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Pamela Lane Leonard fuhr an jenem Morgen nachdenklich und ein wenig verängstigt nach Kent zurück.

 

»Warum läßt du zu, daß Lidgett so mit dir spricht, Onkel Digby?« fragte sie.

 

Major Digby Olbude blinzelte und warf ihr dann einen Blick zu.

 

»Daß er wie mit mir spricht, meine Liebe?« meinte er gereizt. »Lidgett ist ein alter Freund der Familie und hat als solcher gewisse Vorrechte.«

 

»Hast du Mr. Reeder von der Auseinandersetzung zwischen ihm und Buckingham erzählt?«

 

Olbude schwieg längere Zeit.

 

»Von einer Auseinandersetzung weiß ich nichts«, erklärte er schließlich, »und keinesfalls hätte ich Mr. Reeder davon unterrichtet – woher kennst du Mr. Reeder übrigens?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn nicht persönlich. Ich habe nur viel über ihn gelesen – er soll sehr klug sein.«

 

Nach einer Pause meinte sie: »Warum erlaubst du Lidgett, daß er so grob mit dir umspringt und mich anfaucht, als wäre ich – nun, ein Dienstmädchen?«

 

Der Major atmete tief ein.

 

»Du irrst dich, Pamela. Lidgett mag ja ein bißchen ungebildet sein, aber seine Dienste sind unschätzbar. Ich werde trotzdem mit ihm sprechen.« Er schwieg längere Zeit. Schließlich fragte er: »Wann haben sie gestritten – Buckingham und Lidgett?«

 

»Ich habe sie eines Tages im Wald beobachtet. Buckingham schlug ihn nieder. Es war schrecklich.«

 

Olbude fuhr sich mit den Fingern durch das weiße Haar.

 

»Das ist alles sehr schwierig«, meinte er seufzend. »Dein Vater hat ausdrücklich bestimmt, daß Lidgett unter keinen Umständen entlassen werden dürfe. Bevor du fünfundzwanzig bist, kannst du leider gar nichts unternehmen, meine Liebe.«

 

Unvermittelt fragte er: »Was hast du zu dem jungen Mann gesagt?«

 

Dieselbe Frage hatte er erst vor wenigen Minuten gestellt.

 

»Ich hab’s dir doch schon erzählt«, erwiderte sie kurz. »Er hat mich vor einem Unfall bewahrt, und ich dankte ihm.«

 

Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber Pamela fühlte, daß ihr Gewissen unbelastet war.

 

Sie wollte ihrem Onkel etwas sagen, brachte es aber nicht fertig, das Unglaubliche in Worte zu kleiden. Die Tatsache, daß der Mann, den sie haßte und fürchtete, nur durch eine massive Glasscheibe von ihr getrennt am Steuer des Wagens saß, genügte, um sie zum Schweigen zu veranlassen. Sie hätte vielleicht überhaupt nicht mehr davon gesprochen, wenn nicht ihr Onkel zu diesem Thema zurückgekehrt wäre.

 

»Lidgett ist eben ungeschliffen. Man muß das mit seiner Treue verrechnen, Pamela. Er ist der Familie sehr ergeben –«

 

»Na, hör mal!« sagte sie erbost. »Weißt du denn überhaupt, daß er mir einen Heiratsantrag gemacht hat?«

 

Olbude starrte sie entgeistert an.

 

»Einen Heiratsantrag?« fragte er ungläubig. »Das hat er wirklich gewagt? Ich hab‘ ihm doch ausdrücklich erklärt, daß er unter keinen Umständen –«

 

»Er hat es vorher mit dir besprochen?« sagte sie entsetzt. »Und du hast ihn überhaupt angehört? Das darf doch nicht wahr sein! Ich hätte nie gedacht, daß du von der Sache weißt! Hast du denn nicht – Onkel, was hast du getan?«

 

Er rutschte unruhig hin und her und wich ihrem Blick aus.

 

»Er ist ein ungeschliffenes Juwel«, erklärte er leise. »Lidgett hat viele gute Seiten. Natürlich mangelt es ihm an Bildung, und außerdem ist er zwanzig Jahre älter als du, aber man darf seine Qualitäten nicht übersehen.«

 

Sie lehnte sich sprachlos in ihre Ecke und sah ihn fassungslos an. Er mußte angenommen haben, daß das Loblied auf Lidgett sie beeindruckte, da er fortfuhr: »Lidgett war Zeit seines Lebens sehr sparsam. Dank der Großzügigkeit deines Stiefvaters halte ich ihn sogar für sehr reich. Und der Altersunterschied ist in Wirklichkeit gar nicht entscheidend.« Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen, denn er erkundigte sich schnell: »Du hast doch O’Ryan nichts davon erzählt?«

 

»O’Ryan?« wiederholte sie. »Kennst du ihn denn?«

 

»Du bist anscheinend ganz gut informiert«, erwiderte er schnell. »Hat er dir in dem kurzen Augenblick seinen Namen genannt?«

 

Sie nickte. »Ja, das hat er getan. Wo bist du ihm begegnet?«

 

Er wich der Frage aus. »Das gehört nicht hierher. Ich glaube nicht, daß er mich kennt. Er war fast noch ein Kind, als ich ihn zum letztenmal sah, und damals trug ich einen Schnurrbart – er hat doch nicht etwa gesagt, daß er mich kennt?« fragte er besorgt.

 

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben nicht über dich gesprochen.«

 

»Worüber denn?« erkundigte er sich.

 

Sie zögerte. »Das ist für dich nicht von Interesse«, sagte sie.

 

*

 

Als sie angekommen waren, ging sie sofort auf ihr Zimmer und begann einen Brief zu schreiben. Wahrscheinlich würde es diesem Schreiben genauso ergehen wie ihren übrigen Briefen. Die Dienerschaft in Sevenways Castle wurde von Lidgett beherrscht, und Pamela wußte aus Erfahrung, daß jeder ihrer Briefe durch seine Hände ging.

 

Seit sie von der Schule zurückgekommen war, hatte sich Lidgett als Herr und Meister aufgespielt, während ihr Onkel kaum etwas zu sagen hatte. Lidgett stellte Personal ein, Lidgett entließ die Leute wieder, ohne sich mit seinem Arbeitgeber zu besprechen; Lidgett nahm den Wagen, wenn er ihn brauchte, fuhr zu seinem Vergnügen nach London, ließ sogar bauliche Veränderungen durchführen, ohne irgend jemanden zu Rate zu ziehen.

 

Er war eines Nachmittags im Wohnzimmer erschienen und hatte ohne lange Vorrede um ihre Hand angehalten.

 

»Wahrscheinlich werden Sie beleidigt sein, Miss Pamela, weil Sie mich für einen sehr gewöhnlichen Menschen halten. Ich habe ein bißchen was gespart und möchte heiraten. Ich bin verliebt in Sie.«

 

»In mich?« Sie war zu verblüfft, um Ärger empfinden zu können.

 

»Genau«, erklärte er kühl. »Ich habe mit dem Major noch nicht darüber gesprochen, aber er wird kaum etwas einzuwenden haben. Es kommt häufig genug vor, daß Damen ihre Chauffeure heiraten, und ich werde Ihnen mindestens ein ebenso guter Ehemann sein wie diese eingebildeten Strohköpfe, die Ihnen vielleicht noch vorgestellt werden.«

 

Sie war so fassungslos gewesen, daß es ihr nicht einmal gelang, ihm die richtige Abfuhr zu erteilen.

 

Und jetzt wußte sie vor Verzweiflung nicht aus noch ein. Lidgett machte keinerlei Anstrengung, seine beherrschende Stellung zu verbergen. Er hatte es sogar in Anwesenheit Larrys gewagt, sie anzubrüllen, und während sie den Brief schrieb, klopfte es an ihre Tür. Sie hörte seine verhaßte Stimme, legte den Brief hastig unter das Löschpapier, drehte den Türschlüssel um und öffnete.

 

»Was hat dieser Kerl auf französisch zu Ihnen gesagt?« fragte er.

 

Sie hatte sich jetzt völlig in der Gewalt.

 

»Was er gesagt hat, ist unwichtig, Lidgett«, erwiderte sie kühl. »Aber ich hatte ihm etwas Entscheidendes mitzuteilen. Ich sagte ihm, daß ich praktisch als Gefangene hier im Haus gehalten werde, daß Sie hier den Herrn spielen und mich sogar gebeten haben, Ihre Frau zu werden. Ich sagte ihm, daß ich mich fürchte, und bat ihn, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.«

 

Sein Gesicht wurde rot und dann leichenblaß.

 

»So, das haben Sie getan, wie?« Seine Stimme klang schrill. »Sie haben also Lügen über mich erzählt!«

 

»An dem Tag, als ich knapp einem Unfall entkam«, fuhr sie fort, »war ich auf dem Weg zu Mr. Reeder, dem Detektiv. Ich lasse mich von Ihnen nicht wie ein Dienstmädchen behandeln. Hier im Hause stimmt etwas nicht, und ich werde schon herausfinden, was los ist. Major Olbude hat überhaupt nichts zu sagen; Sie kommandieren ihn genauso herum wie mich, und dafür muß es einen Grund geben. Mr. O’Ryan wird ihn schon finden.«

 

»Wird er das? Sie wissen doch, was er ist, nehme ich an? Ein Verbrecher – er stand wegen Einbruchs vor Gericht. Solche Freunde suchen Sie sich aus!« rief er keuchend. »Nun, wir werden schon sehen!«

 

Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer. Sie schloß hinter ihm die Tür ab. Zum erstenmal wagte sie zu hoffen. Wer wußte, was die Nacht bringen würde? Denn sie hatte Larry O’Ryan auch noch etwas anderes erzählt, was Lidgett nicht wußte.

 

*

 

Mr. Reeder schlief fest und traumlos, wie jede Nacht. Er war kurz nach zehn Uhr zu Bett gegangen. Gegen vier Uhr morgens stand er auf, setzte Wasser für den Tee auf den Herd und ließ sein Bad einlaufen.

 

Um halb fünf arbeitete er bereits an seinem Schreibtisch.

 

Er besaß eine erstklassige Bibliothek, deren Bände über alle menschlichen Schwächen und Eigenheiten berichteten. Er nahm einen Band heraus und blätterte darin herum. Ja, es gab genug Parallelfälle für die Hortung von Geldschätzen. Der Fall Schneider, der Fall van der Hyn, der polnische Baron Poduski, der Bankier Lamonte und der exzentrische amerikanische Millionär Mr. John G. Grundewald – sie alle hatten Gold in riesigen Mengen aufgehäuft. Zwei von ihnen fügten ihren Testamenten ähnliche Bestimmungen ein wie Mr. Lane Leonard.

 

Mr. Reeder versuchte, Buckinghams Leben als Geschäftsmann zu rekonstruieren. Er hatte neben anderen einen gewaltigen Schatz bewacht. Man konnte nicht nachweisen, daß er Gelegenheit zum Stehlen gehabt hätte, aber trotzdem war es ihm auf irgendeine Art gelungen, große Summen in seinen Besitz zu bringen, und diese Beträge wurden in Gold auf die Bank einbezahlt. Die Entdeckung war Reeder am vergangenen Nachmittag gelungen. Bis zu fünfzig- und sechzigtausend Pfund waren in Gold auf das Konto der Land Development Company einbezahlt worden, so viel, daß man die Firma gebeten hatte, die Herkunft der Barren zu erklären. Darauf hatte die Firma erwidert, daß man sich nach einer anderen Hausbank umsehen werde, wenn man solchen Belästigungen ausgesetzt sei.

 

Wann konnte das Gold gestohlen worden sein? Buckingham hatte man am Sonntag tot aufgefunden, und Major Olbude war am Freitag davor zum letztenmal in der Schatzkammer gewesen. Sobald er sie an diesem Morgen wieder inspizierte, würde Mr. Reeder telefonisch in die Grafschaft Kent gerufen werden.

 

Es wurde hell. Mr. Reeder zog die Jalousien hoch und sah auf die regennasse Straße hinaus. Die Wolken hingen schwer und bleifarben über der Stadt. J. G. braute sich noch eine Tasse Tee, dann trat er wieder ans Fenster und starrte hinunter. Er hörte einen Motor aufheulen. Ein Wagen kam um die Ecke von der Lewisham High Road. Er verfolgte einen Zickzackkurs, der darauf schließen ließ, daß der Fahrer nicht ganz nüchtern war. Zu Mr. Reeders Überraschung hielt der Wagen vor seinem Haus. Nach einer Weile taumelte ein Mann heraus. Er ging schwankend durch den Vorgarten und stolperte die Steintreppe hinauf. Bevor er die Tür erreichte, war Mr. Reeder bereits hinuntergeeilt, um sie zu öffnen. Er fing Larry O’Ryan in seinen Armen auf und stützte ihn.

 

»Es geht schon«, murmelte Larry. »Ich brauche ein bißchen Wasser. Kann ich mich einen Augenblick setzen?«

 

Mr. Reeder schloß mit einem Tritt die Tür und führte den jungen Mann zu einer Sitzbank in der Diele.

 

»Es geht gleich wieder. Ich habe ein bißchen Blut verloren«, brummte Larry.

 

Der Mantel war an den Schultern rot gefärbt und Larrys Gesicht unter den breiten, roten Streifen kaum zu erkennen.

 

»Alles in Ordnung«, sagte er wieder. »Ich hab‘ nur ein bißchen den edlen Ritter gespielt.« Er lächelte schwach. »Gebrochen scheint nichts zu sein, obwohl das Autofahren kein Vergnügen war. Ich bin froh, daß ich keinen Revolver bei mir hatte. Ich hätte geschossen. Jetzt kann ich schon wieder gehen.« Er stand auf und schwankte.

 

Mr. Reeder führte ihn die Treppe zum Bad hinauf, tränkte ein Handtuch im Wasser und säuberte sein Gesicht. Unter dem Haar zeigte sich eine klaffende Platzwunde.

 

»Ich glaube, es war der Chauffeur. Ganz sicher bin ich mir nicht. Ich hatte den Wagen einen Kilometer vor Sevenways Castle abgestellt und mache mich zu Fuß auf den Weg.«

 

Mr. Reeder schnitt Larrys Haar im Bereich der Wunde ab und desinfizierte die Verletzung.

 

»Jedenfalls hab‘ ich mit ihr gesprochen«, stieß Larry hervor.

 

»Sie haben mit ihr gesprochen?« fragte Mr. Reeder erstaunt. »Ja, wenn auch nur ein paar Sekunden. Sie konnte nicht durch das Fenster, es war vergittert, und die Tür hatte man abgesperrt. Aber wir konnten uns kurz unterhalten. Ich hatte eine zusammenlegbare Leiter bei mir, um das Fenster zu erreichen. Sie werden das Ding in einer Anpflanzung neben der Auffahrt finden.«

 

Mr. Reeder sah ihn düster an. »Wollen Sie damit sagen, daß Miss Leonard gefangengehalten wird?«

 

»Allerdings. Es gibt im Haus zwar Personal, aber es ist von ein und demselben Mann ausgewählt worden. Und ein Großteil des Geldes hat sich verflüchtigt.«

 

J. G. Reeder schwieg lange.

 

»Woher wissen Sie das?« erkundigte er sich schließlich.

 

»Ich ging hinein und sah es mir an«, erwiderte Larry gelassen. »Der Major wird wahrscheinlich behaupten, ich hätte es gestohlen, aber das ist eine physische Unmöglichkeit. Ich hatte immer vor, mir diese Schatzkammer anzusehen – ich besitze Photographien sämtlicher Schlüssel zu jedem Tresor, den die bewußte Panzerschrankfabrik in den letzten zehn Jahren angefertigt hat. Woher ich diese Bilder habe, möchte ich lieber nicht sagen. Jedenfalls war es das leichteste von der Welt, die Schatzkammer zu betreten.«

 

»Die Wachen –?«

 

Larry schüttelte unvorsichtigerweise den Kopf, zuckte aber sofort zusammen. »Au! Das ist weniger angenehm! Es gibt keine Wachen. Diese Geschichte ist erlogen. Solange Lane Leonard noch lebte, war es etwas anderes. Nein, ich konnte hinein, und ebensoleicht wieder heraus. Mehr als die Hälfte der Behälter sind leer! Ich hatte meinen Wagen fast wieder erreicht, als ich überfallen wurde, jemand mußte meinen Wagen bemerkt und meine Rückkehr abgewartet haben. Ich hab‘ mich immer für sehr schlau gehalten. Ich sah niemanden, hörte aber ein leises Geräusch und drehte mich um. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet.«

 

»Sie haben den Mann nicht gesehen, der Sie niedergeschlagen hat?«

 

»Nein, es war ziemlich dunkel, aber der Kerl wird noch lange an mich denken. Ich hatte einen Degenstock bei mir – ein Souvenir aus Spanien. Bevor der Bursche zum zweitenmal zuschlagen konnte, versetzte ich ihm eins über den Kopf, daß er schrie und davonrannte. Ich weiß nicht, wie ich zum Wagen und nach London zurückgekommen bin.«

 

»Darf ich fragen«, meinte Mr. Reeder, »warum Sie eigentlich nach Sevenways gefahren sind?«

 

»Sie bat mich, sie aufzusuchen – sie bediente sich der französischen Sprache, weil sie nicht vom Chauffeur belauscht werden wollte. Bei dieser Gelegenheit erzählte sie mir auch, daß Sie zu Ihnen kommen wollte. Ihr Zimmer geht auf den Park hinaus – das Gebäude wird als Schloß bezeichnet, in Wirklichkeit ist es ein Haus im Tudor-Stil –, das dritte Fenster rechts vom rückwärtigen Eingang. Wie ich schon sagte, war das Fenster vergittert, so daß aus meinem Plan nichts wurde.«

 

»Was hatten Sie denn vor, um Himmels willen?« fragte J. G.

 

»Ich wollte sie entführen«, erklärte Larry gelassen. »Das war ihr Einfall.«

 

Mr. Reeder erstarrte.

 

»Sie wollten sie entführen?« sagte er ungläubig.

 

»Natürlich. Sie hat mich darum gebeten. Das klingt zwar albern, aber es ist einfach so. Sie muß sehr viel Vertrauen zu mir gehabt haben, oder sie war eben sehr verzweifelt.«

 

Mr. Reeder ging trotz der Proteste Larrys zum Telefon. »Ich brauche wirklich keinen Arzt. Ein Schlag auf den Kopf ist doch nicht so schlimm.«

 

»Schlimm genug bei einer acht Zentimeter langen Platzwunde«, sagte Mr. Reeder.

 

Eine halbe Stunde später erschien ein Arzt, der Larrys Wunde nähte. Mr. Reeder bestand darauf, Larry im Hause zu behalten, eine sehr seltene Ehre, denn das war der erste Gast, an den sich Mr. Reeders Haushälterin erinnern konnte.

 

*

 

Am frühen Nachmittag erreichte Mr. Reeder Sevenways Castle. Es stand in einem großen Park, und Larry hatte mit Recht behauptet, daß das Gebäude sehr wenig Ähnlichkeit mit einem Schloß hatte. Es war im Tudor-Stil erbaut und wies an einem Flügel einen ziemlich häßlichen, modernen Anbau auf. Das mußte die Schatzkammer sein.

 

Er hatte seine Ankunft telefonisch angemeldet, und Major Olbude erwartete ihn auf der Veranda. Er führte ihn in die getäfelte Bibliothek, wo im offenen Kamin ein Feuer brannte.

 

»Ich war mir nicht ganz klar, ob ich Ihre Ankunft abwarten oder die Polizei verständigen sollte. Irgendein Raufbold überfiel gestern nacht mit einer Stichwaffe einen meiner Wildhüter. Ich mußte ihn nach London ins Krankenhaus bringen lassen. Ehrlich gesagt, Mr. Reeder, die Ereignisse der letzten Tage haben mich so nervös gemacht, daß ich es für besser hielt, meine Nichte nach Paris zu schicken. Wenn man sich überlegt, daß einer meiner Wächter getötet und mein Wildhüter überfallen wurde, hat es beinahe den Anschein, als sollte ein Überfall auf die Schatzkammer vorbereitet werden. Wenn ich nicht durch die Bestimmungen des Testaments gebunden wäre, hätte ich den ganzen Inhalt der Kammer in den Tresor einer Londoner Bank schaffen lassen. Übrigens werden Sie sicher erleichtert sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich den Tresor heute inspiziert habe, ohne etwas Verdächtiges zu finden. Sämtliche Behälter sind nach wie vor versiegelt, wie ich es auch nicht anders erwartet habe. Ich brauche Ihnen kaum zu erklären, daß ich sehr froh darüber bin. Natürlich hätte ich mir darüber gar keine Sorgen zu machen brauchen. Der Tresor ist absolut sicher, und wenn Buckingham nicht ein ausgesprochener Fachmann war, hätte er die Tür nicht aufbrechen können, ohne sofort entdeckt zu werden. Den Schlüssel habe ich Tag und Nacht bei mir. Ich trage ihn an einer silbernen Kette um den Hals.«

 

»Und die Behälter sind alle in Ordnung?« erkundigte sich Mr. Reeder.

 

»Jawohl. Möchten Sie den Tresor besichtigen?«

 

Mr. Reeder folgte ihm einen langen Gang entlang, in einen kleinen Raum, der offensichtlich als Arbeitszimmer diente, dann durch eine Stahltür, die Olbude aufschloß, in einen kleinen Vorraum mit vergittertem Oberlicht. Hier erreichten sie eine weitere Stahltür und kamen dann in einen schmalen Korridor; der zur eigentlichen Schatzkammer führte.

 

Sie war ein riesiger Tresor aus Beton und Stahl, mit einer angeschlossenen Wohnküche, wo die Wachen saßen. Dieser Raum befand sich unmittelbar gegenüber der Stahltür zur Schatzkammer.

 

»Ich glaube, man kann sogar mit Recht von einem Gewölbe sprechen«, erklärte der Major, »weil die Kammer ungefähr eineinhalb Meter in die Erde eingelassen ist – man geht eine kleine Treppe hinunter.«

 

Mr. Reeder sah sich um. »Wo ist die Wache?« fragte er.

 

Major Olbude breitete verzweifelt die Arme aus.

 

»Ich fürchte, ich habe den Kopf verloren. Ich zahlte jedem einen Monatslohn aus und entließ die Leute, als ich zurückkam. Das war wahrscheinlich dumm von mir, weil man sich auf die Männer verlassen konnte, aber wenn man einmal argwöhnisch geworden ist, hat es wohl wenig Zweck, auf halbem Weg stehenzubleiben.«

 

Mr. Reeder besah sich die Stahltür genau. Er bemerkte jedoch sofort, daß nur ein Genie von Einbrecher den Eintritt in die Schatzkammer hätte erzwingen können, und auch das nur mit Hilfe modernster Werkzeuge. Es war auf keinen Fall eine Aufgabe für einen einzelnen Mann, schon gar nicht für einen Amateur.

 

Er kehrte ins Haus zurück, die Hände in den Taschen, den unvermeidlichen Schirm über den Arm gehängt, die Melone ins Genick geschoben. Er blieb stehen, um eine der Statuen zu bewundern, die in der großen Eingangshalle aufgestellt waren.

 

»Ein sehr altes Haus«, sagte er. »Ich interessiere mich ganz besonders für diese englischen Landsitze. Wäre es möglich, daß ich das Haus besichtigen könnte?«

 

Major Olbude zögerte.

 

»Warum nicht?« meinte er schließlich. »Viele Zimmer sind allerdings abgeschlossen; wir benützen nur einen Flügel.«

 

Sie gingen von Zimmer zu Zimmer. Der große Wohnsalon war leer. Aber auf einem niedrigen Tisch bemerkte Mr. Reeder ein Buch. Es war aufgeschlagen und lag mit dem Rücken nach oben; jemand wünschte also unbedingt dort fortzufahren, wo er zuletzt gelesen hatte. Daneben lag eine Brille und ein Futteral. Reeder sagte nichts. Er ging weiter ins Speisezimmer mit der Täfelung und den künstlerisch verarbeiteten Fensterstöcken. Er bewunderte das geschnitzte Wappen des ursprünglichen Besitzers und lauschte aufmerksam, während Major Olbude die Geschichte von Sevenways Castle berichtete.

 

»Das obere Stockwerk wollen Sie doch sicher nicht sehen?«

 

»O doch. Die alten Schlafzimmer in diesen Landsitzen interessieren mich ganz besonders. Innenarchitektur ist mein Hobby«, erklärte Mr. Reeder entgegen aller Wahrheit.

 

Sie stiegen eine breite Treppe empor. Oben zog sich ein Korridor entlang. Die Türen führten zu den Schlafzimmern.

 

»Das ist das Zimmer meiner Nichte.«

 

Major Olbude öffnete eine Tür und gab den Blick auf ein düster wirkendes Zimmer mit Himmelbett frei. »Wie ich schon sagte, fuhr sie heute morgen nach Paris –«

 

»Und hinterließ alles in peinlichster Ordnung«, murmelte Mr. Reeder. »Sehr erfreulich bei einer modernen jungen Dame.«

 

Nichts ließ erkennen, daß der Raum bewohnt gewesen war. Es roch sogar ein wenig muffig.

 

»In diesem Flügel gibt es sonst nichts Interessantes zu sehen, außer meinem Schlafzimmer«, erklärte Major Olbude und führte seinen Gast an der Treppe vorbei. Er beschleunigte seine Schritte, aber Mr. Reeder blieb vor einer Tür stehen.

 

»Es gibt übrigens einen sehr berühmten Ausspruch eines Franzosen über einen englischen Landsitz«, erklärte Reeder feierlich. »Sprechen Sie – äh – Französisch?«

 

Olbude bemerkte etwas beschämt, daß er zwar Griechisch und Lateinisch gelernt habe, die modernen Sprachen aber leider nicht beherrsche.

 

»Der Franzose sagte folgendes«, erklärte Mr. Reeder und rief etwas auf französisch, und zwar sehr laut. Hätte der gute Major Olbude Französischkenntnisse besessen, dann wäre ihm folgendes zu Ohren gekommen: »Wenn Sie im Zimmer sind, bewegen Sie bitte Ihren Vorhang, sobald Sie mich vor dem Haus sprechen hören.«

 

»Ich sagte doch schon, daß ich das nicht verstehe«, erklärte Olbude etwas beleidigt.

 

»Der Franzose meinte«, übersetzte Mr. Reeder freundlich, »daß der Engländer unter einem guten Haus ein bequemes Bett in einer Festung versteht. Und jetzt«, meinte er, als sie die Treppe hinuntergingen, »würde ich gern das Haus von außen sehen.«

 

Sie wanderten den Kiesweg entlang, der parallel zur Rückseite des Hauses lief. Major Olbude wurde immer ungeduldiger; darüber hinaus zeigte er eine wachsende Besorgnis indem er sich ständig umsah, als erwarte er einen unwillkommenen Besucher. Mr. Reeder entging nichts.

 

Als er unter dem dritten Fenster rechts vom Eingang stand, sagte er laut, indem er auf eine entfernte Baumgruppe deutete: »Wurde dort Ihr Wildhüter überfallen?«

 

Während er sprach, warf er schnell einen Blick über die Schulter. Der Vorhang am dritten Fenster bewegte sich.

 

»Nein, das war auf der gegenüberliegenden Seite«, fertigte ihn der Major kurz ab.

 

»Jetzt wollen Sie sich wahrscheinlich das Zimmer Buckinghams ansehen? Die Polizei war heute morgen hier und hat alles durchsucht, also wird sich eine neuerliche Überprüfung wohl nicht lohnen. Soviel mir bekannt ist, wurde auch nichts gefunden.«

 

Mr. Reeder sah ihn nachdenklich an.

 

»Nein, ich glaube nicht, daß ich Buckinghams Zimmer sehen möchte, aber ich hätte nicht übel Lust, Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Darf ich das Innere der Schatzkammer sehen?«

 

»Nein, das dürfen Sie nicht.« Olbudes Stimme klang scharf und unfreundlich. Er schien das sofort zu bemerken, weil er hinzufügte: »Verstehen Sie mich recht, Mr. Reeder, meine Verantwortung ist sehr groß. Meine Aufgabe belastet mich so sehr, daß ich schon daran gedacht habe, das Gericht um Bestellung eines neuen Vermögensverwalters zu bitten.«

 

Sie waren in die Bibliothek zurückgekehrt. Mr. Reeder gab sich nicht länger als der ein wenig schüchterne ältere Herr. Er sprach knapp und befehlend.

 

»Ich möchte Ihre Nichte sprechen.«

 

»Sie ist nach Paris gefahren.« – »Wann?«

 

»Heute morgen, mit dem Wagen.«

 

»Ich möchte Sie etwas fragen. Ist Ihre Nichte kurzsichtig? Trägt sie eine Brille?«

 

Olbude ließ sich überrumpeln. »Ja. Der Arzt hat ihr eine Brille zum Lesen verordnet.«

 

»Wie viele Brillen hat sie?«

 

Major Olbude zuckte die Achseln.

 

»Was sollen diese albernen Fragen?« meinte er gereizt. »Soviel ich weiß, hat sie nur eine Brille, blaues Schildpatt –«

 

»Würden Sie mir dann freundlichst erklären, warum sie eine lange Reise antrat, ohne ihre Brille mitzunehmen? Sie liegt nämlich im Wohnsalon. Ich möchte ihr Zimmer sehen.«

 

»Das habe ich Ihnen bereits gezeigt«, erwiderte Olbude mit erhobener Stimme.

 

»Ich möchte das dritte Zimmer links von der breiten Treppe sehen.«

 

Olbude warf ihm einen Blick zu und lachte dann.

 

»Mein lieber Mr. Reeder, das ist doch sicherlich nicht die Art der Staatsanwaltschaft.«

 

»Es ist meine Art«, knurrte Mr. Reeder.

 

Nach einer längeren Pause sagte Major Olbude: »Gut, ich gehe hinauf und hole sie.«

 

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich mit.«

 

Vor der Tür zum Zimmer von Miss Lane Leonard zögerte Mr. Olbude.

 

»Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, obwohl ich nicht einsehe, daß Sie die Sache etwas angeht«, erklärte er. »Meine Nichte war sehr indiskret. Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, wollte sie mit einem Unbekannten entfliehen, der meines Wissens vorbestraft ist – das dürften Sie bestätigen können, weil Sie mit dem Fall zu tun hatten. Als ihr Vormund habe ich natürlich gewisse Pflichten, und meine Notlüge über ihre Reise nach Paris –«

 

»Vielleicht wird sie mir das alles selbst erklären.«

 

Major Olbude nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloß die Tür auf.

 

»Komm heraus, Pamela. Mr. Reeder möchte dich sehen.«

 

Sie trat ans Licht; ihre Augen waren unverwandt auf ihren Vormund gerichtet.

 

»Es trifft doch zu, daß du das Haus verlassen wolltest, und daß ich dich deswegen in deinem Zimmer eingesperrt habe?«

 

Sie nickte. Man konnte deutlich erkennen, daß sie vor Angst kein Wort herausbrachte. Reeder spürte jedoch, daß nicht der Major ihr diese Furcht einflößte.

 

»Das ist Mr. Reeder. Du hast ihn, glaube ich, gestern kennengelernt. Mr. Reeder scheint der Ansicht zu sein, daß hinter meiner erzieherischen Maßnahme etwas Unheimliches steckt. Habe ich dich in irgendeiner Hinsicht schlecht behandelt?«

 

Sie schüttelte den Kopf, aber so schwach, daß man es kaum bemerkte.

 

»Möchtest du Mr. Reeder irgend etwas sagen – irgendeine Beschwerde vorbringen? Mr. Reeder hat mit der Staatsanwaltschaft zu tun.« Olbudes Stimme nahm einen schwülstigen Klang an. »Wenn ich in irgendeiner Weise ungesetzlich gehandelt habe, wird er dafür sorgen –«

 

»Das ist doch alles ganz unnötig, nicht wahr, Major Olbude?« sagte Reeder ruhig. »Ich meine, dieses – äh – Einsagen und Drohen. Wenn ich mich vielleicht ein paar Minuten in der Bibliothek allein mit der jungen Dame unterhalten könnte –«

 

»Worüber? Sie möchten ihr ein paar Fragen über mich stellen, nicht wahr?« erkundigte sich Olbude.

 

»Merkwürdigerweise kam ich hierher, um Ermittlungen in der Mordsache Buckingham anzustellen. Wenn Sie damit etwas zu tun haben, werde ich ihr bestimmt Fragen über Sie stellen.« Er sah den anderen unverwandt an. »Wenn Sie allerdings in die Sache nicht verwickelt sind, haben Sie von unserem Gespräch auch nichts zu befürchten, Major Olbude. Kannten Sie Buckingham, Miss Leonard?«

 

»Ja«, sagte sie leise. »Aber nicht sehr gut. Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet.«

 

»Wir gehen wohl besser in die Bibliothek«, unterbrach Olbude mit stockender Stimme. »Ich glaube nicht, daß Ihnen Pamela helfen kann, aber da Sie darauf bestehen, sie zu verhören, werde ich Ihnen nichts in den Weg legen. Ich bin natürlich nicht begeistert davon, daß ein junges Mädchen gezwungen wird, über einen Mord zu sprechen, aber wenn das die Methoden der Staatsanwaltschaft sind, bitte sehr.«

 

Er führte sie in die Bibliothek zurück, machte aber keine Anstalten, sich zu entfernen, vielmehr setzte er sich in den bequemsten Stuhl und lauschte.

 

Sie wußte wenig über Buckingham. Mr. Reeder konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie sich nicht im mindesten für den Mordfall interessierte. Sie hatte das Bild in der Zeitung gesehen und die Aufmerksamkeit ihres Onkels auf den Fall gelenkt. Sie konnte nichts über die Schatzkammer berichten, da sie sie nur von außen gesehen hatte und auch keinen der Wächter kannte.

 

Olbudes Gegenwart schien ihr nichts auszumachen, aber bei jeder Antwort auf Reeders Fragen warf sie einen verängstigten Blick zur Tür, als erwarte sie jemanden. Mr. Reeder konnte sich durchaus vorstellen, wer das war.

 

Er sah auf die Uhr, und sein Benehmen änderte sich plötzlich. Er war zu dem Mädchen bisher sehr liebenswürdig gewesen, aber nun sagte er scharf: »Ihre Antworten befriedigen mich gar nicht, Miss Leonard. Ich muß Sie nach Scotland Yard mitnehmen und dort weiter verhören.«

 

Einen Augenblick lang sah sie ihn entsetzt an, dann begriff sie, und Erleichterung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Der Major erhob sich.

 

»Das ist eine ausgesprochene Anmaßung«, quakte er, »und ich glaube, daß ich Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen kann. Ich werde Ihnen etwas gestehen, Mr. Reeder. Ich habe diesen Buckingham gedeckt. Einen Grund dafür kann ich Ihnen auch nicht angeben, außer, daß ich meine Nichte vor der Neugier der Öffentlichkeit schützen wollte. Als ich heute morgen die Schatzkammer betrat, stellte ich fest, daß vier Behälter leer waren. Sie fragten mich, ob Sie den Tresor sehen konnten, und ich lehnte ab. Das war sehr unklug von mir, und wenn Sie wollen, kann ich nicht nur zu dem Diebstahl, sondern auch zum Verschwinden Buckinghams einiges sagen –«

 

»Zuerst möchte ich Ihnen etwas erzählen«, unterbrach ihn Reeder. »Eine alte Geschichte. Einen Teil davon erfuhr ich von einem ehemaligen Zögling Ihrer Schule, den Rest brachte ich selbst an den Tag.«

 

Major Olbude befeuchtete seine Lippen.

 

»Es ist eine Geschichte über einen Namensvetter von Ihnen«, fuhr Reeder fort, »einen recht schlauen Mann, der Offizier bei der Landwehr war. Er hatte sogar Ihren Rang, und wenn ich mich recht erinnere, hieß er mit dem Vornamen – äh – Digby.«

 

Er sah, wie sich Olbude verfärbte.

 

»Unglücklicherweise war er rauschgiftsüchtig«, erklärte Mr. Reeder, ohne seine Augen von dem Gesicht des anderen abzuwenden, »und man muß gerechterweise zugeben, daß er sich dieser Schwäche schämte. Als er so weit hinabsank, daß er mit Kokain handelte, nahm er einen anderen Namen an. Ich veranlaßte seine Verhaftung. Er gestand mir, daß er reiche Verwandte habe, die ihm helfen könnten. Er erwähnte sogar einen Schwager, namens Lane Leonard. Zu diesem Zeitpunkt war er, wie ich schon erwähnte, ziemlich tief gesunken. Ich bin nicht gerade ein Menschenfreund, aber ich habe eine Schwäche für Hilflose, und je hilfloser sie sind – desto mehr bemühe ich mich, etwas für sie zu tun. Der Erfolg gibt mir selten recht. Bei Major Digby Olbude konnte ich leider nichts erreichen. Ich blieb mit ihm nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in Verbindung, aber nach einiger Zeit tauchte er unter, und ich hörte nichts mehr von ihm, bis ich erfuhr, daß er im Krankenhaus St. Pancras verstorben war. Man beerdigte ihn unter dem Namen Smith, aber zum Unglück für alle Beteiligten hielt sich zur damaligen Zeit auch ein alter Bekannter von Olbude in dem genannten Krankenhaus auf. Dieser Bekannte nun wurde zum Verbindungsglied, über welches Lidgett den Unglücklichen aufspüren konnte.«

 

Olbude fand seine Stimme wieder. »Es gibt sehr viele Olbudes auf der Welt«, sagte er, »und Digby ist ebenfalls nicht selten. Vielleicht war er weitläufig mit mir verwandt.«

 

»Ich glaube nicht, daß er mit Ihnen verwandt war«, sagte Mr. Reeder sanft. »Es ist wohl besser, wenn ich mit Lidgett spreche, und dann möchte ich mit Scotland Yard telefonieren und den für den Fall Buckingham verantwortlichen Kriminalbeamten hierherbitten. Ich fürchte, das Ganze wird ziemlich unangenehm für Sie werden.«

 

»Ich weiß nichts über Buckingham«, erwiderte Olbude heiser. »Mit den Wachen hatte ich wenig zu tun. Ich bezahlte sie, und das war alles.«

 

»Wenn Sie sagen ›Wachen‹, meinen Sie natürlich nur einen Wächter«, erklärte Mr. Reeder. »Seit dem Tode Mr. Lane Leonards gab es keine Bewacher der Schatzkammer mehr. Der einzige war Buckingham gewesen. Es fiel mir wirklich nicht schwer, das herauszufinden. Haben Sie übrigens den Schlüssel zur Schatzkammer?«

 

Der andere schüttelte den Kopf.

 

»Mit einer Silberkette um den Hals?« meinte Mr. Reeder.

 

»Nein«, sagte Olbude brüsk. »Ich habe ihn nie gehabt. Lidgett trägt ihn bei sich.«

 

Mr. Reeder lächelte. »Ein Grund mehr, den unternehmungslustigen Chauffeur hierher zu bitten.«

 

Pamela hörte schweigend zu.

 

»Lidgett ist in seinem Zimmer«, erklärte Olbude schließlich. »Ich nehme an, daß es sehr ernst für mich werden wird?«

 

»Ich fürchte, ja«, erwiderte Reeder. Der Major biß sich auf die Unterlippe und sah zum Fenster hinaus.

 

»Nichts kann sehr viel schlimmer sein als das demütigende Dasein der letzten Jahre«, meinte er. »Ich habe mir nie vorstellen können, daß man für Reichtum einen so hohen Preis zahlen muß.«

 

Er sah das Mädchen mit wehmütigem Lächeln an.

 

»In dieser Schatzkammer befindet sich Gold im Werte von nahezu fünfhunderttausend Pfund«, fuhr er fort. »Ich habe neulich eine oberflächliche Berechnung angestellt. Lidgett war freundlich genug, mir die Schlüssel zu überlassen – es blieb ihm nichts anderes übrig, weil ich mich grundsätzlich weigerte, über den Inhalt der Schatzkammer eine Erklärung abzugeben, bis ich mich selbst davon überzeugt hatte, daß das Geld nicht völlig verschwunden ist.

 

Er und Buckingham besuchten gemeinsam Spielklubs. Mir ist nie ganz klargeworden, wie Buckingham sein Vertrauen gewann, aber ich könnte mir vorstellen, daß Buckingham für den Transport des Goldes nötig war. Ich möchte allerdings feststellen, daß ich nichts vom Diebstahl des Goldes wußte, obwohl ich einen gewissen Verdacht nicht loswurde. Als ich Lidgett den Diebstahl auf den Kopf zusagte, gab er offen alles zu und meinte, ich würde es nicht wagen, etwas gegen ihn zu unternehmen. Ich weiß, daß die beiden sehr viel stritten, und Miss Lane Leonard wird Ihnen erzählen können, daß es sogar zu Handgreiflichkeiten kam, bei denen Lidgett unterlag. Darauf wird wohl auch der Mord zurückzuführen sein. Und jetzt werde ich wohl besser Lidgett holen.«

 

Er verließ das Zimmer, ging die Treppe hinauf, den Korridor entlang bis zum Ende des linken Flügels und klopfte an eine Tür. Eine mürrische Stimme antwortete, und als er seinen Namen nannte, hörte er das Schlürfen von Schritten. Kurze Zeit später wurde der Schlüssel im Schloß umgedreht.

 

Lidgett trug einen Schlafrock. Sein Gesicht war bepflastert.

 

»Ist er endlich gegangen?« knurrte er.

 

Major Olbude schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein«, erklärte er gelassen. »Im Augenblick sitzt er mit Miss Lane Leonard in der Bibliothek.«

 

Lidgett riß die Augen auf. »Mit ihr? Er spricht mit ihr? Was zum Teufel soll das heißen?«

 

»Es soll heißen, daß ich Mr. Reeder die Wahrheit gesagt habe, soviel mir davon bekannt ist. Ich konnte ihm natürlich von den Umständen, die zum Mord an Buckingham geführt haben, nichts berichten, weil ich nicht weiß, was vorgefallen war. Ihre Betätigung am nächsten Tag in der Garage und das fleißige Wagen waschen lassen jedoch darauf schließen, daß der Mord in der Garage verübt wurde. Ich weiß, daß Sie im Ofen Kleidungsstücke verbrannt haben, aber das ist alles ganz unwichtig.«

 

Lidgett war sprachlos. Und dann, als er begriff, was das bedeutete, schrie er auf: »Du hinterhältiger …«

 

Mr. Reeder hörte zwei Schüsse, dann einen dritten. Er rannte die Treppe hinauf und erreichte den Schauplatz gemeinsam mit einem Diener. Als er in die Bibliothek zu Pamela zurückkehrte, war sein Gesicht ernst.

 

»Ich werde Sie nach London bringen, Miss Leonard«, sagte er. »Ich habe eines der Dienstmädchen gebeten, Ihre Sachen zu packen und sie herunterzubringen.«

 

»Ich kann doch selbst –« begann sie.

 

»Es ist nicht nötig.«

 

»Was ist passiert?« fragte sie.

 

»Wir unterhalten uns im Wagen darüber«, meinte Reeder.

 

Aber er löste sein Versprechen nicht ein. Er sagte ihr nicht einmal, daß der an einer Silberkette befestigte Schlüssel, den er in der Tasche trug, vom Hals des toten Lidgett stammte und noch mit Blutspritzern befleckt war.

 

*

 

»Die ganze Geschichte ist, soweit ich sie zusammenfügen konnte, einigermaßen kompliziert«, erklärte Mr. Reeder seinem Chef, »aber längst nicht so kompliziert, wie wir angenommen hatten. Aber das stellt sich ja immer wieder heraus.

 

Der echte Major Olbude war rauschgiftsüchtig und starb im Krankenhaus St. Pancras. Er war mit Lane Leonard verwandt und hatte früher auch geschäftlich mit ihm zu tun gehabt. Als Lane Leonard feststellte, daß er im Sterben lag, dachte er wieder an seinen Schwager und schickte Lidgett auf die Suche. Durch einen Glücksfall gelang es Lidgett, Olbude aufzuspüren. Er entdeckte, daß der Major im Armenfriedhof von St. Pancras begraben lag.

 

Nun muß man sich darüber im klaren sein, daß Lidgett recht intelligent war. Er wußte, daß die Vermögensverwaltung einem gerichtlich bestellten Treuhänder zufallen würde, wenn nicht umgehend von Lane Leonard ein Verwalter bestellt wurde. Und das hätte seine Entlassung bedeutet, da ihn Miss Pamela nicht leiden konnte. Er kam auf die Idee, einen falschen Major Olbude vorzuschieben, und seine Wahl fiel auf einen Mann, den er in einem Spielklub in der Dean Street kennengelernt hatte. Bei diesem Mann handelte es sich um einen hochtrabenden Lehrer, der vom Spielteufel besessen war und jede Woche einmal nach London fuhr.

 

Mr. Tasbitt war früher an der Fernleigh-Universität angestellt, wo auch Larry O’Ryan studierte. Es besteht gar kein Zweifel, daß Larry unschuldig war und es sich bei dem wirklichen Dieb um Tasbitt handelte. Lidgett, der sich auf den schlechten Gesundheitszustand seines Herrn verließ, brachte Tasbitt nach Sevenways Castle und stellte ihn als Major Olbude vor. Das Risiko war in Wirklichkeit sehr gering. Nur sehr wenige Leute kannten Olbude. Ich habe erst heute erfahren, daß sein Majorsrang auf Angabe beruhte. Er hatte nur zwölf Monate in der Landwehr gedient und war nur Lieutenant geworden. Aber das ist unwichtig.

 

Alles hätte geklappt, wenn Buckingham und Lidgett sich nicht in die Haare geraten wären, wahrscheinlich wegen der Aufteilung der Beute. Gemeinsam betrieben sie eine Grundstücksfirma, die zwar nicht gerade riesige Geschäfte tätigte, aber keineswegs schlecht florierte. Es ist mir inzwischen gelungen, Lidgetts Konto zu finden, und zu gegebener Zeit wird ein beträchtlicher Teil des fehlenden Geldes an den Eigentümer zurückgegeben werden.

 

Es war Pech für Tasbitt, daß O’Ryan sich in der Nähe meines Büros aufhielt, als er als Major Olbude zu mir kam. O’Ryan erkannte ihn sofort, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.«

 

Der stellvertretende Staatsanwalt stellte noch eine Frage: »Wird die junge Dame O’Ryan heiraten?«

 

Mr. Reeder nickte. »Ich denke schon«, erwiderte er würdig.

 

»Besteht denn nicht die Möglichkeit, daß er es nur auf ihr Geld abgesehen hat?«

 

Mr. Reeder schüttelte den Kopf. »Er besitzt selbst Vermögen«, meinte er ein wenig bedauernd.

 

*

 

Ende