Kapitel 13

 

13

 

»Haben Sie das gesehen?« fragte Helder atemlos. Er schien durch diese Entdeckung tief betroffen zu sein. Auch Golds Atem ging schneller, und kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Es lag etwas Unheimliches in der plötzlichen Erscheinung dieser Frau, die seiner Ansicht nach längst auf dem Kontinent sein mußte.

 

Er stand unentschlossen am Fuß der Treppe und machte eine Bewegung, als ob er wieder hinaufsteigen wolle, ließ es aber dann doch sein.

 

Der Reporter blickte von einem zum andern, und Gold sah; daß seine Augen vor Erregung blitzten. Er witterte eine interessante Geschichte für seine Zeitung, und kein Mensch hätte ihn davon abbringen können, über diese Sache ausführlich zu berichten.

 

Trotzdem legte Gold seine Hand auf den Arm des Journalisten.

 

»Mr. Jackson, diese Angelegenheit sollte nicht in die Zeitung kommen. Ich bin davon überzeugt, daß es eine plausible Erklärung für das plötzliche Auftauchen von Mrs. Bell gibt.«

 

»Sicher wird sich eine finden lassen«, erwiderte Jackson höflich. Er schaute auf die Uhr, und Gold war aufs äußerste beunruhigt.

 

»Ich mache Sie noch darauf aufmerksam, daß Mr. Bell gerichtlich gegen jeden vorgehen wird, der etwas Nachteiliges über ihn berichtet«, versuchte Gold es nochmals.

 

»Das glaube ich Ihnen gern«, antwortete der durch nichts zu erschütternde Reporter. »Aber ich kann Ihnen versichern, daß mein Bericht im liebenswürdigsten Plauderton abgefaßt sein wird.«

 

Er verabschiedete sich von den beiden Männern mit einem kurzen Kopfnicken, und Gold wußte, daß weitere Versuche, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, hoffnungslos waren.

 

Sie schauten dem Reporter nach, bis er außer Sicht war, und gingen dann langsam weiter.

 

»Was hat das nur zu bedeuten?« brach Helder schließlich aufgeregt das Schweigen. »Dahinter steckt doch etwas! Ich sage Ihnen, das ist eine ganz faule Sache. Comstock Bell ist zu allem fähig. Aber ich werde es schon herausbringen!«

 

Gold packte ihn am Arm.

 

»Was wollen Sie denn tun?« fragte er ärgerlich.

 

»Ich werde sofort zur Polizei gehen.«

 

»Die Mühe können Sie sich sparen«, erwiderte Gold kurz. »Ich nehme an, die Polizei wird bald genug alle Informationen, die sie braucht, in der Zeitung finden. Und ich sehe gar nicht ein«, fügte er trocken hinzu, »warum gerade Sie an den persönlichen Angelegenheiten Mr. Bells so großes Interesse haben sollen.«

 

Er sprach eindringlich, und Helder konnte die Drohung, die in seinen Worten lag, nicht überhören.

 

»Was soll das heißen?« entgegnete er heiser.

 

»Das werden Sie in den nächsten Tagen schon erfahren. Ich gebe Ihnen nur den Rat, sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.«

 

Helder schaute den Beamten böse an.

 

»Gold«, stieß er zwischen den Zähnen hervor, »ich weiß, daß es Ihnen Vergnügen macht, überall herumzuspionieren. Wenn Sie jetzt etwa versuchen wollen, mir gesellschaftlich zu schaden, dann werde ich dafür sorgen, daß Sie sich in keinem Londoner Klub mehr sehen lassen können. Verstehen Sie mich?«

 

Gold lachte.

 

»Ich weiß, daß Sie ein Gauner sind«, sagte er dann ruhig. »Und ich weiß auch, daß Sie in Verbindung mit der Bande stehen, die die Vereinigten Staaten mit nachgemachten Fünfzigdollarnoten überschwemmt. Bis jetzt habe ich keine Beweise gegen Sie in der Hand, aber ich sage Ihnen offen, daß ich nicht ruhen werde, bis ich meine Ansicht beweisen kann. Ihre Druckerei ist wahrscheinlich nichts anderes als eine raffiniert angelegte Fälscherwerkstatt. So, jetzt wissen Sie, was ich von Ihnen halte, und Sie können unternehmen, was Sie wollen.«

 

»Vergessen Sie nicht, Sie haben keine Beweise«, entgegnete Helder giftig.

 

»Beweise!« lachte Gold höhnisch. »Glauben Sie denn, daß ich mit Ihnen anders als durchs Gefängnisgitter sprechen würde, wenn ich Beweise hätte? Aber verlassen Sie sich darauf, ich werde noch welche finden.«

 

Sie standen sich unter einer Straßenlaterne gegenüber. Golds Gesicht war blaß vor Ärger – zum erstenmal in seiner beruflichen Laufbahn hatte er sich dazu hinreissen lassen, einen Gegner zu warnen. Seine Nerven waren eben nicht mehr die besten, seitdem ihm seine Vorgesetzten in Washington jeden Tag einen bitterbösen Brief mit ungerechten Vorhaltungen schickten.

 

»Aha, so steht es also«, sagte Helder nach einer langen Pause. »Gut, daß Sie mich gewarnt haben – ich werde mich in acht nehmen.«

 

Gold nickte.

 

»Tun Sie, was Sie wollen. Was Mrs. Comstock Bell betrifft, so steht es Ihnen ja frei, zur Polizei zu gehen. Ich könnte mir nur denken, daß es in Ihrem eigenen Interesse besser wäre, wenn Sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht zu sehr auf sich lenkten!«

 

Ohne einen Gruß trennten sie sich.

 

Gold hätte sich selbst ohrfeigen können, daß er so unvorsichtig gewesen war. Dieser letzte Vorfall würde seine Schwierigkeiten noch bedeutend vermehren. Völlig falsch war er vorgegangen – selbstverständlich hätte er die Druckerei in Shropshire von der Polizei durchsuchen lassen müssen, bevor das Emigrantenblatt sein Erscheinen einstellen und die Belegschaft sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen würde. Jetzt war es für diese Aktion zu spät.

 

Verärgert machte er sich auf den Heimweg. Zu Hause erinnerte er sich plötzlich, daß sein eigener Diener mit Parker bekannt war, und klingelte ihm sofort.

 

»Cole«, sagte er hastig, »sind Sie nicht mit Parker, dem Diener Mr. Bells, bekannt?«

 

»O ja, Sir, wir sind gute Freunde.«

 

»Mr. Bell hat ihm heute freigegeben – wo glauben Sie wohl, daß man ihn finden könnte?«

 

»Meinen Sie jetzt gleich?« fragte Cole erstaunt.

 

»Noch heute Nacht, ja.«

 

»Wahrscheinlich ist er zu seiner Schwester gefahren; sie ist die einzige Verwandte, die er in London hat.«

 

»Wo wohnt sie?«

 

»In Dalston, Sir. Ich kenne das Haus.«

 

Gold hatte seinen Plan bereits gemacht.

 

»Nehmen Sie ein Taxi, fahren Sie hin und bringen Sie Parker hierher. Wie Sie ihn überreden, ist mir gleichgültig – aber bringen Sie ihn her.

 

Es wäre gut, wenn ich die Angelegenheit möglichst bald regeln könnte«, murmelte Gold vor sich hin, als Cole gegangen war. »Morgen wird die ganze Geschichte in allen Zeitungen stehen …«

 

Er setzte sich in einen Sessel und versuchte zu lesen, aber immer wieder sah er das schreckensbleiche Gesicht Veritys hinter der Fensterscheibe vor sich. Er warf sein Buch in eine Ecke und ging ruhelos im Zimmer auf und ab.

 

Endlich hörte er die Haustür zuschlagen, und gleich darauf stand Parker vor ihm.

 

»Sie haben doch einen Schlüssel von Mr. Bells Haus?« fragte Gold sofort, nachdem er ihn begrüßt hatte.

 

»Ja, Sir.«

 

»Dann kommen Sie bitte gleich mit mir in das Haus Mr. Bells.«

 

»Ist etwas passiert?« fragte Parker bestürzt.

 

»Nichts – hm, nichts von Bedeutung«, entgegnete Gold ungeduldig. Er hielt es nicht für richtig, den Mann ins Vertrauen zu ziehen.

 

In einem Taxi fuhren sie zum Cadogan Square. Es war schon lange nach Mitternacht, der Platz lag einsam und verlassen da. Parker öffnete die Haustür.

 

»Einen Augenblick, Sir«, sagte er und knipste das Licht an.

 

»Gehen Sie zuerst nach oben und klopfen Sie an die Tür Mr. Bells – sehen Sie nach, ob er zu Hause ist.«

 

»Aber, Sir …«

 

»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, knurrte Gold in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

 

Parker gehorchte und eilte die Treppe hinauf. Nach einigen Minuten kam er wieder zurück.

 

»Waren Sie im Zimmer von Mr. Bell?«

 

»Jawohl, Sir, es war niemand dort.«

 

»Was ist das hier für ein Raum?« fragte Gold und zeigte auf eine Tür.

 

»Das Wohnzimmer, Sir.«

 

»Bitte öffnen Sie es.«

 

Die Tür war nicht verschlossen.

 

»Das ist merkwürdig«, murmelte Parker. »Ich weiß bestimmt, daß die Tür verschlossen war, als ich das Haus verließ.«

 

»Hat außer Ihnen noch jemand einen Schlüssel?«

 

»Soviel ich weiß nur Mr. Bell.«

 

Gold öffnete die Tür, trat ein und drehte das elektrische Licht an. Das Zimmer war leer.

 

Der Beamte atmete tief und zog die Luft durch die Nase ein.

 

»Riechen Sie nichts, Parker?«

 

»Ja, es riecht ganz merkwürdig.«

 

Ein schwerer Veilchenduft lag in der Luft.

 

Gold prüfte den Raum eingehend. Die Möbel standen an der gewohnten Stelle und auch sonst schien alles in Ordnung zu sein. Nur auf der Fensterbank entdeckte er einen kleinen, flachen Gegenstand. Er nahm ihn und steckte ihn in die Tasche. Es war einer der Umschläge, die man von den Reisebüros zusammen mit den Fahrkarten bekommt. Offensichtlich hatte Comstock Bell seine Reise nach Wien bei Cook gebucht.

 

Die Durchsuchung des übrigen Hauses brachte keinen Erfolg. Das ganze Gebäude war leer, und Mrs. Comstock Bell war spurlos verschwunden.

 

»Ich glaube, das genügt, Parker«, sagte Gold, als er fertig war.

 

»Es ist doch nicht eingebrochen worden?« fragte Parker. ängstlich.

 

Gold schüttelte nur den Kopf, verabschiedete sich und fuhr zu seiner Wohnung zurück. Seine Hoffnung, daß Verity während seiner Abwesenheit vielleicht dagewesen wäre, erfüllte sich aber nicht.

 

Nur ein Telegramm und ein Eilbrief warteten auf ihn. Es war jedoch keine Nachricht von Comstock Bell. Der Brief kam von Scotland Yard und enthielt nur die kurze Mitteilung:

 

»Wir haben Willetts heute abend um elf Uhr verhaftet.«

 

Gold nickte. Er hatte Scotland Yard gebeten, ihn über alles, was Willetts betraf, auf dem laufenden zu halten.

 

Das Telegramm aber war von seinem unmittelbaren Vorgesetzten in Washington und enthielt die folgende Aufforderung:

 

»Sofort nach Washington kommen – Aussprache notwendig – reisen Sie mit der ›Turanic‹.«

 

Gold fluchte leise, als er erfuhr, daß die ›Turanic‹ schon am nächsten Tag abdampfte. Er verbrachte die Nacht mit Packen und verließ London morgens um sechs Uhr.

 

Helder hörte im Klub von der Verhaftung; einer seiner Agenten teilte ihm die Neuigkeit telefonisch mit. Er ging ins Lesezimmer, setzte sich in einen Sessel und dachte gerade über die Ereignisse des Abends nach, als ihm ein Telegramm überreicht wurde, das zwei Stunden zuvor in New York aufgegeben worden war. Er öffnete den Umschlag und las:

 

»Dringend. Kommen Sie mit der ›Turanic‹ nach New York.«

 

Das Telegramm stammte von einem Mann, dessen Aufforderung Helder unter allen Umständen nachkommen mußte. Er eilte nach Hause und traf seine Vorbereitungen. Und am nächsten Morgen begegnete Gold auf dem Euston-Bahnhof dem Mann, den er jetzt am wenigsten zu sehen wünschte. Die beiden fuhren zusammen über den Atlantik, ohne auf der ganzen Reise ein Wort miteinander zu sprechen.

 

Während Gold und Helder in Amerika ihren Geschäften nachgingen, fragte man sich in London: Wo sind die Comstock Bells geblieben?

 

Das ›Post Journal‹ brachte diese Frage fettgedruckt als Überschrift eines Artikels, und natürlich machte die Zeitung aus der ganzen Sache eine Sensation. Sie erging sich in geheimnisvollen Vermutungen, die darin gipfelten, daß das Ehepaar heimlich nach London zurückgekehrt sei, um dort seine Flitterwochen zu verleben. Schließlich hatten ja Reporter das junge Paar überall auf dem Kontinent ohne den geringsten Erfolg gesucht. Und hatte nicht Jackson Mrs. Verity Bell in ihrem Haus gesehen?

 

Die Konkurrenzblätter des ›Post Journal‹ gaben natürlich ihrer Ansicht Ausdruck, daß Mr. Jackson sich getäuscht hätte oder daß die Geschichte überhaupt erfunden worden wäre, um die Auflagenhöhe zu steigern. Daraufhin versuchte Jackson die beiden Männer wiederzufinden, die mit ihm zusammen Verity Bell gesehen hatten; aber er konnte nur feststellen, daß sie sich nicht mehr in London aufhielten.

 

Am sechsten Tag nach dem Erscheinen der aufsehenerregenden Story traf in der Redaktion des ›Post Journal‹ ein Brief ein, der in Luzern aufgegeben worden war. Er war mit Maschine auf einem Briefbogen des Swizerhof-Hotels getippt und lautete:

 

»Sehr geehrte Herren,

 

wir haben mit großem Interesse, aber auch mit großer Verwunderung die Ausführungen Ihres Berichterstatters gelesen, der sich den Kopf darüber zerbricht, wo wir unsere Flitterwochen verbringen – obwohl wir eigentlich nicht ganz verstehen können, warum sich die Öffentlichkeit so mit unseren Privatangelegenheiten beschäftigt.

 

Sehr dankbar wären wir Ihnen, wenn Sie uns in Zukunft nicht mehr mit solchen Veröffentlichungen belästigen würden. Als Privatpersonen legen wir Wert darauf, in Ruhe gelassen zu werden, und erwarten, daß Sie dies unseren vielen Freunden in London bekanntgeben. Wenn Sie schon so sehr um unser Wohlergehen besorgt sind, dann bitten wir Sie, sich um uns und unsere Reise nicht weiter zu kümmern.«

 

Unterschrieben war der Brief mit »Comstock Bell«. Unter diesem Namen stand in einer weicheren Handschrift »Verity Bell.«

 

Der Chefredakteur des ›Post Journal‹ gab das Schreiben dem sehr niedergeschlagenen Jackson. Die unhöflichen Begleitworte dazu strömten wie ein gewaltiger Sturzbach auf das Haupt seines Untergebenen.

 

»Ihr Bericht hat uns ja in eine schöne Situation gebracht! Jetzt stehen wir als die Dummen da!«

 

Jackson war klug genug, nichts zu erwidern. Der Chefredakteur zitierte den Lokalredakteur herbei und gab ihm den Brief.

 

»Machen Sie irgendeinen Artikel daraus! Schreiben Sie vor allem, daß wir jetzt beruhigt sein können, daß sich das junge Paar bei guter Gesundheit und wohlauf befindet – unser Interesse wäre ja nur durch die Sorge um das Wohlergehen der beiden bedingt gewesen …«

 

»Aber wäre es nicht doch ratsam«, unterbrach ihn Jackson, »zunächst einmal bei unserem Korrespondenten in Luzern anzufragen, ob die Bells tatsächlich dort im Hotel gewohnt haben?«

 

Der Chefredakteur wurde um noch einige Grade böser.

 

»Ich wüßte nicht, warum wir noch mehr Zeit und Kraft auf diese Sache verschwenden sollen«, sagte er energisch. »Wenn die Bells herausbekommen, daß wir hinter ihnen herspionieren, können sie recht unbequem werden. Außerdem ist es jetzt acht Uhr, nach Schweizer Zeit also neun Uhr. Ich fürchte, die Antwort würde sowieso nicht mehr rechtzeitig für unsere Abendausgabe da sein.«

 

»Trotzdem können wir es versuchen.«

 

Um elf Uhr dreißig kam der zweite Redakteur in das Büro seines Vorgesetzten.

 

»Es ist wirklich bedauerlich, daß die Geschichte von dem geheimnisvollen Verschwinden Comstock Bells jetzt aufgeklärt ist«, sagte er und setzt sich seinem Chef gegenüber. »Wir haben heute auch nicht eine einzige interessante Nachricht, die eine effektvolle Schlagzeile abgeben könnte.«

 

»Das habe ich mir schon gedacht. Ist denn bei Gericht in Old Bailey nichts los?«

 

»Nur ein oder zwei Fälle«, entgegnete der andere gelangweilt. »Ein gewisser Willetts wurde wegen Fälschung einer Fünfzigpfundnote angeklagt.«

 

»Na, da haben wir wenigstens etwas – das ist doch auch ein außergewöhnlicher Fall! Können Sie denn daraus nichts machen?«

 

Der zweite Redakteur schüttelte den Kopf.

 

»Die Sache war schon vor zehn Jahren, und der Mann hat seine Schuld glatt eingestanden. Außerdem wurde die Fälschung in Paris begangen, und es handelte sich nur um eine einzige Banknote.«

 

»Wie lautete das Urteil?«

 

»Ein Jahr Gefängnis.«

 

»Warten Sie mal«, meinte der Chefredakteur und rieb sich nachdenklich die Stirn. »War das nicht zu der Zeit, als eine Anzahl junger Leute den ›Klub der Verbrecher‹ gründete?«

 

Der andere nickte.

 

»Stimmt. Bei der Gerichtsverhandlung ist aber nichts davon erwähnt worden. – Am besten wird es sein, wenn wir die Vorgänge in der heutigen Parlamentssitzung zu einer guten Geschichte verarbeiten.«

 

In diesem Augenblick wurde ihm ein Telegramm gebracht. Er las es aufmerksam durch und reichte es dann schweigend seinem Vorgesetzten.

 

»Hm!« machte der Chefredakteur. »Das ist allerdings äußerst merkwürdig!«

 

Das Telegramm hatte folgenden Wortlaut:

 

»Weder Mr. noch Mrs. Comstock haben im Hotel ›Swizerhof‹ gewohnt. Sie sind in Luzern auch nicht gesehen worden.«

 

»Wer hat uns das geschickt?« fragte der Chefredakteur.

 

»Einer unserer Mitarbeiter, der gerade seinen Urlaub in Luzern verbringt.«

 

Der Chefredakteur klingelte.

 

»Das ist ein ausgezeichnete Geschichte. – Rufen Sie Mr. Jackson – ich möchte ihn gleich sprechen« – dies galt seiner Sekretärin, die inzwischen eingetreten war. »Jackson soll diese Sache ausarbeiten. Also liefert uns das Verschwinden von Mr. Bell doch wieder glänzendes Material.«

 

Jackson kam herein, und der Chefredakteur gab ihm das Telegramm.

 

»Machen Sie einen guten Artikel daraus; aber schnell!«

 

Kapitel 14

 

14

 

Wentworth Gold kehrte Ende Mai nach England zurück. Er hatte seine Angelegenheiten aufs beste geordnet; seine Vorgesetzten sahen jetzt endlich ein, wie schwierig seine Aufgabe war, und behandelten ihn äußerst zuvorkommend.

 

Helder war ihm während seines Aufenthalts in Washington nicht begegnet. Er wußte auch nicht, daß Helders Besuch einen sehr dringenden Grund hatte. Die große Falschmünzerorganisation war durcheinandergeraten. Nachrichten, nach denen die dringende Gefahr der Entdeckung bestand, hatten alarmierend gewirkt, und es wurde jetzt versucht, die Arbeitsmethoden von Grund auf zu ändern.

 

Helder fuhr einige Tage früher als Gold zurück.

 

Auf der Rückreise nach England hatte Gold genügend Zeit, über Comstock Bell und dessen Frau nachzudenken. Die amerikanischen Zeitungen, die sich in großer Aufmachung mit dem Fall beschäftigt hatten, waren nicht zuletzt die Ursache gewesen, daß er jeden Tag an seinen merkwürdigen Freund erinnert wurde.

 

Vor allem war es der Fund, den Gold in Comstocks Haus am Cadogan Square gemacht hatte, an dem er herumrätselte. Es handelte sich um die Papphülle des Cookschen Reisebüros. Zwei Fahrkartenhefte waren darin gewesen, auf denen jeweils nur die Billetts von London nach Dover und von Dover nach Calais fehlten. Für die übrige Reise bis nach Wien waren noch alle Fahrkarten vorhanden. Nun wäre es ja möglich gewesen, daß Bell die Fahrkarte nach Dover und die Schiffskarte nach Calais vorher herausgenommen und die übrigen Fahrkarten zu Hause liegengelassen hätte. Seltsamerweise aber war die Karte von Calais nach Amiens gelocht, und das wiederum stand im Gegensatz zu der Vermutung, daß Bell die Fahrkarten bei seiner Abreise vergessen hatte.

 

Gold erwartete mit Sicherheit, bei seiner Ankunft in London zu erfahren, daß Comstock Bell von seiner Hochzeitsreise zurückgekehrt sei – sehr erstaunt war er, statt dessen einige Briefe von ihm vorzufinden. Einer war in Paris am Tag nach der Ankunft des Brautpaares aufgegeben worden, ein anderer, auf das Briefpapier des Swizerhof-Hotels geschrieben, kam aus Luzern. In beiden Briefen berichtete Bell von der Reise, erzählte von kleinen Erlebnissen, beschrieb das Wetter, und drückte die Hoffnung aus, daß es in London besser sei. Der dritte Brief stammte aus Wien und machte das Geheimnis nur noch undurchsichtiger. Vor allem stand in keinem der Schreiben ein Wort über den Verlust der Fahrkarten – und gerade über solche kleinen Unannehmlichkeiten ärgern sich Reisende für gewöhnlich, selbst wenn sie noch so reich sind.

 

Gold mußte sich eingestehen, daß er die Zusammenhänge in keiner Weise verstand. Er wußte nicht mehr ein noch aus. War es möglich, daß diesmal sein kriminalistischer Spürsinn so versagt hatte? Er mußte Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen! Und es war ihm dabei ganz gleichgültig, daß er mit Comstock Bell befreundet war – er wäre der Sache jetzt nachgegangen, auch wenn es sich um seinen eigenen Bruder gehandelt hätte.

 

Am Tag nach seiner Ankunft erhielt Gold einen Brief von Scotland Yard, in dem er aufgefordert wurde, zu Chefinspektor Symons zu kommen.

 

Dieser Beamte galt als äußerst tüchtig. Er war ein hagerer, großer Mann mit einer beginnenden Glatze. Seine blauen Augen konnten so durchdringend blicken, daß schon mancher Verbrecher vor ihnen kapituliert hatte.

 

Als Gold das Büro des Chefinspektors betrat, begrüßte ihn der Beamte freundlich und schob ihm einen Stuhl hin.

 

»Setzen Sie sich bitte Mr. Gold«, sagte er. »Ich habe nach Ihnen geschickt, weil ich Sie bitten möchte, uns bei dieser Comstock-Bell-Affäre zu helfen. Die Zeitungen können sich ja nicht beruhigen – und sie würden noch sensationellere Überschriften drucken, wenn sie das wüßten, was wir wissen.«

 

Gold trat ans Fenster und schaute auf das Themseufer.

 

»Ich kann eigentlich nicht ganz einsehen«, sagte er dann ein wenig ärgerlich, »warum man so viel Wesens um die Sache macht.«

 

Der Beamte lächelte ironisch.

 

»Kommt Ihnen denn an der Geschichte nichts seltsam vor?«

 

»Natürlich, sie ist recht merkwürdig – aber auf was wollen Sie hinaus?«

 

»Bringen Sie Bells Verschwinden nicht auch noch mit anderen Dingen in Zusammenhang, die gerade Sie sehr viel angehen?«

 

»Sie denken an die Banknotenfälschungen?« fragte Gold überrascht. »Nein – warum denn?«

 

»Für gewöhnlich halte ich nicht viel von anonymen Briefen«, entgegnete Symons nachdenklich, »aber die Briefe, die ich kürzlich in dieser Angelegenheit erhielt, gingen so ins Detail und enthielten so viel schlüssige Beweise; daß ich sie in gewisser Weise ernst nehmen muß. Es werden Vermutungen darin ausgesprochen, die man nicht von der Hand weisen kann.«

 

»Zum Beispiel?« fragte Gold.

 

»Ist es vielleicht nicht merkwürdig, daß ausgerechnet die beiden Menschen, die das Mittel zur Entdeckung der Fälschungen kannten, spurlos verschwanden? Der eine war Maple …«

 

»Und der andere?«

 

»Natürlich seine Nichte.«

 

»Aber sie …«

 

»Sie kannte wahrscheinlich die Zusammensetzung der geheimnisvollen Flüssigkeit ganz genau. Es ist kaum anzunehmen, daß sie in demselben Haus wie ihr Onkel lebte, ohne von ihm ins Vertrauen gezogen worden zu sein. Und sieben Tage nach Maples Verschwinden heiratete Comstock Bell ausgerechnet Verity Maple – ein Mädchen, das ganz außerhalb seines Bekanntenkreises stand.«

 

Gold war betroffen.

 

»Es ist wirklich seltsam«, gab er zu, »aber vielleicht läßt sich doch eine einleuchtende Erklärung finden.«

 

»Das wünschte ich auch. Auf alle Fälle müssen wir der Sache nachgehen. Die Zeitungen berichten, daß das Paar London an seinem Hochzeitstag verlassen hat und auch in Paris eingetroffen ist – aber Mrs. Bell wurde doch gleichzeitig hier in London gesehen, nicht wahr?«

 

Er sah Gold scharf an.

 

Der Beamte nickte.

 

»Ja, sie war in London«, entgegnete er ernst.

 

Die Sache hatte sich jetzt so verwickelt, daß freundschaftliche Rücksichten auf Bell nicht mehr in Frage kamen.

 

»Wir haben also jetzt zwei Aufgaben vor uns«, meinte der Chefinspektor. »Einmal müssen wir den Aufenthaltsort von Verity Bell ermitteln und zum andern ihren Onkel wieder auffinden. Wenn wir wissen, wo sich die beiden aufhalten, sind wir bestimmt ein Stück weiter gekommen. Ich habe mir gedacht, daß es am besten ist, wenn wir Sie von allen unseren Schritten in dieser Angelegenheit unterrichten, und ich hoffe, daß wir mit Ihrer Mitarbeit rechnen können.«

 

Gold nickte höflich.

 

»Ich stehe selbstverständlich zu Ihrer Verfügung, nur muß ich Sie bitten, mir noch zwei Mitarbeiter zu überlassen.«

 

»Sie können so viel Leute haben, wie Sie brauchen«, entgegnete Chefinspektor Symons.

 

»Am besten schicken Sie die beiden zu mir nach Hause«. Ich möchte nämlich einen gewissen Helder beobachten lassen.«

 

»Helder?«

 

Symons runzelte die Stirn.

 

»Ja«, sagte Gold ruhig. »Er ist der Absender der anonymen Briefe.«

 

Der Chefinspektor schaute seinen Besuch einen Augenblick lang erstaunt an, dann begleitete er ihn bis zur Tür und verabschiedete sich von ihm.

 

Gold trat auf die belebte Straße hinaus. Er hatte jetzt einen bestimmten Plan und wollte keine Zeit verlieren, ihn auszuführen. Die beiden Beamten würden bestimmt gut auf Helder aufpassen. Aber Comstock Bell – sollte er tatsächlich auch mit dieser Falschmünzerbande in Verbindung stehen? Gold verzog grimmig den Mund.

 

Er gab eine Reihe von Telegrammen auf, und seine Agenten, die an allen möglichen Orten arbeiteten, schickten ihm nacheinander ihre Berichte.

 

Um neun Uhr abends verließ Gold seine Wohnung in Begleitung zweier Herren. Es blies ein scharfer Ostwind, und alle drei fröstelten, als sie rasch in eine Nebenstraße einbogen, wo ein Wagen auf sie wartete.

 

»Haben Sie den Haftbefehl?« wandte sich Gold an seinen Begleiter. Der Kriminalbeamte nickte.

 

»Ist es auch der Mann, den ich meinte?«

 

» Ja, Sir. Man konnte ihn nicht verwechseln. Er hat eine Narbe am Kinn und war offensichtlich betrunken. Ich folgte ihm von Soho zur Great Central Station. Dort traf er mit dem Amerikaner zusammen.«

 

»Und von dort aus sind Sie den beiden bis zu ihren Wohnungen nachgegangen?«

 

»Nein. Den Amerikaner haben wir aus den Augen verloren.«

 

Der Wagen fuhr jetzt die belebte High Street und die Comercial Road entlang. Als sie die Sidney Street hinter sich gelassen hatten, hielten sie in einer engen Straße.

 

»Ich habe absichtlich diese Stelle gewählt«, erklärte Gold, »weil hier der Bühnenausgang eines Konzertsaals ist, vor dem dauernd Autos parken.«

 

Der eine Beamte übernahm die Führung. Sie gingen an dem Bühnenausgang vorbei, bogen in eine andere Straße ein, überquerten sie und befanden sich dann in einer der verkehrsreichen Straßen des östlichen Stadtteils. Die Umgebung war armselig und wenig einladend. Obwohl es schon spät war, trieben sich noch eine Menge Kinder vor den Haustüren herum.

 

Die drei Männer erregten weiter keine Beachtung; Polizeibesuche waren in dieser Gegend ziemlich häufig.

 

Sie schritten schnell aus und kamen in ein Gäßchen, das noch ärmlicher und verfallener wirkte als die andern, die sie schon passiert hatten. Hier war kaum jemand zu sehen, nur ab und zu huschte eine dunkle Gestalt an den Häuserwänden entlang. Vor einer der Haustüren stand ein Mann, der offensichtlich auf sie wartete.

 

»Hier ist es«, sagte einer der Beamten.

 

Gold öffnete die Tür und trat ein, die anderen folgten dicht hinter ihm. Er hatte kaum einen Schritt gemacht, als ihm im Hausgang ein Mann begegnete.

 

»Was gibt’s?« fragte er argwöhnisch.

 

Gold leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht.

 

»Wo ist der Russe?« erkundigte er sich scharf.

 

»Eine Treppe hoch«, entgegnete der Mann bereitwillig. Offensichtlich war er froh, daß der Polizeibesuch nicht ihm galt.

 

»Nach vorn oder nach hinten?«

 

»Hinten hinaus. Gleich das erste Zimmer von der Treppe aus.«

 

Gold eilte hinauf, so schnell er konnte. Die Kriminalbeamten hielten sich hinter ihm.

 

Er hatte die Tür erreicht und versuchte, sie leise zu öffnen. Sie war verschlossen. Vorsichtig klopfte er, doch es meldete sich niemand. Erst als er mit der Faust dagegenschlug, hörte man jemand auf die Tür zuschlurfen.

 

»Wer ist draußen?« fragte eine rauhe Stimme.

 

Gold sagte etwas in einer Sprache, die die Beamten nicht verstanden.

 

Sie warteten gespannt. Endlich drehte sich ein Schlüssel im Schloß, und die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet.

 

Gold stieß sie ganz auf und trat über die Schwelle. Auf den ersten Blick sah er, daß der Mann, den er suchte, vor ihm stand. Er erkannte ihn genau nach der Beschreibung, die Narbe am Kinn war nicht zu übersehen. Offensichtlich hatte er getrunken und wollte gerade seinen Rausch ausschlafen.

 

»Wer sind Sie?« fragte er und blinzelte in den grellen Strahl der Taschenlampe.

 

»Machen Sie Licht«, wandte sich Gold an einen Begleiter.

 

Der Beamte schaute sich im Zimmer um, entdeckte auf dem Tisch eine kleine Petroleumlampe und zündete sie mit einem Streichholz an.

 

Der Raum war nicht mehr als ein elendes Loch; außer einem schmutzigen Bett und einem Stuhl enthielt er nichts.

 

»Sie sind verhaftet«, sagte Gold auf russisch zu dem Mann. »Hände hoch, los!«

 

Der Lauf seiner Pistole zielte auf die Magengrube des Russen, und der hob widerwillig die Hände. Gleich darauf schnappten ein Paar Handschellen über seinen Handgelenken zusammen.

 

»Setzen Sie sich auf den Stuhl dort«, befahl Gold. »Wenn Sie uns alles erzählen, was Sie wissen, wird Ihnen nicht viel passieren.«

 

»Ich werde Ihnen nichts erzählen«, erwiderte der Mann verdrossen.

 

Sie durchsuchten den Raum gründlich und revidierten auch alle Taschen des Verhafteten. Leider fanden sie nichts, was ihnen irgendeinen Aufschluß hätte geben können – weder Briefe noch Papiere und selbst keine noch so kleine Notiz. Nur aus der hinteren Hosentasche zogen sie einen Browning heraus. Während der Untersuchung hatte sich einer der Beamten entfernt, und als Gold die Lampe ausblies und seinen Gefangenen nach unten führte, wartete schon der Wagen vor der Tür.

 

Schnell schoben sie den Russen hinein, und bevor noch die Bewohner der Little John Street merkten, was vorgefallen war, fuhr das Auto in westlicher Richtung davon.

 

Kapitel 15

 

15

 

Der Raum war groß und langgestreckt. Früher hatte eine Möbeltischlerei ihre Werkstatt darin untergebracht, doch jetzt saßen an kleinen Tischen und Pulten Leute, die im Schein starker Lampen fleißig und schweigsam arbeiteten. Vom einen Ende des Raumes hörte man durch eine Holzwand das eintönige Stampfen einer Maschine.

 

Die Leute, die hier beschäftigt waren, setzten sich fast ausschließlich aus Ausländern zusammen. Es waren Druckereifacharbeiter, Lithographen und Graveure, und sie beschäftigten sich mit Arbeiten, die es durchaus nicht nötig hatten, sich vor dem Auge des Gesetzes zu verbergen. Es handelte sich hauptsächlich um die Herstellung von Kunstdrucken, für die auf dem Kontinent eine verhältnismäßig große Nachfrage bestand.

 

Nachfrage bestand auch für die Produkte, die die kleine Maschine im Hintergrund in gleichmäßigen Abständen auswarf – es waren vollendet gedruckte Fünfdollarnoten.

 

Die Druckmaschine war kleiner als die üblichen Banknotenpressen, doch waren die Scheine, die sie lieferte, tadellos. Auch ein geübtes Auge konnte keinen Fehler an ihnen entdecken.

 

Ein untersetzter Mann saß auf einem Stuhl neben der Maschine. Er kaute auf dem erloschenen Stummel einer Zigarre herum, seinen weichen Filzhut hatte er in den Nacken geschoben, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben.

 

So lässig er dasaß, so scharf beobachtete er doch den Gang der Druckmaschine und jede Bewegung des Druckers, der die ausgeworfenen Scheine in kleine Bündel ordnete und sie dann sachgemäß mit einem Streifband versah. Als hundert solcher Bündel verpackt waren, legte der Mann auf dem Stuhl einen Schalter um, und die Maschine kam zum Stillstand.

 

»Genug für heute abend«, sagte er.

 

Mit einigen Handgriffen löste der Drucker die Platte, von der die Banknoten gedruckt worden waren, reinigte sie sorgfältig mit einer scharfriechenden Flüssigkeit und wickelte sie dann in Seidenpapier. Der Mann auf dem Stuhl streckte die Hand aus, nahm die Platte und steckte sie in seine Brusttasche. Er wartete noch, bis der Drucker eine Platte in die Maschine gespannt hatte, von der Etiketten für Lagerbier abgezogen wurden. Dann nahm er das übriggebliebene Banknotenpapier unter den Arm, schob die fertig gedruckten Noten in eine Aktentasche und öffnete die kleine Tür, die früher in das Büro des Möbeltischlers geführt hatte.

 

Dort schloß er einen Geldschrank auf, legte Banknotenpapier und Aktentasche hinein und verschloß die große Stahltür sorgfältig.

 

Von einem Tischchen nahm er eine Flasche Whisky und ein Glas. In letzter Zeit war er sehr nervös geworden. Verschiedentlich hatte es falschen Alarm gegeben, und besonders seit einigen Wochen mußte er ständig in der Furcht leben, daß die Polizei überraschend an die Tür klopfte.

 

Er goß sich einen kräftigen Schluck ein, trank aus und seufzte befriedigt. Morgen würden alle Banknoten sauber verpackt in zweihundert verschiedenen Briefumschlägen an die zweihundert Agenten in den Vereinigten Staaten abgeschickt werden, und so weiter jeden Tag dieser Woche.

 

Es war jetzt ein größerer Vorrat an Banknoten gedruckt worden, und die Platten würden trotzdem noch eine ganze Menge aushalten. Außerdem waren schon wieder neue in Vorbereitung, die einer der ersten Spezialisten auf diesem Gebiet graviert hatte – allerdings ganz gegen seinen Willen.

 

Er sah nach der Uhr – Viertel nach acht. Gemächlich schlenderte er durch den kleinen Maschinenraum zu der großen Werkstatt.

 

»Sie können für heute abend Schluß machen«, sagte er zu dem Meister, einem älteren Mann, der mit einer starken Lupe gerade eine Autotypie untersuchte.

 

Die Arbeitsstunden hier waren ganz unregelmäßig. Er richtete es immer so ein, daß die mit ehrlicher Arbeit beschäftigten Leute auch an ihren Pulten saßen, wenn die kleine Notenpresse in Betrieb war. Als weiteres Mittel, das dem ganzen Unternehmen einen harmlosen Anstrich geben sollte, diente die kleine Zeitung Helders, die in einem angrenzenden Nebengebäude gedruckt wurde.

 

Außer ihm und seinem Chef waren nur noch zwei Leute in das Geheimnis eingeweiht. Einer von beiden war der Drucker, der vormittags noch in einer anderen Stellung arbeitete. Er war ein verschwiegener Mann, auf den man sich verlassen konnte. Helder hatte ihn mit größter Sorgfalt ausgewählt.

 

Über den zweiten dagegen machte sich Tiger Brown Sorgen: Die Tatsache, daß dieser Mann ein Trinker war, hatte ihm schon manche schlaflose Nacht bereitet.

 

Es klopfte leise an die Hintertür des Büros, in das Brown inzwischen wieder zurückgegangen war. Tiger drehte das Licht aus und öffnete vorsichtig. Diese zweite Tür führte direkt in einen Schuppen und von dort ins Freie.

 

»Schon gut, ich bin’s.«

 

Mit diesen Worten trat Helder ein und schloß die Tür.

 

»Haben Sie bis jetzt gedruckt?«

 

»Vor zehn Minuten sind wir fertig geworden«, entgegnete Brown.

 

»Sehen Sie zu, daß Sie noch heute nacht alles fortsenden können.«

 

Helder war äußerst aufgeregt und nervös.

 

»Was ist denn los?« fragte Brown scharf.

 

»Ich weiß es selbst nicht genau«, war die mürrische Antwort. »Ich werde das Gefühl nicht los, daß mir jemand auf Schritt und Tritt folgt.«

 

»Dann ist es ausgesprochen blödsinnig, daß Sie hierherkommen«, fuhr Tiger ihn ziemlich respektlos an.

 

»Ich mußte aber noch heute abend mit Ihnen sprechen«, entgegnete Helder hastig. »Brown, die Sache wird im höchsten Grade brenzlig. Verbrauchen Sie so schnell wie möglich alles vorrätige Notenpapier, und vernichten Sie dann die Platten. Wir müssen die Druckerei hier schließen, verstanden?«

 

Tiger Brown nickte; offensichtlich fiel ihm ein Stein vom Herzen.

 

»Je eher, desto besser! Wir haben schon viel zu lange gewartet. Seitdem Iwan verhaftet worden ist, brennt mir der Boden unter den Füßen.«

 

»Verhaftet worden?« Helder taumelte fast. »Warum ist er verhaftet worden? Und wann ist das passiert?« Sein Gesicht war kreidebleich geworden, seine Hände zitterten. »Wenn er nicht die Klappe hält, sind wir verloren. Und es sollte mich wundern, wenn ihn Gold nicht zum Sprechen bringt! Wo ist er?«

 

»Das weiß ich selber nicht. Glauben Sie vielleicht, daß es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört, in den einzelnen Polizeigefängnissen nachzufragen? Was seine Schweigsamkeit betrifft, so können wir übrigens ziemlich beruhigt sein. Reden tut er eigentlich nur, wenn er besoffen ist – und zu einem Rausch wird ihm die Polizei ja wohl kaum verhelfen.«

 

»Warum haben Sie mich denn nicht benachrichtigt?« fragte Helder und fluchte leise, »jetzt können wir nur hoffen, daß Iwan dichthält – dann kommen wir vielleicht noch einmal mit einem blauen Auge davon. Glücklicherweise ist die Polizei halb davon überzeugt, daß Comstock Bell mit der ganzen Geschichte zusammenhängt. Man sucht ganz Europa nach ihm ab! Und solange man hinter ihm her ist, läßt man uns hier hoffentlich in Ruhe.«

 

»Aber nehmen Sie doch einmal an, er taucht plötzlich wieder auf«, meinte Brown.

 

»Ich glaube kaum, daß das geschieht«, entgegnete Helder lächelnd. »Der Verdacht, den ich habe, scheint sich zu bestätigen; morgen werde ich mich vergewissern können, ob ich richtig vermute. Übrigens sind tatsächlich fast alle amtlichen Stellen in London der Ansicht, daß Comstock Bell in Zusammenhang mit der Falschgeldaffäre steht.«

 

»Was sagt man denn in London sonst noch über die falschen Banknoten? Ich habe schon seit Tagen keine Zeitung mehr gelesen.«

 

Helder sah ihn erstaunt an.

 

»Na, das sollten Sie aber tun, mein Lieber. Die amerikanische Regierung hat … «

 

Er brach plötzlich ab, weil er sich überlegte, daß es eigentlich gar nicht klug sei, diesem Mann zu erzählen, daß eine Belohnung von einer Million Dollar für denjenigen ausgesetzt war, der entscheidend zur Festnahme der Falschgeldbande beitrug.

 

»Was hat die, amerikanische Regierung getan?« erkundigte sich Brown neugierig.

 

»Sie hat eine große Belohnung ausgesetzt«, entgegnete Helder ruhig. Tiger würde es ja auf irgendeine Weise doch erfahren. »Diese Belohnung wird an jedermann ausgehändigt, mit Ausnahme der Leute, die direkt an den Fälschungen beteiligt sind.« Er betonte jedes Wort des letzten Satzes. »Das heißt, zwei bekommen diese Belohnung unter keinen Umständen – nämlich Sie und ich.«

 

Tiger Brown schenkte sich ein neues Glas Whisky ein. Helder beobachtete ihn, und plötzlich kam ihm der Gedanke, daß Brown sehr gefährlich werden konnte. Nun, dann würde es Mittel und Wege geben, ihn für allemal loszuwerden.

 

»Was werden Sie denn mit Maple anfangen?« fragte Brown plötzlich.

 

»Darüber wollte ich mich gerade mit Ihnen unterhalten«, entgegnete Helder, der unruhig in dem kleinen Raum hin und her ging. »Wir müssen noch heute mit ihm reden –« Er brach mitten im Satz ab und lauschte. »Was war das?«

 

»Ich habe nichts gehört«, erwiederte Brown. »Die Leute nebenan machen Schluß, da gibt es natürlich allerhand Lärm.«

 

Helder schlich zu der Tür, durch die er hereingekommen war, und horchte angespannt.

 

»Dort draußen steht jemand«, flüsterte er Brown zu.

 

»Sie sind wirklich übernervös – es ist bestimmt niemand da.«

 

Helder knipste das Licht aus, schloß die Tür auf und öffnete sie mit einem Ruck.

 

Niemand. Der Strahl seiner Taschenlampe wanderte durch den leeren Schuppen bis zur Tür – sie war angelehnt.

 

Die beiden Männer sahen sich an und liefen dann zu der Schuppentür. Helder spähte vorsichtig hinaus – er sah eine Gestalt, die sich im tiefen Schatten der Rückwand des Gebäudes zu einem kleinen Tor zuschlich, das einen Zugang durch die hintere Umfassungsmauer bildete. Brown riß einen Revolver aus der Tasche, aber Helder packte ihn am Arm.

 

»Sie sind wohl ganz verrückt! Wollen Sie uns die Polizei unbedingt auf den Hals hetzen? Los, schnell, hinter ihm her!«

 

Die beiden rannten hinter der Gestalt drein, die gerade durch das Tor schlüpfte. Sie hörten das Schnappen des Schlosses und eilige Schritte, die sich auf der Straße entfernten.

 

»Haben Sie einen Schlüssel? Ich habe meinen oben gelassen.«

 

Brown durchsuchte nervös seine Taschen, fand den Schlüssel endlich und schloß mit zitternder Hand auf.

 

Sie traten auf die Straße, und wieder war es Helder, der den Fliehenden zuerst entdeckte. Es war jemand von sehr kleiner Statur. Beide sahen ihn deutlich, als er an einer Straßenlaterne vorbeieilte.

 

»Wir müssen ihn erwischen! Laufen Sie, so schnell Sie können!«

 

Die Gestalt verschwand um eine Ecke, und gleich darauf hörten sie einen Motor aufheulen. Als sie in die Nebenstraße einbogen, sahen sie, wie sich ein Wagen mit abgeblendeten Lichtern entfernte.

 

»Schnell!« rief Helder. »Mein eigenes Auto steht dort drüben.«

 

Er stürzte zu dem Wagen, beide sprangen hinein, Helder gab Gas, und sie nahmen die Verfolgung auf.

 

»Ein Glück, daß mein Wagen hier stand«, keuchte Helder. »So haben wir noch eine Chance, ihn zu erwischen. Ich hatte den Eindruck, daß es kein Erwachsener, sondern ein Junge ist …«

 

»Glauben Sie wirklich, daß er was gehört hat?«

 

»Ganz bestimmt. Er muß unmittelbar an der Tür gelauscht haben.«

 

»Na, viel gehört hat er ja nicht«, meinte Brown.

 

»Die Tatsache allein, daß er uns belauschte, genügt mir«, entgegnete Helder grimmig.

 

Helder war ein guter Fahrer und hatte einen so starken Wagen, daß die beiden roten Schlußlichter, denen sie folgten, immer näher kamen.

 

Sie sausten durch die City, die Queen Victoria Street und dann das Themseufer entlang. Helders Nerven vibrierten, als sie sich dem Ende der breiten Uferstraße näherten. Auf der rechten Seite hob sich der große Gebäudekomplex ab, der in der ganzen Welt berühmt ist.

 

»Wenn er bei Scotland Yard hält, müssen wir noch diese Nacht England verlassen – und hoffentlich gelingt es uns dann noch.«

 

Er atmete auf, als der Wagen an dem großen Torbogen! des Polizeipräsidiums vorbeiraste, rechts einbog und über die Westminster Brücke fuhr. Am ändern Ufer bremste das Auto scharf, jemand sprang heraus, und als die Verfolger eben anhielten, lief der Unbekannte bereits eine lange Treppe hinunter, die zum Fluß führte.

 

»Jetzt haben wir ihn!« rief« Helder triumphierend.

 

Er eilte hinterher, so schnell er konnte, doch auf den untersten Stufen machte er erschrocken halt. Ein kleiner Landungssteg lag vor ihm, grell beleuchtet vom Scheinwerfer eines Motorboots, in dem zwei Leute saßen. Und unmittelbar vor ihm stand – Mrs. Verity Bell.

 

»Gehen Sie ruhig wieder fort, Mr. Helder«, sagte sie und richtete so nebensächlich eine langläufige Pistole auf ihn, als ob es ein Sonnenschirm sei. »Sie haben meinen Mann eines Verbrechens beschuldigt, das Sie selbst begehen«, fuhr sie fort. »In Ihrem eigenen Interesse kann ich Ihnen nur raten, sich jetzt in acht zu nehmen.«

 

Kapitel 1

 

1

 

Monsieur Trebolino, der Chef der französischen Kriminalpolizei, saß in seinem Büro und tat genau das, was von ihm erwartet wurde – er dachte nach. Den Schreibtischsessel hatte er an das lodernde Kaminfeuer geschoben; es war unangenehm kalt an diesem Märznachmittag, ganz Paris lag unter einer dichten Schneedecke begraben.

 

Eigentlich hätte sich Monsieur Trebolino nicht den Kopf zu zerbrechen brauchen. Der Tatkraft dieses klugen Italieners, der schon als junger Mann die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, war es zu verdanken, daß in Frankreich kaum noch Verbrechen größeren Ausmaßes begangen wurden.

 

Aber gerade weil Monsieur Trebolino nicht viel zu tun hatte, kümmerte er sich zur Zeit auch um kleinere Dinge, die er früher seinen Untergebenen überlassen hatte. Einen solchen Fall ließ er sich gerade durch den Kopf gehen, und merkwürdigerweise schien ihm verschiedenes daran durchaus nicht klar zu sein.

 

Er drückte auf einen Klingelknopf neben dem Kamin, und gleich darauf klopfte es. Monsieur Lecomte, der dazu ausersehen war, einmal der Nachfolger seines Vorgesetzten zu werden, trat ins Zimmer und wurde von seinem Chef mit einem wohlwollenden Lächeln begrüßt.

 

»Setzen Sie sich bitte«, sagte Monsieur Trebolino und wies auf einen Ledersessel in seiner Nähe. »Eine Frage – haben Sie schon einmal von dem ›Klub der Verbrecher‹ gehört, der hier in Paris bestehen soll?«.

 

Lecomte nickte.

 

»Dieser Klub mag ja ganz interessant sein«, fuhr Trebolino fort. »Meiner Meinung nach sollte man aber doch daran denken, damit Schluß zu machen – Studenten sind nun einmal unruhige Leute.«

 

»Ich glaube, daß der Verein bald ganz von selbst eingehen; wird – wie es meist in solchen Fällen ist«, entgegnete Lecomte verwundert.

 

Trebolino zog die Stirn in Falten.

 

»Was wissen Sie überhaupt davon?«

 

»Nicht mehr, als Sie selbst«, sagte Lecomte achselzuckend. »Eine Anzahl von Studenten hat einen Verein gegründet. Bei ihren Zusammenkünften befolgen Sie feierliche Rituale, gebrauchen Kennworte, leisten Eide – kurz, treiben all den Unsinn, der bei Geheimbruderschaften und Logen nun einmal üblich ist. Ihre Treffen finden jeweils an irgendeinem anderen geheimen Platz statt – der der Polizei aber jedesmal schon mindestens eine Woche vorher bekannt ist.«

 

Lecomte amüsierte sich, und Trebolino nickte ihm verständnisinnig zu.

 

»Jedes Klubmitglied schwört, irgendein französisches Gesetz zu übertreten«, fuhr Lecomte dann fort. »Bis jetzt haben sich ihre Gesetzwidrigkeiten allerdings darauf beschränkt, daß sie einen Polizisten belästigten.«

 

»Sie haben ihn in die Seine geworfen, nicht wahr?« warf Trebolino ein.

 

»Ganz richtig – und zwei der bösen Buben wären beinahe ertrunken, als sie ihn wieder herausfischten. Wir haben sie zwei Tage lang eingesperrt und ihnen außerdem noch zweihundert Franc Geldstrafe aufgebrummt. – Was sie sonst noch anstellen, kann man übrigens nur als Kindereien und den üblichen Studentenulk bezeichnen.«

 

Der Chef der Kriminalpolizei schien trotzdem nicht befriedigt zu sein.

 

»Das klingt alles sehr harmlos«, meinte er nachdenklich, »aber es wäre mir trotzdem lieber, wenn diesem Unfug ein Ende gemacht würde. Es gibt immerhin einige Klubmitglieder, die mir durchaus nicht so harmlos zu sein scheinen – ich denke zum Beispiel an diesen Willetts.«

 

Lecomte nickte.

 

»Soviel ich weiß«, fuhr Trebolino fort, »ist Mr. Willetts eine Art Künstler. Er wohnt mit einem jungen Amerikaner – ich glaube, er heißt Comstock Bell – zusammen.«

 

»Das heißt, er wohnte«, verbesserte Lecomte. »Mr. Bell ist sehr reich und lebt ganz seinen Neigungen. Er ist ein Mann von Geschmack – Mr. Willetts dagegen trinkt ziemlich viel.«

 

»Dann haben sie sich also getrennt«, entgegnete Trebolino überrascht. »Das wußte ich noch gar nicht. Bis jetzt wurde ich nur darüber informiert, daß die beiden sich vorgenommen hatten, uns einige ziemlich unangenehme Überraschungen zu bereiten. Überraschungen, die keine Lausbubenstreiche mehr gewesen wären, sondern die man unter die Kategorie schwerer Verbrechen – bis zum Mord – hätte einreihen müssen.«

 

Er stand auf und trat ans Fenster.

 

»Also, Monsieur Lecomte«, sagte er dann nach einigen Minuten nachdenklichen Schweigens, »sorgen Sie dafür, daß dieser ganze Unfug ein Ende findet. Studenten schlagen manchmal über die Stränge, gewiß – aber hier scheint sich etwas anzubahnen, was man durchaus nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Berichten Sie mir dann bitte, was Sie unternommen haben!«

 

Lecomte verließ das Büro seines Vorgesetzten und war eigentlich ein wenig belustigt. Lohnte es sich wirklich, dieser Sache so viel Bedeutung beizumessen? Noch dazu, da er alle Mitglieder des ›Klubs der Verbrecher‹ sehr gut kannte und sogar von Zeit zu Zeit zu ihren Zusammenkünften eingeladen wurde. Na, man würde sehen … Noch am gleichen Abend ging Monsieur Lecomte nach Dienstschluß in das ›Café der Barbaren‹, einen der Treffpunkte der Studenten.

 

Er wurde mit Hallo begrüßt, ein Student machte ihm sofort an einem großen Tisch einen Platz frei, während ein anderer, ein gutaussehender junger Mann, ein Glas Wein für den Beamten bestellte. Lecomte betrachtete ihn interessiert. Er war groß und schlank, dabei aber sehr kräftig gebaut. Seine grauen Augen blickten so freundlich und unbekümmert in die Welt, wie man es bei einem jungen Mann seines Alters erwarten konnte.

 

»Sie sind gerade zur rechten Zeit gekommen, um einer Unterhaltung beizuwohnen, die Sie persönlich besonders interessieren dürfte«, sagte der Student lachend und deutete auf einen seiner Kommilitonen, einen bärtigen, hageren Jüngling. »Mein Freund hier vertritt eben die Ansicht, daß die Ermordung eines Polizeispitzels nach der Lehre des Aristoteles durchaus entschuldbar wäre. Was halten Sie davon?«

 

»Nicht viel, wie Sie sich denken können«, entgegnete Lecomte grinsend und leerte sein Glas zur Hälfte. »Aber wenn Sie unbedingt die Probe aufs Exempel machen wollen – der Staatsanwalt wird bestimmt gerne mit Ihnen debattieren.«

 

»Vielleicht wäre das am besten«, rief der Bärtige trotzig. »Mein Freund Willetts jedenfalls …« Er fuhr fort, seine Theorie durch allerhand Erlebnisse und Erfahrungen zu bekräftigen, die sein Freund Willetts – ein blasiert dreinschauender Mann mit bleichem Gesicht, der etwas älter als seine Kommilitonen zu sein schien – angeblich gemacht hatte.

 

»Ist dieser Willetts auch Ihr Freund, Mr. Bell?« fragte Lecomte leise.

 

Der Student mit den grauen Augen, an den die Frage gerichtet war, machte eine abwehrende Handbewegung.

 

»Wie meinen Sie das?« erkundigte er sich kühl.

 

Lecomte zuckte die Schultern.

 

»In meinem Beruf hört man so allerlei«, sagte er leichthin. »Besonders was den ›Klub der Verbrecher‹ angeht.«

 

Comstock Bell sah ihn argwöhnisch, fast ängstlich an.

 

»Die ganze Angelegenheit ist doch nur ein Scherz …«, begann er, verstummte aber sofort wieder. Lecomte gab sich vergeblich Mühe, ihn noch einmal zum Reden zu bringen.

 

Plötzlich erhob sich allgemeines Stimmengewirr. Lecomte gebot mit einer Handbewegung Schweigen und beantwortete die Frage, die ein Student aufgeworfen hatte.

 

»Nein – gestorben ist er nicht, bloßes Untertauchen genügt nicht, um einen richtigen Polizisten ins Jenseits zu befördern. Aber da Sie gerade diese Sache erwähnen, meine Herren, möchte ich Ihnen auch gleich sagen, daß es höchste Zeit ist, Ihren ›Klub der Verbrecher‹ aufzulösen. Der Chef der Kriminalpolizei persönlich hat mich beauftragt, Ihnen dies mitzuteilen!«

 

»Und wir sollen natürlich brav gehorchen!« rief Willetts mit schriller Stimme. Es war das erstemal, daß er sich in die Unterhaltung mischte.

 

Lecomte beobachtete ihn. Er sah ungesund aus, jeder Zug in seinem Gesicht zeugte von einem sehr unsoliden Lebenswandel.

 

»Na schön«, fuhr Willetts mit lauter Stimme fort. »Wir werden den Klub schließen – aber sein Geist soll wenigstens in einigen Mitgliedern weiterleben.«

 

Lecomte sah Comstock Bell an, dem diese Worte offensichtlich galten. Der Student wurde blaß, als der anscheinend ziemlich betrunkene Willetts weitersprach.

 

»Mr. Bell natürlich ist fahnenflüchtig geworden. Noch vor kurzem war er mein Komplice – aber jetzt vertragen wir uns nicht mehr richtig. Er ist eben Amerikaner – und außerdem ein Kapitalist! Vielleicht ist er aber auch nur ein Feigling …!«

 

Die letzten Worte hatte er laut über den Tisch gerufen. Willetts war in betrunkenem Zustand zu allem fähig, das wußte jeder.

 

Comstock Bell antwortete nicht.

 

»Wir haben nämlich …«, wollte Willetts eben fortfahren, als ein Herr das Café betrat, sich suchend umschaute und auf Lecomte zuging.

 

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine Herren«, sagte der Polizeibeamte, stand auf und trat zu dem Fremden. Sie unterhielten sich leise miteinander. Die Studenten sahen, daß Lecomte die Stirn runzelte und hörten einen unterdrückten Ausruf. Nach einer Zeit kam er zurück.

 

»Meine Herren«, sagte er, und seine Stimme klang durchaus nicht mehr freundlich. »Heute nachmittag wurde in Cooks Reisebüro eine englische Fünfzigpfundnote gewechselt – und diese Note war gefälscht!«

 

Niemand sprach. Es herrschte tödliches Schweigen.

 

»Der Geldschein wurde von einem Studenten gewechselt, und auf der Rückseite standen die Buchstaben ›K. d. V.‹. Hier hört der Spaß auf, und ich möchte den Verantwortlichen ersuchen, morgen früh auf das Polizeipräsidium zu kommen!«

 

Am nächsten Morgen kam niemand in Trebolinos Büro. Willets wurde noch am selben Abend telegrafisch nach London zurückgerufen, und Comstock Bell verließ Paris mit demselben Zug.

 

Die beiden wußten nicht, daß sie hei der Abfahrt von Lecomte beobachtet wurden. Drei Tage später erhielt er eine englische Fünfzigpfundnote in einem Briefumschlag. Es war kein Absender angegeben, und außer dem Geldschein befand sich in dem Kuvert nur noch ein Stück Papier, auf dem in Maschinenschrift stand: »Bitte leiten Sie dieses Geld an die Firma Cook weiter.«

 

Lecomte berichtete seinem Vorgesetzten von dieser Sache. Trebolino nickte.

 

»Wir wollen die Angelegenheit damit erledigt sein lassen. Es hat keinen Zweck, die Öffentlichkeit deswegen zu alarmieren.«

 

Er legte die gefälschte Banknote in seinen Schreibtisch und vergaß sie bald. –

 

Einige Jahre später wurde Monsieur Trebolino, der Chef der französischen Kriminalpolizei, bei der Festnahme eines Verbrechers erschossen. Ein Beamter, der seinen Schreibtisch aufräumte, fand in einem Fach eine englische Fünfzigpfundnote, die offensichtlich gefälscht war. Unschlüssig hielt er sie eine Zeitlang in der Hand und gab sie dann seinem Sekretär mit dem Auftrag, den Geldschein an die Bank von England zu schicken.«

 

»Vielleicht können sie etwas damit anfangen«, meinte er achselzuckend.

 

Lecomte hätte erklären können, wie diese Banknote in Trebolinos Besitz gekommen, war, aber er befand sich zu dieser Zeit in Lyon.

 

Im Terriers-Klub fand ein großer Empfang statt – vor dem vornehmen Gebäude stand eine lange Reihe chromblitzender Wagen. ›Terriers‹ ist einer der vornehmsten Klubs, und dieser große Empfang bedeutete wie jedes Jahr den Beginn der Saison.

 

Zahlreiche der alten Klubmitglieder fühlten sich ziemlich ungemütlich. Es war ihnen gar nicht recht, daß die Räume, in denen sie sich sonst wie zu Hause fühlten, heute von einer plaudernden, eleganten Gesellschaft belebt waren. Am meisten störten sie die vielen Damen – ein ganz ungewohnter Anblick in einem Herrenklub.

 

Draußen regnete es, und Wentworth Gold stieg schnell die Marmortreppen hinauf, um in die große Empfangshalle zu gelangen. An der Garderobe legte er Hut und Mantel ab und ordnete vor dem Spiegel seine Krawatte.

 

Wentworth Gold war ein außergewöhnlicher Mann – und er hatte auch außergewöhnliche Interessen. Von mittlerer Größe, mit buschigen Brauen, unter denen seine grauen Augen durch einen Klemmer lebhaft in die Welt blickten, konnte man ihn. nicht gerade einen gutaussehenden Mann nennen. Er war eher häßlich, übte aber doch auf Frauen eine faszinierende Wirkung aus. Als Amerikaner hatte er sich außerdem eine gewisse Unbekümmertheit des Auftretens bewahrt, die fast schon an Frechheit grenzte.

 

In England lebte Mr. Gold schon seit langer Zeit. Er hatte die Engländer gern – und sagte das mit einem liebenswürdigen, mitleidigen Lächeln und einem Ton, als ob er arme Mitmenschen darüber trösten wollte, daß sie nicht das Vorrecht mit ihm teilten, in Amerika geboren worden zu sein. Im übrigen fand ihn jedermann sympathisch, gerade weil er so offen und typisch amerikanisch war.

 

Welchen Beruf Mr. Gold eigentlich hatte, wußte niemand so richtig. Ein- oder zweimal in der Woche machte er dem amerikanischen Konsulat seinen Besuch, »um seine Post abzuholen«. Merkwürdigerweise holte er diese Post manchmal um drei Uhr morgens ab, und Seine Exzellenz der Konsul kam dann im Pyjama zu einer Unterredung ins Büro herunter.

 

Solch ein Gespräch fand auch statt, als der Präsident einer kleinen südamerikanischen Republik, die als sehr aggressiv bekannt war, einer benachbarten größeren Republik den Krieg erklären wollte. Die wichtigsten darauffolgenden Ereignisse dieses Tages kann man folgendermaßen zusammenstellen:

 

5.00 nachmittags. Senor de Silva (Privatsekretär des Präsidenten von Furina) kommt ins Carlton-Hotel.

 

5.30 nachmittags. Monsieur Dubec (Generalvertreter der Vereinigten Belgischen Waffen- und Munitionsfabriken) erscheint ebenfalls im Carlton-Hotel und führt eine geheime Besprechung mit dem vorerwähnten Privatsekretär.

 

8.00 abends. Beide essen zusammen in einem Einzelzimmer.

 

9.00 abends. Monsieur Dubec reist nach Belgien ab.

 

2.00 nachts. Wentworth Gold kommt in das amerikanische Konsulat.

 

5.00 morgens. Senor de Silva erhält den Besuch des Polizeiinspektors Grayson (Spezialabteilung der Interpol).

 

9.00 vormittags. Senor de Silva verläßt London in größter Eile und offensichtlicher Verwirrung, um sich nach Paris zu begeben.

 

11.00 vormittags. Inspektor Grayson und Wentworth Gold begegnen sich zufällig am Themseufer und grüßen einander sehr formell und höflich.

 

Wentworth Gold hatte überall zu tun. Anscheinend war es sein Beruf, alles zu wissen – und tatsächlich wußte er auch alles. Das meiste, was er erfuhr, behielt er für sich, denn er vertraute niemand. Er hatte kein Büro, keine Angestellten und bekleidete keine offizielle Stellung. Aber in seiner Westentasche trug er einen kleinen silbernen Stern, der einen überwältigenden Eindruck auf gewisse Leute machte. Er verkehrte in den ersten Kreisen der Gesellschaft, doch sah man ihn auch häufig mit Leuten aus der Unterwelt. Gerade deshalb wußte er alles.

 

Gold ging zur Eingangshalle zurück, stieg eine große breite Treppe empor, lehnte sich über die Brüstung und beobachtete das farbenprächtige Schauspiel, das sich seinen Augen bot.

 

Unten stand der spanische Botschafter mit seiner hübschen Tochter und nickte dem italienischen Geschäftsträger zu. Es entging Gold auch nicht, daß Mrs. Granger Collok in die große Halle trat, gefolgt von einer Schar junger Herren. Manche Frauen besaßen eben eine außerordentliche Gabe, sich über die Meinung ihrer Mitmenschen hinwegzusetzen, und erschienen auch nach einem aufsehenerregenden Scheidungsprozeß unbefangen in der Öffentlichkeit.

 

Kapitel 3

 

3

 

Pamela Lane Leonard fuhr an jenem Morgen nachdenklich und ein wenig verängstigt nach Kent zurück.

 

»Warum läßt du zu, daß Lidgett so mit dir spricht, Onkel Digby?« fragte sie.

 

Major Digby Olbude blinzelte und warf ihr dann einen Blick zu.

 

»Daß er wie mit mir spricht, meine Liebe?« meinte er gereizt. »Lidgett ist ein alter Freund der Familie und hat als solcher gewisse Vorrechte.«

 

»Hast du Mr. Reeder von der Auseinandersetzung zwischen ihm und Buckingham erzählt?«

 

Olbude schwieg längere Zeit.

 

»Von einer Auseinandersetzung weiß ich nichts«, erklärte er schließlich, »und keinesfalls hätte ich Mr. Reeder davon unterrichtet – woher kennst du Mr. Reeder übrigens?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn nicht persönlich. Ich habe nur viel über ihn gelesen – er soll sehr klug sein.«

 

Nach einer Pause meinte sie: »Warum erlaubst du Lidgett, daß er so grob mit dir umspringt und mich anfaucht, als wäre ich – nun, ein Dienstmädchen?«

 

Der Major atmete tief ein.

 

»Du irrst dich, Pamela. Lidgett mag ja ein bißchen ungebildet sein, aber seine Dienste sind unschätzbar. Ich werde trotzdem mit ihm sprechen.« Er schwieg längere Zeit. Schließlich fragte er: »Wann haben sie gestritten – Buckingham und Lidgett?«

 

»Ich habe sie eines Tages im Wald beobachtet. Buckingham schlug ihn nieder. Es war schrecklich.«

 

Olbude fuhr sich mit den Fingern durch das weiße Haar.

 

»Das ist alles sehr schwierig«, meinte er seufzend. »Dein Vater hat ausdrücklich bestimmt, daß Lidgett unter keinen Umständen entlassen werden dürfe. Bevor du fünfundzwanzig bist, kannst du leider gar nichts unternehmen, meine Liebe.«

 

Unvermittelt fragte er: »Was hast du zu dem jungen Mann gesagt?«

 

Dieselbe Frage hatte er erst vor wenigen Minuten gestellt.

 

»Ich hab’s dir doch schon erzählt«, erwiderte sie kurz. »Er hat mich vor einem Unfall bewahrt, und ich dankte ihm.«

 

Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber Pamela fühlte, daß ihr Gewissen unbelastet war.

 

Sie wollte ihrem Onkel etwas sagen, brachte es aber nicht fertig, das Unglaubliche in Worte zu kleiden. Die Tatsache, daß der Mann, den sie haßte und fürchtete, nur durch eine massive Glasscheibe von ihr getrennt am Steuer des Wagens saß, genügte, um sie zum Schweigen zu veranlassen. Sie hätte vielleicht überhaupt nicht mehr davon gesprochen, wenn nicht ihr Onkel zu diesem Thema zurückgekehrt wäre.

 

»Lidgett ist eben ungeschliffen. Man muß das mit seiner Treue verrechnen, Pamela. Er ist der Familie sehr ergeben –«

 

»Na, hör mal!« sagte sie erbost. »Weißt du denn überhaupt, daß er mir einen Heiratsantrag gemacht hat?«

 

Olbude starrte sie entgeistert an.

 

»Einen Heiratsantrag?« fragte er ungläubig. »Das hat er wirklich gewagt? Ich hab‘ ihm doch ausdrücklich erklärt, daß er unter keinen Umständen –«

 

»Er hat es vorher mit dir besprochen?« sagte sie entsetzt. »Und du hast ihn überhaupt angehört? Das darf doch nicht wahr sein! Ich hätte nie gedacht, daß du von der Sache weißt! Hast du denn nicht – Onkel, was hast du getan?«

 

Er rutschte unruhig hin und her und wich ihrem Blick aus.

 

»Er ist ein ungeschliffenes Juwel«, erklärte er leise. »Lidgett hat viele gute Seiten. Natürlich mangelt es ihm an Bildung, und außerdem ist er zwanzig Jahre älter als du, aber man darf seine Qualitäten nicht übersehen.«

 

Sie lehnte sich sprachlos in ihre Ecke und sah ihn fassungslos an. Er mußte angenommen haben, daß das Loblied auf Lidgett sie beeindruckte, da er fortfuhr: »Lidgett war Zeit seines Lebens sehr sparsam. Dank der Großzügigkeit deines Stiefvaters halte ich ihn sogar für sehr reich. Und der Altersunterschied ist in Wirklichkeit gar nicht entscheidend.« Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, denn er erkundigte sich schnell: »Du hast doch O’Ryan nichts davon erzählt?«

 

»O’Ryan?« wiederholte sie. »Kennst du ihn denn?«

 

»Du bist anscheinend ganz gut informiert«, erwiderte er schnell. »Hat er dir in dem kurzen Augenblick seinen Namen genannt?«

 

Sie nickte. »Ja, das hat er getan. Wo bist du ihm begegnet?«

 

Er wich der Frage aus. »Das gehört nicht hierher. Ich glaube nicht, daß er mich kennt. Er war fast noch ein Kind, als ich ihn zum letztenmal sah, und damals trug ich einen Schnurrbart – er hat doch nicht etwa gesagt, daß er mich kennt?« fragte er besorgt.

 

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben nicht über dich gesprochen.«

 

»Worüber denn?« erkundigte er sich.

 

Sie zögerte. »Das ist für dich nicht von Interesse«, sagte sie.

 

*

 

Als sie angekommen waren, ging sie sofort auf ihr Zimmer und begann einen Brief zu schreiben. Wahrscheinlich würde es diesem Schreiben genauso ergehen wie ihren übrigen Briefen. Die Dienerschaft in Sevenways Castle wurde von Lidgett beherrscht, und Pamela wußte aus Erfahrung, daß jeder ihrer Briefe durch seine Hände ging.

 

Seit sie von der Schule zurückgekommen war, hatte sich Lidgett als Herr und Meister aufgespielt, während ihr Onkel kaum etwas zu sagen hatte. Lidgett stellte Personal ein, Lidgett entließ die Leute wieder, ohne sich mit seinem Arbeitgeber zu besprechen; Lidgett nahm den Wagen, wenn er ihn brauchte, fuhr zu seinem Vergnügen nach London, ließ sogar bauliche Veränderungen durchführen, ohne irgend jemanden zu Rate zu ziehen.

 

Er war eines Nachmittags im Wohnzimmer erschienen und hatte ohne lange Vorrede um ihre Hand angehalten.

 

»Wahrscheinlich werden Sie beleidigt sein, Miss Pamela, weil Sie mich für einen sehr gewöhnlichen Menschen halten. Ich habe ein bißchen was gespart und möchte heiraten. Ich bin verliebt in Sie.«

 

»In mich?« Sie war zu verblüfft, um Ärger empfinden zu können.

 

»Genau«, erklärte er kühl. »Ich habe mit dem Major noch nicht darüber gesprochen, aber er wird kaum etwas einzuwenden haben. Es kommt häufig genug vor, daß Damen ihre Chauffeure heiraten, und ich werde Ihnen mindestens ein ebenso guter Ehemann sein wie diese eingebildeten Strohköpfe, die Ihnen vielleicht noch vorgestellt werden.«

 

Sie war so fassungslos gewesen, daß es ihr nicht einmal gelang, ihm die richtige Abfuhr zu erteilen.

 

Und jetzt wußte sie vor Verzweiflung nicht aus noch ein. Lidgett machte keinerlei Anstrengung, seine beherrschende Stellung zu verbergen. Er hatte es sogar in Anwesenheit Larrys gewagt, sie anzubrüllen, und während sie den Brief schrieb, klopfte es an ihre Tür. Sie hörte seine verhaßte Stimme, legte den Brief hastig unter das Löschpapier, drehte den Türschlüssel um und öffnete.

 

»Was hat dieser Kerl auf französisch zu Ihnen gesagt?« fragte er.

 

Sie hatte sich jetzt völlig in der Gewalt.

 

»Was er gesagt hat, ist unwichtig, Lidgett«, erwiderte sie kühl. »Aber ich hatte ihm etwas Entscheidendes mitzuteilen. Ich sagte ihm, daß ich praktisch als Gefangene hier im Haus gehalten werde, daß Sie hier den Herrn spielen und mich sogar gebeten haben, Ihre Frau zu werden. Ich sagte ihm, daß ich mich fürchte, und bat ihn, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.«

 

Sein Gesicht wurde rot und dann leichenblaß.

 

»So, das haben Sie getan, wie?« Seine Stimme klang schrill. »Sie haben also Lügen über mich erzählt!«

 

»An dem Tag, als ich knapp einem Unfall entkam«, fuhr sie fort, »war ich auf dem Weg zu Mr. Reeder, dem Detektiv. Ich lasse mich von Ihnen nicht wie ein Dienstmädchen behandeln. Hier im Hause stimmt etwas nicht, und ich werde schon herausfinden, was los ist. Major Olbude hat überhaupt nichts zu sagen; Sie kommandieren ihn genauso herum wie mich, und dafür muß es einen Grund geben. Mr. O’Ryan wird ihn schon finden.«

 

»Wird er das? Sie wissen doch, was er ist, nehme ich an? Ein Verbrecher – er stand wegen Einbruchs vor Gericht. Solche Freunde suchen Sie sich aus!« rief er keuchend. »Nun, wir werden schon sehen!«

 

Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer. Sie schloß hinter ihm die Tür ab. Zum erstenmal wagte sie zu hoffen. Wer wußte, was die Nacht bringen würde? Denn sie hatte Larry O’Ryan auch noch etwas anderes erzählt, was Lidgett nicht wußte.

 

*

 

Mr. Reeder schlief fest und traumlos, wie jede Nacht. Er war kurz nach zehn Uhr zu Bett gegangen. Gegen vier Uhr morgens stand er auf, setzte Wasser für den Tee auf den Herd und ließ sein Bad einlaufen.

 

Um halb fünf arbeitete er bereits an seinem Schreibtisch.

 

Er besaß eine erstklassige Bibliothek, deren Bände über alle menschlichen Schwächen und Eigenheiten berichteten. Er nahm einen Band heraus und blätterte darin herum. Ja, es gab genug Parallelfälle für die Hortung von Geldschätzen. Der Fall Schneider, der Fall van der Hyn, der polnische Baron Poduski, der Bankier Lamonte und der exzentrische amerikanische Millionär Mr. John G. Grundewald – sie alle hatten Gold in riesigen Mengen aufgehäuft. Zwei von ihnen fügten ihren Testamenten ähnliche Bestimmungen ein wie Mr. Lane Leonard.

 

Mr. Reeder versuchte, Buckinghams Leben als Geschäftsmann zu rekonstruieren. Er hatte neben anderen einen gewaltigen Schatz bewacht. Man konnte nicht nachweisen, daß er Gelegenheit zum Stehlen gehabt hätte, aber trotzdem war es ihm auf irgendeine Art gelungen, große Summen in seinen Besitz zu bringen, und diese Beträge wurden in Gold auf die Bank einbezahlt. Die Entdeckung war Reeder am vergangenen Nachmittag gelungen. Bis zu fünfzig- und sechzigtausend Pfund waren in Gold auf das Konto der Land Development Company einbezahlt worden, so viel, daß man die Firma gebeten hatte, die Herkunft der Barren zu erklären. Darauf hatte die Firma erwidert, daß man sich nach einer anderen Hausbank umsehen werde, wenn man solchen Belästigungen ausgesetzt sei.

 

Wann konnte das Gold gestohlen worden sein? Buckingham hatte man am Sonntag tot aufgefunden, und Major Olbude war am Freitag davor zum letztenmal in der Schatzkammer gewesen. Sobald er sie an diesem Morgen wieder inspizierte, würde Mr. Reeder telefonisch in die Grafschaft Kent gerufen werden.

 

Es wurde hell. Mr. Reeder zog die Jalousien hoch und sah auf die regennasse Straße hinaus. Die Wolken hingen schwer und bleifarben über der Stadt. J. G. braute sich noch eine Tasse Tee, dann trat er wieder ans Fenster und starrte hinunter. Er hörte einen Motor aufheulen. Ein Wagen kam um die Ecke von der Lewisham High Road. Er verfolgte einen Zickzackkurs, der darauf schließen ließ, daß der Fahrer nicht ganz nüchtern war. Zu Mr. Reeders Überraschung hielt der Wagen vor seinem Haus. Nach einer Weile taumelte ein Mann heraus. Er ging schwankend durch den Vorgarten und stolperte die Steintreppe hinauf. Bevor er die Tür erreichte, war Mr. Reeder bereits hinuntergeeilt, um sie zu öffnen. Er fing Larry O’Ryan in seinen Armen auf und stützte ihn.

 

»Es geht schon«, murmelte Larry. »Ich brauche ein bißchen Wasser. Kann ich mich einen Augenblick setzen?«

 

Mr. Reeder schloß mit einem Tritt die Tür und führte den jungen Mann zu einer Sitzbank in der Diele.

 

»Es geht gleich wieder. Ich habe ein bißchen Blut verloren«, brummte Larry.

 

Der Mantel war an den Schultern rot gefärbt und Larrys Gesicht unter den breiten, roten Streifen kaum zu erkennen.

 

»Alles in Ordnung«, sagte er wieder. »Ich hab‘ nur ein bißchen den edlen Ritter gespielt.« Er lächelte schwach. »Gebrochen scheint nichts zu sein, obwohl das Autofahren kein Vergnügen war. Ich bin froh, daß ich keinen Revolver bei mir hatte. Ich hätte geschossen. Jetzt kann ich schon wieder gehen.« Er stand auf und schwankte.

 

Mr. Reeder führte ihn die Treppe zum Bad hinauf, tränkte ein Handtuch im Wasser und säuberte sein Gesicht. Unter dem Haar zeigte sich eine klaffende Platzwunde.

 

»Ich glaube, es war der Chauffeur. Ganz sicher bin ich mir nicht. Ich hatte den Wagen einen Kilometer vor Sevenways Castle abgestellt und mache mich zu Fuß auf den Weg.«

 

Mr. Reeder schnitt Larrys Haar im Bereich der Wunde ab und desinfizierte die Verletzung.

 

»Jedenfalls hab‘ ich mit ihr gesprochen«, stieß Larry hervor.

 

»Sie haben mit ihr gesprochen?« fragte Mr. Reeder erstaunt. »Ja, wenn auch nur ein paar Sekunden. Sie konnte nicht durch das Fenster, es war vergittert, und die Tür hatte man abgesperrt. Aber wir konnten uns kurz unterhalten. Ich hatte eine zusammenlegbare Leiter bei mir, um das Fenster zu erreichen. Sie werden das Ding in einer Anpflanzung neben der Auffahrt finden.«

 

Mr. Reeder sah ihn düster an. »Wollen Sie damit sagen, daß Miss Leonard gefangengehalten wird?«

 

»Allerdings. Es gibt im Haus zwar Personal, aber es ist von ein und demselben Mann ausgewählt worden. Und ein Großteil des Geldes hat sich verflüchtigt.«

 

J. G. Reeder schwieg lange.

 

»Woher wissen Sie das?« erkundigte er sich schließlich.

 

»Ich ging hinein und sah es mir an«, erwiderte Larry gelassen. »Der Major wird wahrscheinlich behaupten, ich hätte es gestohlen, aber das ist eine physische Unmöglichkeit. Ich hatte immer vor, mir diese Schatzkammer anzusehen – ich besitze Photographien sämtlicher Schlüssel zu jedem Tresor, den die bewußte Panzerschrankfabrik in den letzten zehn Jahren angefertigt hat. Woher ich diese Bilder habe, möchte ich lieber nicht sagen. Jedenfalls war es das leichteste von der Welt, die Schatzkammer zu betreten.«

 

»Die Wachen –?«

 

Larry schüttelte unvorsichtigerweise den Kopf, zuckte aber sofort zusammen. »Au! Das ist weniger angenehm! Es gibt keine Wachen. Diese Geschichte ist erlogen. Solange Lane Leonard noch lebte, war es etwas anderes. Nein, ich konnte hinein, und ebensoleicht wieder heraus. Mehr als die Hälfte der Behälter sind leer! Ich hatte meinen Wagen fast wieder erreicht, als ich überfallen wurde, jemand mußte meinen Wagen bemerkt und meine Rückkehr abgewartet haben. Ich hab‘ mich immer für sehr schlau gehalten. Ich sah niemanden, hörte aber ein leises Geräusch und drehte mich um. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet.«

 

»Sie haben den Mann nicht gesehen, der Sie niedergeschlagen hat?«

 

»Nein, es war ziemlich dunkel, aber der Kerl wird noch lange an mich denken. Ich hatte einen Degenstock bei mir – ein Souvenir aus Spanien. Bevor der Bursche zum zweitenmal zuschlagen konnte, versetzte ich ihm eins über den Kopf, daß er schrie und davonrannte. Ich weiß nicht, wie ich zum Wagen und nach London zurückgekommen bin.«

 

»Darf ich fragen«, meinte Mr. Reeder, »warum Sie eigentlich nach Sevenways gefahren sind?«

 

»Sie bat mich, sie aufzusuchen – sie bediente sich der französischen Sprache, weil sie nicht vom Chauffeur belauscht werden wollte. Bei dieser Gelegenheit erzählte sie mir auch, daß Sie zu Ihnen kommen wollte. Ihr Zimmer geht auf den Park hinaus – das Gebäude wird als Schloß bezeichnet, in Wirklichkeit ist es ein Haus im Tudor-Stil –, das dritte Fenster rechts vom rückwärtigen Eingang. Wie ich schon sagte, war das Fenster vergittert, so daß aus meinem Plan nichts wurde.«

 

»Was hatten Sie denn vor, um Himmels willen?« fragte J. G.

 

»Ich wollte sie entführen«, erklärte Larry gelassen. »Das war ihr Einfall.«

 

Mr. Reeder erstarrte.

 

»Sie wollten sie entführen?« sagte er ungläubig.

 

»Natürlich. Sie hat mich darum gebeten. Das klingt zwar albern, aber es ist einfach so. Sie muß sehr viel Vertrauen zu mir gehabt haben, oder sie war eben sehr verzweifelt.«

 

Mr. Reeder ging trotz der Proteste Larrys zum Telefon. »Ich brauche wirklich keinen Arzt. Ein Schlag auf den Kopf ist doch nicht so schlimm.«

 

»Schlimm genug bei einer acht Zentimeter langen Platzwunde«, sagte Mr. Reeder.

 

Eine halbe Stunde später erschien ein Arzt, der Larrys Wunde nähte. Mr. Reeder bestand darauf, Larry im Hause zu behalten, eine sehr seltene Ehre, denn das war der erste Gast, an den sich Mr. Reeders Haushälterin erinnern konnte.

 

*

 

Am frühen Nachmittag erreichte Mr. Reeder Sevenways Castle. Es stand in einem großen Park, und Larry hatte mit Recht behauptet, daß das Gebäude sehr wenig Ähnlichkeit mit einem Schloß hatte. Es war im Tudor-Stil erbaut und wies an einem Flügel einen ziemlich häßlichen, modernen Anbau auf. Das mußte die Schatzkammer sein.

 

Er hatte seine Ankunft telefonisch angemeldet, und Major Olbude erwartete ihn auf der Veranda. Er führte ihn in die getäfelte Bibliothek, wo im offenen Kamin ein Feuer brannte.

 

»Ich war mir nicht ganz klar, ob ich Ihre Ankunft abwarten oder die Polizei verständigen sollte. Irgendein Raufbold überfiel gestern nacht mit einer Stichwaffe einen meiner Wildhüter. Ich mußte ihn nach London ins Krankenhaus bringen lassen. Ehrlich gesagt, Mr. Reeder, die Ereignisse der letzten Tage haben mich so nervös gemacht, daß ich es für besser hielt, meine Nichte nach Paris zu schicken. Wenn man sich überlegt, daß einer meiner Wächter getötet und mein Wildhüter überfallen wurde, hat es beinahe den Anschein, als sollte ein Überfall auf die Schatzkammer vorbereitet werden. Wenn ich nicht durch die Bestimmungen des Testaments gebunden wäre, hätte ich den ganzen Inhalt der Kammer in den Tresor einer Londoner Bank schaffen lassen. Übrigens werden Sie sicher erleichtert sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich den Tresor heute inspiziert habe, ohne etwas Verdächtiges zu finden. Sämtliche Behälter sind nach wie vor versiegelt, wie ich es auch nicht anders erwartet habe. Ich brauche Ihnen kaum zu erklären, daß ich sehr froh darüber bin. Natürlich hätte ich mir darüber gar keine Sorgen zu machen brauchen. Der Tresor ist absolut sicher, und wenn Buckingham nicht ein ausgesprochener Fachmann war, hätte er die Tür nicht aufbrechen können, ohne sofort entdeckt zu werden. Den Schlüssel habe ich Tag und Nacht bei mir. Ich trage ihn an einer silbernen Kette um den Hals.«

 

»Und die Behälter sind alle in Ordnung?« erkundigte sich Mr. Reeder.

 

»Jawohl. Möchten Sie den Tresor besichtigen?«

 

Mr. Reeder folgte ihm einen langen Gang entlang, in einen kleinen Raum, der offensichtlich als Arbeitszimmer diente, dann durch eine Stahltür, die Olbude aufschloß, in einen kleinen Vorraum mit vergittertem Oberlicht. Hier erreichten sie eine weitere Stahltür und kamen dann in einen schmalen Korridor; der zur eigentlichen Schatzkammer führte.

 

Sie war ein riesiger Tresor aus Beton und Stahl, mit einer angeschlossenen Wohnküche, wo die Wachen saßen. Dieser Raum befand sich unmittelbar gegenüber der Stahltür zur Schatzkammer.

 

»Ich glaube, man kann sogar mit Recht von einem Gewölbe sprechen«, erklärte der Major, »weil die Kammer ungefähr eineinhalb Meter in die Erde eingelassen ist – man geht eine kleine Treppe hinunter.«

 

Mr. Reeder sah sich um. »Wo ist die Wache?« fragte er.

 

Major Olbude breitete verzweifelt die Arme aus.

 

»Ich fürchte, ich habe den Kopf verloren. Ich zahlte jedem einen Monatslohn aus und entließ die Leute, als ich zurückkam. Das war wahrscheinlich dumm von mir, weil man sich auf die Männer verlassen konnte, aber wenn man einmal argwöhnisch geworden ist, hat es wohl wenig Zweck, auf halbem Weg stehenzubleiben.«

 

Mr. Reeder besah sich die Stahltür genau. Er bemerkte jedoch sofort, daß nur ein Genie von Einbrecher den Eintritt in die Schatzkammer hätte erzwingen können, und auch das nur mit Hilfe modernster Werkzeuge. Es war auf keinen Fall eine Aufgabe für einen einzelnen Mann, schon gar nicht für einen Amateur.

 

Er kehrte ins Haus zurück, die Hände in den Taschen, den unvermeidlichen Schirm über den Arm gehängt, die Melone ins Genick geschoben. Er blieb stehen, um eine der Statuen zu bewundern, die in der großen Eingangshalle aufgestellt waren.

 

»Ein sehr altes Haus«, sagte er. »Ich interessiere mich ganz besonders für diese englischen Landsitze. Wäre es möglich, daß ich das Haus besichtigen könnte?«

 

Major Olbude zögerte.

 

»Warum nicht?« meinte er schließlich. »Viele Zimmer sind allerdings abgeschlossen; wir benützen nur einen Flügel.«

 

Sie gingen von Zimmer zu Zimmer. Der große Wohnsalon war leer. Aber auf einem niedrigen Tisch bemerkte Mr. Reeder ein Buch. Es war aufgeschlagen und lag mit dem Rücken nach oben; jemand wünschte also unbedingt dort fortzufahren, wo er zuletzt gelesen hatte. Daneben lag eine Brille und ein Futteral. Reeder sagte nichts. Er ging weiter ins Speisezimmer mit der Täfelung und den künstlerisch verarbeiteten Fensterstöcken. Er bewunderte das geschnitzte Wappen des ursprünglichen Besitzers und lauschte aufmerksam, während Major Olbude die Geschichte von Sevenways Castle berichtete.

 

»Das obere Stockwerk wollen Sie doch sicher nicht sehen?«

 

»O doch. Die alten Schlafzimmer in diesen Landsitzen interessieren mich ganz besonders. Innenarchitektur ist mein Hobby«, erklärte Mr. Reeder entgegen aller Wahrheit.

 

Sie stiegen eine breite Treppe empor. Oben zog sich ein Korridor entlang. Die Türen führten zu den Schlafzimmern.

 

»Das ist das Zimmer meiner Nichte.«

 

Major Olbude öffnete eine Tür und gab den Blick auf ein düster wirkendes Zimmer mit Himmelbett frei. »Wie ich schon sagte, fuhr sie heute morgen nach Paris –«

 

»Und hinterließ alles in peinlichster Ordnung«, murmelte Mr. Reeder. »Sehr erfreulich bei einer modernen jungen Dame.«

 

Nichts ließ erkennen, daß der Raum bewohnt gewesen war. Es roch sogar ein wenig muffig.

 

»In diesem Flügel gibt es sonst nichts Interessantes zu sehen, außer meinem Schlafzimmer«, erklärte Major Olbude und führte seinen Gast an der Treppe vorbei. Er beschleunigte seine Schritte, aber Mr. Reeder blieb vor einer Tür stehen.

 

»Es gibt übrigens einen sehr berühmten Ausspruch eines Franzosen über einen englischen Landsitz«, erklärte Reeder feierlich. »Sprechen Sie – äh – Französisch?«

 

Olbude bemerkte etwas beschämt, daß er zwar Griechisch und Lateinisch gelernt habe, die modernen Sprachen aber leider nicht beherrsche.

 

»Der Franzose sagte folgendes«, erklärte Mr. Reeder und rief etwas auf französisch, und zwar sehr laut. Hätte der gute Major Olbude Französischkenntnisse besessen, dann wäre ihm folgendes zu Ohren gekommen: »Wenn Sie im Zimmer sind, bewegen Sie bitte Ihren Vorhang, sobald Sie mich vor dem Haus sprechen hören.«

 

»Ich sagte doch schon, daß ich das nicht verstehe«, erklärte Olbude etwas beleidigt.

 

»Der Franzose meinte«, übersetzte Mr. Reeder freundlich, »daß der Engländer unter einem guten Haus ein bequemes Bett in einer Festung versteht. Und jetzt«, meinte er, als sie die Treppe hinuntergingen, »würde ich gern das Haus von außen sehen.«

 

Sie wanderten den Kiesweg entlang, der parallel zur Rückseite des Hauses lief. Major Olbude wurde immer ungeduldiger; darüber hinaus zeigte er eine wachsende Besorgnis indem er sich ständig umsah, als erwarte er einen unwillkommenen Besucher. Mr. Reeder entging nichts.

 

Als er unter dem dritten Fenster rechts vom Eingang stand, sagte er laut, indem er auf eine entfernte Baumgruppe deutete: »Wurde dort Ihr Wildhüter überfallen?«

 

Während er sprach, warf er schnell einen Blick über die Schulter. Der Vorhang am dritten Fenster bewegte sich.

 

»Nein, das war auf der gegenüberliegenden Seite«, fertigte ihn der Major kurz ab.

 

»Jetzt wollen Sie sich wahrscheinlich das Zimmer Buckinghams ansehen? Die Polizei war heute morgen hier und hat alles durchsucht, also wird sich eine neuerliche Überprüfung wohl nicht lohnen. Soviel mir bekannt ist, wurde auch nichts gefunden.«

 

Mr. Reeder sah ihn nachdenklich an.

 

»Nein, ich glaube nicht, daß ich Buckinghams Zimmer sehen möchte, aber ich hätte nicht übel Lust, Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Darf ich das Innere der Schatzkammer sehen?«

 

»Nein, das dürfen Sie nicht.« Olbudes Stimme klang scharf und unfreundlich. Er schien das sofort zu bemerken, weil er hinzufügte: »Verstehen Sie mich recht, Mr. Reeder, meine Verantwortung ist sehr groß. Meine Aufgabe belastet mich so sehr, daß ich schon daran gedacht habe, das Gericht um Bestellung eines neuen Vermögensverwalters zu bitten.«

 

Sie waren in die Bibliothek zurückgekehrt. Mr. Reeder gab sich nicht länger als der ein wenig schüchterne ältere Herr. Er sprach knapp und befehlend.

 

»Ich möchte Ihre Nichte sprechen.«

 

»Sie ist nach Paris gefahren.« – »Wann?«

 

»Heute morgen, mit dem Wagen.«

 

»Ich möchte Sie etwas fragen. Ist Ihre Nichte kurzsichtig? Trägt sie eine Brille?«

 

Olbude ließ sich überrumpeln. »Ja. Der Arzt hat ihr eine Brille zum Lesen verordnet.«

 

»Wie viele Brillen hat sie?«

 

Major Olbude zuckte die Achseln.

 

»Was sollen diese albernen Fragen?« meinte er gereizt. »Soviel ich weiß, hat sie nur eine Brille, blaues Schildpatt –«

 

»Würden Sie mir dann freundlichst erklären, warum sie eine lange Reise antrat, ohne ihre Brille mitzunehmen? Sie liegt nämlich im Wohnsalon. Ich möchte ihr Zimmer sehen.«

 

»Das habe ich Ihnen bereits gezeigt«, erwiderte Olbude mit erhobener Stimme.

 

»Ich möchte das dritte Zimmer links von der breiten Treppe sehen.«

 

Olbude warf ihm einen Blick zu und lachte dann.

 

»Mein lieber Mr. Reeder, das ist doch sicherlich nicht die Art der Staatsanwaltschaft.«

 

»Es ist meine Art«, knurrte Mr. Reeder.

 

Nach einer längeren Pause sagte Major Olbude: »Gut, ich gehe hinauf und hole sie.«

 

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich mit.«

 

Vor der Tür zum Zimmer von Miss Lane Leonard zögerte Mr. Olbude.

 

»Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, obwohl ich nicht einsehe, daß Sie die Sache etwas angeht«, erklärte er. »Meine Nichte war sehr indiskret. Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, wollte sie mit einem Unbekannten entfliehen, der meines Wissens vorbestraft ist – das dürften Sie bestätigen können, weil Sie mit dem Fall zu tun hatten. Als ihr Vormund habe ich natürlich gewisse Pflichten, und meine Notlüge über ihre Reise nach Paris –«

 

»Vielleicht wird sie mir das alles selbst erklären.«

 

Major Olbude nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloß die Tür auf.

 

»Komm heraus, Pamela. Mr. Reeder möchte dich sehen.«

 

Sie trat ans Licht; ihre Augen waren unverwandt auf ihren Vormund gerichtet.

 

»Es trifft doch zu, daß du das Haus verlassen wolltest, und daß ich dich deswegen in deinem Zimmer eingesperrt habe?«

 

Sie nickte. Man konnte deutlich erkennen, daß sie vor Angst kein Wort herausbrachte. Reeder spürte jedoch, daß nicht der Major ihr diese Furcht einflößte.

 

»Das ist Mr. Reeder. Du hast ihn, glaube ich, gestern kennengelernt. Mr. Reeder scheint der Ansicht zu sein, daß hinter meiner erzieherischen Maßnahme etwas Unheimliches steckt. Habe ich dich in irgendeiner Hinsicht schlecht behandelt?«

 

Sie schüttelte den Kopf, aber so schwach, daß man es kaum bemerkte.

 

»Möchtest du Mr. Reeder irgend etwas sagen – irgendeine Beschwerde vorbringen? Mr. Reeder hat mit der Staatsanwaltschaft zu tun.« Olbudes Stimme nahm einen schwülstigen Klang an. »Wenn ich in irgendeiner Weise ungesetzlich gehandelt habe, wird er dafür sorgen –«

 

»Das ist doch alles ganz unnötig, nicht wahr, Major Olbude?« sagte Reeder ruhig. »Ich meine, dieses – äh – Einsagen und Drohen. Wenn ich mich vielleicht ein paar Minuten in der Bibliothek allein mit der jungen Dame unterhalten könnte –«

 

»Worüber? Sie möchten ihr ein paar Fragen über mich stellen, nicht wahr?« erkundigte sich Olbude.

 

»Merkwürdigerweise kam ich hierher, um Ermittlungen in der Mordsache Buckingham anzustellen. Wenn Sie damit etwas zu tun haben, werde ich ihr bestimmt Fragen über Sie stellen.« Er sah den anderen unverwandt an. »Wenn Sie allerdings in die Sache nicht verwickelt sind, haben Sie von unserem Gespräch auch nichts zu befürchten, Major Olbude. Kannten Sie Buckingham, Miss Leonard?«

 

»Ja«, sagte sie leise. »Aber nicht sehr gut. Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet.«

 

»Wir gehen wohl besser in die Bibliothek«, unterbrach Olbude mit stockender Stimme. »Ich glaube nicht, daß Ihnen Pamela helfen kann, aber da Sie darauf bestehen, sie zu verhören, werde ich Ihnen nichts in den Weg legen. Ich bin natürlich nicht begeistert davon, daß ein junges Mädchen gezwungen wird, über einen Mord zu sprechen, aber wenn das die Methoden der Staatsanwaltschaft sind, bitte sehr.«

 

Er führte sie in die Bibliothek zurück, machte aber keine Anstalten, sich zu entfernen, vielmehr setzte er sich in den bequemsten Stuhl und lauschte.

 

Sie wußte wenig über Buckingham. Mr. Reeder konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie sich nicht im mindesten für den Mordfall interessierte. Sie hatte das Bild in der Zeitung gesehen und die Aufmerksamkeit ihres Onkels auf den Fall gelenkt. Sie konnte nichts über die Schatzkammer berichten, da sie sie nur von außen gesehen hatte und auch keinen der Wächter kannte.

 

Olbudes Gegenwart schien ihr nichts auszumachen, aber bei jeder Antwort auf Reeders Fragen warf sie einen verängstigten Blick zur Tür, als erwarte sie jemanden. Mr. Reeder konnte sich durchaus vorstellen, wer das war.

 

Er sah auf die Uhr, und sein Benehmen änderte sich plötzlich. Er war zu dem Mädchen bisher sehr liebenswürdig gewesen, aber nun sagte er scharf: »Ihre Antworten befriedigen mich gar nicht, Miss Leonard. Ich muß Sie nach Scotland Yard mitnehmen und dort weiter verhören.«

 

Einen Augenblick lang sah sie ihn entsetzt an, dann begriff sie, und Erleichterung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Der Major erhob sich.

 

»Das ist eine ausgesprochene Anmaßung«, quakte er, »und ich glaube, daß ich Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen kann. Ich werde Ihnen etwas gestehen, Mr. Reeder. Ich habe diesen Buckingham gedeckt. Einen Grund dafür kann ich Ihnen auch nicht angeben, außer, daß ich meine Nichte vor der Neugier der Öffentlichkeit schützen wollte. Als ich heute morgen die Schatzkammer betrat, stellte ich fest, daß vier Behälter leer waren. Sie fragten mich, ob Sie den Tresor sehen konnten, und ich lehnte ab. Das war sehr unklug von mir, und wenn Sie wollen, kann ich nicht nur zu dem Diebstahl, sondern auch zum Verschwinden Buckinghams einiges sagen –«

 

»Zuerst möchte ich Ihnen etwas erzählen«, unterbrach ihn Reeder. »Eine alte Geschichte. Einen Teil davon erfuhr ich von einem ehemaligen Zögling Ihrer Schule, den Rest brachte ich selbst an den Tag.«

 

Major Olbude befeuchtete seine Lippen.

 

»Es ist eine Geschichte über einen Namensvetter von Ihnen«, fuhr Reeder fort, »einen recht schlauen Mann, der Offizier bei der Landwehr war. Er hatte sogar Ihren Rang, und wenn ich mich recht erinnere, hieß er mit dem Vornamen – äh – Digby.«

 

Er sah, wie sich Olbude verfärbte.

 

»Unglücklicherweise war er rauschgiftsüchtig«, erklärte Mr. Reeder, ohne seine Augen von dem Gesicht des anderen abzuwenden, »und man muß gerechterweise zugeben, daß er sich dieser Schwäche schämte. Als er so weit hinabsank, daß er mit Kokain handelte, nahm er einen anderen Namen an. Ich veranlaßte seine Verhaftung. Er gestand mir, daß er reiche Verwandte habe, die ihm helfen könnten. Er erwähnte sogar einen Schwager, namens Lane Leonard. Zu diesem Zeitpunkt war er, wie ich schon erwähnte, ziemlich tief gesunken. Ich bin nicht gerade ein Menschenfreund, aber ich habe eine Schwäche für Hilflose, und je hilfloser sie sind – desto mehr bemühe ich mich, etwas für sie zu tun. Der Erfolg gibt mir selten recht. Bei Major Digby Olbude konnte ich leider nichts erreichen. Ich blieb mit ihm nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in Verbindung, aber nach einiger Zeit tauchte er unter, und ich hörte nichts mehr von ihm, bis ich erfuhr, daß er im Krankenhaus St. Pancras verstorben war. Man beerdigte ihn unter dem Namen Smith, aber zum Unglück für alle Beteiligten hielt sich zur damaligen Zeit auch ein alter Bekannter von Olbude in dem genannten Krankenhaus auf. Dieser Bekannte nun wurde zum Verbindungsglied, über welches Lidgett den Unglücklichen aufspüren konnte.«

 

Olbude fand seine Stimme wieder. »Es gibt sehr viele Olbudes auf der Welt«, sagte er, »und Digby ist ebenfalls nicht selten. Vielleicht war er weitläufig mit mir verwandt.«

 

»Ich glaube nicht, daß er mit Ihnen verwandt war«, sagte Mr. Reeder sanft. »Es ist wohl besser, wenn ich mit Lidgett spreche, und dann möchte ich mit Scotland Yard telefonieren und den für den Fall Buckingham verantwortlichen Kriminalbeamten hierherbitten. Ich fürchte, das Ganze wird ziemlich unangenehm für Sie werden.«

 

»Ich weiß nichts über Buckingham«, erwiderte Olbude heiser. »Mit den Wachen hatte ich wenig zu tun. Ich bezahlte sie, und das war alles.«

 

»Wenn Sie sagen ›Wachen‹, meinen Sie natürlich nur einen Wächter«, erklärte Mr. Reeder. »Seit dem Tode Mr. Lane Leonards gab es keine Bewacher der Schatzkammer mehr. Der einzige war Buckingham gewesen. Es fiel mir wirklich nicht schwer, das herauszufinden. Haben Sie übrigens den Schlüssel zur Schatzkammer?«

 

Der andere schüttelte den Kopf.

 

»Mit einer Silberkette um den Hals?« meinte Mr. Reeder.

 

»Nein«, sagte Olbude brüsk. »Ich habe ihn nie gehabt. Lidgett trägt ihn bei sich.«

 

Mr. Reeder lächelte. »Ein Grund mehr, den unternehmungslustigen Chauffeur hierher zu bitten.«

 

Pamela hörte schweigend zu.

 

»Lidgett ist in seinem Zimmer«, erklärte Olbude schließlich. »Ich nehme an, daß es sehr ernst für mich werden wird?«

 

»Ich fürchte, ja«, erwiderte Reeder. Der Major biß sich auf die Unterlippe und sah zum Fenster hinaus.

 

»Nichts kann sehr viel schlimmer sein als das demütigende Dasein der letzten Jahre«, meinte er. »Ich habe mir nie vorstellen können, daß man für Reichtum einen so hohen Preis zahlen muß.«

 

Er sah das Mädchen mit wehmütigem Lächeln an.

 

»In dieser Schatzkammer befindet sich Gold im Werte von nahezu fünfhunderttausend Pfund«, fuhr er fort. »Ich habe neulich eine oberflächliche Berechnung angestellt. Lidgett war freundlich genug, mir die Schlüssel zu überlassen – es blieb ihm nichts anderes übrig, weil ich mich grundsätzlich weigerte, über den Inhalt der Schatzkammer eine Erklärung abzugeben, bis ich mich selbst davon überzeugt hatte, daß das Geld nicht völlig verschwunden ist.

 

Er und Buckingham besuchten gemeinsam Spielklubs. Mir ist nie ganz klargeworden, wie Buckingham sein Vertrauen gewann, aber ich könnte mir vorstellen, daß Buckingham für den Transport des Goldes nötig war. Ich möchte allerdings feststellen, daß ich nichts vom Diebstahl des Goldes wußte, obwohl ich einen gewissen Verdacht nicht loswurde. Als ich Lidgett den Diebstahl auf den Kopf zusagte, gab er offen alles zu und meinte, ich würde es nicht wagen, etwas gegen ihn zu unternehmen. Ich weiß, daß die beiden sehr viel stritten, und Miss Lane Leonard wird Ihnen erzählen können, daß es sogar zu Handgreiflichkeiten kam, bei denen Lidgett unterlag. Darauf wird wohl auch der Mord zurückzuführen sein. Und jetzt werde ich wohl besser Lidgett holen.«

 

Er verließ das Zimmer, ging die Treppe hinauf, den Korridor entlang bis zum Ende des linken Flügels und klopfte an eine Tür. Eine mürrische Stimme antwortete, und als er seinen Namen nannte, hörte er das Schlürfen von Schritten. Kurze Zeit später wurde der Schlüssel im Schloß umgedreht.

 

Lidgett trug einen Schlafrock. Sein Gesicht war bepflastert.

 

»Ist er endlich gegangen?« knurrte er.

 

Major Olbude schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein«, erklärte er gelassen. »Im Augenblick sitzt er mit Miss Lane Leonard in der Bibliothek.«

 

Lidgett riß die Augen auf. »Mit ihr? Er spricht mit ihr? Was zum Teufel soll das heißen?«

 

»Es soll heißen, daß ich Mr. Reeder die Wahrheit gesagt habe, soviel mir davon bekannt ist. Ich konnte ihm natürlich von den Umständen, die zum Mord an Buckingham geführt haben, nichts berichten, weil ich nicht weiß, was vorgefallen war. Ihre Betätigung am nächsten Tag in der Garage und das fleißige Wagen waschen lassen jedoch darauf schließen, daß der Mord in der Garage verübt wurde. Ich weiß, daß Sie im Ofen Kleidungsstücke verbrannt haben, aber das ist alles ganz unwichtig.«

 

Lidgett war sprachlos. Und dann, als er begriff, was das bedeutete, schrie er auf: »Du hinterhältiger …«

 

Mr. Reeder hörte zwei Schüsse, dann einen dritten. Er rannte die Treppe hinauf und erreichte den Schauplatz gemeinsam mit einem Diener. Als er in die Bibliothek zu Pamela zurückkehrte, war sein Gesicht ernst.

 

»Ich werde Sie nach London bringen, Miss Leonard«, sagte er. »Ich habe eines der Dienstmädchen gebeten, Ihre Sachen zu packen und sie herunterzubringen.«

 

»Ich kann doch selbst –« begann sie.

 

»Es ist nicht nötig.«

 

»Was ist passiert?« fragte sie.

 

»Wir unterhalten uns im Wagen darüber«, meinte Reeder.

 

Aber er löste sein Versprechen nicht ein. Er sagte ihr nicht einmal, daß der an einer Silberkette befestigte Schlüssel, den er in der Tasche trug, vom Hals des toten Lidgett stammte und noch mit Blutspritzern befleckt war.

 

*

 

»Die ganze Geschichte ist, soweit ich sie zusammenfügen konnte, einigermaßen kompliziert«, erklärte Mr. Reeder seinem Chef, »aber längst nicht so kompliziert, wie wir angenommen hatten. Aber das stellt sich ja immer wieder heraus.

 

Der echte Major Olbude war rauschgiftsüchtig und starb im Krankenhaus St. Pancras. Er war mit Lane Leonard verwandt und hatte früher auch geschäftlich mit ihm zu tun gehabt. Als Lane Leonard feststellte, daß er im Sterben lag, dachte er wieder an seinen Schwager und schickte Lidgett auf die Suche. Durch einen Glücksfall gelang es Lidgett, Olbude aufzuspüren. Er entdeckte, daß der Major im Armenfriedhof von St. Pancras begraben lag.

 

Nun muß man sich darüber im klaren sein, daß Lidgett recht intelligent war. Er wußte, daß die Vermögensverwaltung einem gerichtlich bestellten Treuhänder zufallen würde, wenn nicht umgehend von Lane Leonard ein Verwalter bestellt wurde. Und das hätte seine Entlassung bedeutet, da ihn Miss Pamela nicht leiden konnte. Er kam auf die Idee, einen falschen Major Olbude vorzuschieben, und seine Wahl fiel auf einen Mann, den er in einem Spielklub in der Dean Street kennengelernt hatte. Bei diesem Mann handelte es sich um einen hochtrabenden Lehrer, der vom Spielteufel besessen war und jede Woche einmal nach London fuhr.

 

Mr. Tasbitt war früher an der Fernleigh-Universität angestellt, wo auch Larry O’Ryan studierte. Es besteht gar kein Zweifel, daß Larry unschuldig war und es sich bei dem wirklichen Dieb um Tasbitt handelte. Lidgett, der sich auf den schlechten Gesundheitszustand seines Herrn verließ, brachte Tasbitt nach Sevenways Castle und stellte ihn als Major Olbude vor. Das Risiko war in Wirklichkeit sehr gering. Nur sehr wenige Leute kannten Olbude. Ich habe erst heute erfahren, daß sein Majorsrang auf Angabe beruhte. Er hatte nur zwölf Monate in der Landwehr gedient und war nur Lieutenant geworden. Aber das ist unwichtig.

 

Alles hätte geklappt, wenn Buckingham und Lidgett sich nicht in die Haare geraten wären, wahrscheinlich wegen der Aufteilung der Beute. Gemeinsam betrieben sie eine Grundstücksfirma, die zwar nicht gerade riesige Geschäfte tätigte, aber keineswegs schlecht florierte. Es ist mir inzwischen gelungen, Lidgetts Konto zu finden, und zu gegebener Zeit wird ein beträchtlicher Teil des fehlenden Geldes an den Eigentümer zurückgegeben werden.

 

Es war Pech für Tasbitt, daß O’Ryan sich in der Nähe meines Büros aufhielt, als er als Major Olbude zu mir kam. O’Ryan erkannte ihn sofort, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.«

 

Der stellvertretende Staatsanwalt stellte noch eine Frage: »Wird die junge Dame O’Ryan heiraten?«

 

Mr. Reeder nickte. »Ich denke schon«, erwiderte er würdig.

 

»Besteht denn nicht die Möglichkeit, daß er es nur auf ihr Geld abgesehen hat?«

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf. »Er besitzt selbst Vermögen«, meinte er ein wenig bedauernd.

 

*

 

Ende

 

Kapitel 1

 

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Diese Geschichte beginnt eigentlich mit einem Mann, der wenig Vertrauen in die Stabilität des Aktienmarktes setzte und es deshalb vorzog, seine Schätze in bar anzuhäufen. Mr. Lane Leonard war zwar kein Geizhals im engeren Sinn dieses Wortes, aber er hielt viel von der Realität des Reichtums, und praktisch ist nichts so real wie Gold. Und Gold hortete er in erstaunlichen Mengen. Aber es hätte ihn nicht befriedigt, das Gold in Kisten eingraben zu lassen; sein Gold mußte sichtbar und erreichbar sein – vor allem sichtbar. Deswegen häufte er seinen Reichtum in großen Behältern aus verstärktem Glas, die ihrerseits wieder in Stahldrahtkörbe eingelassen waren, denn Gold ist sehr schwer.

 

An der New Yorker Börse behauptete man, daß Lane Leonard ein Glückspilz sei, aber dieser Meinung konnte er sich nicht anschließen. Er war nicht Mitglied dieses illustren Kreises, sondern hatte ursprünglich begonnen, an der schwarzen Börse zu spekulieren und sich ein sehr bescheidenes Vermögen zu erwerben, das weniger durch sein eigenes Können als vielmehr durch einen glücklichen Zufall über Nacht rapide angewachsen war. Um ein Haar hätte dieses Ereignis seinen Bankrott bedeuten können. Drei Teilhaber, die mit ihm zusammengearbeitet hatten, verloren bei einer Baisse die Nerven und ließen ihn im Stich. Bevor er sich noch entscheiden konnte, ob er ihrem Beispiel folgen und alles abstoßen sollte, wurde von anderer, ihm unbekannter Seite die Baisse gestoppt. Der sensationelle Kursanstieg machte Mr. Lane Leonard zu einem reichen Mann. Er war zwar noch kein Millionär, aber es dauerte nicht mehr lange, bis ein weiterer Glückstreffer ihn auch diese Stufe erklimmen ließ. Hätte er Sinn für Humor besessen, dann wäre ihm klargeworden, wieviel Dank er Ereignissen schuldete, die von ihm nicht zu beeinflussen waren; da ihm dieser Charakterzug aber abging, führte er seinen Erfolg vor allem auf seinen eigenen Scharfsinn zurück. Es gab viele Leute, die die Illusion, daß er Verstand und Weitblick eines großen Finanziers besaß, nährten. Sein Schwager, Digby Olbude, erwies sich als einer seiner wortreichsten und vehementesten Schmeichler.

 

Lane Leonard stammte aus England, und er hatte auch eine Engländerin geheiratet, die New York haßte und sich nach Hamstead, einer netten Kleinstadt, zurücksehnte. Sie sah das Ziel ihrer Sehnsucht jedoch nie wieder, denn sie starb drei Jahre, nachdem ihr Mann seine Reichtümer und ein heimliches Begehren nach der amerikanischen Staatsbürgerschaft erworben hatte.

 

Zu dieser Zeit war John Lane Leonard bereits eine Autorität in allen Finanzangelegenheiten. Er schrieb Artikel für eine Londoner Wirtschaftszeitung, die nie veröffentlicht wurden, weil sie sich grundlegend von den Ansichten all derer unterschieden, die auch nur minimale Kenntnisse vom Wirtschaftsleben besaßen. Was immer Digby auch von ihnen halten mochte, er pries sie in den höchsten Tönen. Er trank damals sehr viel und spekulierte. Wenn er verlor, was häufig vorkam, bezahlte John Lane Leonard.

 

Sie trennten sich schließlich wegen einer Kleinigkeit von hunderttausend Dollar, und obwohl der Millionär auch diese Summe hatte aufbringen müssen, hätte er seinem Schwager am liebsten verziehen, weil er nie vergaß, daß Digby ihn bewunderte und ihm auch bei der Abfassung einer Broschüre über das Problem der Doppelwährung Hilfestellung geleistet hatte. Diese Broschüre wurde von den Experten der Wallstreet so lächerlich gemacht, daß Mr. Lane Leonard den Staub New Yorks von den Füßen schüttelte, sein Vermögen auf die Bank von England überwies, nach Kent zurückkehrte, Sevenways Castle kaufte und sich daranmachte, seine Theorien in die Praxis umzusetzen.

 

Er lernte eine hübsche Witwe mit Kind kennen und heiratete sie. Nach wenigen Jahren starb auch seine zweite Frau. Er änderte den Namen ihrer kleinen Tochter urkundlich von Pamela Dolby auf Pamely Lane Leonard und setzte sie als seine Erbin ein. Es war unbedingt nötig, daß eine Erbin vorhanden war, obwohl er einen männlichen Erben lieber gesehen hätte.

 

Zu dieser Zeit hatte er einen Fahrer namens Lidgett, einen jungen, vom Lande stammenden Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, dessen Haupteigenschaften Intelligenz, Schlauheit und Gewissenlosigkeit waren. Aber davon wußte Mr. Lane Leonard natürlich nichts. Lidgett brachte ihm eine Verehrung entgegen, die ihn sehr erfreute. Es fehlte eigentlich nur noch, daß sich Lidgett jedesmal vor seinem Herrn zu Boden geworfen hätte. Er wurde erster Chauffeur und vertrauter Diener. Mr. Lane Leonard pflegte ihm Vorträge über den Goldstandard zu halten, während er sich anzog, und Lidgett schüttelte stets in hilfloser Bewunderung den Kopf.

 

»Was Sie für einen Kopf haben, Mr. Leonard! Ich versteh‘ gar nicht, wie man das alles behalten kann! Ich glaube, ich müßte den Verstand verlieren!«

 

Plumpe Schmeicheleien, aber nicht ohne Wirkung. Mr. Lane Leonard eröffnete Lidgett seinen großen Plan bezüglich der Schaffung einer Goldreserve. Lidgett brauchte drei Wochen, bis ihm klarwurde, daß sein Arbeitgeber über reales Geld sprach – über runde, goldene Münzen, die einen hohen Wert besaßen. Von diesem Augenblick an war er sehr aufmerksam.

 

Mr. Leonard ging fleißig zur Kirche, meistens abends. Wenn sie sich in London aufhielten, mußte Lidgett im Wagen vor der St.-Georgs-Kirche am Hannover-Square warten, wobei er seinen Arbeitgeber, der ihn vom Vergnügen abhielt, wild verfluchte. In Soho gab es einen Spielklub, der Mr. Lidgett als zweites Heim diente. Sobald Mr. Leonard sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, verlor Lidgett keine Zeit, zu dem mit grünem Filz bezogenen Kartentisch zu eilen.

 

Sein Arbeitgeber war ein nachlässiger Mann, dem der Verlust von Fünfpfundnoten nicht weiter auffiel, und Lidgett hatte Glück am Spieltisch, mehr Glück als der würdige, ältere Herr, der nur in Dutch Harrys Spielklub zu kommen schien, um sein Geld zu verlieren.

 

Einmal borgte er sich zwanzig Pfund von Lidgett, und es fiel ihm einigermaßen schwer, den Betrag zurückzuzahlen. Joe Lidgett lernte ihn sehr gut kennen, ja, er konnte ihn sogar recht gut leiden. »Sie sollten das Spielen aufgeben, Mister. Dafür haben Sie nicht den Kopf.«

 

»Schon möglich, schon möglich«, erwiderte der andere kalt.

 

In den frühen Morgenstunden gingen der kleine Chauffeur und sein etwas aristokratischer Freund gelegentlich in ein Speiselokal, um einen Imbiß einzunehmen, bevor jeder seine eigenen Wege einschlug. Der unglückliche Verlierer zu seinem Frühzug, der ihn in die Provinz zurückbrachte, Mr. Lidgett zu seinen Pflichten als Diener und Chauffeur.

 

*

 

Im Verlaufe der vertraulichen Unterredungen mit seinem Diener kam Mr. Leonard auch auf seinen Schwager zu sprechen.

 

»Er ist einer der wenigen, die meine Theorien wirklich verstehen, Lidgett«, erklärte er. »Unglücklicherweise haben wir uns wegen einer Kleinigkeit verkracht, und ich habe seit vielen Jahren nichts mehr von ihm gehört. Ein kluger Finanzmann, Lidgett, wirklich sehr klug! In letzter Zeit fühle ich mich immer wieder versucht, mit ihm in Verbindung zu treten; er ist der einzige, dem ich meine Wünsche anvertrauen kann, wenn es stimmt, was dieser alberne Arzt behauptet.«

 

›Dieser alberne Arzt‹ war ein berühmter Spezialist, der etwas sehr Ernstes erklärt hatte, oder vielmehr, es wäre ernst gewesen, wenn sich Mr. Leonard als gewöhnlichen Sterblichen betrachtet hätte.

 

Von seiner Stieftochter sah er sehr wenig. Sie war in einem Internat, kam nur in den Ferien nach Hause und lauschte Mr. Leonards Vorträgen über den Goldwert ohne Verständnis. Sie beobachtete den Bau der ersten Schatzkammer, besichtigte die Stahltüren und war der Meinung, daß das Gewölbe ein wenig unheimlich wirkte. Nebenbei hörte sie, daß das alles um ihretwillen geschehe, aber das konnte sie nie richtig glauben.

 

Eines Tages erlitt Mr. Leonard einen Anfall, der eine einstündige Bewußtlosigkeit hervorrief. Als er sich erholt hatte, schickte er nach Lidgett.

 

»Lidgett, ich möchte, daß Sie sich mit Mr. Digby Olbude in Verbindung setzen«, erklärte er. »Seine Anschrift werden Sie vermutlich im Telefonbuch finden können.«

 

Er verkündete im einzelnen, was er von Mr. Olbude wollte, und Lidgett hörte interessiert zu. Digby Olbude sollte die Arbeit seines Schwagers fortführen und für eine Reihe von Jahren die Kontrolle über ein unermeßliches Vermögen ausüben.

 

Lidgett begab sich auf seine Erkundungstour, wobei er sich fragte, auf welche Weise er von der kommenden Veränderung profitieren konnte.

 

Digby Olbude war nicht schwer zu finden, obwohl er zweimal den Namen gewechselt hatte.

 

Der schlaue, kleine Chauffeur kehrte nachdenklich nach Sevenways zurück. Hier fand er einen Brief, der ihm von London aus nachgeschickt worden war, einen pathetischen, flehenden, wirren Brief in perfektem Englisch von dem älteren Herrn aus dem Spielklub.

 

Joe Lidgett hatte einen Einfall. Wenige Tage später fühlte sich sein Arbeitgeber etwas besser, so daß er ihn empfangen konnte. Lidgett berichtete über seine Suche nach Digby Olbude.

 

»Ich hätte ihn gern gesehen«, sagte Leonard mit schwacher Stimme. »Ich fürchte, mir geht es nicht allzu gut, Lidgett wo sind Sie?«

 

»Ich bin hier, Sir«, erwiderte Lidgett.

 

»Ich sehe nicht mehr recht gut.«

 

*

 

Der Mann, den Mr. Lidgett gefunden hatte, kam am nächsten Morgen mit dem Wagen. Er stieg mit einiger Nervosität zum Schlafzimmer des Sterbenden hinauf und wurde dem Rechtsanwalt vorgestellt, den Mr. Leonard aus London hatte holen lassen. »Das ist mein Schwager, Digby Olbude …«

 

Das Testament wurde unterschrieben und von den Zeugen gegengezeichnet. Es war charakteristisch für Lane Leonard, daß er nicht einmal nach seiner Erbin schickte oder eine Abschiedsnachricht hinterließ. Für ihn war sie nicht mehr als der Aufhänger für seine Theorien – dabei waren es nicht einmal seine eigenen Theorien.

 

Sie erfuhr in einem förmlichen Brief ihres neuen Vormunds vom Ableben Mr. Leonards, und zwar am selben Tage, als Larry O’Ryan sich entschloß, Einbrecher zu werden.

 

Larry O’Ryan, den man unter der Anklage, aus Mr. Farthingales Zimmer fünfundachtzig Pfund gestohlen zu haben, aus einer bekannten Schule ausgestoßen hatte, wäre nicht nur in der Lage gewesen, sich von dieser Beschuldigung reinzuwaschen, er hätte auch den wahren Schuldigen nennen können.

 

Er hatte keine Eltern mehr und auch keine Freunde. Wenn Creeds Bank seinem Vater gegenüber ein wenig großzügiger gewesen wäre, wenn der Panton Credit Trust ein ehrliches Unternehmen gewesen wäre, wenn die Medway und Western Bank nicht einen Verkauf erzwungen hätte, dann wäre Larry reich gewesen.

 

Es war kein Zufall, daß diese bedeutenden Firmen Kunden der Monarch Security Steel Corporation waren – aber davon später.

 

Larry haßte die Schule, haßte vor allem den hochtrabenden Lehrer, der mit Mr. Farthingale befreundet war und sein Arbeitszimmer benützte, wenn der Vorsteher ausgegangen war aber er sagte nichts. Wieviel galt schon sein Wort gegen das eines Lehrers? Er nahm also die Ausstoßung gelassen hin, weil er damit auch dem Zwang der Schule entfliehen konnte.

 

Außerdem wurden die fünfundachtzig Pfund zurückgegeben. Bevor Larry die Schule verließ, unterhielt er sich mit dem verängstigten Dieb und sagte ihm klar seine Meinung. »Ich gehe das Risiko ein, daß man mir nicht glaubt«, hatte er gesagt, »ich gehe zum Vorsteher und erkläre, daß ich Sie beim Öffnen der Geldkassette überrascht habe. Ich weiß nicht, wozu Sie das Geld gebraucht haben, aber das wird sich ja herausstellen.«

 

Der Beschuldigte hatte ihn beschimpft, aber schließlich war ihm nichts anderes übriggeblieben, als das Geld zurückzuerstatten. Die Leute glaubten, es sei Larry oder Larrys Vormund gewesen, der die Banknoten zurückgeschickt hatte, aber das stimmte eben nicht.

 

Larry ging in die Welt hinaus und suchte nach Arbeit. Er war Bote, Maschinenschreiber, Austräger. Keine Aussichten.

 

Er dachte eines Samstagabends darüber nach und beschloß, den Beruf eines Einbrechers zu ergreifen. Ein Jahr lang besuchte er eine Abendschule und lernte fleißig. Danach bekam er eine Stellung bei einer Panzerschrankfabrik in Wolverhampton.

 

Die Firma hatte Weltruf. Larry erfuhr alles über Schlösser und Sperrvorrichtungen, was wissenswert war. Er lernte jede Art von Schlüssel herzustellen. Im Garten hinter dem Haus, in dem er wohnte, befand sich ein kleiner Schuppen, in dem er bis in die Nacht hinein arbeitete.

 

Nachdem er Wolverhampton verlassen hatte, errang er sensationelle Erfolge. Creeds Bank verlor vierzigtausend Pfund in amerikanischen Banknoten. Niemand sah den Einbrecher kommen oder gehen. Die Stahltüren des großen Tresors waren mit einem Schlüssel geöffnet worden.

 

Dann kam der Panton Credit Trust an die Reihe. In weniger als zwei Stunden verschwanden hunderttausend Pfund.

 

Beim dritten Streich tappte Larry daneben. Das war vor allem auf die Vorsichtsmaßnahmen eines älteren Detektivs zurückzuführen, der die Medway und Western Bank beriet. Dieser Detektiv hatte nämlich entdeckt, welche Banken ihre Tresortüren von der Monarch Safe Corporation bezogen.

 

Ermittlungen bei der Panzerschrankfabrik führten auf die Spur von Larry O’Ryans.

 

»Es war mehr – äh – Glück als Voraussicht«, meinte Mr. Reeder entschuldigend, »daß es mir gelungen ist, diesem jungen Mann – äh – zuvorzukommen.«

 

Er konnte Larry vom ersten Gespräch an in einer Zelle im Bow-Street-Gefängnis gut leiden. Er hatte so gar nichts mit den anderen Verbrechern gemeinsam, die Mr. Reeder in seinem Leben kennengelernt hatte. Larry winselte und log nicht, er prahlte nicht, und er wich nicht aus. Mr. Reeder kannte seine Vergangenheit nicht, und er konnte auch nichts darüber herausfinden.

 

»Es ist sehr bedauerlich, daß Sie so schlau sind, Mr. Reeder. Das hätte mein drittes und letztes Auftreten als Einbrecher sein sollen – ich hatte eigentlich vor, als wohlhabender, ordentlicher Bürger zu leben, und im Lauf der Zeit hätte ich es sicherlich zum Friedensrichter gebracht!«

 

Mr. Reeder lächelte selten, aber jetzt konnte er ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

 

»Die anderen beiden geglückten Versuche als Einbrecher richteten sich doch wohl gegen – äh – Creeds Bank und den Panton Trust?«

 

Larry grinste. »Darüber wollen wir lieber nicht sprechen«, erklärte er höflich.

 

Mr. Reeder war jedoch nicht ohne weiteres bereit, das Thema zu wechseln, denn es galt, hundertundvierzigtausend Pfund wiederzubeschaffen.

 

»Ich würde Ihnen nicht empfehlen, Mr. O’Ryan«, sagte er sanft, »diese wichtigen Dinge zu verschweigen, vor allem den Verbleib einer beträchtlichen Summe, die diesen beiden Firmen entwendet wurde. Ein offenes Geständnis kann Ihnen sehr viel weiter helfen, wenn Sie – äh – vor einen Richter Ihrer Majestät gebracht werden. Ich verspreche durchaus nichts«, fügte er vorsichtig hinzu, »ich beziehe mich nur auf ähnliche Fälle, aber gewöhnlich sind die Richter bereit, bei der Urteilsverkündung die Ehrlichkeit des – äh – Beschuldigten bezüglich seiner früheren Missetaten in Betracht zu ziehen.«

 

Larry O’Ryan lachte. »Das ist ein hübsches Wort – Missetaten! Nein, Mr. Reeder – in aller Freundlichkeit, nein! Mit den beiden Einbrüchen, von denen Sie gesprochen haben, kann mich niemand in Zusammenhang bringen. Ich habe darüber gelesen und kenne natürlich die Tatsachen, soweit sie in der Zeitung veröffentlicht wurden. Darüber hinaus bin ich jedoch nicht bereit, auch nur das Geringste zuzugeben.«

 

J. G. Reeder gab sich noch nicht geschlagen. Er wisse, so erklärte er, daß O’Ryan bei einer gewissen Panzerschrankfabrik angestellt gewesen sei, er wisse ferner, daß die betroffenen Kreditinstitute ihre Tresore von der genannten Fabrik bezogen hätten, weshalb es gar keinem Zweifel unterliegen könne, daß O’Ryan auch für die beiden anderen Einbrüche verantwortlich sei. Aber Larry schüttelte den Kopf.

 

»Die Beweislast liegt bei der Anklagebehörde«, meinte er mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Ich würde Ihnen sehr gerne helfen, Mr. Reeder. Übrigens habe ich schon sehr viel von Ihnen gehört. Sie wohnen in der Brockley Road, Sie halten Hühner, Sie besitzen einen Schirm, der immer geschlossen bleibt, damit er nicht durch Regen Schaden erleidet, und Sie rauchen miserable Zigaretten.«

 

Mr. Reeder lächelte wieder. »Sie haben ja Anlage zum Detektiv«, sagte er. »Jetzt wollen wir einmal über Creeds Bank sprechen –«

 

»Reden wir lieber übers Wetter«, meinte Larry.

 

Ganz Scotland Yard, die Staatsanwaltschaft, Mr. Reeder, Spitzel, Zuträger und auch eine Anzahl lichtscheuer Gestalten machten sich auf die Suche nach den verschwundenen hundertvierzigtausend Pfund, aber es gelang nicht, genügend Beweise herbeizuschaffen, um Larry auch dieser beiden Einbrüche anzuklagen.

 

Nach geraumer Zeit erschien er vor einem Richter im Old Bailey und gab zu, mit Einbrecherwerkzeugen im Bankgebäude angetroffen worden zu sein. Nach einer ziemlich scharfen Verhandlung wurde er für schuldig befunden und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

 

Die Verhandlung wurde vor allem deshalb sehr scharf geführt, weil sich der Staatsanwalt in eine persönliche, deutlich spürbare Abneigung gegen den Angeklagten hineinsteigerte. Ein Grund dafür war nicht ersichtlich; es handelte sich um eines jener Vorurteile, die gelegentlich das Urteilsvermögen intelligenter Menschen trüben. Vielleicht hatte Larry irgendeine lässige Bemerkung beim Verhör von sich gegeben, die der Ankläger als persönliche Beleidigung betrachtete. Jedenfalls bezog er sich in seinem Abschlußplädoyer auf den Raubüberfall auf Creeds Bank und den Einbruch im Panton Trust. Bei der erstmaligen Erwähnung dieser Ereignisse unterbrach ihn der Richter und warnte ihn vor den Folgen seines Verhaltens, aber der Ankläger ließ sich nicht beirren. Obwohl kein Beweismaterial in dieser Hinsicht vorgelegt und dementsprechend auch keine Anklage erhoben war, zog er ständig Parallelen zu den beiden ersten Einbrüchen, betonte die Tatsache, daß der Angeklagte in jener Firma gearbeitet hatte, von denen die Banken ihre Tresore bezogen hatten. Währenddessen saß Larry mit verschränkten Armen auf der Anklagebank, und er konnte ein schwaches Lächeln nicht unterdrücken, denn er wußte, welche Chancen sich ihm hier boten.

 

Er legte Berufung ein; das Urteil wurde auf Grund von Verfahrensmängeln aufgehoben, und Larry O’Ryan mußte freigesprochen werden.

 

Sein erster Besuch führte ihn zu Mr. J. G. Reeder, nachdem er vorher schriftlich angefragt hatte, ob sein Erscheinen angenehm sei. Reeder bat ihn zum Tee, eine Ehre, die nur wenigen Menschen zuteil wurde. Larry erschien allerbester Laune.

 

»Darf ich Ihnen sagen«, meinte Mr. Reeder, »daß Sie ein großer Glückspilz sind?«

 

»Und wie!« erwiderte Larry. »Wer hätte schließlich gedacht, daß der Staatsanwalt einen solchen Fehler machen würde! – Mein Besuch ist Ihnen bestimmt nicht unangenehm?«

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf. »Wenn Sie nicht von selbst bei mir erschienen wären, hätte ich Sie eingeladen«, sagte er. Mit der Silberzange legte er ein Stück Kuchen auf Larrys Teller. »Es wäre Zeitverschwendung, Mr. O’Ryan, und sogar eine Verletzung des – äh – Gastrechts, wenn ich mich weiterhin auf diese unglückseligen Vorfälle bei Creeds Bank und dem Panton Trust beziehen würde. Als Detektiv und Beamter wäre ich äußerst glücklich, wenn ich einen Hinweis finden könnte, der Sie mit diesen – äh – Missetaten – dieses Wort gefiel Ihnen doch wohl – in Verbindung bringt.«

 

»Missetaten ist mein Lieblingswort«, murmelte Larry mit vollem Mund.

 

»Irgendwie habe ich jedoch das Gefühl, daß man Sie nicht überführen wird, und in gewisser Beziehung bin ich froh darüber. Das ist natürlich eine sehr unmoralische Feststellung«, fügte er hastig hinzu, »und gegen alle meine – äh – Prinzipien. Wie werden Sie sich jetzt Ihren Lebensunterhalt verdienen, Mr. O’Ryan?«

 

»Ich lebe von meinen Zinsen«, erwiderte Larry gelassen. »Mein Kapital im Ausland bringt mir jährlich rund siebentausend Pfund ein.«

 

Mr. Reeder nickte langsam. »Mit anderen Worten, fünf Prozent von hundertvierzigtausend Pfund«, murmelte er. »Eine hübsche Summe – eine sehr hübsche Summe.« Er seufzte.

 

»Sie scheinen sich nicht besonders darüber zu freuen«, meinte Larry belustigt.

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke an die armen Aktionäre von Creeds Bank –«

 

»Die gibt es nicht. Die Familie Creed besitzt sämtliche Anteile. Sie hat meinen Vater um hunderttausend Pfund geprellt – es war sogar noch ein bißchen mehr. Die genauen Einzelheiten sind mir nicht bekannt, aber ich weiß, daß es mindestens hunderttausend waren.«

 

J. G. Reeder sah zur Decke empor. »Das war also eine Art ausgleichender Gerechtigkeit!« sagte er langsam. »Und Pantons Trust?«

 

»Sie kennen die Firma doch«, entgegnete Larry ruhig. »Seit fünfundzwanzig Jahren wird dort durch Zusammenarbeit mit Schwindelfirmen Geld verdient. Der Trust schuldet mir weit mehr, als – er verloren hat.«

 

Mr. Reeder lächelte freundlich. »Beinahe wäre Ihnen herausgerutscht ›als ich genommen habe‹«, sagte er vorwurfsvoll.

 

»Wo denken Sie hin?« erwiderte Larry. »Nein, Sie brauchen Ihr Mitgefühl nicht an diese Banken zu verschwenden. Ich könnte Ihnen im übrigen auch über die Medway und Western Bank interessante Dinge mitteilen, aber ich verzichte darauf.«

 

»Wieder ausgleichende Gerechtigkeit, wie? Sie sind ja ein Romantiker!«

 

Mr. Reeder richtete sich auf, ergriff die Teekanne und goß seinem Gast ein.

 

»Ich werde Ihnen etwas versprechen. Wir reden nie mehr über diese Angelegenheit, aber es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mich besuchen würden, sobald Ihnen das Leben ein bißchen langweilig vorkommt. Gleichzeitig möchte ich Sie jedoch – äh – warnen, daß diese Besuche ein Ende haben, wenn Sie erneut den Wunsch haben sollten, bei anderen Banken, die – äh – ausgleichende Gerechtigkeit zu spielen. Dann müßte ich mein Bestes tun, Sie hinter Schlösser und Riegel zu bringen, die nicht von der bewußten Panzerschrankfabrik angefertigt wurden!«

 

Larry wurde regelmäßiger Gast im Hause an der Brockley Road. Wäre er ein anderer Mensch geworden, dann hätte er sicher Mr. Reeder verdächtigt, er kultiviere diese Bekanntschaft nur, um etwas über die beiden Einbrüche herauszubringen. Aber er kam gar nicht dazu, und Mr. Reeder freute sich sehr darüber.

 

Nur einmal kamen sie auf Larrys Vergangenheit zu sprechen. Sie hatten miteinander einen Abend in der Stadt verbracht. Mr. Reeder war es kurz vorher gelungen, das Beweismaterial über den Einbruch in der Zentralbank zu vervollständigen, und er fühlte sich müde. Sie saßen in einem kleinen Restaurant in Soho beim Abendessen, als Larry die Frage stellte: »Wissen Sie etwas über das Lane-Leonard-Vermögen?«

 

Mr. Reeder nahm sein Pincenez ab und polierte die Gläser.

 

»Bevor ich Ihnen antworte, hätte ich gern gewußt, was Sie mit dieser Frage bezwecken?«

 

Larry grinste. »Es besteht kein Grund zur Vorsicht. Ich werde Ihnen sagen, wie ich darauf komme – durch dieses Eisengitter da drüben vor der Kasse. Es hat beinahe dasselbe Muster wie jenes Gitter, das wir für Lane Leonard anfertigten. Vermutlich werden dort Pfandbriefe aufbewahrt. Die Firma besitzt jedenfalls einen der stärksten Tresore, die jemals an Unternehmen geliefert wurden, bei denen es sich nicht um eine Bank handelt.«

 

Mr. Reeder winkte einem Kellner und bestellte Kaffee.

 

»Sie meinen wahrscheinlich das Vermögen des verstorbenen John Lane Leonard. Ein Millionär, der vor drei Jahren das Zeitliche segnete und seiner Stieftochter ein riesiges Vermögen hinterließ – der genaue Betrag ist mir nicht bekannt, aber er muß zwischen einer und zwei Millionen Pfund liegen.«

 

»Und er war kein Bankier?« erkundigte sich Larry neugierig.

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf. »Nein. Soviel ich weiß, war er Börsenmakler in Amerika. Er scheint sehr viel spekuliert zu haben, und offensichtlich war er intelligent genug, das dabei verdiente Geld zusammenzuhalten. Sie sagen, daß er sich einen Tresor bauen ließ?«

 

Larry nickte. »Den stärksten, den ich je gesehen habe. Nicht sehr groß, aber dreifach verstärkte Stahlwände, zwei Türen sowie sämtliche Sicherungen, die es für Geld zu kaufen gab. Ich hab‘ ihn mir nach der Fertigstellung angesehen und auch mit den Fachleuten darüber gesprochen.« Er überlegte einen Augenblick. »Das muß übrigens kurz vor dem Tod von Lane Leonard gewesen sein. Ich erinnere mich jetzt, daß der Tresor nur wenige Monate vorher fertiggestellt worden war. Leonard muß eine Menge Wertpapiere besessen haben, aber warum hinterlegte er sie nicht bei einer Bank?«

 

Mr. Reeder sah ihn vorwurfsvoll an. »Es gibt viele Gründe, warum man Wertpapiere nicht bei der Bank beläßt«, meinte er, »und einer davon – äh – sind Sie.«

 

Mr. Reeder dachte auf dem Heimweg über diese Neuigkeit nach. Er versuchte, sich die Einzelheiten von Leonards Testament ins Gedächtnis zu rufen. Er hatte damals in der Zeitung davon gelesen, konnte sich aber nicht entsinnen, irgend etwas Bemerkenswertes daran gefunden zu haben.

 

Zu Hause zog er ein Nachschlagewerk zu Rate. Miss Lane Leonard, die Erbin, wohnte im Sevenways Castle, Grafschaft Kent. Mr. Reeders Pflichten hatten ihn noch nie in diese Gegend geführt, aber er erinnerte sich dunkel, eine Photographie des Schlosses gesehen zu haben, das früher einmal in königlichem Besitz gewesen sein mußte.

 

Kurze Zeit nach dem Gespräch mit Larry O’Ryan machte Mr. Reeder die Bekanntschaft von Mr. Buckingham. Dieses Zusammentreffen ergab sich in der Öffentlichkeit, was Mr. Reeder äußerst unangenehm war. Am gleichen Tage hatte er eine kleine Auseinandersetzung mit dem stellvertretenden Staatsanwalt gehabt.

 

»Ich möchte Sie nicht belästigen, Mr. Reeder«, hatte der Beamte erklärt, »nachdem ich weiß, daß Sie Ihre eigenen Methoden haben, aber es ist uns zu Ohren gekommen, daß Sie sich häufig mit einem Mann treffen, der im Old Bailey unter Anklage gestanden hat und dessen Verurteilung leider wieder aufgehoben wurde. Ich teilte den verantwortlichen Stellen mit, daß Sie wahrscheinlich versuchen, Informationen über die beiden anderen Einbrüche zu erhalten. Das trifft doch zu, nicht wahr?«

 

»Nein, Sir«, erwiderte Mr. Reeder, »das trifft ganz und gar nicht zu.« Mr. Reeder konnte sehr energisch sein. »Ich bemühe mich nicht einmal, diesen jungen Mann auf dem rechten Weg zu halten. Ein Detektiv gleicht in mancher Beziehung einem Journalisten, Sir. Er kann sich in jeder Gesellschaft sehen lassen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Ich kann Mr. O’Ryan sehr gut leiden. Er ist ein interessanter Mensch, und ich treffe mich mit ihm so oft, wie es mir paßt. Wenn man der Meinung ist, daß ich das Ansehen Ihrer Behörde belaste, bin ich jederzeit bereit, sofort meinen Rücktritt anzubieten.«

 

Das war ein Reeder, den der stellvertretende Staatsanwalt noch nicht kannte, von dem er aber gehört hatte – Mr. Reeder als Diktator.

 

»Ich verstehe gar nicht, warum Sie in diesem Ton –« begann er.

 

»Das ist genau der Ton, den ich Personen gegenüber anwende, die sich in mein Privatleben einmischen«, meinte Mr. Reeder.

 

Der stellvertretende Staatsanwalt telephonierte mit seinem Chef, der sich in der Provinz aufhielt, und der leitende Staatsanwalt sagte kurz und bündig: »Lassen Sie ihn um Himmels willen in Ruhe. Reeder ist durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen.«

 

Mr. Reeder machte sich also triumphierend auf in die Queen’s Hall, wo Larry ihn erwartete, und gemeinsam lauschten sie einem Konzert klassischer Musik, die J. G. Reeder völlig unverständlich blieb, die er aber über sich ergehen ließ, um seinen Begleiter nicht zu beleidigen.

 

»Herrlich!« sagte Larry, als die letzten Geigentöne im stürmischen Applaus untergingen.

 

»Außerordentlich«, stimmte Mr. Reeder zu. »Die Melodie habe ich zwar nicht wiedererkannt, aber er scheint sein Instrument schon zu beherrschen.«

 

»Sie sind ein Philister, Mr. Reeder«, stöhnte Larry, der Musik sehr liebte. Mr. Reeder schüttelte wehmütig den Kopf.

 

»Ich fürchte, daß ich mich dafür nie begeistern kann«, meinte er. »Ich habe für alte Lieder etwas übrig, zum Beispiel –«

 

»Gehn wir was trinken«, sagte Larry verzweifelt. Sie benützten die Pause, um den Erfrischungsraum aufzusuchen. Und hier trat Mr. Buckingham in Erscheinung.

 

Er war ein großer, breitschultriger Mann, mit rotem Gesicht, ungebändigtem Haarschopf und ziemlich kleinen Augen. Er schien getrunken zu haben, weil er Mr. Reeder glasig anstarrte und ihm dann eine große, häßliche Hand entgegenstreckte.

 

»Sie sind Mr. Reeder, nicht wahr?« meinte er heiser, »Ich wollte Sie schon besuchen, aber ich bin sehr beschäftigt. Und ausgerechnet hier trifft man sich! Ich habe Sie oft bei Gericht gesehen.«

 

Mr. Reeder nahm die Hand und ließ sie sofort wieder los. Er haßte feuchte Hände. Soweit er sich erinnern konnte, war er mit diesem Mann noch nie zusammengetroffen.

 

Der andere fuhr fort: »Ich heiße Buckingham. Ich war früher bei der Londoner Polizei.« Er beugte sich vor und fragte vertraulich: »Haben Sie schon jemals so etwas Gräßliches gehört?«

 

Offensichtlich bezog sich diese Bemerkung auf das Konzert. »Ich wäre ja nie hierhergekommen, aber meine Braut hat mich mitgeschleppt. Sie ist sehr intellektuell!« Er blinzelte. »Ich bring‘ sie her.«

 

Er tauchte in der Menge unter und kehrte kurze Zeit später mit einem blassen, häßlichen Mädchen zurück, das jedoch nicht so intellektuell zu sein schien, daß es Mr. Buckinghams Trostmittel verschmähte, denn auch die Augen des Mädchens waren glasig.

 

»Ich werde Sie jetzt demnächst mal besuchen und mich mit Ihnen unterhalten«, sagte Buckingham. »Ich weiß nicht, ob ich das tun muß, aber es kann sein. Wenn es dazu kommt, haben wir jedenfalls allerhand zu besprechen.«

 

»Ich bin überzeugt davon«, meinte Mr. Reeder.

 

»Man soll zur rechten Zeit stolz und zur rechten Zeit bescheiden sein«, fuhr Buckingham geheimnisvoll fort. »Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

 

Kurz darauf sah Mr. Reeder ihn mit einem kleinen Mann mit hartem, unsympathischem Gesicht sprechen. Auch dieser trug einen dunklen Anzug, darüber einen Mantel. Offensichtlich gehörte er nicht zu den Konzertbesuchern, weil ihn Mr. Reeder später hinausgehen sah.

 

»Wer war denn das?« fragte Larry.

 

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Reeder, und Larry lachte.

 

*

 

Zwei Tage später sah Mr. Reeder die beiden Männer wieder. Gegenüber dem Parlament, an der Nordseite der Westminster Bridge, hatte sich der Verkehr gestaut.

 

Mr. Reeder, der die Straße überqueren wollte, betrachtete die langsam vorbeifahrenden Fahrzeuge. Er sah einen grauen Lieferwagen mit Plane. Am Steuer saß der schmalgesichtige Mann, der ihm im Erfrischungsraum des Konzertsaals aufgefallen war, neben ihm Buckingham.

 

Die beiden Männer bemerkten ihn nicht. Der Lieferwagen schien schwer beladen zu sein, weil die Brücke nach unten durchhing. Seltsam, dachte Mr. Reeder, Kraftfahrer und ihre Helfer erscheinen gewöhnlich nicht elegant gekleidet in Konzertsälen, aber es gab eben viele merkwürdige Dinge.

 

*

 

Als Larry vierzehn Tage später bei Mr. Reeder erschien, hatte er über ein Abenteuer zu berichten.

 

»Sie sehen einen Helden vor sich«, erklärte er überschwenglich, als er seinen Mantel an einen Haken hängte. »Ich habe eine junge Dame gerettet! Mit jener seltenen Geistesgegenwart, die den O’Ryans angeboren ist, gelang es mir –«

 

»Es war nicht so sehr Geistesgegenwart, als vielmehr ein Laternenpfahl«, murmelte Mr. Reeder, »obwohl ich zugebe, daß Sie – äh – sehr schnell reagiert haben.«

 

Larry starrte ihn an. »Woher wissen Sie das denn?« fragte er.

 

»Ich war interessierter Zuschauer«, erklärte Mr. Reeder. »Das Ganze spielte sich in der Nähe des Büros ab, und ich sah zufällig aus dem Fenster. Ich fürchte, daß ich überhaupt sehr viel Zeit damit verschwende, aus dem Fenster zu sehen. Ein Wagen kam ins Schleudern und geriet auf den Gehsteig. Die junge Dame wäre sicherlich schwer verletzt worden, wenn es Ihnen nicht gelungen wäre, sie zur Seite zu reißen, bevor der Wagen auf den Laternenpfahl prallte. Ich habe natürlich applaudiert, aber stumm, weil im Büro absolute Ruhe verlangt wird. Ich glaube aber trotzdem, daß der Laternenpfahl fast ebensoviel –«

 

»Selbstverständlich, aber die junge Dame hätte verletzt werden können. Haben Sie sie gesehen?« fragte Larry eifrig. »Sie ist wunderschön!«

 

Mr. Reeder meinte, er finde sie interessant. Larry schnaubte. »Interessant! Sie ist einfach überwältigend. Ich war so begeistert, daß sie glaubte, ich hätte mich verletzt.«

 

Mr. Reeder nickte. »Ich hab‘ sie mir sogar ziemlich genau angesehen. Wer ist sie?«

 

Larry schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Heutzutage ist es ziemlich schwer, so etwas festzustellen, weil alle Frauen elegant gekleidet sind. Ich habe sie natürlich nicht nach ihrem Namen gefragt. Sie war ziemlich aufgeregt und hastete gleich davon. Ich sah sie in einen Rolls Royce einsteigen, der offensichtlich auf sie gewartet hatte –«

 

»Mit dem Kennzeichen ZU 2918«, sagte Mr. Reeder. »Ich habe den Wagen gesehen. Es ist sehr bedauerlich.«

 

»Das kann man wohl sagen. Wenn ich bei Verstand gewesen wäre, hätte ich ihr meinen Namen genannt. Zumindest könnte sie dann ihrem Retter brieflich danken.

 

»Nein, nein, so hab‘ ich das nicht gemeint.« Die Haushälterin betrat das Zimmer und deckte den kleinen Tisch. Erst als sie gegangen war, fuhr Mr. Reeder fort: »So hatte ich das nicht gemeint. Wenn Sie sich ihr vorgestellt hätten, wäre es Ihnen möglich gewesen, die junge Dame zu fragen, warum ein derart massiver Tresor bestellt worden war.«

 

Larry sah ihn verständnislos an. »Tresor? Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

 

Mr. Reeder lächelte. »Die junge Dame war Miss Lane Leonard«, sagte er.

 

Larry runzelte die Stirn. »Sie kennen Sie?«

 

»Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«

 

»Wie zum Teufel wissen Sie dann, daß Sie Miss Lane Leonard ist? Haben Sie ihr Bild gesehen?«

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf. »Nein.«

 

»Wieso wissen Sie dann Bescheid?« fragte Larry ziemlich ungeduldig.

 

Mr. Reeder lachte. »Das Kennzeichen des Rolls Royce genügte mir. Ich rief bei Scotland Yard an, und man teilte mir mit, wem der Wagen gehört. Miss Lane Leonard, 409 Berkeley Square und Sevenways Castle in Kent. 409 Berkeley Square ist übrigens ein elegantes Appartementhaus, so daß Sie ihr einen Brief schreiben können, wenn Sie wünschen, daß die junge Dame den Namen ihres Retters kennenlernen sollte.«

 

»Merkwürdig«, meinte Larry nachdenklich. »Erinnern Sie sich, daß wir erst vor ein paar Wochen über Lane Leonards Tresor gesprochen und uns gefragt haben, warum wohl jemand eine so teure Anlage erwirbt? – Die junge Dame ist also ein paar Millionen wert.«

 

»Es tut mir leid.« Mr. Reeder lächelte. »Ich habe Ihnen Ihre Romanze verdorben. Sie hätten es lieber gesehen, wenn es sich um ein armes, aber ehrliches Mädchen gehandelt hätte, dem Ihre Hilfe willkommen gewesen wäre.«

 

Larry wurde rot. Er wechselte das Thema.

 

Zum erstenmal erfuhr J. G. Reeder etwas über Larry O’Ryans Kindheit und die Umstände, die ihn zum Einbrecher hatten werden lassen.

 

»Ich bin froh, daß Sie mir das erzählt haben, Mr. O’Ryan. Es trägt zum Verständnis bei. Sie hätten natürlich zum Vorsteher der Schule gehen und die Wahrheit sagen sollen. Wenn Sie einmal älter sind, werden Sie mir recht geben.«

 

Larry nickte.

 

»Haben Sie den Mann, der das Geld genommen hat, seither gesehen?«

 

»Nein«, meinte Larry verächtlich. »Aber er sitzt sicher im Gefängnis. Nur ein minderwertiger Mensch konnte Farthingale, der selbst nicht viel besaß, Geld stehlen. Ich habe ihm übrigens letzte Woche fünfhundert Pfund geschickt, weil seine Frau im Krankenhaus liegt.«

 

»Fünfhundert Pfund?« sagte Mr. Reeder. »Nun, es ist ziemlich leicht, mit dem Geld anderer Leute großzügig zu sein, aber lassen wir das.« Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Einmal ein Gauner, immer ein Gauner – ist das Ihre Meinung, Mr. O’Ryan? Aber bei Ihnen trifft das wirklich nicht zu. Sie glaubten im Recht zu sein, als Sie auf eigene Faust das Unrecht ausgleichen wollten. Wenn jeder so dächte wie Sie – aber –«

 

Das Telephon schrillte. Mr. Reeder ging zu seinem Schreibtisch, nahm den Hörer ab und lauschte. Nur von Zeit zu Zeit stellte er kurze Fragen. Als er wieder aufgelegt hatte, sagte er: »Ich fürchte, aus unserem geselligen Abend wird nichts werden, O’Ryan. Man braucht mich im Amt.«

 

»Am Sonntagabend?« fragte Larry.

 

»Allerdings«, erwiderte Mr. Reeder. Er blätterte im Telefonbuch, wählte eine Nummer und gab genaue Anweisungen.

 

»Wenn Sie einen Wagen bestellen, dann muß es allerdings wichtig sein«, meinte O’Ryan.

 

»Gewiß«, sagte Mr. Reeder. »Es handelt sich um einen Mord.«

 

Kapitel 2

 

2

 

An diesem Sonntagmorgen hatte ein Polizist, der am Stadtrand von London in der Nähe von Slough seine Runde machte, einen Fuß aus dem Gras ragen sehen. Dort hätte eigentlich kein Fuß sein dürfen, in diesem unebenen Feld, durch das ein längst trockengelegter Bewässerungskanal lief. Der Polizist öffnete ein Gatter, wobei ihm Reifenspuren auffielen, die auf das Feld hinausführten. Er sah auch, daß die Kette, die das Gatter mit einem Pfosten verbunden hatte, abgerissen war.

 

Er ging durch das feuchte Gras bis zu dem Graben. Er fand dort einen Mann. Dieser trug nur Unterwäsche und Socken, und ein Blick auf sein Gesicht genügte.

 

Nach einigen Minuten kam ein Polizist auf dem Fahrrad vorbei. Er wurde sofort zum Revier geschickt.

 

Ein Polizeiarzt kam mit dem Krankenwagen, und die Leiche wurde fortgeschafft. Kaum eine Stunde später hatte Scotland Yard die Bearbeitung des Falles übernommen.

 

Für die Ermittlungen gab es kaum Anhaltspunkte. An der Kleidung des Mannes waren nicht einmal Wäschereizeichen festzustellen. Die Kriminalbeamten empfanden es als merkwürdig, daß die Unterwäsche aus sehr teurer Seide hergestellt war, obwohl der Tote offensichtlich körperliche Arbeit geleistet hatte, was allein schon an seinen Händen abzulesen war.

 

Auch die Überprüfung der Reifenspuren führte zu keinem Ergebnis. Es hatte sich um einen großen Wagen gehandelt, und die Leiche war vermutlich zwischen zwei und vier Uhr morgens auf das Feld gebracht worden.

 

Mr. Reeder war sich, als ihm die Tatsachen mitgeteilt worden waren, über eines sofort im klaren. Der Besitzer des Wagens mußte genau gewußt haben, was er tat. Er schien sowohl den Bewässerungsgraben als auch das mit einer Kette verschlossene Gatter gekannt zu haben.

 

Das Feld gehörte einer kleinen Firma, die Bauernhöfe und Grundstücke aufkaufte – der Land Improvement Corporation, mit einem Büro in der Stadt.

 

Es wurde dunkel, als Mr. Reeder seine persönlichen Ermittlungen beendete.

 

»Und jetzt möchte ich gern den Toten sehen.«

 

Sie führten ihn in den Raum, wo der Ermordete lag, und der diensthabende Inspektor berichtete über die ärztlichen Feststellungen.

 

»Er bekam einen gewaltigen Schlag auf den Schädel. Andere Verletzungszeichen sind nicht erkennbar, aber der Arzt meint, daß der Schädelbruch sofort den Tod herbeigeführt hat. Wahrscheinlich hat eine Eisenstange oder etwas Ähnliches Verwendung gefunden.«

 

Mr. Reeder sagte nichts. Er verließ den Raum und wartete, bis die Tür abgesperrt worden war.

 

»Wenn wir ihn nur identifizieren könnten –« begann der Inspektor.

 

»Ich kann ihn identifizieren«, sagte Mr. Reeder ruhig. »Er heißt Buckingham und war früher Konstabler bei der Londoner Polizei.«

 

Zwei Stunden später studierte Mr. Reeder im Büro des Inspektors in Scotland Yard die Personalakte Buckinghams. Sie war nicht besonders erfreulich. Buckingham hatte zwölf Jahre bei der Londoner Polizei gedient. Sechsmal war er wegen disziplinlosen Verhaltens verwarnt worden, und einmal hätte man ihn beinahe entlassen. Er war häufig betrunken angetroffen worden, und hatte sich schließlich von einem Verhafteten bestechen lassen. Dann hatte er seine Entlassung beantragt, um eine Stellung in der Provinz anzutreten. Einzelheiten darüber waren nicht bekannt. Die Unterlagen enthielten lediglich seine letzte Anschrift.

 

Reeder fuhr selbst zum Stadtteil Southwark, wo Buckinghams Frau in einer Arbeitersiedlung wohnte. Er teilte ihr den Tod ihres Mannes mit. Sie nahm die Nachricht gelassen auf.

 

»Ich habe ihn schon seit drei oder vier Jahren nicht mehr gesehen«, erklärte sie. »Die einzige Unterstützung, die er mir je geschickt hat, waren fünf Pfund am letzten Weihnachtsfest, und das hätte ich auch nicht bekommen, wenn ich ihm nicht auf der Straße mit einem Mädchen begegnet wäre und Skandal gemacht hätte.«

 

Mr. Reeder erkundigte sich, wo ihr Mann zuletzt beschäftigt gewesen sei. Sie konnte darüber jedoch keine Auskunft geben.

 

»Er war mir ein sehr schlechter Mann. Er ist tot, und ich will nichts gegen ihn sagen. Aber trauern will ich nicht um ihn. Er hat mich dreimal verlassen, und einmal hat er mir sogar ein Auge blaugeschlagen. Das rechte«, fügte sie hinzu.

 

Mr. Reeder fragte sich, warum die Tatsache, daß es sich um das rechte Auge gehandelt hatte, größere Entrüstung verursachte, aber er stellte in dieser Richtung keine weiteren Ermittlungen an.

 

Die Frau konnte ihm lediglich berichten, daß ihr Mann eine Stellung in der Provinz angenommen hatte, daß er viel Geld verdiente und beim letzten Zusammentreffen elegant gekleidet gewesen sei.

 

»Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, und er sah aus, als hätte er ein Vermögen geerbt. Sonst hätte ich ihn nicht um Geld gebeten.«

 

Soviel ihr bekannt war, hatte er keine Freunde.

 

»Sie wissen auch nicht, in welcher Gegend des Landes er gearbeitet hat? Haben Sie eine Ahnung, von welchem Bahnhof er kam?« fragte Mr. Reeder.

 

Sie überlegte eine Weile. »Ja, vom Bahnhof Charing Cross. Mein Bruder hat ihn vor zwei Jahren dort getroffen.«

 

Mr. Reeder kehrte zum Yard zurück, um mit den anderen Beamten zu sprechen. Er erfuhr, daß man auch dort nicht weitergekommen war. Es gab noch eine Frau in London, die ihm weiterhelfen konnte: die ›intellektuelle‹ Dame mit dem blassen Gesicht, mit ihrer Vorliebe für klassische Musik und scharfe Getränke.

 

Am nächsten Morgen ging er zum Konzertsaal und erkundigte sich bei dem Saaldiener. Er hatte Glück. Die junge Dame war bekannt. Sie hieß Miss Letzfeld und war dem Saaldiener vor allem deswegen im Gedächtnis geblieben, weil sie einmal einen Beschwerdebrief an die Direktion gerichtet hatte. Der Brief wurde gefunden und damit auch die Anschrift: Breddleston Mews in der Nähe des Cavendish Square.

 

Mr. Reeder fuhr sofort dorthin. Nachdem er mehrmals an die Tür geklopft hatte, hörte er Schritte auf der Treppe. Das junge Mädchen, blasser noch als sonst, öffnete.

 

Zu seiner Überraschung erkannte sie ihn.

 

»Sie heißen Reeder, nicht wahr? Hat Billy Sie mir nicht vorgestellt – in der Queens Hall? Sie sind Detektiv, nicht wahr?« Sie sah ihn scharf an. »Ist irgend etwas passiert?«

 

»Kann ich ‚raufkommen?« fragte er.

 

Sie stieg vor ihm die schmale, steile Treppe hinauf.

 

Das Zimmer, in das sie ihn führte, war mit teuren Möbeln angefüllt, denen aber der Mangel an Pflege anzumerken war. Auf einem Tisch standen die Reste einer Mahlzeit. Auf einem Stuhl lag Unterwäsche, die sie schnell entfernte.

 

»Ich möchte Ihnen gleich sagen, Mr. Reeder«, erklärte sie, »daß ich überhaupt nichts weiß, wenn etwas passiert sein sollte. Billy war sehr nett zu mir, aber er geht einem auf die Nerven. Ich weiß nicht, woher er sein Geld hat, und ich habe ihn auch nie gefragt.«

 

Mr. Reeder hatte die unangenehme Pflicht, ihr von dem Schicksal Buckinghams zu berichten. Wieder mußte er feststellen, daß die Wirkung ausblieb. Sie war schockiert, aber persönlich nicht berührt.

 

»Das ist furchtbar, nicht wahr?« sagte sie atemlos. »Billy war ein netter Kerl, wenn auch nicht besonders intelligent. Ich habe ihn nur von Zeit zu Zeit getroffen, alle vierzehn Tage einmal, gelegentlich auch wöchentlich.«

 

»Wo stammt er her?« fragte Reeder.

 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Er hat mir nie etwas erzählt. Er hat in der Provinz für einen sehr reichen Mann gearbeitet. Ich weiß nicht einmal, wo das war.«

 

»Hatte er viel Geld?«

 

»Billy? Ja, er hatte immer genug Geld und konnte sich ein angenehmes Leben leisten. Irgendwo in der Stadt besaß er ein Büro. Anscheinend hatte er etwas mit Grundstücken zu tun. Das hat er mir zwar auch nicht selbst erzählt, aber ich sah ein Telegramm, das er hier liegenließ. Es war an eine Sowieso-Land-Corporation gerichtet –«

 

»Die Land Development Corporation?« fragte Mr. Reeder schnell. »Können Sie sich an die Anschrift erinnern?«

 

Sie war ihrer Sache nicht sicher, glaubte aber, das Büro müsse irgendwo in der City sein.

 

Von Buckinghams persönlicher Habe befand sich nichts in der Wohnung, außer einer vor etwa einem Jahr aufgenommenen Photographie. Mr. Reeder nahm das Bild mit und fuhr in die City.

 

Die Land Development Corporation hatte ihr Büro in einem der großen Geschäftshäuser in der Nähe des Mansion House. Es bestand aus drei Zimmern, in denen ein Angestellter und eine Stenotypistin arbeiteten, und einem kleinen, einfach eingerichteten Raum, den der Geschäftsführer bei seinen nur gelegentlichen Besuchen benützte.

 

Eine Stunde lang stellte Mr. Reeder Fragen an die beiden Angestellten, und als er nach Scotland Yard zurückkam, standen so viele Tatsachen zu seiner Verfügung, die sich teils widersprachen, teils überhaupt nicht miteinander vereinbar waren, daß er Schwierigkeiten hatte, ein vernünftiges Bild zu gewinnen.

 

Er verfaßte folgenden knappen Bericht:

 

›In Sachen William Buckingham.

 

Ermittlungen bei der Land Development Corporation. Die genannte Firma wurde vor zwei Jahren handelsgerichtlich eingetragen. Sie weist ein Kapital von tausend Pfund und Obligationen im Wert von dreihunderttausend Pfund auf. Als Direktoren fungieren der Angestellte, die Stenotypistin und ein William Buck, bei dem es sich sehr wahrscheinlich um William Buckingham handelt. Das Bankguthaben beträgt dreizehnhundert Pfund. Die Firma besitzt eine große Anzahl von Grundstücken in Südengland, die offensichtlich in der Absicht erworben wurden, Siedlungen zu bauen. Eine beträchtliche Anzahl der Grundstücke wurde weiterverkauft. Mr. Buck war unzweifelhaft Buckingham. Er kam sehr selten ins Büro und unterzeichnete dort nur Schecks. Erhebliche Beträge wurden auf die Bank einbezahlt und wieder abgehoben. Eine oberflächliche Überprüfung der Unterlagen ließ erkennen, daß es sich um echte Geschäftsvorgänge handelte. Eine genauere, allerdings auch nicht vollständige Überprüfung ergibt beträchtliche Lücken in der Buchführung. Das Feld, in der die Leiche Buckinghams aufgefunden wurde, gehört ebenfalls der Firma, und Buckingham muß die dortige Gegend sehr gut gekannt haben, obwohl bemerkenswert ist, daß er sich dort kürzlich zweimal während der Nacht aufgehalten hat…‹

 

*

 

Am nächsten Morgen erschien das Bild Buckinghams in allen Londoner Zeitungen. Bis zum Nachmittag rührte sich nichts.

 

Mr. Reeder saß in seinem Büro und studierte Akten über Kokainschmuggel, als der Bote eine Visitenkarte hereinbrachte. ›Major Digby Olbude‹ stand darauf und in der linken unteren Ecke ›Lane Leonard Vermögensverwaltung, Sevenways Castle, Kent‹.

 

Mr. Reeder lehnte sich in seinen Sessel zurück, fingerte an seinem Pincenez herum und las die Karte noch einmal.

 

»Bitten Sie Major Olbude herauf«, sagte er.

 

Major Olbude war groß und weißhaarig. Er sah blühend aus und sprach ein wenig geziert.

 

»Ich bin wegen eines gewissen Buckingham zu Ihnen gekommen. Sie leiten doch die Ermittlungen?«

 

Mr. Reeder neigte den Kopf. Er dachte gar nicht daran, diesen interessanten Besucher an den eigentlich zuständigen Kriminalbeamten weiterzuleiten.

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Major Olbude?«

 

Er stand auf und zog einen Stuhl für seinen Besucher heran; Major Olbude schob zur Schonung seiner Bügelfalten die Hosenbeine etwas hoch und setzte sich.

 

»Ich habe das Bild in der Morgenzeitung gesehen – das heißt, meine Nichte machte mich darauf aufmerksam –, und ich fuhr sofort hierher, weil ich es für meine und überhaupt die Pflicht eines jeden guten Staatsbürgers halte, die Polizei bei ihrer Arbeit zu unterstützen.«

 

»Sehr erfreulich«, murmelte Mr. Reeder.

 

»Buckingham stand in meinen Diensten. Er war einer der Wächter der Schatzkammer von Sevenway Castle, wie die Bezeichnung im Volksmund lautet.«

 

Wieder nickte Mr. Reeder, als sei ihm das alles genau bekannt.

 

»Wie ich schon sagte, liest meine Nichte die Zeitungen. Eine Angewohnheit, zu der ich mich nicht entschließen kann, weil in diesem Zeitalter der Sensationen die Presse einem geistig interessierten Menschen nichts zu bieten hat. Buckingham war bei dem verstorbenen Mr. Lane Leonard angestellt gewesen, und nach Mr. Lane Leonards Ableben nahm ich als Mr. Lane Leonards Schwager und alleiniger Vermögensverwalter den Mann in meine Dienste. Ich darf vielleicht noch erwähnen, daß Mr. Lane Leonard, wie allgemein bekannt ist, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt starb und ein beträchtliches Vermögen hinterließ, das zu achtzig Prozent aus Barren bestand.«

 

»Aus Gold?« fragte Mr. Reeder überrascht.

 

Major Olbude neigte den Kopf. »Mein Schwager war in dieser Hinsicht sehr sonderbar. Er hat sein Vermögen durch Spekulation erworben und befürchtet nun, daß es seinen Nachkömmlingen – unglücklicherweise hat er nur eine Tochter – auf dieselbe Weise unter den Händen zerrinnen würde. Außerdem setzte er kein Vertrauen in Wertpapiere. Er mißtraute allen Banken, und daraus ergab sich, daß er zu seinen Lebzeiten Gold im Wert von über eineinhalb Millionen Pfund erwarb. Die Barren wurden und werden noch in einer Kammer aufbewahrt, die er eigens innerhalb der Schloßmauern errichten ließ. Zur Bewachung stellte er eine Mannschaft von ehemaligen Polizisten an, die abwechselnd Tag und Nacht Dienst tun. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, Mr. Reeder, daß mein Schwager auf diese Weise seine Tochter um ein ganz beträchtliches Einkommen brachte, da fünf Prozent Zinsen von eineinhalb Millionen Pfund pro Jahr fünfundsiebzigtausend Pfund ausmachen. In zehn Jahren ergibt sich ein Betrag von einer dreiviertel Million, so daß mein Mündel auf Grund der Bestimmungen des Testaments nahezu vierhunderttausend Pfund verliert. Der gleiche Betrag entgeht praktisch dem Staat.«

 

»Äußerst bedauerlich«, meinte Reeder und schüttelte trauernd den Kopf, als erschüttere ihn der Gedanke an das leer ausgegangene Finanzamt aufs tiefste.

 

»Ein weiteres Kapital ist in hochwertigen Regierungspapieren angelegt«, fuhr Major Olbude fort, »von deren Ertrag meine Nichte und ich leben. Selbstverständlich macht mir die Aufsicht über ein derart großes Vermögen ständig schwere Sorgen – vor zwei Jahren bestellte ich deswegen einen völlig neuen Tresor, dessen Bau mit großen Kosten verbunden war.« Er machte eine Pause.

 

»Und Buckingham?« erkundigte sich Mr. Reeder sanft.

 

»Darauf komme ich noch zu sprechen«, erklärte der Major würdevoll. »Er war einer der angestellten Wächter. Insgesamt sind es sieben. Jeder hat eine eigene Wohnung, und nach den von mir erlassenen Richtlinien sollen diese Männer nur dann zusammentreffen, wenn sie sich ablösen. In der Praxis betätigt die diensthabende Wache eine Klingel in der Wohnung des Ablösenden, der sofort die Schatzkammer aufsucht und nach Überprüfung seiner Person eingelassen wird. Buckingham hätte Samstagnacht um sechs Uhr seinen Dienst antreten sollen. Der diensttuende Wächter läutete wie gewöhnlich, aber Buckingham erschien nicht. Nach einer Stunde setzte sich der Wächter telefonisch mit mir in Verbindung – zwischen meinem Arbeitszimmer und der Schatzkammer wurde eine Telefonleitung gelegt –, und ich machte mich sofort auf die Suche nach Buckingham. Sein Zimmer war leer, und ich beauftragte einen Ersatzmann, seinen Platz einzunehmen.«

 

»Seitdem haben Sie Buckingham nicht mehr gesehen?«

 

Major Olbude schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Weder gesehen noch etwas von ihm gehört.«

 

»Welches Gehalt erhielt Buckingham?«

 

»Zehn Pfund pro Woche sowie freie Station. Alle Wächter wurden durch die Schloßküche versorgt.«

 

»Hatte er Vermögen?«

 

»Keineswegs«, erklärte der andere nachdrücklich.

 

»Würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen sage, daß er in großem Umfang mit Grundstücken spekuliert hatte?« fragte Mr. Reeder.

 

Major Olbude erhob sich. »Ich wäre überrascht und entsetzt«, meinte er.

 

»Gibt es eine Möglichkeit, daß er Zugang zu der – äh – Schatzkammer selbst erlangen konnte?«

 

»Nein, Sir«, sagte Olbude, »auf gar keinen Fall. Der einzige Zugang führte durch die Tür, zu der ich den Schlüssel besitze. Die Wände bestellen aus vierzig Zentimeter dickem Beton, der mit Stahlplatten verkleidet ist. Die Schlösser sind diebessicher.«

 

»Und das Fundament?« meinte Mr. Reeder.

 

»Zweieinhalb Meter massiver Beton. Völlig ausgeschlossen.«

 

Mr. Reeder rieb sein Kinn und starrte auf den Schreibtisch.

 

»Betreten Sie die – äh – Schatzkammer oft?«

 

»Jawohl, Sir, am Ersten jedes Monats. Mit anderen Worten, am letzten Freitag befand ich mich in der Schatzkammer.«

 

»Und nichts war verändert worden?«

 

»Nichts«, sagte Olbude nachdrücklich.

 

»Ich nehme an, daß sich die Barren in Stahlkästen befinden?«

 

»In großen Glasbehältern. Das war einer von Mr. Lane Leonards exzentrischen Einfällen. Es sind etwa sechshundert Stück, von denen jeder Gold im Werte von fünfundzwanzigtausend Pfund enthält. Man kann auf einen Blick erkennen, ob sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Die Behälter sind hermetisch verschlossen und versiegelt. Sie stehen auf verstärkten Betonregalen in acht Reihen nebeneinander, und zwar an drei Seiten der Schatzkammer.

 

In jeder Reihe befinden sich fünfundsiebzig Behälter. Ich muß noch hinzufügen, daß die Schatzkammer aus zwei Gebäuden besteht: der inneren Kammer, in der das Gold aufbewahrt wird, und einem zweiten, davon getrennten Gebäude. Das äußere Bauwerk enthält eine kleine Wohnküche, mit Tischen, Stühlen und den nötigen Bequemlichkeiten für die Wache. Daran schließt sich ein Vorraum, der ebenfalls durch eine Stahltür abgeschlossen ist. Davor befindet sich ein Eisengitter, über dem ein Scheinwerfer angebracht ist, der dem diensthabenden Wächter gestattet, seine Ablösung genau zu überprüfen und sicherzustellen, daß es sich dabei um den Richtigen handelt.«

 

»Erstaunlich«, sagte Mr. Reeder. »Können Sie mir sonst noch etwas über Buckingham sagen?«

 

Mr. Olbude zögerte. »Nein, außer, daß er häufiger nach London fuhr als die anderen Wächter. Dafür trage allerdings ich die Verantwortung. Ich ließ ihm größere Freiheit, weil er der dienstälteste Wächter war.«

 

»Erstaunlich«, wiederholte Mr. Reeder. »Ich möchte gern nach – äh – Sevenways Castle fahren und mir die Wohnung Buckinghams ansehen«, meinte er. »Es wird auch nötig sein, seine Habe zu durchsuchen. Hatte er Freunde?«

 

Olbude nickte. »Ja, ich glaube ein Mädchen in London. Ich kenne es nicht. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mr. Reeder, ich glaube, daß er verheiratet war, obwohl er nie von seiner Frau sprach. Aber was meinten Sie vorhin, als Sie von seinem Vermögen sprachen? Das ist mir völlig neu.«

 

*

 

J. G. Reeder kratzte sich am Kinn und zögerte. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich zu der Feststellung berechtigt bin, daß er eine Grundstücksfirma leitete, aber nachdem seine Angestellten ihn nach der Photographie identifiziert haben –«

 

Er erzählte von der Land Development Corporation, und Major Olbude, der gespannt zugehört hatte, sagte schließlich: »Dann wurde er also auf einem seiner eigenen Grundstücke gefunden? Merkwürdig. – Ich fürchte, daß ich Ihnen nicht weiter behilflich sein kann«, sagte er, als er Hut und Stock nahm, »aber ich stehe Ihnen natürlich jederzeit zur Verfügung, wenn Sie Fragen zu stellen haben. Ich notiere meine Telefonnummer auf die Visitenkarte, und Sie können mich jederzeit anrufen.«

 

Er nahm einen Bleistift und schrieb ein paar Zahlen auf seine Karte, während Mr. Reeder ihn interessiert beobachtete.

 

Er begleitete seinen Gast die Treppe hinunter und kam gerade rechtzeitig, um Zeuge eines merkwürdigen Vorfalls zu werden. Am Randstein war ein Rolls Royce geparkt, daneben standen drei Personen. Das Mädchen erkannte er sofort. Larry drehte ihm zwar den Rücken zu, aber es fiel Mr. Reeder nicht schwer, ihn zu identifizieren. Die dritte Person war offensichtlich der Chauffeur, der den Wagen steuerte. Sein Gesicht war gerötet und er fuchtelte wild mit den Händen herum. Mr. Reeder hörte ihn sagen: »Sie haben kein Recht, die junge Dame anzusprechen, und wenn Sie etwas zu sagen haben, dann bitte in Englisch, damit ich Sie verstehen kann.«

 

Major Olbude beschleunigte seine Schritte, trat zu der Gruppe und herrschte den Chauffeur an: »Warum machen Sie eine Szene?«

 

Larry O’Ryan hatte sich entfernt, was Mr. Reeder überraschte, weil Larry aus unangenehmen Situationen niemals den Rückzug antrat.

 

Mr. Reeder folgte Major Olbude, dem nichts anderes übrigblieb, als ihn vorzustellen. »Das ist meine Nichte, Miss Lane Leonard«, meinte er.

 

Selbst Mr. Reeder mußte zugeben, daß sie außergewöhnlich schön war.

 

Auffallend war die Blässe ihres Gesichts. »Was ist denn los, meine Liebe?« fragte der Major.

 

»Ich habe einen Bekannten getroffen – den Mann, der mich vor einem Unfall bewahrt hat«, erklärte sie stockend. »Ich habe mit ihm französisch gesprochen.«

 

»Er kann recht gut Englisch«, knurrte der unsympathisch wirkende Chauffeur.

 

»Halten Sie den Mund! – War das alles, meine Liebe?«

 

Sie nickte.

 

»Du hast dich doch wohl bedankt? Ich erinnere mich, daß du sagtest, bisher nicht die Gelegenheit zum Dank gefunden zu haben. Er ging weg, bevor du etwas sagen konntest. Und der Vorfall ereignete sich in Whitehall?«

 

»Ja«, erwiderte sie.

 

Mr. Reeder spürte, daß sie ihn durchdringend ansah. Er bemerkte auch, daß ihre behandschuhte Hand zitterte.

 

Major Olbude drehte sich um und schüttelte ihm die Hand. »Wir werden uns ja sicher wiedersehen, Mr. Reeder«, sagte er.

 

Er wandte sich abrupt um, half dem Mädchen in den Fond, und der Wagen fuhr davon. Reeder sah sich nach Larry um, bemerkte ihn in einem Hausgang, mit dem Rücken zur Straße.

 

Als der Wagen verschwunden war, kam Larry auf ihn zu.

 

»Entschuldigung«, sagte er, »aber ich wollte mit Ihnen sprechen.«

 

Seine Augen blitzten und er schien erregt zu sein.

 

»Sie haben die junge Dame kennengelernt?«

 

»Ja. Sehr interessant, nicht wahr?«

 

»Warum haben Sie sich nicht gleich dem Onkel vorstellen lassen?«

 

»Ziemlich peinlich – er sieht übrigens recht gut aus. Vielleicht schlug mir das Gewissen. Dieser Chauffeur …« Er lächelte nicht. »Ich frage mich, ob er im Krieg gewesen ist? Sicher nicht. Er ist noch nie so knapp davongekommen wie heute. Hatten Sie schon einmal den Wunsch, jemanden umzubringen?«

 

»Warum haben Sie französisch gesprochen?«

 

»Das ist meine Lieblingssprache«, erwiderte Larry schnell. »Außerdem sieht sie aus wie eine Pariserin.«

 

Mr. Reeder sah ihn fragend an. »Warum tun Sie so geheimnisvoll?« fragte er.

 

»Tu ich das?« Larry lachte. »Ich möchte wissen, ob er’s getan hat.«

 

»Ob er was getan hat?« fragte Mr. Reeder, aber Larry stellte eine neue Frage.

 

»Werden Sie eigentlich hinfahren? Hatte er übrigens diesen Buckingham bei sich angestellt?«

 

»Was wissen Sie über Buckingham?« fragte Mr. Reeder langsam.

 

»Es steht heute morgen alles in der Zeitung.«

 

»Kennen Sie ihn denn?«

 

Larry schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe sein Bild gesehen – ein Durchschnittsgesicht. Ist das Leben nicht großartig, Mr. Reeder?«

 

Es begann zu regnen. Mr. Reeder wurde sich der Tatsache bewußt, daß er barhäuptig war.

 

»Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte er. »Ich will das Risiko eingehen, von meinen Vorgesetzten – äh – gerügt zu werden.«

 

Larry zögerte.

 

*

 

»Na gut«, sagte er schließlich und stieg hinter Mr. Reeder die Treppe hinauf.

 

J. G. Reeder schloß die Tür und deutete auf einen Stuhl.

 

»Warum die Aufregung?« fragte er. »Was ist los?«

 

Larry lehnte sich in seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Ich habe das Gefühl, daß ich ein ausgemachter Trottel bin, weil ich Sie nicht völlig ins Vertrauen ziehe, aber das gibt ein Abenteuer, Mr. Reeder, das großartigste Abenteuer, das man sich denken kann. Ich möchte Sie nur eines fragen: Trug der Major eine Brille, als er auf die Straße herauskam?«

 

Mr. Reeder nickte. »Ich kann mich nicht erinnern, daß er sie abgenommen hatte.«

 

Larry runzelte die Stirn und biß sich auf die Unterlippe. »Ich werde Ihnen etwas sagen. Erinnern Sie sich, daß ich die junge Dame vor dem Auto in Sicherheit brachte? Es war unmittelbar unten vor diesem Büro, nicht wahr? Sie hatte eben ihr eigenes Auto verlassen und wollte – nun, wohin wollte sie wohl gehen? Hierher, zu Ihnen. Das hat sie mir zwar nicht gesagt, aber ich bin felsenfest davon überzeugt. Und der Chauffeur war hinter ihr her. Damals begriff ich es nicht ganz, aber jetzt ist es mir völlig klar. Am Tag vor diesem Ereignis war in der Zeitung ein Artikel über Sie erschienen – entsinnen Sie sich?«

 

Mr. Reeder wurde rot. »Das war eine ziemlich dumme äh – schlecht informierte – äh –«

 

»Genau. Der Artikel war ziemlich schmeichelhaft. Aber ich begriff natürlich, daß die junge Dame deswegen zu Ihnen wollte. Dieser irregeleitete und schlecht informierte Artikelverfasser behauptete, Sie seien der größte Detektiv unserer Zeit oder so etwas Ähnliches. Wahrscheinlich stimmt es nicht, obwohl ich Ihnen natürlich sehr zu Dank verpflichtet bin. Die junge Dame hatte den Artikel gelesen, herausgefunden, wo sich Ihr Büro befindet, und – jedenfalls möchte sie mit Ihnen sprechen. Das hat sie gesagt.«

 

»Sie will mich sprechen?« sagte Mr. Reeder ungläubig.

 

Larry nickte. »Ist es nicht erstaunlich? Ich habe kaum eine Minute mit ihr gesprochen, und schon bedeutet sie mir alles.« Er stand auf und begann aufgeregt im Zimmer hin und her zu gehen. »Mir, Mr. Reeder, einem Gauner, einem Einbrecher, einem Mann, der absichtlich den Unterschied zwischen Dein und Mein beseitigt hat! Aber sie ist eineinhalb Millionen Pfund wert und völlig unerreichbar. Ich könnte sie niemals bitten, meine Frau zu werden. Aber wenn sie von mir verlangen würde, ich sollte von der Westminster Bridge aus in die Themse springen, würde ich es tun!«

 

Mr. Reeder starrte ihn an. »Das klingt ja beinahe, als hätten Sie die junge Dame sehr gern«, sagte er.

 

»Beinahe«, sagte Larry wild.

 

Er blieb plötzlich stehen und deutete mit dem Finger auf Mr. Reeder. »Ich werde nicht von der Westminster Bridge aus hineinspringen, ich werde etwas viel, viel Besseres tun, und wenn es mir gelingt, ist es der entscheidende Schritt meines Lebens.«

 

»Wenn Sie sich vielleicht hinsetzen wollten«, meinte Mr. Reeder milde, »und etwas weniger geheimnisvoll tun würden, könnte ich Ihnen vielleicht helfen.«

 

Larry schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muß mir selbst helfen. Wann fahren Sie zum Sevenways Castle?«

 

»Sie hat Ihnen gesagt, daß sie dort wohnt, nicht wahr?« fragte Mr. Reeder.

 

»Wann fahren Sie?«

 

J. G. zögerte. »Morgen – wahrscheinlich morgen nachmittag.«

 

Er überlegte einen Augenblick, dann meinte er: »Sie kennen Buckingham nicht?«

 

»Nein«, sagte Larry. »Ich habe ihn natürlich als den Kerl erkannt, der sich in der Queen’s Hall an Sie heranmachte. Ein seltsames Zusammentreffen, nicht wahr?«

 

Er ging zur Tür und öffnete sie. »Ich gehe jetzt, Mr. Reeder, wenn Sie mich entschuldigen. Vielleicht besuche ich Sie heute abend. Haben Sie übrigens mit dem amerikanischen Aktienmarkt zu tun?«

 

»Ich spekuliere nie«, erklärte Reeder spröde. »Ich glaube nicht, daß ich in meinem Leben jemals irgendein Wertpapier gekauft habe, und ich werde es auch in Zukunft nicht tun. Allerdings lese ich die Zeitung, aus der sich ersehen läßt, daß die Preise sinken.«

 

»Und wie!« sagte Larry rätselhaft.

 

Das alles war ein bißchen verwirrend. Sein Hinweis auf den Aktienmarkt interessierte Mr. Reeder so sehr, daß er am Abend die Börsennotierungen studierte. In der Wallstreet sanken die Preise; es gab Panikverkäufe und Voraussagen über einen völligen Zusammenbruch. Mr. Reeder konnte nur darüber staunen, daß Larry in seiner Leidenschaft an derart nüchterne Dinge dachte.

 

Am Nachmittag hatte Mr. Reeder sehr viel zu tun. Nachforschungen bei gewissen Banken, die Lektüre von Berichten und so weiter. Es war beinahe neun Uhr, bevor er nach Hause kam, und er war so müde, daß er eingeschlafen war, bevor er sich die Decke richtig über die Schultern gezogen hatte.

 

Kapitel 6

 

6

 

Jimmy wußte im voraus, was sie darauf sagen würde. Während seines Aufenthaltes in New York hatte er die Gelegenheit benützt, Nachforschungen nach ihrer Mutter anzustellen. Sie war eine liebenswürdige, freundliche Frau, die sich aber in wirtschaftlichen Dingen nicht zu helfen wußte und ähnlich wie John Sands eine Schwäche für Luxus und Komfort hatte. Daß sie dieses angenehme Leben auf Kosten ihrer Tochter führte, wußte sie wohl nicht. Und wenn sie doch wußte, wie elend sich Faith in London bei ihrem Onkel fühlen mußte, machte sie sich weiter keine Sorgen darüber.

 

Es war möglich, daß sie eine Ahnung von den Verhältnissen hatte, in denen ihre Tochter lebte, denn als sie einmal mit Jimmy von Faith sprach, gebrauchte sie den Ausdruck: »Mein armes, gutes Mädchen.« Jimmy hatte den Eindruck, daß die Frau bis zu einem gewissen Grade selbstsüchtig war und zuviel vom Leben verlangte. Mit diesen Worten, die ihr Mitleid ausdrückten, glaubte sie wahrscheinlich, den Dank abzutragen, den sie ihrer Tochter schuldig war.

 

Faith machte eine Bewegung mit den Händen, die ihre Hoffnungslosigkeit zeigte.

 

»Wie könnte ich denn von hier fortgehen?« fragte sie. »Sie wissen doch ebensogut wie ich, daß das unmöglich ist. Meine Mutter hat mir geschrieben, daß Sie sie besucht haben.«

 

Jimmy nickte.

 

»Aber Sie wissen ja selbst, daß ich nicht fort kann«, sagte sie hilflos. »Oder wie soll ich es denn Ihrer Meinung nach anstellen?«

 

Er sprach nicht weiter über dieses Thema.

 

»Ich möchte Sie nicht gern über die Verhältnisse Ihres Onkels ausfragen, und auf keinen Fall will ich Ihnen auf die Nerven fallen oder Sie beunruhigen. Sie müssen mir sofort sagen, wenn es Ihnen zuviel wird. Es wäre leicht möglich, daß ich die Grenze des Erlaubten überschreite.«

 

»Jimmy, ich will Ihnen alles sagen, was ich weiß«, entgegnete sie schnell.

 

Er lächelte fröhlich über die natürliche Art und Weise, wie sie ihn beim Vornamen nannte. Auf dieses Glück hatte er nicht zu hoffen gewagt.

 

»Erinnern Sie sich noch an den Morgen, an dem ich mich vor achtzehn Monaten von Ihnen verabschiedete?«

 

»Den werde ich nicht so leicht vergessen«, erwiderte sie und warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Es war – schön. Sie müssen nicht denken, daß ich zu frei bin, aber Sie sind der erste Mann, den ich als meinen Freund bezeichnen darf. Als Sie damals fortgingen, erschien mir das Leben ein wenig einsam und leer. Aber damit will ich nun nicht gerade sagen, daß ich« – sie sah ihn treuherzig an – »in Sie verliebt bin.«

 

»Ach nein«, entgegnete Jimmy hastig. »Selbstverständlich ist das nicht der Fall.«

 

»Oder daß ich annehme, Sie liebten mich. Männer und Frauen können ja auch gute Freunde sein, ohne daß sie sich ineinander verlieben.«

 

»Ganz bestimmt«, erklärte Jimmy mit Nachdruck. »Nichts kann einem leichter passieren, als daß man ein freundschaftliches Verhältnis mit einer hübschen jungen Dame hat.«

 

»Ja, ich kann mich noch sehr gut auf die Zeit besinnen, als Sie hier in London waren. Es waren herrliche Wochen. Und nachher haben Sie mir sofort von New York aus geschrieben – Jimmy, das war der beste und freundlichste Brief, den je ein Mann einer jungen Dame schrieb. Aber bis ich den ersten Brief bekam, fühlte ich mich so verlassen, daß ich eigentlich nicht mehr weiterleben wollte. Ich habe Sie aber eben unterbrochen …«

 

»Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als ich von London fortging? Ich meine, ein bis zwei Wochen nach meiner Abreise?«

 

»Ja, gewiß«, antwortete sie schnell.

 

»Ist Ihr Onkel damals dauernd in seiner Wohnung in der Davis Street geblieben? Ich meine, hat er alle Nächte zu Hause zugebracht?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie danach fragen. Für gewöhnlich bleibt mein Onkel niemals über Nacht fort. Und das hat auch seinen Grund. Es erscheint ihm als Verschwendung, ein Logis im Hotel zu bezahlen. Und so kommt es, daß er stets zu Hause schläft. Aber damals hat er eine Ausnahme gemacht. Mrs. Redmayne – das ist unsere Haushälterin – sagte mir noch vor ein paar Tagen, daß er vor achtzehn Monaten das erste und einzige Mal die Nacht auswärts zugebracht hätte.«

 

»Wann war denn das?« fragte Jimmy.

 

»Fünf Tage nach Ihrer Abfahrt. Er sagte mir auch nicht, wohin er ginge, er bemerkte nur in seiner gewohnten, brüsken Art am Nachmittag, daß er am Abend nicht nach Hause zurückkäme, da er mit einem Freund eine längere Autotour vorhätte und erst am nächsten Abend zurückkommen wollte.«

 

»Und wann ist er zurückgekommen?«

 

»Ich glaube, es war acht Uhr, es kann aber auch neun gewesen sein«, sagte sie, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte. »Auf jeden Fall war es spät am nächsten Abend.«

 

»War er allein?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Mr. Sands war bei ihm. Sie kamen zusammen die Treppe herauf. Ich war in meinem Zimmer und hörte sie. Mein Onkel hat gewisse Eigenheiten, und wenn Mr. Sands ihn besucht, werden immer zwei Gläser mit Kognak aufs Büfett gestellt. Die trinken sie erst, und dann spielen sie Piquet. Wenn sie fertig sind, trinken sie noch ein Glas, und darauf verabschiedet sich Mr. Sands. Solange ich die beiden kenne, war es nicht anders. Das ist eigentlich der einzige Luxus, den sich mein Onkel gestattet.

 

An jenem Abend hatte ich nun vergessen, die Gläser einzuschenken; ich wußte auch nicht genau, ob Mr. Sands kommen würde. Mein Onkel sagt mir gewöhnlich am Nachmittag, ob Mr. Sands uns abends besucht. Er rief mich ziemlich laut herunter und fragte in barschem Ton, warum ich den Kognak nicht eingeschenkt hätte. Aus diesem Grund weiß ich noch genau, wie es war. Ich kann mich auf den Tag besinnen, als ob es gestern gewesen wäre.«

 

»Hat er gesagt, wo er war?«

 

»Nein, nicht ein Wort. Er sagt mir nur selten etwas und ist sehr verschlossen. Höchstens wirft er mir vor, wieviel Geld ich ihm koste und wie enttäuscht ich sein werde, wenn ich nach seinem Tod erfahren würde, daß er sein großes Vermögen für wohltätige Zwecke bestimmt hätte.«

 

Jimmy lachte und legte ihren Arm in den seinen.

 

»Dann wissen Sie also auch nicht viel mehr über die ganze Sache als ich, Faith. Aber der Korrespondent von der ›New York Post‹ hat die Geschichte veröffentlicht, das wissen Sie doch?«

 

»Ja, ich habe es erfahren. Mein Onkel war sehr belustigt und freute sich, daß ein so großer Artikel über ihn erschien. Er hat ihn ausgeschnitten und mit einer Heftzwecke an der Wand befestigt. Sooft ich ins Zimmer kam, zeigte er darauf und fragte mich, ob ich es gesehen hätte. Er ist ein merkwürdiger Mann, daß er sich darüber freut, wenn er andere Leute ärgern kann. Selten war er so vergnügt wie damals.«

 

»Ist sonst niemand hier ins Haus gekommen?«

 

»Nein, niemand«, entgegnete sie bestimmt.

 

»Sonderbar«, sagte Jimmy und schüttelte den Kopf.

 

»Wie benimmt sich eigentlich Mr. Sands Ihnen gegenüber?«

 

»Er ist immer sehr liebenswürdig und tut alles, um die schlechte Stimmung meines Onkels zu vertreiben. Soviel ich weiß, ist er der einzige, der einen gewissen Einfluß auf ihn hat. Er tut sogar manches ohne Wissen meines Onkels, um mir das Leben leichter zu machen. Aber ich kann ihn nicht recht leiden, er ist mir zu weiblich. Zum Beispiel hat er großes Interesse an Kleidern und Hüten. Als mein Onkel neulich einmal nicht zu Hause war, mußte ich Mr. Sands unterhalten, und er sprach dauernd von nichts anderem als von Kleidern und von Garderobe. Ich hatte damals gerade mein einziges neues Kleid verdorben, indem ich eine Tasse Kaffee verschüttete. Er tröstete mich und sagte, er würde schon mit Onkel sprechen, daß ich die nötigen Kleider bekäme.« Sie lachte wieder.

 

»Das spricht jedenfalls für seinen guten Charakter«, erwiderte Jimmy nachdenklich. »Aber ich darf Sie nicht wieder so lange allein lassen, Faith.«

 

»Ja, aber wie wollen Sie das denn machen?« fragte sie und sah ihn erstaunt an.

 

»Ich muß Sie eben von hier mit mir fortnehmen«; sagte er vergnügt. »Übrigens wird es nicht lange dauern, bis ich wieder eine gute Stellung bekomme, und etwas Geld habe ich ja auch. Meine Mutter ist nicht ganz ohne Vermögen. Sie könnten bei meinen Verwandten leben.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Aber Jimmy, Sie müssen doch einsehen, daß das nicht geht. Meine Mutter ist wirklich arm, und selbst wenn ich einwilligte, daß Sie für mich sorgen, kann ich doch nicht von Ihnen verlangen, daß Sie obendrein noch meine Mutter unterhalten.« Sie machte ein trauriges Gesicht. »Ich weiß, daß ich aus der Familie Leman bin, und ich besitze wahrscheinlich auch alle die schlechten Eigenschaften der Familie, aber es gibt manchmal Zeiten –«

 

Jimmy drückte ihren Arm liebevoll und war froh, daß er sie trösten konnte.

 

*

 

Es war bereits elf Uhr, als er in sein Hotel zurückkam. Ein englischer Pressemann wartete unten im Vestibül auf ihn.

 

»Hallo, Jimmy! Wir haben gehört, daß der alte Brown sich mit Ihnen entzweit hat. Der Chefredakteur hat mich sofort hergeschickt, um Ihnen sagen zu lassen, daß bei uns immer ein Redaktionsstuhl für Sie frei ist, wenn Sie zu uns kommen wollen.«

 

Jimmy grinste.

 

»Nein, das ist nicht gut genug für mich, ich schreibe nur Geschichten, für die ich eine Million Dollar bekomme!«

 

»Wie machen Sie denn das?« fragte der andere interessiert. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie für einen Artikel oder eine Artikelserie ein so hohes Honorar erhalten?«

 

»Doch, soviel ist meine Arbeit wert«, erklärte Jimmy, »aber in Wirklichkeit bekomme ich wohl etwas weniger.«

 

Jimmy erzählte ihm nun von seinen Schwierigkeiten, und der Journalist lachte über die Einstellung der Amerikaner.

 

»Aber warum machen Sie sich denn so große Kopfschmerzen?« fragte er schließlich erstaunt. »Sie können doch sehr einfach feststellen, ob Harry Leman geheiratet hat oder nicht. Sie brauchen sich doch nur an das Zentralstandesamt in Somerset House zu wenden.«

 

Jimmy sah ihn erstaunt an, denn davon hatte er noch nie etwas gehört.

 

»Somerset House«, fuhr der andere fort, »ist die Zentralstelle, wo alle Eheschließungen, Geburten, Todesfälle, Scheidungen und andere Unglücksfälle registriert werden, die den Einwohnern Großbritanniens passieren. Wann soll denn eigentlich die Trauung gewesen sein?«

 

Jimmy gab die ungefähre Zeit an.

 

»Nun, die Sache ist wirklich furchtbar einfach.« Der Journalist erklärte Jimmy, wie er es machen müßte, um die gewünschte Aufklärung zu erhalten. Merkwürdig, dachte Jimmy, als er sich am Abend auskleidete, daß ich nicht längst auf diese einfache Lösung gekommen bin.

 

Aber schließlich war er ja nur auf Besuch in England und kannte wenig von den Einrichtungen des Landes. Glücklicherweise hatte der Sonderberichterstatter der ›New York Post‹ ebensowenig Ahnung davon wie er, und so hatte Jimmy immer noch Gelegenheit, amtliche Feststellungen über die eventuelle Trauung Harry Lemans zu machen. In der amerikanischen Presse war jedenfalls darüber noch nichts mitgeteilt worden. Der freundliche Journalist hatte versprochen, ihn am nächsten Vormittag nach Somerset House zu begleiten, und als Jimmy morgens in die Hotelhalle kam, wartete der Mann schon auf ihn.

 

Die Durchsicht der Register in Somerset House war lächerlich einfach; nach einer Viertelstunde hatten sie bereits die betreffende Eintragung entdeckt. Jimmy war bestürzt und verstört, als er den nackten Tatsachen gegenüberstand. Schwarz auf weiß konnte er hier lesen:

 

 

Harry Leman, 56 Jahre alt, Junggeselle, getraut mit Margaret Smith, 31 Jahre alt, Witwe. Die Vermählung fand statt am 29. Oktober 19.. auf dem Standesamt in Griddelsea.

 

 

»Unglaublich«, sagte Jimmy atemlos. »Und das hätte man nun schon längst hier erfahren können! Nur einen Dollar hätte ich zu zahlen brauchen, dann hätte ich schon vor achtzehn Monaten eine beglaubigte Abschrift dieser Eintragung in Händen gehabt. Wo kann ich hier schnell ein Kursbuch bekommen?«

 

»Wohin wollen Sie denn?« fragte sein Begleiter.

 

»Nach Griddelsea«, erklärte Jimmy entschlossen. »Ich will mir dort eine Abschrift der Trauungsurkunde ausstellen lassen. Und nachher gehe ich zu Harry Leman und reibe ihm die Tatsache unter die Nase. Dann muß er mir sagen, warum er die Sache bis jetzt verheimlicht hat und warum er nicht mit seiner Frau zusammenlebt. Und Sie können sich darauf verlassen, der gibt mir die Fotografie der Frau, die er geheiratet hat, sonst schreibe ich einen Artikel über ihn, den er sich nicht hinter den Spiegel steckt.«

 

Die Fahrt nach Griddelsea erschien ihm endlos – in Wirklichkeit dauerte sie nur zwei Stunden. Unterwegs arbeitete er in Gedanken schon den Entwurf der epochemachenden Geschichte aus.

 

Griddelsea ist eine ruhige Hafenstadt an der Küste von Sussex. Ohne große Schwierigkeit fand er das Standesamt und wurde auch sofort in das Büro des Amtsvorstehers geführt. Es war ein untersetzter, stämmiger Mann von mittleren Jahren, der Jimmy wohlwollend betrachtete und ihm ein Ankündigungsformular hinschob.

 

»Ach nein«, protestierte Jimmy und wurde rot. »Ich will mich hier nicht trauen lassen, ich möchte mich nur nach einer Trauung erkundigen, die vor achtzehn Monaten hier stattfand.«

 

»Ach, das war während der Amtszeit meines Vorgängers, des armen Mr. Hornblew. Können Sie mir Namen und Datum genauer angeben?«

 

Jimmy reichte ihm den kurzen Auszug aus dem Register von Somerset House. Die großen Bücher wurden nachgeschlagen, und schließlich fand man das Protokoll.

 

»Das dachte ich mir schon«, sagte der Beamte. »Es ist die letzte Trauung, die Mr. Hornblew vorgenommen hat. Ich habe von der Geschichte gehört. Der Herr – Mr. Harry Leman – wünschte durchaus, getraut zu werden, und mein armer, alter Freund war damals sehr krank und lag zu Bett. Aber er stand auf, obwohl es die Ärzte ihm verboten hatten, da ihm eine außerordentlich hohe Geldbelohnung dafür versprochen wurde. Der Sekretär hat mir oft davon erzählt. Nachher ist er dann bald gestorben. Dieser Mr. Leman ist doch ein vielfacher Millionär?«

 

»Ja«, erwiderte Jimmy erfreut. »Um den handelt es sich hier.«

 

»Und ich soll Ihnen wohl eine beglaubigte Abschrift der Trauungsurkunde ausstellen?«

 

»Ja, Sie haben mich vollkommen richtig verstanden.«

 

Jimmy fuhr mit dem nächsten Zug nach London zurück und kam kurz nach sechs dort an.

 

Kapitel 7

 

7

 

Mr. John Sands saß in seinem luxuriösen Wohnzimmer und war sehr nachdenklich. Er hatte das Gefühl, daß der Stern Bellatrix durch Wolken verdüstert wurde. Vielleicht stand er auch gerade jetzt nicht am Himmel, oder er war im Untergang begriffen. Sands war in sehr trüber Stimmung und fühlte sich unsicher, denn drei Dinge waren in dieser Woche passiert, die ihm schwer zu denken gaben. Erstens war ein Brief von seinem Geschäftsführer in New York gekommen, sehr prosaisch und rein geschäftlich abgefaßt. Zweitens hatte er zu Hause mit seiner Aufwartefrau Ärger gehabt, und drittens hatte ihm am Nachmittag ein Eilbote eine Mitteilung von Harry Leman gebracht. Sie war nur sehr kurz und lautete:

 

 

Würden Sie heute abend um acht zu mir kommen?

Ich möchte dringend mit Ihnen sprechen.

 

 

John Sands runzelte die Stirn. Was in aller Welt konnte nur passiert sein, daß Harry Leman sechzehn Cent für einen Brief ausgab? Aber John Sands war nicht der Mann, der sich allzulange über unangenehme Dinge den Kopf zerbrach. Er überlegte nicht mehr, sprang auf, nahm einen Gedichtband aus dem Bücherschrank und las zwei Stunden. Um drei Viertel acht ging er in sein Ankleidezimmer und kehrte ein paar Minuten darauf tadellos gewaschen und frisiert nach unten zurück. Dann ging er im Zimmer auf und ab, legte die Hände auf den Rücken und hielt den Kopf auf die Brust gesenkt. Schließlich sah er nach der Uhr. Er hatte noch fünf Minuten Zeit. Das genügte vollkommen, um den kurzen Weg, der ihn von der Wohnung Harry Lemans trennte, zu Fuß zurückzulegen. Er hatte gerade Handschuhe und Spazierstock vom Tisch aufgenommen, als es an der Tür klingelte. Er öffnete und sah Jimmy Cassidy. Das war allerdings der letzte, den er zu dieser Zeit erwartet hätte. Der Journalist war in allerbester Stimmung und sah ihn triumphierend an.

 

»Kann ich Sie eine Minute sprechen, Mr. Sands?«

 

»Aber auch buchstäblich nur eine Minute. Ich habe nämlich eine sehr wichtige Verabredung. Aber – was führt Sie zu mir«, fragte er, als er die Tür hinter seinem Besucher schloß.

 

»Ich habe eine beglaubigte Abschrift der Trauungsurkunde!«

 

Ein tiefes Schweigen trat ein.

 

»Sie haben die Abschrift der Trauungsurkunde?« wiederholte Sands dann ruhig. »Von welcher Trauung sprechen Sie eigentlich?«

 

»Es handelt sich um die Eheschließung von Harry Leman und Margaret Smith. Tun Sie doch nicht so, als ob Sie von nichts wüßten, Mr. Sands. Es hat keinen Zweck mehr, denn ich habe alles herausbekommen.«

 

»Und was wollen Sie nun unternehmen?«

 

»Ich werde sofort Mr. Leman aufsuchen. Er muß mir die ganze Sache von Anfang bis zu Ende erzählen. Ich habe genug Material gesammelt, um eine große Geschichte zu schreiben, die mindestens eine Zeitungsseite einnimmt. Aber ich brauche von ihm noch die hauptsächlichsten Daten.«

 

Sands stieg schnell die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf, und nach kaum vierzig Sekunden kam er mit schweren Schritten wieder die Treppe herunter. Cassidy hörte ihn, obgleich die Stufen mit einem dicken Läufer belegt waren.

 

»Es ist wahrscheinlich das beste, was Sie unter diesen Umständen tun können«, sagte John Sands, als er wieder im Wohnzimmer bei seinem Besucher angekommen war. »Aber Sie müssen sich folgendes überlegen, Mr. Cassidy: Harry Leman ist ein ziemlich alter Herr und hat einen sehr sonderbaren Charakter. Es ist sehr leicht möglich, daß er Ihre Geschichte falsch auffaßt. Ich will Sie gern zu seinem Haus begleiten, aber ich halte es für unbedingt notwendig, daß ich Mr. Leman erst sehe und ihm erkläre, daß sein Geheimnis herausgekommen ist. Ich habe es natürlich längst gewußt. Aber meiner Meinung nach muß er auf den Schreck vorbereitet werden. Sie verstehen?«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete Jimmy angenehm berührt. »Ich kann mich auch in seine Lage versetzen und will dem alten Mann natürlich keinen unnötigen Schrecken einjagen. Es ist liebenswürdig von Ihnen, daß Sie ihn vorbereiten wollen.«

 

Die beiden gingen also zusammen zur Davis Street. Der Eingang zu der Wohnung lag neben einem Laden. Sands öffnete die Tür mit seinem eigenen Schlüssel und ließ Jimmy eintreten.

 

»Können Sie mir übrigens sagen, ob Miss Leman heute abend zu Hause ist?« fragte er.

 

»Darüber kann ich Sie genau informieren«, erklärte Jimmy, stolz, daß er auch etwas wußte. »Sie ist heute abend ins Konzert gegangen.«

 

Er sagte allerdings nicht, daß er ihr das Billett zugesandt hatte, denn das war seine eigene Angelegenheit.

 

»Ich danke Ihnen vielmals. Es ist vielleicht ganz gut, daß sie nicht zu Hause ist, denn ich fürchte, es wird eine kleine Auseinandersetzung geben, zum mindesten eine unerfreuliche Szene. Wollen Sie einen Augenblick hier warten, während ich zu Mr. Leman hinaufgehe?«

 

Jimmy nickte.

 

Er wartete etwas länger als eine Minute; dann kam Sands wieder zu ihm herunter. Zu Jimmys größtem Erstaunen schloß er die Tür.

 

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte Sands. »Leman schläft. Er legt sich allerdings häufig auf das Sofa, und gerade in letzter Zeit habe ich wahrgenommen, daß er gern ein kleines Schläfchen macht, aber es ist das erstemal, daß er nicht aufgestanden ist, wenn ich ins Zimmer kam. Wir wollen noch zehn Minuten warten, dabei kann ich Ihnen ja die Rolle erklären, die ich bei der Angelegenheit gespielt habe. Sie dürfen nicht annehmen, daß ich Sie hätte hinters Licht führen wollen oder daß ich anderen Zeitungsberichterstattern mehr gesagt hätte. Ich interessiere mich im allgemeinen für Mr. Lemans Privatleben durchaus nicht. Allerdings bin ich sein bester Freund. Ich will Ihnen auch nicht die Tatsache vorenthalten, daß diese ganze Heiratsgeschichte nur unternommen wurde, um andere Leute zu enttäuschen – ich meine –«

 

»Sie meinen Miss Faith – das ist mir vollkommen klar.«

 

»Es geht mich natürlich nichts an, ob Miss Leman das große Vermögen erbt oder nicht«, fuhr John Sands fort. »Darüber hat nur Mr. Leman selbst zu entscheiden. Ich interessiere mich für Miss Leman nicht weiter; allerdings finde ich sie sehr sympathisch und schätze ihren Charakter. Wenn sich Verwandte nicht verstehen können, ist es viel besser, sich als Außenstehender vollkommen neutral zu verhalten.«

 

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, pflichtete Jimmy bei. »Glauben Sie, Mr. Sands, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie so freundlich zu Miss Leman sind und ein paarmal versucht haben, die schweren Gegensätze zwischen ihr und ihrem Onkel auszugleichen.«

 

Sie gingen zum Ende der Davis Street. John Sands war sehr nachdenklich, denn er wußte, daß sich noch vor Ende dieses Tages sein ganzes bisher so angenehmes Leben von Grund auf ändern würde. Er haßte jähen Wechsel, Veränderungen und Enthüllungen, und im Augenblick haßte er vor allem die Frau, die ihm mit Bleistift geschriebene Notizen sandte. Sie unterzeichnete mit »Margaret Leman«, und hinter der Unterschrift stand regelmäßig ein Ausrufungszeichen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, als er an einer Telefonzelle vorüberkam.

 

»Wollen Sie mich einen Augenblick entschuldigen, Mr. Cassidy? Ich muß einmal telefonieren.«

 

Jimmy schlenderte den Weg zurück, den sie gekommen waren, und während er an einer Straßenecke stehenblieb, konnte er die ganze Davis Street übersehen. Er sah zu der grünen Tür, die zu Harry Lemans Wohnung führte. Schon oft hatte er sie gesehen, und oft träumte er davon, denn hier wohnte das Mädchen, das er liebte. Jimmy war wie Mr. Sands ein unverbesserlicher Träumer, aber plötzlich wurde er zur Wirklichkeit zurückgerufen. Die grüne Tür öffnete sich, und eine Dame trat auf die Straße. Er wußte sofort, daß es nicht Faith sein konnte. Diese Frau war größer und allem Anschein nach auch älter, außerdem schwarz gekleidet. Ein dichter, dunkler Schleier verbarg ihr Gesicht. Sie sah nach links und nach rechts, bog dann nach der entgegengesetzten Seite ab und ging schnell fort. Bevor sie um die Ecke verschwand, blieb sie noch einen Augenblick vor einem Briefkasten stehen.

 

Er sah deutlich, wie sie die Einwurfklappe hob.

 

»Das kann doch nicht die Aufwartefrau gewesen sein?« dachte Jimmy, drehte sich um und ging Mr. Sands entgegen.

 

»So, jetzt wollen wir zum Haus zurückkehren und einmal sehen, ob Mr. Leman inzwischen aufgewacht ist«, sagte Sands in bester Stimmung.

 

Jimmy sah ihn von der Seite an. Der Gesichtsausdruck des Mannes paßte nicht so recht zu dem heiteren Ton, in dem Sands eben gesprochen hatte. Seine Gedanken waren jedenfalls nicht bei der Unterhaltung.

 

»Ich möchte Sie etwas fragen, Mr. Sands. Vielleicht können Sie mir Auskunft geben, ohne Ihren Freund Mr. Leman zu verraten«, meinte Jimmy, als sie an der Haustür angekommen waren. »Wäre es möglich, daß ich Mrs. Leman einmal sehen und sprechen könnte?«

 

»Ach, Sie wollen wissen, wo sie wohnt?« erwiderte Sands und sah ihn sonderbar an. »Die Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten, selbst wenn ich wollte. Sie ist jedenfalls irgendwo in London oder der näheren Umgebung.«

 

»Ich danke Ihnen«, entgegnete Jimmy ironisch.

 

Sands nahm seinen Schlüssel und wollte aufschließen, bemerkte aber zu seinem Erstaunen, daß die Tür nicht zugeschlossen war.

 

»Hallo, habe ich denn nicht eben zugeschlossen, als wir herauskamen?«

 

»Meiner Meinung nach haben Sie abgeschlossen«, entgegnete Jimmy. »Aber wahrscheinlich hat die Dame die Tür aufgelassen.«

 

»Die Dame?« fragte Sands schnell. »Welche Dame meinen Sie denn?«

 

»Während Sie telefonierten, ging ich bis zur Ecke und sah zufällig eine Dame aus der Haustür kommen. Es sind seitdem erst ein paar Minuten vergangen.«

 

»Was, sie kam aus der Wohnung? Das ist ganz unmöglich!« Sands stieß die Tür auf. »Das ist unglaublich! Die Aufwartefrau ist doch auch nicht zu Hause – die hat doch jeden Donnerstagabend frei. Und Miss Leman ist im Konzert – was für eine Dame soll denn das gewesen sein?«

 

»Sie war sehr groß und schlank. Die Aufwartefrau war es keinesfalls, dazu war sie viel zu gut gekleidet. Ihr Gesicht habe ich nicht gesehen, weil sie einen dichten Schleier trug.«

 

»Ich werde vorausgehen«, erwiderte Sands und stieg die Treppe hinauf.

 

Das große Wohnzimmer, das nach der Straße hinaus lag, war noch ziemlich hell erleuchtet. Als sie eintraten, sahen Sie Harry Leman, der auf dem Sofa lag und den Kopf von der Tür abgewandt hatte.

 

»Es tut mir leid, Mr. Leman«, sagte John Sands, »aber Mr. Cassidy hat erfahren, daß Sie verheiratet sind.«

 

Der Millionär antwortete nicht, und John Sands ging zu dem Fenster, unter dem das Sofa stand. Er beugte sich über seinen Freund, um ihm ins Gesicht zu sehen.

 

»Um Himmels willen!« rief er plötzlich atemlos.

 

Mit ein paar Schritten stand Jimmy an seiner Seite und erkannte sofort, was geschehen war.

 

Harry Leman war tot. Sein Gesicht sah aschgrau aus, seine Augen waren weit geöffnet, die Hände wie im Krampf zusammengeballt.

 

»Holen Sie schnell einen Arzt, Mr. Cassidy!« sagte Sands. »Das ist ja entsetzlich – furchtbar!«

 

Jimmy hatte sofort viele Einzelheiten im Zimmer überblickt; als Journalist war er gewohnt, sich schnell zu orientieren. Er sah das Likörglas, das auf dem Boden neben dem Sofa stand, und zog seine Schlußfolgerung daraus. Kaum hatte Sands mit ihm gesprochen, so eilte er auch schon die Treppe hinunter und stand gleich darauf auf der Straße. Glücklicherweise wohnten mehrere Ärzte in der Nähe, und als er die Straße entlangeilte, traf er einen Polizisten, der ihm den nächsten zeigte. Mit dem Beamten und dem Arzt zusammen kehrte er zur Wohnung zurück und fand John Sands unten an der Tür. Die Untersuchung des Arztes dauerte nicht lange.

 

»Zweifellos ist der alte Herr tot – war er krank?«

 

John Sands schüttelte den Kopf.

 

»Soweit ich unterrichtet bin, ist er nicht krank gewesen, ich habe allerdings in letzter Zeit eine Depression bei ihm bemerkt.«

 

Der Arzt beugte sich über den Verstorbenen und roch an den Lippen.

 

»Das ist allerdings seltsam«, sagte er und sah sich um.

 

Dann bückte er sich, nahm das kleine Likörglas vom Boden auf und roch ebenfalls daran.

 

»Das ist Kognak, und wenn nicht auch Blausäure darin gewesen ist, müßte ich mich sehr irren.«

 

Er wandte sich an den Polizisten.

 

»Das müssen Sie sofort Ihrem Vorgesetzten melden.«

 

»Blausäure!« wiederholte John Sands bestürzt. »Sie wollen doch nicht etwa sagen –«

 

»Es handelt sich hier sicher um Selbstmord«, erklärte der Arzt. »Es ist ja möglich, daß ich mich täusche, aber der Geruch der Blausäure ist unverkennbar.«

 

»Das ist doch ganz unglaublich!« rief John Sands verwirrt.

 

Zwanzig Minuten darauf erschien Inspektor Blessington von Scotland Yard. Es war ein günstiger Zufall, daß diesem Beamten die Bearbeitung des Falles anvertraut wurde, denn er war der einzige Mann in Scotland Yard, den Jimmy Cassidy kannte. Er hob die Augenbrauen, als er den Reporter sah.

 

»Hallo, Jimmy, Sie sind aber smart, daß Sie schon vor mir zur Stelle sind. Worum handelt es sich denn?«

 

Er sah zuerst auf den Toten, dann auf John Sands, der mit kurzen Worten erklärte, was vorgefallen war.

 

»Hat es denn irgendeine Aufregung vorher gegeben? Es ist doch wohl nicht anzunehmen, daß der reiche Mr. Leman Sorgen hatte.«

 

»Nein, es hat sich nichts Außergewöhnliches ereignet. Natürlich muß ich zugeben, daß eine sehr starke Spannung zwischen ihm und seiner Nichte bestand, aber daran war der alte Herr allein schuld. Ich muß sagen, er war unausstehlich zu ihr. Eigentlich ist es ja kaum notwendig, dieses Zerwürfnis zu erwähnen, aber ich weiß, daß in einem solchen Falle alles gesagt werden muß.«

 

»Da haben Sie vollkommen recht«, erwiderte der Detektiv. »Wo ist denn die Nichte, die einen Streit mit ihm gehabt hat?«

 

»Aber hören Sie –«, unterbrach Jimmy die Unterhaltung. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß die Unstimmigkeiten zwischen den beiden irgendwelche Bedeutung hatten? Miss Faith Leman hatte doch gar nichts gegen ihren Onkel, Mr. Sands, das müssen Sie doch auch zugeben.«

 

Wieder zögerte der andere.

 

»Die Sache war nur einseitig und ging von Mr. Leman aus, obwohl er gar keinen Grund hatte, sich über seine Nichte zu ärgern. Das habe ich ja vorher auch schon festgestellt. Er hat das junge Mädchen derartig gegen sich aufgebracht, daß man es überhaupt nicht verstehen kann. Es war ja menschlich erklärlich, daß sie sich darüber aufregte. Sie werden das begreifen«, wandte sich Sands an den Detektiv. »Mr. Leman ist sehr reich, und Miss Leman ist seine Universalerbin. Mein Freund machte sich einen Scherz daraus, das Mädchen aufzuziehen. Er sagte immer, sie würde seinen Tod herbeisehnen, damit sie sein Geld erben könne. Und wenn man die Sache menschlich betrachtet, wird man auch verstehen, daß es ihr hin und wieder zuviel wurde und daß sie ihm deswegen ihre Meinung sagte. Noch vor ein paar Tagen hat sie erklärt, sie wünschte tatsächlich, daß er tot wäre und all sein Geld mit sich nehmen würde. Ich glaube aber, nachher hat es ihr leid getan, daß sie sich so gehen ließ.«

 

»Ich verstehe«, entgegnete der Detektiv nachdenklich. »Ist die Dame im Haus?«

 

»Nein, sie ist in einem Konzert in der Queen’s Hall. Wenn Sie es wünschen, werde ich sie holen«, erbot sich Jimmy.

 

»Das wäre mir sehr lieb«, sagte Blessington.

 

»Es ist natürlich haarsträubend, daß der Name von Miss Leman in dem Zusammenhang überhaupt erwähnt wird«, erwiderte Jimmy gereizt. »Es ist wahr, daß der alte Mann ihr das Leben schwermachte, wie Mr. Sands sagte, aber es ist nicht wahr, daß sie seine Erbin wird. Wenigstens würde es mich sehr überraschen, wenn er ein Testament zu ihren Gunsten gemacht hätte. Mr. Leman war nämlich verheiratet.«

 

»Das ist mir aber neu, daß sich der alte Millionär hat trauen lassen«, sagte der Detektiv. »Wo ist denn seine Frau?«

 

Jimmy schüttelte den Kopf.

 

»Da müssen Sie Mr. Sands fragen«, entgegnete er und verließ dann das Zimmer.

 

Kapitel 8

 

8

 

Jimmy fiel es nicht schwer, Faith im Konzertsaal zu finden. In einer Pause trat er kurz entschlossen auf sie zu und nahm sie mit nach draußen. So schonend wie möglich brachte er ihr die Nachricht bei, und doch schien es ein furchtbarer Schlag für sie zu sein. Sie schrak zusammen, und er dachte schon, daß sie ohnmächtig werden würde. Aber sie überwand die Schwäche.

 

»Das ist ja furchtbar!« sagte sie. »Mein armer, armer Onkel! Aber Jimmy, unmöglich ist es Selbstmord gewesen. Dazu kenne ich ihn viel zu gut.«

 

»Sagen Sie mir wenigstens das eine, liebe Faith«, erwiderte Jimmy sanft. »Haben Sie sich in letzter Zeit mit Ihrem Onkel gezankt?«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Gezankt? Ja, ich hatte vor ein paar Tagen einen kleinen Streit mit ihm.«

 

Sie zitterte und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Ach, ich habe so entsetzliche Dinge gesagt – ich schäme mich so sehr!«

 

Jimmy nahm vorsichtig ihre Hände vom Gesicht.

 

»Erzählen Sie mir, was Sie ihm gesagt haben, Faith. Haben Sie tatsächlich gesagt, Sie wünschten, daß er tot wäre?«

 

Die Tränen waren ihr nahe, so daß sie nicht sprechen konnte. Sie nickte nur.

 

»Dann hat Sands also doch die Wahrheit gesagt!«

 

Sie erfaßte sofort die Bedeutung seiner Worte.

 

»Hat man der Polizei denn gesagt, daß ich mich mit ihm gestritten habe? Man glaubt doch nicht etwa – daß ich – es getan habe?«

 

Jimmy sah sie verstört an, als sie das sagte.

 

»Um Himmels willen, nein!«

 

Aber dann blieb er plötzlich stehen. Er hatte zu genaue Kenntnis von den Methoden der Polizei, als daß er sich falschen Hoffnungen hingab. Ein Beamter würde ohne weiteres eine Schuld für Faith zusammenkonstruieren können.

 

»Ich habe niemals gedacht –«, begann er. »Ach, die Sache ist einfach zu dumm, als daß man darüber redete.«

 

Und doch fühlte er sich beunruhigt, als er an der Seite des jungen Mädchens zur Wohnung zurückkehrte. Diese Polizeibeamten konnten rücksichtslos sein und wollten vor allem Erfolg haben. Sie mußten einen Schuldigen finden. Wie leicht war es möglich, daß Blessington ihr bei dem Verhör zu nahetrat und sie kränkte. Er kannte diese Verhöre nur zu genau; er hatte die Aufklärung solcher Mordfälle schon mehrmals mitgemacht, und er ließ sich nicht täuschen. Es würde gar nicht leicht für Faith sein, sich von dem Verdacht zu befreien, obwohl es seiner Meinung nach geradezu Wahnsinn war, Miss Leman mit dem Tod ihres Onkels in Verbindung zu bringen.

 

Als sie die Wohnung erreichten, war der Tote auf Veranlassung des Polizeiinspektors schon fortgeschafft worden. Auch der Doktor hatte sich entfernt. Nur John Sands und der Detektiv waren zurückgeblieben. Faith Leman war bleich, als sie ins Zimmer trat, und Blessington maß sie mit einem Blick von Kopf bis Fuß.

 

»Das ist Miss Leman«, erklärte Sands.

 

»Ich habe Sie holen lassen«, wandte sich der Beamte an Faith, »weil Sie die einzige Verwandte des Verstorbenen sind – wenigstens die einzige Verwandte in England. Seine Frau – Sie wußten doch, daß er verheiratet war? – lebt, soviel mir Mr. Sands erzählte, in Paris. Er war mit beiden Ehegatten gut bekannt. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich ein paar Fragen an Sie richten.«

 

Jimmy schob einen Stuhl zurecht, und sie setzte sich.

 

»Ist Ihr Onkel in der letzten Zeit aufgeregt gewesen?«

 

»Nein«, entgegnete sie schnell.

 

»Haben Sie eine Depression an ihm bemerkt?«

 

»Nein, das könnte ich nicht behaupten. Er war allerdings niemals in guter Stimmung«, sagte sie und lächelte schwach.

 

»Ja, das habe ich auch gehört. Aber hat er in Ihrer Gegenwart einmal etwas davon gesagt, daß er sich das Leben nehmen wollte? Oder hat er irgendeine andere Bemerkung gemacht, die darauf schließen ließe, daß er sich mit solchen Gedanken trug? Denken Sie einmal genau nach. Es wäre wichtig, selbst wenn er es nur im Scherz geäußert hätte.«

 

»Das hat er nie getan, und das wäre auch das letzte, woran ich denken könnte.«

 

»Hat er nicht Verluste gehabt in der letzten Zeit?«

 

»Nein. Soweit ich weiß, ist mein Onkel sehr reich, und es würde schon viel dazugehören, daß er das ganze große Vermögen, das er während seines langen Lebens angesammelt hat, verlieren könnte.«

 

»Kennen Sie dieses Glas?«

 

Er hielt den kleinen Likörkelch in die Höhe, in dem sich noch ein Rest Kognak befand.

 

»Ja.«

 

»Ist es das Glas, das Sie gewöhnlich für Ihren Onkel füllten?«

 

»Ja. Ich goß jeden Abend zwei Gläser für meinen Onkel ein. Dort steht auch das andere.« Sie zeigte auf das Büfett. »Es ist noch voll.«

 

»Das habe ich auch schon bemerkt. Können Sie mir dies erklären, Miss Leman? Ihr Onkel hatte die Gewohnheit, immer für Mr. Sands ein Glas einschenken zu lassen, wenn man seinen Besuch erwartete. Hat er das auch bei anderen Leuten getan, die zu ihm kamen?«

 

»Ja. Wir hatten allerdings nur selten Besuch.«

 

»Trank Ihr Onkel immer aus demselben Glas, zum Beispiel aus dem, das dem Fenster am nächsten stand? Oder nahm er bald das eine, bald das andere?«

 

»Mr. Sands kann Ihnen darüber mehr erzählen«, erwiderte sie. »Ich war meistens nicht dabei, wenn er das Glas austrank.«

 

»Aber Sie wußten jedenfalls, welches der beiden Gläser Ihr Onkel nahm und welches für den Gast bestimmt war?«

 

»Ja, ich glaube schon.«

 

Plötzlich erhob sie sich von ihrem Stuhl.

 

»Was wollen Sie denn eigentlich mit all dem sagen?« fragte sie.

 

»Ich will gar nichts damit sagen, ich will nur die Wahrheit herausfinden. Seien Sie ruhig, Jimmy.«

 

Er hob die Hand, um den Protest seines Bekannten gar nicht zum Ausdruck kommen zu lassen.

 

»Sie interessieren sich ganz besonders für diesen Fall, weil Sie ein Freund von Miss Leman sind. Das verstehe ich sehr gut. Aber Sie wissen auch, Jimmy, daß ich hier meine Pflicht erfüllen muß. Daran läßt sich nichts ändern.«

 

»Aber die Vermutung, die aus Ihren Worten spricht, ist einfach entsetzlich«, erwiderte Jimmy aufgebracht. »Es ist doch vollständig ausgeschlossen, daß Sie –«

 

»Ich sagte schon vorher, daß ich keine vorgefaßten Meinungen habe«, erklärte Inspektor Blessington ruhig. »Ich stelle nur einige wichtige Fragen an Miss Leman. Sie hatten also einen Streit mit Ihrem Onkel?«

 

»Vor ein paar Tagen hatte ich eine kleine Auseinandersetzung mit ihm«, entgegnete sie und sah Sands an. »Später erzählte ich es diesem Herrn.«

 

Sands nickte bedächtig.

 

»Ja, das stimmt. Ich habe es ja bereits erwähnt und auch gesagt, wie die Verhältnisse hier im Haus lagen und wie unangenehm Ihr Onkel manchmal zu Ihnen sein konnte.«

 

»Heute abend sind Sie zum Konzert gegangen. Haben Sie vorher noch die beiden Gläser eingeschenkt?«

 

»Ja.«

 

»Sie wußten, daß Mr. Sands kommen würde?«

 

»Ja, das hat mir mein Onkel gesagt. Er erwähnte auch, daß er eine wichtige Sache mit ihm zu besprechen hätte. Als ich ihm erzählte, daß ich ins Konzert ginge, schien er sehr damit einverstanden zu sein. Ja, er sagte sogar, daß es ihm lieb sei, wenn ich das Haus recht bald verließe.«

 

»Wann begann denn das Konzert?«

 

»Um halb acht.«

 

»Und soviel ich verstehe, wollte er Mr. Sands um acht Uhr treffen. Dann haben Sie wohl um Viertel nach sieben das Haus verlassen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Er bat mich merkwürdigerweise, schon um halb sieben zu gehen.«

 

»Hat er Ihnen sonst noch etwas gesagt?«

 

»Ja, er gab mir den Auftrag, Schreibmaterial auf den Tisch zu legen. Dort ist es auch noch.« Sie zeigte auf einen Block Schreibpapier und einen Bleistift.

 

Blessington machte ein paar Notizen und wandte sich dann an John Sands.

 

»Sie haben mir vorhin gesagt, daß Mrs. Leman in Paris lebt. Hat sie sich nach ihrer Trauung immer dort aufgehalten?«

 

»Ja, soweit ich informiert bin.«

 

»Standen Sie mit ihr in Verbindung?«

 

John zögerte einen Augenblick.

 

»Ich brauche schließlich kein Geheimnis daraus zu machen«, meinte er dann. »Ja, ich stand mit ihr in Briefwechsel. Mr. Harry Leman heiratete diese Dame, aber gleich nach der Trauung trennten sie sich. Ich hatte von ihm den Auftrag erhalten, ihr monatlich eine gewisse Summe zu senden, und ich muß sagen, daß Mr. Leman in der Beziehung sehr großzügig war.«

 

»Haben Sie die Dame selbst gesehen?«

 

»Ja, einmal. Sie fuhr nach England und blieb kurze Zeit hier, aber merkwürdigerweise kam sie nicht mit ihrem Mann zusammen.«

 

Der Detektiv nickte.

 

»Ich möchte sie gern sprechen. Schreiben Sie der Dame, und sobald sie in London ankommt, verständigen Sie mich bitte.«

 

Er schlug sein Notizbuch zu und steckte es in die Tasche. »Soweit ich den Fall bis jetzt beurteilen kann, sieht es so aus, als ob sich Mr. Leman selbst das Leben genommen habe. Aber ich muß die Sache noch eingehender untersuchen, um bei der Totenschau genauere Angaben machen zu können.«

 

Er sah Faith freundlich an.

 

»Wo kann ich Sie erreichen, Miss Leman, wenn ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen will?«

 

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen.«

 

»Haben Sie keine Freunde in London?«

 

Sie sah Jimmy an.

 

»Ich habe keine Freundinnen, aber vielleicht kann Mr. Cassidy mir helfen. Ich glaube, ich gehe am besten in ein Hotel.«

 

»Ganz richtig«, mischte sich Jimmy sofort ein. »Kommen Sie doch zu meinem Hotel mit. Es wohnen ein paar Amerikanerinnen dort, die sich sicherlich gern Ihrer annehmen werden. Sie kennen doch das Hotel Magnificent? Blessington, unter dieser Adresse können Sie Miss Leman erreichen.«

 

»Dann wäre ja alles in Ordnung«, erklärte der Detektiv beruhigt. »Also, Jimmy, begleiten Sie die Dame zum Hotel und kommen Sie dann wieder hierher zurück. Ich werde zunächst einmal Scotland Yard telefonisch benachrichtigen. Wenn Sie zurückkommen, treffen Sie mich wieder hier an.«

 

Als Jimmy wieder erschien, fand er Inspektor Blessington allein im Haus. Mr. Sands war in heller Aufregung fortgegangen, um sich mit Paris in Verbindung zu setzen.

 

»Also, Jimmy«, begann Blessington, »das ist ja ein sonderbarer Fall.«

 

»Ja, in mancher Beziehung … Sagen Sie, haben Sie etwa die junge Dame in Verdacht?«

 

Der Inspektor lächelte.

 

»Ich habe schon viele Leute in Verdacht gehabt, die noch viel weniger mit einem Verbrechen in Verbindung zu stehen schienen. Ich weiß wohl, Jimmy, die Sache ist für Sie sehr schwer, aber ich fürchte –«

 

»Ich liebe Faith Leman«, erklärte Jimmy mit aller Bestimmtheit. »Sie bedeutet für mich alles.«

 

»Das dachte ich mir. In mancher Beziehung sieht es böse für sie aus, andererseits glaube ich nicht, daß sie etwas damit zu tun hat. Verwandte streiten sich fast jeden Tag, ohne daß sie sich gegenseitig die Kehle durchschneiden. Wenn dies aber ein Mord sein sollte, dann ist er sehr kaltblütig überlegt worden. Es wäre die Tat eines Menschen mit verbrecherischem Charakter. Und Mörder sind im allgemeinen keine Verbrecher.«

 

Jimmy lächelte.

 

»Glauben Sie das vielleicht nicht?« fragte der Detektiv.

 

»Ich mußte eben an mein großes Werk denken, bei dessen Abfassung ich vor ein paar Tagen unterbrochen wurde. Ich habe darin nahezu dieselben Worte gebraucht, die Sie eben äußerten. Nein, ich bin vollkommen mit Ihnen einverstanden, wenn Sie sagen, daß Mörder eigentlich keine Verbrecher sind. Ich gebe Ihnen auch recht, wenn sie annehmen, daß dies kein zufälliger Mord war, der im Affekt geschehen ist. Ein Mann, der in der Erregung einen anderen niederschießt, bereut seine Tat, wenn er wieder ruhiger geworden ist. Aber wie kommen Sie darauf, daß es sich hier um einen Mord handelt?«

 

Blessington sah ihn neugierig an.

 

»Aber Jimmy, sagen Sie doch selbst einmal offen, kann dies ein Selbstmord sein? Sie kennen Kriminalfälle doch ebensogut wie ich. Ich nehme an, daß Sie schon mindestens ein Dutzend in Ihrer Zeitung bearbeitet haben, und sicher an die fünfzig Selbstmorde. Ich frage Sie jetzt nach Ihrem objektiven Urteil – kann dies ein Selbstmord sein?«

 

Jimmy schwieg.

 

»Sicher ist die Sache ungewöhnlich und seltsam«, gab er schließlich zu. »Das Sonderbarste an dem Fall ist der Umstand, daß der alte Mann allein sein wollte, und zwar noch anderthalb Stunden vor Sands‘ Ankunft. Ja, warum …? Jetzt fällt es mir ein! Er wollte natürlich die Frau treffen!«

 

»Was soll das heißen?« fragte der Detektiv.

 

»Passen Sie auf«, entgegnete Jimmy schnell. »Nachdem Sands hier die Wohnung betreten und Mr. Leman schlafend gefunden hatte, gingen wir noch kurze Zeit auf die Straße. Während er telefonierte, beobachtete ich den Eingang des Hauses und sah, daß eine Dame aus der Tür kam. Sie war ziemlich elegant gekleidet und hatte eine außergewöhnlich graziöse Haltung. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, da sie dicht verschleiert war. Das fiel mir gleich auf, denn hier in England tragen selbst Leute in Trauer keine dichten Schleier.«

 

»Wie lange hat sie hier draußen vor der Tür gestanden?«

 

»Sie zögerte nur kurz, dann wandte sie sich um und ging zum Berkeley Square hinunter. Nachher verlor ich sie aus den Augen.«

 

»Hat sonst noch jemand die Dame gesehen?«

 

»Nein. Sands war in einen Laden getreten, um zu telefonieren. Aber als er herauskam, sagte ich es ihm, und als Bestätigung meiner Beobachtung fanden wir, daß die Tür nur angelehnt war.«

 

»Das ist allerdings wichtig. Ich wünschte, Sie hätten mir das schon vorher gesagt. Sind Sie Ihrer Sache auch vollkommen sicher?«

 

»Ja.«

 

Blessington ging im Zimmer auf und ab. Die Hände hatte er in den Taschen vergraben.

 

»Knipsen Sie alle Lampen an. Wir wollen nachschauen, ob wir im Zimmer etwas finden können.«

 

Zunächst untersuchten sie den Fußboden, dann schoben sie Sofa und Büfett von der Wand. Aber sie fanden keinen Anhaltspunkt für den plötzlichen und geheimnisvollen Tod Harry Lemans.

 

»Dort geht es zum Schlafzimmer«, sagte der Detektiv und zeigte auf eine Tür, die hinter dem Kopfende des Sofas lag. »Ich habe zunächst einmal eine oberflächliche Untersuchung des Raumes vorgenommen, aber nichts entdecken können.«

 

»Haben Sie in den Kleidern des Toten nichts gefunden?«

 

»Nichts, was der Mühe wert gewesen wäre«, entgegnete Blessington.

 

»Hat das Papier denn nichts zu sagen?« fragte Jimmy, zeigte auf einen größeren Zettel, der halb in der Rücklehne des Sofas steckte, und zog ihn heraus. Das Papier war mit Bleistift beschrieben.

 

»Sehen Sie, das stammt von dem Schreibblock, den Miss Faith auf den Tisch legte. Wahrscheinlich hat er auf dem Block immer seine Notizen gemacht.«

 

Blessington faltete das Papier auseinander, strich es glatt und hielt es an die Lampe.

 

»Kennen Sie Lemans Handschrift?«

 

»Ja, ich habe seine Schriftzüge häufig gesehen. Er hat mir sogar die Geschichten, die von ihm handelten, kurz notiert.«

 

Jimmy sah über Blessingtons Schulter und las:

 

»Suevic: Plymouth; 30. April.«

 

Darunter stand »100«; das war ausgestrichen und »300« darübergeschrieben. Dann kamen noch einige Worte: »Eingeschriebener Brief zu Händen des Zahlmeisters.« Darunter: »Bank von Australien 24. Juni, 25. September usw.« Es folgten noch ein paar Zahlen, die ebenfalls ausgestrichen waren. Und zum Schluß war zu lesen: »C. P. 1 – 17941 – 20 – Gift.«

 

»Können Sie etwas daraus entnehmen, Jimmy? Die Sache sieht immer sonderbarer aus.«

 

Blessington nahm den Schreibblock, der auf dem Tisch lag, und trug ihn auch zum Fenster.

 

»Der Zettel ist heute geschrieben worden. Sehen Sie doch einmal die Spuren im Papier, die durch den Druck des Bleistifts entstanden sind. Das ist drüben auf dem Tisch geschrieben worden, bevor die Dame ging und Sands kam. Das ist allerdings eine sehr wichtige Entdeckung. Was sagen Sie dazu, Jimmy?«

 

»Er muß mit jemand gesprochen haben – wahrscheinlich mit der Dame, die ich beobachtete. Ich weiß, daß der alte Leman so ähnliche Notizen machte.«

 

»Könnten sich diese Angaben auch auf seine Geschäfte beziehen?«

 

Jimmy schüttelte den Kopf.

 

»Es sieht so aus, als ob er sich diese Notizen machte, um sie später zu benützen.«

 

Blessington faltete das Papier zusammen und steckte es in seine Tasche.

 

»Nun wollen wir uns einmal die Likörgläser ansehen.«

 

Er trug den kleinen Kelch wieder ans Licht und hielt ihn vorsichtig zwischen zwei Fingerspitzen am Stiel.

 

»Hoffentlich können wir ein paar Fingerabdrücke daran feststellen, aber das wird uns auch nicht viel helfen, denn es werden wahrscheinlich die Fingerabdrücke von Miss Leman sein, die die Gläser füllte. Können Sie sonst noch etwas daran entdecken?«

 

»Ja«, sagte Jimmy nachdenklich. »Jemand hat aus dem anderen Glas getrunken.«

 

»Das glaube ich auch. Jemand hat daran genippt, man kann es deutlich am oberen Rand sehen. Die Unterlippe hat sich auf dem geschliffenen Kristall markiert. Ich möchte jetzt das Verbrechen einmal rekonstruieren, so gut es geht: Der alte Mann hat einen Besuch empfangen, und dieser Besuch war ihm so wichtig, oder er hatte derartig geheime Dinge zu besprechen, daß er seine Nichte fortschickte, bevor die betreffende Person kam. Die beiden haben sich dann eine Zeitlang unterhalten, und aus Gründen, die nur der Dame bekannt sind, hat sie das Gift in das Glas Mr. Lemans gegossen und es ihm gereicht. Und daraufhin ist er gestorben.«

 

»Ihre Theorie ist ganz gut, nur in einem Punkt stimmt sie nicht. Aber wir müssen erst noch ein paar andere Fragen klären. Wie lange dauerte es, bis das Gift den Tod herbeiführte?«

 

»Ich habe den Arzt danach gefragt. Er sagte, daß vier Sekunden bei einer Vergiftung mit Blausäure genügten. Wenn die andere Annahme richtig ist, saß der Alte am Schreibtisch und schrieb. Man kann kaum annehmen, daß er während einer wichtigen Unterhaltung mit einer Dame auf dem Sofa lag.«

 

»Daher müßte man auch vermuten, daß er sofort auf den Fußboden niederstürzte, nachdem er das Gift getrunken hatte. Dem widersprechen aber die Tatsachen. Wir haben ihn nicht auf dem Boden gefunden, sondern auf dem Sofa.«

 

»Da haben Sie recht. Aber es wäre doch möglich gewesen, daß er auf dem Sofa gelegen hätte, als sie ihm das Glas reichte – und das Glas stand doch am Kopfende des Sofas.«

 

»Dann kann ich es mir nicht anders erklären, als daß der Besucher sehr gut mit Mr. Leman bekannt und vertraut war«, meinte Jimmy.

 

»Als Sie mit Miss Leman zum Hotel gingen, wußte ich noch nichts von diesem geheimnisvollen Damenbesuch. Ich stellte ein paar Nachforschungen an und gewann daraus den Eindruck, daß zwischen halb sieben und zehn Minuten nach acht niemand hier im Haus gewesen ist. Zu diesem Zeitpunkt kamen Sie doch mit John Sands hierher?«

 

Jimmy nickte.

 

»Aber Sie können doch die Anwesenheit der Dame nicht außer acht lassen.«

 

Ein anderer Beamter von Scotland Yard kam in diesem Augenblick und brachte die nötigen Akten.

 

»Ich will erst einmal die ganze Wohnung durchsuchen«, sagte der Polizeiinspektor und ging durch die fünf Zimmer, die Leman und seine Nichte bewohnt hatten. Auf der Schwelle des letzten Raumes blieb er stehen – es war das Zimmer Faiths.

 

»Ich muß auch dieses Zimmer durchsuchen«, sagte er.

 

Jimmy nickte.

 

Für ihn war es nahezu ein Verbrechen, daß ein Polizist dieses Allerheiligste durchsuchen wollte, aber er wußte, daß ein Protest keinen Zweck hatte. Blessington beendete seine Untersuchung rasch. Schließlich kam er noch zu dem kleinen Schreibtisch, in dem Faith ein paar Schmuckstücke aufbewahrte.

 

Unter einem Haufen von Taschentüchern fand er einen kleinen Kasten aus Zedernholz, in dem ein Fläschchen mit einer farblosen Flüssigkeit lag.

 

»Was ist denn das?«

 

Er nahm den Korken ab, roch daran und sah dann verstört auf.

 

»Verdammt!«

 

»Was ist denn los?« fragte Jimmy.

 

»Das kann nichts anderes als Blausäure sein – es riecht nach bitteren Mandeln.« Der Detektiv prüfte es noch einmal.

 

»Das müssen wir untersuchen lassen. Und wenn dieses Fläschchen tatsächlich Blausäure enthält, Jimmy, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Miss Leman heute abend noch zu verhaften.«