Kapitel 36

 

36

 

Nachdem Shannon bitter enttäuscht gegangen war, saß Marshalt noch lange Zeit mit aufgestütztem Kopf an seinem Schreibtisch. Schließlich klingelte er und erklärte den beiden noch im Haus befindlichen Mädchen, daß er seinen Haushalt auflösen müsse, weil er England zu verlassen gedenke. Er zahlte ihnen ihren Lohn aus und beobachtete von der Treppe aus, wie sie sich mit ihrem Gepäck entfernten. Er verschloß und verriegelte die Haustür sorgfältig und kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück. Eine halbe Stunde später weckten ihn heftiges Klingeln und Klopfen an der Haustür aus seinen Grübeleien. Vorsichtig schaute er durch das Fenster nach unten und sah auf den Stufen vor der Haustür Martin und Dora Elton. Auch Torrington war bei ihnen. Er erkannte ihn sofort wieder, obwohl er ihn seit langen Jahren nicht gesehen hatte. Und hinter diesen dreien standen ein Polizeiinspektor und vier Kriminalbeamte in Zivil.

 

Marshalt nahm einen Pfriemen und einen flachen Griff aus der Tasche und befestigte sie aneinander. Dann ging er auf den Kamin zu und steckte den Pfriemen tief in das Schnitzwerk des Gesimses. Sein Handgelenk bewegte sich, und der ganze Kamin drehte sich plötzlich lautlos um einen verborgenen Zapfen. Zu seiner Rechten befand sich das große Götzenbild, zu seiner Linken der umgedrehte Kamin. Nun öffnete er eine Schublade in seinem Schreibtisch, zog unter einem falschen Boden eine Schachtel hervor und machte sich eine Weile mit dem Inhalt zu schaffen. Eine Perücke, eine Hängenase, ein langes, spitzes Kinn wurden mit wenigen geschickten Griffen befestigt.

 

Dann trat er in den halbkreisförmigen Kaminvorsatz und drehte den Pfriemen wieder, diesmal nach der andren Seite. Als Wand und Kamin herumschwangen, stemmte er den Fuß auf, um einen heftigen Stoß zu verhüten. Der ungeschickte Tonger hatte das einmal versäumt, so daß eine glühende Kohle in Malpas Zimmer geflogen war. Wieder trat der Pfriemen in Tätigkeit, und der Kamin schwang zurück. Marshalt nahm das Instrument auseinander und legte die beiden Teile in seine Geldbörse. Dann stieg er langsam die Treppe hinauf.

 

Audrey war da. Nur widerstrebend hatte Stanford es eingestanden. Und nun würde dieses Trauerspiel, das ihm sein Vermögen und beinahe auch sein Leben gekostet hätte, bei Audrey enden – bei der es begonnen hatte. Seine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln, das auf seinem Gesicht zu gefrieren schien.

 

Aber plötzlich verjagte ein Gedanke das Lächeln. Wie kam es, daß sich die Tür geschlossen und geöffnet hatte, während er mit Shannon in dem Zimmer stand? Hatte das eine besondere Ursache? Schließlich zuckte er die Schultern. Das Wetter und tausend andere Dinge konnten auf die elektrische Verbindung einwirken …

 

Nun lauschte er vor der Tür, hörte leichte Schritte im Gang und lächelte wieder. Er öffnete das Schränkchen an der Treppe, legte einen Hebel um und wußte, daß es drinnen dunkel sein würde, wenn er nach seiner Beute suchte.

 

Als er den Schlüssel umdrehte, hörte er, wie Audrey den Gang entlang lief und die Tür zuschlug. Sie war da – er fühlte es!

 

»Komm her, mein Schatz! Diesmal entwischst du mir nicht wieder!«

 

Er hörte etwas huschen und versperrte die Tür mit beiden Armen.

 

»Dein Liebhaber, der blöde Shannon, und seine Kumpane stehen unten! Dein Vater ist auch dabei! Du wußtest wohl gar nicht, daß du einen Vater hast? Er wird dich zu sehen bekommen – nachher!«

 

Plötzlich sprang er zu und packte einen Arm, aber es war nicht der Arm, den er erwartet hatte. Und jetzt zuckte vor ihm ein seltsamer, schauerlich grüner Lichtschein auf. Er gewahrte sein eigenes Gesicht – Nase, Kinn, Kopf!

 

Ein anderer – grauenhafter, ungeheuerlicher Malpas hielt ihn fest.

 

»Gott, was ist das?« schrie er entsetzt und versuchte, sich freizumachen.

 

»Kommen Sie mit!« sagte eine hohle Stimme.

 

Mit einem wilden Schrei schlug Lacy zu und ergriff die Flucht. Im gleichen Augenblick flammte das Licht auf, und als er sich umwandte, erblickte er sein Ebenbild – Malpas! Aber er selbst war doch Malpas!

 

»Zur Hölle mit dir!« keuchte er und zog den Revolver.

 

Er feuerte einmal – zweimal –

 

»Sparen Sie sich die Mühe, mein Freund!« sagte sein Doppelgänger. »Die Patronen sind blind – ich habe sie ausgewechselt.«

 

Wütend schleuderte Lacy ihm die Waffe ins Gesicht. Der Mann duckte sich, und im nächsten Moment sprang er Marshalt an die Kehle.

 

Und irgendwo im Dunkeln stand Audrey und krampfte in Todesangst die Hände ineinander.

 

Kapitel 37

 

37

 

Unterdessen hatte sich auch Dick vor Marshalts Haus eingefunden, und da alles Klopfen kein Gehör fand, verschafften sich die Leute eine kurze Brechstange, der das Schloß zu weichen begann.

 

»Sie ist hier – ganz sicher?«

 

Martin nickte.

 

»Stanford nahm sie gestern abend mit und sagte, er wollte sie in das Haus von Malpas bringen.«

 

Die Tür von Nr. 551 hatte Dick schon zu öffnen versucht, aber sie war elektrisch gesperrt.

 

Sobald das Schloß nachgab, stürmte Dick als erster ins Haus und eilte geradenwegs zu dem Arbeitszimmer hinauf. Er wußte jetzt, daß der Weg nur durch den Kamin gehen konnte. Das Loch war denn auch bald gefunden, und sobald sich Tongers selbstgefertigter Pfriemen darin drehte, schwang der Kamin herum und gab den Blick in Malpas Zimmer frei.

 

»Rühren Sie den Griff nicht an!« rief er warnend, stellte rasch die elektrischen Sperrhebel ab und rannte durch die offene Tür, als er zwei Schüsse vernahm. Totenbleich hielt er eine Sekunde an, aber dann stürzte er um so schneller vorwärts.

 

Als er die Tür erreichte, kamen zwei Männer heraus – zwei Männer, die einander so vollkommen glichen, daß er fast die Fassung verlor.

 

»Hier ist der Schurke«, sagte der kleinere und übergab seinen mit Handschellen gefesselten Gefangenen den wartenden Polizisten.

 

Dann riß er mit einem Ruck Nase, Kinn und Perücke ab.

 

»Ich glaube, Sie kennen mich?«

 

»Ja, sehr gut«, erwiderte Dick. »Sie sind Slick Stornier – oder, wenn Sie das lieber hören – Slick Smith.«

 

»Wann erkannten Sie mich?«

 

Dick lächelte.

 

»Das müßte ein so kluger Detektiv wie Sie doch wissen!«

 

Dann entdeckte er jemand auf dem Gang, der sich ängstlich fernhielt. Er stürzte auf Audrey zu und zog sie in die Arme.

 

Slick warf einen Blick auf sie und wandte sich dann an Torrington.

 

»Ich kann mir denken, daß Sie Ihre Tochter gern begrüßen möchten, und sie wird sich sicher auch freuen, Sie zu sehen, aber ich glaube, den Herrn kennt sie besser als Sie.«

 

Torrington nickte stumm.

 

 

»Wie Sie mich hier eigentlich einschätzten, war mir nie ganz klar«, sagte Slick Smith, als er abends als liebenswürdiger Gastgeber an einer herrlich geschmückten Tafel präsidierte. »Ich übernahm diesen Auftrag vor nunmehr neunzehn Monaten, als mich Mr. Torrington ins Vertrauen zog und mich ersuchte, Nachforschungen nach seiner Frau und seiner angeblich gestorbenen Tochter anzustellen. Was er mir bei der Gelegenheit von Lacy Marshalt erzählte, interessierte mich nicht nur als Detektiv, sondern auch als Mensch. Nun weiß ich, daß Privatdetektive hierzulande nicht sehr angesehen sind, und teilte deshalb Captain Shannon in meiner Eigenschaft als Mr. Stormer mit, daß ein notorischer amerikanischer Dieb in England eintreffen werde. Ich fügte eine genaue Personalbeschreibung bei und erreichte, was ich wollte. Gleich bei seiner Ankunft wurde ›Slick Smith‹ gewarnt und von diesem Augenblick an dauernd beobachtet. Nun habe ich es mir zur Regel gemacht, daß mich nur drei oder vier meiner Angestellten persönlich kennen dürfen. Das hat für mich den Vorteil, daß diese drei oder vier mich identifizieren können, es aber nicht tun. Ferner konnte ich immer einen von ihnen in meiner Nähe haben, ohne irgendwelchen Argwohn bei meinen Bekannten in der Verbrecherwelt zu erregen. Sie werden sich erinnern, daß mir beständig ein Stormerscher Agent folgte.

 

Ich war auch beauftragt worden, das Verschwinden eines Diamantenvorrats aufzuklären, der aus Torringtons Minen entwendet und nach Ansicht der dortigen Polizei nach England gebracht worden war. In Afrika ist es bekanntlich strafbar, ungeschliffene Diamanten zu besitzen, wenn man sich nicht darüber ausweisen kann. Lacy Marshalt betrieb einen solchen strafbaren Handel seit Jahren und hatte einen regelmäßigen Kurierdienst eingerichtet, um die Steine herüberzuschaffen. Unter verschiedenen Namen hatte er zwei Häuser am Portman Square gekauft und Nr. 551 durch eine italienische Firma mit ungemein klug erfundenen elektrischen Einrichtungen versehen lassen. Lacy ist selbst ein sehr geschickter Mechaniker, und der Kamin und das Götzenbild waren für ihn eine Arbeit, die ihm Freude machte. Den Götzen kaufte er in Durban. Ich stellte das vor ungefähr einem Jahr fest und kannte auch den Mechanismus genau. Aber die Drehzapfenöffnung war Marshalts eigene Erfindung.

 

Die tragische Gestalt in der Geschichte ist Tonger. Marshalt hatte ein Verhältnis mit seiner Tochter angefangen, und als Tonger davon erfuhr, bewog Marshalt das Mädchen, die Schuld auf Torrington zu schieben, und schaffte sie rasch nach New York hinüber. Unter der Bedingung, daß sie das Geheimnis bewahrte und regelmäßig zufriedene Briefe an ihren Vater schrieb, zahlte er ihr monatlich eine angemessene Summe für ihren Unterhalt. Aber sie geriet in schlechte Gesellschaft, begann zu trinken, und kam schließlich in einem Anfall von Verzweiflung nach London. Sie war es, die damals in betrunkenem Zustand zu ihrem Vater flüchtete, als Sie vorüberkamen, Miß Audrey, und sie war es auch, die Sie später im Park tot auffanden. Obwohl Tonger es verheimlichen wollte, entdeckte Marshalt doch, daß sie sich im Haus aufhielt, und in seiner Angst, daß die Wahrheit ans Licht kommen könnte, beschloß er, die Unglückliche aus dem Weg zu räumen. Um sein Vorhaben ausführen zu können, schickte er Tonger unter einem nichtigen Vorwand nach Paris. Er gab dann dem Mädchen eine Flasche mit vergiftetem Kognak und sagte ihr, sie möchte nach dem Park gehen und dort auf ihn warten. Der Plan war geschickt ausgedacht, aber das Unglück wollte es, daß Tonger noch an demselben Abend von dem Tod seiner Tochter erfuhr – und zwar gerade in dem Augenblick, als Marshalt im Nebenhaus auf Miß Audrey wartete. Tonger geriet außer sich, stürzte durch den Kamin in Malpas Zimmer und forderte Rechenschaft von Marshalt. Er gab zwei Schüsse auf ihn ab und hielt ihn für tot, denn er wußte nichts von der kugelfesten Weste. Als Tonger dann nach Nr. 552 zurückkehrte, kam Marshalt wieder zu sich, folgte ihm, schoß ihn nieder und ergriff die Flucht.

 

Vorsichtshalber hatte er für ein Versteck gesorgt. Unter dem Namen eines Rechtsanwalts Crewe hatte er eine prachtvolle Wohnung in den Greville-Gebäuden gemietet, was mir längst bekannt war, da ich nebenan wohnte. Dorthin ging er an jenem Abend, um sich etwas zu stärken und zu erholen, und kehrte dann zurück, um die Diamanten an sich zu nehmen. Das weiß ich, weil ich ihn gesehen habe.«

 

»War es etwa Ihr Gesicht, das ich in jener Nacht durch das Oberlicht sah?« fragte Dick gespannt.

 

»Natürlich!« erwiderte Stormer lachend. »Der Mann auf dem Dach hatte mich selbstverständlich auch gesehen, aber er durfte nichts davon sagen. Klettern ist immer meine Spezialität gewesen, obwohl mir Martin Elton darin noch überlegen ist. Der kam nämlich ohne Strick hinauf.

 

Marshalt war verzweifelt, als sein Diamantenversteck entdeckt wurde, und mit Hilfe Stanfords, den er zu dem Zweck in das Geheimnis einweihen mußte, leerte er das Götzenbild gewissermaßen vor Ihren Augen. Aber Stanford war ungeschickt, und als die Steine in den Beutel gepackt waren, probierte er an dem Mechanismus herum. Das hatte zur Folge, daß der Götze ins Zimmer zurückgedreht wurde. Dabei hatte er das Licht abgestellt und muß den Beutel wohl in seiner Angst aus der Hand gelegt haben, denn der Götze nahm den Beutel mit, als er sich wieder drehte.«

 

»Woran verbrannte ich mir denn eigentlich die Hand?« fragte Steel.

 

»Am Kamin. Sie berührten die heißen Eisenstangen des Rosts, aus dem die Kohlen eben erst herausgenommen worden waren. Stanford brach dann bei Shannon ein und raubte die Steine, während Marshalt den kleinen Autozwischenfall in Szene setzte. Stanford hatte mehr Glück als Marshalt, denn er fand die Steine. Er war übrigens noch im Haus, als Shannon heimkam und seinen Diener in besinnungslosem Zustand entdeckte. Nachdem er die Beute wieder an sich gebracht hatte, verbarg Marshalt die Diamanten in seiner Wohnung in den Greville-Gebäuden. Ich fand sie, als ich dort einbrach, um nach Miß Audrey zu suchen. Natürlich nahm ich den Beutel mit und gab ihn erst heraus, als ich ihn in die rechten Hände legen konnte, ohne selbst verhaftet zu werden. Leider faßte Marshalt aber einen Verdacht gegen Stanford und schoß ihn nieder. Was zwischen den beiden vorgegangen ist, weiß ich nicht, aber vermutlich erfuhr Marshalt erst bei dieser Gelegenheit, daß Miß Audrey in dem Haus versteckt gehalten wurde. Und da das Spiel nun doch für ihn verloren war, wollte er sich zum Schluß noch an der Tochter des Mannes rächen, den er mehr als alles andere auf Erden haßte und fürchtete. Zu seinem Unglück war ich jedoch häufig im Haus, früher, um die Leute zu beobachten, die ihm Diamanten brachten, und jetzt, weil ich das Geheimnis jener Kammertür lösen wollte. Wenn ich bei ihm einbrach, verkleidete ich mich immer als Malpas. Einmal habe ich die junge Dame mit dem Gesicht halb zu Tode erschreckt.«

 

Er lächelte, und auch Audrey konnte jetzt lächeln, als sie sich daran erinnerte.

 

»Ich habe fürchterlich geschrien, nicht wahr?« sagte sie beschämt.

 

»Ich schreie auch zuweilen«, erwiderte Smith, »oder ich hätte doch wenigstens Lust dazu. – Aber eins muß ich noch erwähnen, obwohl Sie es sich wohl schon gedacht haben, Shannon. Sobald Marshalt die Diamanten zurückerobert hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dramatische Weise wieder aufzutauchen! Und das besorgte er beinahe allzu gründlich. Er stellte sich ins Wasser, legte sich selbst die Handschellen an und wartete mit dem Schlüssel in der einen und einem Revolver in der anderen Hand auf Ihr Erscheinen. Aber Sie kamen etwas später, als er berechnet hatte, und in den fünf Minuten ließ er aus Versehen den Schlüssel zu den Handschellen ins Wasser fallen, so daß er sich nicht wieder befreien konnte. Wenn Sie nicht erschienen wären, hätte er ertrinken müssen. Die Pistole warf er ins Wasser, sobald er auf Sie geschossen hatte. Ich habe sie nachher an mich genommen. Wenn er Sie getötet hätte, wäre seine Unschuld erwiesen gewesen – denn in der Verfassung konnte er allem Anschein nach die Tat nicht begangen haben .– Aber nun möchte ich Sie um Ihr Abzeichen bitten, Miß Torrington!«

 

Etwas überrascht öffnete sie ihre Tasche und reichte ihm den kleinen silbernen Stern.

 

»Danke!« sagte Slick liebenswürdig. »Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel. Ich lasse mir jedesmal den Stern zurückgeben, wenn jemand aus meiner Firma ausscheidet und zu einem Konkurrenzunternehmen übergeht.«

 

Er zwinkerte Shannon vergnügt zu, und beide lachten.

 

Kapitel 5

 

5

 

Dick begrüßte seinen Assistenten Steel, der in seiner Wohnung auf ihn wartete, mit einer Frage.

 

»Wissen Sie etwas über Dora Eltons Verwandte?«

 

»Nein. Hat die denn überhaupt Verwandte?«

 

»Vielleicht weiß Slick darüber Bescheid. Ich habe ihn zu sechs Uhr herbestellt. Ist übrigens die Leiche identifiziert worden?«

 

»Nein. Aber nach den Schuhen und dem Tabaksbeutel zu urteilen, kam der Mann aus dem Ausland, wahrscheinlich aus Südafrika. Vielleicht ist er mit der ›Buluwayo‹ oder der ›Balmoral Castle‹ angekommen. Haben Sie mit dem Bognor-Mann wegen der Diamantenkette gesprochen?«

 

»Ja, aber er behauptet, er hätte sich mit Elton verkracht und wüßte nicht, was der vorhätte. Eltons Haus wird doch bewacht, nicht wahr? – Gut. Ich glaube nicht, daß vor heute abend um dreiviertel neun etwas geschieht. Um diese Zeit wird die Kette die Curzon Street verlassen, und ich werde ihr persönlich nach ihrem Bestimmungsort folgen, weil mir viel daran liegt, das fünfte Mitglied der Bande kennenzulernen. Vermutlich ist es ein Ausländer. Und dann werde ich Dora Elton endlich haben.«

 

»Denken Sie nicht, daß es Bunny sein könnte?«

 

»Der hat wohl Mut, aber doch nicht so viel, daß er mit einer gestohlenen Kette durch London spaziert, die von der gesamten Polizei gesucht wird. Das ist nichts für Bunny. Seine Frau wird es versuchen.« Dick sah auf die Uhr. »Vor einer halben Stunde ist sie angekommen. Ich möchte nur wissen –«

 

In diesem Augenblick erschien Mr. Slick Smith, wie immer sorgfältig gekleidet, selbstbewußt und sorglos. Steel nickte ihm grinsend zu und verließ das Zimmer.

 

»Schön, daß Sie kommen«, sagte Dick Shannon. »Sie haben recht behalten – der Schmuck ist weg, und Elton ist in die Geschichte verwickelt.«

 

Slick zog spöttisch die Augenbrauen hoch.

 

»Wirklich? Nicht zu glauben!«

 

»Lassen Sie Ihre ironischen Bemerkungen. Wissen Sie eigentlich etwas über Mrs. Elton?« fragte Dick und schob ihm die Whiskyflasche zu.

 

»Eine reizende Dame – entzückende Person! Früher war sie ein braves Mädchen, aber eine schlechte Schauspielerin. Vermutlich hat sie Elton geheiratet, um einen besseren Menschen aus ihm zu machen.«

 

»Hat sie eine Schwester?« erkundigte sich Dick gespannt.

 

Slick leerte sein Glas.

 

»Wenn sie eine hat, möge ihr Gott gnädig sein!« erwiderte er.

 

 

Audrey hatte eine Viertelstunde auf dem Victoria- Bahnhof zugebracht und die Anschläge über den Raub der Diamantenkette studiert, während sie vergeblich auf Dora wartete. Schließlich bat sie einen Polizisten um Auskunft und benutzte den von ihm empfohlenen Omnibus, um nach der Curzon Street zu fahren. Ein zierliches Zimmermädchen öffnete ihr.

 

»Mrs. Elton ist beschäftigt«, sagte sie. »Kommen Sie vielleicht von Seville?«

 

»Nein, ich komme aus Sussex. Bitte melden Sie Mrs. Elton, daß ihre Schwester hier ist.«

 

Das Mädchen führte sie in ein kleines Wohnzimmer und ließ sie dort allein. Audrey redete sich ein, daß der Brief, in dem sie Dora ihre bevorstehende Ankunft mitgeteilt hatte, verlorengegangen sein müsse. Die Schwestern standen sich nicht nahe. Dora war vor Jahren zur Bühne gegangen und hatte sich dann kurz vor dem Tod ihrer Mutter »gut« verheiratet. Sie war Audrey stets als hervorragendes Beispiel hingestellt worden, und ihre Mutter hielt sie bis zuletzt für ein Muster von Vollkommenheit, obwohl sie von Dora völlig vernachlässigt wurde.

 

Die Tür öffnete sich plötzlich, und eine junge Frau trat herein. Sie war größer als Audrey und fast ebenso schön wie diese, nur hatten ihre Haare nicht das strahlende Blond und ihre Augen nicht den freundlich-humorvollen Blick Audreys.

 

»Aber liebes Kind, wo kommst du denn her?« fragte Dora Elton bestürzt und streifte mit ihrer schlaffen, ringgeschmückten Hand die Wange der Schwester.

 

»Hast du meinen Brief nicht bekommen?«

 

»Nein. Du bist aber groß geworden, Kind!«

 

»Ja, allmählich zähle ich auch zu den Erwachsenen. Ich habe das Haus verkauft.«

 

Dora sah sie erstaunt an.

 

»Warum denn?«

 

»Es gehörte mir ja längst nicht mehr – es war über und über mit Hypotheken belastet.«

 

»Und nun kommst du hierher? Das ist sehr peinlich. Ich kann dich unmöglich zu mir nehmen.«

 

»Ach, wenn ich nur einmal acht Tage lang hier schlafen könnte, Dora, bis ich Arbeit gefunden habe.«

 

Ihre Schwester runzelte die Stirne und ging auf und ab.

 

»Ich habe Gäste zum Tee«, sagte sie schließlich, »und heute abend ein kleines Diner. Was soll ich mit dir anfangen – in diesem Aufzug? Geh lieber in ein Hotel, schaffe dir elegante Kleider an und komme am Montag wieder.«

 

»Das würde mehr Geld kosten, als ich besitze«, erwiderte Audrey ruhig.

 

Dora kniff die Lippen zusammen.

 

»Wie kannst du einem nur so einfach ins Haus schneien!« rief sie. »Na, warte hier – ich will mit Martin sprechen.«

 

Audrey hatte sich den Empfang kaum anders vorgestellt. Nach einer Weile kam Dora zurück und zeigte ein erzwungen freundliches Gesicht.

 

»Martin meint, du solltest hier bleiben«, erklärte sie und führte ihre Schwester zu einem hübschen Fremdenzimmer im zweiten Stock. »Du hast hier in London wohl gar keine Bekannten?« fragte sie, als sie das elektrische Licht andrehte.

 

»Nein. Aber das ist ja ein entzückendes Zimmer!«

 

»Ich war vorhin vielleicht etwas abweisend, Liebling«, fuhr Dora fort und legte eine Hand auf Audreys Arm. »Du bist mir doch nicht böse deshalb? Ich bin manchmal so nervös. Und du hast Mutter ja versprochen, für mich zu tun, was du könntest.«

 

»Du weißt, daß ich mein Versprechen halte«, entgegnete Audrey.

 

Dora streichelte ihren Arm.

 

»Unsere Gäste brechen schon auf. Du mußt herunterkommen und Mr. Stanford und Martin kennen lernen.«

 

Sie verließ ihre Schwester und ging in den Salon zurück.

 

»Es wäre vielleicht doch besser, sie in ein Hotel zu schicken«, meinte ihr Mann.

 

Dora lachte.

 

»Ihr beide habt euch nun schon den ganzen Nachmittag den Kopf zerbrochen, wie wir das Ding zu Pierre hinschaffen könnten. Keiner von euch wollte sich der Gefahr aussetzen, mit der Diamantenkette der Königin von Griechenland abgefaßt zu werden –«

 

»Nicht so laut!« brummte Elton zwischen den Zähnen.

 

»Hör zu!« rief Big Bill Stanford. »Ich kann mir denken, was du sagen willst, Dora. Wer soll die Kette hinbringen?«

 

»Wer? Natürlich meine kleine Schwester!« erwiderte Mrs. Elton kühl.

 

Kapitel 32

 

32

 

Am Nachmittag desselben Tages hielt sich Martin Elton fast eine Stunde lang in seiner Bank auf, prüfte den Inhalt seines diebessicheren Safes, zerriß allerlei Papiere und steckte vier einzelne, dicht beschriebene Briefbogen in seine Brusttasche. Sobald er wieder nach Hause kam, rief er Stanford an und bat ihn, sofort zu ihm zu kommen.

 

Stanford erklärte sich erst nach längeren Ausflüchten und Einwendungen dazu bereit und war in übler Laune, als er kurz vor fünf in der Curzon Street erschien.

 

»Zum Teufel, was fällt dir denn ein, daß du mich herbeorderst, als ob ich ein Kuli wäre!« fuhr er Martin wütend an.

 

Elton lag auf einer Couch und blickte von seinem Buch auf.

 

»Mach die Tür zu und schrei nicht so!« erwiderte er gelassen. »Die Sache ist ernst, sonst hätte ich dich nicht herbestellt.« Er stand auf, nahm sich eine Zigarre und bot auch Stanford eine an, die dieser mißmutig nahm. »Audrey ist jetzt bei Stormer angestellt, und das Kind ist schlau.«

 

»Was geht mich das an! Wenn du mich nur deshalb-«

 

»Ich sage dir, daß sie schlau ist. Und daß sie uns nach jener Diamantengeschichte nicht gerade freundlich gesinnt ist, kannst du dir wohl denken. Nun weiß ich zufällig, daß Stormer für fast alle Botschaften in London arbeitet –«

 

Stanford lachte höhnisch.

 

»Meinetwegen kann sie Beweise sammeln, soviel sie will!« sagte er. »Mir soll’s recht sein. Ist das alles?«

 

»Nicht ganz. Besinnst du dich noch auf den kleinen Feldzugsplan für die Sache mit der Königin von Griechenland, den du wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten schriftlich ausgearbeitet hast?«

 

»Gewiß, aber der ist doch vernichtet.«

 

»Leider nicht«, fuhr Martin kaltblütig fort. »Es war eine so geniale Arbeit, daß ich sie dummerweise aufbewahrte. Audrey war vorgestern hier. Sie kam, während Dora und ich ausgegangen waren, und ging zu Doras Zimmer hinauf, um ihr Haar überzukämmen. Dora bewahrt die Schlüssel zu meinem Depositenfach in ihrem Schreibtisch auf.«

 

Stanford starrte ihn an.

 

»Nun – und?«

 

»Als ich heute nach der Bank ging, um Geld herauszunehmen, waren all meine Papiere verschwunden.«

 

Stanford wurde bleich.

 

»Du meinst, daß mein Plan auch verschwunden ist?«

 

»Ja, das meine ich.« Er hob abwehrend die Hand. »Geh bitte nicht gleich in die Luft. Ich gebe zu, daß es verrückt von mir war, ihn aufzuheben. Natürlich hätte ich ihn sofort vernichten müssen – besonders weil du darin sogar Namen genannt hattest, wenn ich mich recht erinnere. Für mich ist die Geschichte ebenso fatal wie für dich – vielleicht noch unangenehmer, da Dora und ich etwas bei ihr auf dem Kerbholz hatten, du dagegen nicht.«

 

»Du hast mich reingelegt, du Schweinehund! Wie kann man nur so wahnsinnig sein, so etwas aufzuheben?«

 

»Warum hast du Namen hineingeschrieben? Natürlich mache ich mir Vorwürfe, aber wenn die Sache vor Gericht kommt, so ist deine eigene Schlauheit daran schuld.«

 

Stanford zuckte die Schultern. Trotz seiner scheinbaren Stärke und Großmäuligkeit war er im Grund ein Schwächling, wie Martin sehr wohl wußte.

 

»Was soll ich denn jetzt tun?« fragte er verbissen.

 

Elton begann nun, Mittel und Wege mit ihm zu besprechen …

 

 

Torrington hatte Audrey für den Abend entlassen.

 

»Ich habe noch eine wichtige Besprechung«, sagte er. »Sie können also ins Theater gehen oder sich sonst nach Belieben die Zeit vertreiben.«

 

Audrey freute sich darüber, denn Dora hatte sie eingeladen, bei ihr zu essen.

 

»Ich gehe nachher noch aus und muß deshalb früh essen«, hatte Dora am Telephon geäußert. »Du brauchst dich also nicht schön zu machen.«

 

Sie öffnete ihrer Schwester selbst die Tür.

 

»Meine Köchin ist eben auf und davon gegangen«, erklärte sie und küßte Audrey. »Und mein Mädchen wollte so gern ihre kranke Mutter besuchen. Ich hatte nicht das Herz, ihr die Bitte abzuschlagen. Du mußt also Nachsicht haben. Martin ist zum Glück in den Klub gegangen. Er kommt erst nachher, um mich abzuholen.«

 

Der Tisch war sehr hübsch für zwei Personen gedeckt, und auch das Essen ließ nichts zu wünschen übrig, denn trotz all ihrer Fehler war Dora eine vorzügliche Hausfrau.

 

»Wir wollen eine kleine Flasche Sekt trinken, um unsere Versöhnung zu feiern«, sagte sie beim zweiten Gang, stand auf, nahm eine Flasche aus dem silbernen Kühler und entfernte geschickt den Draht über dem Korken.

 

Audrey lachte.

 

»Ich habe lange keinen getrunken«, sagte sie.

 

»Solchen Sekt hast du wohl noch nie bekommen«, plauderte Dora heiter. »Martin ist ein Kenner.«

 

Der Propfen knallte, und sie füllte ein Glas, so daß der rosige Schaum überlief.

 

»Auf unser nächstes vergnügtes Beisammensein!« sagte sie und hob ihr Glas.

 

Audrey lachte leise und nippte.

 

»Du mußt aber austrinken!« rief Dora.

 

Ihre Schwester leerte das Glas mit feierlicher Miene.

 

»Ach«, sagte sie dann etwas bestürzt, »das schmeckt ja ganz bitter – fast wie Chinin. Aber ich verstehe wohl nicht viel von Wein.«

 

Eine halbe Stunde später kam das Hausmädchen unerwartet zurück.

 

»Ich dachte, Sie wollten ins Theater gehen?« fragte Dora scharf.

 

»Ich habe solche Kopfschmerzen bekommen«, erwiderte die Angestellte. »Leider konnte ich die Eintrittskarte, die Sie mir schenkten, nicht benützen. Aber wenn ich vielleicht bei Tisch aufwarten soll…«

 

»Wir sind schon fertig mit dem Essen«, entgegnete Dora. »Miß Bedford ist eben gegangen.«

 

 

Torrington warf seinem Besucher einen scharfen, prüfenden Blick zu und deutete dann stumm auf einen Stuhl.

 

»Wenn ich nicht irre, haben wir uns schon gesehen, Mr. Torrington«, begann Martin.

 

»Ich weiß genau, daß wir uns nie gesehen haben, obwohl ich Sie vom Hörensagen kenne. Legen Sie Ihren Mantel ab, Mr. Elton. Sie baten um eine Unterredung unter vier Augen, und ich habe sie aus verschiedenen Gründen bewilligt. Ich glaube, Sie sind ein Schwager meiner Sekretärin.«

 

Martin neigte den Kopf.

 

»Ja, unglücklicherweise.«

 

»Unglücklicherweise?« Der alte Herr zog die Augenbrauen hoch. »Ach, Sie meinen wegen ihrer Vergangenheit? Das arme Mädchen war ja wohl in einen Juwelenraub verwickelt.«

 

»Sie hatte die Diamanten bei sich, als sie verhaftet wurde.«

 

»So? Das ist ja schlimm! Natürlich wußte ich das, als ich die junge Dame anstellte. Sie wollen mich wohl vor ihren Ränken warnen?«

 

»Nein, ich komme aus einem ganz anderen Grund her, erwiderte Martin, der trotz Torringtons ernster Miene das Gefühl hatte, der alte Mann triebe seinen Spott mit ihm. »Verzeihen Sie mir, wenn ich ein sehr peinliches Thema berühren muß. Sie wurden vor Jahren in Südafrika wegen unerlaubten Diamantenhandels verurteilt –«

 

»Ja, ich war das Opfer eines der größten Schurken im Diamantengebiet, eines gewissen Lacy Marshalts, der jetzt tot ist.«

 

»Sie hatten eine junge Frau«, fuhr Martin zögernd fort, »und ein Kind – ein kleines Mädchen, das Dorothy hieß.«

 

Torrington nickte stumm.

 

»Ihre Frau war außer sich über die Schande, verschwand aus Südafrika und ließ nie wieder von sich hören, nicht wahr?«

 

»Doch, einmal schrieb sie.« Die Worte klangen wie ein Peitschenhieb.

 

»Sie kam mit dem Baby und einer älteren Tochter nach England, nahm den Namen Bedford an und lebte hier von ihrem kleinen Einkommen.«

 

»Von einer Rente«, verbesserte Torrington. »Ich hatte sie vor meiner Verhaftung in eine Rentenbank eingekauft. Bitte, sprechen Sie weiter!«

 

Martin holte tief Atem.

 

»Aus irgendeinem Grund erzog die Frau Dorothy in dem Glauben, daß sie die Tochter ihres ersten Gatten sei, während sie das andere kleine Mädchen für älter ausgab. Aus welchem Grund –«

 

»Lassen wir das!« fiel ihm Torrington ins Wort. »All dies kann wahr oder unwahr sein.«

 

Martin wagte nun den entscheidenden Schritt.

 

»Sie sind der Meinung, daß Ihre Tochter Dorothy tot ist. Das stimmt aber nicht. Sie lebt, und zwar hier in England. Sie ist meine Frau.«

 

Daniel Torringtons Augen schienen den Mann zu durchbohren.

 

»Ist das die Geschichte, die Sie mir erzählen wollten?« fragte er. »Daß meine kleine Dorothy noch lebt und Ihre Frau ist?«

 

Eine lange, drückende Pause entstand.

 

Endlich brach Torrington das lastende Schweigen.

 

»Sind Ihnen eigentlich die näheren Umstände meiner Verhaftung bekannt? – Nein? Dann werde ich sie Ihnen einmal erzählen.

 

Ich saß auf der Vortreppe meines Hauses in Wynberg und hatte mein Baby auf dem Schoß, als ich Marshalt um das Gebüsch herumkommen sah. Ich war überrascht, daß er zu mir kam – bis ich zwei Detektive hinter ihm bemerkte. Er hatte Angst vor mir, Todesangst! Als ich aufstand und das Kind in die Wiege legte, zog er einen Revolver und schoß. Nachher sagte er, ich hätte zuerst gefeuert, aber das war eine Lüge. Ich hätte überhaupt nicht geschossen, aber seine Kugel traf die Wiege, und ich hörte das Kind schreien. Da erst legte ich auf ihn an, und er wäre ein toter Mann gewesen, wenn ich nicht des Kindes wegen in so große Aufregung geraten wäre. Ich fehlte, und sein zweiter Schuß zerschmetterte mir das Bein. Wußten Sie das?«

 

Martin schüttelte den Kopf.

 

»Ich dachte mir, daß es Ihnen neu sein würde. Das Kind war verwundet – die Kugel fuhr durch den kleinen Zeh des einen Fußes und zerbrach den Knochen – mich wundert nur, daß Ihre Frau Ihnen davon noch nichts gesagt hat –«

 

Martin schwieg.

 

»Meine kleine Dorothy ist nicht tot. Das weiß ich schon seit einiger Zeit, und nun habe ich sie auch mit Hilfe meines Freundes Stormer gefunden.«

 

»Und sie weiß – ?« fragte Martin totenbleich.

 

»Nein, sie weiß es nicht. Sie soll es erst erfahren, wenn meine Aufgabe erledigt ist.«

 

Seine kalten Augen durchdrangen unbarmherzig Martins Gesicht.

 

»Ihre Frau ist meine Tochter, wie? Sagen Sie ihr, sie möchte herkommen und mir ihren linken Fuß zeigen. Sie können Geburtsscheine fälschen, Elton – aha, das saß – aber kleine Fußzehen, die zerschossen wurden, können Sie nicht nachbilden!«

 

Er klingelte.

 

»Bringen Sie den Herrn hinaus«, sagte er, »und wenn Miß Bedford nach Hause kommt, möchte ich sie sofort sprechen…«

 

Eine Viertelstunde später standen sich Dora und Martin im Wohnzimmer gegenüber, und er berichtete ihr das Ergebnis seiner Unterredung mit Torrington.

 

»Vielleicht läßt sich alles noch zu unseren Gunsten verschieben. Er wird zahlen, um sie zurückzubekommen, wenn –«

 

»Wenn -?«

 

»Wenn sie noch lebt«, erwiderte Dora leise, »und wenn inzwischen nichts anderes passiert ist.«

 

Kapitel 27

 

27

 

Elton war nicht lange bei Stanford geblieben und hatte gerade begonnen, einen Brief zu schreiben, als seine Frau erschien. Er legte die Feder aus der Hand. »Dora, was hast du eigentlich getrieben, ehe wir uns kennenlernten?« fragte er unvermittelt.

 

»Ach, anfangs ging ich als Statistin mit Marsh und Bignall auf Reisen. Marsh machte Bankerott, und ich war dann in einer Schießbude und so weiter. Ich bin alles gewesen von der ersten Liebhaberin bis zur Garderobiere. – Von elektrischen Leitungen verstehe ich mehr als mancher Mechaniker. Aber warum fragst du danach?«

 

»Wo lerntest du Marshalt kennen?«

 

»Hier in London«, entgegnete sie nach kurzem Zögern. Ihre Hand, in der sie eine Zeitung hielt, zitterte leicht. »Ach, ich wollte, ich wäre vorher gestorben!«

 

»Dora – hast du ihn lieb?«

 

»Ich hasse ihn!« rief sie leidenschaftlich. »Ich habe ihn einmal geliebt – ja. Ich habe sogar an Scheidung gedacht. Aber ich war nicht schlecht genug. Ich fing an, ihn zu langweilen. In gewisser Weise bin ich vielleicht auch altmodisch.«

 

Er hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und beobachtete sie unter gesenkten Lidern.

 

»Glaubst du, daß er tot ist?«

 

Sie machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Ich empfinde ihn nicht als tot – aber es ist mir gleichgültig.«

 

Sie sprach aufrichtig, davon war er überzeugt.

 

»Hat er jemals Malpas erwähnt?«

 

»Ja, oft! Und dabei wurde er immer nervös. Malpas haßte ihn. Der Polizei gegenüber behauptete Lacy, nichts von ihm zu wissen, aber er wußte sehr viel. Er sagte, Malpas und er wären früher Partner gewesen, und er wäre mit Malpas‘ Frau durchgegangen.«

 

Er stand auf und legte die Hände auf ihre Schultern.

 

»Ich danke dir – für alles, was du gesagt hast. Ich glaube, wir beide werden jetzt fest zusammenhalten. Wie stehst du denn jetzt zu Audrey?«

 

»Ich weiß es selbst nicht. Meine Abneigung gegen sie ist sehr groß. Ich wurde ja dazu erzogen, sie zu hassen.«

 

»Das tut mir leid.« Martin klopfte sie sanft auf die Schulter und ging.

 

Als er nachmittags nach Hause kam, traf er Dora in der Halle. Sie war zum Ausgehen angekleidet, aber er bat sie, ins Wohnzimmer hinaufzukommen.

 

»Als Audrey das letztemal hier war, sagtest du ihr, sie hieße gar nicht Bedford, und ihr Vater säße wegen Diamantendiebstahls in einer Strafanstalt in Südafrika«, sagte er hastig. »War das wahr?«

 

»Ja«, erwiderte sie verwundert. »Weshalb – ?«

 

»Abends sagtest du mir, er wäre lahm – hätte bei der Verhaftung einen Schuß ins Bein bekommen. Wie hieß Audreys Vater?«

 

»Daniel Torrington.«

 

Martin pfiff leise durch die Zähne.

 

»Ich habe – jemand getroffen, der behauptet, Torrington wäre hier in London. Man hat ihn begnadigt, und es scheint, daß er sich schon längere Zeit hier aufhält. Wußte Marshalt wohl davon?« »Nein, wenn er das gewußt hätte, wäre er wohl nicht so vergnügt gewesen. Ach!« Sie preßte die Hand einen Augenblick auf den Mund. »Malpas!« flüsterte sie.

 

Er starrte sie an, denn ihm war derselbe Gedanke gekommen.

 

»Marshalt muß es gewußt oder geahnt haben«, fuhr sie leise fort. »Er hat die ganze Zeit nebenan gewohnt! Bunny, Malpas ist Torrington!«

 

»Das glaube ich nicht.« Martin schüttelte den Kopf. »Es klingt zu romanhaft! So rachsüchtig ist kein Mensch. Und nun gar Torrington, der nach seiner Tochter sucht!«

 

»Er hält Audrey sicher für tot. Er hing sehr an dem Kind, und auf Marshalts Rat hin hat ihm Mutter geschrieben, daß Audrey an Scharlach gestorben wäre. Torrington hat ihr sogar unten bei Kapstadt einen Gedenkstein errichten lassen. Das weiß ich von Marshalt. Ist Torrington sehr reich?«

 

»Er soll zwei Millionen Pfund wert sein. Was er wohl – für die Wahrheit zahlen würde?«

 

»Nie im Leben soll er sie von uns erfahren! Mag er sie selbst herausbringen!«

 

»Wie ist sie getauft?« fragte er langsam und nachdenklich.

 

»Dorothy Audrey Torrington. Aber er weiß nicht, daß wir sie Audrey nannten. In seinem Brief schrieb er von Dorothy.«

 

»Schreibe an Audrey und lade sie zum Tee ein«, sagte Martin langsam. Sie schaute ihn empört an.

 

»Ja, schreibe ihr, es täte dir leid, daß du so unfreundlich zu ihr gewesen wärst und ihr allerlei vorgelogen hättest – über ihren Vater. Und wenn sie kommt, sagst du ihr, Torrington wäre dein Vater. Wo kann ich mir Audreys Geburtsschein verschaffen?«

 

»Ich habe oben noch allerlei Papiere von Mutter. Es kann sein, daß er darunter ist. Hole sie doch herunter, Bunny! Sie liegen in meinem Schrank – in einem Blechkasten.«

 

Er brachte ihn und öffnete ihn geschickt, als kein Schlüssel zu finden war. Auf dem Boden des Kastens lag ein blauer Briefumschlag mit zwei Geburtsscheinen. Martin breitete sie auf dem Tisch aus, und seine Augen glänzten.

 

»Dorothy Audrey Torrington«, las er, »und du heißt Nina Dorothy Bedford. Aus dem Namen Audrey läßt sich etwas anderes machen. Dora, du mußt Audrey schreiben und ihr – mit oder ohne Tränen – sagen, sie wäre deine ältere Schwester –«

 

Es klopfte.

 

»Mr. Smith aus Chicago«, meldete das Mädchen.

 

Martin zögerte einen Augenblick.

 

»Du kennst den Menschen ja wohl, Dora«, sagte er schließlich. »Ich lasse bitten.«

 

Slick Smith war wie immer tadellos gekleidet und legte seinen glänzenden Zylinder fast zärtlich auf einen Stuhl.

 

»Ich störe doch nicht?« begann er mit strahlender Miene. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, daß 147 Ihre verehrte Schwägerin in den Polizeidienst eingetreten ist. Streng genommen kann man es vielleicht nicht als Polizeidienst bezeichnen, aber jedenfalls ist sie bei Stormers Agentur angestellt.«

 

»Soll das Scherz oder Ernst sein?« fragte Martin schroff.

 

»Voller Ernst. Ich sah zufällig, daß sie mit Willitt in einen Juwelierladen ging, wo er ihr das Stormersche Abzeichen kaufte: einen kleinen silbernen Stern mit Stormers Namen auf der Rückseite. Ich kenne es, und die junge Dame schien sich sehr darüber zu freuen. Und wissen Sie, was Willitt tat, nachdem er sich von ihr getrennt hatte?«

 

Martin zuckte ungeduldig die Schultern.

 

»Er ging zu dem nächsten Telephon und rief das Ritz-Carlton-Hotel an, um dort eine Zimmerflucht für die junge Dame zu bestellen.« Smith zog sein Taschentuch heraus, betupfte die Lippen und fuhr dann lächelnd fort: »Mr. Brown – oder Torrington – wohnt im Ritz-Carlton.«

 

Martin und Dora waren fassungslos.

 

»Ich dachte, ich müßte es Ihnen mitteilen«, meinte Smith. »Für Leute, die heute ein gewisser Wilfred auf die Spur von Torringtons Millionen gebracht hat, kann die Nachricht ja von Wert sein. – Ein reizendes Mädchen, Ihre jüngere Schwester, Mrs. Elton!«

 

Martin zuckte zusammen, aber Dora hatte ihre Fassung wiedergewonnen.

 

»Sie meinen Audrey?« erwiderte sie lachend. »Ich bin ein volles Jahr jünger als sie!«

 

Slick sah sie prüfend an.

 

»Man scheint sich allseitig sehr für Ihre Schwester zu interessieren«, bemerkte er nachdenklich. »Jetzt hat schon der dritte Mann versucht, sie im Palace-Hotel zu fangen, und auch diesem dritten ist es mißlungen. Ich habe eine Ahnung, als ob ich noch zur Beerdigung des vierten gehen würde!«

 

Kapitel 28

 

28

 

Dick Shannon saß in seiner Wohnung am Haymarket und blätterte in einem Briefordner. Er las einen der mit Maschine beschriebenen Bogen durch, um sein Gedächtnis aufzufrischen.

 

 

»Tonger trug einen grauen Anzug, schwarze Schuhe, blaugestreiftes Hemd und weißen Kragen. Taschen enthielten 27 £ und 200 Franken. (Notiz: Tonger fuhr am Morgen seines Todestages nach Paris, gab einen Brief an unbekannte Adresse auf und kehrte am selben Tag zurück); alte, goldene Uhr Nr. 984371, goldene Kette, zwei Schlüssel, eine Brieftasche mit einem Rezept für Bromkalium (Notiz: verschrieben von Dr. Walters, Park Lane, bei dem sich Tonger über Schlaflosigkeit beklagte) drei Fünfpfundnoten und ein dreikantiger Pfriemen …«

 

 

Dick schloß einen kleinen Safe auf, nahm eine Schachtel heraus und versenkte sich mit Hilfe einer Lupe in die Betrachtung dieses Pfriemens, der bereits von erfahrenen Technikern geprüft und gemessen worden war und viel Kopfzerbrechen verursacht hatte.

 

Das Instrument war etwa vier Zoll lang, hatte eine stumpfe Spitze und endete in einem Korkziehergriff. Kurz vor dem Holzteil wurde es stärker, und an dieser Stelle verriet sich selbst dem ungeübten Auge Dilettantenarbeit. Dick erinnerte sich der Schrauben und der Feilen im Vorratsraum und war davon überzeugt, daß dieses sonderbare Werkzeug dort verfertigt worden war. Aber zu welchem Zweck?

 

Mißmutig lehnte er sich zurück und grübelte, bis ihm wirr im Kopf wurde. Plötzlich schrak er zusammen. Wer warf denn Steinchen gegen sein Fenster? Er schaute hinaus, sah aber nur ein paar Leute mit aufgespannten Schirmen vorübereilen. Als er sich umwandte, klirrte es wieder gegen die Scheibe. Er rief seinen Diener, befahl ihm, sich zwischen das Fenster und die Lampe zu setzen, und ging leise zur Haustür hinunter. Behutsam öffnete er sie einen Zentimeter weit und lauschte angestrengt. Gleich darauf rasselte es wieder. Er stürzte hinaus und packte ein junges Mädchen im Regenmantel am Arm.

 

»Was soll denn das bedeuten?« fragte er streng, hielt aber ein, als er in Audreys lachende Augen schaute. »Was in aller Welt –?«

 

»Ich wollte Sie sprechen, und da Detektive niemals klingeln –«

 

»Was soll das heißen? Kommen Sie herein! Womit warfen Sie denn – mit Hühnerfutter?«

 

»Nein, die Hühnersache habe ich jetzt vollständig aufgegeben. Zum Glück kann ich ja ohne Ehrendame zu Ihnen kommen, da wir nun Kollegen sind.«

 

Sie traten in sein Zimmer ein, und als der Diener entlassen worden war, zog Audrey feierlich einen silbernen Stern aus der Tasche und legte ihn mit einer theatralischen Geste auf den Tisch.

 

»Stormer?« murmelte er, als ob er seinen Augen nicht trauen dürfte. »Aber Sie sagten doch, daß –«

 

»Mit Hühnern habe ich ein für allemal Schluß gemacht«, erklärte sie, während sie ihren triefenden Mantel auszog. »Die bringen mich nur in Schwierigkeiten. Aber wie ich sehe, sind Sie nicht an Damenbesuch gewöhnt, Captain. Das spricht entschieden zu Ihren Gunsten.« Sie klingelte. »Sehr heißen Tee und sehr heißen Toast, bitte!« befahl sie dem höchst erstaunten Chauffeurdiener. Als der Mann gegangen war, wandte sie sich wieder an Dick. »Wenn eine Dame zu Ihnen kommt, müssen Sie zuerst fragen, ob sie Tee haben möchte, zweitens, ob sie hungrig ist. Dann schiebt man den behaglichsten Lehnstuhl ans Feuer und erkundigt sich teilnehmend, ob vielleicht ihre Füße naß geworden sind. Ich möchte aber gleich bemerken, daß das bei mir nicht zutrifft. Sie mögen ja ein guter Detektiv sein, aber Sie sind ein schlechter Gastgeber.«

 

»Nun erzählen Sie mir aber, welche Abenteuer Sie inzwischen wieder erlebt haben«, bat er, nachdem er ihre Belehrung hingenommen und ihr so gut als möglich entsprochen hatte.

 

Sie berichtete ihm auch bereitwillig von ihren Erlebnissen.

 

»Ich habe also weiter nichts zu tun«, sagte sie zum Schluß, »als in einem netten Hotel zu wohnen und ein väterliches Auge auf einen sechzigjährigen Herrn zu werfen, der mich nicht einmal kennt. Er würde sonst wohl auch diese Bevormundung furchtbar übelnehmen. Aber es ist eine anständige Beschäftigung, und Mr. Stormer ist mir jedenfalls sympathischer als Mr. Malpas. Er ist auch bedeutend menschlicher.«

 

Sie unterbrach sich, als der Diener den Tee brachte und sich anschickte, den Tisch zu decken, was Dick jedoch für überflüssig erklärte.

 

»Ein Beruf ist es ja«, meinte Dick, »wenn auch kein angenehmer für ein junges Mädchen. Jedenfalls bin ich froh, daß Sie bei Stormer sind. Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen nun raten soll. Einen Plan für Ihre Zukunft habe ich allerdings, und ich wollte, Sie fänden eine mehr erheiternde und ungefährliche Tätigkeit, bis ich mit diesem Portman Square-Rätsel fertig bin und Malpas hinter Schloß und Riegel habe. Dann –«

 

»Nun – dann?« fragte sie, als er verstummte.

 

»Dann werden Sie mir hoffentlich gestatten, mich um – Ihre Angelegenheiten zu kümmern«, entgegnete er ruhig.

 

Der Blick, mit dem er sie betrachtete, veranlaßte sie, rasch aufzustehen.

 

»Ich muß nach Hause – der Tee war köstlich.«

 

Er klingelte nach ihrem Mantel, der in der Küche trocknete.

 

»Was werden Sie sagen, wenn ich Ihre Zukunft in die Hand nehme?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich – ich weiß nicht … ich bin Ihnen ja sehr dankbar – für alles, was Sie getan haben –«

 

In diesem Augenblick brachte der Diener den Mantel, und Dick half ihr gerade hinein, als es schellte, und Steel eintrat.

 

Er verbeugte sich leicht vor Audrey und wandte sich dann an Dick.

 

»Was sind das für Dinge?« fragte er und nahm eine Handvoll gelber Kiesel von verschiedener Größe aus der Tasche. Einzeln legte er sie auf den Tisch.

 

»Das sind Diamanten – im Wert von etwa zweihundertfünfzigtausend Pfund«, erwiderte Dick langsam.

 

»Noch dreimal soviel liegen in Malpas‘ Zimmer«, fuhr Steel fort. »Der ganze Götze ist damit gefüllt! Ich entdeckte das Versteck zufällig, als ich mich ein bißchen langweilte und an den beiden Bronzekatzen herumtastete. Ich überlegte, ob sie wohl nur zum Schmuck dienten oder irgendwelchen Nutzen hätten. Und plötzlich drehte sich das eine Tier halb um sich selbst, und als ich mein Heil mit dem anderen versuchte, wiederholte sich die Geschichte. Ich muß wohl unbewußt eine Feder berührt haben. Mit einemmal öffnete sich die Brust des Götzen in der Mitte – ganz wie eine Flügeltür. Ich kletterte auf den Sockel und leuchtete mit meiner Taschenlampe hinein, und – ich schwöre Ihnen, der Körper ist bis zur Hälfte voll von solchen und teilweise noch größeren Steinen!«

 

Dick betrachtete die Diamanten. Jeder war mit einem kleinen roten Siegel versehen, der seinen Fundort bezeugte.

 

»Er wird sie nicht verkauft haben, weil die Diamantenpreise in den letzten Jahren wegen Überproduktion gesunken sind«, sagte er. »Sie haben die Tür in dem Götzen natürlich wieder geschlossen?«

 

»Selbstverständlich! Und glücklicherweise war ich auch allein im Zimmer, als ich die Entdeckung machte.«

 

Shannon schüttete die Steine in eine Zuckerschale und verwahrte sie in seinem Geldschrank.

 

»Die anderen müssen noch heute nach Scotland Yard geschafft werden«, ordnete er an. Dann forderte er Audrey auf, mitzukommen, nahm eine Ledertasche mit und machte sich auf den Weg.

 

Steel hatte zwei Leute in Malpas‘ Zimmer als Wachen zurückgelassen. Ein dritter befand sich in der Halle, und der Inspektor kam von oben herunter. Auf Dicks Wunsch wurde im Hinblick auf etwaige neue Zwischenfälle noch der Mann aus der Halle heraufgerufen. Dann ging Dick auf die Nische zu und zog den Vorhang beiseite. Sobald er das eine Katzentier drehte, setzte sich die Maschinerie in Bewegung. Dick stieg hinauf und nahm eine Handvoll Steine aus dem Versteck.

 

»Die Sache stimmt«, meinte er, als er wieder hinuntersprang und die Diamanten in die Ledertasche schüttete.

 

Im selben Augenblick hörte er ein Knacken und fuhr herum. Beide Katzen begannen sich langsam zurückzudrehen, und gleichzeitig gingen alle Lichter aus.

 

»Stellen Sie sich vor die Tür!« befahl Shannon rasch. »Einer von den Leuten soll sich zum Büfett hintasten und den Gummiknüppel dabei gegen die Täfelung drücken. Sobald sie sich bewegt, muß er zuschlagen. Wo sind die Taschenlampen?«

 

»Draußen auf dem Flur«, sagte der Inspektor.

 

»Holen Sie sie! Der Mann an der Tür läßt den Inspektor durch und gibt scharf acht, daß es auch wirklich der Inspektor ist, der zurückkommt.«

 

Audreys Herz schlug heftig, und ihre Hand tastete instinktiv nach Dicks Arm.

 

»Was wird geschehen?« flüsterte sie ängstlich.

 

»Ich weiß es nicht«, gab er leise zurück. »Bleiben Sie dicht hinter mir, und halten Sie meinen linken Arm fest!«

 

»Die Tür ist zu!« rief der Inspektor plötzlich.

 

Steel kroch am Boden entlang auf den Götzen zu.

 

»Hat nicht jemand ein Streichholz? Captain, haben Sie etwas gehört?«

 

»Es kam mir vor, als ob ich ein leises Wimmern hörte. Können Sie den Götzen fühlen?«

 

»Ich bin – o, mein Gott!«

 

Audreys Blut erstarrte bei dem Schmerzensschrei.

 

»Was ist los?« rief Dick.

 

»Ich berühre etwas Glühendes!« Steel stöhnte.

 

»Hier brennt etwas«, flüsterte Audrey. »Riechen Sie es nicht?«

 

Dick machte sich sanft von ihr frei.

 

»Ich muß einmal sehen, was geschehen ist.«

 

Im gleichen Augenblick flammte das Licht wieder auf. Allem Anschein nach hatte sich nichts bewegt. Steel befühlte seine Hand, deren innere Fläche einen roten Striemen aufwies.

 

»Eine scheußliche Brandwunde«, sagte er und biß die Zähne zusammen.

 

Dick rannte zu dem Sockel des Götzen und betastete ihn. Er war eiskalt.

 

»Ich glaube, es kam etwas aus dem Fußboden heraus«, meinte Steel, »eine glühende Schranke oder so etwas Ähnliches…«

 

»Erst wollen wir uns jetzt einmal die Steine holen!« erklärte Dick und drehte die Katzen. Die kleine Tür öffnete sich, und er stieg hinauf.

 

Aber als er die Hand hineinstreckte, fand er die Höhlung leer.

 

Kapitel 29

 

29

 

Alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Eine Falltür war nicht vorhanden, und die Stahltrossen des Aufzugs hatte Dick durchschneiden lassen.

 

»Holen Sie die Lampen!« befahl er. »Und von jetzt ab trägt jeder eine bei sich.«

 

Als ob diese Worte als Signal gewirkt hätten, erlosch das Licht von neuem, und die Tür schloß sich, bevor jemand sie erreichen konnte. Aber diesmal dauerte die Dunkelheit nur einen Augenblick.

 

»Die Geschichte fängt an, unheimlich…« begann Dick und verstummte plötzlich.

 

Vor dem Götzen lag ein Lederbeutel. Er war neu und groß.

 

Dick sprang hin, hob ihn auf und legte ihn auf den Tisch.

 

»Seien Sie vorsichtig!« warnte Steel.

 

Rasch betastete Dick den Beutel.

 

Fast wäre er in Ohnmacht gefallen, als er den Beutel bis zum Rand mit den gelben Steinen gefüllt sah, die er in der Brust des Götzen entdeckt hatte. Er holte tief Atem und winkte Steel zu sich.

 

»Das sind wohl ungefähr alle, die darin lagen?« fragte er.

 

Steel war sprachlos vor Erstaunen und konnte nur nicken.

 

»Inspektor, sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen ihre Sachen zusammensuchen«, befahl Dick. »Ich hebe die Bewachung dieses Hauses auf.«

 

Kurz darauf verließen sie alle das rätselhafte Gebäude. Dick streckte gerade die Hand aus, um die Tür zu schließen, als sie von selbst ins Schloß fiel. Zugleich wurde es drinnen hell. Am Fenster schob jemand die Gardine beiseite und schaute hinaus.

 

»Ich versuche es!« rief Dick und hob den Revolver.

 

Drei Schüsse knallten, Scheiben klirrten, der Lichtstreifen erlosch.

 

»Jetzt kann ich in ernste Schwierigkeiten kommen«, sagte Dick, »aber ich hoffe, daß ich ihn getötet habe!«

 

»Wen?« fragte Audrey ängstlich.

 

Aber er gab keine Antwort, denn schon ertönten Polizeipfeifen, und von allen Seiten strömten Polizisten und Neugierige herbei. Trotz seiner hohen Stellung in Scotland Yard mußte Dick seinen Namen, seine Adresse und die Nummer seines Revolvers angeben, bevor er in ein Auto steigen konnte. Den Lederbeutel stemmte er fest auf die Knie.

 

»Wir fahren erst zu meiner Wohnung und legen die übrigen Steine dazu«, sagte er zu Audrey. »Dann bringe ich sie nach Scotland Yard. Ich habe keine Ruhe, bis ich sie hinter bombensicheren Stahltüren weiß.«

 

»Ich glaube, ich bin ein schlechter Detektiv«, murmelte sie. »Beinahe hätte ich geschrien!«

 

»Ich auch, Miß Bedford«, meinte Steel. »Können Sie wohl einen Umweg machen und mich beim Middlesex- Hospital absetzen? Ich möchte meine Hand verbinden lassen.«

 

Sie kamen seinem Wunsch nach.

 

»Eigentlich hätten Sie einen Polizisten mitnehmen sollen, Captain Shannon«, sagte Audrey, als Steel ausgestiegen war.

 

Er lachte.

 

»Ach, zwischen der Wardour Street und Scotland Yard kann uns doch nichts passieren.«

 

Aber schon wenige Minuten später ereilte sie das Schicksal. Ein großes Auto kam hinter ihnen her, machte plötzlich eine Wendung und fuhr in die kleinere Droschke hinein, so daß sie krachend auf den Gehsteig geschleudert wurde.

 

Dicks erster Gedanke galt Audrey. Im Nu hatte er sie mit einem Arm umfaßt und zog sie an sich, um ihr Gesicht zu schützen, als die Scheiben in tausend Stücke zersprangen. Gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen, und eine Hand tastete hinein. Dick sah, wie die Finger nach dem Lederbeutel griffen, und seine Faust stieß zu. Der Schlag traf den Mann gegen die Schulter, so daß er eine Sekunde lang den Beutel losließ. Dann führte dieser einen Stoß durch die Tür. Dick sah Stahl aufblitzen. Er wand und drehte sich, um auszuweichen und seinen Revolver herauszuziehen, und wehrte sich durch einen gewaltsamen Fußtritt, der glücklicherweise traf. Ein Schrei ertönte, und ein Messer fiel klirrend auf die Scherben.

 

»Haltet den Mann!« schrie Dick. Er hatte den herbeieilenden Polizisten gesehen, aber das Knattern der Maschine übertönte seine Stimme. Im Bogen glitt der große Wagen um den Beamten herum und verschwand in der Shaftesbury Avenue.

 

Mühsam kletterte Dick aus dem Taxi und half Audrey auf die Füße.

 

»Haben Sie sich die Nummer gemerkt?« fragte er.

 

»Ja«, erwiderte der Chauffeur. »X.G. 97435.«

 

Dick lachte.

 

»Meine eigene! Unser Freund hat jedenfalls Humor.«

 

Jetzt fand sich auch ein Polizeiinspektor ein, der nach einer kurzen Unterhaltung mit Dick ein Auto besorgte und mit ihm zum Haymarket fuhr.

 

»Hallo!« rief der Captain, als sie vor der Wohnung vorfuhren, und er zu den Fenstern hinaufschaute. Er hatte seinem Diener befohlen, das Wohnzimmer nicht zu verlassen, bis er selbst zurückkehrte, und nun war oben alles dunkel.

 

»Kommen Sie herein in den Flur und halten Sie den Beutel«, sagte er zu dem Beamten. »Audrey, Sie bleiben hinter dem Inspektor stehen.«

 

Er schaltete die Treppenbeleuchtung ein und öffnete die Vorsaaltür. Aber in dem Raum war die Birne entfernt worden, so daß er vergebens auf den Lichtknopf drückte. Mit vorgehaltenem Revolver trat er die verschlossene Wohnzimmertür ein, drehte das Licht an und sah seinen Diener William blutend vor dem Sofa liegen. Der Safe stand offen, wie er erwartet hatte. Die gesprengte Tür hing in den Angeln, und die Zuckerschale mit ihrem kostbaren Inhalt war verschwunden.

 

Glücklicherweise erwies sich Williams Wunde als ungefährlich, und als der Mann wieder zum Bewußtsein kam, ging Dick in das nebenan liegende Schlafzimmer, wo ein Fenster offenstand. Er schloß es und ließ das Rouleau herab. Die Schubladen seines Toilettentisches waren geöffnet und das Bett durchwühlt worden.

 

Er verließ die Wohnung wieder und bemerkte, daß es im Treppenhaus dunkel war.

 

»Wer hat das Licht ausgedreht?« rief er hinab.

 

»Ich dachte, Sie hätten es getan!« erwiderte der Inspektor.

 

»Kommen Sie herauf und bringen Sie den Beutel mit.«

 

»Den Beutel? Aber den haben Sie doch genommen!«

 

»Was?« schrie Dick.

 

»Als Sie eben herunterkamen, sagten Sie doch: ›Geben Sie den Beutel her und bleiben Sie hier stehen‹«, entgegnete der Beamte erschrocken.

 

»Ach, Sie Quadratesel!« tobte Dick. »Haben Sie denn nicht Ihre Augen aufmachen können?«

 

»Es war doch dunkel –«

 

»Audrey, haben Sie den Mann gesehen?«

 

Keine Antwort.

 

»Wo ist die junge Dame?« rief Dick wild.

 

»Hier unten, neben der Tür.«

 

Dick fuhr herum und drehte das Licht an.

 

Audrey war verschwunden.

 

Der Chauffeur wartete noch. Er hatte einen Herrn mit einem Beutel in der Hand herauskommen sehen, nachher war die Dame gefolgt. Aber in welcher Richtung sie sich entfernt hatten, oder ob sie zusammen weggegangen waren, konnte er nicht angeben.

 

In kürzester Zeit hatten alle Polizeiwachen Londons von dem Raub erfahren. Motorfahrer waren unterwegs, um die Schutzleute zu veranlassen, auf einen Mann mit einem Lederbeutel zu achten, ebenso auf eine genau beschriebene junge Dame im Regenmantel.

 

Der Diener William wußte nur anzugeben, daß er die Zeitung gelesen und dann plötzlich das Bewußtsein verloren hatte.

 

Als Dick hastig herauskam, um nach Scotland Yard zu fahren, begegnete er einem Polizisten in Zivil, den er kannte, und fragte ihn, ob er vielleicht Audrey gesehen hätte. Aber der Mann verneinte.

 

»Ich stand oben am Eingang zur Untergrundbahn«, sagte er. »Wie immer war ein großes Gedränge dort. Aber es ist mir niemand aufgefallen. Nur Slick Smith kam in einem ganz durchweichten, dunkelblauen Mantel vorbei.«

 

»Wann?«

 

»Vor ungefähr fünf Minuten.«

 

In Scotland Yard waren noch keine Nachrichten eingelaufen, als Dick dort eintraf, und er machte sich daher sofort auf den Weg, um Slick Smith aufzusuchen.

 

Dieser war nicht in seiner Wohnung, aber der Hauswirt hatte nichts dagegen, daß Dick nach oben ging, um ihn dort zu erwarten. Die Tür war zu, ließ sich jedoch leicht öffnen. Dick trat in das Zimmer ein, hatte aber keine Gelegenheit, sich genauer umzusehen, weil der Inhaber der Wohnung ihm fast auf dem Fuß folgte.

 

Slick lächelte und hatte eine große Zigarre im Mundwinkel.

 

»Guten Abend, Captain!« sagte er vergnügt. »Wie nett von Ihnen, daß Sie mich besuchen!«

 

»Erzählen Sie mir bitte genau, was Sie von fünf Uhr an getrieben haben«, erwiderte Dick schroff.

 

»Das ist nicht so einfach. Ich weiß nur, daß ich mich um Viertel nach neun auf dem Haymarket befand. Einer Ihrer Spürhunde sah mich. Es wäre albern, es abzuleugnen. Während der übrigen Zeit bin ich herumgebummelt. Das Bequemste für Sie ist, wenn Sie sich bei der Stormerschen Agentur erkundigen. Die Firma läßt mich nämlich beobachten. Sie brauchen nur dort anzufragen. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Captain: lassen Sie uns die Karten aufdecken. In Ihrer Wohnung ist heute eingebrochen worden – wollen Sie mich deshalb holen?«

 

»Ich will Sie gar nicht holen. Aber Sie sind als verdächtig bekannt und wurden in der Nähe des Haymarket gesehen, als der Einbruch stattfand. Was ist denn eigentlich mit Ihrem Gesicht los?« Er drehte ihn nach der Lampe hin. Von der Backe bis über das linke Ohr hinauf zog sich eine lange Schramme, die sogar einige Haare entfernt hatte. »Das ist ja die Spur einer Kugel! Und hier am Kinn – rührt die Wunde etwa von Glasscherben her? Hören Sie zu, Smith: Sie standen hinter einem Fenster, die Kugel fuhr durchs Glas, streifte Ihre Stirn, prallte dann an Ihrem Kopf ab, und ein Glassplitter – ach, was ist denn das?« Er zupfte einen winzigen Glassplitter von dem nassen Mantelärmel des Mannes und hielt ihn Slick vor die Augen.

 

Eine Weile schwiegen beide und sahen einander an.

 

»Alle Achtung, Shannon!« sagte Slick Smith dann. »Sie haben das Zeug zu einem tüchtigen Detektiv. Ja, man hat auf mich geschossen – durch das Fenster einer Autodroschke. Einer von diesen schäbigen Halunken in Soho hat einen heimlichen Groll gegen mich. Hier ist die Nummer des Wagens – falls Sie Nachforschungen anstellen wollen.« Er holte eine Karte mit einer darauf gekritzelten Nummer aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sein Alibi war gut vorbereitet.

 

Diese Kaltblütigkeit reizte Dick aufs äußerste. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, und er wußte im Grund seines Herzens, daß er sich weniger um den Verlust der Diamanten als um Audreys Sicherheit sorgte.

 

»Smith«, sagte er eindringlich, »wollen Sie mir den Gefallen tun, wenigstens bis zu einem gewissen Grad offen gegen mich zu sein? Als ich nach Hause fuhr, befand sich Miß Bedford in meiner Begleitung – kennen Sie die Dame?«

 

»Ich habe sie einmal getroffen.«

 

»Schön. Es ist mir jetzt vollkommen gleichgültig, ob Sie mit dem Einbruch zu tun hatten oder nicht, aber sagen Sie mir, ob Sie Miß Bedford heute abend gesehen haben.«

 

Smith lächelte strahlend.

 

»Natürlich hab‘ ich sie gesehen! Vor zwei Minuten stand sie noch vor diesem Haus.«

 

Er hatte kaum gesprochen, als Dick auch schon die Treppe hinabstürmte. Auf dem Gehsteig ging jemand im Regenmantel auf und ab.

 

»Audrey!« rief er, und bevor er selbst wußte, was er tat, hielt er sie schon in den Armen. »Ach, Kind, Sie wissen nicht, was diese Minute für mich bedeutet«, sagte er mit zitternder Stimme.

 

Sie machte sich sanft von ihm frei.

 

»Hat Mr. Smith Ihnen nicht gesagt, daß ich hier warte?«

 

»Nahm er denn an, daß ich hier sein würde?« entgegnete er erstaunt.

 

Er führte sie nach oben, und sie erzählte.

 

»Ich dachte auch, daß Sie es wären, als jemand herunterkam und dem Inspektor etwas zuflüsterte. Aber als er die Tür aufriß, sah ich, daß Sie es nicht waren. Dick – es war Malpas! Ich hätte beinahe laut aufgeschrien, aber meine Hand berührte zufällig das silberne Abzeichen in meiner Tasche, und ich wurde mir wieder meiner Verantwortung als Detektivin bewußt. Ich eilte hinter ihm her und verfolgte ihn durch die Panton Street zum Leicester Square und zur Coventry Street. Dort bog er in eine Nebengasse ab, ging am Pavilion-Theater vorüber und die Great Windmill Street hinauf. Dort wartete ein Wagen auf ihn, aber als er einstieg, beging ich eine Dummheit. Ich schrie ›Halt!‹ und rannte darauf zu. Zu meiner größten Überraschung fuhr er nicht davon, sondern schaute aus der geschlossenen Limousine heraus und sagte: ›Sind Sie es, Miß Bedford? Steigen Sie doch bitte ein. Ich möchte mit Ihnen sprechen.‹ Und als er dann blitzschnell aus dem Auto sprang, ergriff ich die Flucht. Wie ich ihm entkommen bin, weiß ich selbst nicht. Es war kein Mensch in der Nähe, und ich war in einer entsetzlichen Todesangst! Ich rannte um mehrere Straßenecken und konnte kaum noch laufen, als plötzlich Mr. Smith in Sicht kam. Ich erschrak zuerst furchtbar, denn ich dachte, es wäre Malpas. Das ist alles. Mr. Smith brachte mich dann zu Ihrer Wohnung, und dort hörten wir von einem Polizisten, daß Sie sich nach ihm erkundigt hätten.«

 

Dick holte tief Atem.

 

»Wie kam es denn, daß Sie in der Nähe waren, Smith?«

 

»Ich war der jungen Dame gefolgt – was ich vielleicht unterlassen hätte, wenn ich gewußt hätte, daß sie zur Firma Stormer gehört«, entgegnete Slick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber jetzt werden Sie gehen wollen. Gute Nacht!«

 

Kapitel 30

 

30

 

Als Audrey am nächsten Morgen in ihrem luxuriös ausgestatteten Zimmer frühstückte, wurde ihr zu ihrer größten Verwunderung ein Brief von Dora gebracht. Ihr Erstaunen wuchs noch, als sie die Zeilen las, die ihre Schwester geschrieben hatte:

 

 

»Mein liebes Kind,

kannst Du mir wohl jemals verzeihen, daß ich Dich so entsetzlich behandelt habe? Der Gedanke, daß Du unseretwegen unschuldig ins Gefängnis gingst, läßt mir und Martin keine Ruhe, und wenn ich an meinen fürchterlichen Angriff auf Dich denke, kann ich mich vor mir selbst nur dadurch rechtfertigen, daß ich mir sage, ich war nicht mehr bei Sinnen. Willst Du vergeben und vergessen? Ich habe Dir viel zu sagen. Bitte rufe mich an.

 

Deine Dich liebende Schwester

Dorothy.«

 

 

»Dorothy?« murmelte Audrey überrascht. Aber sie fühlte doch etwas wie Freude und eilte ans Telephon.

 

Doras Stimme klang matt, als sie antwortete.

 

»Wie lieb, daß du kommen willst. Du bist jetzt ja wohl für Stormer tätig?«

 

»Woher weißt du das?«

 

»Es wurde uns von jemand erzählt. Aber das ist ja gleichgültig, wenn du nur kommst.«

 

Audrey ließ sich das Bad richten und erkundigte sich bei der Gelegenheit bei dem Zimmermädchen nach dem geheimnisvollen Mr. Torrington.

 

»Sie sagen ja, daß er Millionär ist«, erwiderte das Mädchen achselzuckend, »aber ich kann nicht finden, daß er viel von seinem Geld hat. Den ganzen Tag sitzt er in seinen Zimmern herum und raucht oder liest, und abends geht er aus – aber nicht ins Theater oder ins Kino! Nein, er bummelt nur in den Straßen herum. Na, das Geld sollte ich mal haben! Ich wüßte, was ich damit täte!«

 

»Ist er jetzt auch in seinen Zimmern?«

 

»Ja, eben habe ich ihm das Frühstück gebracht. Höflich ist er immer, das muß ich sagen. Und er lebt auch sehr regelmäßig. Um fünf Uhr steht er schon auf, da muß ihm der Nachtportier Kaffee und heiße Brötchen bringen.«

 

»Hat er eigentlich einen Sekretär?«

 

»Nein – gar nichts! Nicht mal einen Papagei!«

 

Audrey telephonierte mittags mit der Stormerschen Agentur. Man schien dort über ihren mageren Bericht sehr befriedigt zu sein. Sie wunderte sich noch darüber, als sie zur Curzon Street fuhr.

 

Dora empfing sie sehr freundlich und umarmte sie.

 

»Du hast uns also wirklich vergeben? Und wie frisch und blühend du aussiehst! Kein Mensch würde glauben, daß du ein Jahr älter bist als ich!«

 

»Älter als du?« fragte Audrey erstaunt.

 

»Ja, Kind! Für die Konfusion ist Mutter verantwortlich. Sie war ja nun einmal wunderlich – besonders in ihrer Abneigung gegen dich.«

 

»Aber ich bin doch am 1.Februar 1904 geboren?«

 

»Am 3. Februar 1903«, verbesserte Dora lächelnd.

 

»Siehst du, hier ist dein Geburtsschein: Audrey Dorothy Bedford. Das war Mutters erster Mann.« Verwirrt starrte Audrey das Papier an.

 

»Aber sie sagte doch immer, du wärst älter, und in der Schule warst du doch auch immer eine Klasse höher als ich! Wenn das wahr ist, dann ist mein Vater -«

 

»Ganz recht, Liebling, dein Vater sitzt nicht im Gefängnis«, erwiderte Dora leise und schlug die Augen nieder. »Ich wollte es nicht wahrhaben, aber es ist mein Vater! Er war ein Amerikaner, der nach Südafrika kam und Mutter heiratete, als du kaum vier Wochen alt warst.«

 

»Wie sonderbar!« murmelte Audrey. »Ich soll plötzlich nicht mehr Audrey sein? Und wir heißen beide Dorothy –?« Sie zuckte plötzlich zusammen und sprang auf. »Aber ich kann beweisen, daß ich die jüngere bin!« rief sie triumphierend. »Mutter hat mir ja selbst gesagt, wo ich getauft worden bin – in einer Kapelle in Rosebank, in Südafrika!«

 

Als Dora ihre Schwester wieder zur Haustür gebracht hatte und ins Wohnzimmer zurückkehrte, kam ihr Mann mit bleichem Gesicht aus dem Nebenraum herein.

 

Sie sah seine entstellten Züge und fuhr entsetzt zurück.

 

»Martin – du willst doch nicht etwa – ?«

 

Er nickte. Ein Leben stand zwischen ihm und traumhaftem Reichtum. Sein Entschluß war gefaßt.

 

 

Mr. Willitt fühlte sich in Dan Torringtons Gegenwart immer befangen. Auch jetzt verursachte ihm der forschende Blick des alten Mannes wieder Unbehagen. Torrington lehnte mit einer Zigarette im Mund am Kamin.

 

»Ich habe volles Vertrauen zu Stornier«, sagte er lebhaft, »aber ein junges Mädchen als Sekretärin ist nichts für mich. Sie würde mir auf die Nerven fallen! Wer ist sie denn überhaupt?«

 

»Es handelt sich um die junge Dame, die bei Malpas angestellt war.«

 

»Doch nicht die Freundin von Captain Shannon?«

 

»Jawohl.«

 

Torrington rieb sein Kinn.

 

»Und Shannon wünscht es?«

 

»Er weiß gar nichts davon. Der Gedanke stammt von Mr. Stormer. Um die Wahrheit zu sagen –«

 

»Aha!« bemerkte der alte Herr trocken. »Also endlich die Wahrheit! Na, lassen Sie hören.«

 

»Sie ist bei uns angestellt, und wir möchten jemand in Ihrer Nähe haben – für alle Fälle.«

 

»Ist sie eine so tüchtige Dame?« lachte Torrington. »Nun gut, schicken Sie mir sie heute nachmittag einmal her. Ansehen kann ich sie mir ja. Wie heißt sie denn?«

 

»Audrey Bedford.«

 

Der Name sagte Torrington nichts.

 

»Also um drei«, erwiderte er.

 

»Sie ist hier im Hotel. Würden Sie –«

 

»Was, Sie haben sie gleich mitgebracht?«

 

»Sie wohnt hier. Wir – wir hatten sie nämlich beauftragt, Ihnen ihre Aufmerksamkeit zu widmen – «

 

Torrington lächelte belustigt.

 

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, möchte ich fast glauben, daß ich alle Hände voll zu tun haben werde, um sie zu beschützen«, sagte er. »Aber mag sie kommen!«

 

Willitt ging hinaus und kehrte gleich darauf mit Audrey zurück.

 

Torrington umfaßte sie mit einem raschen Blick.

 

»Etwas weniger Detektivhaftes habe ich noch nie gesehen«, meinte er trocken.

 

»Ich komme mir auch nicht im geringsten wie ein Detektiv vor«, entgegnete sie lachend, als er ihre Hand nahm. »Mr. Willitt sagte mir, daß Sie mich als Sekretärin anzustellen wünschten?«

 

»Mr. Willitt übertreibt«, erwiderte er gutmütig. »Ich wünsche durchaus nicht, Sie als Sekretärin zu haben, aber ich fürchte, daß ich Sie wider Willen bitten muß, diese Stellung anzunehmen. Sind Sie eine gewandte Sekretärin?«

 

»Nein, leider nicht«, gestand sie bedrückt.

 

»Um so besser!« Sein Lächeln wirkte ansteckend. »Das Zusammensein mit einer gewandten Sekretärin könnte ich wohl kaum ertragen – befähigte Menschen wirken entsetzlich bedrückend. Jedenfalls werden Sie nicht heimlich an meine Briefe gehen und sie lesen und photographieren. Und ich kann mein Geld sicher auch herumliegen lassen, ohne etwas davon zu verlieren. Es ist gut, Mr. Willitt, ich werde alles Nähere mit dieser Dame besprechen.«

 

Er fühlte sich seltsam zu ihr hingezogen.

 

»Pflichten werden Sie kaum haben«, erklärte er scherzend, »und Ihr Dienst beginnt erst, wenn ich wirklich Ihrer Hilfe bedarf. Ich glaube aber, dieser Augenblick wird wohl nie kommen. Ich erinnere mich Ihrer jetzt. Sie sind im vergangenen Jahr in Schwierigkeiten gekommen.«

 

Dieser grauenvolle Diamantenraub! Würde er niemals in Vergessenheit geraten?

 

»Ihre Schwester ist eine wenig erfreuliche Erscheinung – ach, verzeihen Sie, wenn ich Sie verletzt habe!«

 

»Sie ist nicht so schlimm, wie man allgemein annimmt.«

 

»Die Heirat mit Martin Elton war ihr Verderben. Den Herrn kenne ich besser, als Sie ahnen. Sie haben doch für Malpas gearbeitet? Ein sonderbarer Kauz!«

 

»Ja, sehr sonderbar!« bestätigte sie mit Nachdruck.

 

»Wissen Sie, daß er steckbrieflich verfolgt wird?«

 

»Ich dachte es mir. Er ist ein Ungeheuer in Menschengestalt!«

 

Ein leises Lächeln glitt über Torringtons Gesicht.

 

»Das mag wohl sein. Gestern abend haben Sie wohl einen tüchtigen Schrecken gehabt? Sie waren doch dabei, als Shannon die Diamanten gestohlen wurden?«

 

Sie schaute ihn verblüfft an.

 

»Steht das denn in den Zeitungen?«

 

»Nein, nur in meiner Privatzeitung. Haben Sie die Steine gesehen? Wunderhübsche, kleine, gelbe Dinger. Sie gehören mir.«

 

Audrey war sprachlos, als er in gleichgültigem Ton diese Feststellung machte.

 

»Ja, sie gehören – oder vielmehr, sie gehörten mir. Jeder Stein trägt das Siegel der Hallam & Coold Mine. Sie können es Shannon mitteilen, wenn Sie ihn sehen. Aber vermutlich weiß er es schon.«

 

Sein Blick fiel plötzlich auf ihre Füße, die er solange betrachtete, daß sie sich unbehaglich zu fühlen begann.

 

»Bei nassem Wetter tut es etwas weh?« fragte er schließlich.

 

»Ja, ein wenig«, entfuhr es ihr, aber dann hielt sie ein. »Was meinen Sie damit – wie konnten Sie wissen?« erwiderte sie aufs höchste überrascht.

 

Er lachte, bis ihm die Tränen in die Augen traten.

 

»Verzeihen Sie mir«, bat er. »Ich bin nur ein neugieriger, alter Mann.« Er schob ihr ein Paket Briefe hin und deutete auf den Schreibtisch. »Bitte, beantworten Sie die Sachen.«

 

»Würden Sie mir bitte sagen, in welcher Art –«

 

»Das ist überflüssig. An Leute, die Geld haben wollen, schreiben Sie ›Nein‹. Leuten, die mich sprechen wollen, erklären Sie bedauernd, daß ich mich in Paris aufhielte. Und für Journalisten bin ich ein für allemal soeben gestorben.«

 

Er nahm ein zerknülltes Schreiben aus der Tasche.

 

»Hier ist allerdings einer, der besonders beantwortet werden muß«, fuhr er fort, ohne ihr den Bogen zu geben. »Bitte, schreiben Sie: ›Am nächsten Mittwoch geht ein Schiff nach Südamerika ab. Ich biete Ihnen fünfhundert Pfund und freie Überfahrt. Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, gehen Sie auf mein Angebot ein.‹

 

Audrey stenographierte hastig.

 

»Und die Adresse?« fragte sie.

 

»Mr. William Stanford, Portman Square 552«, erwiderte Torrington und warf einen zerstreuten Blick zur Decke.

 

Kapitel 4

 

4

 

Lacy Marshalt hatte einst als Senator dem Gesetzgebenden Rat von Südafrika angehört und führte seitdem zur größten Belustigung seines Kammerdieners Tonger den Titel Honourable, »der Ehrenwerte«.

 

An einem trüben Morgen stand er am Fenster und starrte verdrießlich in den Regen hinaus, als Tonger die Post hereinbrachte. Er griff nach einem blauen Umschlag, riß ihn auf und las:

 

»Alles in Ordnung. Es geht zu Ende mit ihm.«

 

»Schick ihm zwanzig Pfund!« sagte er und warf Tonger den Brief zu.

 

»Ob der wirklich aus Matjesfontein kommt?« meinte der Diener nachdenklich, nachdem er die Mitteilung auch gelesen hatte.

 

»Hast du den Poststempel nicht gesehen?«

 

»Hm, ja! Hören Sie mal, Lacy, wer ist eigentlich der Kerl, der nebenan wohnt? Malpas heißt er. Gestern sprach ich mit einem Polizisten, und der sagte, der Kerl müßte nicht richtig im Kopf sein. Wohnt ganz allein und macht alle Hausarbeit selbst. Wer kann das nur sein?«

 

»Du scheinst ja schon alles zu wissen – was fragst du mich noch?«

 

»Wenn er es nun wäre?«

 

»Mach, daß du hinauskommst, du Esel!« fuhr ihn Marshalt an.

 

»Der Privatdetektiv, den Sie bestellt haben, wartet draußen«, erwiderte Tonger gleichgültig.

 

Lacy stieß einen Fluch aus.

 

»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Jeden Tag wirst du dümmer. Laß das blöde Grinsen und bring den Mann herein!«

 

Der schäbig aussehende Detektiv, der hereintrat, überreichte Lacy ein Photo.

 

»Ich habe sie gefunden und rasch diese Aufnahme von ihr gemacht. Das ist sie – sie heißt Audrey Bedford. Ihre Mutter ist tot – seit fünf Jahren. Aber auch von der habe ich ein Bild – auf einer Gruppenaufnahme.« Er wickelte ein größeres Blatt aus, das ihm Lacy schnell aus der Hand nahm.

 

»Mein Gott! Ja, gleich als ich das Mädchen sah, hatte ich ein Gefühl –«

 

»Sie kennen sie also, Mr. Marshalt?«

 

»Nein! Was treibt sie? Lebt sie allein?«

 

»Ja, bis jetzt. Aber vor kurzem hat sie ihr Haus verkaufen müssen. Sie soll mittellos sein und ist gestern nach London abgereist.«

 

»Bildhübsch, nicht wahr?«

 

»Ja, ungewöhnlich schön. Leider hatte ich das Pech, daß Captain Shannon im Gasthof von Fontwell abstieg, um einen Reifen auszuwechseln.«

 

»Wer ist Shannon?«

 

»Ein hohes Tier von Scotland Yard. Aber was ich in Fontwell vorhatte, hab ich ihm nicht verraten. Er hat mich aber fürchterlich ausgeschimpft, weil ich mich für einen Kriminalbeamten ausgegeben hatte.«

 

Lacy schien kaum zuzuhören.

 

»Verschaffen Sie mir vor allem Miß Bedfords Adresse, und versuchen Sie, mit ihr bekannt zu werden. Geben Sie sich für einen Geschäftsmann aus – borgen Sie ihr Geld – aber hüten Sie sich, sie ängstlich zu machen!« Er nahm ein paar Banknoten aus seiner Brieftasche und drückte sie dem Mann in die ausgestreckte Hand. »Bringen Sie das Mädel einmal zum Abendessen her«, fügte er leise hinzu.

 

Der Detektiv machte große Augen und schüttelte den Kopf.

 

»So was liegt mir nicht«, murmelte er.

 

»Ich will nur mit ihr sprechen. Sie bekommen fünfhundert.«

 

»Fünfhundert? Na, ich will sehen …«

 

Als der Mann gegangen war, trat Lacy ans Fenster.

 

Er rühmte sich, keine Furcht zu kennen. Rücksichts- und reuelos hatte er Menschenherzen zertreten, um an sein Ziel zu kommen. In drei Erdteilen fluchten Frauen seinem Andenken, brüteten Männer Rache. Er aber fürchtete nichts. Er haßte Dan Torrington und wußte nicht, daß Haß nur aus Furcht entsteht.

 

Kapitel 31

 

31

 

Torringtons Wohnung im Ritz-Carlton wies bei näherer Betrachtung allerlei Eigentümlichkeiten auf, die Audrey erst bemerkte, als ihr neuer Chef nachmittags ausging und sie in seinen Zimmern allein ließ. Alle Türen waren zum Beispiel mit Riegeln versehen, und als sie ein Fenster öffnete, um einen Gardinenbrand in einem gegenüberliegenden Haus zu beobachten, erschrak sie heftig, denn plötzlich stürzten drei Männer im Laufschritt herein. Der eine war ein Agent von Stormer, den sie kannte, die beiden anderen waren ihr fremd.

 

»Tut mir leid, Sie erschreckt zu haben«, sagte der Agent. »Wir hätten Ihnen mitteilen sollen, daß Sie keine Fenster öffnen dürfen.« Er schickte seine Begleiter hinaus und schloß das Fenster sorgfältig. »Sie haben den Alarmapparat berührt. Sehen konnten Sie ihn nicht, weil er durch das Drehen des Griffs in Gang gesetzt wird. Es ist nicht nötig, hier die Fenster aufzumachen, denn die Zimmer werden durch eine besondere Vorrichtung ventiliert. Wenn Sie mitkommen wollen, werde ich Ihnen noch etwas zeigen.«

 

Er führte sie in Torringtons merkwürdig einfach eingerichtetes Schlafzimmer, in dem sonderbarerweise ein zweischläfriges Bett stand.

 

»Auf dieser Seite schläft er, und wenn er den Kopf einmal zufällig auf dieses Kissen legt –« er hob es behutsam auf, und sie sah den fadendünnen Draht, der unter dem Bett verschwand. »Der geringste Druck bringt sofort die Nachtwachleute herbei.«

 

»Aber ist Mr. Torrington denn wirklich in so großer Gefahr?«

 

»Man kann nie wissen«, wich der Mann aus. –

 

Im Lauf des Nachmittags fand Audrey Zeit, einige Zeilen an ihre Schwester zu schreiben:

 

 

Liebe Dora,

wir waren wohl beide etwas kindisch. Nenne mich meinetwegen ruhig Dorothy, oder wie Du sonst willst, und auch älter als Du will ich gern sein – als Oberhaupt der Familie fühle ich bereits ganz mütterliche Regungen Dir gegenüber! Auf Wiedersehen.

 

Dorothy.«

 

 

Dora gab den Brief an Martin weiter, nachdem sie ihn gelesen hatte.

 

»Die Sache läßt sich nicht durchführen. Ein Kabeltelegramm würde ja hinreichen, um Audreys Behauptung zu bestätigen.«

 

»Aber wir müssen es doch versuchen«, entgegnete er. »Die Bank drängt schon, weil ich mein Konto weit überzogen habe. Ich sitze fürchterlich in der Patsche. Audrey muß verschwinden – irgendwohin nach dem Kontinent.«

 

»Und Shannon?«

 

»Ach, Shannon! Wie ich mit Slick fertig werde, macht mir mehr Sorgen. Er weiß zuviel! Nicht nur in bezug auf Audrey. Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem ich Marshalt erschießen wollte? Ich war gerade auf sein Dach geklettert, als unten der Spektakel losging. Am anderen Ende des Daches stand ein Detektiv. Er sah weder mich noch den Mann, der an dem Strick nach oben kam, das Oberlichtfenster bei Malpas öffnete und hineinstieg. Aber ich sah ihn, und ich machte, daß ich fortkam!«

 

»Dann hast du also den Mörder gesehen?« flüsterte sie atemlos.

 

»Ich sah noch mehr. Als er in die kleine Vorratskammer geklettert war, steckte er eine Kerze an und holte eine Perücke mit falscher Nase und falschem Kinn aus der Tasche und legte sie an. Seine eigene Mutter hätte ihn nicht von Malpas unterscheiden können, nachdem er das Ding befestigt hatte!«

 

»Malpas!« stieß sie entsetzt hervor. »Wer war es denn?«

 

»Slick Smith«, erwiderte Martin.

 

 

Shannon hatte beschlossen, das Götzenbild aus Portman Square Nr. 551 entfernen und nach Scotland Yard überführen zu lassen.

 

»Nehmen Sie einen Mann in Zivil mit und lassen Sie die Leute von der Transportgesellschaft ein«, sagte er zu Steel. »Wenn wir das Ding hier haben, kann ich es von erfahrenen Mechanikern eingehend untersuchen lassen. Übrigens habe ich heute mit einem der Dienstmädchen bei Marshalt gesprochen. Sie erzählte mir, daß sich Marshalt wirklich sehr vor seinem Nachbar gefürchtet hat. Einmal war sie gerade im Zimmer, als es dreimal an die Wand klopfte. Marshalt soll halbtot vor Angst gewesen sein.«

 

»Die Aussage kann uns wohl auch nicht viel helfen«, meinte sein Assistent.

 

»O doch! Ich kann mir jetzt denken, wer der Schurke mit den zwei Gesichtern gewesen ist. Also, machen Sie sich an die Arbeit.«

 

Steel beeilte sich, den Auftrag auszuführen, aber er und sein Begleiter warteten vergeblich auf die zum Abtransport bestellten Leute, und als er die Firma anrufen wollte, stellte sich heraus, daß der Fernsprecher nicht in Ordnung war. Er schickte den Mann, der bei ihm war, zur nächsten Telephonzelle und ging inzwischen vor der offenen Haustür auf dem Gehsteig auf und ab. Seine Hand lag auf dem Revolver, den er in der Tasche trug, und er entfernte sich nur wenige Schritte von der mit einem Holzklotz aufgekeilten Tür.

 

Als er wieder einmal umkehrte, sah er eine wachsgelbe Hand hinter der Tür hervorkommen, die nach dem Holzklotz griff. Sofort riß er den Revolver heraus und rannte die Stufen hinauf. Der Klotz wurde zurückgezogen, und die Tür begann sich zu schließen. Als sie nur noch einen Zollbreit offenstand, warf er sich dagegen, aber von innen verstärkte jemand den Druck der Angeln durch sein Gewicht, und sie schnappte ein.

 

Einen Moment später kam Steels Begleiter zurück und meldete, daß Shannon am Nachmittag seinen Auftrag selbst widerrufen hätte.

 

»Das dachte ich mir doch«, brummte Steel grimmig. »Wir wollen mal sehen, was der Captain dazu sagt.«

 

Glücklicherweise meldete sich Shannon selbst auf den Anruf und nahm den Bericht entgegen.

 

»Ich habe natürlich keinen Gegenbefehl erteilt«, sagte er dann. »Wir wollen die Sache bis morgen aufschieben. Gehen Sie jetzt einmal nach hinten und sehen Sie zu, was dort vorgeht.«

 

Die beiden kamen der Aufforderung nach und näherten sich bereits dem Hoftor, als ein elegant gekleideter Herr herauskam.

 

»Slick Smith!« stieß Steel fast tonlos hervor. »Und er trägt gelbe Handschuhe!«

 

Slick Smith wirbelte ahnungslos seinen Spazierstock in der Luft herum und schlenderte gelassen davon. Als er Maida Vale erreicht hatte, blieb er vor einem der imposanten, prunkvollen Grevilleschen Mietshäuser stehen und trat durch einen der beiden vornehmen Eingänge in die behagliche Portierloge.

 

»Ich möchte Mr. Hill sprechen«, erklärte er mit strahlender Miene.

 

»Mr. Hill ist verreist. Kommen Sie wegen einer Wohnung?«

 

»Ja. Lady Kilferns Wohnung interessiert mich. Sie soll ja möbliert vermietet werden. Hier, bitte!« Er zog einen blauen Bogen aus der Tasche, den der Portier aufmerksam prüfte.

 

»Schön, da Lady Kilfern die Besichtigung gestattet, werde ich Sie hinauffahren.«

 

Beim Anblick der verhängten Fenster und zugedeckten Möbel schüttelte Smith den Kopf.

 

»Ach, die Wohnung liegt nach vorne? Schade, bei dem Straßenlärm kann ich nicht schlafen.«

 

»Nach hinten ist leider nichts frei.«

 

»Wer wohnt denn da?«

 

Sie waren an die Treppe zurückgegangen, und Smith deutete auf eine Tür hinter dem Aufzug. Während der Portier erklärte, daß ein Rechtsanwalt hier sein Zimmer hatte, schlenderte Slick den Gang entlang und blickte durch ein großes, nach hinten gelegenes Fenster hinaus.

 

»Dies würde mir passen«, meinte er. »Aha, auch eine Rettungsleiter. Ich bin sehr ängstlich wegen Feuersgefahr.«

 

Er lehnte sich hinaus und schaute auf den Hof hinunter. Dabei bemerkte er auch, daß die Eingangstür Nr.9 mit Patentschlössern versehen war, und daß ein furchtloser Mann von der Rettungsleiter aus das Flurfenster von Nr.9 erreichen konnte.

 

»Ich möchte mir so gern eine von diesen nach hinten gelegenen Wohnungen ansehen, aber das geht wohl nicht?« fragte er bekümmert.

 

»Nein. Ich habe zwar einen Hauptschlüssel, aber den darf ich nur bei Feuer oder Unfällen benützen.«

 

»Einen Hauptschlüssel?« wiederholte Mr. Smith verwundert. »Was ist denn das?«

 

Mit sichtlicher Genugtuung griff der Mann in die Tasche.

 

»Hier sehen Sie einen«, sagte er stolz.

 

Slick nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn interessiert.

 

»Wie merkwürdig!« rief er. »Sieht doch genau aus wie jeder andere Schlüssel? Wie funktioniert er denn?«

 

»Das kann ich Ihnen nicht erklären«, erwiderte der Portier ernst und steckte den Schlüssel wieder ein. Im selben Augenblick klingelte es am Aufzug.

 

»Entschuldigen Sie –« begann er, aber Slick hielt ihn am Arm fest.

 

»Können Sie nochmal zurückkommen?« fragte er drängend. »Ich möchte Ihre Ansicht über diese Wohnungen hören.«

 

»Ich bin gleich wieder hier.«

 

Als er zurückkehrte, stand Slick mit nachdenklicher Miene an derselben Stelle, wo er ihn verlassen hatte.

 

»Ja, wie ich Ihnen schon sagte, dieser Hauptschlüssel–« Er hielt plötzlich erschrocken inne. »Ich habe ihn verloren!« rief er. »Haben Sie nicht gesehen, daß ich ihn einsteckte?«

 

»Doch Sie haben ihn genommen… aber da liegt er ja!«

 

Slick deutete auf den Teppich.

 

»Gott sei Dank!« Der Portier atmete erleichtert auf. »Sie sollten mal oben aufs Dach gehen, da hat man eine wunderschöne Aussicht. Soll ich Sie hinauffahren?«

 

»Nein, ich gehe jetzt lieber«, meinte Slick Smith, als der Mann wieder durch die Fahrstuhlglocke nach unten gerufen wurde.

 

Sobald der Lift verschwunden war, eilte Slick auf die jetzt nur angelehnte Tür zu. Ein leiser Stoß genügte, um sie zu öffnen, denn während der kurzen Abwesenheit des Portiers hatte er sie aufgeschlossen, den Griff zurückgebunden und sie wieder zugezogen. Nun schob er den Sicherheitsriegel vor und eilte von einem Raum in den anderen. Im Schlafzimmer raffte er allerlei Gegenstände zusammen und ließ sie in seinen geräumigen Taschen verschwinden. Dann schlüpfte er in die Küche, untersuchte die Vorräte in der Speisekammer, roch an der Butter, prüfte den Inhalt einer Dose Kondensmilch und fühlte an das Brot, um festzustellen, wie alt es wäre. Nachdem er sich orientiert hatte, schlich er auf den Vorplatz zurück und lauschte. Eben ertönte wieder das Summen des Fahrstuhls. Slick bückte sich, hob den Deckel des Briefkastens und sah den Lift nach oben gleiten. Im nächsten Moment war er draußen und stand unten in der Halle, als der Portier wieder mit dem Fahrstuhl herunterkam.

 

»Vielleicht miete ich die Wohnung doch«, sagte er. »Aber zu diesem Zweck muß ich mich ja wohl an jemand anders wenden als an Sie?«

 

»Ja. Vielen Dank.« Der Mann steckte das fürstliche Trinkgeld ein, während Slick das Gebäude verließ und ein Mietauto heranwinkte.