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Wentworth Gold kehrte Ende Mai nach England zurück. Er hatte seine Angelegenheiten aufs beste geordnet; seine Vorgesetzten sahen jetzt endlich ein, wie schwierig seine Aufgabe war, und behandelten ihn äußerst zuvorkommend.

 

Helder war ihm während seines Aufenthalts in Washington nicht begegnet. Er wußte auch nicht, daß Helders Besuch einen sehr dringenden Grund hatte. Die große Falschmünzerorganisation war durcheinandergeraten. Nachrichten, nach denen die dringende Gefahr der Entdeckung bestand, hatten alarmierend gewirkt, und es wurde jetzt versucht, die Arbeitsmethoden von Grund auf zu ändern.

 

Helder fuhr einige Tage früher als Gold zurück.

 

Auf der Rückreise nach England hatte Gold genügend Zeit, über Comstock Bell und dessen Frau nachzudenken. Die amerikanischen Zeitungen, die sich in großer Aufmachung mit dem Fall beschäftigt hatten, waren nicht zuletzt die Ursache gewesen, daß er jeden Tag an seinen merkwürdigen Freund erinnert wurde.

 

Vor allem war es der Fund, den Gold in Comstocks Haus am Cadogan Square gemacht hatte, an dem er herumrätselte. Es handelte sich um die Papphülle des Cookschen Reisebüros. Zwei Fahrkartenhefte waren darin gewesen, auf denen jeweils nur die Billetts von London nach Dover und von Dover nach Calais fehlten. Für die übrige Reise bis nach Wien waren noch alle Fahrkarten vorhanden. Nun wäre es ja möglich gewesen, daß Bell die Fahrkarte nach Dover und die Schiffskarte nach Calais vorher herausgenommen und die übrigen Fahrkarten zu Hause liegengelassen hätte. Seltsamerweise aber war die Karte von Calais nach Amiens gelocht, und das wiederum stand im Gegensatz zu der Vermutung, daß Bell die Fahrkarten bei seiner Abreise vergessen hatte.

 

Gold erwartete mit Sicherheit, bei seiner Ankunft in London zu erfahren, daß Comstock Bell von seiner Hochzeitsreise zurückgekehrt sei – sehr erstaunt war er, statt dessen einige Briefe von ihm vorzufinden. Einer war in Paris am Tag nach der Ankunft des Brautpaares aufgegeben worden, ein anderer, auf das Briefpapier des Swizerhof-Hotels geschrieben, kam aus Luzern. In beiden Briefen berichtete Bell von der Reise, erzählte von kleinen Erlebnissen, beschrieb das Wetter, und drückte die Hoffnung aus, daß es in London besser sei. Der dritte Brief stammte aus Wien und machte das Geheimnis nur noch undurchsichtiger. Vor allem stand in keinem der Schreiben ein Wort über den Verlust der Fahrkarten – und gerade über solche kleinen Unannehmlichkeiten ärgern sich Reisende für gewöhnlich, selbst wenn sie noch so reich sind.

 

Gold mußte sich eingestehen, daß er die Zusammenhänge in keiner Weise verstand. Er wußte nicht mehr ein noch aus. War es möglich, daß diesmal sein kriminalistischer Spürsinn so versagt hatte? Er mußte Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen! Und es war ihm dabei ganz gleichgültig, daß er mit Comstock Bell befreundet war – er wäre der Sache jetzt nachgegangen, auch wenn es sich um seinen eigenen Bruder gehandelt hätte.

 

Am Tag nach seiner Ankunft erhielt Gold einen Brief von Scotland Yard, in dem er aufgefordert wurde, zu Chefinspektor Symons zu kommen.

 

Dieser Beamte galt als äußerst tüchtig. Er war ein hagerer, großer Mann mit einer beginnenden Glatze. Seine blauen Augen konnten so durchdringend blicken, daß schon mancher Verbrecher vor ihnen kapituliert hatte.

 

Als Gold das Büro des Chefinspektors betrat, begrüßte ihn der Beamte freundlich und schob ihm einen Stuhl hin.

 

»Setzen Sie sich bitte Mr. Gold«, sagte er. »Ich habe nach Ihnen geschickt, weil ich Sie bitten möchte, uns bei dieser Comstock-Bell-Affäre zu helfen. Die Zeitungen können sich ja nicht beruhigen – und sie würden noch sensationellere Überschriften drucken, wenn sie das wüßten, was wir wissen.«

 

Gold trat ans Fenster und schaute auf das Themseufer.

 

»Ich kann eigentlich nicht ganz einsehen«, sagte er dann ein wenig ärgerlich, »warum man so viel Wesens um die Sache macht.«

 

Der Beamte lächelte ironisch.

 

»Kommt Ihnen denn an der Geschichte nichts seltsam vor?«

 

»Natürlich, sie ist recht merkwürdig – aber auf was wollen Sie hinaus?«

 

»Bringen Sie Bells Verschwinden nicht auch noch mit anderen Dingen in Zusammenhang, die gerade Sie sehr viel angehen?«

 

»Sie denken an die Banknotenfälschungen?« fragte Gold überrascht. »Nein – warum denn?«

 

»Für gewöhnlich halte ich nicht viel von anonymen Briefen«, entgegnete Symons nachdenklich, »aber die Briefe, die ich kürzlich in dieser Angelegenheit erhielt, gingen so ins Detail und enthielten so viel schlüssige Beweise; daß ich sie in gewisser Weise ernst nehmen muß. Es werden Vermutungen darin ausgesprochen, die man nicht von der Hand weisen kann.«

 

»Zum Beispiel?« fragte Gold.

 

»Ist es vielleicht nicht merkwürdig, daß ausgerechnet die beiden Menschen, die das Mittel zur Entdeckung der Fälschungen kannten, spurlos verschwanden? Der eine war Maple …«

 

»Und der andere?«

 

»Natürlich seine Nichte.«

 

»Aber sie …«

 

»Sie kannte wahrscheinlich die Zusammensetzung der geheimnisvollen Flüssigkeit ganz genau. Es ist kaum anzunehmen, daß sie in demselben Haus wie ihr Onkel lebte, ohne von ihm ins Vertrauen gezogen worden zu sein. Und sieben Tage nach Maples Verschwinden heiratete Comstock Bell ausgerechnet Verity Maple – ein Mädchen, das ganz außerhalb seines Bekanntenkreises stand.«

 

Gold war betroffen.

 

»Es ist wirklich seltsam«, gab er zu, »aber vielleicht läßt sich doch eine einleuchtende Erklärung finden.«

 

»Das wünschte ich auch. Auf alle Fälle müssen wir der Sache nachgehen. Die Zeitungen berichten, daß das Paar London an seinem Hochzeitstag verlassen hat und auch in Paris eingetroffen ist – aber Mrs. Bell wurde doch gleichzeitig hier in London gesehen, nicht wahr?«

 

Er sah Gold scharf an.

 

Der Beamte nickte.

 

»Ja, sie war in London«, entgegnete er ernst.

 

Die Sache hatte sich jetzt so verwickelt, daß freundschaftliche Rücksichten auf Bell nicht mehr in Frage kamen.

 

»Wir haben also jetzt zwei Aufgaben vor uns«, meinte der Chefinspektor. »Einmal müssen wir den Aufenthaltsort von Verity Bell ermitteln und zum andern ihren Onkel wieder auffinden. Wenn wir wissen, wo sich die beiden aufhalten, sind wir bestimmt ein Stück weiter gekommen. Ich habe mir gedacht, daß es am besten ist, wenn wir Sie von allen unseren Schritten in dieser Angelegenheit unterrichten, und ich hoffe, daß wir mit Ihrer Mitarbeit rechnen können.«

 

Gold nickte höflich.

 

»Ich stehe selbstverständlich zu Ihrer Verfügung, nur muß ich Sie bitten, mir noch zwei Mitarbeiter zu überlassen.«

 

»Sie können so viel Leute haben, wie Sie brauchen«, entgegnete Chefinspektor Symons.

 

»Am besten schicken Sie die beiden zu mir nach Hause«. Ich möchte nämlich einen gewissen Helder beobachten lassen.«

 

»Helder?«

 

Symons runzelte die Stirn.

 

»Ja«, sagte Gold ruhig. »Er ist der Absender der anonymen Briefe.«

 

Der Chefinspektor schaute seinen Besuch einen Augenblick lang erstaunt an, dann begleitete er ihn bis zur Tür und verabschiedete sich von ihm.

 

Gold trat auf die belebte Straße hinaus. Er hatte jetzt einen bestimmten Plan und wollte keine Zeit verlieren, ihn auszuführen. Die beiden Beamten würden bestimmt gut auf Helder aufpassen. Aber Comstock Bell – sollte er tatsächlich auch mit dieser Falschmünzerbande in Verbindung stehen? Gold verzog grimmig den Mund.

 

Er gab eine Reihe von Telegrammen auf, und seine Agenten, die an allen möglichen Orten arbeiteten, schickten ihm nacheinander ihre Berichte.

 

Um neun Uhr abends verließ Gold seine Wohnung in Begleitung zweier Herren. Es blies ein scharfer Ostwind, und alle drei fröstelten, als sie rasch in eine Nebenstraße einbogen, wo ein Wagen auf sie wartete.

 

»Haben Sie den Haftbefehl?« wandte sich Gold an seinen Begleiter. Der Kriminalbeamte nickte.

 

»Ist es auch der Mann, den ich meinte?«

 

» Ja, Sir. Man konnte ihn nicht verwechseln. Er hat eine Narbe am Kinn und war offensichtlich betrunken. Ich folgte ihm von Soho zur Great Central Station. Dort traf er mit dem Amerikaner zusammen.«

 

»Und von dort aus sind Sie den beiden bis zu ihren Wohnungen nachgegangen?«

 

»Nein. Den Amerikaner haben wir aus den Augen verloren.«

 

Der Wagen fuhr jetzt die belebte High Street und die Comercial Road entlang. Als sie die Sidney Street hinter sich gelassen hatten, hielten sie in einer engen Straße.

 

»Ich habe absichtlich diese Stelle gewählt«, erklärte Gold, »weil hier der Bühnenausgang eines Konzertsaals ist, vor dem dauernd Autos parken.«

 

Der eine Beamte übernahm die Führung. Sie gingen an dem Bühnenausgang vorbei, bogen in eine andere Straße ein, überquerten sie und befanden sich dann in einer der verkehrsreichen Straßen des östlichen Stadtteils. Die Umgebung war armselig und wenig einladend. Obwohl es schon spät war, trieben sich noch eine Menge Kinder vor den Haustüren herum.

 

Die drei Männer erregten weiter keine Beachtung; Polizeibesuche waren in dieser Gegend ziemlich häufig.

 

Sie schritten schnell aus und kamen in ein Gäßchen, das noch ärmlicher und verfallener wirkte als die andern, die sie schon passiert hatten. Hier war kaum jemand zu sehen, nur ab und zu huschte eine dunkle Gestalt an den Häuserwänden entlang. Vor einer der Haustüren stand ein Mann, der offensichtlich auf sie wartete.

 

»Hier ist es«, sagte einer der Beamten.

 

Gold öffnete die Tür und trat ein, die anderen folgten dicht hinter ihm. Er hatte kaum einen Schritt gemacht, als ihm im Hausgang ein Mann begegnete.

 

»Was gibt’s?« fragte er argwöhnisch.

 

Gold leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht.

 

»Wo ist der Russe?« erkundigte er sich scharf.

 

»Eine Treppe hoch«, entgegnete der Mann bereitwillig. Offensichtlich war er froh, daß der Polizeibesuch nicht ihm galt.

 

»Nach vorn oder nach hinten?«

 

»Hinten hinaus. Gleich das erste Zimmer von der Treppe aus.«

 

Gold eilte hinauf, so schnell er konnte. Die Kriminalbeamten hielten sich hinter ihm.

 

Er hatte die Tür erreicht und versuchte, sie leise zu öffnen. Sie war verschlossen. Vorsichtig klopfte er, doch es meldete sich niemand. Erst als er mit der Faust dagegenschlug, hörte man jemand auf die Tür zuschlurfen.

 

»Wer ist draußen?« fragte eine rauhe Stimme.

 

Gold sagte etwas in einer Sprache, die die Beamten nicht verstanden.

 

Sie warteten gespannt. Endlich drehte sich ein Schlüssel im Schloß, und die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet.

 

Gold stieß sie ganz auf und trat über die Schwelle. Auf den ersten Blick sah er, daß der Mann, den er suchte, vor ihm stand. Er erkannte ihn genau nach der Beschreibung, die Narbe am Kinn war nicht zu übersehen. Offensichtlich hatte er getrunken und wollte gerade seinen Rausch ausschlafen.

 

»Wer sind Sie?« fragte er und blinzelte in den grellen Strahl der Taschenlampe.

 

»Machen Sie Licht«, wandte sich Gold an einen Begleiter.

 

Der Beamte schaute sich im Zimmer um, entdeckte auf dem Tisch eine kleine Petroleumlampe und zündete sie mit einem Streichholz an.

 

Der Raum war nicht mehr als ein elendes Loch; außer einem schmutzigen Bett und einem Stuhl enthielt er nichts.

 

»Sie sind verhaftet«, sagte Gold auf russisch zu dem Mann. »Hände hoch, los!«

 

Der Lauf seiner Pistole zielte auf die Magengrube des Russen, und der hob widerwillig die Hände. Gleich darauf schnappten ein Paar Handschellen über seinen Handgelenken zusammen.

 

»Setzen Sie sich auf den Stuhl dort«, befahl Gold. »Wenn Sie uns alles erzählen, was Sie wissen, wird Ihnen nicht viel passieren.«

 

»Ich werde Ihnen nichts erzählen«, erwiderte der Mann verdrossen.

 

Sie durchsuchten den Raum gründlich und revidierten auch alle Taschen des Verhafteten. Leider fanden sie nichts, was ihnen irgendeinen Aufschluß hätte geben können – weder Briefe noch Papiere und selbst keine noch so kleine Notiz. Nur aus der hinteren Hosentasche zogen sie einen Browning heraus. Während der Untersuchung hatte sich einer der Beamten entfernt, und als Gold die Lampe ausblies und seinen Gefangenen nach unten führte, wartete schon der Wagen vor der Tür.

 

Schnell schoben sie den Russen hinein, und bevor noch die Bewohner der Little John Street merkten, was vorgefallen war, fuhr das Auto in westlicher Richtung davon.