ihnen ganz offen sagen, was ich über die Sache denke, Cassidy. Sie sind ein Zeitungsmann und werden sich wahrscheinlich genauer mit all den Leuten zu befassen haben, die irgendwie mit dem traurigen Fall zu tun haben. Es ist nur natürlich, daß Leute in Verdacht kommen und daß man sich überlegt, welche Motive die einzelnen gehabt haben könnten, um ein solches Verbrechen zu begehen. Wenn ich eben sagte, es ist nur natürlich, so meine ich damit, daß gerechterweise etwas geschehen muß. Ich selbst würde mich in diesem Fall auch nicht ausnehmen. Eigentlich kannte ich Harry Leman sehr gut. Ich weiß nicht, ob Sie erfahren haben, daß ich seine Bekanntschaft auf einer Dampferfahrt von New York nach England machte? Wir wurden bald Freunde. Ja, ich glaube, ich war der einzige Freund, den er in London hatte, und ich gebe gern zu, daß ich diese Bekanntschaft pflegte. Ich dachte, früher oder später könnte er mir einmal einen Gefallen tun. In den Vereinigten Staaten habe ich ein Geschäft, das in der letzten Zeit nicht besonders gut gegangen ist. Im großen ganzen bin ich kein Kaufmann. Ich interessiere mich nur so weit dafür, als die Firma das nötige Geld für meinen Lebensunterhalt abwirft. Aber zu meinem Bedauern hat sich mein Einkommen nach und nach immer mehr verringert. Das hat seinen Grund darin, daß ich mit anderen Firmen konkurrieren muß, die denselben Artikel herstellen. Diese haben modernere, wirtschaftlichere und billigere Arbeitsmethoden als ich. Schon vor zwei Jahren erkannte ich, daß es notwendig war, den Betrieb meiner Fabrik zu reorganisieren und vor allem neues Betriebskapital zu beschaffen. Aber Sie wissen ja selbst, daß die Kapitalisten sehr vorsichtig sind, wenn nicht der Betreffende, der das Geld benötigt, als ein tüchtiger Arbeiter oder genialer Organisator bekannt ist. Man erwartet heute von dem Inhaber einer Firma, daß er sich selbst geschäftlich betätigt. Das entspricht aber durchaus nicht meinem Lebensideal. Ich hoffte, daß mein armer verstorbener Freund Harry Leman mir in diesem Punkt helfen würde. Neulich abends erzählte ich ihm von meiner bedrängten Lage und erwähnte dabei auch, daß er mir beistehen könnte. Ich erinnerte ihn daran, daß ich schon so lange mit ihm verkehre und vor allem, daß ich ihm eine Frau beschafft hätte, mit der ich die Korrespondenz für ihn führte. Schließlich nannte ich auch die Summe, die ich brauchte, und er versprach, mir zu schreiben. Heute nachmittag erhielt ich nun seinen Brief. Er schickte ihn mir per Eilboten zu und bat mich, heute abend um acht zu kommen, weil er die Sache mit mir besprechen wollte. Sie können wohl verstehen, Mr. Cassidy, daß es für mich eine ernste Angelegenheit war, wenn Mr. Leman mir seine Hilfe versagte. In diesem Fall war es klar, daß ich nach Amerika fahren und selbst wieder mitarbeiten mußte. Und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß Mr. Leman meinen Wunsch nicht erfüllen würde.«

 

»Ich kann mir schon denken, wie Ihnen zumute ist«, erwiderte Jimmy.

 

»Vor achtzehn Monaten machte ich Mr. Leman den Vorschlag, eine Dame zu heiraten, die ihm weiter keine Schwierigkeiten bereiten würde. Er sollte gleich bei der Trauung die Bedingung stellen, daß sie ihn vollkommen in Ruhe ließe und im Ausland lebte. Vorher hatte er mir ständig vorgejammert, daß er viel Schwierigkeiten mit seinen Verwandten hätte und sie enterben wollte. Zuerst wollte er von meinem Vorschlag nichts wissen, aber schließlich gab er seine Zustimmung, und so kam es dazu, daß er sich trauen ließ. Ich hatte die Bekanntschaft einer wirklich sehr angenehmen Dame gemacht, die für die ihr zugedachte Rolle paßte. Die Hochzeit wurde in einer kleinen Hafenstadt gefeiert, wie Sie ja wissen. Sie müssen verstehen, daß ich Ihnen genau erklären will, welche Rolle ich bei dieser Trauung gespielt habe. Ich hatte kein Interesse an der Sache, sondern wollte nur Mr. Leman behilflich sein, um ihn mir zu verpflichten –«

 

»Das verstehe ich alles«, entgegnete Jimmy gelangweilt. »Aber offen gestanden, Mr. Sands, im Augenblick bin ich weniger an Ihren persönlichen Verhältnissen interessiert als an dem Schicksal und der Zukunft meiner armen Faith. Ich sage Ihnen, ich könnte die ganze Polizeistation auseinanderreißen – ich weiß wohl, daß es verrückt von mir ist, so etwas zu sagen. Aber es ist doch ein Wahnsinn, daß Miss Leman den Mord begangen haben soll! – Können Sie mir nicht irgendwie helfen, Mr. Sands? Sie sind doch ein einflußreicher Mann. Wenn sie morgen vor den Richter kommen sollte ^«

 

»Sie kommt doch morgen höchstens vor das Polizeigericht.«

 

»Das ist doch ganz gleich«, erwiderte Jimmy ungeduldig. »Können Sie denn nicht Ihren Einfluß geltend machen, damit sie freigelassen wird?«

 

Mr. Sands schüttelte den Kopf.

 

»Das bezweifle ich sehr stark. Die Polizei hat die Sache in die Hand genommen, und die ist unbestechlich. Allem Anschein nach hat man so viel Beweismaterial gegen sie gesammelt, daß morgen sofort die Eröffnung des Prozesses beschlossen werden wird.«

 

Jimmy blieb plötzlich stehen.

 

»Aber vielleicht könnte Mrs. Leman helfen!« sagte er dann ruhig.

 

John Sands schwieg verhältnismäßig lange.

 

»Mrs. Leman wird wahrscheinlich überhaupt nicht in die Lage kommen, ihre Aussage zu machen«, erklärte er schließlich. »Sie ist augenblicklich in Frankreich und kann unmöglich etwas über die näheren Umstandes des Falles aussagen.«

 

»Mrs. Leman war aber gestern in der Davis Street. Sie war die Frau, die den Millionär um halb sieben aufsuchen wollte. Weil er ihren Besuch erwartete, schickte er seine Nichte fort. Die Frau muß bis acht Uhr bei ihm geblieben sein. Ich habe sie doch aus der Tür kommen sehen.«

 

Wieder folgte ein längeres Schweigen.

 

»Sie irren sich«, begann Sands dann wieder. »Wenn Sie sagen, Sie haben eine Dame gesehen, muß ich Ihnen das glauben. Aber es kann unmöglich Mrs. Leman gewesen sein. Ich will noch weitergehen. Ich bin sogar sehr befriedigt, daß jemand zu der Zeit im Haus war, von dem wir bisher noch nichts Genaueres wissen. Es wäre ja möglich, daß diese Person uns Aufklärung geben könnte über die näheren Einzelheiten und Gründe dieses traurigen Ereignisses. Aber ich muß noch einmal eindringlich wiederholen, daß es unmöglich Mrs. Leman gewesen sein kann.«

 

Er dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf.

 

»Nein, sie ist es bestimmt nicht gewesen«, erklärte er noch einmal.

 

Seine Haltung war merkwürdig deprimiert. Aber plötzlich richtete er sich wieder auf und nahm sich zusammen.

 

»Ich will Ihnen soviel helfen, wie ich nur kann. Morgen um zehn Uhr werde ich auch im Verhandlungssaal erscheinen. Sie können meinem Rechtsanwalt Hackett in Temple Yard den Auftrag geben, die Verteidigung Miss Lemans zu führen.«

 

»Ich habe das alles schon geordnet«, erklärte Jimmy. »Aber trotzdem danke ich Ihnen. Ich werde Sie also bei der Verhandlung sehen? Aber kann man ihr sonst nicht helfen? Wäre es nicht möglich, sie gegen Bürgschaft aus der Haft zu befreien?«

 

Sands schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte, das kommt gar nicht in Frage. Wenn es sich um eine so schwere Anklage handelt, ist es unmöglich, den Angeklagten gegen Bürgschaft auf freien Fuß zu setzen. Das ist vollständig ausgeschlossen.«

 

Er gab Cassidy die Hand, wandte sich um und ging fort.

 

Jimmy beobachtete ihn, bis er fast außer Sicht gekommen war, dann folgte er ihm.

 

Kapitel 15

 

15

 

Sie ließen im Hotel Nachricht für Faith zurück, daß sie nach ihrer Rückkehr unter keinen Umständen das Hotel wieder verlassen sollte. Außerdem wurde vereinbart, daß der Portier sofort ihre Ankunft telefonisch nach Scotland Yard melden sollte.

 

Die beiden fuhren mit einem Taxi zum Polizeipräsidium, dann zu dem Haus in der Charles Street. Blessington klopfte an die Haustür, aber es antwortete niemand. Auch stärkeres Pochen hatte keinen Erfolg. Schließlich nahm er einen Bund Nachschlüssel aus der Tasche und versuchte sie der Reihe nach. Der vierte paßte, und sie traten ins Haus.

 

Nirgends war Unordnung zu entdecken; die Räume waren einsam und verlassen. Auch eine Durchsuchung von Sands‘ Schlafzimmer ergab nichts Neues. Sein Schlafanzug lag sorgsam gefaltet auf dem Kissen, sein Bademantel über einem Stuhl, und darunter standen die Pantoffeln. Auf dem Schreibtisch in dem angrenzenden Arbeitszimmer fanden sie einen Stoß Quittungen, ein Scheckbuch und eine Zigarrenspitze aus Bernstein.

 

»öffnen Sie doch einmal den Schrank«, rief Jimmy. Dann untersuchte er schnell den Inhalt.

 

Er entdeckte mehrere graue und weiße Flanellhosen.

 

»Sands ist Amerikaner und spielt infolgedessen kein Kricket. Wir wollen einmal seine Stiefel ansehen.«

 

Auf einem langen Regal standen mindestens ein Dutzend Paar Schuhe und Stiefel, alle sauber geputzt.

 

»Zwei Paar weiße Tennisschuhe, in Amerika hergestellt«, sagte Blessington. »Die Sohlen sind nicht abgenützt. Mr. Sands spielt zwar nicht Kricket, aber er scheint Boot zu fahren. Und dadurch kommen wir auf einen Strom oder einen Fluß. Jetzt wollen wir uns einmal seine Hüte ansehen, vor allem die Strohhüte.«

 

»Was wollen Sie denn dadurch erreichen?«

 

»Strohhüte werden sehr häufig gerade an dem Platz gekauft, wo man sich zur Zeit befindet, und geben infolgedessen manchmal merkwürdige Anhaltspunkte. Zur Aufklärung sind sie oft sehr wichtig für mich gewesen.«

 

Als die beiden suchten, fanden sie auf dem Schrank tatsächlich drei Strohhüte.

 

»Der erste hier ist in London gekauft, der zweite in Maidenhead – das ist übrigens ein ziemlich großer Ort. Und der dritte stammt aus Marlow, das ist ein kleines Nest. Nun zu den Quittungen. Vielleicht finden wir da etwas.«

 

Er trat zum Schreibtisch und blättert die einzelnen Papiere durch. Zunächst entdeckte er nichts. Schließlich zog er eine Schublade auf, und wie er erwartet hatte, fand er hier alle Quittungen säuberlich und ordentlich nach Vierteljahren gebündelt.

 

»Hier wollen wir gleich einmal nachsehen«, erklärte Blessington, indem er einen kleinen Stoß aus der Schublade nahm. »Benzinrechnungen von einem Händler in Maidenhead – die anderen sind aus London. Wenn Sands aber Benzin in Maidenhead kauft, muß er ein Motorboot haben.«

 

»Wieso haben Sie an einen Fluß oder an Wasser gedacht?« fragte Jimmy.

 

»Weil ich diese Klasse von Leuten kenne, der John Sands angehört. Er treibt keinen Sport, bei dem er sich persönlich viel anstrengen muß, aber offenbar hatte er noch eine andere Passion als Autofahren. Wenn er der Autofahrer ist, der an dem Tag durch Aylesbury kam, als die Gefangene aus dem Zuchthaus entfloh, dann liegt doch die Möglichkeit nahe, daß er von seinem Landhaus nach London fuhr. Er übt in England keine berufliche Tätigkeit aus und hat nur ein paar Freunde, die natürlich von mir aufgefunden wurden. Vorsichtige Nachforschungen haben ergeben, daß John Sands ein paar Wochen außerhalb Londons weilte, bevor Margaret Maliko aus dem Gefängnis entfloh. Vielleicht entsinnen Sie sich noch: Der Oktober vor zwei Jahren war ein herrlicher Monat, bis plötzlich das Wetter umschlug. Wir wollen nach Marlow fahren; dabei kommen wir unterwegs durch Maidenhead.«

 

Der Inhaber der Tankstelle in Maidenhead, von dem die Rechnungen stammten, war ein gesprächiger Mann. Er kannte Mr. Sands flüchtig und sagte aus, daß er nicht nur Benzin für das Auto, sondern auch für das Motorboot geliefert habe.

 

»Seit einiger Zeit ist er nicht mehr hergekommen, aber ich weiß, daß er ein Haus in der Nähe von Marlow besitzt. Er kam immer aus der Richtung.«

 

»Wie heißt denn sein Motorboot?« fragte Blessington, der genau wußte, daß all diese kleinen Fahrzeuge einen besonderen Namen führten.

 

»›Money-Spinner‹. Es war eins der schnellsten auf dem Fluß hier. Ich weiß nicht, was damit passiert ist, aber ich habe es seit ungefähr zwei Jahren nicht mehr gesehen.«

 

Blessington nickte befriedigt.

 

Als sie nach Marlow kamen, machten sie die interessante Entdeckung, daß zwar niemand etwas von Mr. Sands wußte, aber; alle Leute die »Money-Spinner« kannten.

 

»Sie gehört einem Herrn, der ein Haus an einer Bucht hat. Seit zwölf Monaten ist das Boot aber nicht mehr hier vorbeigekommen.«

 

Bei ihren weiteren Nachforschungen konnten sie das Haus leicht finden, aber es war leer und nicht bewohnt. Allem Anschein nach gehörte es jetzt einem anderen. Keiner der Nachbarn kannte die Adresse des früheren Bewohners.

 

»Der ist schon lange Zeit fort«, erklärte der Verwalter des anliegenden Grundstücks. »Er hat das Haus aufgegeben und ist ganz nach London gezogen. Das Bootshaus benützt er auch nicht mehr.«

 

»Das Bootshaus?« fragte Jimmy interessiert. »Wir haben doch gar kein Bootshaus entdecken können?«

 

»Es liegt etwas entfernt an einer großen Bucht zwischen zwei Inseln. Sie können es von der Straße aus sehen, wenn Sie hier entlangfahren. Früher gehörte es Lord Welbourne, der hatte dort ein großes Motorboot. Aber der Wasserspiegel des Flusses sank, und seitdem konnte er das Bootshaus nicht mehr gebrauchen. Später hat es ein Herr aus London gemietet und eine Art Wochenendhaus daraus gemacht. Er hat einen Zwischenboden eingezogen; unten stellt er sein Boot ein, oben wohnt er.«

 

Blessington und Jimmy sahen einander an.

 

»Das müssen wir genauer ansehen«, sagte der Polizeiinspektor.

 

Sie mieteten ein flaches Boot und fuhren damit über die seichten Stellen am Ufer. Nur durch Zufall fanden sie den Eingang zu der großen Bucht, der ziemlich versteckt hinter hohem Schilf und Ried lag, und sahen das große, schöne Bootshaus. Unter den Einflüssen der Witterung hatte es allerdings etwas gelitten. Es stand teils auf dem Land, teils ruhte es auf Pfählen im Wasser. Der untere Teil war durch ein großes Tor geschlossen, das bis ins Wasser hineinreichte. Das obere Geschoß hatte mehrere Fenster ohne Gardinen; die Glasscheiben waren sehr schmutzig und seit langer Zeit nicht gereinigt worden. Der Eingang zu den oberen Räumen lag auf dem Land, und man konnte ihn auf einem Fußweg erreichen, der am Ufer der Bucht entlangführte. Sie landeten in einiger Entfernung von dem Haus und gingen den Pfad entlang. Es war ihnen beiden klar, daß sie sich einem Versteck von Mr. Sands näherten. Daher suchten sie sich auch möglichst hinter Bäumen und Sträuchern zu verbergen, damit er sie nicht sehen sollte, falls er zur Zeit selbst im Haus war. Vom Uferweg bog ein anderer Pfad ab, der direkt zur Tür des Bootshauses führte. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig, als ins Freie hinauszutreten, um sich dem Hause zu nähern.

 

Mr. Sands beobachtete interessiert aus den nahen Sträuchern, wie die beiden herankamen.

 

Er hatte sich in einem großen Rhododendronbusch versteckt und hielt ein geladenes Gewehr, das er auf Jimmy Cassidy gerichtet hatte. Bei dem hellen Sonnenschein am Nachmittag konnte er gut zielen. Blessington kam hinter Jimmy her, ging zur Tür und versuchte, sie zu öffnen, fand sie aber verschlossen. Dann sah er durch eines der unteren Fenster, konnte aber im Innern nur einen leeren Raum entdecken.

 

»Was meinen Sie? Versuchen wir, hineinzukommen?«

 

Jimmy sah sich in dem verwilderten Garten um, auf dessen Wegen überall Unkraut wucherte. Dann schaute er den Weg entlang, den sie gekommen waren, und schließlich fiel sein Blick auch auf das Rhododendrongebüsch, in dem sich John Sands versteckt hielt. Eine Sekunde später blickte er hoch, als ob er es sich überlegte.

 

»Es wird sich nicht lohnen«, sagte er dann ruhig. »Wir sind auf der falschen Spur. Wenn wir zur Stadt zurückkehren, werden wir wahrscheinlich feststellen, daß sie entkommen ist.«

 

Blessington sah ihn verblüfft an.

 

»Ich habe mich getäuscht. Man soll doch immer nur nach Tatsachen gehen und nicht so wilde Theorien aufstellen. Ich habe mich zu sehr von meiner Phantasie leiten lassen.«

 

»Aber Sie meinten doch vorher –«, entgegnete der Detektiv.

 

Jimmy lachte.

 

»Ich war eben auf dem Holzweg.« Er nahm den Inspektor am Arm, und sie gingen zu ihrem Boot zurück.

 

»Aber –«, protestierte Blessington aufs neue.

 

»Gehen Sie immer geradeaus und reden Sie nichts. Wenn Sie einen Schuß hören, werfen Sie sich sofort auf den Boden. Sagen Sie, bin ich eigentlich rot geworden? Das passiert mir nämlich immer, wenn ich jemand sehe, der mit einem Gewehr auf mich zielt.«

 

Kapitel 16

 

16

 

Am Morgen war Faith Leman in bester Stimmung aufgewacht. Sie freute sich, daß sie so lange geschlafen hatte, denn nun war der Zeitpunkt nahe herangekommen, an dem sie Jimmy wiedersehen würde. Das ganze Leben lag jetzt herrlich vor ihr. Sorgen, Kummer und Furcht waren verschwunden. Am liebsten hätte sie laut singen mögen. Sie hatte Jimmy versprochen, sich zum Ausgehen fertigzumachen, und er wollte sie vor dem Mittagessen abholen. Um elf Uhr war sie fertig. Kurz darauf klingelte das Telefon.

 

»Sind Sie am Apparat, Miss Leman?« fragte John Sands.

 

Sie erkannte ihn an der Stimme.

 

»Ja.«

 

»Ich möchte Sie kurz sprechen, wenn Sie soviel Zeit für mich übrig haben. Ich muß Ihnen etwas mitteilen, was mir Ihr Onkel gesagt hat und was bis jetzt noch nicht an die Öffentlichkeit kam.«

 

»Wäre es nicht besser, wenn Sie darüber mit Mr. Cassidy sprächen?« erwiderte sie zögernd. »Er kommt zwischen elf und zwölf ins Hotel zurück.«

 

»Es wäre mir lieber, wenn Sie die Sache später Mr. Cassidy mitteilten. Er braucht nicht gerade zu wissen, daß ich Ihnen diese gute Nachricht brachte, denn er ist aus irgendeinem Grund argwöhnisch und sieht unsere Bekanntschaft nicht gern. Aber Sie wissen ja, Miss Leman, daß ich stets das Bestreben hatte, Ihr Leben möglichst angenehm zu gestalten und Sie vor Sorgen und Unannehmlichkeiten zu schützen.«

 

»Ja, das weiß ich«, entgegnete sie herzlich. »Und Jimmys – ich meine Mr. Cassidys Ängstlichkeit und Besorgnis sind ja unter den augenblicklichen Verhältnissen auch zu verstehen, nicht wahr?«

 

»Selbstverständlich. Ich will ihm keinen Vorwurf machen.«

 

»Wo wollen Sie mich denn sprechen?«

 

»Kommen Sie doch zur Ecke der Blane und Oxford Street. Nehmen Sie kein Taxi, und falls Sie Mr. Cassidy begegnen sollten, sagen Sie ihm bitte nicht, daß Sie mich treffen wollen. Oder soll ich ihn lieber Jimmy nennen?«

 

Sie hörte, daß er leise lachte, und errötete leicht.

 

Als sie zu dem Treffpunkt kam, sah sie John Sands schon von weitem an der Ecke der beiden Straßen warten. Er war elegant und tadellos gekleidet.

 

»Ich habe ein Auto hier, wir wollen einsteigen. Während der Fahrt können wir bequemer miteinander sprechen und werden auch nicht zusammen beobachtet. Ich hätte Sie ja bitten können, mich in meiner Wohnung in der Charles Street aufzusuchen, da aber keine Dame in meinem Haus ist, habe ich davon abgesehen.«

 

Sie war angenehm berührt von dem Takt, den er ihr gegenüber an den Tag legte, und das alte Vertrauen zu ihm lebte wieder auf.

 

»Ich weiß, daß Sie sehr gut zu mir waren, Mr. Sands, und meine Interessen meinem Onkel gegenüber immer vertreten haben«, sagte sie herzlich. »Und ich werde auch nicht vergessen, was Sie für mich getan haben.«

 

Ihre Worte gefielen ihm außerordentlich, und er sagte ihr das auch in höflicher Form.

 

»Ich stelle Ihre Freundschaft allerdings auf eine harte Probe«, fuhr er dann fort. »Ich möchte Sie bitten, Ihre Verabredung mit Jimmy heute vormittag aufzugeben, und mit mir aufs Land zu kommen. Ich habe nämlich Mrs. Leman gefunden.« Sie sah ihn neugierig an.

 

»Wie ist denn das möglich, daß Sie sie gefunden haben? Sie lebt doch zur Zeit in Frankreich?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, sie wohnt in England; sie war sogar die ganze Zeit hier, aber das ist eine sehr lange Geschichte, und ich will Sie im Augenblick nicht damit belästigen. Miss Leman, wissen Sie, daß Sie eine sehr reiche Dame sind?«

 

»Ich?« fragte sie erstaunt.

 

»Bevor Ihr Onkel starb – niemand beklagt seinen Tod mehr als ich –, hat er ein Testament zu Ihren Gunsten gemacht. Das Dokument hat er seiner Frau ausgehändigt. Ich selbst wußte nichts davon«, fügte er schnell hinzu. »Erst vor zwei Tagen erzählte mir Mrs. Leman die ganze Geschichte.«

 

»Aber das ist doch unmöglich! Wann hat er es denn geschrieben?«

 

»Er hat seinen Letzten Willen in Gegenwart von Mrs. Leman aufgesetzt und ihr das Schriftstück mit der Bitte überreicht, es Ihnen zu geben. Die unglückliche Frau hat mir dies nicht gleich gesagt. Welchen Grund sie dazu hatte, kann man ja vermuten; aber wir dürfen sie nicht zu streng beurteilen, Miss Leman. Es hat keinen Zweck, seine Mitmenschen zu scharf unter die Lupe zu nehmen.«

 

»Ich mache ihr durchaus keinen Vorwurf«, erwiderte Faith verwundert. »Aber warum soll ich denn aufs Land fahren?«

 

»Sie hat jetzt den Wunsch, Ihnen das Testament persönlich zu übergeben und Sie um Verzeihung zu bitten. Es sind eine ganze Reihe von Gründen vorhanden, warum wir im Augenblick keinen anderen einweihen wollen«, entgegnete John Sands ruhig und bedächtig und widerlegte dadurch von vornherein ihre Gegengründe. »Sie wird Ihnen die näheren Umstände erklären, unter denen sie getraut wurde, und dann werden Sie auch verstehen, warum Mr. Cassidy und sein Freund, der Polizeiinspektor, im Augenblick nichts von dem Geheimnis erfahren dürfen.«

 

»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte sie fassungslos. »Es scheint mir ganz unmöglich! Wenn ich das Vermögen meines Onkels erbe, bin ich allerdings sehr reich!«

 

John Sands machte eine Handbewegung, um die Größe ihres Vermögens anzuzeigen.

 

»Jedenfalls sind Sie reich genug, um mit mir aufs Land fahren zu können.«

 

»Wo hält sich denn Mrs. Leman zur Zeit auf? Wo werden wir sie treffen?«

 

»Zuerst fahren wir zum Paddington-Bahnhof, von dort mit dem Zug nach Slough. Am Bahnhof werden wir von meinem Auto abgeholt, und ich werde Sie dann den Rest des Weges persönlich fahren. Ich habe ein kleines Haus in der Nähe von Marlow.«

 

Unterwegs unterhielten sie sich über Wassersport, Motorboote und andere Dinge, die in London zur Zeit das Tagesgespräch bildeten. Erst hundert Meter vom Ziel entfernt überkam sie ein eigenartiges Gefühl.

 

»Meinen Sie nicht, es ist besser, ich schicke Jimmy ein Telegramm? Er wird sonst meinetwegen furchtbar unruhig und ängstlich sein.«

 

»Ich werde dafür sorgen, daß es abgeschickt wird«, erklärte er. »Einer der Dienstboten kann es zur Post bringen, wenn wir angekommen sind.«

 

Sie atmete erleichtert auf. Unwillkürlich fühlte sie sich sicherer, als sie hörte, daß Dienstboten in dem Haus waren. Und doch brauchte sie sich vor dem liebenswürdigen und entgegenkommenden Mr. Sands nicht zu fürchten. Er hatte sich doch stets sehr korrekt benommen.

 

Als sie aus dem Fenster des Wagens sah, hatte sie den Eindruck, daß er in einem großen Bogen nach Marlow fuhr und nicht den direkten Weg nahm. Sie bogen von der Hauptstraße auf einen ziemlich schlechten Nebenweg ab, der, wie sie nach seinem holprigen Zustand urteilte, äußerst selten benutzt wurde. Die Straße führte auch nicht weiter, und schließlich hielt Sands an. Dann führte er sie einen Fußweg entlang und unterhielt sich dabei in der freundlichsten und lebhaftesten Weise mit ihr.

 

»Ist das denn das Haus, in dem sich Mrs. Leman aufhält?«

 

Sie konnte ihr Erstaunen nicht unterdrücken.

 

»Das sieht aber doch aus wie ein Bootshaus?«

 

»Ja, jetzt sind wir angelangt«, erwiderte John.

 

»Das war es auch, bis ich es mietete. Aber ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß es im Innern sehr gut und komfortabel ausgestattet ist. Von außen sieht man das natürlich nicht.«

 

Er öffnete die Tür. Auf der Schwelle blieb Faith stehen, da es im Innern dunkel war und man nichts von Dienstboten sehen konnte. Aber eine Hand legte sich auf ihren Rücken und schob sie vorwärts.

 

»Aber, Mr. Sands!« protestierte sie atemlos.

 

Er schlug die Tür hinter sich zu und verschloß sie, bevor er ihr antwortete.

 

»Gehen Sie geradeaus. Sie finden eine Treppe, die nach oben führt. Es sind einundzwanzig Stufen«, sagte er kurz. »Zählen Sie, sonst kann es Ihnen passieren, daß Sie die Treppe hinunterfallen.«

 

»Nein, ich gehe nicht weiter, ich will nach Hause zurück«, erklärte sie heftig.

 

Er lachte.

 

»Gehen Sie die Treppe hinauf!«

 

Seine Stimme klang hart und befehlend. Faith zuckte zusammen und zitterte am ganzen Körper. Sie gehorchte ihm, gab sich aber die größte Mühe, klar und kühl zu denken.

 

»Mr. Sands, ich verbitte mir, daß Sie auf solche Weise zu mir sprechen.«

 

»Sie haben sich hier nichts zu verbitten. Sie werden noch ganz hübsch gehorsam und folgsam werden, wenn ich erst einmal richtig mit Ihnen gesprochen habe«, erwiderte er in schneidendem Ton. »Oben auf dem Treppenabsatz bleiben Sie stehen.«

 

Er schloß eine Tür auf und führte sie in einen großen Raum, der sehr gut eingerichtet war. Von der Decke hingen ein paar Petroleumlampen herab.

 

Es dauerte einige Zeit, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatte. Dann aber erkannte sie ihre Umgebung und schrak zurück. Nicht vor der reichen Ausstattung des Raumes und den orientalisch prächtigen Farben, sondern vor den schweren Plüschvorhängen, mit denen die Fenster verschlossen waren. Kein Licht konnte hier von außen hereindringen. Deshalb hatten die Fenster auch so tot und schwarz ausgesehen. Dann entdeckte Faith mit Entsetzen eine Frau, die am anderen Ende des Zimmers saß. Sie starrte sie an und trat unwillkürlich zurück, bis sie mit dem Rücken an die Tür stieß. Ihr Herz schlug wild vor Furcht. Die Frau war schwarz gekleidet, so daß das weiße, leidende Gesicht, in dem zwei dunkle, fieberheiße Augen glänzten, um so mehr auffiel. Sie saß in einem derben Sessel; ihre Hände waren durch Stahlklammern an den Armlehnen befestigt, ihre Fußgelenke an den Stuhlbeinen. Sie hielt den Kopf in einer krampfhaft unnatürlichen Haltung. Faith erkannte auch den Grund dafür: der Kopf war mit einem breiten Lederriemen unter dem Kinn fest angeschnallt.

 

John Sands ging schnell zu der Fremden, nahm eine Tasse Wasser von einem Tisch und hielt sie an ihre Lippen.

 

Sie trank gierig.

 

»Nun, bist du durstig?« fragte er sanft. »Das kann ich mir auch denken.«

 

Er bückte sich, nahm einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Stahlringe an ihren Armen und Beinen. Dann richtete er sie auf, aber sie taumelte, matt vor Erschöpfung. Sands lachte leise.

 

»Öffnen Sie die Tür«, befahl er Faith Leman. »Aber machen Sie schnell.«

 

Sie gehorchte. Er hob die Frau auf, trug sie in den anstoßenden Raum und legte sie dort auf ein Feldbett.

 

»Wir brauchen uns im Augenblick nicht um sie zu kümmern, sie wird sich bald erholen«, wandte er sich dann an Faith Leman und führte sie wieder in das große Zimmer. »Es hat länger gedauert, als ich annahm, da ich Ihnen in London dauernd folgen mußte, bis ich schließlich heute vormittag eine Gelegenheit fand.«

 

»Wer – wer –« flüsterte sie und sah ihn starr vor Schrecken an.

 

»Ich sagte Ihnen doch, daß Sie Mrs. Leman sehen würden. Das ist sie. Nehmen Sie Platz.«

 

Kapitel 17

 

17

 

Ohne Widerstand zu leisten, folgte sie. Sands hatte eine so eigentümliche Art, mit ihr zu sprechen, wie sie es noch nie in ihrem Leben gehört hatte. Er war nicht mehr höflich und zuvorkommend, sondern brutal –

 

»Wenn Sie hungrig sind, finden Sie etwas Keks in dem Schrank dort drüben. Sie können ihr auch ein paar geben, wenn sie sich erholt hat.«

 

Bei diesen Worten wies er mit dem Kopf nach der Tür zum Nebenzimmer.

 

»Mr. Sands, was hat das alles zu bedeuten? Wenn es ein Scherz sein soll, dann ist er zum mindesten sehr schlecht.«

 

»Nein, ich leiste mir keine Scherze. Sie scheinen die Situation immer noch nicht zu verstehen. Was ich tue und sage, ist mein voller Ernst, und es handelt sich hier um wichtige Dinge. Ich werde Sie jetzt kurze Zeit allein lassen. Sie können sich aber die Mühe sparen, einen Ausweg von hier zu suchen. Damit würden Sie nur Ihre Zeit vertrödeln. Es gibt nur einen Weg zu diesem Haus, und zwar den, auf dem wir eben gekommen sind. Die Fenster sind sämtlich mit starken Eisengittern versehen, die Mauern, der Boden und die Decke mit schallsicheren Platten verkleidet, und hier unten« – er zeigte auf den Boden – »ist tiefes Wasser.«

 

Nachdem er das gesagt hatte, schloß er die Tür auf und ging hinaus. Sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte, und glaubte, daß er das Auto in die Garage bringen wollte. Damit hatte sie auch recht, denn kurz darauf hörte sie das Geräusch eines Motors, das immer leiser wurde und sich entfernte. Obwohl er sie gewarnt hatte, suchte sie alle Wände nach einem Geheimausgang ab. Die Tür war sehr stark und aus dickem Eichenholz. Faith mühte sich einige Zeit vergeblich, sie mit einem schweren Stuhl aufzustoßen, dann gab sie es auf. Ein leises Stöhnen erschreckte sie, und plötzlich dachte sie wieder an die bleiche Fremde in dem schwarzen Kleid. Als sie ins Nebenzimmer trat, lag sie mit weitgeöffneten Augen auf dem Bett und hatte die zerschundenen Hände gefaltet.

 

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Faith.

 

Margaret Maliko schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Sie können nichts für mich oder für sich tun. Wer sind Sie? Ich vermute, Miss Leman?«

 

»Ja, so heiße ich«, erwiderte Faith freundlich. »Geht es Ihnen sehr schlecht? Sind Sie krank?«

 

Die Frau lächelte schwach.

 

»Wissen Sie, wo ich jetzt sein möchte?«

 

Faith schüttelte den Kopf.

 

»In einer Zelle im Gefängnis von Aylesbury, um meine siebzehn Jahre abzusitzen.«

 

»Ich verstehe Sie nicht –«

 

»Es rächt sich jede Schuld«, entgegnete die Frau mit leiser Stimme. »Ich habe früher nicht daran geglaubt, aber ich weiß jetzt, daß es wahr ist. Drei Jahre habe ich im Gefängnis gesessen, und ich müßte auch noch dort sein, aber ich bin geflohen.«

 

Faith setzte sich auf den Rand des Bettes. Sie glaubte, daß die Frau im Delirium spräche. Margaret mußte ihre Gedanken erraten haben.

 

»Nein, ich bin nicht irre. Ich bin Margaret Maliko oder Margaret Sands.«

 

»Aber Sie sind doch Mrs. Leman?«

 

Margaret richtete sich ein wenig auf.

 

»Ich habe John Sands geheiratet, in der Hoffnung, daß es mir dann besser ginge«, entgegnete sie mit einem schwachen Lächeln. »Es war mein zweiter Mann; der erste war ein furchtbar brutaler Mensch. Ich glaubte, daß es keinen schlechteren geben könnte. Er hat mich furchtbar behandelt und mich schließlich zum Wahnsinn getrieben – in dem Zustand habe ich ihn dann vergiftet.«

 

Faith sah sie entsetzt an.

 

»Und doch war Paul Maliko ein Engel im Vergleich zu John Sands!«

 

Die Frau schien Faith vergessen zu haben; ihre Worte klangen, als ob sie mit sich selbst spräche.

 

»Ja, ich habe ihn vergiftet. Mein Vater war Chemiker, und ich studierte Pharmakologie. Eines Tages, als mich Paul wieder einmal bis zum Wahnsinn gequält hatte, gab ich ihm eine Apfelsine, die ich vorher – aber darauf kommt es nicht an. Nun ist es jedenfalls meine Strafe, daß ich einen Mann heiraten mußte, der andere Leute vergiftet – einen Mörder!«

 

Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Nach einer Weile schaute sie müde wieder auf.

 

»Man sollte es nicht für möglich halten, daß ein Mann eine Frau auspeitschen könnte!« sagte sie und stöhnte vor Schmerzen. »Sie glauben es kaum, daß er jede Folter, die er nur ausdenken kann, an mir verübt – es handelt sich nicht um seelische Qualen, nein, um ganz brutale, gemeine Foltern. Sie können es nicht glauben, und es ist auch unerhört! Ich wollte von ihm fort, aber ich konnte ja nicht, da das Zuchthaus auf mich wartete. Schließlich faßte ich einen verzweifelten Entschluß und erzählte dem alten Mr. Harry Leman die volle Wahrheit. Er wollte mir auch helfen. In weiteren zwei oder drei Tagen wäre ich auf dem Weg nach Australien gewesen, und John Sands wäre statt meiner ins Gefängnis gekommen. Aber er hat alles herausgebracht. Er wußte, daß ich im Hause Mr. Lemans war. Ein Reporter hat es ihm gesagt. Ich mußte ihn an dem Abend in der Charles Street treffen, bevor ich zu meiner Wohnung in Hove zurückkehrte. Ach, und in der Nacht hat er mich entsetzlich gequält.«

 

Sie schauderte und bedeckte wieder die Augen mit den Händen, als ob sie die Erinnerung nicht ertragen könne.

 

»Ich dachte, daß ich sterben müßte. Dann schloß er mich in einen Schrank ein, nachdem er mir vorher Hände und Füße gebunden und mich geknebelt hatte. Ich hatte furchtbare Schmerzen und glaubte nicht, daß ich es länger aushalten würde. Und doch lebe ich noch!«

 

Sie rieb leise die Hände, dann riß sie sich zusammen und fand ihre Fassung wieder.

 

»Ich weiß nicht, was er mit Ihnen vorhat, aber er kommt zurück. Ich weiß es bestimmt, ich kann es körperlich fühlen, wenn er herkommt. Es ist, als ob eine kalte Hand an mein Herz griffe. Versprechen Sie mir eins, Miss Leman: Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, trinken und essen Sie nichts in diesem Haus. Schwören Sie es mir!«

 

Faith versprach es.

 

Margaret dämpfte nun ihre Stimme und sprach eindringlicher.

 

»Es wäre möglich, daß wir fliehen können. Vielleicht auch nicht. Ich weiß, was mir bevorsteht. Ich komme sofort ins Gefängnis, und doch wäre das eine Erlösung. Ach, wie gern würde ich jetzt in Aylesbury sein!«

 

Gleich darauf hörten sie, daß die Tür des großen Raumes aufgeschlossen wurde.

 

John Sands kam herein.

 

»Hallo«, sagte er in seiner alten, freundlichen Weise, »Sie scheinen sich ja schon recht gut miteinander angefreundet zu haben. Du weißt doch, daß es Miss Leman ist?« wandte er sich an seine Frau.

 

Dann lachte er, bückte sich, hob sie von dem Bett auf und trug sie wieder in den großen, mit orientalischer Pracht ausgestatteten Raum.

 

»Ich will, daß du hier sitzt und alles hörst, was ich sage. Mit der Zeit erfährst du mehr und mehr und kannst ruhig alles wissen – Sie haben ja wohl erfahren, daß das nicht Mrs. Leman ist«, sagte er zu Faith, »sondern meine Frau. Sie ist allerdings nicht gerade sehr repräsentabel, sondern im Gegenteil eine der verkommensten und gemeinsten Frauen, die jemals ein Mann geheiratet hat. Aber was kann man schließlich von einer Frau erwarten, die nur um Haaresbreite dem Galgen entging?«

 

Er warf einen befriedigten Blick auf Margaret.

 

»Wenn du dir deine Niederträchtigkeit abgewöhnst und mich nicht verrätst, wird es dir schon besser gehen. Dann brauche ich dich nicht immer zu fesseln und werde dir auch sonst keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

 

Faith sah, daß sich die Blicke der beiden auf die gegenüberliegende Wand richteten, wo eine kurze Peitsche hing.

 

»Ich glaube, Sie sind entsetzt über all das, was Sie hier erfahren, Miss Leman. Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Sie sind unter der Obhut Ihrer liebenden Mutter in guten Verhältnissen aufgewachsen, und was sonst noch alles in schönen Geschichten steht, aber Sie brauchen sich nicht aufzuregen.«

 

Er lehnte sich auf dem Diwan zurück, auf dem er Platz genommen hatte, zog ein großes, prächtiges Kissen zu sich heran, stopfte es in den Rücken und zündete sich dann eine Zigarette an.

 

»Sie brauchen sich durchaus nicht aufzuregen«, wiederholte er. »Vor allem muß ich Ihnen wohl die eine fundamentale Wahrheit nicht einhämmern, daß ein Mann unter allen Umständen leben will. Das menschliche Leben dauert ja nur eine kurze Spanne Zeit, und je mehr Glück und Befriedigung man sich in dieser kurzen Frist verschaffen kann, desto erfolgreicher ist man gewesen. Schon von meiner frühen Jugend an war mein Bestreben immer darauf gerichtet, mir möglichst wenig Unannehmlichkeiten und Sorgen zu machen. Ganz systematisch habe ich mir Mitleid und andere Untugenden abgewöhnt. Alle Sorgen um andere Leute belästigen einen im Grunde nur.«

 

Anscheinend war dies sein Lieblingsthema, und so schrecklich seine Worte auch klangen, er meinte sie vollkommen ernst. Es war fast, als ob er auf dem Katheder stünde und einen Vortrag über die Zweckmäßigkeit des menschlichen Lebens hielte!

 

»Egoismus ist kein Fehler, sondern eine Tugend. Erst darin zeigt sich eigentlich die reine Lebenskunst. Jeder Mensch ist Krankheiten unterworfen und hat Hindernisse zu überwinden – warum soll er sich dann auch noch mit den Sorgen anderer Leute abquälen? Das Elend seiner Freunde zu mildern, erscheint mir als eine große Dummheit, die den einfachsten Lebensgrundsätzen widerspricht.«

 

Er sagte das mit großem Bedauern, als ob ihm die Schwächen der Menschheit leid täten.

 

»In den wenigen Minuten, die Sie sich mit meiner Frau unterhalten haben«, er zeigte auf Margaret, die wieder bleich und ruhig in ihrem Stuhl saß, »müssen Sie den Eindruck erhalten haben, daß ich grausam bin, nur weil mir Grausamkeit Vergnügen bereitet. Aber nichts liegt mir ferner. Ich kann mich sogar rühmen, niemals einen Menschen oder ein Tier verletzt zu haben, es sei denn, daß ich es tun mußte, um mir einen Vorteil zu verschaffen. Man geht doch auch nicht einfach zu einem Pferd und schlägt es zwecklos mit der Peitsche; das tut höchstens ein brutaler Mensch, der Freude daran hat, Tiere zu quälen. Aber wenn man keine Zeit hat und den Zug noch erreichen muß, gibt man dem Pferd vor dem Wagen die Peitsche, damit es schneller geht. Ist das etwa Grausamkeit? Nein, durchaus nicht – das ist eiserne Notwendigkeit.«

 

»Ich finde Ihre Philosophie abscheulich«, sagte Faith ruhig.

 

»Aber Sie vergessen vollkommen, daß sie für mich notwendig ist. Ich habe meiner Frau Schmerzen verursacht, aber nur dadurch habe ich mich vor Schaden bewahren können.«

 

Er lächelte Margaret an, die seinem Blick gelassen begegnete.

 

»Ich mußte sie zum Beispiel bestrafen, weil sie mir über ein gewisses Dokument keine Auskunft geben wollte, das sie am Berkeley Square in den Briefkasten warf. Ich mußte sie mir fast vierundzwanzig Stunden lang scharf vornehmen, bis ich endlich die Wahrheit herausbekam. Aber dann zeigte sich, daß diese Mitteilung für mich von äußerster Wichtigkeit war.«

 

Er machte eine Pause, als ob er eine Antwort von Faith erwartete, aber sie schwieg.

 

»Nehmen wir zum Beispiel Ihren eigenen Fall, Miss Leman. Durch die Dummheit und den Verrat meiner Frau sind Sie die Erbin Mr. Harry Lemans geworden. Es stimmt, daß er Ihnen sein ganzes Vermögen vermacht hat, und zwar wurde das Testament auf Anraten meiner Frau aufgesetzt.«

 

»So war es nicht. Der alte Mann hatte selbst die Absicht, es zu tun«, sagte Margaret leise.

 

»Wenn du nicht gewesen wärst und ihm die verrückten Ideen in den Kopf gesetzt hättest, wäre das alles nicht geschehen«, entgegnete er. »Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Das Testament wurde jedenfalls gemacht. Und welche Bedeutung hat es für mich?«

 

Er hob die Hand und zählte die einzelnen Tatsachen an den Fingern ab.

 

»Erstens wurden meine sorgfältigen Vorbereitungen und die Arbeit vieler Jahre in wenigen Minuten wertlos. Zweitens habe ich mein für mich sehr kostbares Leben dadurch aufs Spiel gesetzt, daß ich Harry Leman umbringen mußte. Ich verlor dadurch die Belohnung, für die ich soviel gewagt hatte, ferner die bedeutenden Summen, die ich bereits auf die Durchführung dieses Plans verwandt hatte. Und schließlich würde das meinen vollkommenen Ruin verursacht haben, denn wenn ich zum einundzwanzigsten Juni nicht meine große Zahlung leisten kann, bin ich bankrott.«

 

»Wozu erzählen Sie mir das alles? Was erwarten Sie von mir?« fragte Faith. »Wollen Sie ein Lösegeld für mich haben? Oder glauben Sie; daß Sie mich zur Aufgabe meiner Erbschaft zwingen können?«

 

Sands schüttelte den Kopf.

 

»Es hätte keinen Zweck, denn eine Schenkung unter Zwang hat keinen gesetzlichen Wert. Nein, es handelt sich hier um andere Dinge: Im Fall Ihres Todes fällt die Erbschaft an meine Frau. Niemand nimmt an, daß ich sie unter Lemans Namen geheiratet habe. Außer Ihnen, ihr und mir weiß ja keiner um diese Tatsache. Und was sie anbetrifft, brauche ich mir weiter keine Sorgen zu machen.«

 

Es lag etwas Unheimliches in seinen Worten, und sie zitterte.

 

»Wenn ich Sie – erledigt habe«, fuhr er in aller Seelenruhe fort, »wird meine Frau alle die Schritte tun, die ich ihr vorschreibe, um die Erbschaft des alten Leman anzutreten, und ich zweifle nicht daran, daß es gelingen wird, uns den größeren Teil seines Vermögens anzueignen. Voraussetzung dazu ist natürlich immer, daß Sie sterben.«

 

»Daß ich sterbe«, wiederholte Faith.

 

»Ja, Sie haben mich vollkommen richtig verstanden.«

 

Er erhob sich, ging zu dem kleinen Schrank, der an der Wand hing, und öffnete ihn. Faith sah zwei Reihen glänzender Flaschen, und ihr Herz hörte fast auf zu schlagen.

 

»Als Giftmörder«, sagte John Sands und wandte sich nach ihr um, »bin ich der reinste Laie, aber ich habe mich mit Begeisterung diesem Fach zugewandt. Früher wäre es mir niemals eingefallen, das Leben eines Menschen auf diese Weise zu beenden, aber ich hatte ja das große Glück, Margaret kennenzulernen. Nachher erfuhr ich, daß sie nicht nur im Zuchthaus gesessen hatte, sondern auch, daß sie wegen Giftmordes verurteilt worden war. Sie hat gute medizinische Kenntnisse, die ich mir zunutze machte. In früherer Zeit habe ich mich viel und häufig mit Margaret unterhalten und dadurch manches gelernt. Ihr kam natürlich die Tatsache nicht zum Bewußtsein, daß ich all diese Kenntnisse nur für die Zukunft sammelte. Wenn ich irren sollte, Margaret, dann stelle bitte meine Angaben sofort richtig«, sagte er höflich.

 

Er nahm die Giftflaschen der Reihe nach aus dem Schrank und behandelte sie sehr vorsichtig. Die eine oder andere streichelte er sogar; und es schien ihn Überwindung zu kosten, daß er sie zögernd wieder in den Schrank stellte.

 

Nachdem er noch einen bewundernden Blick auf den Inhalt geworfen hatte, schloß er den Schrank wieder zu.

 

»Ich zeige Ihnen das nur, weil ich nicht die Absicht habe –«

 

Er hielt plötzlich inne, denn aus der Ecke des Zimmers kam das Geräusch einer elektrischen Klingel. Mit einigen großen Schritten eilte er zur Tür und ging hinaus.

 

Kapitel 18

 

18

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Faith.

 

»Er spannt immer einen dünnen Draht über den Weg, der zum Haus führt«, erwiderte Margaret leise. »Jemand kommt auf das Bootshaus zu. Aber machen Sie sich nur keine Hoffnung, das ist früher auch schon geschehen. Manche Leute gehen zufällig den Weg am Ufer entlang.«

 

Auf dem Treppenabsatz schob Sands ein Brett zurück, das ein kleines Beobachtungsfenster verdeckte, und suchte das ganze Ufer der Bucht mit einem Fernglas ab, das er von einem Nagel an der Wand nahm. Gleich darauf entdeckte er zwei Personen und erkannte sie auch. Leise schloß er die Öffnung, nahm ein geladenes Gewehr von der Wand und ging ins Freie. Es würde mindestens noch fünf Minuten dauern, bevor sie näher kamen, und er hatte Zeit genug, sich im Gebüsch zu verstecken. Schon vor langer Zeit hatte er vorausgesehen, daß ein derartiger Fall eintreten könnte, und darum alle Schutzmaßregeln bis ins einzelne ausgedacht. So lag er denn, ohne einen Muskel zu regen, unter dem Strauch und zielte genau, während Jimmy Cassidy und Blessington sich darüber unterhielten, ob Miss Leman wohl in dem Haus wäre.

 

John Sands atmete erleichtert auf, als er hörte, daß Jimmy zur Stadt zurückkehren wollte, und wartete noch fünf Minuten, bis ihre Schritte verhallt waren. Dann ging er ins Haus zurück, stellte das Gewehr an seinen Platz und trat wieder in das Zimmer, wo Faith und Margaret noch am Tisch saßen.

 

Der Zwischenfall hatte ihn sehr mitgenommen, und er war aufgeregt. Faith sah es ihm an, als er sich niederließ. Sein Gesicht erschien ihr plötzlich älter, und seine Stimme klang etwas schrill.

 

Es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder gefaßt hatte. Er machte sich an dem Büfett zu schaffen, steckte einen Spiritusbrenner an und kochte Kaffee. Als er damit fertig war, stellte er eine Tasse vor Faith und eine vor seine Frau. Zum größten Erstaunen Miss Lemans trank Margaret und nickte ihr beruhigend zu. Allem Anschein nach konnte sie davon trinken.

 

Sands sprach nun über andere Dinge. Allmählich wurde er unruhig und ging im Zimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit sah er auf die Uhr.

 

»Es ist nötig, daß ich mich heute abend wieder in meiner Wohnung sehen lasse, Miss Leman.«

 

Sein Ton war höflich und respektvoll. Sie hatte kaum noch auf ihn geachtet, und bevor sie es ahnte, hatte er sie mit seinen Armen fest gepackt. Obwohl sie sich wehrte, hielt er sie fest.

 

»Wenn Sie schreien, bekommen Sie die Peitsche zu fühlen. Ich tue Ihnen jetzt nichts. Halten Sie die Arme auf den Rücken so ist es richtig.«

 

Mit einer Hand packte er sie an den Handgelenken, mit der anderen fesselte er sie nach allen Regeln der Kunst, dann ließ er sie vorsichtig auf den Boden nieder.

 

Währenddessen beobachtete ihn Margaret schweigend. Sie hatte gewußt, was kommen würde. Sands hatte vorher zwei seidene Stricke aus einem Fach des Schranks genommen. Aber es hatte ja keinen Zweck, das Mädchen zu warnen.

 

»Ihre Fußgelenke binde ich nicht zusammen, das ist nicht nötig.«

 

Sie sah zur Decke hinauf, und zu ihrem größten Schrecken bemerkte sie, daß an einem der Balken oben ein kleiner Flaschenzug befestigt war. Er stieg auf eine Trittleiter und zog einen festen, dünnen Strick hindurch. Faith beobachtete alle diese Vorbereitungen zu ihrer Hinrichtung mit wahnsinnigem Entsetzen. Während er oben auf der Leiter stand, sah er sie freundlich an.

 

»Das sieht grausam aus, aber denken Sie nur ja nicht, daß ich Sie aufhängen oder sonst etwas Gewöhnliches tun werde. Haben Sie schon jemals von Smith und Wright gehört? – Ich sehe, daß Sie nichts davon wissen. Sie sollten die Jahrbücher über Kriminalität lesen, dann wüßten Sie Bescheid. Die sind fast ebenso interessant wie das Studium der Astrologie. Übrigens steht Orion in einer Stunde im Zenit – das hat eine gute Vorbedeutung für mich.«

 

Er legte ein Kissen unter ihren Kopf, ging zu dem Giftschrank und nahm einen flachen Kasten heraus, den er auf den Tisch stellte. Während er ihn öffnete, summte er eine Melodie; dann nahm er eine kleine Spritze heraus und betrachtete sie sorgfältig.

 

»Die ist ja rostig«, sagte er. »Ich möchte nur wissen, wie das möglich ist.«

 

Er nahm ein Stück Watte und rieb die Nadel damit ab; es gab einen braunen Flecken. Nachdenklich sah er zur Decke empor und überlegte, wann er das Instrument zum letztenmal gebraucht hatte.

 

»Das kommt sicherlich daher, daß es hier über dem Wasser etwas feucht ist. Anders könnte ich es mir nicht erklären.«

 

Der Rost an der Nadel war ihm offenbar sehr unangenehm. Er rieb sie sorgfältig ab und desinfizierte sie dann. Langsam und sachgemäß füllte er die Spritze aus einer der Flaschen, die er vom Schrank mitgebracht und auf den Tisch gestellt hatte.

 

»Reines Morphium«, erklärte er. »Das tut Ihnen nicht weh.«

 

Faith schrie laut auf, als er auf sie zukam. Er wurde einen Augenblick ärgerlich und machte eine Bewegung, als ob er ihr ins Gesicht schlagen wollte. Darauf schwieg sie. Als sie den Nadelstich in ihrem Arm fühlte, stöhnte sie leise, lag aber ruhig. Die Berührung seiner Hände war ihr furchtbar. Langsam zog er die Nadel aus ihrem Arm und richtete sich auf, während er sie genau betrachtete. Er schien zufrieden zu sein. Dann wandte er sich an seine Frau.

 

»Margaret, du bist Zeuge, daß ich sehr menschlich und vorsichtig mit ihr umgegangen bin. Unnötig tue ich niemand etwas zuleide. Sie reagiert großartig auf die Dosis, die ich ihr gegeben habe. Ich kann jetzt die Fesseln an ihren Händen wieder lösen.«

 

»Was hast du denn vor?« fragte sie.

 

»Hier unter dem Teppich ist eine Falltür«, entgegnete John Sands, setzte sich auf die Ecke des Diwans und nahm eine Zigarette aus seinem Etui. »Sie ist verschlossen, du brauchst dir also keine Hoffnung zu machen, daß du durch die Öffnung entfliehen kannst. Und selbst wenn sie nicht verschlossen wäre, könntest du aus dem Bootshaus nicht herauskommen. Ich habe eben von Smith und Wright gesprochen, das waren zwei Künstler, die 1812 in England lebten. Sie haben die Opfer, die sie töten wollten, zuerst durch eine kräftige Dosis Opium betäubt und dann an den Füßen aufgehängt, so daß sie mit dem Kopf ins Wasser hingen. Die Methode hat ihre Vorzüge. Der klügste Arzt konnte kein Zeichen von Gewalt nachweisen. Morgen früh wird die Leiche des armen Mädchens im Regent Kanal aufgefischt werden.«

 

»Du bist ja wahnsinnig!« schrie Margaret. »Nur ein Irrer kann derartig teuflisch handeln.«

 

John Sands lachte, als er den Teppich zurückschlug, so daß die viereckige Falltür im Boden genau zu sehen war.

 

»Ich kann vollkommen klar denken.«

 

Einen Augenblick sah er Margaret zweifelnd an, dann ging er zu ihr, schloß sie wieder an den Stuhl und legte auch den Lederriemen um ihren Hals.

 

»Das muß ich tun, damit ich vor dir sicher bin.«

 

Er ging wieder zu Faith zurück, die nur noch halb bei Besinnung war, schloß die Falltür auf und klappte den Deckel zurück. Dann schaute er auf die Uhr.

 

»Das Morphium hat noch nicht genügend gewirkt, ich werde noch drei Minuten warten«, sagte er und trat zu einem kleinen Tisch, auf dem eine Schale mit Obst stand. Er nahm eine Apfelsine und schälte sie langsam ab.

 

Margaret kannte ihren Mann, aber sie hätte sich doch über diese Kaltblütigkeit gewundert, wenn sie im Augenblick nicht über andere Dinge nachgedacht hätte.

 

Er legte die Schalen sorgfältig auf einen Teller, aß die Frucht, zog dann das Taschentuch und wischte sich die Finger ab.

 

»So, jetzt ist es soweit«, erklärte er und bückte sich. Er wickelte einen Stoffstreifen um die Fußgelenke des Mädchens, das inzwischen vollkommen bewußtlos geworden war.

 

»So, jetzt ist es soweit«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm, und er fuhr blitzschnell herum. Aber Blessington hatte den Revolver auf ihn gerichtet, nachdem er die Tür geräuschlos geöffnet hatte. Sieben verschiedene Nachschlüssel hatte er versucht, bevor ihm das gelungen war. Jimmy stand in der offenen Tür. Einen Augenblick war er vor Schrecken starr, aber dann stürzte er zu Faith, löste den seidenen Strick von ihren Fußgelenken und rieb ihre kalten, gefühllosen Hände.

 

»Das Spiel ist aus!« sagte der Polizeiinspektor.

 

»Das sehe ich auch«, entgegnete Sands und starrte den Beamten an. »Ja – es ist aus…«

 

»Und Sie sind Margaret Maliko?« fragte der Inspektor.

 

Und sie nickte.

 

»Ich muß Sie auch verhaften.«

 

Zum größten Erstaunen ihres Mannes und des Beamten zog sie die Hände aus den Stahlfesseln heraus, bückte sich und schloß die Fesseln an den Füßen auf.

 

»Was – du – konntest dich frei machen!« rief Sands bestürzt.

 

Sie nickte.

 

»Ja, ich konnte mich immer frei machen«, erwiderte sie langsam. »Ich konnte auch an den Giftschrank heran, und ich habe außerdem vergessen, die Spritze zu reinigen, nachdem ich die Apfelsine damit bearbeitet hatte, John Sands!«

 

Sie hatte die letzten Worte so leise gesprochen, daß Blessington und Jimmy sie nicht verstehen konnten. Der Inspektor, der den Gefangenen scharf beobachtete, sah, daß sich dieser plötzlich aufrichtete und auf Margaret stürzen wollte. Im nächsten Augenblick warf er sich dazwischen und packte Sands.

 

»Was fällt Ihnen ein!« rief er streng. »Nehmen Sie die Hände hoch, Sands!«

 

Eine furchtbare Veränderung ging mit John vor. Er wurde aschgrau im Gesicht und öffnete langsam den Mund, als ob er schreien wollte. Seine Augen wurden immer größer; die Zunge versagte den Dienst, er konnte der Aufforderung des Beamten nicht mehr nachkommen. Als Blessington ihm die Hand auf die Schulter legte, sank er zusammen; im letzten Augenblick fing ihn der Inspektor auf und legte ihn auf den Boden. Aber lange, bevor der Arzt kam, war John Sands schon tot.

 

*

 

Ein Herr und eine Dame saßen an Deck eines großen Passagierdampfers, der mit Kurs nach den Vereinigten Staaten fuhr.

 

Unter der großen, warmen Decke, die sie vor dem kalten Wetter schützte, drückten sie sich die Hände, wie es Liebende tun.

 

»Ich möchte nur das eine betonen«, sagte Jimmy schon zum hundertstenmal. »Ich nehme keinen Dollar von deinem Geld an, und wenn du mir sagst, daß ich meine Stellung aufgeben soll, so werde ich dir das nie verzeihen.«

 

»Aber Jimmy, du bist doch selbst reich und wohlhabend«, suchte sie ihn zu trösten. »Mr. Holland Brown hat mir gesagt, daß du eine Artikelserie geschrieben hast, die eine Million Dollar wert ist.«

 

»Ja, die Millionengeschichte habe ich geschrieben, und ich werde noch genügend ähnliche Artikel schreiben, um auf diese Weise meinen Lebensunterhalt verdienen zu können.«

 

»Ich wünschte, ich hätte die Erbschaft nicht gemacht«, erwiderte sie und verzog den Mund. »Du benimmst dich ganz abscheulich zu mir, als ob ich dir gar nichts wert wäre. Hast du mich denn nicht lieb?«

 

»Doch. Danach darfst du nicht fragen. Du bist mir viel mehr wert als eine Million Millionen.«

 

Sie schmiegte sich glücklich an ihn.

 

»Jimmy, dann ist ja alles in Ordnung, dann bist du ja ein doppelter Millionär. Ich will dich bei deinen Arbeiten nicht stören. Und wenn mich jemand fragt, warum du unentwegt arbeitest, werde ich ihm sagen, daß du ein wenig verschroben bist.«

 

Kapitel 2

 

2

 

Während er die Treppe hinunterging, kam ihm zum Bewußtsein, daß er sich dieses Abenteuer eigentlich ganz anders vorgestellt hatte.

 

Er hatte nicht ganz die Rolle gespielt, die er hatte spielen wollen: freundlich, mild, überlegen und vor allem Herr der Situation. Bis zu einem gewissen Grad war ihm das allerdings gelungen, aber die Begegnung hatte sich doch reichlich prosaisch abgewickelt und hatte nichts von dem geheimnisvollen, märchenhaften Charakter, von dem er geträumt hatte. Für Margaret mußte er natürlich ein großes Rätsel sein.

 

John übergab dem Mann von der Garage das Auto. Wieder im Zimmer, zog er einen Vorhang vor, der den großen Raum teilte. Am hinteren Ende war ein Tisch gedeckt; er brauchte nur noch die elektrische Kaffeemaschine einzuschalten.

 

Nach kurzer Zeit kam Margaret die Treppe herunter. Er hatte erwartet, daß ihr der Schlafanzug und der Bademantel zu groß wären und sie nicht kleiden würden, aber sie sah sogar elegant darin aus. Den großen Schalkragen des Bademantels hatte sie mit einer Sicherheitsnadel im Nacken zusammengesteckt, so daß er ihren schönen Kopf umrahmte. Und irgendwo hatte sie ein seidenes Tuch gefunden, das sie als Gürtel benutzte. Das weite Kleidungsstück wirkte daher gar nicht unförmig, sondern hob im Gegenteil ihre schöne Gestalt noch besonders hervor.

 

Sie setzte sich vor den elektrischen Heizofen und hielt die Hände dagegen.

 

»Die sehen nicht gerade sehr schön aus«, sagte sie und lachte ihn freundlich an. »Aber Sie werden wohl begreifen, daß ich bei dem Leben nicht meine Hände pflegen konnte. Kann ich Ihnen helfen, Kaffee zu kochen? Das habe ich schon seit Jahren nicht mehr getan.«

 

»Nein, danke, das verstehe ich auch ganz gut«, erwiderte John und lächelte ihr zu. »Wärmen Sie sich nur. Übrigens ist der Raum oben, der dem Badezimmer gegenüberliegt, für Sie bestimmt. Ich habe absichtlich die Tür aufgelassen, und ich freue mich, daß Sie es sich bequem gemacht haben.« Er warf einen Blick auf das bunte Seidentuch, das sie so malerisch umgeschlungen hatte.

 

Plötzlich hob sie den Kopf und lauschte. Der Sturm hatte bedeutend an Heftigkeit zugenommen und trieb die Regenschauer gegen die Fensterscheiben. Sie zitterte ein wenig und zog ihren Stuhl näher an den Heizofen.

 

»Ein entsetzliches Wetter! Es wäre furchtbar gewesen, wenn ich die Nacht auf dem Hügel im Freien hätte zubringen müssen.«

 

Sie summte ein kleines Lied und beobachtete ihn dabei.

 

Er war so merkwürdig weiblich in all seinen Bewegungen und lächelte gern wie eine Frau, der es gutgeht und die sich glücklich fühlt. Seine Hände waren schmal und zart; sie konnte es deutlich sehen, als er an der Kaffeemaschine hantierte. Traurig betrachtete sie ihre eigenen und verzog das Gesicht.

 

»Ich liebe Komfort und eine schöne Umgebung«, sagte er. »Und ich habe auch große Vorliebe für altes, feines Porzellan, für kunstvoll geschmiedetes Silber, für gute Musik und zarte Lyrik. Spielen Sie eigentlich Klavier?«

 

»Ja, ein wenig.«

 

»Dann müssen Sie mir nach dem Essen etwas von Grieg vorspielen.«

 

Wieder lachte sie.

 

Es erschien ihr merkwürdig, daß sie sich so schnell in dieser Umgebung zu Hause fühlte. Der Mann kam ihr auch nicht mehr so unheimlich vor; außerdem konnte sie es sich ja auch nicht gestatten, andere Menschen argwöhnisch zu betrachten. Sie mußte mit allem zufrieden sein, was man ihr gab.

 

»Gute Musik verlangt aber auch einen guten Vortrag. Und ich bin schon lange aus der Übung.«

 

Während sie sich behaglich wärmte, warf sie doch ab und zu von der Seite einen Blick auf ihn und beobachtete ihn neugierig. Keine seiner Bewegungen entging ihr. Sie sah, daß er etwas aus der Tasche nahm – eine kleine Glasröhre, deren Korken er herauszog. Eine kleine, weiße Tablette fiel in eine der Tassen. Sie war noch nervös von den Erlebnissen des Tages, erschrak nun und sprang auf. Es kamen ihr plötzlich furchtbare Erinnerungen.

 

»Was haben Sie da eben gemacht?« fragte sie mit ängstlicher Stimme.

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Was soll ich denn gemacht haben?«

 

»Was haben Sie hier hineingetan?«

 

Sie nahm die Tasse und ließ die Tablette in ihre Hand gleiten.

 

»Was ist das?«

 

»Aber beruhigen Sie sich doch. Das ist eine Saccharintablette – ich nehme keinen Zucker.«

 

»War das denn Ihre Tasse?« fragte sie und errötete. »Ach, es tut mir unendlich leid. Ich bin noch so aufgeregt. Sie können das wohl verstehen.«

 

»Schon gut«, sagte er beruhigend und klopfte ihr freundlich auf die Hand. »Um Gottes willen, ich wollte Ihnen doch nichts tun! Denken Sie mal, wenn ich das beabsichtigte, hätte ich doch vorher schon viel bessere Gelegenheit dazu gehabt.«

 

»Es tut mir leid«, wiederholte sie noch einmal leise. »Es war sehr undankbar von mir. Sie müssen sich ein recht schlechtes Urteil über mich bilden.«

 

»Aber nein, durchaus nicht. Ich kenne ja die besondere Lage, in der Sie sich befinden.«

 

Trotz all ihrer Entschuldigungen beobachtete sie aber die Tasse genau, bis er sie mit Kaffee und Milch füllte, und sorgsam warf sie einen Blick in ihre eigene, ehe sie sich eingießen ließ. Das Essen schmeckte ihr sonst vorzüglich. Schließlich öffnete er auch noch eine Flasche Wein, achtete aber sorgsam darauf, daß er nicht mehr einschenkte, als sie wünschte. Zum Abschluß des Essens bot er ihr noch verschiedene Liköre an, schob ihr nachher ihren Sessel wieder nahe an den Heizofen und nahm ihr gegenüber Platz.

 

»Margaret Smith – oder soll ich Sie lieber Margaret nennen? –, ich möchte ganz offen mit Ihnen reden, denn ich bin sicher, daß Sie mir deshalb nicht böse sind. Selbstverständlich ist alles, was ich Ihnen erzähle, vertraulich. Ich weiß auch, daß Sie niemals darüber sprechen werden. Zwei Ereignisse aus Ihrer Vergangenheit sind mir bekannt, sonst nichts. Und ich möchte auch nicht mehr wissen. Erstens habe ich erfahren, daß Sie bis heute morgen im Frauengefängnis von Aylesbury waren, wo Sie eine lebenslängliche Zuchthausstrafe absitzen sollten. In England bedeutet eine solche Verurteilung eine Strafe von zwanzig Jahren, sie kann aber durch gutes Verhalten um einige Jahre gekürzt werden. Welches Verbrechen Sie begangen haben, daß man Sie so schwer bestrafte, habe ich nicht erfahren und mich auch nicht darum gekümmert. Von Ihrer Strafe haben Sie bis jetzt drei Jahre abgesessen, Sie hätten also noch weitere siebzehn Jahre im Zuchthaus bleiben müssen.«

 

»Nein, zwölf«, verbesserte sie. »Es wären noch zwölf gewesen, wenn ich nicht aus der Anstalt entkommen wäre. Sollten sie mich jetzt allerdings wieder fassen, so muß ich siebzehn Jahre absitzen, dann wird mir nichts geschenkt werden.«

 

»Nun ja, es bleibt bei den beiden Tatsachen: Sie sind aus der Anstalt geflohen und müßten noch siebzehn Jahre absitzen, wenn Sie wieder gefangen würden. Wenn ich also nicht mit meinem Wagen in die Gegend gekommen wäre und Sie am Fuß von Whitecross Hill getroffen und nach London mitgenommen hätte, dann hätte man Sie wahrscheinlich wieder gefaßt, und Sie säßen in diesem Augenblick wieder in einer Zelle in Aylesbury und warteten auf eine weitere Verurteilung.«

 

Sie nickte.

 

»Ich hörte von Ihrer Flucht, als ich in Aylesbury zu Mittag aß. Ich hatte eine kleine Reparatur an meinem Wagen, und der Monteur erzählte mir, daß heute morgen eine Strafgefangene ausgebrochen sei. Ich erfuhr auch, daß Sie zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden waren. Wie Sie heißen, welche Tat Sie begangen hatten, wußte der Mann nicht. Wie sollte er das auch erfahren haben? Die Leitung der Anstalt hatte wahrscheinlich keine anderen Nachrichten in die Öffentlichkeit kommen lassen.«

 

»Ich bin für ein Verbrechen verurteilt worden, an dem ich unschuldig bin«, erwiderte sie leise.

 

»Es tut mir leid, daß Sie das sagen. Ich hoffte sogar im stillen, daß Sie schuldig wären.«

 

Sie sah ihn überrascht an, und zu seinem Erstaunen huschte ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel.

 

»Und sicher sind Sie auch schuldig«, fuhr John Sands fort. »Alle Leute, die verurteilt werden, sind schuldig. Der Unschuldige kommt eigentlich nur in Kriminalromanen vor. Ich will ganz offen Ihnen gegenüber sein: Ich brauche die Hilfe eines Menschen mit verbrecherischer Veranlagung. Solche Leute sind klug und wissen sich in allen Lagen zu helfen. Verstehen Sie mich recht, ich will nicht, daß Sie noch ein weiteres Verbrechen begehen. Nur sollen Sie den englischen Behörden gegenüber einen anderen Namen gebrauchen als den Ihrigen und weiter unter diesem Namen leben. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, daß Sie unter Ihrem eigenen Namen heiraten würden.«

 

»Heiraten?« sagte sie und schaute ihn groß an.

 

»Ja, heiraten«, wiederholte er. »Ich gebe zu, daß die Aussicht nicht gerade sehr anziehend sein mag, aber für Sie bedeutet es ein ruhiges, sorgenfreies Leben, sogar einen gewissen Luxus, interessante Reisen und vieles andere.«

 

»Wollen Sie mich etwa heiraten?« fragte sie direkt.

 

John sah ihr voll ins Gesicht und zuckte nicht mit der Wimper.

 

»Es ist mein Wunsch, daß Sie Harry Leman heiraten.«

 

»Harry Leman?« entgegnete sie fragend. »Harry Leman? Meinen Sie den bekannten amerikanischen Petroleumkönig?«

 

Er nickte.

 

»Ja. Harry Leman ist vielfacher amerikanischer Millionär und hat sein Vermögen in Petroleumaktien angelegt. Das wäre das erste, was ich Ihnen mitzuteilen hätte. Zweitens müssen Sie wissen, daß Harry Leman ein Freund von mir ist – tatsächlich bin ich der einzige Freund, den er in Europa oder in den Vereinigten Staaten hat. Ich mache nun den Vorschlag, daß Sie Harry Leman nächsten Montag in einer Woche auf dem Standesamt in Griddelsea heiraten. Die besondere Genehmigung dazu werde ich beschaffen – vielleicht wird es auch schon Donnerstag sein, aber ich glaube, Montag paßt doch besser.«

 

Sie legte den Kopf zurück und lachte auf.

 

»Das ist aber merkwürdig, daß Sie alle die Vorkehrungen schon getroffen haben, ohne vorher im mindesten meine Einwilligung einzuholen.«

 

»Das stimmt, aber Sie müssen doch selbst zugeben, daß ich keine Gelegenheit hatte, Sie vor heute abend kennenzulernen.«

 

»Haben Sie denn bei diesem Plan schon immer an mich gedacht?«

 

»Wenn ich offen sein soll, habe ich das nicht getan. Nein, bis heute morgen lebte die Frau, die mein Freund Harry heiraten soll, nur in meiner Phantasie. Aber nun haben wir uns doch getroffen, und das schreibe ich wieder einmal dem Einfluß meines guten Sterns zu, unter dem ich geboren bin und unter dem ich lebe. Sicherlich kennen Sie Bellatrix, das ist der Stern Gamma im Bild des Orion … Nein? Dann haben Sie sich bisher noch nicht mit Astronomie und Astrologie beschäftigt. Ich gebe zu, daß ich früher bei meinen Plänen nicht an Sie gedacht habe. Aber heute ist ein Wunder geschehen, auf geradezu märchenhafte Weise sind Sie in mein Leben getreten.«

 

»Aber nehmen wir einmal an, daß ich mit all Ihren Vorbereitungen nicht einverstanden bin. Wenn ich nun nicht mitmache?«

 

»Dann müßte ich Sie allerdings bitten, wieder Ihre nassen, schwarzen Kleider anzuziehen. Ich würde Sie ins Auto setzen und Sie wieder an die Stelle zurückbringen, wo ich Sie heute abend gefunden habe. Das klingt sehr unfreundlich, und ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich es gar nicht so böse mit Ihnen meine. Im Gegenteil, ich bin stets für ein friedliches und beschauliches Leben und nicht für große Aufregungen. Ich erkläre Ihnen feierlich, daß ich dieses ganze Abenteuer nicht unternommen hätte, wenn ich nicht so große Sorge um meinen Freund Harry Leman hätte. Er ist ein etwas sonderbarer, älterer Herr.« Sands schüttelte bedächtig den Kopf. »Und ich muß sagen, daß ich ihn wirklich gern habe.«

 

»Nun, wir brauchen ja nicht darüber zu sprechen, was passieren würde«, erwiderte sie ruhig, »denn ich bin nicht so töricht, Ihr Anerbieten ohne weiteres zurückzuweisen. Aber ich muß Ihnen doch sagen, daß ich nicht so scharf darauf aus bin, noch einmal zu heiraten.«

 

»Dann waren Sie also schon einmal verheiratet?« fragte John Sands, der plötzlich aus seiner beschaulichen, ruhigen Stimmung in die rauhe Wirklichkeit geschleudert wurde. »Sind Sie wieder frei, so daß Sie heiraten können?«

 

Sie nickte.

 

»Es wäre allerdings verteufelt unangenehm gewesen, wenn Sie schon einen Mann gehabt hätten – wirklich höchst unangenehm!«

 

»Was erwarten Sie denn von mir? Was soll ich tun?« fragte sie sachlich.

 

»Jetzt sollen Sie sich ins Bett legen und ordentlich ausschlafen. Morgen in aller Frühe kommt eine Frau hierher und bringt das Haus in Ordnung. Ich werde ihr erklären, daß Sie meine Schwester seien, die plötzlich unerwartet zu Besuch kam. Und da Sie Ihren Koffer verloren haben, schicke ich sie in die Stadt, damit sie alles kauft, was Sie brauchen. Seien Sie aber vorsichtig. Sie braucht ja nicht nach oben in Ihr Zimmer zu kommen und Sie sehen, sonst könnte die Sache vielleicht etwas unangenehm werden«, meinte er lächelnd und betrachtete sie wieder. »Sie können ja wohl die Kleider, die Sie vorher trugen, in Ihrem Zimmer trocknen – hoffentlich sind keine Stempel vom Gefängnis darin.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, es sind gar nicht meine Kleider. Sie gehören der Gefängnisärztin. Ich habe sie mir heute früh angeeignet und den Sträflingsanzug dortgelassen. Ich habe es nämlich so einrichten können, daß ich durch ihr Haus floh.«

 

»Das ist allerdings sehr gut, ganz vorzüglich.«

 

Sie erhob sich.

 

»Ich fühle aber deutlich, daß Sie mir noch nicht alles gesagt haben. Sie halten mit etwas zurück.«

 

»Es gibt verschiedenes, was ich Ihnen bis jetzt noch nicht gesagt habe. Aber das hat noch Zeit und kann bis später warten. In Ihrer jetzigen Verfassung sind Sie nicht fähig, alles zu verstehen. Sie müssen erst ruhiger werden. Wenn erst einige Tage vergangen sind, haben Sie den nötigen Überblick und die nötige Sicherheit, dann können wir über das Weitere reden.«

 

Sie ging die Treppe hinauf, aber als sie etwa auf der Hälfte war, rief er ihr nach: »Ich schlafe heute nacht nicht hier im Haus, aber morgen früh komme ich zeitig wieder her. Unten in der Diele ist ein Telefon; wenn Sie etwas brauchen sollten oder mich anrufen wollen, können Sie mich unter Paddington 1764 erreichen. Hoffentlich fällt es Ihnen nicht ein, während meiner Abwesenheit das Weite zu suchen. Geben Sie mir Ihr Wort darauf.«

 

Sie lachte.

 

»Keine Angst. Ich verlasse dieses Haus nicht, wenn ich nicht jemand bei mir habe, der mich in Schutz nehmen kann.«

 

»Sie sind klug und vorsichtig. Und soweit ich sehe, sind Sie auch unter einem guten Stern geboren. Ich rate Ihnen nur, achten Sie sehr darauf.«

 

»Auf die Sterne?« rief sie vom obersten Treppenabsatz herunter, und ihre Stimme klang etwas verächtlich.

 

»Sie mögen jetzt im Augenblick darüber lachen«, entgegnete er überzeugt. »Aber für mich haben sich Astronomie und Astrologie sehr wohl bezahlt gemacht.«

 

Sie ging ins Schlafzimmer hinauf und setzte sich oben auf die Bettkante. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, während sie hörte, daß er unten umherging. Einmal sang er sogar leise eine einschmeichelnde Melodie. Seine Stimme hatte einen sonderbaren Klang, der ihr zu Herzen ging. Nach einer Weile knipste er das Licht aus, dann schloß er die Haustür von außen. Sie lehnte sich lächelnd in die Kissen zurück. Seit langer Zeit fühlte sie einmal wieder zartes Leinen und weiche Daunenkissen. Sie wußte gar nicht, wie müde sie war. Das kam ihr erst zum Bewußtsein, als sie wieder aufwachte. Sie glaubte, sie hätte nur die Augen geschlossen und wieder aufgemacht, aber merkwürdigerweise war es heller, lichter Morgen.

 

Kapitel 3

 

3

 

Inzwischen wanderte Sands durch den rieselnden Regen nach dem Berkeley Square. Von diesem vornehmen Platz, an dem nur reiche Leute wohnen, biegt die Davis Street ab, eine Durchgangsstraße, in der viele kleinere, aber vornehme Geschäfte liegen.

 

Über einem dieser Läden wohnte Harry Leman. Seine Nichte führte ihm die Wirtschaft, denn obwohl er mehr als acht Millionen Dollar besaß, lebte er einfach, ja beinahe asketisch. Es grenzte fast an Geiz, daß er schon fünf Jahre in einer möblierten Wohnung zugebracht hatte.

 

Als John Sands eintrat, lag Leman auf einem Sofa, das nahe am Fenster stand. John Sands war ein so vertrauter Freund, daß er Haus- und Wohnungsschlüssel besaß und zu jeder Zeit freien Zutritt hatte. Das Zimmer war nur durch eine Leselampe mit einem schönen, grünen Seidenschirm erleuchtet. Sie stand auf einem kleinen Tisch in der Nähe des Sofas. Im Kamin brannte ein behagliches Feuer. Leman wandte sich um – er hatte eben aus dem Fenster gesehen – und erhob sich langsam. Er war groß, aber etwas zu hager. Sein schwarzer Anzug war ihm mit der Zeit etwas zu weit geworden, und auch der glatte weiße Kragen ließ darauf schließen, daß der Mann in den letzten Jahren abgenommen haben mußte. Das schmale Gesicht hatte eine bräunliche Färbung. Als einziges Schmuckstück trug er eine große, elegante Goldkette, die von einer Westentasche zur anderen reichte.

 

Seine Wäsche war sehr einfach, aber tadellos sauber, und seine Schuhe sahen gut gepflegt aus. Harry Leman putzte sie jeden Morgen selbst. An Größe war er John Sands bei weitem überlegen; selbst jetzt in der gebückten Haltung überragte er ihn. Er nickte nach dem kleinen Büfett an der Wand hinüber. Dort standen auf einem Tablett zwei gefüllte Kristallgläser mit goldbraunem, altem Kognak. Sands reichte seinem Gastgeber ein Glas, das andere trank er selbst mit einem Zug aus. Diese kleine seltsame Zeremonie wiederholte sich jedesmal, wenn sich die beiden trafen.

 

»Sie sind heute zehn Minuten zu spät gekommen«, sagte Leman und wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund. »Holen Sie die Karten.«

 

»Ja. Und ich werde auch Licht machen«, erwiderte Sands und drehte am Schalter.

 

Er ging zu einem kleinen Schrank, nahm zwei Pack Karten und einen Anschreibeblock heraus und legte beides auf den Tisch.

 

»Warum schauen Sie denn aus dem Fenster? Was interessiert Sie so sehr?« fragte John neugierig, denn die Nacht war dunkel, und man konnte draußen kaum etwas erkennen.

 

»Ich beobachte den Zeitungsreporter, der drüben sein Zimmer hat. Ich kann ihn von hier aus sehen. Er ist wieder eifrig an der Arbeit.«

 

»Was ist denn das für ein Berichterstatter?« fragte John überrascht.

 

Leman räusperte sich.

 

»Er hat seine Wohnung gerade mir gegenüber und ist einer der Leute von Holland Brown, dem Besitzer der ›New York Mail‹.«

 

»Woher kennen Sie ihn denn?« fragte John gespannt.

 

»Er kam heute in meine Wohnung und wollte mich interviewen«, entgegnete der Millionär gleichgültig. »Neugierig sind die Leute ja immer. Er wollte wissen, wann ich nach New York zurückreise, und vor allem, ob es stimmt, daß ich verheiratet sei.«

 

Leman lachte laut.

 

»Ich glaube, das interessiert die Amerikaner gewaltig«, sagte John, während er die Karten mischte.

 

»Ja, die wissen auch nicht, was sie machen sollen«, brummte Leman. »Ich habe allerdings immer im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Sehen Sie, Sands, Holland Brown kann es sich unter diesen Umständen leisten, einen Mann nach England zu schicken, der weiter nichts zu tun hat, als mich zu beobachten und über mich zu berichten. Lesen Sie eigentlich amerikanische Blätter? Die sind höchst interessant! Alle Leute schreiben von mir. Die Leser fressen jeden Artikel, den sie über mich finden.«

 

»Hat denn der junge Mann drüben nichts anderes zu tun, als nur über Sie zu berichten?« fragte John Sands.

 

Der Alte grinste.

 

»Ich weiß ebensoviel von ihm wie er von mir. Mit dem nächsten Dampfer fährt er nach New York zurück. Er hat einen ganzen Koffer voll neuer Geschichten über den sonderbaren alten Kauz Harry Leman. Einige habe ich ihm selbst erzählt, einige hat ihm Faith berichtet. Wenigstens nehme ich das an.«

 

»Wie kommt denn Faith dazu?« fragte Sands und zog die Augenbrauen hoch. »Sie gestatten doch Ihrer Nichte nicht etwa, daß sie mit einem solchen Mann verkehrt?«

 

»Aber warum denn nicht? Sie steht doch gesellschaftlich nicht höher als er. Ich möchte sogar sagen, der Zeitungsmann ist wertvoller als sie. Er verdient sich wenigstens fünfzig Dollar die Woche durch seine Schreiberei, und sie hat gar nichts – und sie wird auch nichts bekommen.«

 

»Ziehen Sie eine Karte, damit wir wissen, wer Vorhand hat.«

 

Sie spielten Piquet. Harry Leman spielte es schon seit langer Zeit, und dies war eigentlich seine einzige Erholung und Leidenschaft. Ebenso war dieses Spiel auch das Bindeglied zwischen diesen so ungleichen Charakteren, ja, darauf gründete sich überhaupt die merkwürdige Freundschaft zwischen ihnen. John Sands war geradezu ein Meister in diesem Spiel, aber Harry Leman stand ihm kaum nach.

 

»Um was spielen wir heute?« fragte er.

 

»Um hunderttausend Dollar den Punkt«, erklärte Leman prompt.

 

»Das heißt also: einen Cent den Punkt, und einen Dollar für den Rubber, wie gewöhnlich«, erwiderte John ernst und verteilte die Karten. »Wo ist eigentlich Faith?« fragte er dann.

 

»Auf ihrem Zimmer. Sie sucht ihre Stimmung zu verbessern.«

 

»Sie hat aber auch kein leichtes Leben, Sie machen es ihr zur Hölle.«

 

Der Millionär grinste.

 

»Ja, sie hofft immer noch, John Sands! Sie hofft, daß ich eines guten Tages sterben und ihr eine Million vermachen werde. Die bilden sich nämlich ein, ich wäre herzkrank und würde bald das Zeitliche segnen. Aber ich denke gar nicht daran!«

 

Es klopfte an der Tür.

 

»Komm herein!« rief Leman, und das junge Mädchen trat ins Zimmer.

 

John erhob sich und reichte ihr die Hand.

 

»Hallo, Miss Leman, ich habe Sie ja eine ganze Woche lang nicht gesehen.«

 

Er bewunderte Faith Leman. Sie hatte große, graue Augen und eine zarte, schöne Gesichtsfarbe. Er bewunderte auch ihre graziöse Haltung und ihre anmutigen Bewegungen.

 

Jeder andere hätte sich über das Verhalten des alten Millionärs seiner schönen und liebenswürdigen Nichte gegenüber gewundert. Aber John Sands hatte nur zu oft diese unangenehmen Szenen erlebt. Der alte Harry Leman runzelte die Stirn, und als er mit ihr sprach, klang seine Stimme rauh und abweisend. »Nun, was willst du?«

 

Sie war an seine schlechten Stimmungen gewöhnt und kümmerte sich nicht weiter darum.

 

»Ich wollte nur fragen, ob ich etwas tun kann für dich.«

 

»Nein, ich brauche nichts«, erwiderte der Alte barsch. »Wenn du etwas tun willst, dann geh zu Bett. Ich brauche keine Wärmflasche für die Nacht, und ich kann auch einschlafen, ohne daß du mir das Kissen in den Rücken stopfst oder dich an mein Bett setzt und meine Hand hältst. Ich kenne schon alle die Tricks einer schönen Erbin, die ihren alten, sterbenden Onkel umgarnen will!«

 

Sie sah ihn ruhig an, nickte John Sands noch einmal zu und verließ dann das Zimmer.

 

»Ich verstehe nur eins nicht. Wenn Sie Faith hassen, warum behalten Sie sie dann bei sich?«

 

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Sachen«, brummte Leman.

 

»Wenn ich mich über etwas noch mehr wundere als über die grobe Art und Weise, wie Sie sie behandeln, dann ist es höchstens die Tatsache, daß sie alles mit Gleichmut erträgt und nichts darüber sagt.«

 

»Das muß sie wohl, meinen Sie nicht auch? Ich unterstütze doch ihre Mutter! Wenn ich nicht wäre, würde die doch im Armenhaus sitzen!«

 

»Aber Sie müssen doch Ihr Vermögen irgend jemand hinterlassen.«

 

»Auf keinen Fall meiner Nichte oder ihrer faulen Mutter. Haben Sie mich verstanden? Das habe ich ihr auch schon erklärt. Es wäre überhaupt besser, daß ich mich verheiratete. Ich habe neulich schon gesagt, daß ich es auch bestimmt tun werde.«

 

»Na, das wäre nicht das erstemal, daß Sie darüber sprechen.«

 

»Haben Sie eine Zeitung mitgebracht?« fragte der Alte, nachdem sie schweigend ein paar Runden gespielt hatten.

 

»Ja, ich habe eine Abendzeitung.«

 

»Lassen Sie mich einmal sehen.«

 

John ging zur Garderobe, holte die Zeitung aus der Manteltasche und brachte sie Harry Leman. Der Alte blätterte die Seiten eifrig um.

 

»Gut! Sehr gut! Mexikanische Silberminen sind um zwei Punkte in die Höhe gegangen. Ich habe am Montag hunderttausend Kleinaktien davon gekauft.«

 

John lachte.

 

»Zum Teufel, warum lachen Sie über das, was ich sage?«

 

»Es ist doch wirklich lächerlich. Nun sitzen Sie hier, zergrübeln sich den Kopf, wie Sie Ihr Vermögen vergrößern können, und besitzen so viel Geld, daß Sie nicht wissen, wohin damit – aber trotzdem haben Sie nichts davon. Sie verstehen überhaupt nicht, Geld richtig auszugeben. Wenn Sie wenigstens noch Vergnügen daran hätten, Ihre Einnahmen zu erhöhen!«

 

»Woher wissen Sie denn, daß ich kein Vergnügen daran habe? Verstehen Sie denn nicht, daß das allergrößte Vergnügen darin liegt, andere Leute davon abzuhalten, das Geld zu verdienen, das man sich selbst in die Tasche steckt? Nicht das Bewußtsein, daß ich ein so großes Vermögen habe, befriedigt mich, sondern die Tatsache, daß andere Leute mein Geld nicht haben. Sehen Sie, das ist ein Trick, den nicht alle Leute verstehen. Die größte Genugtuung beim Kampf liegt in der Niederlage des Gegners.«

 

»Wer ist eigentlich Ihr Gegner?« fragte John.

 

»Irgendeiner«, erwiderte Leman unbestimmt. »Irgendeiner, der an der Börse gegen mich spekuliert.«

 

Sie spielten drei weitere Spiele. Nun waren es im ganzen sechs, und das war das wohlabgewogene Maß der Erholung, das sich der alte Leman gönnte. Heute freute er sich besonders, denn er hatte gewonnen. Er ging wieder zum Büfett und goß ein Glas Likör ein.

 

Sands lachte gutmütig.

 

»Ich wundere mich manchmal selbst, daß ich immer noch zu Ihnen komme. Aber Sie scheinen mich doch ganz gern zu haben.«

 

»Ja, da haben Sie nicht unrecht.«

 

Sands sah ihn offen an.

 

»Habe ich jemals versucht, Geld von Ihnen zu erhalten, Harry?«

 

»Nein. Aber damit ist immer noch nicht gesagt, daß Sie nicht einmal den Versuch machen werden. Sie sind so ein ganz heimlicher Kerl, der seine Gelegenheit abwartet. Ich bewundere immer Ihre Geduld, und ich bin sehr neugierig, einmal zu erfahren, worauf Sie hinauswollen und warum Sie eigentlich mit mir verkehren.«

 

Die beiden lachten herzlich zusammen.

 

»Aber warum heiraten Sie denn nicht?« fragte John Sands dann plötzlich.

 

Der Millionär sah ihn argwöhnisch von der Seite an.

 

»Sie haben doch nicht etwa eine Schwester, die Sie unter die Haube bringen wollen? Habe ich Sie nun doch erwischt?«

 

»Nein, ich habe keine Schwester, die ich verheiraten möchte«, entgegnete Sands gleichgültig. »Aber Sie versauern hier mit der Zeit tatsächlich und ärgern sich über die ganze Welt. Schließlich könnte das durch eine Heirat gebessert werden. Sie haben außerdem so oft davon gesprochen, daß Sie heiraten wollen, um Ihre Verwandten zu ärgern, daß ich mich immer wundere, warum Sie Ihr Vorhaben nicht endlich einmal ausführen.«

 

»Ich habe doch keine Verwandten. Habe ich Ihnen das noch nicht oft genug erklärt?« entgegnete Leman scharf. »Da ist doch nur dieses junge Mädchen und ihre Mutter. Die alte Frau ist ein unnützes Wesen, das einmal meinen Bruder Tom geheiratet hat, und wenn der das Geld nicht mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen hätte, brauchte ich die Frau heute nicht zu unterhalten. Aber der war natürlich großspurig und sagte dem Kellner immer, er brauchte ihm nichts herauszugeben. Aber was sollte ich denn mit einer Frau anfangen?«

 

»Und was sollte eine Frau mit Ihnen anfangen? Das ist die andere Frage. Aber nehmen wir einmal an, Sie fänden die richtige Frau, die Sie heiraten und die Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten und getrennt von Ihnen irgendwo auf dem Kontinent leben würde?«

 

»Das ist der dümmste Vorschlag, den Sie mir jemals gemacht haben. Gehen Sie jetzt, ich möchte mich zur Ruhe legen!«

 

John Sands ging zum Hotel, in dem er telefonisch ein Zimmer bestellt hatte, saß noch lange in einem Lehnsessel vor dem Fenster und überlegte hin und her. Schließlich hatte er einen Plan ausgedacht. Den Millionär hatte er auf einem Dampfer kennengelernt, und zwar auf der Fahrt von den Vereinigten Staaten nach England. Die beiden hatten eine merkwürdige Freundschaft miteinander geschlossen, die hauptsächlich darauf beruhte, daß John Sands ein sehr ruhiges und ausgeglichenes Temperament besaß und vorzüglich Piquet spielte. In seiner Jugend hatte er ein nicht allzu großes Vermögen geerbt und dann sein Geld in einer Fabrik in Connecticut angelegt, die genügend Verdienst abwarf, um ihm ein bequemes, sorgenloses Leben in London zu ermöglichen. Er hatte natürlich Harry Leman dem Namen nach gekannt, denn der Millionär war einer der großen, ungekrönten Könige, und die Presse verherrlichte ihn seit zwanzig Jahren. Die Zeitungsleute kannten seine Schwäche, daß er gern über sich reden hörte. Auf der anderen Seite war er unglaublich geizig. Aber es machte ihm Spaß, Geschichten und Witze darüber zu lesen.

 

John Sands ärgerte sich, daß ein so reicher Mann seine Tage nutzlos verbrachte und eigentlich nichts vom Leben hatte. Harry Leman gab kaum mehr als einen Dollar pro Tag für seinen Unterhalt aus. Er rauchte billige Zigarren und renommierte damit, daß er sich in den letzten fünfzehn Jahren keinen neuen Anzug hatte machen lassen. Während der Überfahrt von den Vereinigten Staaten nach England hätte er sich natürlich die teuerste Kabine leisten können, aber er fuhr in einer Innenkabine, die er außerdem noch mit einem anderen teilte.

 

John Sands hatte im Gegensatz zu ihm eine der besten Kabinen an Bord des Luxusdampfers belegt, und er ließ sich mindestens zwölf verschiedene Anzüge im Jahr machen. Als er Lemans Eigenheiten kennenlernte, ärgerte er sich zuerst darüber, dann lachte er, und schließlich wurde er nachdenklich.

 

John verbrauchte alles Geld, das er verdiente, bis zum letzten Dollar, und immer hatte er etwas davon gehabt. Jedenfalls machte er sich das Leben so bequem und angenehm wie möglich. In letzter Zeit war der Ertrag seiner Fabrik geringer geworden; infolgedessen hatte er seinen Chauffeur entlassen und auch die beiden Rennpferde verkaufen müssen, die er in New Market trainieren ließ. Damit waren auch seine Aussichten und Hoffnungen auf einen großen Rennsieg und dementsprechende Gewinne gesunken.

 

Und nun saß er vor dem Kaminfeuer in seinem kleinen Hotelzimmer am Tavistock Square, baute Luftschlösser und träumte von besseren Zeiten.

 

*

 

Währenddessen suchten viele Polizisten im Regen das Gehölz südlich von Whitecross Hill ab. Ab und zu blieben sie stehen und fluchten nicht wenig auf Margaret.

 

»Ich gehe die höchste Wette ein, daß sie irgendeinen Bekannten hatte, der sie hier abholte«, sagte ein dicker Sergeant und entkorkte seine Whiskyflasche. Er hatte sich unter denselben großen Baum gestellt, unter dem Margaret von John Sands gefunden wurde. »Hübsch war das Frauenzimmer – nach allem, was man gehört hat. Aber daß man ausgerechnet bei einem solchen Schweinewetter nach ihr suchen soll, ist doch wirklich gemein! Na, wir wollen uns einmal stärken.«

 

Der Beamte neben ihm nahm die Flasche und tat auch einen Zug.

 

»Wenn ihr irgendein Mann zur Flucht verholfen hat, dann hoffe ich nur, daß sie ihn genauso behandelt wie ihren früheren!«

 

Kapitel 4

 

4

 

Margaret Maliko stützte sich auf den Ellbogen und sah blinzelnd in den hellen Sonnenschein, der zum Fenster hereinströmte. Zuerst schaute sie bestürzt um sich, aber dann erinnerte sie sich an die Ereignisse des vergangenen Abends.

 

Sie sprang aus dem Bett, ging im Zimmer umher und bewunderte die prächtige Einrichtung. Mr. Sands hatte wirklich eine ausgesprochene Vorliebe für Luxus und Wohlleben.

 

Bürsten und Kämme waren aus echtem Schildpatt und Silber; die venezianischen Glasvasen und die prachtvollen Radierungen zeugten von geschmackvoller Auswahl. In der Fensternische stand ein zierlicher Empireschreibtisch. Schließlich trat sie in die Mitte des Zimmers und freute sich an dem harmonischen und luxuriösen Gesamteindruck. In einem solchen Hause ließ es sich leben!

 

Vorsichtig öffnete sie dann die Tür und hörte, daß unten jemand den Staubsauger in Tätigkeit setzte. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Treppengeländer und spähte nach unten, wo sie eine ältere Frau bei der Arbeit sah.

 

»Ist Mr. Sands schon zurückgekommen?« fragte sie.

 

Die Frau schaute nach oben.

 

»Ja, er war vor ungefähr einer halben Stunde hier«, rief sie hinauf. »Haben Sie mir alles aufgeschrieben, was ich besorgen soll? Mr. Sands hat auch die Zeitungen für Sie hiergelassen. Er sagte, Sie würden sie gern lesen.«

 

Margaret zögerte.

 

»Bringen Sie die Zeitungen herauf und legen Sie sie auf mein Bett. Ich bade inzwischen. Können Sie mir auch den Kaffee bringen?«

 

»Ich habe das Frühstück schon fertig. Ihr Bruder sagte, ich sollte Sie nicht wecken, bis Sie mich selbst riefen.«

 

Als Margaret in ihr Zimmer zurückkam, fand sie einen Stoß Tageszeitungen. John Sands hatte darin mit Blaustift Annoncen angestrichen, in denen Damengarderobe angeboten wurde.

 

Sie war erstaunt, daß er sich soviel Mühe mit ihr machte.

 

Dann nahm sie Papier und Bleistift und setzte eine Liste all der Dinge auf, die sie brauchte. Aber plötzlich kam ihr der beunruhigende Gedanke, daß sie kein Geld hatte. Wieder ging sie nach draußen und bemerkte, daß sich die Frau bereits zum Ausgehen angekleidet hatte.

 

»Hat Mr. Sands denn nicht noch etwas für mich zurückgelassen? Vielleicht einen Brief?«

 

»Ach ja, den habe ich ganz vergessen.«

 

Die Frau kam mit einem Briefumschlag die Treppe herauf und reichte ihn Margaret durch die Türspalte. Sie öffnete ihn und fand darin zehn Banknoten zu je zehn Pfund. Das war reichlich, soviel brauchte sie gar nicht.

 

»Hier ist die Liste. Nehmen Sie bitte einen Wagen.«

 

Margaret war sehr vorsichtig und zeigte sich nicht in ihrem Kostüm, denn die Aufwartefrau würde natürlich alle Schlafröcke und Pyjamas ihres Herrn kennen, und schließlich durfte die Gutgläubigkeit der alten Frau nicht zu sehr auf die Probe gestellt werden.

 

Sie kehrte zu ihrem Bett zurück und las sorgfältig alle Zeitungen durch. Jede hatte eine kurze Notiz über ihre Flucht aus dem Gefängnis gebracht. Margaret las auch eine Personalbeschreibung von sich selbst. Sie mußte lächeln, denn nach diesen dürftigen amtlichen Angaben würde es so leicht keinem Menschen gelingen, sie wiederzuerkennen, wenn er sie nicht vorher gesehen hatte. Die meisten Artikel glichen einander; das kam wahrscheinlich daher, daß die Polizei allen Blättern dieselbe Auskunft gegeben hatte. Aber als sie eine Bemerkung sah, wurde sie doch plötzlich ernst:

 

»Man muß annehmen«, lautete der kurze Absatz, »daß es der Strafgefangenen mit Hilfe eines Freundes gelang, nach London zu entkommen. Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß ein großer, eleganter Wagen auf der North Road beobachtet wurde, und zwar dicht in der Nähe der Stelle, an der sich die Gefangene verborgen hielt. Es sind bereits Nachforschungen im Gange, den Eigentümer dieses Wagens festzustellen.«

 

Das war allerdings gefährlich. Wenn die Nummer des Autos bekannt wurde – und vielleicht hatte irgend jemand sie gesehen –, dann war sie verraten. Man würde den Eigentümer feststellen können, und wenn bekannt war, daß John Sands den Wagen gesteuert hatte, würde auch sie entdeckt werden.

 

Aber nach dem ersten Schrecken erholte sie sich wieder und dachte ruhiger. Wenn die Nummer des Wagens tatsächlich bekannt wäre, würde die Polizei längst hergekommen sein und das Haus durchsucht haben. Sie wartete ungeduldig auf die Rückkehr der Aufwartefrau, die ihr die neuen Kleider bringen sollte. Unruhig ging sie im Zimmer auf und ab und sah nervös durch das Fenster auf die Straße.

 

Nur langsam vergingen die Minuten. Aber endlich kam die Frau zurück. Sie war zu Fuß gegangen; sicherlich wollte sie das Geld für den Wagen für sich behalten.

 

Als Margaret dann aber die Kleider in Augenschein nehmen konnte, vergaß sie ihren Ärger. Ein Kostüm von graugrünem Ton kleidete sie vorzüglich, auch wenn es nicht nach ihren Maßen angefertigt war. Dann probierte sie einen einfachen Hut auf, der in der Farbe dazu paßte, und zog noch einen Regenmantel an. Als sie sich in dem großen Spiegel betrachtete, fühlte sie sich sicher. Ihr Aussehen hatte sich so verändert, daß niemand in ihr die entsprungene Gefangene erkennen würde. Sie suchte auf dem Frisiertisch von John Sands und fand auch Puder und sonstige Toilettengegenstände, die sie brauchte. Erst dann erinnerte sie sich daran, daß die Aufwartefrau ihr das auch alles mitgebracht hatte. Aber sie mußte doch lächeln, daß sie John Sands richtig beurteilt hatte. Als sie die schön geschwungenen Augenbrauen nachgezogen hatte, war sie fest davon überzeugt, daß sie das Gefängnistor passieren könnte, ohne von den Wärtern erkannt zu werden. Und als John Sands eintraf und sie ihm entgegentrat, hatte sie ihre ruhige Haltung und ihr Selbstbewußtsein vollkommen wiedererlangt.

 

»Sie sehen glänzend aus«, sagte er, und seine Augen leuchteten bewundernd auf. »Gestern machten Sie schon einen sehr guten Eindruck, aber das war nichts im Vergleich zu Ihrem heutigen Aussehen. Was haben Sie denn in der Hand?« fragte er.

 

Sie reichte ihm die Zeitungsmeldung, die sie ausgeschnitten hatte. Er las sie sorgfältig durch und schüttelte dann den Kopf.

 

»Als ich gestern abend mit Ihnen hierher zurückkehrte, bin ich noch einmal nach draußen gegangen und habe mir die Nummer des Wagens genau angesehen. Das Schild war derartig mit Schmutz bedeckt, daß man es unmöglich lesen konnte. Übrigens war es nahezu dunkel, als ich Sie unter dem Baum fand.«

 

»Dann ist das also nicht gefährlich?« erwiderte sie und atmete auf.

 

»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Und jetzt werde ich Sie auch gleich zum Essen mitnehmen und mich mit Ihnen in der Öffentlichkeit zeigen, und zwar in einem der elegantesten Restaurants der Stadt.«

 

Draußen wartete das Auto; sie stieg ein, und er fuhr sie zum Piccadilly Circus. Er hatte das Verdeck zurückgeklappt, denn es regnete nicht mehr. Als sie langsam durch die Wimpole Street fuhren, nahm er einmal den Hut ab. Sie sah schnell zur Seite und bemerkte, wen er so liebenswürdig grüßte. Es war eine hübsche junge Dame in Begleitung eines jüngeren Herrn, die auf dem Gehsteig entlanggingen.

 

»Sehen Sie sich die Dame genauer an, drehen Sie sich aber nicht nach ihr um. Das ist Ihre zukünftige Nichte.«

 

Er mußte über seinen eigenen Witz lachen.

 

*

 

Faith Leman sah dem Wagen interessiert nach.

 

»Mir kommt dieser Herr sehr bekannt vor«, sagte ihr Begleiter.

 

»Er ist ein Freund meines Onkels, ein gewisser Mr. John Sands.«

 

»Ja, jetzt erinnere ich mich«, entgegnete er. »John Sands, ein Mann aus New York, der sich in London aufhält und ein richtiger Engländer geworden ist.«

 

»Das könnte man ebensogut von meinem Onkel sagen.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Onkel Harry ist durchaus nicht Engländer, abgesehen von seinen schlechten Manieren.«

 

Sie drohte mit dem Finger.

 

»Ich habe meinem Onkel gesagt, daß Sie heute abfahren würden. Kehren Sie wirklich morgen nach Amerika zurück?«

 

Er nickte.

 

»Ich wünschte, ich könnte mit Ihnen fahren«, meinte sie nachdenklich. »Ich habe so große Sehnsucht, meine Mutter einmal wiederzusehen.«

 

»Warum bitten Sie Mr. Leman nicht, Sie einmal nach New York zu schicken? Ich kenne mehrere Damen, die in nächster Zeit nach drüben fahren. Denen würde es eine große Freude machen, wenn sie sich Ihrer auf der Reise annehmen könnten.«

 

»Es hat keinen Zweck, meinen Onkel um etwas zu bitten«, sagte sie traurig. »Allein die Tatsache, daß ich etwas gern haben möchte, genügt für ihn, es mir abzuschlagen.«

 

»Warum gehen Sie nicht von ihm fort?« drängte sie der junge Mann. »Ich weiß wohl, daß mich die Sache nichts angeht. Andererseits ist mir allerdings auch bekannt, daß Sie die große Erbschaft von acht Millionen Dollar ausschlagen, wenn Sie das tun.«

 

»Darüber brauche ich mir keine grauen Haare wachsen zu lassen. Mit der Millionenerbschaft habe ich nie gerechnet«, unterbrach sie ihn. »Für mich ist das Geld niemals bestimmt gewesen. Aber es geht leider aus anderen Gründen nicht. Mein Onkel ist immer sehr gut zu meiner Mutter gewesen, und –«

 

»Ich verstehe vollkommen«, erwiderte er ruhig. »Sie müssen bei ihm bleiben. Vermutlich fesselt Sie der alte Mann dadurch an sich, daß er Ihre Mutter unterstützt.«

 

Sie antwortete nicht, aber was er sagte, entsprach den Tatsachen. Sie konnte es nicht in Abrede stellen.

 

»Aber wie steht es denn bei Ihnen?« lenkte sie ab. »Sind Sie mit Ihrem Besuch in London zufrieden? Haben Sie genügend Material gesammelt, das Sie für Zeitungsartikel verwerten können?«

 

»Ich habe viel erreicht. Sie wissen doch, daß kurze Geschichten und Witze über Harry Leman in Amerika glänzend weggehen. Natürlich hat unser Vertreter hier in London sich auch darum bemüht und viele Geschichten nach New York geschickt, die von Harry Leman handeln, aber in letzter Zeit ging ihm anscheinend der Stoff aus. Deshalb beauftragte mich Holland Brown, die Sache ein wenig in Schwung zu bringen. Zuletzt waren die Sachen, die unser Mann von hier einsandte, zu trocken. Wir brauchen aber etwas Romantik, damit die Leute das Interesse nicht verlieren. Ich habe auch ein paar zugkräftige Geschichten, die sicher gern gelesen werden. Zum Beispiel den Witz, wie er in der Oxford Street beinahe ein Paar neue Schuhe gekauft hätte, ihm nachher aber der Preis für die beiden zu hoch war und er zunächst nur einen kaufen wollte!«

 

Sie sah ihn vorwurfsvoll an.

 

»Aber Miss Faith, was haben Sie denn dagegen? Wenn Ihr Onkel so etwas liest, freut er sich halbtot. Ich habe Ihnen übrigens noch nicht die Geschichte erzählt, die uns mit ihm passiert ist. Als wir eines Samstags einmal in unserem Feuilleton schrieben, daß John Rockbetter der geizigste Millionär wäre, erhielten wir von Harry Leman mit der nächsten Post einen Brief, in dem er furchtbar schimpfte. Die Nachricht von seiner Heirat stammt übrigens nicht von mir. Sie sind doch sicher, daß nichts Wahres an dem Gerücht ist?«

 

Sie zögerte.

 

»Ja, ich bin meiner Sache ganz sicher«, erwiderte sie dann. »Mein Onkel sagt zwar immer, daß er sich verheiraten will, aber ich glaube, das tut er nur, um mich zu ärgern und mir alle Hoffnungen zu nehmen, daß ich einmal sein Vermögen erben könnte. Und dabei will ich sein Geld doch gar nicht!« fügte sie bitter hinzu. »Ich habe nur den einen Wunsch, nicht mehr mit ihm im selben Haus zusammenleben zu müssen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer mir das fällt, Mr. Cassidy.«

 

»Das kann ich mir schon denken – und ich fahre nicht gern mit dieser unangenehmen Erinnerung nach Amerika zurück.«

 

Er wollte noch mehr sagen, aber er unterließ es. Es war nicht das erstemal, daß er sich mit ihr aussprechen wollte, und nur die eine Tatsache, daß sie später wahrscheinlich doch einmal das ungeheure Vermögen ihres Onkels erben würde, hinderte ihn daran, ihr zu erklären, was er für sie fühlte. Schon oft hatten sich die Worte auf seine Lippen gedrängt, aber jedesmal hatte er sich im letzten Augenblick zusammengenommen. Er hatte sie kennengelernt, als er den Millionär zum erstenmal besuchte. Mr. Harry Leman war nicht zu Hause gewesen, und in der Zwischenzeit hatte sie ihn unterhalten. Später hatten sie sich noch häufig getroffen. Sie wußte allerdings nicht, daß er es jedesmal so geschickt einrichtete, daß er ihr auf der Straße begegnete, aber sie empfand diese neue Freundschaft wie den Sonnenschein nach langen Regentagen. Und jetzt, da sie wußte, daß er England bald wieder verlassen würde, fühlte sie sich bekümmert und bedrückt.

 

»Ich beneide Sie direkt, daß Sie wieder nach unserem lieben, alten New York zurückkehren können. Wissen Sie, was ich am liebsten möchte?«

 

»Ich weiß es«, erwiderte er eifrig.

 

»Nun, was denn?« fragte sie überrascht.

 

»Ich möchte es Ihnen nicht sagen, aber das schließt nicht aus, daß ich es nicht gern aus Ihrem Mund hören möchte.«

 

»Ich möchte zu gerne in New York einen Ausflug im Auto nach Coney Island machen, einmal wieder mitten in einer großen Menschenmenge sein, all die einzelnen Buden und Sehenswürdigkeiten betrachten und eine ganze Menge heißer Würstchen essen –«

 

»Dann wären Sie am nächsten Morgen sicher todkrank«, entgegnete er nüchtern und praktisch. »Nein, da könnte ich Ihnen doch etwas Schöneres vorschlagen, wenn Sie wieder einmal nach New York fahren.«

 

Sie kamen jetzt am Berkeley Square an. Zuletzt waren sie langsamer und langsamer gegangen. Er mußte ihr noch etwas anvertrauen, aber sosehr er sich auch in Gedanken abmühte, er konnte nicht die richtige Einleitung finden.

 

»Miss Leman«, begann er schließlich, »ich möchte Ihnen etwas sagen, das ich schon seit einiger Zeit auf dem Herzen habe.«

 

Er machte eine Pause.

 

»Ja, und was ist das?« fragte sie ermutigend.

 

»Sie wissen, ich bin nur ein Zeitungsberichterstatter…« Wieder blieb er stecken.

 

»Ja, das weiß ich. Sie sind doch bei der ›New York Mail‹?«

 

Er nickte.

 

»Das wollte ich Ihnen eigentlich nicht erzählen. Ich fahre morgen ab, und es mag vielleicht ein Jahr oder länger dauern, bis ich Sie wiedersehen kann, wenn Sie nicht inzwischen nach New York zurückkehren sollten.«

 

»Aber Sie werden mir doch sicherlich schreiben?« fragte sie und sah ihn voll an. »Sie haben doch versprochen, das zu tun.«

 

Er schluckte.

 

»Ja, ich werde Ihnen schreiben, wenn Sie es gestatten. Und Sie sollen auch wissen, daß ich Ihr bester Freund bin.«

 

»Das sind Sie«, entgegnete sie lächelnd. »Ich habe keinen anderen Freund, und ich werde immer sehr gern an Sie denken, Mr. Cassidy.«

 

»Das freut mich«, entgegnete Jimmy, »aber ich möchte Ihnen nur dies eine sagen: vielleicht sind Sie eines Tages doch eine Millionärin, und dann werde ich Sie nicht mehr behelligen. Wenn Sie aber das Vermögen nicht erben, wenn dieser alte Geizhals – ach, entschuldigen Sie –, wenn Ihr Onkel sein Vermögen irgendwelchen anderen Leuten vermacht – also, wenn das der Fall sein sollte –«

 

Was er auch noch sagen wollte, er äußerte es jedenfalls nicht, denn in dem Augenblick wurde er plötzlich angerufen, wandte sich um und sah Harry Leman.

 

»Hallo, hallo, was machen Sie denn?« rief der Millionär freundlich. »Ich dachte, Sie wären schon abgefahren?«

 

»Mein Dampfer fährt erst morgen, Mr. Leman.«

 

»Sehen Sie, das ist ja glänzend. Kommen Sie mal her, Jimmy, ich habe eine Geschichte für Sie, mit der Sie mindestens eine ganze Seite in Ihrer Zeitung füllen können. Schreiben Sie für Ihr Leserpublikum, daß ich mich zwar verheiraten wollte, daß aber nichts aus der Sache wurde, weil ich mich mit meiner Braut zankte. Keiner von uns wollte nämlich die Kosten für die Trauung bezahlen. Haben Sie die Sache auch richtig verstanden? Und dann habe ich noch eine andere feine Sache. Schreiben Sie, daß ich, bevor es zur Kirche ging, mir vom Juwelier den Trauring für fünfzig Cent geliehen habe. Ist die Geschichte nicht Gold wert?«

 

Faith wandte sich mit einem leisen Seufzer von den beiden ab, nachdem sie Jimmy zum Abschied noch einmal zugenickt hatte.

 

»Ich erzähle Ihnen nächstens die Geschichte zu Ende, Miss Leman«, sagte er.

 

»Was ist das für eine Geschichte?« fragte der Onkel, als sie fortging. »Handelt sie auch von mir? Aber ich kann Ihnen eine noch viel bessere erzählen. Neulich hat mich doch jemand gefragt, ob ich ihm nicht eine Briefmarke leihen könnte –«

 

Aber Jimmy Cassidy hörte nicht hin, obwohl die Geschichte sehr gut erfunden war. Er sah noch immer dem jungen Mädchen nach.

 

Kapitel 5

 

5

 

Achtzehn Monate später saß Jimmy Cassidy wieder in London, und zwar im Hotel Magnificent am Russell Square. Er arbeitete an einer Sache, die ihn mehr interessierte als alle exzentrischen Millionärslaunen.

 

 

Der Bösewicht in all den Kriminalgeschichten ist natürlich ein Wahnsinniger, weil er vollkommen von der Norm der gewöhnlichen Menschen abweicht. Ein Mann, der nur Böses tut um des Bösen willen, muß ja verrückt sein. Und früher oder später kommt er in eine Irrenanstalt, wohin er auch gehört. Aber das sind nur die großen Ausnahmen. Die meisten Verbrecher kommen nur deshalb mit den Gesetzen in Konflikt, weil sie durch die Umstände dazu getrieben werden. Sie wollen einen gewissen Zweck erreichen, und da ihnen das auf legalem Weg nicht möglich ist, geraten sie von selbst auf den Weg des Verbrechens. Von all diesen Leuten sind die Mörder am wenigsten verbrecherisch veranlagt. Siebzig Prozent all der Leute, die wegen Mordes hingerichtet werden, haben früher niemals ein anderes Verbrechen begangen und sind achtbare Staatsbürger gewesen. Menschen, die kaltblütig morden wie die Borgias in früheren Zeiten, gibt es nur selten –

 

 

Soweit war Jimmy Cassidy gekommen, als sich die Tür seines Zimmers öffnete und Holland Brown mit einer großen, dicken Zigarre im Mund ins Zimmer trat.

 

Der Zeitungskönig war untersetzt und etwas korpulent, hatte einen kahlen Kopf und machte auch sonst einen wenig sentimentalen Eindruck. Er ließ sich in einem Armsessel an Jimmys Tisch nieder. Der junge Mann steckte die Hände in die Taschen und richtete sich in seinem Stuhl auf, denn er wußte, was kommen würde.

 

»Jimmy«, begann Mr. Brown, »vor achtzehn Monaten kamen Sie in diese Stadt, um Harry Leman zu interviewen und über ihn zu schreiben. Nachher sind Sie nach New York zurückgefahren und haben alle möglichen Geschichten über ihn mitgebracht, aber darüber, wie es mit seiner Verheiratung steht, haben Sie nichts geschrieben. Achtzehn Monate lang haben Sie nun die Möglichkeit gehabt, eine Geschichte zu schreiben, die alles andere, was in den amerikanischen Zeitungen erschienen ist, in den Schatten gestellt hätte. Und statt dessen schreiben Sie nur, daß Harry Leman mit einem gepumpten Trauring zum Standesamt kam und sich weigerte, seine Braut zu heiraten, weil sie nicht die Hälfte der Trauungskosten zahlen wollte. Ich muß sagen, die Geschichte war ganz nett, obwohl sie erfunden war.«

 

»Natürlich ist die Geschichte erfunden«, entgegnete Jimmy vergnügt. »Ich habe Ihnen doch selbst erzählt, wie ich dazu kam.«

 

Holland Brown ließ die große Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen wandern und nickte bedächtig.

 

»Ich bin ja ganz vernünftig, und ich gebe gern zu, daß das, was Sie sagen, stimmt. Trotzdem hat Ihnen der Berichterstatter der ›New York Post‹ vollkommen den Rang abgelaufen, denn er hat die Neuigkeit von der Hochzeit Lemans gebracht.«

 

»Der Mann schließt das aus irgendwelchen Nebenumständen«, verteidigte sich Jimmy. »Aber er irrt sich. Vor allem stellt es doch Harry Leman selbst in Abrede. Ich habe ihn verschiedentlich deswegen auf Herz und Nieren geprüft, aber er streitet es glatt ab.«

 

»Haben Sie ihn denn jetzt wiedergesehen?«

 

»Ja, heute.«

 

»Und er hat es wieder abgestritten?«

 

Jimmy zögerte.

 

»Heute nicht. Meiner Meinung nach redet er nur von Hochzeit und Trauung, um Miss Leman zu ärgern.«

 

»Ist das seine Nichte?«

 

Jimmy nickte.

 

»Ich gebe ja gern zu, daß der alte Leman seit einem Jahr in der Öffentlichkeit immer behauptet, er sei verheiratet, aber er hat sich niemals mit seiner Frau gezeigt, und wir haben keinen Beweis, daß überhaupt eine Trauung stattgefunden hat.«

 

»Aber der Berichterstatter der ›New York Post‹ hat doch ziemlich handfeste Beweise beigebracht«, beklagte sich Holland Brown. »Er hat steif und fest behauptet, daß die Trauung eine Woche nach Ihrer Abfahrt von England stattfand. Und wenn Sie mir nicht den Gegenbeweis liefern und den Berichterstatter der ›New York Post‹ als Lügner entlarven können, muß ich glauben, was er schreibt. Ich habe Sie hergeschickt, damit Sie Ihren Fehler wieder gutmachen, aber Sie haben mich einfach sitzenlassen. Deshalb bin ich jetzt von Paris gekommen, um mit Ihnen zu sprechen – und um Sie an die Luft zu setzen.«

 

»Dann habe ich also meine Stelle verloren?«

 

»Selbstverständlich. Ich möchte ja nichts gegen Sie sagen, Jimmy, denn Sie sind wirklich ein guter Kerl, aber das erstemal haben Sie schon nichts von der Verheiratung Lemans gewußt, und jetzt haben Sie zum zweitenmal die Sache nicht herausgebracht. Zweimal dürfen Sie solche Böcke nicht schießen. Gehen Sie zu meinem Londoner Vertreter, der soll Ihnen die Rückfahrt nach New York und Ihr Gehalt bis zum Ende des Monats auszahlen. Ich muß mich nach einem wendigeren jungen Mann umsehen, der über Harry Leman berichtet, und ich kann Ihnen nur sagen, in meiner Kartothek steht ›kürzlich verstorben‹ bei Ihrem Namen.«

 

»Ich danke Ihnen«, sagte Cassidy. »Wenn ich nun aber tatsächlich die Sache aufklären kann, nachdem Sie mich an die Luft gesetzt haben, nehmen Sie mich dann wieder in Gnaden auf?«

 

Holland Brown zuckte die breiten Schultern.

 

»Ich weiß nicht, ob es überhaupt einen Zweck hat, eine Nachricht von meinem Konkurrenzblatt zu bestätigen. Nein, das paßt mir nicht. Wenn Sie mir aber eine ganz funkelnagelneue Geschichte bringen können, etwas ganz Hervorragendes, dann werde ich sie kaufen.«

 

Jimmy erhob sich und zog seinen Rock an.

 

»Schön, Mr. Brown, aber das eine kann ich Ihnen nur sagen, Harry Leman ist tatsächlich ein so gutes Thema, daß man eine Millionengeschichte über ihn schreiben kann. Ich habe Ihnen meine Vermutungen und Theorien über ihn ja mehr als einmal erzählt. Ein Reporter muß immer alles mögliche wittern und argwöhnen, bis er eines guten Tages durch die Tatsachen gerechtfertigt wird. Ich will auch nicht eine Million Dollar für meine Geschichte haben, wenn ich soweit bin, nicht einmal einen einzigen Dollar. Wenn ich aber die Wahrheit über die Heirat Harry Lemans herausgebracht habe und eine Geschichte darüber schreibe, komme ich zu Ihnen.«

 

»Jimmy, ich bin nicht gerne so hart zu Ihnen. Sie sind immer ein tüchtiger Mitarbeiter meiner Zeitung gewesen, aber es verdirbt die Moral aller anderen Angestellten, wenn der Star-Reporter nicht auf der Höhe ist. Ich muß Sie einfach an die Luft setzen. Und es ist ja schließlich nicht so schlimm für Sie. Es gibt eine Menge Zeitungen, die Sie gern engagieren werden.«

 

»Meinen Sie, das wüßte ich nicht?«

 

»Und dann noch eins, Jimmy. Ich muß wirklich sagen, daß Sie in letzter Zeit sehr nachgelassen haben.« Brown schüttelte den Kopf. »Ich habe gehört, daß Sie sich nicht mehr genug um Ihre Arbeit kümmern, weil Sie ein Mädel im Kopf haben. Der laufen Sie nach, und aus diesem Grund taugen wahrscheinlich auch Ihre Artikel nicht mehr soviel wie früher.«

 

»Nennen Sie mir den Schuft, der solche gemeinen Lügen verbreitet«, erwiderte Jimmy und grinste übers ganze Gesicht. »Ich sage Ihnen, der bekommt ein paar Faustschläge von mir zwischen die Zähne, daß er in Zukunft sein ungewaschenes Maul hält.«

 

»Regen Sie sich bloß nicht auf. Wir wollen uns doch hier nicht ärgern, Jimmy. Ich habe wirklich sehr große Achtung vor Ihnen – und, verdammt noch mal, ich zahle Ihnen zwei Monate Gehalt!«

 

Jimmy lachte.

 

»Wissen Sie was? Sie werden mir drei Monate Gehalt zahlen, das steht nämlich in meinem Vertrag. Und wenn ich die Millionengeschichte tatsächlich geschrieben habe, Mr. Brown, dann komme ich zu Ihnen. Sie ist wahrscheinlich so gut, daß Sie mich als Teilhaber aufnehmen, denn vermutlich werden Sie nicht genug Geld haben, mich anderweitig zu bezahlen.«

 

Jimmy hatte von Anfang an erwartet, daß ihn Holland Brown auf die Straße setzen würde, als er hörte, daß der Zeitungskönig von Paris nach London kam, um mit ihm zu sprechen. Tatsächlich war es ihm in Journalistenkreisen übel vermerkt worden, daß er die Verheiratung Harry Lemans nicht gemeldet hatte, die man in New York allgemein als Tatsache betrachtete. Aber er hatte sich der allgemeinen Ansicht nicht anschließen können; er mißtraute der Geschichte nach wie vor. Jetzt sah er allerdings ein, daß es ein taktischer Fehler gewesen war, allein gegen den Strom zu schwimmen. Aber er hatte sich immerhin auf sein Urteil verlassen. Er kannte ja Harry Leman besser als irgendein anderer Reporter, und er wußte, wie sehr der Millionär darauf bedacht war, seine Nichte zu ärgern.

 

Nachdem Holland Brown gegangen war, suchte Jimmy sein Manuskript für das große Werk zusammen, das er über Verbrechen und Verbrecher schrieb. Die Welt sollte staunen, wenn es erschien. Er schloß die Blätter in eine Schublade, nachdem er sie geordnet hatte.

 

Dann sah er auf seine Uhr. Für Faith war es noch zu früh; er hatte mit ihr verabredet, daß er sie am Abend im Park treffen wollte.

 

Achtzehn Monate waren vergangen, und er hatte seine Geschichte, die damals durch Harry Leman unterbrochen wurde, noch nicht zu Ende erzählt. Aber das Ende war jetzt bedeutend schwieriger zu erzählen, nachdem er seine Stellung verloren hatte. Trotzdem machte ihm das im Augenblick keine zu großen Kopfschmerzen, denn plötzlich kam ihm ein Gedanke.

 

»John Sands!« rief er. »Den muß ich jetzt sprechen.«

 

Er nahm ein Telefonbuch und suchte Sands‘ Adresse. Zehn Minuten später klingelte er schon an seiner Haustür. Der selbstzufriedene, ruhige junge Mann war allein und legte an einem Tisch in der Nähe des Fensters Patience, als Jimmy ankam.

 

»Kommen Sie herein«, rief er vergnügt. »Ich bin Ihnen zwar noch nicht vorgestellt, aber ich kenne Sie. Ihr Name ist doch Cassidy?«

 

»Ja, so heiße ich, und ich möchte Sie bitten, mir ein paar Minuten Gehör zu schenken. Ich weiß wohl, daß Ihre Zeit sehr wertvoll ist.«

 

Mr. Sands sah auf die Karten, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und lachte.

 

»Sie brauchen deshalb nicht ironisch zu werden«, erwiderte er lächelnd. »Was kann ich für Sie tun?«

 

»Ich will Ihnen alles offen sagen«, erklärte Jimmy. »Ich bin ein Berichterstatter der ›New York Mail‹.«

 

Sands nickte. »Mr. Leman hat mir davon erzählt.«

 

»Nun gut, dann muß Mr. Leman erfahren, daß ich wegen seiner Heiratsgeschichte entlassen worden bin.«

 

»Was hat denn seine Heiratsgeschichte damit zu tun?«

 

»Mein Konkurrent von der ›New York Post‹ hat die Geschichte zuerst veröffentlicht, und ich bin daher jetzt meine Stellung los. Ich frage Sie nun, Mr. Sands: Ist es wahr, daß Harry Leman verheiratet ist?«

 

»Unter diesen Umständen«, entgegnete Mr. Sands, »will ich nicht abstreiten, daß er nicht verheiratet ist.«

 

»Heißt das nun, daß er verheiratet ist oder etwas anderes?« entgegnete Jimmy ungeduldig.

 

»Ich kann Ihnen auch nicht mehr erzählen als das, was Mr. Leman seinen besten Freunden sagt.«

 

Jimmy erhob sich.

 

»Ich sehe, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe. Ich dachte, Sie würden mir eine wirklich brauchbare Auskunft geben. Der Berichterstatter der ›New York Post‹ hat in seinem Blatt geschrieben, daß sich Harry Leman eine Woche nach meiner Abreise von London vor achtzehn Monaten tatsächlich trauen ließ.«

 

»Das ist immerhin möglich«, meinte Mr. Sands und zuckte die Schultern. »Ich bin ein Freund Mr. Lemans und kann wohl sagen, sogar ein sehr guter Freund, aber er bespricht seine Privatangelegenheiten weder mit mir noch mit einem anderen. Ich kann Ihnen daher auch nichts anderes mitteilen, als was der amerikanische Millionär den Presseleuten erzählt hat.«

 

»Und das ist so gut wie gar nichts«, erwiderte Jimmy verzweifelt.

 

»Ja, praktisch läuft es darauf hinaus«, gab Sands gelassen zu.

 

Jimmy hatte ja auch nur wenig Hoffnung darauf gesetzt, daß John Sands die Geheimnisse seines Freundes preisgeben würde. Er hatte eigentlich an Sands noch weitere Fragen stellen wollen, aber er hatte eine Verabredung, die er unter keinen Umständen versäumen durfte, selbst wenn er noch soviel Informationen für seine Zeitung erhalten konnte.

 

*

 

Faith Leman wartete am Eingang eines Londoner Parks auf ihn, und sie gingen zusammen die gutgepflegten Wege entlang. Eine Zeitlang vergaßen sie ihre Sorgen und Schwierigkeiten.

 

Während der vergangenen achtzehn Monate hatten die beiden einen regen Briefwechsel miteinander unterhalten. Nach seiner langen Abwesenheit von London hatten sie sich nun wieder getroffen, und sie fanden, daß sie sich nicht, höchstens zum Besseren, verändert hatten. Faiths reizendes Aussehen fesselte Jimmy mehr denn je, als er sie wiedersah, und er grollte dem Schicksal, daß es ihm neue Hindernisse für die Erreichung seiner Ziele in den Weg legte. Diese achtzehn Monate hatte er von nichts anderem geträumt als von Faith und einem gemeinsamen Lebensglück mit ihr. Und sie sah, daß er gereifter und zielsicherer geworden war, und freute sich, daß sie jemand hatte, dem sie all ihren Kummer anvertrauen konnte. Den großen Entschluß, den Jimmy gefaßt hatte, mußte er ihr noch mitteilen, aber glücklicherweise gab es noch andere Mittel und Wege, als sich durch Worte zu verständigen.

 

Sie gingen zusammen tief in den Park hinein, bevor er an seinen eigenen Kummer dachte.

 

»Ach, ich muß Ihnen noch etwas erzählen, Miss Leman. Ich habe meine Stellung verloren.«

 

»Wieso?« fragte sie überrascht. »Ihre Zeitung hielt doch so große Stücke auf Sie?«

 

»Das ändert an den Tatsachen nichts. Der alte Holland Brown fuhr eigens von Paris hierher, um mich auf die Straße zu setzen. Ich hatte schon eine Ahnung, daß er zu diesem Zweck nach London käme, aber ich hoffte doch, daß er mir noch einen oder zwei Monate Zeit geben würde, bis ich die ganze Geschichte beisammen hätte.«

 

»Sind Sie immer noch davon überzeugt, daß mein Onkel verheiratet ist?«

 

»Ich weiß kaum, was ich dazu sagen soll.«

 

»Ach, ich wünschte nur, es stimmte und er hätte wirklich eine Frau«, sagte sie heftig. »Sie wissen ja nicht, wie entsetzlich es ist! Wenn ich nur irgendeinen Vorwand finden könnte, um von ihm fortzugehen – keinen Tag länger würde ich warten. Er ist ganz unausstehlich zu mir – viel schlimmer als jemals. Er verhöhnt mich dauernd und macht mir Vorwürfe, daß ich es nur auf sein Geld abgesehen hätte und auf seinen Tod warte. Es ist kaum wiederzugeben, was er mir alles sagt. Ich wünschte tatsächlich, er wäre tot, so grausam und abstoßend das auch klingen mag. Ich kann mir nicht helfen, aber mir wäre es nur recht, wenn er sein gräßliches Geld mit sich ins Grab nehmen würde.«

 

Jimmy legte die Hand auf ihre Schulter.

 

»Aber liebe Faith«, sagte er und wunderte sich selbst über seine Kühnheit, »so dürfen Sie nicht sprechen. Sie sind überreizt. Warum gehen Sie nicht nach den Vereinigten Staaten zurück? Schließlich ist es doch nicht ausgeschlossen, daß er Ihre Mutter zur Erbin eingesetzt hat.«

 

Kapitel 13

 

13

 

Für den Rest des Tages stellte Jimmy auf eigene Faust Nachforschungen über den weißen Schrank aus dem Keller von Mr. Sands an. Der Polizei war es nicht gelungen, die Sache aufzuklären; sie hatte die Spur verloren, und man konnte nicht feststellen, auf welche Weise das Möbelstück aus London fortgeschafft worden war. Keiner der Beamten hatte auch nur eine Spur finden können. Selbst eine Umfrage bei den verschiedenen Spediteuren, die Lastautos verwendeten, hatte keinen Erfolg gehabt. Die Anzahl der in Betracht kommenden Firmen war so groß, daß die Polizei unmöglich alle Leute fragen konnte.

 

Die Verhandlung der Totenschau wurde vertagt. Blessington machte sich die günstige Gelegenheit zunutze und stellte während der Verhandlung ein paar Fragen an Mr. Sands.

 

»Sie wollen wissen, wo mein Landhaus liegt? Nun, das hat einen sehr hochtönenden Namen, ist aber nur eine bescheidene Villa in einem nicht allzu großen Garten. Es liegt an der Straße nach Brighton, und man kann es sehr leicht finden.«

 

Er sah den Polizeiinspektor sonderbar an.

 

»Wollen Sie mir vielleicht offen sagen, warum Sie sich so sehr für mein Privateigentum interessieren?«

 

»Ja, ich will ganz offen mit Ihnen sein, Mr. Sands«, erwiderte der Detektiv und lächelte. »Ich möchte noch einmal diesen weißen Schrank sehen, denn ich bin der Ansicht, daß die Einbrecher ihren Namen und ihre Adresse auf der glatten Oberfläche zurückgelassen haben.«

 

»Mit anderen Worten, Sie suchen nach Fingerabdrücken. Es tut mir sehr leid, daß ich den blutigen Flecken von der Wand entfernt habe, aber wenn Sie glauben, die Untersuchung des Schrankes könnte Ihnen weitere Anhaltspunkte geben, dann will ich Ihnen nichts in den Weg legen. Fahren Sie doch zu meinem Landhaus und lassen Sie sich das Möbelstück zeigen. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie hin.«

 

»Ich danke Ihnen für Ihr liebenswürdiges Angebot, aber ich habe selbst einen Wagen und werde damit hinfahren.«

 

Jimmy begleitete Blessington. Als sie ankamen, fanden sie das Haus doch etwas größer und stattlicher, als man nach den Worten von Mr. Sands hätte annehmen können. Es lag in einiger Entfernung von der Straße hinter großen Bäumen versteckt – ein altes, schönes Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, nicht allzu groß, aber sehr bequem und luxuriös eingerichtet. Ein Hausverwalter und seine Frau waren die einzigen Dienstboten, die die Besitzung in Ordnung halten mußten. Der Verwalter bestätigte auch sofort, daß ein weißgestrichener Schrank bei ihm abgeliefert worden sei.

 

»Ja, das Möbelstück wurde ziemlich spät gestern abend hergebracht. Ich hatte mich schon hingelegt und mußte noch einmal aufstehen. Übrigens hat es Mr. Sands persönlich hergeschafft. Ich weiß nicht, was an dem Schrank sein soll, er sieht recht gewöhnlich aus. Aber Mr. Sands machte viel Umstände damit; es lag ihm daran, daß der Schrank hier eingestellt wurde, da er für ihn einen ziemlichen Wert repräsentiere. Ich habe mich schon darüber gewundert, warum er das Stück nicht als Frachtgut hierhergehen ließ. Das habe ich auch zu meiner Frau gesagt.«

 

»Gestern abend spät wurde der Schrank also bei Ihnen abgeliefert?« fragte Jimmy nachdenklich. »Er ist doch in aller Frühe von London fortgeschickt worden. Ein etwas sehr langer Transport! Nun, sehen wir uns dieses seltsame Stück einmal an.«

 

Der Verwalter führte sie zum Arbeitszimmer. Alle Möbel waren mit Bezügen versehen, und in der einen Ecke stand auch der weiße Schrank. Es war ein einfaches Möbelstück, aber Blessington und Jimmy betrachteten es eingehend.

 

»Waren Sie hier in dem Zimmer, als er hereingebracht wurde?«

 

»Ja.«

 

»Haben Sie gesehen, wie der Schrank geöffnet wurde?«

 

»Jawohl«, erwiderte der Verwalter erstaunt.

 

»Was, er wurde in Ihrer Gegenwart aufgemacht?« fragte Jimmy.

 

Das widerlegte allerdings die Annahmen, die sich die beiden unabhängig voneinander gebildet hatten.

 

»Was war denn darin?« fragte der Polizeiinspektor.

 

»Nichts. Es war genauso, wie Sie ihn jetzt vor sich sehen.«

 

Der Verwalter drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Das Innere war vollkommen glatt, ohne die geringsten Zeichen von Gebrauch. Wenn Mrs. Leman freiwillig oder unfreiwillig in dem Schrank versteckt gewesen war, konnte man jedenfalls keine Spur davon finden.

 

»Nun, damit sind wir geschlagen«, sagte Jimmy enttäuscht.

 

»Was dachten Sie denn?« fragte Blessington.

 

»Wahrscheinlich dasselbe wie Sie. Schließen Sie die Tür, ich möchte mir das Stück noch einmal genauer ansehen.«

 

Diesmal gab er sich mehr Mühe, und als er fertig war, nahm er Blessington am Arm und verließ mit ihm das Zimmer.

 

»Donnerwetter, beinahe hätte ich mich hinters Licht führen lassen!«

 

»Ja, ich weiß auch nicht, was ich sagen soll«, entgegnete der Detektiv verwundert. »Haben Sie etwas herausbekommen?«

 

»Das ist doch gar nicht der Schrank, der unten im Haus von Mr. Sands stand!«

 

»Woher wollen Sie denn das wissen?«

 

»Aus einem sehr guten Grund. Unser Freund hat doch einen Pfeil auf mich abgeschossen. Der flog dicht an meinem Kopf vorüber und blieb in der Tür des Schrankes stecken. Ich habe nun die Oberfläche genau untersucht, es läßt sich aber keine Stelle finden, an der der Pfeil eingedrungen sein könnte.«

 

»Wissen Sie denn genau, daß der Pfeil ins Holz eindrang?«

 

»Ob er steckenblieb, weiß ich nicht. Jedenfalls muß aber die Metallspitze des Pfeils gegen die Türfläche geprallt sein, und dabei wurde die glatte Farbschicht irgendwie verletzt. Ich hörte doch, daß der Pfeil dagegenschlug.«

 

»Ja, das stimmt, ich habe es auch gehört«, pflichtete der Detektiv bei. »Sie haben recht, der Pfeil muß irgendwo gelandet sein. Und da Sie vor dem Schrank standen, bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn Sands tatsächlich das ist, wofür wir ihn halten, hat er natürlich vorausgeahnt, daß wir nach dem Verbleib des Schrankes forschen würden. Deshalb ist er einfach fortgegangen und hat einen anderen gekauft. Die Tatsache, daß dieses Möbelstück erst spät gestern abend ankam, ist genügend Beweis dafür. Dieser Sands ist ein schlauer Kerl – er beschafft sich immer gleich im voraus ein Alibi. Den Tag haben wir tatsächlich verloren.«

 

»Das würde ich noch nicht sagen«, meinte Jimmy, der sich auf der Rückseite eines Briefes eifrig Notizen machte.

 

»Für Sie mag es allerdings verlorene Zeit gewesen sein, denn Sie wollen ja keine Millionengeschichte darüber schreiben.«

 

*

 

Es war schon spät am Abend, als sie zur Stadt zurückfuhren, aber als sie ankamen, wurde Blessington in Scotland Yard ein Telegramm überreicht. Die beiden hatten sich in der Stadt getrennt; Jimmy war zu seinem Hotel zurückgegangen, wo er noch auf seinem Zimmer arbeitete. Man hörte von draußen das unermüdliche Klappern seiner Schreibmaschine, und als Blessington eintrat, sah er, daß der Boden über und über mit Schreibpapier bedeckt war.

 

»Jimmy, seien Sie jetzt endlich vernünftig und jagen Sie nicht immer so hinter dem schnöden Mammon her! Hören Sie zu, ich habe eine Neuigkeit. Der Brief wurde in Marseille angehalten. Eben erhielt ich ein Telegramm von der dortigen Polizeidirektion, in dem man mir mitteilte, daß der Brief tatsächlich abgefangen worden ist und uns als Einschreiben zugehen wird. Er muß übermorgen in London eintreffen. Ich habe telegrafisch verschiedene Instruktionen nach Marseille durchgegeben, aber ich weiß nicht, ob man sich dort danach gerichtet hat.«

 

Jimmy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nickte.

 

»Wenn wir den Brief haben, kommen wir sicher ein gutes Stück weiter. Wie steht es aber mit Sands?«

 

»Ich habe Befehl gegeben, ihn ständig zu beobachten. Wir lassen ihn nicht mehr ohne weiteres umherlaufen, bis wir den Fall aufgeklärt haben. Es ist allerdings möglich, daß wir ihm ein großes Unrecht antun. Und wie sieht es denn hier aus? Hat Miss Leman ihre Rechtsanwälte heute aufgesucht?«

 

Jimmy nickte und machte ein trauriges Gesicht.

 

»Sie hat sowohl englische als auch amerikanische Anwälte aufgesucht, aber alle haben übereinstimmend erklärt, daß Lemans ganzes Vermögen an seine Frau ginge, da er verheiratet war und ohne Testament starb. Es ist ganz gleich, welche Verbrechen sie auch begangen haben mag. Es hat auch keinen Zweck, die Rechtmäßigkeit der Ehe anzuzweifeln. Sie hat zwar einen falschen Namen angegeben, und es ist auch möglich, daß die beiden sagten, sie seien in Griddelsea ansässig, um in so kurzer Zeit heiraten zu können. Aber das sind alles Gründe, mit denen man eine Nichtigkeitsklage nicht durchbringen kann. Es bedeutet nur, daß sich einer oder beide schuldig gemacht haben und deshalb bestraft werden können. Der alte Leman ist aber tot, und bei ihr machen ein paar Tage Gefängnis mehr oder weniger nichts aus. Das ist die rechtliche Lage«, erklärte Jimmy gutgelaunt.

 

»Dann steigen also Ihre Chancen, Jimmy«, sagte Blessington ironisch. »Sie scheinen ja sehr vergnügt zu sein.«

 

Warum sollte ich denn nicht vergnügt sein? Natürlich tut es mir furchtbar leid, daß sie das Vermögen verliert, aber dadurch gewinne ich. Und ich weiß wirklich nicht, was ich in ihrem Interesse wünschen soll.«

 

»Verliebtheit«, erklärte Blessington ernst, »ist eine der schlimmsten Krankheiten. Man könnte fast in Versuchung kommen, derartig verliebte Leute ins Irrenhaus zu stecken!«

 

»Machen Sie die Tür von außen zu«, erwiderte Jimmy höflich. »Sie stören mich hier in Ausübung meiner literarischen Tätigkeit.«

 

Nachdem Blessington gegangen war, arbeitete er noch eine halbe Stunde weiter, dann sammelte er die Bogen von der Erde auf und schloß sie in einer Schublade ein. Nachdem er seinen Rock angezogen hatte, ging er den Korridor entlang, bis er zu dem Raum kam, den Faith als Wohnzimmer innehatte. Als er klopfte, kam sie an die Tür.

 

»Ich bin müde von der Arbeit«, sagte er. »Wollen wir noch einen kurzen Spaziergang machen?«

 

Draußen war es warm, und die Sterne funkelten am Himmel. Selbst die kleinen Anlagen mitten in dem großen Steinmeer Londons atmeten Frieden und Ruhe.

 

Lange Zeit gingen die beiden schweigend nebeneinander her, bevor Jimmy zu sprechen begann.

 

»Faith, sind Sie davon überzeugt, daß die Rechtsanwälte sich nicht irren?«

 

»Ja, Jimmy. Aber warum fragen Sie?« entgegnete sie erstaunt. »Die Antwort, die ich erhielt, war so klar und präzise wie nur irgend möglich. Die Bestimmungen im amerikanischen Erbrecht sind fast genau dieselben wie in England. Ich habe überhaupt keine Möglichkeit, auch nur auf einen Teil der Erbschaft zu klagen, und ich möchte von dem Geld auch nichts anrühren. Nur meine Mutter macht mir Sorgen. Wenn mein Onkel ihr wenigstens eine kleine Rente ausgesetzt hätte!«

 

»Also sind Sie wirklich ohne Vermögen?«

 

»Ja, Jimmy. Das habe ich Ihnen doch schon so oft gesagt. Warum fragen Sie mich denn immer wieder?«

 

Jimmy versuchte zu sprechen, aber er war nicht dazu imstande. Erst nach einiger Zeit räusperte er sich umständlich, aber als er sprach, klang seine Stimme immer noch heiser.

 

»Faith, ich glaube, daß ich bald sehr viel Geld verdienen werde. Holland Brown wird mir ja nicht gerade eine Million Dollar für die Aufklärung des Verbrechens zahlen, aber immerhin wird es schon eine runde Summe werden. Abgesehen davon habe ich auch selbst etwas Vermögen, und ich kann bestimmt ein paar hundert Dollar in der Woche verdienen, wenn ich erst richtig in Fahrt bin.«

 

»Ja, Jimmy?« erwiderte sie in einem Ton, als ob sie über eine Sache sprächen, für die sie sich notgedrungen interessieren müßte.

 

»Faith, Sie haben mir neulich einmal gesagt, daß Sie mich nicht liebten, und offen gestanden glaube ich auch, daß Sie mich überhaupt nicht lieben.«

 

»Wie kommen Sie nur auf den Gedanken, daß ich Sie überhaupt nicht liebe?« fragte sie unlogischerweise.

 

»Sie sagten doch … Es scheint einfach nicht möglich zu sein.«

 

»Sie meinen, daß ich Sie liebe?« fragte sie naiv. »Jimmy, es ist nicht nett, daß Sie so etwas sagen.«

 

»Ich wollte es Ihnen doch nur erklären«, erwiderte er und wurde über und über rot. »Es ist doch ganz klar, daß Sie einen Mann wie mich nicht gern haben können.«

 

»Warum nicht? Ich halte Sie für einen lieben und guten Charakter, und wenn ein junges Mädchen einen solchen Mann nicht mag, dann ist das ein großes Armutszeugnis für sie selbst.«

 

Jimmy wurde es heiß; er konnte kaum noch sprechen. Er empfand es als unfair, jetzt die Lage auszunützen, und er war sehr böse auf sich, daß er sich plötzlich selbst in eine Situation gebracht hatte, in der er nicht mehr ein noch aus wußte.

 

»Faith«, brachte er schließlich hervor, »ich meinte vorhin nicht nur gern haben, sondern heiß und aufrichtig lieben. Ich meinte, daß Ihre Liebe stark genug wäre, mich zu heiraten.«

 

»Ja, Jimmy«, sagte sie leise.

 

»Sehen Sie, das meine ich«, fuhr er fort und bekam Mut, als er sah, daß sie verlegen wurde.

 

»Ich meine eine solche Liebe, die zur Ehe führt.«

 

Es folgte eine lange Pause.

 

»Also nehmen wir einmal an, daß sie – ihn liebt«, erwiderte sie schließlich. »Ist sie dann auch verpflichtet, ihm einen Heiratsantrag zu machen?«

 

Jimmy wußte sich im Augenblick nicht zu helfen.

 

»Nein, das nicht«, sagte er endlich. »Wenn Sie mich lieben, dann sagen Sie nur: Jimmy, ich will es versuchen.«

 

»Wann soll ich das sagen?«

 

»Ich meine, wenn ich Sie bäte, mich zu heiraten, weil ich Sie mehr liebe als alles andere auf der Welt, dann müßten Sie sagen –«

 

Sie legte beide Hände auf seine Schultern.

 

»Aber warum sagst du es mir nicht gleich?« flüsterte sie. »Fällt es dir denn so schwer?«

 

Jimmy nahm sie glückstrahlend in die Arme …

 

Eine Stunde später fand der junge Mann wieder zur harten Wirklichkeit zurück, als er beinahe von einem Taxi überfahren worden wäre.

 

»Ach, es ist alles so herrlich!« sagte sie. »Ich weiß immer noch nicht, ob ich wache oder träume … Aber Jimmy, glaubst du nicht, daß ich dich in deinem Beruf stören werde?«

 

»Du sollst mich stören?« erwiderte Jimmy begeistert. »Faith, deine Liebe macht mich glücklicher, als ich jemals war, und ich freue mich ja so sehr – daß du die Erbschaft nicht bekommst, sonst hätte ich niemals den Mut gefunden, dir einen Antrag zu machen.«

 

Sie drückte seinen Arm fest an sich.

 

»Ich habe schon gefürchtet, daß du es nicht tun würdest, und der Gedanke war mir so peinlich, daß ich es dir sagen müßte. Aber wenn nichts übriggeblieben wäre, hätte ich es trotzdem gewagt.«

 

Jimmy sagte nichts mehr. Er war sehr glücklich.