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Jimmy wußte im voraus, was sie darauf sagen würde. Während seines Aufenthaltes in New York hatte er die Gelegenheit benützt, Nachforschungen nach ihrer Mutter anzustellen. Sie war eine liebenswürdige, freundliche Frau, die sich aber in wirtschaftlichen Dingen nicht zu helfen wußte und ähnlich wie John Sands eine Schwäche für Luxus und Komfort hatte. Daß sie dieses angenehme Leben auf Kosten ihrer Tochter führte, wußte sie wohl nicht. Und wenn sie doch wußte, wie elend sich Faith in London bei ihrem Onkel fühlen mußte, machte sie sich weiter keine Sorgen darüber.

 

Es war möglich, daß sie eine Ahnung von den Verhältnissen hatte, in denen ihre Tochter lebte, denn als sie einmal mit Jimmy von Faith sprach, gebrauchte sie den Ausdruck: »Mein armes, gutes Mädchen.« Jimmy hatte den Eindruck, daß die Frau bis zu einem gewissen Grade selbstsüchtig war und zuviel vom Leben verlangte. Mit diesen Worten, die ihr Mitleid ausdrückten, glaubte sie wahrscheinlich, den Dank abzutragen, den sie ihrer Tochter schuldig war.

 

Faith machte eine Bewegung mit den Händen, die ihre Hoffnungslosigkeit zeigte.

 

»Wie könnte ich denn von hier fortgehen?« fragte sie. »Sie wissen doch ebensogut wie ich, daß das unmöglich ist. Meine Mutter hat mir geschrieben, daß Sie sie besucht haben.«

 

Jimmy nickte.

 

»Aber Sie wissen ja selbst, daß ich nicht fort kann«, sagte sie hilflos. »Oder wie soll ich es denn Ihrer Meinung nach anstellen?«

 

Er sprach nicht weiter über dieses Thema.

 

»Ich möchte Sie nicht gern über die Verhältnisse Ihres Onkels ausfragen, und auf keinen Fall will ich Ihnen auf die Nerven fallen oder Sie beunruhigen. Sie müssen mir sofort sagen, wenn es Ihnen zuviel wird. Es wäre leicht möglich, daß ich die Grenze des Erlaubten überschreite.«

 

»Jimmy, ich will Ihnen alles sagen, was ich weiß«, entgegnete sie schnell.

 

Er lächelte fröhlich über die natürliche Art und Weise, wie sie ihn beim Vornamen nannte. Auf dieses Glück hatte er nicht zu hoffen gewagt.

 

»Erinnern Sie sich noch an den Morgen, an dem ich mich vor achtzehn Monaten von Ihnen verabschiedete?«

 

»Den werde ich nicht so leicht vergessen«, erwiderte sie und warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Es war – schön. Sie müssen nicht denken, daß ich zu frei bin, aber Sie sind der erste Mann, den ich als meinen Freund bezeichnen darf. Als Sie damals fortgingen, erschien mir das Leben ein wenig einsam und leer. Aber damit will ich nun nicht gerade sagen, daß ich« – sie sah ihn treuherzig an – »in Sie verliebt bin.«

 

»Ach nein«, entgegnete Jimmy hastig. »Selbstverständlich ist das nicht der Fall.«

 

»Oder daß ich annehme, Sie liebten mich. Männer und Frauen können ja auch gute Freunde sein, ohne daß sie sich ineinander verlieben.«

 

»Ganz bestimmt«, erklärte Jimmy mit Nachdruck. »Nichts kann einem leichter passieren, als daß man ein freundschaftliches Verhältnis mit einer hübschen jungen Dame hat.«

 

»Ja, ich kann mich noch sehr gut auf die Zeit besinnen, als Sie hier in London waren. Es waren herrliche Wochen. Und nachher haben Sie mir sofort von New York aus geschrieben – Jimmy, das war der beste und freundlichste Brief, den je ein Mann einer jungen Dame schrieb. Aber bis ich den ersten Brief bekam, fühlte ich mich so verlassen, daß ich eigentlich nicht mehr weiterleben wollte. Ich habe Sie aber eben unterbrochen …«

 

»Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als ich von London fortging? Ich meine, ein bis zwei Wochen nach meiner Abreise?«

 

»Ja, gewiß«, antwortete sie schnell.

 

»Ist Ihr Onkel damals dauernd in seiner Wohnung in der Davis Street geblieben? Ich meine, hat er alle Nächte zu Hause zugebracht?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie danach fragen. Für gewöhnlich bleibt mein Onkel niemals über Nacht fort. Und das hat auch seinen Grund. Es erscheint ihm als Verschwendung, ein Logis im Hotel zu bezahlen. Und so kommt es, daß er stets zu Hause schläft. Aber damals hat er eine Ausnahme gemacht. Mrs. Redmayne – das ist unsere Haushälterin – sagte mir noch vor ein paar Tagen, daß er vor achtzehn Monaten das erste und einzige Mal die Nacht auswärts zugebracht hätte.«

 

»Wann war denn das?« fragte Jimmy.

 

»Fünf Tage nach Ihrer Abfahrt. Er sagte mir auch nicht, wohin er ginge, er bemerkte nur in seiner gewohnten, brüsken Art am Nachmittag, daß er am Abend nicht nach Hause zurückkäme, da er mit einem Freund eine längere Autotour vorhätte und erst am nächsten Abend zurückkommen wollte.«

 

»Und wann ist er zurückgekommen?«

 

»Ich glaube, es war acht Uhr, es kann aber auch neun gewesen sein«, sagte sie, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte. »Auf jeden Fall war es spät am nächsten Abend.«

 

»War er allein?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Mr. Sands war bei ihm. Sie kamen zusammen die Treppe herauf. Ich war in meinem Zimmer und hörte sie. Mein Onkel hat gewisse Eigenheiten, und wenn Mr. Sands ihn besucht, werden immer zwei Gläser mit Kognak aufs Büfett gestellt. Die trinken sie erst, und dann spielen sie Piquet. Wenn sie fertig sind, trinken sie noch ein Glas, und darauf verabschiedet sich Mr. Sands. Solange ich die beiden kenne, war es nicht anders. Das ist eigentlich der einzige Luxus, den sich mein Onkel gestattet.

 

An jenem Abend hatte ich nun vergessen, die Gläser einzuschenken; ich wußte auch nicht genau, ob Mr. Sands kommen würde. Mein Onkel sagt mir gewöhnlich am Nachmittag, ob Mr. Sands uns abends besucht. Er rief mich ziemlich laut herunter und fragte in barschem Ton, warum ich den Kognak nicht eingeschenkt hätte. Aus diesem Grund weiß ich noch genau, wie es war. Ich kann mich auf den Tag besinnen, als ob es gestern gewesen wäre.«

 

»Hat er gesagt, wo er war?«

 

»Nein, nicht ein Wort. Er sagt mir nur selten etwas und ist sehr verschlossen. Höchstens wirft er mir vor, wieviel Geld ich ihm koste und wie enttäuscht ich sein werde, wenn ich nach seinem Tod erfahren würde, daß er sein großes Vermögen für wohltätige Zwecke bestimmt hätte.«

 

Jimmy lachte und legte ihren Arm in den seinen.

 

»Dann wissen Sie also auch nicht viel mehr über die ganze Sache als ich, Faith. Aber der Korrespondent von der ›New York Post‹ hat die Geschichte veröffentlicht, das wissen Sie doch?«

 

»Ja, ich habe es erfahren. Mein Onkel war sehr belustigt und freute sich, daß ein so großer Artikel über ihn erschien. Er hat ihn ausgeschnitten und mit einer Heftzwecke an der Wand befestigt. Sooft ich ins Zimmer kam, zeigte er darauf und fragte mich, ob ich es gesehen hätte. Er ist ein merkwürdiger Mann, daß er sich darüber freut, wenn er andere Leute ärgern kann. Selten war er so vergnügt wie damals.«

 

»Ist sonst niemand hier ins Haus gekommen?«

 

»Nein, niemand«, entgegnete sie bestimmt.

 

»Sonderbar«, sagte Jimmy und schüttelte den Kopf.

 

»Wie benimmt sich eigentlich Mr. Sands Ihnen gegenüber?«

 

»Er ist immer sehr liebenswürdig und tut alles, um die schlechte Stimmung meines Onkels zu vertreiben. Soviel ich weiß, ist er der einzige, der einen gewissen Einfluß auf ihn hat. Er tut sogar manches ohne Wissen meines Onkels, um mir das Leben leichter zu machen. Aber ich kann ihn nicht recht leiden, er ist mir zu weiblich. Zum Beispiel hat er großes Interesse an Kleidern und Hüten. Als mein Onkel neulich einmal nicht zu Hause war, mußte ich Mr. Sands unterhalten, und er sprach dauernd von nichts anderem als von Kleidern und von Garderobe. Ich hatte damals gerade mein einziges neues Kleid verdorben, indem ich eine Tasse Kaffee verschüttete. Er tröstete mich und sagte, er würde schon mit Onkel sprechen, daß ich die nötigen Kleider bekäme.« Sie lachte wieder.

 

»Das spricht jedenfalls für seinen guten Charakter«, erwiderte Jimmy nachdenklich. »Aber ich darf Sie nicht wieder so lange allein lassen, Faith.«

 

»Ja, aber wie wollen Sie das denn machen?« fragte sie und sah ihn erstaunt an.

 

»Ich muß Sie eben von hier mit mir fortnehmen«; sagte er vergnügt. »Übrigens wird es nicht lange dauern, bis ich wieder eine gute Stellung bekomme, und etwas Geld habe ich ja auch. Meine Mutter ist nicht ganz ohne Vermögen. Sie könnten bei meinen Verwandten leben.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Aber Jimmy, Sie müssen doch einsehen, daß das nicht geht. Meine Mutter ist wirklich arm, und selbst wenn ich einwilligte, daß Sie für mich sorgen, kann ich doch nicht von Ihnen verlangen, daß Sie obendrein noch meine Mutter unterhalten.« Sie machte ein trauriges Gesicht. »Ich weiß, daß ich aus der Familie Leman bin, und ich besitze wahrscheinlich auch alle die schlechten Eigenschaften der Familie, aber es gibt manchmal Zeiten –«

 

Jimmy drückte ihren Arm liebevoll und war froh, daß er sie trösten konnte.

 

*

 

Es war bereits elf Uhr, als er in sein Hotel zurückkam. Ein englischer Pressemann wartete unten im Vestibül auf ihn.

 

»Hallo, Jimmy! Wir haben gehört, daß der alte Brown sich mit Ihnen entzweit hat. Der Chefredakteur hat mich sofort hergeschickt, um Ihnen sagen zu lassen, daß bei uns immer ein Redaktionsstuhl für Sie frei ist, wenn Sie zu uns kommen wollen.«

 

Jimmy grinste.

 

»Nein, das ist nicht gut genug für mich, ich schreibe nur Geschichten, für die ich eine Million Dollar bekomme!«

 

»Wie machen Sie denn das?« fragte der andere interessiert. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie für einen Artikel oder eine Artikelserie ein so hohes Honorar erhalten?«

 

»Doch, soviel ist meine Arbeit wert«, erklärte Jimmy, »aber in Wirklichkeit bekomme ich wohl etwas weniger.«

 

Jimmy erzählte ihm nun von seinen Schwierigkeiten, und der Journalist lachte über die Einstellung der Amerikaner.

 

»Aber warum machen Sie sich denn so große Kopfschmerzen?« fragte er schließlich erstaunt. »Sie können doch sehr einfach feststellen, ob Harry Leman geheiratet hat oder nicht. Sie brauchen sich doch nur an das Zentralstandesamt in Somerset House zu wenden.«

 

Jimmy sah ihn erstaunt an, denn davon hatte er noch nie etwas gehört.

 

»Somerset House«, fuhr der andere fort, »ist die Zentralstelle, wo alle Eheschließungen, Geburten, Todesfälle, Scheidungen und andere Unglücksfälle registriert werden, die den Einwohnern Großbritanniens passieren. Wann soll denn eigentlich die Trauung gewesen sein?«

 

Jimmy gab die ungefähre Zeit an.

 

»Nun, die Sache ist wirklich furchtbar einfach.« Der Journalist erklärte Jimmy, wie er es machen müßte, um die gewünschte Aufklärung zu erhalten. Merkwürdig, dachte Jimmy, als er sich am Abend auskleidete, daß ich nicht längst auf diese einfache Lösung gekommen bin.

 

Aber schließlich war er ja nur auf Besuch in England und kannte wenig von den Einrichtungen des Landes. Glücklicherweise hatte der Sonderberichterstatter der ›New York Post‹ ebensowenig Ahnung davon wie er, und so hatte Jimmy immer noch Gelegenheit, amtliche Feststellungen über die eventuelle Trauung Harry Lemans zu machen. In der amerikanischen Presse war jedenfalls darüber noch nichts mitgeteilt worden. Der freundliche Journalist hatte versprochen, ihn am nächsten Vormittag nach Somerset House zu begleiten, und als Jimmy morgens in die Hotelhalle kam, wartete der Mann schon auf ihn.

 

Die Durchsicht der Register in Somerset House war lächerlich einfach; nach einer Viertelstunde hatten sie bereits die betreffende Eintragung entdeckt. Jimmy war bestürzt und verstört, als er den nackten Tatsachen gegenüberstand. Schwarz auf weiß konnte er hier lesen:

 

 

Harry Leman, 56 Jahre alt, Junggeselle, getraut mit Margaret Smith, 31 Jahre alt, Witwe. Die Vermählung fand statt am 29. Oktober 19.. auf dem Standesamt in Griddelsea.

 

 

»Unglaublich«, sagte Jimmy atemlos. »Und das hätte man nun schon längst hier erfahren können! Nur einen Dollar hätte ich zu zahlen brauchen, dann hätte ich schon vor achtzehn Monaten eine beglaubigte Abschrift dieser Eintragung in Händen gehabt. Wo kann ich hier schnell ein Kursbuch bekommen?«

 

»Wohin wollen Sie denn?« fragte sein Begleiter.

 

»Nach Griddelsea«, erklärte Jimmy entschlossen. »Ich will mir dort eine Abschrift der Trauungsurkunde ausstellen lassen. Und nachher gehe ich zu Harry Leman und reibe ihm die Tatsache unter die Nase. Dann muß er mir sagen, warum er die Sache bis jetzt verheimlicht hat und warum er nicht mit seiner Frau zusammenlebt. Und Sie können sich darauf verlassen, der gibt mir die Fotografie der Frau, die er geheiratet hat, sonst schreibe ich einen Artikel über ihn, den er sich nicht hinter den Spiegel steckt.«

 

Die Fahrt nach Griddelsea erschien ihm endlos – in Wirklichkeit dauerte sie nur zwei Stunden. Unterwegs arbeitete er in Gedanken schon den Entwurf der epochemachenden Geschichte aus.

 

Griddelsea ist eine ruhige Hafenstadt an der Küste von Sussex. Ohne große Schwierigkeit fand er das Standesamt und wurde auch sofort in das Büro des Amtsvorstehers geführt. Es war ein untersetzter, stämmiger Mann von mittleren Jahren, der Jimmy wohlwollend betrachtete und ihm ein Ankündigungsformular hinschob.

 

»Ach nein«, protestierte Jimmy und wurde rot. »Ich will mich hier nicht trauen lassen, ich möchte mich nur nach einer Trauung erkundigen, die vor achtzehn Monaten hier stattfand.«

 

»Ach, das war während der Amtszeit meines Vorgängers, des armen Mr. Hornblew. Können Sie mir Namen und Datum genauer angeben?«

 

Jimmy reichte ihm den kurzen Auszug aus dem Register von Somerset House. Die großen Bücher wurden nachgeschlagen, und schließlich fand man das Protokoll.

 

»Das dachte ich mir schon«, sagte der Beamte. »Es ist die letzte Trauung, die Mr. Hornblew vorgenommen hat. Ich habe von der Geschichte gehört. Der Herr – Mr. Harry Leman – wünschte durchaus, getraut zu werden, und mein armer, alter Freund war damals sehr krank und lag zu Bett. Aber er stand auf, obwohl es die Ärzte ihm verboten hatten, da ihm eine außerordentlich hohe Geldbelohnung dafür versprochen wurde. Der Sekretär hat mir oft davon erzählt. Nachher ist er dann bald gestorben. Dieser Mr. Leman ist doch ein vielfacher Millionär?«

 

»Ja«, erwiderte Jimmy erfreut. »Um den handelt es sich hier.«

 

»Und ich soll Ihnen wohl eine beglaubigte Abschrift der Trauungsurkunde ausstellen?«

 

»Ja, Sie haben mich vollkommen richtig verstanden.«

 

Jimmy fuhr mit dem nächsten Zug nach London zurück und kam kurz nach sechs dort an.