Bones ändert seine Religion

 

Bones ändert seine Religion

 

Captain Hamilton mußte sich in seinem Leben um zwei Menschen kümmern: um seine Schwester und um seinen Untergebenen.

 

Seine Schwester hieß Patricia Agatha, sein Untergebener führte den Familiennamen Tibbetts und den Vornamen Augustus, aber Hamilton hatte ihn in seiner willkürlichen Art »Bones« getauft.

 

Solange Patricia noch in Bradlesham Thorpe in der Grafschaft Hampshire weilte und Bones etwa dreitausend Meilen davon entfernt an der Westküste Afrikas lebte, empfand Captain Hamilton seine Verantwortlichkeit nicht als eine große Last.

 

Als Patricia Hamilton den Entschluß faßte, ihrem Bruder einen Besuch zu machen, geschah es mit seiner vollen Zustimmung, denn er wußte nicht, daß das Zusammentreffen seiner beiden Sorgenkinder Veranlassung zu Schwierigkeiten geben könnte.

 

Patricia war an einem glühendheißen Tropenmorgen angekommen und herzlich von ihrem Bruder empfangen worden. Die Haussa standen in ihren Alltagsuniformen am Ufer und schauten feierlich zu, wie Militini seine Schwester begrüßte.

 

Distriktsgouverneur Sanders, Ritter des Michael- und Georg-Ordens, war ihr etwas formeller gegenübergetreten, denn er hatte eine gewisse Scheu vor Frauen. Und Bones war damals, wie wir ja wissen, nicht zugegen – was in mehr als einer Beziehung unangenehm war.

 

Auch die Tatsache, daß Miß Hamilton außerordentlich hübsch war, machte die Lage für den unglücklichen Bones nicht leichter. Männer, die unter Eingeborenen leben und außer schönen Gestalten, die aber nicht auf europäische Art gekleidet sind, nichts sehen, sind geneigt, jede weiße Frau, die ihnen nach langer Zeit zu Gesicht kommt, für eine Schönheit zu halten. Aber es bedurfte weder des Kontrastes noch des Vergleichs mit den Eingeborenen, um Patricia zu bewundern.

 

Sie war von keltischem Typus und etwas über mittelgroß. Ihre Haltung war aufrecht, und sie hatte einen wunderbaren Gang. Ihr Gesicht bildete ein vollkommenes Oval, ihre schöne, glatte Haut war leicht gebräunt.

 

Ihre Augen strahlten, und sie war immer zum Lachen bereit. Trotzdem war sie ein ernster Charakter, und aus ihren Blicken und Zügen sprachen angeborene Güte und Zartheit. Drei Menschen verehrten sie an der Küste.

 

Ihr Bruder bewunderte sie natürlich, sah sie aber etwas kritisch an; Sanders bewunderte sie und fürchtete sie ein wenig; Leutnant Tibbetts bewunderte sie und hielt sich von ihr fern.

 

Nach jener peinlichen Entdeckung warf Bones die Tür seiner Hütte hinter sich zu und lehnte standhaft alle Nahrung ab. Er hatte sich selbst aus dem Kreis seiner Landsleute ausgeschlossen.

 

Am nächsten Morgen traf er Hamilton bei den Exerzierübungen. Er sah hohläugig aus (wie er hoffte), denn er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Aber seine Haltung zeigte nichts von der tiefen Hochachtung und Verehrung seinem Vorgesetzten gegenüber, wie sie eigentlich die Paragraphen der Dienstvorschriften forderten.

 

»Wie geht es eigentlich Ihrem Kopf, Bones?« fragte Hamilton, nachdem er die Soldaten hatte wegtreten lassen.

 

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Bones bitter, obwohl gar kein Grund vorhanden war, über diese freundliche Nachfrage beleidigt zu sein. »Ich danke Ihnen, es ist immer dasselbe. Meine Temperatur ist oder war etwa vierzig Grad Fieber, ich lag im Delirium, und ich kann auch gerade nicht behaupten, daß ich im Moment frei von Wahnvorstellungen bin.«

 

»Kommen Sie mit zum Mittagessen«, lud ihn Hamilton ein.

 

Bones salutierte – das war das sichere Vorzeichen, daß er eine größere, dramatische Rede halten würde.

 

»Sir«, sagte er fest, »Sie sind immer ein netter, alter Offizier mir gegenüber gewesen, bevor dieses schreckliche Ereignis mein junges Leben vernichtete – aber ich werde niemals wieder derselbe werden, der ich früher war.«

 

»Seien Sie doch kein Esel, Bones!«

 

»Schmähen Sie mich nicht!« rief Bones entrüstet. »Geben Sie mir lieber einen gefährlichen Auftrag! Einen abenteuerlichen Auftrag, bei dem ein Mann wie ich sein Leben in die eine und den Revolver in die andere Hand nimmt. Aber fragen Sie mich nicht …«

 

»Meine Schwester möchte Sie gerne sehen«, unterbrach Hamilton den Strom seiner Beredsamkeit.

 

»Haha«, lachte Bones hohl und schritt zu seiner Hütte.

 

»Der Himmel mag wissen, was ich mit ihm anfangen soll«, seufzte Hamilton bei Tisch. »Deine Ankunft hat ihn völlig durcheinander gebracht, Patricia!«

 

Sie faltete die Serviette zusammen, trat ans Fenster und schaute über den gelben Exerzierplatz hin, der jetzt verlassen dalag.

 

»Ich werde ihn einmal besuchen«, erklärte sie plötzlich.

 

»Armer Bones«, murmelte Sanders.

 

»Das ist recht herzlos von Ihnen!« Sie nahm ihren Tropenhut vom Regal neben der Tür, setzte ihn sorgfältig auf, ging dann durch die offene Tür und pfiff vergnügt.

 

»Ich hoffe, Sie nehmen das Pfeifen nicht übel«, entschuldigte Hamilton seine Schwester. »Wir haben es Ihr niemals abgewöhnen können.«

 

Sanders lachte.

 

»Es wäre ungewöhnlich, wenn sie nicht pfeifen würde«, meinte er geheimnisvoll.

 

Bones lag auf dem Rücken, hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt und dachte nach. Eine halbleere Keksdose und die Überbleibsel einer Pralinenpackung ließen erkennen, daß der Einsiedler nicht die Absicht hatte zu verhungern.

 

An seinem Geist zog eine lange Folge trauriger, melancholischer Bilder vorüber. Vielleicht würde er fortgehen, weit, weit fort in das Innere. Sogar in das Gebiet des großen Königs, wo das Leben eines Mannes nicht mehr wert war als fünf Pfennige. Wenn dann Tag um Tag dahinging, ohne daß Nachricht von ihm eintraf – wie sollte das auch möglich sein, wenn er unter einem Steinhügel ruhte –, dann würden sie ängstlich werden und sich um ihn sorgen. Und dann würden Boten kommen, die ihr die paar Wertstücke überbrachten, die er ihr vermacht hatte – eine Armbanduhr, einen zerbrochenen Säbel und ein silbernes Zigarettenetui, das die Eindruckstelle des Pfeiles zeigte, der ihn durchbohrt hatte. Und sie würde um ihn trauern und ihn in der Einsamkeit ihres Zimmers beweinen.

 

Vielleicht auch würde seine Kraft noch reichen, ihr ein paar Worte zu schreiben und sie um Verzeihung zu bitten. Dann würden Tränen in ihre schönen grauen Augen kommen – wie sie jetzt in seinen eigenen Augen standen, als er sich dieses Bild ausmalte. Und sie würde alles wissen und ihm verzeihen.

 

Draußen pfiff jemand.

 

Oder er würde von einem schweren Fieber heimgesucht werden und todkrank auf seinem Lager liegen, dann würde sie kommen und ihn pflegen wollen, aber er würde es ablehnen. »Sag ihr, Ali«, würde er mit schwacher, ersterbender, aber tapferer Stimme flüstern, »sag ihr … ich bitte sie nur um Verzeihung.«

 

Wieder wurde gepfiffen.

 

Bones hörte es wohl. Der Pfiff kam von dem offenen Fenster unmittelbar über seinem Kopf. Singvögel waren in diesem Teil des Landes selten, aber er war zu träge und zu sehr in seine traurigen Phantasien vertieft, um aufzustehen.

 

Aber vielleicht würde sie ihn nie wiedersehen, und vielleicht würde sie niemals die tiefe Ungerechtigkeit …

 

Jetzt pfiff man aber sehr laut und sehr lange. Bones hörte es genau und deutlich, wandte den Kopf halb um und schaute nach oben –

 

Im nächsten Augenblick sprang er auf und wischte sich mit der Hand die feuchte Stirn ab. Sie, bei der alle seine Gedanken weilten, lehnte mit gespitzten Lippen an der Fensterbank.

 

Patricia schaute ihm fest in die Augen. »Kommen Sie heraus, Sie Unglücksrabe.«

 

Bones schaute sie bestürzt an, aber er gehorchte.

 

»Was soll das heißen, daß Sie hier in Ihrer häßlichen, kleinen Hütte Trübsal blasen, während Sie doch auf Händen und Füßen herbeikriechen müßten, um mich um Verzeihung zu bitten?«

 

Er erwiderte nichts.

 

»Bones«, fuhr das energische Mädchen fort und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, »Sie verdienen eine gehörige Tracht Prügel!«

 

Bones hielt sein knochiges Handgelenk hin. »Schlagen Sie mich nur«, trotzte er.

 

Aber kaum hatte er das gesagt, als ihre fest kleine Hand ihm auf die Finger klopfte. Bones stöhnte.

 

»Aber Haltung, meine liebe, gute Miß Hamilton«, sagte er und rieb sein Handgelenk.

 

»Ja, Haltung, mein lieber, alter Bones«, ahmte sie ihn nach, »Sie sollten sich wirklich schämen …«

 

»Lassen Sie die Vergangenheit vergessen sein, meine liebe, gute Miß Hamilton«, bat Bones jetzt großzügig. »Ich sehe, daß Sie eine tüchtige junge Sportsdame sind – geben Sie mir Ihre Hand, selbst wenn sie eine Tonne schwer ist.«

 

Er streckte seine sehnige Hand aus und schüttelte die ihre, daß Patricia ihr Gesicht verzog.

 

Fünf Minuten später ging er neben ihr her, zeigte ihr die Quartiere der verheirateten Haussa-Soldaten und erzählte ihr die Geschichte seiner ersten Liebe. Sie verstand es ausgezeichnet, zuzuhören, und unterbrach ihn nur durch ein paar Fragen, ob irgendwie Verrücktheit in seiner Familie erblich oder ob die junge Dame kurzsichtig gewesen sei. Es hätte Hamilton selber sein können, der Bones so hänselte.

 

»Was reden die beiden nur so viel miteinander?« wunderte sich Sanders, der sie von seinem tiefen, bequemen Segeltuchstuhl aus beobachtete.

 

»Bones erzählt ihr sicher seine Lebensgeschichte«, meinte Hamilton gleichgültig, »und wie er diese Kolonie vor einem Aufstand bewahrt hat. Er bittet sie natürlich auch, weder Ihnen noch mir ein Wort davon zu sagen, denn er fürchtet, daß wir dadurch verletzt sein könnten.«

 

In demselben Augenblick erzählte Bones tatsächlich recht unbescheiden von seinen Verdiensten und machte am Schluß eine kleine Randbemerkung.

 

»Natürlich möchte ich nicht haben, meine liebe, gute Miß Hamilton«, sagte er leise, »daß Sie hiervon ein Wort zu Ihrem netten Bruder sagen. Er ist ein sehr feiner Mensch, aber im Vergleich mit einem so tüchtigen und umsichtigen Manne wie mir, der die Seele der Eingeborenen so gut versteht …«

 

»Warum schreiben Sie eigentlich nicht ein Buch über Ihre Abenteuer? Das würde sich doch wie warme Semmeln verkaufen.«

 

Bones war hingerissen vor Dankbarkeit.

 

»Das ist ganz meine Meinung! Was für ein klares Urteil haben Sie doch! Es ist wirklich schade, daß dieser gerechte Sinn nicht in Ihrer ganzen Familie vertreten ist! Ich will Ihnen einmal ein Geheimnis verraten, aber Sie dürfen niemand etwas davon sagen – auf Ehre!«

 

»Auf Ehre!«

 

Bones schaute sich um.

 

»Das Manuskript liegt schon fertig für den Verleger da«, flüsterte er und trat einen Schritt zurück, um den Eindruck seiner Worte auf Patricia zu beobachten.

 

In ihren Augen lag Bewunderung, und Bones erkannte, daß er endlich eine mitfühlende Seele gefunden hatte.

 

»Es muß schrecklich interessant sein, Bücher zu schreiben«, sagte sie seufzend. »Ich habe es auch versucht – aber ich kann keine Geschichten erfinden.«

 

»Natürlich – aber in meinem Fall …«

 

»Ich nehme an, Sie setzen sich mit der Feder in der Hand hin und denken sich allerhand aus«, fuhr sie belustigt fort. Dann lenkte sie ihre Schritte wieder zur Residenz.

 

»Dies ist die Geschichte meines Lebens«, erklärte Bones ernst, »das sind keine Erfindungen und keine Phantasien … diese Abenteuer haben sich wirklich zugetragen.«

 

»Wer hat sie denn erlebt?«

 

»Selbstverständlich ich«, rief Bones lauter als nötig.

 

»Oh!« erwiderte sie nur.

 

»Sagen Sie bloß nicht ›Oh‹!« entgegnete Bones etwas gereizt. »Wenn wir beide gute Freunde sein wollen, meine liebe, gute Miß Hamilton, dann dürfen Sie meine Worte nicht in Zweifel ziehen.«

 

»Nun renommieren Sie doch nicht so stark, Bones«, wandte sie sich so energisch an ihn, daß er kleinlaut wurde.

 

Sie führte ihn als Gefangenen zur Veranda und setzte ihn dort in den bequemsten und weichsten Stuhl, den sie finden konnte.

 

Von diesem Tage an war er ihr Sklave, nur in einem Punkte behauptete er sich selbst.

 

Bei Tisch drehte sich die Unterhaltung um die Mission, und Miß Hamilton erwähnte, daß sie zur Hochkirche gehöre.

 

Bones bekannte, daß er Wesleyaner sei.

 

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie ein Dissident sind?« fragte sie ungläubig.

 

»Ja, doch, das ist meine nette, feine Religion, meine gute Miß Hamilton«, erklärte er. »Ich hätte selbst die geistliche Laufbahn eingeschlagen, aber ich hatte nicht genug – nicht genug …«

 

»Verstand«, sagte Hamilton.

 

»Nein, ich fühlte mich nicht davon durchdrungen, zum Wort Gottes berufen zu sein.«

 

Patricia hielt ein langes Verhör mit ihm ab, um festzustellen, wie weit seine religiösen Überzeugungen gingen.

 

Bones verteidigte sich bis aufs Äußerste. Er hatte nur eine sehr schwache Vorstellung von der Lehre, die er verfocht, und lehnte in Bausch und Bogen verschiedene Glaubenssätze ab, die Miß Hamilton sehr teuer waren.

 

»Aber Bones«, rief sie im Eifer, »Wenn ich Sie nun bäte, Ihren Glauben zu wechseln …«

 

Bones schüttelte den Kopf. »Meine liebe, gute Freundin«, sagte er feierlich, »es gibt zwei Dinge auf der Welt, die ich niemals tun werde. Ich ändere meinen Glauben nicht, zu dem ich mich seit meiner glücklichen und ach so fernen Jugend bekenne, und ich höre nicht auf irgendwelche Worte, die Sie, meine liebste, beste Schwester, irgendwie heruntersetzen könnten …«

 

»Ich verstehe, Bones«, sagte sie etwas reserviert. »Ich sehe, daß Sie mich nicht so gern haben, wie ich dachte – was meinen Sie, Mr. Sanders?«

 

Der Distriktsgouverneur lächelte. »Ich kann kaum darüber urteilen«, entschuldigte er sich, »ich bin nämlich selbst Wesleyaner.«

 

»Oh!« sagte Patricia und verließ die Veranda verwirrt.

 

Bones erhob sich schweigend, ging zu seinem Vorgesetzten hinüber und streckte seine Hand aus.

 

»Bruder«, sagte er mit gebrochener Stimme.

 

»Was, zum Teufel, machen Sie da?« fuhr ihn Sanders an.

 

»Sie haben gesprochen wie ein treuer Christ, meine liebe, alte Exzellenz. Wir werden unser Bestes tun, Patricia wieder zur rechten Herde zurückzuführen.«

 

Am Abend hatte Sanders eine freudige Nachricht zu verkünden.

 

Bones war unter Anleitung Patricias damit beschäftigt, die Strickkunst zu erlernen. Aber Sanders unterbrach dessen künstlerische Tätigkeit.

 

Was würden Sie zu einer Erholungsfahrt den Strom hinauf in das Land der Isisi sagen?«

 

Hamilton sprang auf. »Erholungsfahrt?« fragte er bestürzt.

 

Sanders nickte. »Wir fahren morgen dorthin, um ein Religionspalaver abzuhalten – Bucongo, der Häuptling der unteren Isisi, ist ein etwas zu begeisterter Christ geworden. Ahmet hat mir verschiedene Berichte über ihn geschickt. Ich habe das Palaver schon seit Wochen immer verschoben, aber die Zentralverwaltung hat mir mitgeteilt, daß sie nichts dagegen hat, wenn ich einmal eine Erholungsreise ins Innere mache. So paßt es ganz gut, wir können alle zusammen fahren.«

 

»Bravo!« rief Hamilton. »Bones, lassen Sie sofort die Strickerei und ordnen Sie das Packen der Vorräte an.«

 

Bones kniete auf dem Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und schaute seinen Vorgesetzten unwillig an.

 

»Wie der gute alte Francis Drake sagte, als die spanische Armada …«

 

»Machen Sie, daß Sie in den Vorratsraum kommen, Sie ungehorsamer Mensch!« befahl Hamilton, und Bones machte, daß er fortkam.

 

Der Raum auf der »Zaire« war beschränkt. Aber zusätzlich war noch das kleine Dampfboot da, das außer zur Einziehung des Tributs in den verschiedenen Dörfern selten benützt wurde.

 

»Ich könnte Bones mit der ›Wiggle‹ fahren lassen«, sagte Sanders. »Ich fürchte nur, er läßt sie dann irgendwie auf eine Sandbank auflaufen. Miß Hamilton wird in meiner Kabine wohnen, und wir beide nehmen die kleineren Kabinen.«

 

Bones wurde das alles mitgeteilt. Er sprang auf vor Freude, daß er sein eigenes Schiff haben sollte, und widerlegte sofort alle Einwände. Ja, er hatte sie schon alle beantwortet, bevor sie überhaupt ausgesprochen wurden.

 

Patricia war entzückt über die bevorstehende Fahrt. »Wird es auch Kämpfe geben?« fragte sie atemlos. »Wird man uns angreifen?«

 

Sanders schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Halten Sie sich nur an mich«, sagte Bones zuversichtlich. »Vertrauen Sie nur Ihrem alten Bones. Wenn Sie in der Schlacht mein Banner sehen, dann wissen Sie, wohin Sie sich zu wenden haben.«

 

»Du mußt dich aber erst vergewissern, ob es auch wirklich ein Banner ist«, unterbrach ihn Hamilton. »Du mußt gut aufpassen, daß du es nicht mit seinen großen Füßen verwechselst, mit denen er in der Luft umherstrampelt. Als wir das letztemal einen Zusammenstoß hatten …« Und er erzählte eine Geschichte, die für Bones nicht gerade sehr ehrenvoll war. Aber Bones widersprach dauernd.

 

Es war kurz vor der Abfahrt, als Hamilton seinen Untergebenen beiseite nahm.

 

»Bones«, sagte er freundlich, »ich weiß, Sie sind ein großer Navigator, und meine Schwester, die viel Sinn für Humor hat, würde Sie ja sehr gern am Steuer der ›Wiggle‹ sehen. Da der Distriktsgouverneur aber eine Vergnügungsfahrt machen will, wäre es das beste, wenn Sie einen der Leute steuern ließen.«

 

Bones richtete sich beleidigt zu voller Größe auf. »Mein lieber, alter Offizier«, erwiderte er ernst, »ich kann nicht annehmen, daß Sie abfällig von meiner Intelligenz und meinen Fähigkeiten sprechen wollen …«

 

»Schlagen Sie sich bloß diesen dummen Gedanken aus dem Kopf«, sagte Hamilton, »deswegen rede ich doch gerade mit Ihnen.«

 

»Ich stehe unter Ihrem Befehl«, entgegnete Bones mit dem Gesicht eines christlichen Märtyrers, »und gemäß Paragraph 156 der Dienstvorschriften …«

 

»Nun hören Sie doch mit dem Unsinn auf! Ich gebe Ihnen im Augenblick gar keine Befehle, ich wollte Ihnen nur einen vernünftigen Rat erteilen. Wenn Sie natürlich selbst einen Hanswurst aus sich machen …«

 

»Ich habe nicht die leiseste Absicht, das zu tun, mein lieber Vorgesetzter – und ich lasse mich auch nicht durch meine Umgebung beeinflussen.«

 

Er stand stramm, grüßte militärisch und ging dann zu den Baracken.

 

Bones hatte Schwierigkeiten, die Vorräte zu packen. In Wirklichkeit war schon alles gepackt, als er zur »Wiggle« kam, und ein anderer wäre sehr zufrieden darüber gewesen. Aber Bones ließ alles wieder ausladen und packte dann nach seiner eigenen Weise. Als er damit fertig war, konnte auch der Dümmste erkennen, daß das Dampfboot nach der einen Seite überhing und große Gefahr bestand, daß es umschlug, bevor es überhaupt die Fahrt antrat. Alle Vorräte mußten also wieder ausgeladen werden. Hamilton übernahm nun selbst die Aufsicht über die Arbeiten und fluchte heftig auf seinen Untergebenen.

 

Als alle zur Abfahrt fertig waren, erinnerte sich Bones daran, daß er sein Logbuch vergessen hatte, und es gab eine neuerliche Verzögerung.

 

»Haben Sie jetzt alles?« Sanders lehnte sich müde und ärgerlich über die Reling.

 

»Es ist alles in Ordnung«, entgegnete Bones und grüßte seinen Vorgesetzten militärisch, lachte dabei aber Patricia an.

 

»Haben Sie auch Ihre Heißwasserflasche und Ihre Lockenwickel nicht vergessen?« fragte Hamilton ironisch.

 

Bones würdigte ihn keines Blickes, gab seinem Ingenieur ein Zeichen, und die »Wiggle« fuhr, wie es auch sonst ihre Gewohnheit war, im großen Bogen vom Kai ab. Bones war aber nicht darauf gefaßt gewesen, er stolperte und wäre beinahe ins Wasser gefallen, wenn er sich nicht an den heißen Schornstein geklammert hätte. Mit einer eleganten Bewegung fand er seine Balance gerade noch zur rechten Zeit, um die kleine Flagge der »Zaire« zu grüßen, als er an ihr vorbeifuhr. Unter den Augen Hamiltons nahm er mit der größten Seelenruhe das Steuer in die Hand und lenkte die »Wiggle«, bis sie am Ufer festsaß.

 

Dies ereignete sich alles in dem kurzen Zeitraum von drei Minuten.

 

»Wenn Sie sich bloß Ihren verrückten Schädel dabei eingeschlagen hätten«, fuhr ihn Hamilton an, der nicht zu Unrecht sehr böse war, »dann hätte der Unfall doch wenigstens einen gewissen Wert gehabt.«

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis die »Wiggle« wieder flott war, denn um das zu erreichen, mußten alle Vorräte ausgepackt, zum Betonkai getragen und nachher aufs neue zum Schiff gebracht werden.

 

»Sind Sie jetzt fertig?« fragte Sanders.

 

»Jawohl, zu Befehl, Sir!« antwortete Bones kleinlaut.

 

*

 

Bucongo, der Häuptling der unteren Isisi, hatte einen Streit mit seinem Schwager über eine gewisse Sache, die seine Ehre verletzte. Er brachte sein Leben in Gefahr, denn eines Morgens fand man seinen Verwandten tot auf, von einem Speer durchbohrt. Dies entdeckte Sanders aber erst nach der großen Untersuchung, die den Ereignissen folgte, die hier erzählt werden sollen.

 

Der Schwager hatte boshaft geschworen, daß Bucongo in Verbindung mit Teufeln stehe. Bucongo war in seiner frühen Jugend von katholischen Missionaren aufgegriffen worden und hatte lange Zeit in der Station zugebracht, um geheimnisvolle Riten und Zeremonien zu erlernen. Er selbst hatte sich dabei nie recht wohl gefühlt. Sein Schwager war in einer andern Missionsstation aufgezogen worden, und man hatte ihn gelehrt, daß Gott im Strom lebe und daß es notwendig sei, in die Fluten des Stromes einzutauchen, um seines Ju-jus ganz teilhaftig zu werden.

 

Zwischen den Wassergott-Leuten und den Kreuzgott-Leuten gab es immer Streitigkeiten. Sie sprachen verächtlich voneinander, obwohl keiner von ihnen seinen Glauben richtig verstand. Die zu dem katholischen Glauben Bekehrten waren allerdings im Vorteil, denn sie hatten von den Geistlichen eine Zinnmedaille erhalten, auf der Herzen und sonnenähnliche Strahlen zu sehen waren. (Diese Medaillen waren das beste Heilmittel gegen Zahn- und Leibschmerzen.) Die Protestanten hatten ihren Anhängern nur ein geheimnisvolles Etwas mit auf den Weg gegeben, das in der Eingeborenensprache als A’lamo bezeichnet wurde – was Gnade bedeutet.

 

Als sie nun aber von ihren mit den Medaillen prunkenden Rivalen aufgefordert wurden, diese Gnade zu zeigen, waren sie sehr niedergeschlagen und beschämt, denn sie mußten zugeben, daß A’lamo ein unsichtbarer Zauber war, der aber trotzdem nach ihren Angaben ein wirksamer Zauber war, denn er schützte vor dem Ertrinken und heilte Warzen und Furunkel.

 

Bucongo, der einflußreichste und stärkste Anhänger der Kreuzgott-Leute, der sogar ein neues Ritual erfunden hatte, vergnügte sich daran, den Missionaren der Baptisten zuzusehen, die knietief im Wasser standen und damit beschäftigt waren, die Seelen der Bekehrten reinzuwaschen.

 

Er war sogar gegen den jungen Ferguson unverschämt geworden, der der Leiter der amerikanischen Baptisten-Mission war. Aber zu seiner größten Verwirrung hatte ihn dieser mit einem linken Schwinger zu Boden gestreckt, denn Ferguson war früher ein guter Boxer im Mittelgewicht gewesen, als er noch auf der Harvard-Universität studierte.

 

Er brachte seine Beschwerde vor Sanders, der an der Vereinigung der Isisi- und N’gombi-Stromes angekommen war und dort sein Palaver abhielt. Bucongo war mit verbundenem Gesicht vor dem Distriktsgouverneur erschienen und sehr unfreundlich empfangen worden.

 

»Gehe und verehre deinen Gott in Frieden und lasse alle andern Leute auch ihre Götter verehren. Sage den weißen Leuten keine schlechten Worte, denn sie sind sehr schnell, wenn sie ärgerlich werden. Auch ist es ungehörig, daß ein schwarzer Mann zornig zu seinen Herren spricht.«

 

»O Herr«, erwiderte Bucongo, »im Himmel sind alle Menschen gleich, die weißen und die schwarzen.«

 

»Wir sind aber nicht im Himmel, und hier am großen Strom hat jeder seinen Rang und seine Stellung nach seinem eigenen Verdienst. Morgen werde ich in dein Dorf kommen und mich nach gewissen geheimen Feiern und Festen erkundigen, die du abhältst und von denen die Gottesmänner nichts wissen – das Palaver ist aus.«

 

Nun war Bucongo in gewisser Beziehung mehr als ein gewöhnlicher Bekehrter. Er war ein Mann von hervorragender Intelligenz und hatte überraschend originelle Einfälle. In der römischen Kirche war er Laien-Missionar gewesen und hatte viele Leute zu einer merkwürdigen Religion bekehrt, deren Ritual den guten Jesuitenpatres allerdings nur halb enthüllt wurde. Es wurde ein großes Palaver abgehalten, wobei er seine ganze Gemeinde vorstellen mußte. Der Gottesdienst fand auch statt, wurde aber von einem Ziegenopfer, einer Zauberprozession und einem Beschwörungstanz unterbrochen. Die Vertreter der katholischen Mission waren sprachlos. Bucongo wurde vor eine Missionskonferenz berufen und erhielt einen energischen Verweis.

 

Er entschuldigte sich und tat Buße, aber die Sache hatte damit ein Ende. Es fanden sich auch genügend Beweise, daß dieser begeisterte Christ gründlich zu Werke gegangen war und auf eigene Faust eine neue Religion gegründet hatte.

 

Die Lage war schwierig, und andere Religionsgemeinschaften hätten wahrscheinlich gezögert, eine Reform in Angriff zu nehmen, durch die sie eine große Anzahl von Anhängern verloren.

 

Das Schicksal der Bucongo-Gemeinde war besiegelt, als er in seinem Ärger eine halbe Tagesreise in seinem Boot den Strom entlangfuhr und zu der Hauptmissionsstation kam. Pater Carpentier, ein Mann mit langem, wallendem Bart, gutmütigem roten Gesicht und braunen Armen, hörte ihm im Schatten seiner Hütte zu und rauchte dabei nachdenklich eine lange Pfeife.

 

»Und Pentini«, schloß Bucongo, »selbst Sanders tut mir Schande an, weil ich ein Kreuzgott-Mann bin. Er ist, soweit ich weiß, ein Anhänger des Wassergottes.«

 

Der Pater betrachtete sinnend dieses verirrte Schaf seiner Herde. »O Bucongo«, sagte er liebenswürdig, »in den Ländern am Strom leben viele wilde Tiere. Einige fliegen und einige schwimmen, einige laufen schnell und einige verbergen sich in der Erde. Sage mir, welche von ihnen tun das Richtige?«

 

»O Herr, sie tun auf verschiedene Weise alle das Richtige.«

 

Pater Carpentier nickte. »Auch gibt es in den Wäldern zwei Arten von Ameisen – die einen leben in Nestern auf dem Baum, die andern graben ihren Bau tief in die Erde. Sie sind von derselben Gattung und nähren sich in gleicher Weise. Aber Gott hat ihnen in ihre kleinen Köpfe gegeben, daß die einen auf die Bäume klettern und die andern in die Erde graben sollen. Sie haben beide recht. Wenn sich aber die Baumameisen und die Erdameisen treffen und einander bekämpfen, dann haben beide unrecht.«

 

Bucongo, der vor dem Pater auf der Erde gehockt hatte, erhob sich traurig. »O Herr, diese Geheimnisse sind zu hoch für einen armen Mann. Ich kenne einen besseren Ju-ju, und zu dem werde ich gehen.«

 

»Da hast du keine weite Reise, Häuptling«, sagte der Pater streng. »Ich habe Geschichten von Geistertänzen im Walde gehört und von einem gewissen Bucongo, der dabei der Anführer ist – auch spricht man von einem Menschenopfer, das stattfand, und von Bekehrten, denen ein Kreuz mit einem glühenden Eisen eingebrannt wird.«

 

Der Häuptling sah seinen früheren Lehrer wütend an, wandte sich um und ging, ohne ein Wort zu verlieren, zu seinem Boot zurück.

 

Am nächsten Morgen schickte Pater Carpentier durch einen Boten einen dringlichen Brief an Sanders. Der Distriktsgouverneur las das Schreiben und runzelte die Stirn. Er ließ den Brief sinken und kam an Deck, wo Hamilton mit seiner Angelrute saß.

 

»Was gibt es?« fragte dieser schnell, als er sich nach Sanders umschaute.

 

»Bucongo von den unteren Isisi macht Dummheiten. Ich habe von seinen religiösen Versammlungen gehört und bin ein wenig beunruhigt. Das wird ein großes Ju-ju-Palaver geben, wenn ich mich nicht sehr täusche. Wo ist Bones?«

 

»Er ist mit meiner Schwester zu der Bucht gegangen – er sagt, daß dort viele kleine weiße Reiher nisten, und ich glaube, er hat recht.«

 

Sanders wurde unruhig.

 

»Schicken Sie sofort ein Kanu aus, um die beiden zurückzuholen. Das ist Bucongos Gebiet, und ich traue diesem Teufel nicht.«

 

»Wem? Bones oder Bucongo?« fragte Hamilton unschuldig.

 

Aber Sanders war nicht zum Scherzen aufgelegt.

 

*

 

Zur selben Zeit saß Bones vor der phantastischsten religiösen Versammlung, an der jemals ein Geistlicher oder ein Laie teilgenommen hatte.

 

Das Schicksal und Bones hatten Patricia durch eine schöne Waldlichtung geführt – sie hatten die »Wiggle« eine halbe Meile weiter unten am Strom verlassen, weil dort viele Untiefen waren, so daß sie nicht weiterfahren konnten, und Bucongo in einem großen Augenblick getroffen.

 

Bones glaubte auf eine der üblichen Versammlungen zu stoßen, die dieser bekehrungstüchtige Häuptling der unteren Isisi so häufig abhielt. Er stand an der äußeren Peripherie des großen Zuhörerkreises. Die Leute beobachteten schweigend, wie ein junges Mädchen ganz gegen ihren Willen mit Bucongos Gott bekannt gemacht werden sollte.

 

Sie lag vor dem großen Steinaltar, auf dem ein schrecklicher Götze stand, der mit einem Auge auf die Andächtigen herniederschaute. An Händen und Füßen war sie an Pfähle gebunden, die in den Grund getrieben waren.

 

Vor dem Altar selbst loderte ein Holzfeuer, in dem zwei Eisen glühend gemacht wurden.

 

Bones sah dies nicht, denn er starrte mit offenem Munde auf Bucongo. Auf dem Kopf des Häuptlings saß zweifellos eine Mitra, aber es war eine geflochtene Schnur aus Lederriemen darum gebunden, von der ein Kranz von Affenschwänzen herabhing. Als Chorrock trug er ein Leopardenfell. Sein Gesicht war mit roter Camholzfarbe bestrichen, und um seine Augen hatte er zwei weiße Kreise gemalt.

 

Bucongo war gerade dabei, eine aufreizende Ansprache zu halten, als die beiden weißen Menschen auf der Bildfläche erschienen. Seine Hand war schon ausgestreckt, um das eine glühende Eisen zu ergreifen, als Patricia außer sich vor Schrecken plötzlich in den Kreis lief und Bucongo das Marterwerkzeug aus der Hand riß. Sie warf es in weitem Bogen mitten unter die Zuschauer, die auseinanderstoben.

 

»Wie darfst du das tun! Das ist ja unmenschlich!« rief sie atemlos. »Du schrecklicher Kerl!«

 

Bucongo starrte sie an, sagte aber nichts, sondern wandte sich an Bones.

 

Er hatte in diesem Augenblick einen großen Entschluß zu fassen und mußte mit den Gewohnheiten seines ganzen Landes brechen. Seine Erziehung veranlaßte ihn, halb die Hand zum Gruß vor dem weißen Mann zu erheben, aber plötzlich kochte und siedete etwas in seinem wahnsinnigen Gehirn und stachelte ihn auf. Ein wilder, unvernünftiger, brutaler Trieb, den er von seinen Vorfahren geerbt hatte, zwang ihn zu einem andern Handeln. Bones hatte seinen Revolver erst halb gezogen, als ihn der Schaft des Häuptlingsspeers zwischen die Augen traf.

 

So kam es, daß er bald darauf mit Patricia vor Bucongo saß. Seine Füße und seine Hände waren mit Grasstricken zusammengebunden, und das Mädchen an seiner Seite war in keiner besseren Lage als er.

 

Sie war sehr erschrocken, aber sie zeigte es nicht. Sie war auch unfähig, den Wortwechsel zu verstehen.

 

»O Tibbetti«, sagte Bucongo, »du siehst mich als einen Gott vor dir stehen – ich habe jetzt mit allen weißen Leuten Schluß gemacht.«

 

»Es wird nicht lange dauern, bis wir mit dir Schluß machen, Bucongo.«

 

»Ich kann nicht sterben, Tibbetti«, erwiderte der Häuptling zuversichtlich, »das ist etwas Wunderbares.«

 

»Auch andere Leute haben das gesagt, und ihre Witwen sind wieder Frauen geworden und haben vergessen, daß sie Witwen waren.«

 

»Dies ist ein neuer Ju-ju, Tibbetti.« Bucongo zeigte auf den Götzen, und seine Augen leuchteten seltsam auf. »Ich bin der größte von allen Kreuzgott-Männern, und es ist mir enthüllt worden, daß ich viele Nachfolger haben werde. Und ihr, du und die Frau, werdet die ersten von allen weißen Leuten sein, die das Zeichen des gesegneten Bucongo tragen werden. Und in zukünftigen Tagen werdet ihr eure Brust entblößen und sagen: Dies tat Bucongo, der Gnadenreiche und Wundervolle, mit seinen herrlichen Händen.«

 

Bones trat der kalte Schweiß auf die Stirn, und sein Mund war trocken. Er wagte kaum, Patricia anzusehen.

 

»Was sagt er?« fragte sie leise.

 

Bones zögerte, aber dann übersetzte er ihr die Drohung des Schwarzen.

 

Sie nickte.

 

»O Bucongo«, sagte Bones, dem plötzlich ein Gedanke kam. »Obgleich du Böses tust, ich will es doch ertragen, aber dann sollst du wenigstens diesen meinen Wunsch erfüllen. Brenne mich allein auf der Brust, denn wenn jeder von uns gebrannt wird, dann sind wir für Lebenszeit aneinander gebunden, und du siehst doch, wie häßlich diese Frau ist mit ihrer dünnen Nase und ihren blassen Augen. Auch hat sie lange Haare wie das Gras, aus dem die Webervögel ihre Nester bauen.«

 

Er sprach laut und eindringlich, und seine Worte schienen überzeugend zu sein, denn Bucongo zögerte und sah Patricia an. Sicherlich war die Frau in jeder Hinsicht häßlich. Ihr Gesicht war weiß, sie hatte dünne Lippen und war so mager, als ob sie nicht genügend zu essen bekommen hätte.

 

»Das sollst du für mich tun, Bucongo«, sagte Bones drängend, »denn Götter tun keine bösen Dinge, und es wäre eine schlechte Tat, wenn du mich mit dieser häßlichen Frau verheiraten würdest, die nur schmale Hüften und eine böse Zunge hat.«

 

Bucongo war unentschlossen. »Ein Gott tut nichts Böses«, erwiderte er dann, »aber ich kenne die Gedanken der weißen Männer nicht. Wenn es wahr ist, werde ich dich zweimal brennen, Tibbetti. Du sollst dann mein Anhänger für immer sein, und ich will die Frau nicht anrühren.«

 

»Es ist gut so«, sagte Bones.

 

»Was meint er? Will er uns gehen lassen?« fragte Patricia.

 

»Ich erklärte ihm, daß es eine böse Strafexpedition geben wird«, log Bones, »und er entgegnete, daß er nicht daran denke, ein so hübsches Mädchen wie Sie anzurühren. Schließen Sie die Augen, meine liebe, gute Miß Hamilton.«

 

Sie tat es schnell, halb ohnmächtig vor Entsetzen, denn Bucongo kam mit einem glühenden Eisen in der Hand auf sie zu. Auf seinen Zügen lag ein wohlwollendes Lächeln.

 

»Dies soll ein immerwährender Segen für dich sein, Tibbetti«, sagte er väterlich.

 

Das Eisen versengte schon Bones‘ seidenes Hemd, als der Oberpriester des neuen Kultes plötzlich angerufen wurde.

 

»O Bucongo«, sagte eine Stimme.

 

Der Häuptling wandte sich mit furchtverzerrtem Gesicht um und wich vor der Mündung eines Revolvers zurück.

 

»Sage mir jetzt«, sprach Sanders in ruhigem Ton, »können Leute wie du sterben? Denke schnell nach, Bucongo!«

 

»O Herr«, erwiderte Bucongo heiser. »Ich glaube, ich kann sterben.«

 

»Wir werden es sehen«, sagte Sanders.

 

Erst nach dem Abendessen hatte sich Patricia wieder so weit erholt, daß sie über die aufregenden Vorgänge am Morgen sprechen konnte.

 

»Es war sehr schlecht von dir«, sagte sie zu ihrem Bruder, der sich wenig um ihren Vorwurf kümmerte, »daß du in der Nähe unter den Bäumen standest, alles hörtest und sähest, und erst im allerletzten Augenblick kamst.«

 

»Das war mein Fehler«, unterbrach sie Sanders, »ich wollte sehen, wie weit dieser Bucongo gehen würde.«

 

»Verdammt gedankenlos«, brummte Bones halblaut, aber doch hörbar.

 

Sie sah ihn ernst an, dann wandte sie sich wieder an Hamilton.

 

»Ich muß wissen, was Bones gesagt hat, als er zu diesem schrecklichen Mann sprach. Hast du gesehen, daß Bones mich ansah, als ob ich … ich weiß kaum, wie ich es ausdrücken soll. Was hat er denn über mich gesagt?«

 

Hamilton sah zur Decke, dann räusperte er sich.

 

»Also, mein lieber, alter Kamerad, benehmen Sie sich!« stieß Bones heiser hervor.

 

»Ja, er sagte …« begann Hamilton.

 

»Leben und leben lassen«, bat Bones erregt. »Corpsgeist und Diskretion, mein lieber Captain!«

 

Hamilton sah ihn fest an.

 

»Er sagte zu dem Häuptling, daß er zweimal gebrannt werden wolle, damit dir nichts geschähe.«

 

Patricia starrte Bones groß an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

 

»O Bones«, sagte sie mit unterdrücktem Schluchzen. »Sie sind … wirklich ein feiner Kerl.«

 

»Sprechen Sie nur weiter«, erwiderte Bones zusammenhanglos und zerdrückte selbst eine Träne in diesem großen Augenblick.

 

Kapitel 6

 

6

 

Welchem Ziele trieb Luke Maddison entgegen? In seinen rosigen Träumen sah er nur den glatten, geraden Weg seines Lebens vor sich liegen. Für ihn kamen in angenehmer Regelmäßigkeit Jahre, verbracht im Strudel des Vergnügens, in Ascot, in Deauville, auf dem Lido. Er würde von St. Moritz nach Cannes wandern, von Cannes nach London; er würde so tun, als ob er sich mit seinen Geschäften befaßte, aber die Bank würde unter der Leitung Mr. Steeles weitergehen, ob er da war oder nicht.

 

Er hatte schon vorher die gleichen Wege durchwandert – aber allein. Jetzt sollte seines Herzens sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen. Der Gedanke schien ihm beinahe unfaßbar, daß sie bei ihm sein sollte – alle Zeit, in all den Plätzen, überall. Margaret Leferre war für ihn die Frau aller Frauen, die Erfüllung seiner Träume. Sie war nicht die schwache Frau, die so oft von den Dichtern besungen wurde. Nein, sie war mehr für ihn als nur die Frau. Hier war ein Kamerad, dem er vertrauen konnte. Ihr gegenüber empfand er eine Zärtlichkeit, die durch den Schatten von Kummer und Gram, der auf ihr lag, nur noch verstärkt wurde. Sie war jetzt endlich unter seinem Schutz.

 

Am Morgen der Hochzeit ging er auf die dringende Bitte seines Prokuristen nach dem Büro, wo verschiedene Angelegenheiten von ihm persönlich erledigt werden mußten. Sein Anwalt war schon vorher bei ihm gewesen und hatte noch einmal vergeblich – vergeblich, denn der Kontrakt war schon am vorhergehenden Tage unterzeichnet worden – gegen diesen Heiratsvertrag protestiert.

 

»Luke, ich muß annehmen, daß du der größte Narr bist, den ich jemals in meiner ganzen geschäftlichen Tätigkeit gesehen habe … ja, ja, ich weiß, daß Margaret das liebste, beste Mädel in der ganzen Welt ist, daß sie das vertrauenswerteste ist. Alle die guten Eigenschaften der Leferre-Familie scheinen sich bei ihr vereinigt zu haben – aber ist es dir denn nicht klar, was für eine unglaubliche Torheit du begangen hast? Angenommen, sie stirbt ohne Testament – ja, ich weiß, es ist eine erschreckende Annahme – aber nimm doch mal an …«

 

»Ich will nicht so etwas Furchtbares annehmen, Jack!« unterbrach Luke hitzig. Sie waren Freunde von Jugend auf, er und der kluge junge Rechtsanwalt, der Lukes geschäftliche und private Angelegenheiten in Händen hatte.

 

»Ich bin der Meinung, daß die Frau einen Anteil am Vermögen ihres Mannes haben müßte –«

 

»Einen Anteil!« schnarrte Jack Hulbert. »Du verdammter Narr. Sie hat doch alles bekommen!«

 

Und es fehlte nicht viel, daß sie sich beide zum ersten Male ernstlich gezankt hätten.

 

Luke war sehr gereizt, und der Pessimismus seines Mr. Steele trug nicht dazu bei, ihn in bessere Laune zu bringen.

 

»Wir können unsere Verluste tragen, aber das wird Sie eine Masse Geld kosten«, sagte dieser sorgenvoll; »und dann, Mr. Maddison, hoffe ich, daß Sie Spekulationen aus dem Wege gehen. Das ist ganz gut für –«

 

»Ich weiß schon!« Lukes Geduld war beinah erschöpft. »Ich stimme völlig mit Ihnen überein, daß wir nicht spekulieren sollten – um die Wahrheit zu sagen, war ich ganz gegen meinen Willen gezwungen worden, die Aktien zu übernehmen.«

 

Er konnte und wollte nicht zugeben, daß dieser Fehler, den er begangen hatte, direkt durch Rex Leferres Schuld entstanden war. Mr. Steele würde kaum geglaubt haben, daß sein so erfahrener junger Chef sich durch einen jungen Menschen zu Geschäften hätte verleiten lassen, die mit der Bank gar nichts zu tun hatten. Und doch war dies die reine Wahrheit.

 

»Wie hoch belaufen sich unsere Verluste?« fragte Luke. Mr. Steele gab ihm die genaue Zahl an.

 

»Neunundsiebzigtausendsechshundertvierzig Pfund«, sagte er nachdrücklich, aber Luke lächelte.

 

»Zufällig weiß ich, daß ich einen großen Teil mehr wert bin als diese Summe.« Er lachte. »Tatsächlich, Steele, ich bin ja viel reicher, als ich überhaupt angenommen habe.«

 

Er wußte dies ›zufällig‹, weil es nötig gewesen war, für den Vertrag eine genaue Aufstellung seiner sämtlichen Guthaben zu machen.

 

»Es ist gut – lassen Sie einen Scheck ausschreiben, und ich will ihn gleich unterzeichnen.«

 

Mr. Steele ging hinaus, und Luke durchflog die Papiere, die noch unterschrieben werden mußten.

 

Er sollte Margaret um zwei Uhr im Standesamt treffen. Danty war gleichfalls dort – der Gedanke an diesen Mann war ihm unangenehm, aber er hatte nichts dagegen geäußert. Danty hatte es auf eine besondere Weise verstanden, Margarets Vertrauen zu erwerben; vielleicht, so dachte Luke, war es die enge Freundschaft mit Rex, die dies nicht nur ermöglicht, sondern vielleicht sogar unvermeidlich gemacht hatte.

 

Der zweite Zeuge sollte Mr. Steele sein.

 

Er war im Begriff, seinen Prokuristen zu rufen, um ihn noch einmal an diese wichtige Funktion zu erinnern, als dieser schon das Zimmer betrat.

 

»Wollen Sie einen Mann namens Lewing sprechen?«

 

»Lewing? Wer ist das?«

 

Mr. Steeles Gesichtsausdruck sagte ihm deutlich, daß Lewing nichts Besonderes sein konnte.

 

»Ein merkwürdiger Kerl«, sagte Steele. »Ich würde ihn schon weggeschickt haben, wenn er nicht gesagt hätte, er käme von Gunner, der Sie ja zu kennen scheint.«

 

Einen Augenblick war Luke unschlüssig. »Gunner?« Er kannte einen Mann, der bei der Artillerie gestanden hatte…

 

Dann plötzlich erinnerte er sich an Gunner Haynes. Er hatte alles vergessen, was mit dem unglücklichen Hoteldieb zusammenhing, den er zu retten versucht hatte – hatte nicht einmal in der Zeitung gelesen, was mit ihm geschehen war.

 

»Lassen Sie ihn hereinkommen.«

 

Der Mann, der hinter Steele das Zimmer betrat, war lang und mager. Seine tiefliegenden Augen hatten in ihrer Unruhe beinahe etwas Tierisches. Er blickte schnell in dem Zimmer umher, und es schien Luke, als ob er jeden Gegenstand abschätzte – in Hinsicht aus einen eventuellen, nächtlichen Besuch, bei dem er die wertvollsten Gegenstände davontragen könnte.

 

»Morgen, Sir.« Er hielt seinen Kopf gesenkt und blickte unter seinen dichten, struppigen Augenbrauen hervor auf Luke.

 

»Möchte Sie gern privatim sprechen, Sir«, sagte er mit heiserer Stimme.

 

Luke gab dem Prokuristen einen Wink, das Zimmer zu verlassen, dem dieser mit großem Widerstreben folgte.

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

 

Ohne seine Augen von Luke zu lassen, streckte der Besucher seine Hand aus und zog sich einen Stuhl heran.

 

»Nun?«

 

Der Besucher setzte sich.

 

»Der Gunner hat drei Monate gekriegt«, begann er.

 

»Der Spatz hat sich für ihn verwendet, aber der Richter hat ihm doch drei Monate gegeben. Der Gunner hat Einspruch erhoben.«

 

Luke nickte. »Er ist zu drei Monaten Zuchthaus verurteilt worden und hat Revision beantragt. Ich hoffe, er kommt damit durch. Hat er Sie zu mir geschickt?«

 

Lewing nickte langsam. Er erweckte den Anschein eines Mannes, der log und erwartete, daß man ihn durchschaute.

 

»Ja. Ein paar Pfund würden ihm viel Gutes tun. Er braucht nämlich einen Rechtsanwalt. Der Spatz sagt, er würde mit durchkommen – und der Spatz weiß Bescheid.«

 

»Wer ist denn eigentlich der Spatz?«

 

Ein langsames Lächeln verbreitete sich über Mr. Lewings Gesicht.

 

»Er ist ’n Greifer – ein Detektiv. Bird heißt er –«

 

Luke nickte. Er erinnerte sich Mr. Spatz‘, dessen Tätigkeit sich augenscheinlich nicht nur auf Untersuchungen beschränkte.

 

»Ich habe selbst gesessen – wegen Einbruch«, vertraute ihm Lewing an. »Aber man konnte mir nichts beweisen, und so bin ich wieder losgekommen. Aber ich und der Gunner sind wie Brüder. Er saß in Brixton in der nächsten Zelle und sagte mir, ich sollte mal vorbeikommen und mit Ihnen sprechen – ein paar Pfund würden ihm sehr viel helfen.«

 

Luke war unschlüssig. Seine Bekanntschaft mit dem Mann, der sich selbst Haynes nannte, war recht oberflächlich, aber während der kurzen Unterhaltung im Ritz Carlton war es ihm aufgefallen, daß der »Gunner« die Manieren und ganz sicher die Ausdrucksweise eines gebildeten Mannes hatte. Dieser Mensch hier, dieser verächtliche Dieb, der ihn von der anderen Seite des Tisches aus so hinterlistig betrachtete, gehörte wohl kaum zu der Art Menschen, die von dem Gunner mit Aufträgen betraut werden dürften.

 

Luke faßte in seine Tasche und zog ein paar Pfundnoten heraus.

 

»Ich nehme an, Sie kennen Mr. Bird sehr gut«, fragte er, als er das Geld zählte.

 

Der Mann grinste.

 

»Den Spatz? Und ob! Er spricht immer nur über die Kinder der Armen – aber er ist immer hinter ihnen her! Er behauptet, es gibt eine Masse armer Leute, die nur leiden, weil es Leute gibt wie –« er war im Begriff; »mich« zu sagen, aber verbesserte sich schnell – »weil es Gauner gibt. Das ist Unsinn, wenn man nicht arbeiten kann, muß man doch irgendwas tun: man kann doch nicht verhungern. Das letztemal, als der Spatz anfing, mit mir darüber zu reden, habe ich gesagt: ›Passen Sie mal auf, Mr. Bird, warum sind Sie nicht mal hinter den Kindern der Reichen her und lassen die mal was von ihrem Überfluß an die Kinder der Armen abgeben?‹ Er konnte mir keine Antwort geben. Er war einfach platt. Wenn es sich um Beweisführung handelt, schlage ich alle Leute.«

 

Er schien ziemlich stolz auf diese Fähigkeit zu sein, auch wenn seine Triumphe meistens erlogen waren.

 

»Hier sind zehn Pfund, geben Sie das Ihrem Freunde … ich kann nicht mehr für ihn tun. Ich würde aber ganz gern wissen, wie es ihm geht; er kann mir hierher schreiben.«

 

Eine schmutzige Hand, wie eine Geierkralle, schoß über den Tisch hinweg und packte das Geld.

 

»Wenn Sie Dicky sehen, sagen Sie nicht, daß ich hier war … den Spatz meine ich. Manche nennen ihn so und manche wieder anders. Und, Sir, wenn Sie jemals was von unserem Leben sehen wollen, Sie oder andere feine Leute, kommen Sie mal eine Nacht ‚runter nach Rotherhithe. Fragen Sie mal nach Harry Sibler – warten Sie, ich muß irgendwo meine Adresse haben.«

 

Er suchte in seiner Westentasche und brachte eine schmutzige Karte hervor. Luke nahm sie und las belustigt:

 

Harry Sibler

neben »The Cap and Bells«

 

und darunter war geschrieben:

 

Höchste Preise für Alteisen.

 

Lewing starrte ihn an und zeigte seine Zähne in einem breiten Grinsen.

 

»Altes Eisen!« kicherte er heiser. »Nicht schlecht, was? Wenn Sie wirklich einmal die Kinder der Armen sehen wollen – das ist der Platz, wo Sie hingehen müssen!«

 

Er stand auf und verschwand mit einem Kopfnicken durch die halbgeöffnete Tür. Er verschwand aus seinem Leben, so dachte Luke, aber hierin sollte er sich irren.

 

Kapitel 7

 

7

 

Der Morgen fand Margaret Leferre ratlos und verzweifelt. Dreimal war sie an das Telephon gegangen, um Luke anzurufen; dreimal hatte sie den Hörer wieder niedergelegt. Und dann kam Mr. Danty Morell. Zuerst wollte sie ihn nicht empfangen. In dem Wirbel ihrer Gedanken ließ sein Erscheinen die grauenhafte Wirklichkeit noch abstoßender erscheinen, eine Wirklichkeit, die sie am liebsten von sich abgewehrt hätte.

 

Der Tag graute, nach einer Nacht voller Träume, entsetzlicher Träume, in denen der tote Rex, Luke und Anwälte sich in wildem Reigen über die Abfassung des Heiratsvertrages stritten. Und aus all diesen Traumgestalten hatte sich eine Tatsache klar hervorgehoben: sie haßte Luke – haßte ihn mit einem Nachdruck, der alle Vernunftsgründe erstickte. Sie versuchte, die Zeit zurückzurufen, in der er alles in der Welt für sie bedeutete, die Zeit, wo ihr Herz bei dem Ton seiner Stimme schneller schlug, die Zeit, wo ein Tag ohne seine Gegenwart ihr dunkel erschienen war. Verzweiflungsvoll kämpfte ihr eigener, schwindender Selbstrespekt, verzweifelt suchte sie die Stunden zurückzurufen, wo er Alles für sie bedeutete. Sie versuchte, Entschuldigungen für ihn zu finden – und der Versuch schürte die Flamme des Hasses noch mehr. Sie begann sich selbst zu hassen – wegen des unerhörten Verrates, den sie vorhatte. Und daß sie mit einem Mann ein Komplott eingegangen war, der noch wenige Monate vorher ihr völlig fremd war, machte die Sachlage nur noch schwieriger für sie.

 

In dieser Stimmung fand Danton Margaret Leferre. Er war in düsterem Schwarz, und selbst in seiner Kopfbedeckung lag mehr eine Anspielung auf eine Trauerfeierlichkeit als auf eine Hochzeit.

 

Ohne irgendwelche Vorrede – sie hatte sich schon so weit mit ihm eingelassen, daß Verstellung unnötig war – begann sie:

 

»Ich kann es nicht durchführen, Danton –« niemals hatte sie sich an das familiäre ›Danty‹ gewöhnen können – »ich habe mich entschlossen, Luke anzurufen und ihm alles zu erzählen. Es ist furchtbar – ich kann es nicht.«

 

Er war viel zu geschickt, um gegen ihren Entschluß anzukämpfen, hatte auch in der elften Stunde etwas Derartiges erwartet.

 

»Um genau zu sein, was ist denn eigentlich furchtbar?« fragte er. »Es gibt verschiedene furchtbare Seiten dieser ganzen Angelegenheit, die mir sehr zu Herzen gehen. Aber… ich kann über diese nicht mit Ihnen sprechen – selbstverständlich, es ist mehr als furchtbar, daß Sie ihn hassen und sich doch selbst zum Opfer bringen müssen. Als Luke mir erzählte, daß er seine Flitterwochen in Paris verbringen wollte … angenehm war mir der Gedanke wirklich nicht. Warum Sie überhaupt auf eine Hochzeitsreise gehen müssen, ist mir völlig unverständlich. – Erinnern Sie sich an das junge Mädchen, ich glaube eine Miß Fletcher, die ihr Bein brach, als sie in den Wagen stieg … selbstverständlich ist es abscheulich, derartige Dinge vorzuschlagen, aber – ich kenne einen Doktor, der Ihnen ohne weiteres ein Attest über einen verrenkten Knöchel ausstellen…«

 

Sie schüttelte den Kopf, dachte aber augenscheinlich über diesen Vorschlag nach. Sie mußte den Höhepunkt des Dramas sofort zu erreichen versuchen. Mußte vor der Tür des Standesamts die ganze Wahrheit erzählen – oder die Heirat durfte überhaupt nicht stattfinden. Die Tinte auf dem Heiratskontrakt war noch frisch, und sie mußte ihm erzählen, daß sie vorsätzlich darauf ausgegangen war, ihn zu ruinieren. Sie durfte nicht mehr zaudern. Ein schnelles Ende, solange der Haß noch in ihr loderte, bevor vielleicht eine sentimentale Regung, ein Gefühl von Mitleid in ihr aufkam und sie an einen Mann fesselte, den sie im Innersten verabscheute.

 

Danty sah, wie sie schwankte. Jetzt war der Moment gekommen, ihren Widerwillen gegen Luke zu verstärken. Eine Waffe hatte er in der Hand, und diese hatte er sorgfältig bis zum letzten Augenblick aufbewahrt.

 

»Ich nehme an, Sie wundern sich, warum ich gegen Maddison bin?« sagte er.

 

Es lag kein Grund für diese Frage vor. Er hatte ihr keinen Zweifel gelassen, daß er Luke aus mehr Gründen haßte, als sie sich denken konnte, aber Danton war ein viel zu guter Taktiker, um den Gedanken in ihr aufkommen zu lassen, er betrachtete Luke Maddison als einen Rivalen. Das würde ihn aus der Atmosphäre der uneigennützigen Freundschaft herausgebracht haben, würde jede Handlung, jedes Wort in einem anderen Licht erscheinen lassen. Und doch, mit jedem Tag, der vorüberging, fand er es schwieriger und immer schwieriger, seine Leidenschaft für sie zu verbergen. Sie war so ganz anders als all die Frauen, die er gekannt hatte, so unendlich verschieden von der Art der Millie Haynes … eine Dame, eine große Dame … eine Angehörige der Klasse, gegen die er unaufhörlich gekämpft hatte. Er mußte sich im Zaum halten, um nicht aus der Rolle des platonischen Freundes zu fallen. Ein einziger falscher Schachzug, und er war verloren.

 

»Ich hasse ihn, weil ich Rex gern hatte, ihn liebte – und er wird Rex niemals in Ruhe lassen. Der arme Junge ist kaum unter der Erde, und schon erhebt er eine der unglaublichsten Anklagen gegen ihn –«

 

»Was?« fuhr sie hoch.

 

»Fälschung! Sie würden es nicht für möglich halten, aber Luke erzählte mir wenige Tage nach Rex‘ Tode im Vertrauen, daß der arme Junge einen Scheck über achtzehntausend Pfund gefälscht hätte. Eine törichte Anklage, wie ich ihm auch sagte – denn ich war ja mit Rex zusammen, als Luke Maddison ihm den Scheck aushändigte.«

 

Sie saß bewegungslos, mit zusammengepreßten Lippen, und ihre Augen funkelten empört.

 

»Das hat er gesagt?«

 

Sie sprach so leise, daß man kaum ihre Worte verstehen konnte. »Daß Rex gefälscht hat … aber so etwas kann er nicht getan haben … wie gemein!«

 

Morell sah, wie ihre Lippen zuckten, wußte, sein Augenblick war gekommen. Er beugte sich zu ihr und sprach … sprach … schnell, nachdrücklich. Er sprach von Dingen, die zu anderer Zeit ihre Empörung entfacht hätten – sie lauschte unbewegt – Wut, Empörung kämpften allein in ihr – aber noch sprach in ihrem Innern eine schwache, protestierende Stimme, sagte ihr, daß sie nicht lauschen dürfte, aber diese Stimme wurde schwächer und schwächer und verlosch.

 

Um zwei Uhr stieg sie vor der Tür des Standesamtes in Marylebone aus dem Wagen, und Luke, der sie in dem Vorraum erwartete, begrüßte die blasseste Braut, die jemals dieses Tor durchschritten hatte.

 

Sie sprach kein Wort, beantwortete nur die Fragen, die an sie gerichtet wurden. Schaudernd fühlte sie den Ehering auf ihren Finger gleiten …

 

Alles war so schnell vorübergegangen, daß sie kaum glauben konnte, der erste Akt ihrer Rache war vorüber. Man reichte ihr einen Federhalter, ein dicker Zeigefinger wies ihr die Stelle, wo sie ihren Namen hinzusetzen hatte. Lange Zeit hielt sie regungslos den Halter in der Hand, und als sie schließlich schrieb, schwankte er in ihren Fingern, und die gekritzelte Unterschrift starrte ihr fremd und unbekannt entgegen.

 

Und am gleichen Abend noch die Abreise nach Paris… war es Hotel Meurice oder war es das Bristol? Ihre Gedanken konnten sich über diese Einzelheiten nicht klar werden … was kam auch darauf an, wenn nur ihr Mut sie nicht verließ. Froh war sie, daß die Trauung um zwei Uhr stattgefunden hatte, sie konnte nach Haus zurückfahren – Luke kam zum Diner, und dann würden sie sofort abreisen, um das Nachtboot in Southampton zu erreichen.

 

»Mein Weib! Es ist wundervoll – unfaßbar!«

 

Lukes Stimme zitterte. Sie saßen allein in ihrem hübschen, kleinen Salon, er an ihrer Seite, sein Arm um ihre Schultern gelegt. Sehr still und gerade saß sie, aber er glaubte sie zu verstehen.

 

Luke war außer sich vor freudiger Erregung – wie ein Schuljunge, der ein neues und wundervolles Geschenk erhalten hat.

 

»Hast du übrigens den merkwürdigen Menschen gesehen, der auf dem Bürgersteig stand, als wir herauskamen? Er heißt Lewing – ein Dieb oder irgend so ein Gauner. Ich möchte wissen, ob er auf Taschendiebstahl aus war? Wetten, daß er aus diesem Grunde da war … hat mich sogar gegrüßt, als ich herauskam …«, erzählte er belustigt.

 

Sie hörte nicht zu, und als er sie verlassen hatte, konnte sie sich nur an einige Worte erinnern, die er über Rex gesprochen hatte. Wie hatte er nur den armen Jungen erwähnen können! Danty klingelte an, aber sie wollte ihn nicht sehen, nicht sprechen. Sie war jetzt auf sich allein angewiesen, mußte ohne fremde Hilfe durchkommen. Sie erwartete Luke um sieben Uhr. Gegen sechs rief sie ihn an und hatte einen Augenblick panischer Furcht, weil sie glaubte, er hätte schon seine Wohnung verlassen und wäre nicht zu erreichen. Dann hörte sie seine Stimme.

 

»Liebling … ist es nicht merkwürdig? Ich kann es immer noch nicht glauben – ich komme mir immer noch wie ein vertrockneter, alter Junggeselle vor und …«

 

»Luke, ich möchte dich um etwas bitten«, endlich fand sie ihre Stimme. »Nein … nein, bitte, unterbrich mich nicht… es ist so viel, was ich verlange. Ich möchte heute abend nicht abreisen … nicht morgen oder übermorgen … ich möchte allein sein. Möchte niemand sehen … auch dich nicht. Meine Nerven versagen … Ich befürchte, ich breche zusammen.«

 

Und sie fuhr fort, zusammenhangslos, zögernd, und er lauschte mit einem ständig größer werdenden Gefühl von Besorgnis und Enttäuschung. Und doch dachte er nicht an sich.

 

»Ich bin ein großer Egoist gewesen. Selbstverständlich, mein Liebling … ich kann alles begreifen.«

 

Die ganze Unterhaltung nahm kaum fünf Minuten in Anspruch; er konnte sich kaum darüber klarwerden, was eigentlich vorgegangen war, wozu er seine Zustimmung gegeben hatte, als er an seinem Schreibtisch saß und mit leeren Augen auf die Telegrammformulare starrte, die so viele geplante, verlockende Abmachungen aufheben sollten.

 

Danty stand an der Barriere des Waterloo-Bahnhofs und sah die Reisenden, die den Dampferzug benutzen wollten, an sich vorbeigehen. Er sah, wie der Zug sich in Bewegung setzte, wie das rote Schlußlicht in der Dunkelheit verschwand, und ging langsam nach Haus. Er summte ein kleines Liedchen vor sich hin. Mr. und Mrs. Luke Maddison waren nicht unter den Reisenden gewesen.

 

Kapitel 8

 

8

 

Der Direktor und Prokurist von Maddisons Bank gehörte nicht zu den Menschen, die leicht überrascht werden konnten. Er hatte jene fatalistischen Eigenschaften, die man fast bei allen Menschen findet, die mit Finanzgeschäften zu tun haben. Die Schwankungen der Börse, die Bankraten, das Auf und Nieder des Handels ließen ihn – äußerlich wenigstens – unberührt. Einmal war er von einem bewaffneten Räuber angehalten worden und hatte nicht einen Augenblick seine Ruhe verloren. Und doch starrte er mit größter Verwunderung, unfähig zu sprechen, als er Luke Maddison durch das äußere Büro nach seinem Privatzimmer gehen sah.

 

»’s ist schon gut, Steele«, lächelte dieser. »Es ist kein Geist.«

 

Mr. Steele fand endlich seine Sprache wieder und:

 

»Ich dachte … hm …«

 

»Sie dachten, ich wäre auf der Hochzeitsreise, aber wie Sie sehen, stimmt das nicht«, sagte Luke, als er dem Prokuristen voran in sein Büro ging.

 

Bei dem Anblick der enormen Gestalt, die in einem der bequemsten Sessel lag, blieb er auf der Türschwelle stehen. »Mr. Bird kam heut morgen, und ich glaubte … hm… ich dachte, Sie würden nichts dagegen haben, wenn ich mit ihm in Ihrem Zimmer verhandelte.«

 

Luke Maddison schüttelte schon die Hände seines Besuchers.

 

»Dachte ich mir’s doch, daß Sie kommen würden«, sagte der Spatz vergnügt. »Ich habe gewußt, daß Sie nicht mit dem Flitterwochenexpreß gefahren sind.«

 

Luke lachte.

 

»Sie waren am Bahnhof, wie ich annehme?«

 

»Ich und ungefähr vierzehn verschiedene Hochstapler«, war die Antwort des Detektivs, »aber nur zwei von ihnen hatten in diesem Dampferzug für uns ein besonderes Interesse. Alle übrigen waren ganz gewöhnliche Gepäckdiebe und die hielten es dann nicht lange auf dem Bahnhof aus. Ich und ›er‹ warteten, bis der Pariser Zug abfuhr.«

 

»Wer war denn ›er‹?« fragte Luke, erhielt aber keine Aufklärung.

 

»Doch nichts Ernsthaftes, Mr. Maddison? Ja, ich weiß natürlich, daß Ihre junge Frau sich nicht besonders gut befindet, hoffentlich ist es nichts Schlimmes?«

 

Es kam ihm noch so fremd vor, daß man von Margaret als »seiner jungen Frau« sprach, und Luke lachte leise und glücklich vor sich hin.

 

»Ich wollte Sie mal wegen eines kleinen Gauners sprechen«, erklärte der Spatz, »falls Sie damit nicht das Vertrauen eines Verbrechers zu täuschen glauben. Ich möchte nämlich gern wissen, was Lewing gestern bei Ihnen wollte?«

 

Luke zögerte; es war ihm unangenehm, etwas zu sagen, das den Mann oder dessen Auftraggeber in Unannehmlichkeiten bringen könnte.

 

»Kam er vielleicht um Geld – für den Gunner?« Mr. Bird beobachtete ihn genau. »Aha, das dachte ich mir. Der Gunner hat Berufung eingelegt, das stimmt, und ich glaube, er wird damit durchkommen. Ich habe die Angelegenheit mit ihm im Hofe des Brixton-Gefängnisses besprochen, und Lewing muß in der Nähe gewesen sein und gehört haben, was ich sagte. Was haben Sie ihm denn gegeben?«

 

So genau wie möglich teilte Luke ihm den Inhalt der Unterhaltung mit Lewing mit. Der Spatz grinste.

 

»Der Gunner würde nicht einmal mit einem Mann wie Lewing sprechen. Haynes gehört zu der, wie die Zeitungsschreiber so schön sagen, Aristokratie der Verbrechergesellschaft. Wenn Sie Antrag stellen wollen, werde ich mir Lewing langen.«

 

Aber Luke wollte nicht damit belästigt werden.

 

»Es ist gut – lassen Sie ihn laufen. Er wird es so weiter treiben, wird den Kindern der Armen das Letzte nehmen, bis er eines Tages fällt, und dann werde ich höchstwahrscheinlich auf ihm drauf liegen.«

 

Diese Phrase erregte Lukes Aufmerksamkeit, und er stellte eine Frage. Der Spatz blies durch seine dicken Lippen.

 

»Menschen wie Sie, Mr. Maddison, können so etwas nicht verstehen. Sehen Sie mal aus dem Fenster« – er wies auf die Straße und Luke blickte hinunter. »Sehen Sie das junge Mädchen – Typistin oder so was Ähnliches. Zwei Pfund die Woche. Sie kommt aus einer Familie von ungefähr sechs Menschen (stimmt das nicht bei der, so sicher bei einer der vielen anderen, die da vorbeilaufen) und wohnt ganz weit draußen in Bermundsey. Ein jeder ist gegen sie! Sie glauben das nicht! – Man versucht, sie zu bestehlen, man liegt immer im Hinterhalt für ein solches Wild wie diese da. An den Haltestellen, in den Autobussen, überall sind die Gauner und versuchen, ihr die Börse mit den wenigen Schillingen zu stehlen. Vielleicht kommt so ein nett aussehender Kerl, ladet sie ein zum Kino – und dann … an irgendeinem Abend wird sie mit ihm in ein Nachtlokal gehen … und … geht unter. Sehen Sie den Mann da, den alten Kerl? Der erhält seine Familie mit beinahe nichts. Zimmermann … nach seiner Arbeitstasche. Wissen Sie, was ihm eines Tages passieren wird? Man wird ihn an einer stillen Ecke zu Boden schlagen, seine Werkzeuge wegnehmen und die Taschen leeren. Ich könnte Ihnen noch viel davon erzählen. – Darum verdiene ich ja soundso viel pro Woche, weil ich ›die Kinder der Armen‹ schützen muß… soweit ich kann. Begreifen Sie das nun?«

 

»Aber ich dachte, die Gauner sind nur hinter reichen Leuten her?« fragte Luke.

 

Mr. Bird lachte laut heraus.

 

»Hinter den Reichen? Die haben ihr Geld auf der Bank, im Geldschrank. Die haben Dienerschaft und Telephon… und haben das Gesetz auf ihrer Seite, Gesetz und Unterstützung. Ein Gauner würde viel lieber einem armen Teufel das letzte wegnehmen. Der ist ja hilflos, der kann sich nicht wehren, denn auch … Gerechtigkeit kostet Geld. Ich sage Ihnen, Mr. Maddison, Sie können sich keinen Begriff machen, wie arm die Armen in Wirklichkeit sind, wie sie leben, und noch weniger von den Gaunern, die von den Ärmsten der Armen existieren. Ich könnte Sie in ein Viertel in Süd-London bringen, wo sie in ganzen Herden zusammenleben – all diese kleinen, verkommenen, gemeinen Diebe – genau so, wie man es manchmal in Büchern liest. Leben zusammen in Kellern und alten verlassenen Speichern. Die halten Ihren Kopf in den Schlamm des Flusses, bis Sie tot sind – und wenn das nur wenige Pfund für jeden von ihnen einbringt.«

 

Luke schauderte.

 

»Es erscheint einem fast unmöglich.«

 

Mr. Bird lächelte halb amüsiert, halb traurig.

 

»Ich hoffe, Sie werden niemals kennenlernen, wie möglich, wie sehr möglich das leider ist – also, was soll mit Lewing geschehen?«

 

Luke schüttelte abweisend den Kopf, und der Spatz, der sich mit Mühe aus seinem Sessel emporhißte, grunzte seine Unzufriedenheit über eine solche Milde.

 

»Er gehört zu den Schlechtesten. Einbruch, hat er Ihnen erzählt? Er hat nicht so viel Mut wie ein … wie ein Regenwurm. Er gehört zu den Flußdieben – später werde ich Ihnen mal mehr davon erzählen.«

 

Während der Unterhaltung war Steele schon zweimal auf der Türschwelle erschienen. Er schien in Unruhe zu sein, blickte bedeutungsvoll zu Bird und gab Luke mit allen Mitteln zu verstehen, daß er ihn möglichst bald zu sprechen wünschte. Der Detektiv hatte kaum das Büro verlassen, als Steele hereinkam.

 

»Der Scheck über neunundsiebzigtausend Pfund, den Sie mir gestern gaben – der Direktor der Bank läßt Ihnen sagen, daß er Sie dringend sprechen müßte. Er wollte mir nicht erzählen, um was es sich handelte, allerdings erst, nachdem ich ihm gesagt hatte, Sie wären noch nicht abgereist.«

 

»Aber das ist doch mein Privatguthaben«, sagte Luke stirnrunzelnd.

 

»Genau dasselbe habe ich ihm auch gesagt, habe ihm auseinandergesetzt, daß Sie diesen Betrag von Ihrem Guthaben auf das Konto der Bank überwiesen hätten, aber er sagt, er müßte Sie sprechen.«

 

Die Bank war nicht weit entfernt, und kaum zehn Minuten später saß Luke im Büro des Direktors. Zuerst nahm er dessen Glückwünsche entgegen und gab dann eine kurze Erklärung für den Aufschub seiner Hochzeitsreise. Margaret befand sich besser – er hatte am frühen Morgen bei ihr angerufen und befriedigende Auskunft erhalten.

 

»Und jetzt wegen des Schecks, Mr. Maddison.«

 

Der Direktor wurde plötzlich kühler Geschäftsmann. »Es ist Ihnen doch klar, daß er nicht ausgezahlt werden kann?«

 

»Was?« Luke blickte ihn ungläubig an, und der Bankier lachte.

 

»Klingt lächerlich, nicht wahr? Ganz besonders für mich, wenn ich mir überlege, daß ich zu dem Haupt von Maddisons Bank spreche. Aber es ist wirklich so. Es ist nur eine Formalität, aber Sie als Bankier sind sich selbstverständlich darüber klar, daß das ganze Bankgeschäft auf Formalitäten –«

 

»Wollen Sie mir nicht, bitte, sagen, was Sie eigentlich meinen?« unterbrach Luke ungeduldig. »Ich habe sechshunderttausend –«

 

»Sie hatten«, lächelte der Direktor, »aber Sie scheinen Vergessen zu haben, Mr. Maddison, daß Sie Ihr ganzes Geld, all Ihre Wertpapiere, mit einem Wort, Ihr ganzes Vermögen Ihrer Frau verschrieben haben!«

 

Und jetzt wurde sich Luke Maddison bewußt, daß er pfenniglos war. Er lächelte erst, und brach dann in ein schallendes Gelächter aus, in das der Bankdirektor mit einstimmte.

 

»Das ist der beste Witz, den ich jemals gehört habe.« Luke trocknete sich die Augen. »Das hatte ich ja ganz vergessen. Werde sofort Mrs. Maddison aufsuchen« – er zog die Worte lang – »und sie ersuchen, mir einen Scheck über diesen Betrag aushändigen zu wollen.«

 

»Aber bald«, riet der Bankier, »Sie wissen, daß ich den Scheck zurücksenden muß, falls ich nicht von Ihrer Frau autorisiert werde, ihn auszuzahlen.«

 

Luke lächelte ein wenig verächtlich, hielt es aber nicht einmal der Mühe für wert, Margaret sofort aufzusuchen. Kurz vor dem Lunch fiel ihm die Angelegenheit ein und er telefonierte.

 

»Ich möchte dich sprechen, mein Liebling.«

 

»Weswegen?« Es wurde ihr schwer, den Verdacht, den sie fühlte, zu verbergen.

 

»Ich möchte deine Unterschrift unter ein kleines Dokument haben«, erwiderte er vergnügt.

 

Das war es also! Danty hatte sie gewarnt. Nur hätte sie niemals gedacht, daß die Bitte, das ihr verschriebene Vermögen wieder herauszugeben, so schnell kommen würde.

 

»Ein Dokument?«

 

»Ich möchte dich bitten, etwas Geld auf mein Konto zu überweisen«, sagte er. »Es ist nur eine reine Formalität – ich habe herausgefunden, daß ich weniger Geld habe, als ich brauche.«

 

Sie dachte rasend schnell.

 

»Gut, komm um drei Uhr zu mir.«

 

Er dachte nicht daran, daß die Bank um halb vier Uhr schloß, und stimmte zu. Schließlich war es ja auch nicht von großer Bedeutung, wenn der Scheck zurückgesandt wurde. Es handelte sich ja nur um einen einfachen Übertrag von seinem persönlichen Guthaben auf die Bank. Er kam – wie üblich – fünf Minuten zu spät und wurde in ihren kleinen Salon geführt. Was ihm zuallererst auffiel, war, daß sie völlig angezogen war. Er hatte sich vorgestellt, daß sie ruhte, ihn vielleicht im bequemen Negligé empfangen würde. Ihr Gesicht war nicht mehr so blaß wie am Tage vorher. Als er auf sie zuging, um sie in seine Arme zu schließen, erlebte er die erste Überraschung.

 

»Küsse mich nicht – bitte!«

 

Es war keine Bitte: es war ein klarer Befehl.

 

»Warum – was gibt’s denn, Liebling?«

 

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.

 

»Bitte, sage mir, was du willst.«

 

Der Ton ihrer Stimme berührte ihn fremd. Er war hart, beinahe feindlich. Luke glaubte kaum, seinen Ohren trauen zu können.

 

Stammelnd wie ein Schuljunge erzählte er ihr in zusammenhangslosen Sätzen die Sachlage. Sie lauschte, ohne ihn mit einem Wort zu unterbrechen.

 

»Neunundsiebzigtausend Pfund«, sagte sie. »Ein Zehntel davon würde Rex gerettet haben.«

 

Er konnte sie nur verständnislos anstarren.

 

»Es ist wirklich abstoßend, sehen zu müssen, wie ein Mann das Gold zu seinem Gott erhebt, und zu wissen, Luke, daß er für dieses Gold ohne Zögern ein so junges Leben opfern konnte wie …«

 

Margarets Stimme klang in seinen Ohren wie dröhnender Glockenschall; und ihr schien es unfaßbar, daß sie es war, die diese Worte sprach.

 

»Und dann den armen toten Jungen der Fälschung beschuldigen – zu einer Niedertracht noch eine größere hinzufügen!«

 

»Ich … sprichst du von mir?« sagte er kaum hörbar.

 

Sie nickte.

 

»Von dir! Ich wußte, du würdest kommen, um dein Geld zurückzuhaben – das ist der Grund, warum ich nicht mit dir nach Frankreich abreiste. Ich wollte, daß die Entscheidung hier fiel. Hier, wo ich Bekannte, wo ich Freunde habe und mit dir mit gleichen Waffen kämpfen kann.«

 

Eine Pause, und dann:

 

»Luke … ich gebe dir kein Geld. Du hast es mir gegeben – es ist mein. Nicht einen Pfennig wirst du von mir erhalten … nicht einen einzigen Pfennig!«

 

Sie wünschte, er würde das Schweigen, das nun folgte, unterbrechen. Sie wünschte, er würde rasen, toben, sie verfluchen, alles das tun, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber er sagte kein Wort. Er blickte sie nicht einmal an, sondern schien das Muster des Teppichs zu studieren, auf dem ihre Füße ruhten. Endlich warf er den Kopf hoch.

 

»Lebewohl«, sagte er und verließ das Zimmer.

 

Sie hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloß, und jetzt kam ihr zum Bewußtsein, was sie beinahe wahnsinnig werden ließ: sie liebte ihn!

 

Kapitel 9

 

9

 

Luke Maddison betrat sein Büro so ruhig, daß Steele, der ihn vorbeigehen sah, nicht im entferntesten ahnen konnte, welch eine Katastrophe das Leben seines jungen Herrn zerstört hatte. Steele blickte auf die Uhr und knurrte zufrieden. Augenscheinlich war die Angelegenheit mit dem Scheck in befriedigender Weise erledigt. Der Apparat auf seinem Tisch läutete, und er nahm den Hörer ab.

 

»Wollen Sie, bitte, zu mir kommen?« Lukes Stimme war fest wie immer und verriet auch nicht durch das geringste Schwanken, was in ihm vorging.

 

Er war selbst über seine eigene, eisige Ruhe überrascht, und es verging geraume Zeit, bis er den Grund für diesen unnatürlichen Gleichmut gefunden hatte: er lebte gänzlich in der Gegenwart, wagte es nicht, zurückzublicken, war gleichgültig dem gegenüber, was ihn am anderen Morgen erwartete.

 

Steele, der ihn schon von klein auf kannte, sah etwas in seinen Gesichtszügen, das er nie zuvor dort gesehen hatte, und war betroffen.

 

»Etwas vorgefallen, Sir?« fragte er besorgt.

 

Luke spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wollte.

 

»Ich weiß es nicht … ich bin mir noch nicht über die ganze Sachlage klargeworden. Nehmen Sie Platz, Steele.«

 

Er spitzte wieder die Lippen, starrte an seinem Prokuristen vorbei und begann dann in gleichmäßigem, ruhigem Ton zu erzählen, was geschehen war. Es war nicht der gegebene Moment, etwas zurückzuhalten, er fühlte auch nicht die Notwendigkeit, Margaret zu decken oder ihre Handlung zu entschuldigen. Er hatte mit reinen, nackten Tatsachen zu tun, und er setzte diese mit einer kaltblütigen Genauigkeit auseinander, als ob es sich um Werte eines Bankprospektes handelte. Steele hörte, war aber unfähig, den Umfang des Unheils sofort zu übersehen. Endlich stöhnte er laut auf, und dies schien einen verborgenen Sinn für Humor in Luke Maddison zu wecken. Er lächelte.

 

»Sie müssen es machen, so gut Sie können, Steele. Ich nehme an, Sie haben Freunde in der City, die Ihnen vielleicht behilflich sein werden. Aber ich habe keine Lust, mich an diese zu wenden, kein Vertrauen – habe zu nichts mehr Vertrauen … nein, ich bin nicht betäubt, ich bin erledigt. Aber ich jammere nicht um mich selbst, es tut mir nicht leid um mich… ich wünschte, es wäre so … das würde mich wenigstens etwas in die Wirklichkeit zurückbringen.«

 

»Aber was wollen Sie denn anfangen?« Steele flüsterte beinahe unverständlich. Luke Maddison schüttelte den Kopf.

 

»Das kann ich wirklich nicht sagen. Was tut man eigentlich in einem solchen Fall? Nach Afrika gehen und Löwen schießen! Ist das nicht der gebräuchliche Weg für Leute, deren Herz gebrochen ist? Ich weiß es wirklich nicht.«

 

Steele sah auf seine Uhr und stand auf.

 

»Ich gehe jetzt nach der Bank«, sagte er mit bemerkenswerter Energie. »Ich glaube, wir können unsere Kunstseideaktien als Sicherheit für die neunundsiebzigtausend Pfund hinterlegen.«

 

Luke antwortete nicht. Er hörte, wie Steele in abgehackten Worten seine Anweisung gab – wenn der alte Mann erregt war, sprach er ständig in dieser Weise – dann wurde er sich bewußt, daß Steele gegangen war, und schloß die Tür. Zehn Minuten lang saß er an seinem Tisch, blickte starr vor sich hin und versuchte, sich wieder in sein Leben zurechtzufinden. Schließlich stand er auf, ergriff seinen Hut, zog sich mechanisch die Handschuhe an und verließ das Haus durch den Privateingang. Als er die Tür seiner Wohnung öffnete, hörte er das Telephon läuten und hatte gerade noch Zeit, den Diener aufzuhalten, der an den Apparat gehen wollte.

 

»Lassen Sie es klingeln«, sagte er. Der Apparat befand sich in seinem eigenen, kleinen Arbeitszimmer, das neben dem Schlafzimmer lag. Er nahm den Hörer ab, legte ihn auf den Tisch. Dann schloß er die Tür und begann sich umzuziehen. Er nahm, was ihm unter die Hände kam, und bemerkte erst, als er völlig angekleidet war, daß Rock und Beinkleid nicht zueinander paßten. Er zählte sein Geld und fand etwas mehr als fünfzig Pfund in seinen Taschen. Er dachte nach. War das sein Geld oder gehörte es ihr? Ein lächerliches Rätsel, und doch grübelte er lange Zeit darüber. Aber die Wirklichkeit kam ihm noch immer nicht zum Bewußtsein. Er konnte nur an Margaret als A denken, an sich selbst als B, dann gab es noch ein C, das bedeutete: Geld – gehörte nun zu C zu A oder zu B?

 

Luke warf die Banknoten auf den Tisch, behielt das Silber und ging in die Vorhalle. Er nahm gerade seinen leichten Überzieher, als der Diener an seiner Seite erschien und die unvermeidliche Frage an ihn richtete.

 

»Nein, nein. Ich esse heute abend außerhalb.« Und dann, mit der Hand auf der Klinke der offenen Tür, fiel ihm etwas ein. »Auf meinem Schreibtisch liegt Geld, nehmen Sie die Hälfte für sich und die Hälfte für die Köchin – von der nächsten Woche ab habe ich Sie beide nicht mehr nötig.«

 

Wie erstarrt blickte der Mann hinter ihm her.

 

Warum und wie er schließlich nach dem Embankment gekommen war, konnte er niemals sagen; es schien ganz selbstverständlich für ihn gewesen zu sein. Er dachte nicht an Selbstmord, hatte nicht die geringste Absicht, auf diesem Wege Vergessenheit zu finden. Langsam ging er an dem Gitter entlang, blieb vor Scotland Yard stehen und betrachtete gleichgültig das große, graue Gebäude. Der dicke Detektiv war doch dort, der Spatz … der Spatz, der schon manches Unrecht gutgemacht hatte, würde wohl kaum das Problem lösen können, das Luke Maddisons Gehirn quälte. Die Kinder der Armen … er lächelte bitter. Er gehörte jetzt auch zu den Kindern der Armen, stand jetzt auch unter dem Schutze des dicken Mannes. Beschützt die Kinder der Armen und bestraft die Übeltäter! Wer hatte hier unrecht getan? Margaret? Er versuchte, sie anzuklagen, sie zu hassen … Er schüttelte den Kopf und ging langsam nach Blackfriars zurück.

 

Gegenüber der Tempelstation blieb er von neuem stehen. Dort lief doch eine schmale Straße nach dem Strand hinauf – war es nicht Norfolk Street? Sein Anwalt wohnte dort. Warum nicht hinaufgehen und ihm erzählen, was vorgefallen war? Das wäre doch das einzig Vernünftige. Aber dann fiel es Luke Maddison ein, daß er ja nicht vernünftig war. Er war das verrückteste Wesen in der verrücktesten aller Welten. Er ging weiter in der Richtung nach Blackfriars und blieb an einer der Haltestellen der Straßenbahn stehen. Eine lange Reihe von Menschen wartete auf die Wagen, die leer ankamen und dann überfüllt das Embankment entlangrollten. Vielleicht Männer mit ihren Frauen, vielleicht junge Leute, auf dem Wege zu einem zärtlichen Stelldichein, vielleicht junge Mädchen, die Vertrauen zu irgendeinem Mann hatten und bereit waren, jedes Opfer für den Mann ihres Herzens zu bringen. Für Luke Maddison erschien jeder Wagen, der davonfuhr, voll von glücklichen Menschen, die ihr schweres Tagewerk hinter sich hatten, Erholung und Vergnügen des Abends vor sich. Alte Leute, junge Männer, junge Mädchen, so nett und sauber in ihrer einfachen Kleidung, Arbeiter mit der Pfeife zwischen den Zähnen, eine Zeitung unter dem Arm, bebrillte Studenten … wie hypnotisiert starrte er auf die großen erleuchteten Straßenbahnen. Er beobachtete Männer und Frauen, versuchte durch die Glasscheiben hindurch sich ein Bild von ihrem Beruf, ihrem Stand zu machen. Er lehnte mit dem Rücken gegen das Gitter und hatte beide Ellbogen aufgestützt.

 

»Warten Sie auf jemand?«

 

Die Stimme war voller Autorität, klang aber freundlich. Er blickte auf und begegnete dem forschenden Blick eines Schutzmannes. Die Polizei liebt es nicht, Leute am Ufer des Stromes zu sehen, eine Hand auf dem Gitter, der rauschende schwarze Fluß tief unten – vor allen Dingen nicht Leute mit schneeweißem Gesicht und verzerrten Zügen, aus deren Augen Verzweiflung starrt.

 

»N–nein«, stammelte Luke, »ich – ich sehe mir das nur an.« Der Schutzmann betrachtete ihn neugierig, als ob er versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern.

 

»Ich muß Sie schon mal gesehen haben, stimmt’s nicht?«

 

»Schon möglich«, erwiderte Luke und drehte sich schroff um. Er lief in der großen Masse, die ihren verschiedenen Heimen zuflutete, über die Blackfriars-Brücke. Es war dunkel und kalt, und er zog den Mantel an, den er bis jetzt über dem Arm getragen hatte. Später erinnerte er sich, in jener Gegend ein kleines Café betreten zu haben, in dem es nach ranzigem Fett roch.

 

Gegen elf Uhr begann es zu regnen, ein feiner, aber durchdringender Regen, der bald seinen leichten Überzieher durchnäßt hatte. Ziellos wanderte er durch die York Road in der Richtung nach Westminster. Vor ihm schlich ein Mann entlang, zusammengesunken, die Hände in den Taschen und den Kragen hochgeschlagen. Luke trug Schuhe mit Gummisohlen und war schon neben dem Manne, bevor sich dieser seiner Gegenwart bewußt war. Er sah, wie der nächtliche Wanderer mit einem unterdrückten Fluch zur Seite sprang, sich nach vorn beugte, als ob er rennen wollte, bis schließlich etwas in Lukes Gesicht und Erscheinung ihn zögern ließ.

 

»Hallo!« sagte er heiser. »Dachte schon, Sie wären ein Greifer.« Luke erkannte ihn.

 

»Sie sind doch Lewing?«

 

Der Mann starrte ihm ins Gesicht.

 

»Allmächtiger, ist das nicht Mr…. wie heißen Sie doch gleich? … ach so, Maddison! Was machen Sie denn hier? Sie hätten zu mir nach Hause kommen sollen. An der Tooley-Street, das hier ist nicht mein Strich.«

 

Unruhig blickte er rechts und links um sich.

 

»Sie dachten, ich wäre ein Detektiv?«

 

Die dünnen Lippen des Mannes zuckten.

 

»Das habe ich gesagt, aber eigentlich dachte ich, Sie wären einer von Connors Bande; die haben mich heute nacht aus Rotherhithe verjagt … haben gesagt, ich schnüffelte ihnen nach; darum bin ich ja jetzt hier. Connors Leute glauben immer, daß man ihnen nachgeschnüffelt hat, wenn einer von der Bande gefaßt wird.«

 

»Schnüffeln? Sie meinen spionieren?«

 

»Sie der Polizei verraten«, erklärte Mr. Lewing. »Connors Bruder ist letzte Nacht gefaßt worden, und in der Tooley-Street hat man gesagt, daß ich dahinter stecke.«

 

Luke begann allmählich zu begreifen.

 

»Kommen Sie hier lang.« Die klauenähnlichen Hände Lewings packten ihn und zerrten ihn in eine enge, schlecht beleuchtete Straße hinein.

 

»Ich bin heute abend nervös«, sagte er und sprach damit die Wahrheit, denn seine Stimme zitterte heftig. »Sie sind doch ein Kavalier, Mr. Maddison. Sie würden doch einem armen Kerl aus der Klemme helfen. Sie wissen doch, wie Connor ist … ein Messerstich für ’n Penny … erledigen nennt er das … er ist Amerikaner; er ist wenigstens in Sing Song gewesen … ach nee, Sing Sing! Ist ja egal, ’s ist auf jeden Fall ’n Kittchen. Ein paar Pfund würden mir ‚raus aus London helfen.«

 

»Ich habe kein Geld bei mir«, antwortete Luke. Er war schon seines Begleiters müde geworden, und nur seine augenblickliche Verfassung war der Grund, daß er sich in diese schmutzige, kleine Straße hatte ziehen lassen.

 

»Kann ich nicht morgen früh in ihr Büro kommen?« Lewings Stimme verriet deutlich seine Angst, und dann, als er sich erinnerte: »Die zehn Pfund habe ich übrigens dem Gunner gegeben und –«

 

»Dem Gunner haben Sie nichts gegeben«, sagte Luke kalt. »Mr. Bird hat mir alles Nötige von Ihnen erzählt.«

 

Ein verlegenes Schweigen.

 

»Auf jeden Fall möchte ich gerne, daß Sie bei mir bleiben, Sir«, begann der Mann von neuem. »Ich habe Sie einen Greifer genannt, und Sie sehen wirklich aus wie einer. Wenn einer von den Connor-Leuten mich zusammen mit einem Greifer steht, werden sie –«

 

Sie waren gerade in eine vielleicht noch engere Straße eingebogen, als Lewing plötzlich stehenblieb. Vier dunkle Schatten, zwei auf dem Bürgersteig, zwei auf dem Damm, standen ihnen gegenüber. Luke betrachtete sie neugierig. Alle hatten sie ihre Mützen tief in die Augen gezogen, jeder Mann hatte beide Hände in den Taschen.

 

»Hör mal, was soll das bedeuten, Joe?« Lewings Stimme klang weinerlich. »Der Herr hier bringt mich nach –«

 

Der Anführer der vier lachte roh.

 

»Du scheinst wahrhaftig einen Greifer nötig zu haben, stimmt’s nicht?« sagte er. »Du bist noch nicht mal zufrieden, daß du uns Connors nachschnüffelst, sondern mußt sogar noch Scotland Yard an deinem Arm mit herumschleppen. Das ist für dich, Lewing!«

 

Für Luke hatte es nur den Anschein, als ob der Mann mit diesen Worten ein wenig näher an Lewing herangetreten war. Lewing hustete und fiel schwankend gegen Luke…

 

»Und jetzt den Greifer«, sagte eine schnarrende Stimme.

 

Luke warf sich zurück, aber nicht rechtzeitig genug. Er sah etwas aufblitzen, fühlte etwas, wie ein heißes Eisen seine Brust berühren; dann überkam ihn eine eigenartige Schwäche, er lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und sank langsam in sich zusammen … Sein letzter bewußter Eindruck war das Geräusch von laufenden Füßen, vier schwarze Schatten tauchten in noch größerer Dunkelheit unter. Er blieb allein zurück, sein Blut verbreitete sich langsam auf dem Bürgersteig, seine leeren Augen starrten auf das flackernde Licht der Straßenlaternen.

 

31

31


Kein Mensch liebte es weniger, seine Zeit und Kraft zu vergeuden, als Gunner Haynes. Er war überzeugt, daß Connor den Bankier in die Hände bekommen hatte, aber er irrte sich, als er Danty Morell mit der Entführung in Verbindung brachte.


Er wollte Connor aufsuchen, aber er erfuhr, daß er die Stadt verlassen hätte. Er versuchte nicht, eine Unterredung mit Danty Morell herbeizuführen, ging aber nach der Half Moon Street und beobachtete das Haus, bis er zuerst Danty und dann Pi Coles herauskommen sah. An Dantys Wohnung zu gelangen, war sehr einfach – eine Schlüsselform, ein Abdruck und eine Stunde in Green Park mit dem Feilen des weichen Metalls verbracht verschafften ihm den Eintritt.


Der Gedanke, daß Danty zurückkommen könnte, störte ihn nicht. Sein Haß gegen Morell war in gewissem Sinne unlogisch. Sie waren doch einstmals Freunde gewesen, hatten zusammen gearbeitet, und dann hatte er ihn aus den Augen verloren, die Genossenschaft hatte sich aufgelöst. Gunner Haynes hatte seine leichtfertige, kleine Frau geliebt, und als sie verschwand und nichts weiter als die Erinnerung blieb, war ein bedeutendes Stück seines Lebens verloren. Er mochte Danty in Verdacht haben, die Ursache seines Unglücks zu sein, aber er hatte keinen Beweis.


Danty hatte gesagt, daß die junge Frau verschwunden wäre, und daß er ebensowenig wie ihr Mann wüßte, wohin. Dennoch verstärkte sich der Verdacht in Gunner Haynes beinahe zur Gewißheit. Er war jedoch ein zu gerecht denkender Mann; solange der Beweis fehlte, würde Danty nichts geschehen.


Er unterzog die beiden Zimmer einer schnellen, aber genauen Untersuchung. Es gab Briefe durchzusehen, Taschenbücher zu untersuchen, Schubfächer zu öffnen und zu durchstöbern, aber nirgends fand er den geringsten Aufschluß über den Ort, wo Luke Madison gefangen saß. Er fand dm Zettel, auf den Connor die Adresse Lukes gekritzelt hatte, aber sonst nichts. Es blieb nur noch der Geldschrank, der nur ein einfacher Stahlschrank mit Sicherheitsschloß war – von der Art, wie sie in so vielen Geschäften zu finden ist. Diesen aufzumachen, war das Werk von fünf Minuten.


Er enthielt vier Fächer, und jedes war gefüllt mit Briefen, Rechnungen und all den Andenken, die Danty gesammelt hatte und die unordentlich durcheinander lagen. Im dritten Fach fand er einen Kasten, dessen Schloß er erbrach. Papiere, Briefe, ganze Bündel Briefe, die mit Schuhbändern, mit Bindfaden zusammengebunden waren – romantisch war Danty nicht.


Das erste Bündel interessierte ihn nicht, aber sein Gesicht wurde fahl, als er eine bekannte Handschrift in dem zweiten sah. Er trug den Kasten ins Speisezimmer, setzte sich an den Tisch und las drei von den Briefen, überflog die anderen, und dann band er sie langsam und behutsam wieder zusammen und legte sie in den Kasten zurück. Während er das tat, fiel sein Blick auf einen Zettel, der dieselbe Form und Größe hatte wie Rex Leferres letzte Botschaft. Er nahm ihn auf … Ja, es war die gleiche Handschrift! Doch die Worte waren unverständlich, sie lauteten:


»Danty Morell Der Mann ist ein ganz gemeiner Schwindler Ich bin vor ihm gewarnt worden von«


Wie war doch der Wortlaut auf den beiden kleinen Streifen Papier, die ihm Margaret gezeigt hatte? Sein ausgezeichnetes Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich:


»Margaret, mein Liebling, ich bin verloren. Monatelang habe ich spekuliert und heute einen verzweifelten Schritt gewagt auf den Rat von«


und das andere Blatt:


»Luke Maddison. Er hat mich ruiniert – Geld ist sein Gott Ich bitte Dich um alles in der Welt, trau ihm nicht. Er hat mich von einer Torheit in die andere getrieben.

Gott segne Dich.                            Rex.«


Und blitzschnell wurde ihm alles klar. Danty hatte sofort gesehen, daß der erste und dritte der kleinen Zettelchen eine vollkommene Botschaft ergaben, die Luke Maddison für immer bei Margaret unmöglich machen würde; den zweiten hatte er in seine Tasche gesteckt. Man sah, daß er zusammengeknüllt worden war.


Las man die drei Zettel des kleinen Notizblocks, die die letzten Worte des bedauernswerten jungen Mannes trugen, in der richtigen Reihenfolge, so hatte man die furchtbare Anklage gegen Dankon Morell:


»Margaret, mein Liebling, ich bin verloren. Monatelang habe ich spekuliert und heute einen verzweifelten Schritt gewagt auf den Rat von


Danty Morell Der Mann ist ein ganz gemeiner Schwindler Ich bin vor ihm gewarnt worden von


Luke Maddison. Er hat mich ruiniert – Geld ist sein Gott. Ich bitte Dich um alles in der Welt traue ihm nicht. Er hat mich von einer Torheit in die andere getrieben. Gott segne Dich. Rex.«


Es dauerte eine geraume Zeit, bis der sonst so kaltblütige Mann seine Ruhe wiederfand. Sein Kopf war vom Lesen der Briefe wie benommen; Haß und Abscheu hatten ihn fast sinnlos gemacht. Mechanisch steckte er den bedeutungsvollen Zettel in sein Taschenbuch. Die Briefe seiner Frau mußten verbrannt werden. Er öffnete den Kasten noch einmal, nahm sie heraus und warf sie in das Kaminfeuer. Sah die Flammen aufflackern, sah die Briefe langsam zu Asche werden. Dann stellte er den Kasten in den Schrank zurück und verschloß diesen.


Für den Augenblick waren Luke Maddison und dessen Sicherheit für ihn nebensächliche Dinge. Danty war die Hauptsache! Die Qual und der jämmerliche Hilferuf in jenen Briefen! Gunner Haynes erblickte sein Gesicht im Spiegel über dem Kamin und war entsetzt. Er war plötzlich alt geworden.


Danty kam nicht – er war froh darüber. Er schaltete das Licht aus, schloß die Tür hinter sich und ging hinunter. Als er gerade die Straße überschritten hatte, fuhr ein Wagen vor dem Hause vor, und ein Mann stieg heraus. Es war Danty.


Gunner beobachtete ihn, machte aber keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Das würde später kommen – die große Abrechnung.


Wie ein Träumender schlenderte er die Straße entlang und hörte zweimal seinen Namen, ehe er sich umdrehte und in Mary Bolfords hübsches Gesicht blickte.


»Ich wußte erst nicht genau, ob Sie es wären, und dann dachte ich, Sie heckten vielleicht neue ruchlose Pläne aus … aber das ist hoch nicht so?«


Der Gunner atmete tief auf.


»Um die Wahrheit zu sagen, Miß Bolford, das habe ich wirklich getan«, sagte er höflich. »Leider hatte ich in der vergangenen Woche nicht das Glück, Sie treffen zu können.« Sie schüttelte den Kopf.


»Ich war sehr beschäftigt, ich habe eine Anstellung bei einer australischen Zeitung angenommen und verlasse London in der nächsten Woche.«


Ihr Ton war munter, aber er konnte einen Klang in ihrer Stimme entdecken, der für ihn schmeichelhaft war.


»So?! Na, ich habe Ihnen Stoff genug zum Schreiben gegeben, denke ich.«


Sie seufzte. »Ja …« Und nach einer kleinen Pause: »Ich werde Sie sehr vermissen. Ich glaube, wenn ich das Mr. Bird erzählte, würde er sich ärgern.«


»Wütend!« sagte Gunner mit einem leisen Lächeln, das den schmerzlichen Ausdruck, den sie in seinen Augen bemerkt hatte, verwischte.


»Sie werden wohl nie nach Australien kommen? – Ich gehe auf sieben Jahre hin.«


»Mit welchem Schiffe reisen Sie?« fragte er, und als sie ihm geantwortet hatte: »Es gibt noch ein anderes, ungefähr eine Woche später. Fahren Sie von London ab?«


Sie nickte.


»Ich sollte erst in Neapel an Bord gehen – wir legen da an; aber ich habe die Seereise nötig. Ich hab’s ein bißchen mit der Lunge zu tun, nicht schlimm. Darum habe ich die Arbeit in Australien angenommen.«


Sie tranken zusammen Kaffee, und in diesen flüchtigen Minuten dachte er weder an Luke Maddison noch an Danty oder an die Briefe, die zu Asche geworden waren. Als sie sich gegen elf Uhr trennen wollten, sagte er:


»Wenn ich meine Angelegenheiten hier erledigen kann, könnte ich Ihr Schiff in Neapel erreichen.« O


Sie sah ihn sehr ernst an.


»Meinen Sie das wirklich?« sagte sie. »Und ist Australien der Platz für Ihre nächste – – –« Sie suchte nach einem Wort, aber er kam ihr zuvor.


»Ich bin im Begriff, eines der seltensten Wunder zu werden: Ein gebesserter – Gauner!«


Sie schwieg.


»Könnte Ihnen jemand dabei helfen?« fragte sie, und Haynes nickte.


Er sprach nicht aus, was in seinen und ihren Gedanken war, aber sie verstand. Dann schenkte er ihr zum ersten Male sein Vertrauen, und sie lauschte mit großen Augen und voller Staunen auf die wahre Geschichte von Luke Maddison.


»Ich habe den ganzen Tag nach ihm gesucht und habe nicht den kleinsten Anhaltspunkt gefunden.«


»Er ist doch nicht tot?«


Haynes schüttelte den Kopf.


»Das ist unwahrscheinlich«, sagte er. »Das Schlimme ist, daß die Polizei nicht benachrichtigt werden darf – ich denke, die Presse lieber auch nicht«, er lächelte, »aber die Dinge liegen jetzt anders, nicht wahr?«


»Haben Sie den Zettel, den Sie in Morells Wohnung gefunden haben?« (Er hatte bei seiner Erzählung nichts ausgelassen.)


Er reichte ihn ihr über den Tisch. Sie las und nickte.


»Was stand auf dem anderen?«


Er wiederholte die ganze Botschaft fast Wort für Wort.


»Ich habe Rex gesehen – ich weiß tatsächlich eine ganze Menge von ihm«, sagte sie. »Mr. Bird vertraute mir und erzählte mir von dem Betrug. Ich hätte ihm auch vieles mitteilen können, denn ich stand am Eingang der Bank, gerade an dem Tage, als der gefälschte Scheck bezahlt wurde. An dem Tage gab mir Mr. Maddison hundert Pfund – ich habe sie noch.«


Sie sprachen noch vom Spatz, als sie das Restaurant verließen, und an der Ecke der Bury Street trafen sie ihn selbst. Er blickte mißbilligend auf Gunner Haynes und mit finsteren Augen auf das Mädchen.


»Eine neue Verbrechergeschichte? Was treiben Sie, Gunner? Sind Sie Zeuge vor einer auserlesenen Kommission?« fragte er höhnisch.


Gunner Haynes kicherte. Kürzlich hatte sich ein Polizeiskandal ereignet; jemand war eingesteckt worden, der nichts verbrochen hatte; die unvermeidliche Kritik der Zeitungen über das Verhalten der Polizei war die Folge gewesen.


»Wir sind heutzutage gezwungen, so vorsichtig vorzugehen, daß ich selbst nicht mal einen Mann, der seiner Frau die Gurgel durchschneidet, verhaften würde, ohne Untersuchung anzustellen«, sagte der Spatz. »Ich will Ihnen erzählen, wie schlimm das geworden ist. Gerade hat man einen Landstreicher aus einer Polizeistation herausgelassen, der wegen Bettelns verhaftet wurde; es war aber nur ein Zeuge da – ein Polizist! Darum ließen sie ihn laufen. Wenn wir dahin kommen, daß wir auf die Gefühle eines Landstreichers Rücksicht nehmen müssen, dann kann man ebensogut Scotland Yard in ein Heim für verlaufene Hunde umwandeln. Ich nehme den Landstreicher als Beispiel, weil ich gerade auf das Revier kam, als man ihn ‚rausgesetzt hatte. Ich glaube, in ganz London geht’s so zu. Sie gehen nach Australien, hörte ich, Miß Bolford?«


Seine scharfen Augen durchforschten das Gesicht des Gunners.


»Sie doch nicht auch, Gunner? Sie werden die Plauderstündchen am Teetisch vermissen, nicht wahr?«


Mary Bolford wurde rot. Sie hatte sich nicht träumen lassen, daß jene unregelmäßigen und harmlosen Zusammenkünfte mit Gunner Haynes von dem dicken Mann bemerkt worden waren.


»Sie beide müssen gewarnt werden«, sagte der Spatz gelassen, »und ich warne Sie! Es gab noch nie einen Gauner, der jemals etwas anderes sein konnte als ein Gauner. Es war noch niemals ein Mädchen, das einen Mann heiratete, um ihn zu bessern, das nicht schließlich mit einem besseren davonging.«


»Sie sind heute abend prophetischer Laune, Mr. Bird«, sagte der Gunner kühl. »Sagen Sie uns doch, wer wird das Derby gewinnen?«


Der Spatz brummte und ging mit kurzem Nicken davon. Haynes und das junge Mädchen gingen Piccadilly entlang, bis in die Nähe des Zirkus, und hier trennten sie sich.


Während sie noch zögerten, ihre Hand in der seinen, sagte er:


»Sie haben heute abend einem Manne das Leben gerettet, Mary«, und klugerweise fragte sie ihn nichts weiter.


Kapitel 32

 

32

 

Margaret liebte, und diese Erkenntnis hatte sich ihr so plötzlich aufgedrängt, daß sie sich wie betäubt fühlte. Wie vollständig hatten sich ihre Gefühle dem Mann gegenüber geändert, mit dem sie als Kind gespielt hatte, den sie als junges Mädchen gern sah, dem sie schließlich in einer Art stiller Neigung zugetan war. Der Aufruhr der Gefühle, den der Tod ihres Bruders in ihr entfachte, hatte alles getötet, alles hinweggefegt und nur bitteren Haß zurückgelassen.

 

Und jetzt liebte Margaret – liebte zum erstenmal in ihrem Leben – nicht mit den unklaren Gefühlen des jungen Mädchens, nein, mit der Erkenntnis der Frau, mit dem vollen Bewußtsein ihrer Rechte, ihrer Pflichten. Sie konnte es sich nicht erlauben, ihre Zeit mit Reue über die unverständlichen Torheiten und bösen Irrungen der Vergangenheit zu verbringen. Ihre Tage waren ausgefüllt mit Plänen, immer neuen Plänen, wie sie ihrem Mann aus dem Sumpf heraushelfen konnte, in dem er verzweifelt kämpfte.

 

Kein Lebenszeichen von Gunner Haynes. Bis zwei Uhr morgens hatte sie in ihrem Schlafzimmer gesessen und vergeblich auf das Läuten des Telephons gewartet, das ihr Nachrichten bringen sollte. Auch am nächsten Tage nichts! Als Danty bei ihr vorsprach, war sie ausgegangen. Sie brauchte ihr Scheckbuch nicht, und der Diebstahl der Scheine blieb unentdeckt.

 

Der nächste Morgen brachte ihr den Spatz – er kam in amtlicher Eigenschaft.

 

»Haben Sie Anweisung gegeben, daß kein Scheck von Ihrem Mann, der über mehr als tausend Pfund lautet, ausgezahlt wird?«

 

Sie nickte.

 

»Ein junger Mensch hat heute morgen einen über zweitausend Pfund vorgelegt. Dummerweise hat Mr. Steele unterlassen, mich sofort zu benachrichtigen, und als ich endlich ankam, war der Vogel schon davongeflogen.«

 

»War es denn Lukes Handschrift?« fragte sie eifrig. »Wo ist er denn?«

 

Der Spatz konnte ihr keine Auskunft geben.

 

»Ich denke, er ist im Ausland? – Ist es eigentlich eine Gewohnheit Ihres Mannes, andere Leute nach der Bank zu schicken und Geld für sich einkassieren zu lassen? – Kommt mir etwas sonderbar vor!«

 

»Das Geld ist doch nicht ausgezahlt worden?«

 

»Nein – Steele sagte, wenn es eintausend Pfund gewesen wären, hätte er gezahlt.«

 

Sie verhielt sich mit Absicht ausweichend, rief aber, als der Detektiv gegangen war, Steele an. Er hatte wenig hinzuzufügen.

 

»Der Mann, der den Scheck brachte, machte einen ganz anständigen Eindruck.«

 

»Aber haben Sie ihn denn nicht gefragt, von wem er den Scheck erhalten hätte? Aber, Mr. Steele, Sie haben ihn doch nicht so ohne weiteres gehen lassen?«

 

»Warum denn nicht? – Nach dem, was Sie mir gesagt hatten, nahm ich an, Sie erwarteten, Ihr Mann würde verschiedene Schecks einsenden.«

 

Margaret hatte bisher nicht gewußt, wie begriffsstutzig dieser alte Mann manchmal sein konnte.

 

Als das Gespräch beendet war, setzte sie sich hin, um in Ruhe nachzudenken. Luke war in seine Wohnung eingedrungen, um sich Paß und Kleider zu holen. Der Paß war jetzt in Gunners Besitz; sie mußte zunächst dafür sorgen, daß er einen Anzug fand, falls er unerwartet kommen sollte. Sie fuhr nach seiner Wohnung, traf eine sorgfältige Auswahl und packte die nötigen Toilettengegenstände zusammen, vergaß nicht einmal Rasierzeug und ließ alles in ihren Wagen bringen. Es war das erstemal, daß sie eine solche frauliche Pflicht erfüllte, und diese Arbeit erweckte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Luke in ihr, das sie bisher nicht kennengelernt hatte, das ihr aber auch die ständige Sorge und Angst um das Geschick ihres Mannes schärfer und schmerzhafter zum Bewußtsein brachte.

 

Wenn sie wüßte, wo Gunner Haynes zu erreichen wäre, würde sie ihn aufsuchen, würde sogar Danty Morell willkommen heißen. Sein Besuch fiel ihr ein, als sie sich an ihren Schreibtisch setzte, um Schecks für den Haushalt auszuschreiben. Versehentlich nahm sie das unrichtige Scheckbuch heraus und bemerkte sofort, daß einige Blätter fehlten. Sie ließ sich mit der Bank verbinden und erfuhr, daß der vorgelegte Scheck einer von diesen war. Danton Morell war also auch dabei beteiligt!

 

Ihr erster Gedanke war, nach Inspektor Bird zu schicken. Aber die Polizei durfte um keinen Preis hinzugezogen werden. Sie suchte die Nummer Dantons im Telephonbuche, doch als sie schon im Begriff war, bei ihm anzuklingeln, entschloß sie sich plötzlich, ihn selbst aufzusuchen.

 

Sie wartete nicht auf ihren Wagen, sondern ließ ein Taxi holen, gab ihrem Diener gewisse, sehr bestimmte Anweisungen und fuhr nach der Half Moon Street. Pi Coles, der ihr die Tür öffnete, starrte diese unerwartete Erscheinung voller Verwunderung an.

 

»Kommen Sie herein, Miß«, sagte er verlegen, »der Herr ist drinnen.«

 

Danton hörte ihre Stimme und kam ihr auf dem Vorplatz entgegen.

 

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Margaret«, sagte er. »Ist etwas vorgefallen?«

 

Sie antwortete erst, als sie im Zimmer war.

 

»Bevor ich Ihnen sage, warum ich komme«, begann sie, »halte ich es für angebracht, Ihnen mitzuteilen, daß mein Diener, falls ich nicht in drei Viertelstunden zurück sein sollte, Mr. Bild anrufen und ihm mitteilen wird, wohin ich gegangen bin.«

 

Er runzelte die Stirn.

 

»Was soll das heißen?« fragte er rauh. »Das ist ein sonderbares Benehmen – warum, zum Teufel, sollten Sie nicht in drei Viertelstunden zurück sein?«

 

»Wo sind die übrigen Schecks, die Sie aus meinem Scheckbuche gestohlen haben, als Sie gestern bei mir waren?« fragte sie.

 

Sie sah, wie sein Gesicht rot wurde.

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte er laut. »Ich soll Schecks gestohlen haben? Was für Unsinn reden Sie da?«

 

»Sie kamen in mein Haus, und Sie waren lange genug in meinem Wohnzimmer, um zehn Schecks zu entwenden. Einer davon ist heute in der Bank vorgelegt worden, auf Lukes Namen ausgestellt und von ihm unterzeichnet. Nach meiner Anordnung wurde er nicht ausbezahlt.«

 

Aus seinem Gesicht wich die Farbe.

 

»Nicht ausbezahlt …« stammelte er, und seine Bestürzung verriet seine Mitschuld.

 

»Die Schecks haben weniger Interesse für mich als mein Mann«, sagte sie ruhig. »Wo ist er?«

 

Er bemühte sich vergeblich, seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen und zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Wirklich, meine liebe Margaret …« begann er.

 

»Sie werden mich mit Mrs. Maddison anreden, wenn Sie mir etwas zu sagen haben«, sagte sie. »Ich wünsche, daß Sie die Schecks zurückgeben, und ich will auch, daß Sie mir genau sagen, wo Luke ist.«

 

»Soviel ich weiß, ist er bei einem entlassenen Sträfling namens Haynes«, antwortete er grob, und zu seinem Erstaunen nickte sie.

 

»Ich glaubte das auch und ging hin, um mit ihm zu sprechen – aber er war fort. Mr. Haynes schien darüber überrascht zu sein, und jetzt weiß ich, daß Luke nicht freiwillig fortging. Dann dachte ich noch, er wäre seiner Wege gegangen, um von Mr. Haynes loszukommen. Aber der Scheck sagt viel. Wo ist Luke?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht.«

 

»Dann werde ich das tun, was ich gern vermieden hätte«, sagte sie. »Ich gehe zur Polizei und werde Sie anklagen, die Blankoschecks gestohlen zu haben, und es dann Mr. Bird überlassen, ob er Sie mit Lukes Verschwinden in Zusammenhang bringen will oder nicht.«

 

Sie wendete sich zur Tür, aber er erfaßte ihren Arm.

 

»Um Gottes willen, Margaret, bedenken Sie, was Sie tun!«

 

Sie sah, er war in Unruhe; seine Stimme zitterte vor Angst und Schreck.

 

»Ich schwöre Ihnen, ich weiß nicht, wo Luke ist. Er war auf einem Flußschiffe, wo Connor ihn festhielt. Der Hund hat mir nicht gesagt, daß Maddison einen Scheck unterzeichnet hat, nur daß er in den Fluß sprang und entkommen oder ertrunken ist. Das ist die Wahrheit. Ich wußte nichts davon, bis Connor ihn gefunden hatte. Ich schwöre Ihnen, das ist die reine Wahrheit!«

 

»Wo ist Connor?« fragte sie.

 

»Ich weiß es nicht. Er war heute morgen hier und erzählte mir, daß es Luke gelungen war, auszureißen. Ich glaubte ihm nicht, wahrscheinlich hat er mich angelogen. Das ist alles, was ich weiß.«

 

Danty sah, sie war unentschlossen, und er suchte sie von ihrer Absicht abzubringen. Er zweifelte nicht, daß sie schließlich tun würde, was sie ihm angedroht hatte.

 

Sie wußte nicht, was sie tun sollte.

 

»Können Sie Haynes aufsuchen?«

 

»Haynes aufsuchen?« schrie er fast. »Bilden Sie sich vielleicht ein, daß ich mit dem Kerl zusammenkommen möchte! Er ist ein gefährlicher Mensch, Margaret – –«

 

»Mrs. Maddison«, sagte sie kalt.

 

»Er ist gefährlich – Sie sollten nichts mit ihm zu tun haben.«

 

Er versuchte nicht mehr, den Diebstahl der Schecks zu leugnen.

 

»Sie wissen also nicht, wo Mr. Maddison ist?«

 

»Nein, Mrs. Maddison –« er hatte ihre Zurechtweisung beherzigt – »ich habe keine Ahnung, Connor hat die ganze Nacht nach ihm gesucht.«

 

Als sie nach Hause kam, fand sie den Spatz vor der Tür auf sie warten. Sie wunderte sich über die große Handtasche, sagte aber kein Wort, auch nicht, als er in dem kleinen Arbeitszimmer den Inhalt der Tasche auf den Tisch legte. Sie erkannte die zerdrückten Sachen nicht.

 

»Diese Kleider wurden im Besitz eines Flußdiebes gefunden, der sie heut morgen verkaufen wollte«, erklärte der Spatz. »Der Mann wußte nicht, daß der Name Ihres Gatten in die innere Tasche eingenäht war.«

 

»Der Name meines Mannes?« wiederholte sie atemlos und erblaßte. »Wo hat er die Sachen her?«

 

»Das möchte ich auch gern wissen. Er hat uns erzählt, daß er gestern abend einen Mann, völlig durchnäßt, am Rande des Flusses auflas und ihn mit zu sich nach Haus nahm. Wir haben seitdem festgestellt, daß es sich trotz der in manchen Einzelheiten übereinstimmenden Beschreibung nicht um Mr. Maddison handeln kann, der ja doch, wie ich annehme, im Ausland ist.«

 

Klang nicht seine Stimme etwas sarkastisch? Sie glaubte, einen Unterton von Ironie mitschwingen zu hören … und antwortete klugerweise nicht.

 

»Der Mann sagte, die Kleider wären ihm geschenkt worden, aber das ist natürlich die übliche, abgedroschene Geschichte. Ich glaube, der Anzug ist gestohlen worden, während der Besitzer im Bett lag. Können Sie vielleicht eine Aufklärung darüber geben?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

Es war ein erbärmliches Geständnis, aber sie wußte, sie war nicht einmal imstande, einen alten Anzug ihres Mannes wiederzuerkennen. Es handelte sich um den Anzug, den er angezogen hatte, als er in seine Wohnung eingebrochen war.

 

»Kennen Sie ihn nicht wieder?«

 

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Es kann auch nicht ein alter Anzug gewesen sein, den, Ihr Mann vielleicht weggegeben hat, denn das Lieferdatum stand unter Mr. Maddisons Namen. Der Anzug war kaum einen Monat alt.«

 

Er sah sie scharf an.

 

»Die Angelegenheit mit Ihrem Mann erscheint mir in vielen Dingen rätselhaft, und ich glaube, Mrs. Maddison, Sie sind in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Ich würde Ihnen gern helfen, wenn ich nur könnte.«

 

Sie wollte etwas sagen, aber er kam ihr zuvor.

 

»Erzählen Sie mir nichts, bevor Sie nicht gehört haben, was ich weiß. Vier, fünf verschiedene, ganz interessante Einzelheiten –« und er zählte sie an seinen Fingern ab – »Ich weiß, daß Ihr Mann am Tage nach der Trauung verschwand. Ich weiß, daß in seiner Wohnung eingebrochen wurde. Ich weiß, daß man in dem Einbrecher denselben Mann wiedererkannte, der am Nachmittag bei der Taffanny-Sache mitgeholfen hatte. Ich weiß, daß aus seiner Wohnung neben anderen Dingen sein Paß gestohlen wurde. Ich hatte später mit seinem Diener gesprochen, der mir erzählte, daß sich in einer Schublade des Schreibtisches ein Paß befunden hätte. Sollte es nun eine Möglichkeit geben – wissen Sie, das ist eine der phantastischen Theorien, mit denen die Schriftsteller mächtig viel Geld verdienen –, sollte es nun eine Möglichkeit geben, sagte ich mir, daß dieser Mann vielleicht Mr. Maddison ist, dann sind die einzigen Menschen, die ihm helfen können–wir von der Polizei. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, daß er nicht der Mann ist, Taffanny zu berauben. Sollte es sich vielleicht um eine Art von … hm … Doppelgänger handeln, können wir Ihnen, glauben Sie mir das, Mrs. Maddison, mehr als nützlich sein.«

 

Sie schwieg. Mit bedauerndem Kopfschütteln verabschiedete sich der Detektiv; den Anzug nahm er wieder mit und – eine Überzeugung, die nicht mehr zu erschüttern war.

 

Ein merkwürdiger Zufall, daß er die zerdrückten Sachen in das Haus brachte, wo im Schlafzimmer ein sorgfältig gepackter Koffer stand, der für Luke einen anderen Anzug enthielt.

 

Sie überlegte unruhig, wo sie den Koffer möglichst leicht erreichbar und unauffällig unterbringen konnte, und entschied sich schließlich, ihn in der Handgepäckabgabe eines Bahnhofes abzugeben. Sobald man Lukes Aufenthalt entdeckt hätte, konnte man ihm den Schein zukommen lassen; sie wartete aber bis zum Einbruch der Dunkelheit, um ihren Plan zur Ausführung zu bringen.

 

Der Abend sah auch Danton Morell in großen Sorgen. Am Nachmittag, kurz nachdem ihn Margaret Maddison verlassen hatte, machte er eine Entdeckung, die ihn vor Angst fast von Sinnen brachte. Seine Macht über Margaret hatte er verloren; sie konnte jeden Augenblick zur Polizei gehen, und gerade jetzt war er ängstlich bemüht, seine Bekanntschaft mit Scotland Yard nicht zu erneuern. Es stand sehr schlecht mit ihm; er schuldete eine große Summe, die er am nächsten Tage in der City bezahlen mußte. Seine Lage war jetzt, wo auch noch die Möglichkeit hinzukam, mit der Polizei in Konflikt zu kommen, äußerst gefährlich.

 

Danton Morell war in vieler Hinsicht ein vorsichtiger Mann. So verschwenderisch er auch war, hatte er sich doch eine bedeutende Summe beiseite gelegt, die er trotz aller Versuchung nie angerührt hatte. Dies Geld, das in zwei, drei Banken unter falschem Namen in Depot gegeben war, hatte er am Morgen abgehoben. Er hatte nichts weiter zu tun, als seinen sorgfältig ausgearbeiteten Fluchtplan zur Ausführung zu bringen. In der Nähe Londons lag ein kleiner Flugplatz, auf dem dann und wann Schauflüge stattfanden, und Danty hatte in weiser Voraussicht die Gesellschaft finanziert, der die Flugzeuge gehörten. Er rief dort an und ließ sich eine Maschine reservieren, einen großen mehrsitzigen Eindecker, den die Gesellschaft kürzlich erworben hatte. Er gab die notwendigen Anweisungen für Tanken und sorgfältiges Überholen der Maschine. Sein erstes Ziel sollte die Schweiz sein. Danty hatte nicht die geringste Absicht, einen Begleiter mitzunehmen, aber es sollte sich herausstellen, daß er nicht der einzige angstgepeitschte Mann an jenem Tage in London war.

 

Danty suchte in aller Eile die Papiere heraus, deren Zurücklassen böse Folgen für ihn haben könnte, und richtete seine Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Kassette, die den gefährlichsten Teil seiner Korrespondenz enthielt. Das Schloß war aufgebrochen! Entsetzt riß er den Deckel auf, schüttelte den Inhalt auf den Tisch … Das Paket Briefe, das er wahnsinnig genug gewesen war aufzubewahren, war verschwunden! Und der kleine Zettel mit Rex‘ Worten gleichfalls.

 

Seine Hände zitterten derartig, daß er kaum die Papiere halten konnte, die er durchflog. Unnötig, sich den Kopf zu zerbrechen, wer wohl der Täter gewesen war, wer die Kassette aufgebrochen hatte! Der Gunner war in der Nachbarschaft gesehen worden. Pi Coles hakte es ihm erzählt. Der Gunner war es, der seine Wohnung durchsucht, der die Papiere entwendet hatte. Danty Morell sah den Tod mit grinsendem Gesicht vor seinen Augen, war wie gelähmt, unfähig, einen Gedanken zu fassen. Als an die Wohnungstür geklopft wurde, sprang er von seinem Stuhl auf, die zitternde Ruine eines Mannes, und wagte nicht zu öffnen.

 

Es klopfte von neuem, und er zwang sich zur Ruhe, ging zur Tür und fragte, wer da wäre. Als er Connors Stimme erkannte, hätte er vor Freude aufschreien können.

 

»Was ist los mit Ihnen?« fragte Connor, als sie im Zimmer waren.

 

»Ich habe einen verdammt unangenehmen Schreck gehabt und fühle mich nicht besonders wohl. Wissen Sie, daß man hinter den Blankoscheinen her ist?«

 

Auch Conny sah nicht übermäßig glücklich aus.

 

»Weiß schon. Ein Scheck, den ich nach der Bank geschickt habe, ist nicht ausbezahlt worden, und jetzt ist fast ganz Scotland Yard auf der Suche nach dem Boten. Sie wissen nämlich, wer es gewesen ist, und das ist das Schlimmste dabei. Sie sind da auch mit drin, Danty!«

 

»Wir beide, glaube ich«, knurrte der andere. »Ich mach‘ mich dünn heute abend!«

 

»Sie haben doch keine Möglichkeit, aus London ‚rauszukommen.« Connor lachte roh. »Wie wollen Sie’s denn machen?«

 

Es lag Danty auf der Zunge, ihm etwas vorzuschwindeln, aber gerade jetzt hakte er Connors Hilfe nötig. Connor scheute nicht davor zurück, in dringenden Fällen einen Revolver zu gebrauchen und – haßte Gunner Haynes.

 

»Mit Flugzeug von Elford«, sagte er. »Wir müssen uns beim Gunner bedanken. Er hat uns verpfiffen.«

 

»Er hat ja niemals was anderes gemacht«, sagte Connor, ohne sich weiter zu ereifern. »Wohin geht’s denn?«

 

»Schweiz«, war Dantys kurze Antwort.

 

»Paßt mir sehr gut!«

 

Connor blickte aus die Papiere, die auf dem Tisch lagen.

 

»Großes Reinemachen, was?« fragte er bedeutungsvoll. »Wieviel Geld haben Sie?«

 

Danty log. Wenn es sich um Geld handelte, brachte er es nicht fertig, die Wahrheit zu sagen.

 

Die Besprechung war von kurzer Dauer. Sie kamen überein, sich sofort auf den Weg nach dem Flugplatz zu machen und dort die letzten Vorbereitungen für ihre Reise zu treffen.

 

Die Fahrt durch die Vorstädte Londons wurde schweigend zurückgelegt. Von Zeit zu Zeit hob Danty die Gardine an dem kleinen Fenster in der Rückwand des gemieteten Autos und spähte auf die dunkle Straße hinaus.

 

»Was haben Sie denn?« knurrte Connor.

 

»Ein Wagen, ein Zweisitzer, ist hinter uns!«

 

»Ja, und?« fragte der andere ironisch. »Wollen Sie die Straße für sich allein haben?«

 

Als Danty einige Minuten später wieder hinausblickte, war der Wagen verschwunden.

 

Die Vorbereitungen für den nächtlichen Flug hatten nicht so schnell gemacht werden können. Man hatte sich erst jetzt mit dem Piloten, der auf Urlaub in Midland war, in Verbindung setzen können.

 

»Es ist gut, daß wir selbst hierhergekommen sind, sonst hätte die Sache vielleicht nicht geklappt«, sagte Connor, als sie zurückfuhren. »Wann, sagten Sie, wollen Sie wieder hier sein?«

 

»Gegen Mitternacht.«

 

»Wonach gucken Sie denn?« fragte Connor einige Minuten später. »Wieder der kleine Wagen?«

 

Er schob seinen Begleiter beiseite und sah selbst hinaus. »Ein Lastkraftwagen … hat der vielleicht was mit uns zu tun?«

 

Danty schwieg. Niemand konnte sich die Angst vorstellen, die ihn gepackt hielt. Hinter ihm schritt der grausige Schatten der Vergeltung, und in jedem Augenblick erwartete er, Gunner Haynes‘ Raubvogelgesicht in der Dunkelheit auftauchen zu sehen.

 

Er kehrte nicht mehr in seine Wohnung zurück. Ein telephonischer Anruf brachte Pi Coles mit einem Mantel und warmem Schal – das war sein einziges Gepäck – in den Park. Er lohnte ihn freigebig ab. Nichts war mehr zu tun, als die letzten Stunden zu verbringen, bevor er England für immer verließ.

 

Er rief noch einmal den Flugplatz an. Befriedigt hörte er, daß der Pilot eingetroffen sei. Gern hätte er den Stark einige Stunden früher festgesetzt, aber einmal mußte er sein Wort halten. Er wußte, Connor war ein gefährlicher Mann, und es war nicht im geringsten sein Wunsch, statt eines Feindes zwei hinter sich zu wissen.

 

Mehrere Male, als er durch die weniger belebten Straßen Pimlicos schlenderte, hatte er das Gefühl, als ob man ihm folgte; als er sich aber einmal in verzweifeltem Bravado umdrehte und einen Mann zur Rede stellte, der hinter ihm ging, handelte es sich nur um einen harmlosen Passanten, der versuchte, eine Hausnummer zu finden.

 

Er hatte noch etwas zu tun – Rache zu nehmen! In einer Teestube schrieb er ein Telegramm, erreichte auf einem weiten Umwege die Hauptpost und gab es auf. Die Adresse lautete: Inspektor Bird. Scotland Yard, und der Inhalt war:

 

»Der Mann, der am Taffanny-Einbruch beteiligt war, ist Luke Maddison. Er versucht, heute nacht aus London zu entkommen. Seine Frau und Gunner Haynes sind über sein Doppelleben informiert.«

 

Und er unterschrieb mit seinem vollen Namen.

 

Er wußte, das Telegramm würde trotz der späten Stunde ausgetragen werden. Jetzt machte er sich auf den Weg, um seinen Kumpan zu treffen, und fühlte sich zufriedener, als er es den ganzen Tag über gewesen war.

 

Kapitel 33

 

33

 

Es war beinah elf Uhr, als Margarets Wagen vorfuhr und Lukes Koffer hineingestellt wurde. Ihre Absicht war, nach dem entfernteren Ende der Villiers Street zu fahren und ihren Chauffeur mit dem Koffer nach der Gepäckaufbewahrungsstelle zu schicken. Im Strand hatte der Wagen Mühe, sich seinen Weg durch den lebhaften Verkehr – die Theater waren gerade zu Ende – zu bahnen und bog in die steile Straße hinein, die nach dem Embankment hinunterführt, als Margaret das Zeichen zum Halten gab.

 

Es regnete stark, nur wenige Fußgänger waren zu sehen, und diese beeilten sich, den Schutz der Untergrundstation zu erreichen. Sie versuchte die Tür zu offnen, um dem Chauffeur das Herausnehmen des Koffers zu erleichtern, als aus der Dunkelheit eine schäbige Gestalt auftauchte. Der Mann schien ihre Absicht erraten zu haben, denn er öffnete die Tür, bevor der Chauffeur von seinem Sitze steigen konnte.

 

»Danke bestens«, sagte Margaret und gab ihm das Geldstück, das sie schon für Ausgabe des Koffers bereit in der Hand hielt, und schaltete das Licht ein. Nur einen Augenblick blickte sie in das unrasierte Gesicht, auf das verkommene Äußere des Mannes.

 

»Luke!« stammelte sie kaum hörbar.

 

Er starrte sie an. Sprachlos vor Erstaunen, keiner Bewegung fähig.

 

»Luke!« sagte sie wieder.

 

Dann schreckte er zurück, aber ihre Hand schoß vorwärts, packte ihn am Rock.

 

»Steig ein, um’s Himmels willen!« stieß sie atemlos heraus und zog ihn hinein.

 

In diesem Augenblick erschien der Chauffeur an der Wagentür.

 

»Fahren Sie weiter. Der Herr ist – ein Bekannter von mir.«

 

Sie hoffte inständig, daß ihr Diener die Vogelscheuche an ihrer Seite nicht genau sehen könnte.

 

»Wohin, gnädige Frau?«

 

»Nach – nach Haus!«

 

Als der Chauffeur seinen Sitz wieder eingenommen hatte, erschien eine dritte Person aus der Bildfläche. Ein Mann kam in größter Eile die Straße hinuntergelaufen, griff nach der Türklinke und sprang auf das Trittbrett des fahrenden Wagens. Erst dachte sie, es wäre ein Schutzmann, dann aber erkannte sie im Schein einer Straßenlaterne das dunkle Gesicht Gunner Haynes‘.

 

»Machen Sie kein Aufsehen«, sagte er, als er sich in das Innere schwang und die Tür hinter sich schloß. »Ich bin schon von Haymarket hinter Ihnen her. Wer ist denn das?«

 

Er beugte sich vor, und sie hörte ihn leise durch die Zähne pfeifen.

 

»Ist das Mr. Maddison?«

 

»Ja, ich bin es.« Luke sprach zum ersten Male.

 

Seine Stimme klang erbarmenswert schwach. Am frühen Nachmittag war er aus dem Polizeirevier entlassen worden, seit dem Morgen hatte er nichts gegessen. Er machte keinen Versuch, ihnen seinen Zustand zu erklären, war so müde, so zerschlagen, daß ihm alles gleichgültig war. Die behaglichen, gepolsterten Sitze, das sanfte Wiegen des Autos … er schlief schon halb, bevor noch der Wagen das Embankment erreicht hatte.

 

»Schon gut. Wecken Sie ihn nicht auf«, sagte Gunner Haynes leise. »Er war heute morgen verhaftet worden; ich hab‘ das erst vor ein paar Stunden herausbekommen; einer meiner … Freunde hat’s mir erzählt. Dann haben sie ihn wieder freigelassen. Aber jetzt ist die ganze Polizei auf der Suche nach ihm. Jemand hat dem Spatz ein Telegramm geschickt – ich glaube unser Freund Danty. Wo wollen Sie ihn jetzt hinbringen?«

 

»Nach Haus!« sagte sie einfach.

 

Sie legte eine Decke um die zusammengesunkene Figur in der Ecke.

 

»Da wird schon ein Schutzmann vor der Tür warten. Nein, wir bringen ihn nach Elford. – Was ist denn das?«

 

Er stieß mit dem Fuß gegen den Koffer. Sie erzählte, was sie beabsichtigt hatte, und hörte ihn kichern.

 

»Sie müssen wirklich Gedankenleserin sein. Das ist gerade das, was er braucht. Heute nacht nicht mehr, aber morgen früh. Wir fahren jetzt nach Elford. Kennen Sie den Flugplatz da? Wir fahren vielleicht dreiviertel Stunden, und wenn wir Glück haben, fassen wir eine der größten Ratten, die jemals aus dem Themseschlamm gekrochen sind.«

 

Sie beugte sich aus dem Fenster und gab dem Chauffeur die nötigen Anweisungen.

 

»Könnten wir denn nicht direkt nach Dover fahren und an Bord eines Kanalbootes gehen?«

 

Der Gunner schüttelte den Kopf.

 

»Ausgeschlossen. Der Spatz ist ein netter Kerl, aber er würde, wenn’s nötig ist, seine eigene Mutter verhaften. Und wenn, wie ich annehme, unser Mr. Morell, oder wie er sich jetzt gerade nennt, ihn verpfiffen – ich meine, wenn er die Geschichte von Taffanny erzählt hat, dann ist jeder Zug, jedes Boot bewacht. Und übrigens fährt vor morgen früh kein Boot ab. Es gibt nur noch eine Möglichkeit: Mr. Maddison muß in Spanien auftauchen, wo er ja auch sein soll, wie behauptet wird. Ich glaube, das werden wir fertig bekommen, falls nicht Mr. Danty Morell uns zuvorkommt.«

 

Er beugte sich wieder vor.

 

»Was haben Sie denn an – einen Pelzmantel? Das ist gut. Den können Sie Ihrem Mann borgen. Es wird ziemlich verrückt aussehen, aber das macht nichts. In der Dunkelheit sieht man ihn ja kaum.«

 

»Was haben Sie vor?« fragte sie.

 

»Ich will einen Nachtflug machen, und er kommt mit«, war seine Antwort. »Was Sie tun müssen, Mrs. Maddison, ist sehr einfach. Sie fahren nach London zurück. Sie müssen ein bißchen lügen – hoffentlich wird Ihnen das nicht zu schwer – und morgen reisen Sie nach Spanien ab. Wenn ich ihn nicht dorthin bringen kann – habe ich ihn erst mal in Frankreich –, dann bin ich ein Dummkopf.«

 

Ein kurzes Schweigen, und dann sagte sie:

 

»Ich weiß noch etwas Besseres. Ich gehe mit ihm!«

 

Zu ihrer Überraschung widersetzte sich der Gunner diesem Vorschlage nicht.

 

»Vielleicht das Richtigste!« war alles, was er sagte.

 

Endlich erreichten sie eine dunkle, holprige Straße, und Haynes ließ den Wagen halten.

 

»Fahren Sie den Wagen unter die Bäume«, er wies in die Dunkelheit, »und schalten Sie alle Lampen aus.« Sie stiegen aus, der Wagen wurde mit Mühe an der Seite des Weges verborgen und der Motor abgestellt.

 

»Wir haben Glück«, sagte er zu der jungen Frau. »Danty ist ein vorsichtiger Mann, ich konnte darauf wetten; aber wir sind doch noch vor ihm hier. Da hinten kommt er.«

 

In der Richtung von London erschienen Lichter. Ein Motorwagen hielt einige hundert Meter von ihrem Standplatz entfernt an und drehte dann um.

 

»Sie gehen das letzte Ende lieber zu Fuß«, murmelte der Gunner in grimmiger Zufriedenheit. »Warten Sie hier.«

 

Er ging bis zu dem Eingang des kleinen Aerodroms und zog etwas aus der Tasche. Lange hatte er nicht zu warten: Danty und Connor kamen auf ihn zu.

 

»Sind Sie es, Higgins?« rief Danty. »Ist der Pilot da –«

 

»Sind alle da, mich eingeschlossen!« sagte der Gunner. »Mach keine Dummheiten, Connor! Du bist fein in der Schußlinie, mein Liebling, und ich habe einen Schalldämpfer an meinem Schießeisen. ›Puff!‹, das ist alles, was du hörst, und das kannst du dann deinen guten Freunden in der Hölle erzählen.«

 

Danty sagte kein Wort. Haynes konnte beinahe seine Zähne vor Angst klappern hören.

 

»Na und?« fragte Connor.

 

»Und? … Ein kleiner Spaziergang zurück nach der nächsten Ortschaft, falls ihr nicht intelligent genug gewesen seid, euren Wagen warten zu lassen. Wenn ihr klug seid, beeilt ihr euch – aber ich fürchte, ihr habt kein Glück mehr«, er sah das Schlußlicht des Autos hinter einer Krümmung des Weges verschwinden. »Die Polizei bewacht den Flugplatz hier, und ihr habt vielleicht noch eine ganz kleine Chance, davonzukommen.«

 

»Sie sind wirklich ein lieber Kerl! Und wie nett Sie uns helfen wollen!« spottete Connor. »Sie müssen uns wirklich für verdammt dämlich halten.«

 

»Schwatzt nicht, lauft lieber … aber schnell! Ich bin heut abend nicht in bester Laune. Leider habe ich versprochen, euch nicht umzubringen, aber es gehört nicht viel dazu, daß ich meine Meinung doch noch ändere.«

 

»Ist schon gut, Gunner. Wir gehen.« Danty hatte seine Stimme wiedergefunden, aber sie verriet die Angst in seinem Innern. »Kommen Sie, Connor. Der Gunner wird uns schon nicht –«

 

»Ich habe die Briefe gefunden, Danty«, sagte Haynes leise. »Du weißt doch, daß der Tod an deiner Seite steht? Ist dir das klar?«

 

Danty antwortete nichts, sondern packte den Arm seines Begleiters und zerrte ihn den Weg zurück. Nach ungefähr hundert Metern blieb Connor stehen:

 

»Wenn du denkst, daß ich mir das von dem Kerl bieten –«

 

»Laufen, aber schnell!« erklang eine Stimme hinter ihnen, und sie gehorchten.

 

Als er sich überzeugt hatte, daß sie sich wirklich auf den Weg gemacht hatten, eilte der Gunner nach dem Wagen zurück. Luke war wach; sie sprachen leise miteinander, er und seine junge Frau. Haynes hielt es für rücksichtsvoll, sie allein zu lassen und machte sich auf die Suche nach dem Flugzeugführer.

 

Die Maschine war startbereit. Zwei müde Mechaniker hatten gerade ihre Arbeit beendet, und der Flugzeugführer stand ungeduldig daneben. Gunner Haynes gab ihm seine Instruktionen, und da er seine Worte mit überzeugenden Argumenten begleitete, fand er einen willigen Zuhörer, der die knisternden Scheine schmunzelnd in der Tasche verschwinden ließ.

 

»Ich kann drei oder mehr Personen mitnehmen. Macht gar keine Schwierigkeiten. Ich habe den Nachtflug schon Hunderte von Malen gemacht.«

 

Befriedigt ging der Gunner nach dem Wagen zurück, wo er sich entschließen mußte, eine sehr vertraute Unterhaltung der beiden zu stören.

 

»Ich habe ein Stückchen Papier für Sie, Mrs. Maddison. Lesen Sie es, wenn es hell genug ist. Es betrifft den Tod Ihres Bruders – es tut mir leid, wenn ich alte Wunden aufreißen muß, aber ich meine; Sie müssen erfahren, daß der Mann, der ihn ins Verderben stürzte – Danton Morell war und –«

 

»Ich vermutete es«, sagte sie leise.

 

Es fiel immer noch ein seiner Regen, und die Wolken hingen tief, aber keiner der drei Passagiere empfand die leiseste Besorgnis, als der große Eindecker unter dem Gebrüll der Motoren durch die schweren Wolken strich, höher, immer höher, bis sie mit dem Mond in einem klaren Himmel über dem weißen Wolkenmeere schwammen.

 

*

 

Kaum eine Woche später speisten drei Menschen im Café Ritz in Madrid. Es war das Abschiedsessen für Gunner Haynes, der nach Neapel fuhr, um den Postdampfer nach Australien zu erreichen.

 

»Ich werde mich nicht eher richtig behaglich fühlen«, sagte er, »als bis ich im Barcelona-Expreß sitze. Ich habe schon manches erlebt, aber es ist das erstemal, daß ich als Dritter eine Hochzeitsreise mitmachen mußte.«

 

*

 

Ende

 

Kapitel 4

 

4

 

Luke sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin. »Warten Sie einen Augenblick, bitte.«

 

Er stand auf und öffnete die Tür, die nach dem Gang führte.

 

»Wegen dieses Schecks möchte ich noch einmal mit Ihnen sprechen, Mr. Morell«, sagte er.

 

»Warum nicht gleich jetzt?« Es war eine Herausforderung, deren Unaufrichtigkeit Luke Maddison deutlich fühlte.

 

»Mr. Bird kommt in einer ganz anderen Angelegenheit zu mir«, sagte er. »Zu gegebener Zeit werden wir beide über dies Thema mit Ihnen verhandeln.«

 

Er schloß die Tür hinter seinem Besucher, als der Spatz durch einen anderen Eingang sein Büro betrat. Mr. Bird kam schwerfällig hinein, und seine Blicke schweiften schnell durch das ganze Zimmer. Er schien enttäuscht zu sein – als ob er erwartet hätte, jemand zu finden, der nicht anwesend war.

 

»Hatten Sie nicht eben einen Besucher, Mr. Maddison? Ich glaubte doch, jemand hineingehen zu sehen, als ich draußen auf der Straße wartete.«

 

Luke nickte kurz.

 

»Mr. Danton Morell«, antwortete er. »Kennen Sie ihn?«

 

Der Spatz lächelte.

 

»Wie man den Bürgermeister kennt – von weitem. Ich bin ja nur ein ganz einfacher Mensch. Sie werden niemals finden, daß ich mich in die seine Gesellschaft dränge. Ich habe einen Gesellschaftsanzug, seit siebzehn Jahren denselben, und trage ihn zweimal im Jahre: einmal für das Diner der Polizeibeamten und das andere Mal, damit die Motten sich tüchtig erkälten.«

 

»Wissen Sie etwas Genaueres über ihn?«

 

Das breite Lächeln auf Mr. Birds Gesicht wurde noch breiter.

 

»Seinen Namen und Adresse – und das ist das, was jeder Schutzmann von jedem Menschen wissen will … Peinliche Sache, die Angelegenheit des jungen Leferre. Sie möchten doch nicht in diese verwickelt werden?«

 

Luke blickte ihn überrascht an. »Ich? Was zum Teufel soll ich denn damit zu tun haben?«

 

Mr. Bird hustete.

 

»Das ist nicht so einfach zu sagen«, begann er. »Ich hatte nämlich den Toten und dann auch das Zimmer durchsucht und habe drei Blankoschecks auf die Northern & Southern Bank gefunden – da haben Sie doch Ihr Privatdepot? – Und dann noch das –«

 

Er zog eine dicke, abgenutzte Brieftasche hervor, legte sie auf den Tisch und begann ihren Inhalt zu durchstöbern. Nach kurzer Zeit fand er, was er suchte – zwei zusammengefaltete Bogen Papier, augenscheinlich aus einem Schulheft herausgerissen. Er legte diese auf den Tisch, und Luke sah eine ganze Reihe von Unterschriften, eine unter der anderen, vor sich … Luke Maddison … Luke Maddison…

 

»Es sieht beinahe so aus, als ob Sie in Gedanken Ihren Namen gemalt hätten.« Die klugen Augen des Detektivs lagen fest auf dem jungen Bankier. »Aber trotzdem konnte ich mir eigentlich nicht denken, daß ein Geschäftsmann wie Sie etwas so Törichtes tun könnte. Entschuldigen Sie, bitte, die Bemerkung. Ich bin gestern nachmittag in der Northern & Southern Bank gewesen, aber dort war man außerordentlich zurückhaltend – zurückhaltend ist ein gutes Wort – und hat mich an Sie verwiesen. Durch einen hinterlistigen und recht verachtungswerten Trick habe ich aber herausgefunden, daß der junge Mr. Leferre kürzlich einen Scheck über achtzehntausend Pfund einkassiert hat.«

 

Luke fiel ihm ins Wort.

 

»Ja, ja – ich hatte ihm einen Scheck über diesen Betrag gegeben.«

 

Der Spatz sah ihn ungläubig an.

 

»Haben Sie wirklich? Würden Sie vielleicht so freundlich sein, mir den Coupon in Ihrem Scheckbuch zu zeigen?«

 

Für einen Moment wußte Luke nicht, was tun.

 

»Wenn irgendein Grund dafür vorliegen sollte«, sagte er kühl, »könnte ich das ja machen, aber ich sehe die Notwendigkeit dazu nicht ein.«

 

Mr. Bird war nicht aus der Fassung gebracht; er legte beide Arme auf den Tisch, und seine Stimme war sehr ernst.

 

»Ich habe kein Recht, Sie zu fragen – und ich bin auch nicht der Mensch, der versuchen würde, einen Mann wie Sie zu bluffen. Ich will mit offenen Karten spielen. Der Scheck ist in Banknoten ausgezahlt worden, und ich will wissen, wohin die Noten gegangen sind. Es gibt in London einen netten Vogel, und den möchte ich gerne fangen. Ich habe einen der hübschesten kleinen Käfige, die jemals gebaut worden sind, für ihn bereit, und solange der noch leer bleibt, ist mein Herz auch leer. Wenn der Scheck eine Fälschung war, würde dies für den Toten ein schlechter Nachruf sein, das verstehe ich sehr gut. Andererseits aber würde es mir dann außerordentlich leicht sein, einen gewissen Mann zu fassen, der – ich will Ihnen die Wahrheit erzählen, Mr. Maddison: ich möchte die Fingerabdrücke dieses Mannes so außerordentlich gern haben, daß ich mich eigentlich wundere, warum ich ihn nicht auf der Straße zu Boden schlage und sie mir so nehme!«

 

Luke blickte vor sich hin; dann sagte er:

 

»Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Der Scheck war von mir unterzeichnet.«

 

Mr. Bird stand mit einem tiefen Seufzer auf.

 

»Sie haben zuviel Nachsicht mit der Verbrecherklasse, Mr. Maddison. Kein Wunder, daß Gunner Haynes Sie für einen netten Menschen hält – sechs Monate hat er gestern gekriegt. Das ist ein Kerl. Als ich versuchte, etwas von ihm über Ihren Freund herauszubekommen, wollte er nicht einmal zugeben, daß er ihn kannte.«

 

»Morell?« fragte Luke unbedacht, und der Spatz grinste.

 

»Das ist der Name, ja. Was hat es für einen Zweck, wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen? Er ist der –«

 

»Ich weiß nichts von Morell«, sagte Luke nachdrücklich. »Er war ein Freund von Rex – von Mr. Leferre, meine ich. Ich möchte lieber nicht über ihn sprechen.«

 

Der Spatz seufzte von neuem, nahm die Papiere zusammen, auf denen der bedauernswerte Rex sich in Unterschriften versucht hatte, und steckte sie in seine Brieftasche.

 

»Niemand ist der Polizei behilflich«, sagte er kläglich. »Alle sind gegen die natürlichen Wächter der Kinder der Armen und der … ich will machen, daß ich wegkomme.«

 

Er drückte Luke lässig die Hand und ging schwerfällig hinaus. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als das Telephon läutete, und zum ersten Male seit dem fürchterlichen Ereignis hörte Luke die Stimme der Frau, die er liebte.

 

»Willst du morgen zu mir kommen, Luke?« Ihre Stimme war sehr leise.

 

»Sofort, wenn ich darf, Liebling! Kann ich nicht gleich kommen?«

 

Aber ihre müde Stimme verneinte.

 

»Morgen – wenn alles erledigt ist. Luke, sag mal, schuldete Rex dir Geld?«

 

Das Unerwartete dieser Frage brachte Luke aus dem Gleichgewicht, und wenn Luke Maddison erregt war, sprach er unweigerlich zusammenhanglos – er dachte zu schnell, und seine Worte konnten nicht folgen.

 

»Ja – aber es ist nicht der Mühe werk, darüber zu reden … er war in der Lebensversicherung hoch versichert … du weißt ja, und ich glaube nicht, daß die Gesellschaft … eh … Schwierigkeiten machen wird …«

 

Er hörte ihr schnelles Atmen und wurde noch aufgeregter. »Ich dachte an dich … eh … du brauchst dir über seine Angelegenheiten keine Sorgen zu machen … in Wirklichkeit schuldet er mir eigentlich gar nichts.«

 

»Willst du also morgen zu mir kommen?«

 

Bevor er antworten konnte, hörte er, wie die Verbindung abgebrochen wurde.

 

Kapitel 5

 

5

 

»Ich sehe gar keinen Grund, Luke, warum die Hochzeit aufgeschoben werden sollte.«

 

Die für alle Beteiligten so schmerzliche Sitzung der Totenschaukommission lag hinter ihnen. Es war festgestellt worden, daß sich die geschäftlichen Angelegenheiten des jungen Mannes in großer Verwirrung befanden, aber weitere Einzelheiten warm nicht verlangt worden.

 

Margaret Leferre verstand sich selbst nicht mehr; ihre eigene Ruhe überraschte sie. Hatte sie eigentlich den Mann geliebt, der vor ihr stand, von dem sie anscheinend glaubte, daß er der beste Freund ihres Bruders gewesen war? Zuweilen befürchtete sie, daß er in ihren Augen lesen könnte, wie sie ihn verabscheute. Sie war erstaunt, als sie sich selbst mit größter Ruhe und in traurigem, aber freundlichem Tone sagen hörte, daß ihrer Meinung nach kein Grund zum Aufschub der Hochzeit vorläge.

 

»Mein armer Liebling!«

 

Er nahm sie in seine Arme, und sie leistete keinen Widerstand. Sie bot ihm ihre kalten Lippen und haßte sich selbst dafür. Aber der Judaskuß kam von ihm und nicht von ihr, und das war eine kleine Genugtuung für sie.

 

»Es gibt nichts in der Welt, was ich nicht tun könnte, um das Leben für dich ein wenig angenehmer zu machen«, sagte er. »Wenn Geld dir Glück verschaffen könnte, würde ich gern zum Bettler werden.«

 

Sie lächelte schwach. Hier war ein Mann, der seine eigenen Götter verleugnete.

 

Er hatte Rex ruiniert; er hakte ihn immer gehaßt. Halb vergessene Worte kamen ihr ins Gedächtnis, kurze, gereizte Urteile über Rex‘ Nachlässigkeit in Geldangelegenheiten. Seine Hände lagen auf ihren Schultern, und er blickte sie forschend an. Die Blässe ihres Gesichtes und die schwachen Schatten unter ihren Augen verliehen ihr eine beinahe überirdische Schönheit.

 

»Selbstverständlich habe ich mich sehr gesorgt … was für ein Narr ich war, dir am Telephon von Versicherungen zu sprechen – das war direkt unpassend – ich wußte im Augenblick wirklich nicht, was ich redete –«

 

»Luke, bist du wirklich sehr reich?«

 

Sie überraschte ihn ständig mit derartigen unvermuteten Fragen.

 

»Reich? Ich glaube, ja. Die Bank hat zwar in der letzten Zeit nicht besonders gute Geschäfte gemacht, aber ich habe ein Privatvermögen von mindestens einer halben Million. Ich dachte, du wüßtest das –«

 

Sie lächelte gezwungen.

 

»Ich habe dich niemals gefragt. Nur habe ich Angst vor der – Armut. Wir sind so unglaublich arm gewesen. Mein Vater hat uns nichts hinterlassen – es muß wunderschön sein, soviel Geld zu haben, reich zu sein – sich niemals über Rechnungen Sorgen zu machen, niemals das Gefühl zu haben, man muß hinaus und seinen Lebensunterhalt verdienen.«

 

Er blickte sie mit ungeheucheltem Erstaunen an.

 

»Aber davon hatte ich ja gar keine Ahnung, Kleine. Das ist ja entsetzlich. Ich dachte, du hättest deine regelmäßigen Zinsen?«

 

Sie schüttelte den Kopf, und diesmal verstellte sie sich nicht.

 

»Wenn dir Geld das Gefühl von Sicherheit verschaffen kann, dann will ich dir geben, was du willst … Du kannst über jeden Pfennig, den ich besitze, verfügen –«

 

Er sah ihr ungläubiges Lächeln und ärgerte sich über sich selbst, als ob auch er in seinem eigenen großmütigen Anerbieten eine Spur von Unaufrichtigkeit fühlte.

 

»Warum nicht? Tausende von Männern schreiben ihr ganzes Vermögen auf den Namen der Frau. Übrigens eine ganz vernünftige Sache … das hält den Mann auf dem richtigen Wege … und macht uns beide auch in geschäftlicher Beziehung zu richtigen Kompagnons. Warte mal.«

 

Er stand schon am Telephon – eifrig und enthusiastisch wie ein Junge, der eine neue und entzückende Idee verfolgt.

 

»Luke … rufst du deinen Rechtsanwalt an?«

 

Ihr Gewissen sprach, und eine plötzliche Furcht packte sie; zum erstenmal kam ihr das Ungeheuerliche ihres Verrates zum Bewußtsein.

 

»Ja, Hilton – hier ist Luke Maddison … Sie haben doch den Heiratskontrakt aufgesetzt? – Gut, dann schließen Sie alles ein! Haben Sie die Liste meiner Wertpapiere? – Ja, alle. – Und das Konto in der Bank – jeden Pfennig – meinen Anteil an Maddisons – jawohl, alles mit übertragen – nein – ich bin nicht wähnsinnig!«

 

»Du bist wahnsinnig!«

 

Sie stand jetzt neben ihm, ihr Gesicht leichenblaß. Und ihre Worte kamen zögernd, schwankend:

 

»Du bist wahnsinnig, Luke – ich meinte es doch nicht so …«

 

Er lächelte und küßte sie zärtlich, aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, der sie zurückschrecken ließ – ein gewisser Ausdruck, der ihr die Worte Danton Morells ins Gedächtnis rief:

 

»Im Augenblick sind Sie für ihn das Begehrenswerteste!« Sie stand neben ihm, ihre Hände warm ineinandergekrampft, und ihr Atem ging stoßweise, als sie hörte, wie er den Widerspruch, der von der anderen Seite des Drahtes kam, niederschlug, dann hing er den Hörer an und drehte sich ihr zu. Ein triumphierendes Lächeln lag auf seinem geröteten Gesicht.

 

»Du bist jetzt Maddisons!« sagte er feierlich. »Dir gehört alles, vom Keller bis zum Boden, mein Liebling – und ich bin jetzt, was der alte Bird so hübsch mit dem Namen ›ein Kind der Armen‹ bezeichnet.«

 

Und nicht einmal sie konnte wissen, wie prophetisch er gesprochen hatte.