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John Sands hatte einen Abscheu vor Unannehmlichkeiten und Störungen. Aus dem Grunde konnte er auch alle möglichen anderen Leute nicht leiden, die von der gewöhnlichen Norm abwichen. Aber es kam ihm nicht darauf an, ob seine Mitmenschen ehrliche Bürger waren oder Verbrecher. Für ihre moralischen Eigenschaften interessierte er sich nicht im mindesten. Hauptsache war, daß sie ihn nicht in seinem Wohlleben störten. Er beschwerte sich auch nicht darüber, daß Einbrecher in die Häuser eindrangen, sondern nur darüber, daß derartige Leute seinen Frieden und seine Ruhe stören konnten. Solange die Verbrecher bei anderen Leuten ihre Künste versuchten, hatte er nichts dagegen. Der Fleischer, der ihn belieferte, oder der Chauffeur eines Taxis mochten seinetwegen die größten Verbrecher sein, wenn sie nur ihn nicht belästigten. Ein Verbrecher war in seinen Augen nicht schlimmer als ein Wäscher, der seine Hemden durchgerieben hatte oder die Kragen mit dem Plätteisen verbrannte.

 

Am nächsten Morgen ging er um elf Uhr zur Polizeiwache und beklagte sich.

 

»Ich möchte die Polizei nicht unnötig stören«, sagte er, »aber ich muß doch einen Einbruch zur Anzeige bringen, der in meinem Haus verübt wurde. Soviel ich weiß, ist das nötig, um das Eigentum wiederzuerlangen, das mir von den Einbrechern gestohlen wurde. Ich muß allerdings zugeben, daß ich bis jetzt nichts vermißt habe.«

 

»Ganz recht«, bemerkte Blessington, der zufällig zugegen war und Sands‘ Worte durch die offene Tür gehört hatte. »Wann ist denn der Einbruch passiert?« fragte er, als er in den Wachraum trat.

 

»Heute morgen in aller Frühe«, entgegnete John Sands und nickte dem Detektiv zu. »Guten Morgen, Mr. Blessington. Man möchte fast sagen, daß das Sprichwort recht hat: ›Wenn man einmal der Polizei in die Hände fällt, kommt man nicht mehr von ihr los.‹«

 

»Nanu, so schlimm ist es doch nicht! Sie haben doch erst das zweitemal mit uns zu tun.«

 

Blessington war ein großer, hagerer Mann mit einem bronzebraunen Gesicht, der nur sehr selten lächelte. Aber jetzt zwinkerte er John Sands vertraulich zu.

 

»Es war etwa zwei Uhr in der Nacht«, fuhr Sands fort. »Ich kam gerade von einem Spaziergang mit Mr. Cassidy zurück und ging in mein Arbeitszimmer, einen kleinen Raum, in dem ich gewöhnlich meine schriftlichen Arbeiten erledige. Er liegt direkt neben meinem Schlafzimmer. Plötzlich hörte ich unten im Haus ein Geräusch.«

 

Blessington nickte.

 

»Wo liegt denn Ihr Haus?« fragte er unschuldig.

 

»Charles Street Nummer 79. Ein kleines, bescheidenes Gebäude. Ich dachte, Sie würden es kennen.«

 

»Charles Street Nummer 79«, wiederholte der Inspektor und machte sich eine genaue Notiz. »Es tut mir leid, daß Ihnen das passiert ist. Erzählen Sie nur ruhig weiter, Mr. Sands.«

 

»Ich habe keinen Revolver im Haus, so nahm ich einen Bogen und ein paar Pfeile von der Wand. Ich habe nämlich eine Sammlung, die ich von einem Aufenthalt in Borneo mitbrachte, und ich kann ziemlich gut mit diesem Bogen schießen. In dem dunklen Gang sah ich einen der Einbrecher und schoß auf ihn, aber allem Anschein nach habe ich ihn verfehlt. Es müssen zwei Leute gewesen sein; sie flohen in den kleinen Hof, der auf der Rückseite des Hauses liegt, kletterten über die Mauer und entkamen.«

 

»Sind Sie denn den beiden gefolgt?«

 

»Nein.« Mr. Sands lächelte. »Dazu war ich nicht in der Stimmung.«

 

»Aber nun eine wichtige Frage: Vermissen Sie etwas?«

 

»Nein. Ich habe die beiden wohl gestört, bevor sie ihr Vorhaben ausführen konnten.«

 

»Gut. Dann werde ich mir einmal Ihr Haus ansehen, Mr. Sands«, erklärte Blessington sofort.

 

»Aber ich gebe Ihnen doch die Versicherung, daß ich nichts vermisse«, widersprach Sands schnell.

 

»Das ist ganz gleich. Wenn hier auf der Polizei ein Einbruch gemeldet wird, dann gehört es zu unserer Pflicht, das Haus genau zu inspizieren. Fingerabdrücke oder sonstige Spuren an den Fensterscheiben könnten einen Anhaltspunkt dafür geben, wer die Täter waren.«

 

»Nun gut. Es ist mir allerdings sehr unangenehm, wenn die Polizei in mein Haus kommt.« Als Sands dies sagte, lachte er leise. »Aber wenn Sie wollen, können Sie ruhig mitkommen.«

 

Für Blessington war dies eine außerordentlich günstige Gelegenheit. Er hätte niemals gedacht, daß Sands über diesen mitternächtlichen Besuch eine Anzeige bei der Polizei erstatten würde. Nun begleitete er Sands nach dessen Wohnung und unterhielt sich unterwegs mit ihm über die kommende Kricketsaison. Außerdem besprach er die Möglichkeiten und Aussichten, die das Rennpferd des Königs beim nächsten Derby haben würde. Diese beiden Themen interessieren alle guten Engländer aufs höchste, und Mr. Sands schien mit der Gesellschaft des Detektivs sehr zufrieden.

 

Die Durchsuchung des Hauses war bald erledigt.

 

Blessington ging durch das Speisezimmer und die große Diele; er stieg die Treppe hinauf, inspizierte Schlaf-, Bade- und Arbeitszimmer und sah sich schließlich noch den Keller an.

 

In einem großen Gang blieb er stehen.

 

»Was stand denn früher hier?« fragte er und deutete auf die verstaubte Wand.

 

Er wußte aber sehr wohl, was in der vorigen Nacht noch dort gestanden hatte.

 

»Ein Schrank, der hier immer im Weg war.«

 

»Was hatte er denn für eine Farbe?«

 

»Er war weiß gestrichen.«

 

»Haben den etwa die Einbrecher gestohlen?«

 

Mr. Sands glaubte, der Inspektor wolle einen Witz machen.

 

»Nein, das nicht. Ich habe ihn heute morgen fortschaffen lassen. Ich telefonierte einem Spediteur und ließ ihn zu meinem Landhaus bringen.«

 

»Zeigen Sie mir doch einmal Ihre Waffensammlung und auch den Bogen und den Pfeil, den Sie in der vergangenen Nacht benützten.«

 

Sands sah ihn erstaunt an.

 

»Aber was wollen Sie denn damit? Das würde doch nicht den Einbrecher, sondern höchstens mich selbst belasten!«

 

»Trotzdem möchte ich mir die Waffen einmal ansehen. Ich wollte vorhin schon fragen, als wir oben waren.«

 

»Ich hatte allerdings auch die Absicht, sie Ihnen zu zeigen, aber Sie gingen so schnell weiter. Nun, ich werde sie holen.«

 

Die Wände des unteren Ganges waren mit gelber Farbe gestrichen. Durch ein Fenster schien die Sonne herein und erleuchtete die eine Wand hell. Und gerade in der Mitte dieses Sonnenflecks war schwach ein Fingerabdruck zu erkennen. Leute, die nicht gewohnt waren, auf solche Dinge zu achten, hätten ihn sicherlich übersehen.

 

»Das ist Blut«, sagte Blessington zu sich selbst und wartete, bis er Sands die Treppe hinaufgehen hörte. Schnell nahm er dann seine kleine Miniaturkamera aus der Westentasche und stellte genau auf den Fingerabdruck ein. Er machte im ganzen drei Aufnahmen, und als Mr. Sands mit Bogen und einem Pfeil in der Hand zurückkam, war der Fotoapparat längst wieder verschwunden.

 

»Sehr hübsche Waffen«, meinte Blessington. »Der Bogen ist ja reich geschnitzt und verziert. Ich bin noch nicht ganz davon überzeugt, daß wir recht haben, wenn wir Feuerwaffen gebrauchen. Unter manchen Umständen ist so eine lautlose Schußwaffe bei weitem vorzuziehen. Glauben Sie, daß Sie den Mann getroffen haben?«

 

»Hoffentlich habe ich ihn verfehlt. Zuerst war ich allerdings furchtbar ärgerlich, aber es würde mir doch leid tun, wenn ich einen anderen Menschen mit diesen bösen Waffen verletzen sollte. Sehen Sie sich einmal die Pfeilspitzen an, die haben ganz gemeine Widerhaken.«

 

Der Inspektor nahm einen der Pfeile in die Hand, betrachtete die gezackte Spitze und gab ihn Sands zurück.

 

»Haben Sie übrigens etwas von Mrs. Leman gehört?« fragte er auf dem Rückweg zum Wohnzimmer. »Die Verhandlung der Totenschau ist für übermorgen angesetzt.«

 

»Merkwürdigerweise habe ich heute morgen einen Brief von ihr erhalten, und ich muß sagen, ich mache mir jetzt ziemliche Sorgen.«

 

Er öffnete ein kleines Geheimfach im Paneel und nahm einen Brief heraus, der in Paris zur Post gegeben war. Der Stempel war allerdings nicht leserlich.

 

»Es liegt Ihnen natürlich etwas daran, den Inhalt des Schreibens zu erfahren«, sagte Sands und reichte Blessington den Bogen.

 

Oben stand: »Café de Lyon«; das Datum war zwei Tage alt.

 

 

Lieber Mr. Sands! Ich bin des Aufenthalts in Paris so müde, daß ich mich entschlossen habe, von hier fortzugehen. Diese Zeilen schreibe ich in einem Restaurant, eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges. Ich fahre von hier aus nach Marseille; was ich dann unternehme, weiß ich noch nicht. Vielleicht gehe ich nach Narbonne, nach Barcelona; vielleicht ziehe ich aber auch San Remo und später Rom vor. Es hat keinen Zweck, meinem Mann einen Brief zu schreiben, denn er antwortet doch nicht. Würden Sie daher so liebenswürdig sein, ihm von mir auszurichten, welche Reisepläne ich habe. Ich danke Ihnen vielmals für die tausend Pfund, die Sie mir geschickt haben und die ich ordnungsgemäß erhielt. Vielleicht wird es Ihnen schwerfallen, meine Interessen zu vertreten. Ich schicke Ihnen deshalb eine Generalvollmacht, die nach meiner Trauung ausgefertigt wurde. Daraus ersehen Sie, daß Sie alle Schritte in meinem Interesse unternehmen können, die Sie für notwendig halten.

 

Mit verbindlichen Grüßen

Margaret Leman

 

 

»Sehen Sie, hier ist die Vollmacht«, sagte Sands.

 

»Das Schriftstück ist in englischer Sprache aufgesetzt.«

 

»Ja, es wurde noch für Mrs. Leman ausgefertigt, bevor sie das Land verließ. Sie wünschte das ausdrücklich. Es ist das erstemal, daß ich diese Vollmacht ausgeliefert erhalte. Es paßt mir aber wenig, daß sie mir das Schriftstück zugesandt hat, denn es ist eine Menge unangenehmer Arbeit damit verbunden.«

 

Blessington hielt das Dokument gegen das Licht. Die Wassermarke war zwei Jahre alt, und die Vollmacht war von Harry Leman selbst unterzeichnet und bestätigt.

 

»Sie wurde unmittelbar nach der Trauung aufgesetzt«, bemerkte Sands. »Mrs. Leman hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit, sie praktisch zu verwenden, und ich wünschte nur, sie hätte sie auch in Frankreich gelassen.«

 

Blessington reichte wortlos das Schriftstück zurück.

 

»Kann ich Sie in zwei Stunden noch einmal besuchen?«

 

»Es würde mir ein großes Vergnügen bereiten.«

 

»Haben Sie sich an der Hand verletzt?« fragte der Inspektor und zeigte auf den Verband.

 

»Ja. Ich habe gestern schon mit Cassidy darüber gesprochen. Er fragte mich auch, und ich sagte ihm, daß ich von einem Hund gebissen worden bin.«

 

Eine Stunde später kehrte Blessington schon zurück.

 

»Ich möchte einmal Ihre Küche sehen«, sagte er.

 

Mr. Sands führte ihn hin.

 

Blessington hatte gar nicht die Absicht, den Raum zu betreten, aber auf dem Weg kam er durch den gelbgestrichenen Gang mit dem blutigen Fingerabdruck. Er sah wohl die Wand, aber der Abdruck war inzwischen verschwunden. In der Zwischenzeit hatte Sands die Stelle mit Farbe überstrichen.

 

»Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben«, sagte der Hauseigentümer, als sich der Detektiv die Küche angesehen hatte. »Nachdem Sie heute morgen fortgingen, habe ich hier eine Entdeckung gemacht, der ich entnehme; daß ich doch einen der beiden Einbrecher verwundet habe.«

 

Er zeigte auf die Wand.

 

»Ich habe dort einen Blutfleck gefunden und deshalb die Stelle neu gestrichen. Erst später kam mir der Gedanke, daß Sie vielleicht ein Interesse daran hätten. Es schien mir fast so, als ob es ein Fingerabdruck wäre.«

 

»Wenn es nicht ein Fingerabdruck war, ist es unwichtig.«

 

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten«, erwiderte Sands. »Ich verstehe sehr wenig von solchen Dingen. Zuerst hielt ich es nur für einen Flecken.«

 

Blessington kehrte zur Haustür zurück. Draußen wartete in einiger Entfernung ein Taxi. Jimmy war im Wagen geblieben. Als Blessington zu ihm zurückkehrte, runzelte er die Stirn.

 

»Fahren Sie nach Scotland Yard«, sagte er zum Chauffeur, sprang in den Wagen und schlug die Tür laut hinter sich zu.

 

»Jimmy«, sagte er und seufzte, »dieser Kerl ist furchtbar schwierig zu behandeln. Ich weiß nicht, was ich von ihm denken soll. Manchmal macht er sich direkt verdächtig, und dann klärt sich hinterher wieder alles zur Zufriedenheit auf. Sobald ich glaube, ich habe ihn gefaßt, hat er auch schon ein unanfechtbares Alibi bereit.«

 

»Nun, und was ist mit dem weißgestrichenen Schrank?« fragte Jimmy, nachdem er erfahren hatte, was sich bei dem ersten Besuch zugetragen hatte.

 

»Den hat er heute morgen mit einem Lastauto aufs Land schaffen lassen. Übrigens hat er mir das selbst gesagt, und außerdem hat der Detektiv, der das Haus bewacht, es bestätigt. Unglücklicherweise hat er den Namen des Spediteurs nicht festgestellt, aber wir haben immer noch die Möglichkeit, das später nachzuholen.«

 

»Warum legen Sie so großen Wert auf den weißgestrichenen Schrank?«

 

»Ach, das ist weiter nicht wichtig«, erwiderte Blessington.

 

Als sie nach Scotland Yard kamen, entließen sie den Chauffeur und gingen sofort zur fotografischen Abteilung.

 

»Sind die Abzüge fertig?« fragte Blessington den diensttuenden Beamten.

 

»Jawohl, sie sind sehr klar und deutlich ausgefallen.« Bei diesen Worten überreichte er dem Inspektor drei Abzüge, die dieser näher ans Licht hielt.

 

»Ja, sie sind einigermaßen gut ausgefallen. Jimmy, sehen Sie einmal her. Hier sind die Fingerabdrücke. Man kann jede Linie genau sehen. Wenn jetzt meine Vermutung richtig ist, können wir feststellen, ob Mrs. Leman gestern abend spät im Haus von John Sands war. Er versuchte mir ja vorzuschwindeln, daß sie im Süden Frankreichs umherreist.«

 

»Das wäre großartig«, entgegnete Jimmy. »Geben Sie mir doch bitte auch einen Abzug – danke schön.«

 

Er nahm ihn und steckte ihn in seine Brieftasche.

 

»Das ist alles Material für die Millionengeschichte«, sagte er dann. »Enden damit vorläufig unsere Feststellungen?«

 

»Ja, wir können den Abdruck nicht eher gebrauchen, als bis wir Mrs. Leman gefunden haben, und ich weiß auch noch nicht genau, wozu das führen soll. Es ist ja schließlich kein Verbrechen, wenn man sich in London aufhält, während andere Leute behaupten, man wäre in Paris oder in Südfrankreich.«

 

»Zeigen Sie noch einmal her«, bat Jimmy und nahm einen der beiden Abzüge. Er betrachtete ihn nachdenklich und sah dann Blessington an. Es war ihm eine gute Idee gekommen.

 

»Wer mag denn eigentlich diese Mrs. Leman sein? Es wäre doch möglich, daß sie zur Unterwelt gehört und eine Verbrecherin ist. Wir haben doch hier eine große Kartothek von all den Leuten, die einmal verurteilt worden sind oder einmal in Händen der Polizei waren.«

 

Blessington kniff die Augen zusammen. »Das ist ein glänzender Gedanke, Jimmy. Wir wollen sofort einmal nachsehen!«

 

Sie gingen beide zur Registratur und händigten dem Beamten einen Abzug aus. Dieser betrachtete den Fingerabdruck genau, machte ein paar Notizen auf eine Karte, nachdem er durch ein Vergrößerungsglas die einzelnen Merkmale genau herausgesucht hatte, und reichte die Karte dann dem Sergeanten. Nach kaum zehn Minuten kam der Beamte mit einem großen Karton zurück, auf dem eine Anzahl von Fingerabdrücken und Fotografien zu sehen waren. Diese verglich der Beamte mit dem Foto.

 

»Sehen Sie, wir haben sie schon gefunden. Das ist der Zeigefinger. Die Abdrücke sind vollkommen gleich.«

 

»Wer ist es denn?« fragte Blessington begierig.

 

»Margaret Maliko«, sagte der Beamte, »eine Gefangene, die zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, aber im Oktober vorletzten Jahres aus dem Gefängnis von Aylesbury entwich.«