1. Kapitel

1. Kapitel


Nur nicht die Nerven verlieren


Anthony Newton wurde im Weltkrieg mit sechzehn Jahren Soldat, und mit sechsundzwanzig war er ein armer Kerl, der von der Gunst anderer Leute abhing. Geduldig wartete er in unzähligen Büros und ließ die üblichen Fragen über sich ergehen, die fast überall die gleichen waren.


»Welche Geschäftspraxis hatten Sie bisher?«


»Welches Gehalt beanspruchen Sie?«


Außerdem sollte er noch viele andere, mehr oder weniger wichtige Fragen beantworten, die ihm klarmachten, daß die Erziehung in einer höheren Schule und tadellose Militärpapiere noch lange keine Anwartschaft auf irgendeine Stellung geben, von der man, wenn auch nur notdürftig, leben kann. Mit solchen Voraussetzungen läßt sich nur etwas erreichen, wenn man über große Geldsummen verfügt, um sich eine Teilhaberschaft, einen Sekretärposten oder eine lohnende Vertretung zu erwerben.


Immer wieder hörte Anthony denselben Bescheid.


»Wir haben leider im Augenblick keine Verwendung für Sie, Mr. Newton. Aber wenn Sie uns Ihre Adresse hierlassen wollen, werden wir Ihnen Mitteilung machen, sobald sich etwas für Sie bietet.«


Acht Jahre lang hatte sich nun Anthony Newton in allen möglichen Stellungen herumgeschlagen. Die Abfindungssumme, die er vom Militär erhalten hatte, steckte er in eine Geflügelfarm. Jeder weiß nun, daß es sehr einfach ist, auf diese Weise Geld zu verdienen, das heißt auf dem Papier und in der Theorie, in Wirklichkeit kommt es jedoch gewöhnlich ganz anders. Nach acht Jahren Mißerfolg ging er mit sich selbst zu Rate und entschied sich dann nüchtern für eine Art Räuberleben, und zwar ein solches, gegen das die Gesetzesparagraphen weniger anwendbar waren. Schon lange hatte er mit dem Gedanken gespielt, aber eines Morgens verwirklichte er seinen Plan.


Seine Wirtin, Mrs. Cranboyle, überreichte ihm gerade ihre Rechnung und die Kündigung für den Fall, daß er nicht sofort zahlte. An solche Rechnungen war er schon gewöhnt, aber die Kündigung war ihm neu. Er hatte zwar längst damit gerechnet, aber als sie nun tatsächlich kam, war er doch bestürzt.


Er schaute die Frau nachdenklich an, und ein unentschlossener Ausdruck lag auf seinem hübschen Gesicht. Aber für Mrs. Cranboyle, eine gedrungene, kräftige Frau mit harten Augen und großem, energischem Kinn, gab es keinerlei Zweifel über die Sachlage.


Anthony seufzte, und sein Blick wanderte von dem Gesicht seiner Wirtin über all die kleinen Gegenstände des einfachen Zimmers hin, die Bettstelle, die sentimentalen religiösen Bilder an den Wänden, die beiden Porzellanhunde auf dem Kamin, den einfachen Teppich, den blankgeputzten Messingbeschlag am Feuerrost. Dann sah er wieder Mrs. Cranboyle an.


»Sie können doch nicht erwarten, daß ich Sie noch länger hier wohnen lasse, Mr. Newton«, sagte sie mit Nachdruck. Und es war nicht das erstemal, daß er diese Worte hörte.


»Still!« sagte Anthony. »Ich will nachdenken.«


Mrs. Cranboyle zuckte die Achseln.


»Ich habe sehr hart arbeiten müssen, um das zusammenzubringen, was ich habe«, fuhr sie fort, »und ein junger Mann wie Sie sollte etwas Besseres tun als einer armen Witwe auf der Tasche liegen, die nicht weiß, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten soll …«


»Sie haben siebenhundertfünfzig Pfund in Kriegsanleihe, zweihundertfünfzig Pfund in Aktien und ein Bankdepot von ungefähr fünfhundert Pfund«, erwiderte Anthony ruhig.


Mrs. Cranboyle war starr vor Staunen.


»Aber wie … was …«, stammelte sie.


»Ich habe mir neulich Ihr Bankbuch angesehen«, erklärte Anthony, ohne sich im mindesten zu genieren. »Sie haben es im Wohnzimmer liegenlassen – ich habe mir ganz nett die Zeit damit vertrieben.«


»Na, dazu gehört aber doch eine Dreistigkeit sondergleichen«, rief sie atemlos. »Da hört doch alles auf! Sie räumen noch heute das Zimmer!«


»Wie Sie wollen. Ich werde mir eine andere Wohnung suchen und jemand schicken, der meinen Koffer abholt.«


»Geben Sie dem Mann nur auch die Miete für sechs Wochen mit«, sagte Mrs. Cranboyle ärgerlich, »sonst brauchen Sie sich gar nicht erst die Mühe zu machen, nach Ihren Sachen zu schicken. Wenn Sie glauben, daß ich hier meine Zimmer an Spieler und Taugenichtse umsonst –«


Anthony machte eine abwehrende Handbewegung.


»Vergessen Sie nicht, daß Sie hier zu einem Mann sprechen, der für Ihr Vaterland gekämpft und die Schrecken des Krieges mitgemacht hat«, sagte er stolz. »Sie haben hier ruhig in Ihrem Bett geschlafen, während wir in Schnee und Regen, in Wind, Wetter und Nebel im Schützengraben ausgehalten haben. Denken Sie immer daran, Mrs. Cranboyle! Sie können Leuten wie mir niemals Dank genug wissen.« Er schaute sie scharf an. »Wo würden Sie jetzt sein, wenn die Deutschen gesiegt hätten?«


Mrs. Cranboyle war das Schimpfen vergangen. Sie wollte ihm wieder Vorhaltungen machen, wie er sein Geld vertan habe, aber er sparte ihr die Mühe.


»Sie haben mir eben gesagt, daß ich spiele – nun ja, ich habe im Rennen gesetzt. Das wissen Sie aber nur, weil Sie in meinen Papieren herumgestöbert haben. Ihre Neugierde wird Ihnen noch einmal böse mitspielen.«


Er schaute noch einmal zum Fenster hinaus, dann nahm er seinen Hut. Seine Wirtin konnte nichts weiter sagen; seine durchdringenden Blicke hatten sie vollständig eingeschüchtert.


»Sie können mir wenigstens noch einen Dienst erweisen, Mrs. Cranboyle. Leihen Sie mir zehn Schilling, ich werde sie Ihnen in einigen Stunden zurückzahlen.«


Nun fand sie plötzlich ihre Sprache wieder.


»Von mir bekommen Sie keinen Penny!«


»Das ist nun der Dank dafür, daß man das Vaterland verteidigt hat«, murmelte Anthony. »Solche Menschen wie Sie machen aus uns früheren Soldaten Anarchisten.«


»Wenn Sie mich hier bedrohen, schicke ich zur Polizei«, schrie Mrs. Cranboyle.


Anthony ging noch einmal zum Waschtisch zurück, bürstete sein Haar sorgfältig und nahm den Hut wieder auf.


»Ich werde heute nachmittag nach meinem Koffer schicken«, sagte er einfach.


Sie schimpfte noch hinter ihm her, als er langsam die Treppe hinunterging. Er wußte, daß es nun kritisch wurde.


Es bedrückte ihn nicht, daß er mit drei Pennies in der Tasche den harten Kampf ums Dasein aufnehmen mußte. Er ging fröhlich und guter Dinge in den hellen Sonnenschein des Tages hinaus und wanderte durch die Straßen der Vorstadt, als ob er nicht die geringsten Sorgen hätte.


Im Kriege war er Leutnant einer Maschinengewehrabteilung gewesen, später Sekretär einer größeren Firma. Aber er trug dem Chef, der ihm gekündigt hatte, keinen Groll nach. Er wußte, daß alle Erwerbsquellen für ihn im Augenblick versiegt waren, und er hatte es satt, sich unter der wartenden Menschenmenge in den Arbeitsbüros herumzudrücken. Die vielen Drehorgelspieler, die mit Kreide ihre militärischen Verdienste auf Schilder geschrieben hatten, die maskierten Sänger aus der Aristokratie, die in den Höfen und Straßen der Vorstädte herumzogen und sich auf diese romantische Weise einen kargen Lebensunterhalt erwarben, die früheren Offiziere, die schöne Aquarellbilder an den Straßenecken im Westen verkauften, und die aggressiveren Leute, die Gastrollen in Banken mit dem Revolver in der Hand gaben, sie alle bewiesen zur Genüge, daß eine höhere Schulbildung und eine militärische Laufbahn nicht ausreichten, Geld zu verdienen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.


Anthony stieg auf die nächste Straßenbahn, und als er seinen Fahrschein gelöst hatte, blieb ihm nur noch ein Penny übrig. Er war jetzt mehr als je davon überzeugt, daß seine bisherige Art zu leben keinen Zweck hatte.


Er ging in die Nationalgalerie, wo ihm früher schon immer gute Gedanken gekommen waren. Aber als er um die Mittagszeit wieder auf die Straße trat, war ihm noch nichts Neues eingefallen. Er hatte Hunger, denn er war gesund und jung und hatte zum Frühstück nur zwei harte, dünn mit Butter bestrichene Brotschnitten und eine Tasse Tee bei Mrs. Cranboyle zu sich genommen.


Ein Polizist sah ihn an der Ecke des Trafalger Square stehen und glaubte, irgendeinen Fremden vom Lande oder aus den Kolonien vor sich zu haben, der unentschlossen schien und anscheinend nicht wußte, wohin er gehen sollte. Anthony trug stets große, graue, breitrandige Filzhüte und legte Wert auf eine gute Kleidung.


»Kann ich Ihnen irgendeine Auskunft geben?« fragte der Polizist.


»Ich möchte gern wissen, wo ich hier gut zu Mittag essen könnte«, entgegnete Anthony wahrheitsgetreu.


»Sie sollten in das Pallaterium gehen. Gestern hat mir noch ein Herr gesagt, daß es das beste Lokal in London sei.«


»Danke schön«, erwiderte Anthony liebenswürdig. Es tat ihm mehr leid, daß er diesem freundlichen Mann kein reichliches Trinkgeld geben konnte, als daß er jetzt nicht einmal mehr die nötigen Mittel hatte, ein Essen zu bezahlen. Aber trotzdem ging er in das Pallaterium, denn er hatte einen festen Glauben an sich und vertraute seinem guten Stern.


Sorglos betrat er den großen Vorraum, in dem sich viele Menschen aufhielten. Die meisten warteten auf Gäste oder auf Leute, die sie zu Tisch geladen hatten. Er setzte sich in einen bequemen, tiefen Sessel und streckte die Beine behaglich von sich. Aus der Flügeltür des Restaurants drang der Duft von Braten und guten Speisen zu ihm herüber. Er beobachtete die Menschen und sah, wie sich die einen entschuldigten, daß sie so spät kamen, und wie die anderen ruhig und geduldig warteten. Verwandte und Bekannte trafen sich hier und gingen durch die Glastüren in kleinen Gruppen in das Paradies. Aber es war niemand unter all den Leuten, den er kannte.


Jetzt kamen zwei untersetzte Herren und zwei Damen herein. Sie waren sehr elegant gekleidet und hatten sicherlich die Nacht nicht auf einem harten Lager verbracht und darüber nachgedacht, wie sie sich am nächsten Tage ernähren sollten. Anthony schaute ihnen nach, als auch sie in dem Speisesaal verschwanden, und seufzte.


»Wenn ich doch nur …« begann er, aber plötzlich kam ihm ein guter Gedanke.


Er wartete noch zehn Minuten, dann erhob er sich langsam, gab seinen Hut in der Garderobe ab und trat in das Lokal. Er sah die vier Leute an einem Tisch am Ende des großen Raumes sitzen. Neben ihnen war noch ein kleiner Tisch unbesetzt. Der ältere der beiden Herren schaute plötzlich auf und sah einen gutgekleideten Herrn von achtunggebietender Größe vor sich stehen.


»Bitte, womit kann ich Ihnen dienen?«


Anthony beugte sich zu ihm nieder und sprach mit leiser Stimme zu ihm, aber doch so, daß alle anderen es auch hören konnten.


»Lord Rothside läßt sagen, es tue ihm sehr leid, daß er nicht hierherkommen könne. Er fragt an, ob Sie nicht statt dessen am Berkeley Square mit ihm essen wollten?«


»Wie meinen Sie?« fragte der Herr verwundert.


»Sind Sie nicht Mr. Steiner?« erwiderte Anthony ganz erstaunt, als ob ihm plötzlich klar würde, daß er sich getäuscht habe.


»Nein«, entgegnete der etwas korpulente Herr. »Mein Name ist Goldheim«, sagte er dann lächelnd. »Ich glaube, Sie irren sich.«


»Das tut mir sehr leid, aber ich habe Mr. Steiner noch nie gesehen. Ich war nur hierhergeschickt, weil er hier speisen wollte und …« er brach verwirrt ab.


»Bitte sehr, es macht gar nichts«, sagte der andere geschmeichelt. »Ich kenne leider Mr. Steiner nicht, sonst würde ich Ihnen den Herrn zeigen.« Er wandte sich an seine Tischgenossen. »Man hat mich für einen Freund von Lord Rothside gehalten.« Man merkte, wie angenehm ihm dies war.


»Dann muß ich eben noch warten, bis er kommt«, meinte Anthony entschuldigend. »Es tut mir wirklich unendlich leid, daß ich Sie gestört habe.«


Er ließ sich am nächsten Tisch nieder.


»Ich möchte noch nichts bestellen, ich warte noch auf einen Herrn«, sagte er, als der Kellner sich nach seinen Wünschen erkundigte.


Am Nachbartisch aß man weiter. Anthony schaute einige Zeit verzweifelt und ungeduldig nach der Tür. Plötzlich wandte sich einer der Herren vom Nebentisch an ihn.


»Mr. Steiner scheint wohl noch nicht zu kommen?« fragte er unnötigerweise.


Anthony schüttelte den Kopf.


»Ich will warten, aber es ist schrecklich. Ich komme dadurch ganz um mein Essen.«


»Würden Sie nicht bei uns Platz nehmen, Mr. …?«


»Mein Name ist Newton«, sagte Anthony. »Aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«


Aber er nahm doch sofort Platz, und fünf Minuten später hatte er schon Gelegenheit, den herrlichen alten Rheinwein zu loben.


»Sie sind wohl der Sekretär von Lord Rothside?«


»Ich bin nicht gerade sein Sekretär«, sagte Anthony mit einem bescheidenen Lächeln und verstand es, dabei den Eindruck hervorzurufen, als ob diese Frage mit seiner Stellung nicht recht in Einklang zu bringen sei, weil er einen weit höheren Rang einnahm. Ungefähr so würde Napoleon in den Tagen des Direktoriums dreingeschaut haben, wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er ein Mitglied der Regierung sei.


Die beiden älteren Damen sahen trotz ihrer Jahre sehr gut aus. Sie hatten viel Sinn für Humor, und Anthony wußte sie mit den kleinen Geschichten, die er zum besten gab, glänzend zu unterhalten. Die ganze Tafelrunde amüsierte sich köstlich. Als der Kaffee serviert wurde, hatte Anthony seinen Platz in der Gesellschaft aufs beste behauptet. Mit der Miene eines Kenners und Genießers rauchte er eine der teuersten Zigarren Goldheims.


»Es ist ganz merkwürdig, wie man mitunter in eine so liebenswürdige Gesellschaft gerät«, sagte er nachdenklich. »Ich werde niemals vergessen, wie ich das erstemal mit dem Herzog von Minford speiste. Ich kam auch ganz zufällig und unerwartet mit ihm zusammen. Ich hatte ihn vorher nie getroffen und war ihm nicht vorgestellt worden.«


Diesmal sprach Anthony die volle Wahrheit, denn er hatte den Herzog in einem Granattrichter an der Somme kennengelernt, und sie hatten zusammen etwas Keks und Schokolade geknabbert.


»Sind Sie in der City tätig, Mr. Newton?«


»Auch das«, sagte Anthony, ohne näher darauf einzugehen. »Ja, ich bin auch in der City tätig. Ich bin aber erst seit kurzem aus Übersee zurückgekehrt.«


Mr. Goldheim lächelte schlau.


»Da haben Sie wohl viel Geld verdient, wie?«


»O ja, ich habe ganz gut verdient.«


»Sie kommen wohl aus Südafrika?«


Nun war es an Anthony, zu lächeln, und er tat es so geheimnisvoll, daß es ebenso Argentinien, Chikago oder Klondyke bedeuten konnte.


»Ich kenne London eigentlich noch nicht sehr gut«, gestand er dann.


Die ganze Zeit über wunderte er sich, wer wohl die drei ruhigen Herren am nächsten Tisch sein mochten. Sie sprachen wenig, schienen aber aufmerksam ihrer Unterhaltung zuzuhören. Als er zum erstenmal hinüberschaute, kam ihm zum Bewußtstein, daß sie jedes seiner Worte gehört haben mußten, und er fühlte sich einen Augenblick lang nicht recht wohl. Aber er konnte sich ja auch täuschen. Der Mann mit der gesunden, roten Gesichtsfarbe schien doch ganz in sein Essen vertieft zu sein. Es mochten reiche Leute vom Lande sein, die einen Tag in London zubrachten, vielleicht auch reiche Mühlenbesitzer aus dem Norden.


Bald darauf winkte Mr. Goldheim dem Kellner, um zu bezahlen. Er gab ein außergewöhnlich großes Trinkgeld (Anthony zuckte es in der Hand, eins der Fünfschillingstücke wegzunehmen). Dann gingen sie alle zurück zum Vestibül.


Anthony gab als erster seinen Garderobenzettel ab, und die Garderobiere nahm das Trinkgeld Mr. Goldheims für die ganze Gesellschaft.


»Können wir Sie irgendwo hinbringen?«


»Wenn Sie so liebenswürdig wären, mich bei Ritz-Carlton abzusetzen?« sagte Anthony zögernd. »Das heißt, nur wenn es auf Ihrem Wege liegt.«


Es traf sich gut, daß die anderen den Nachmittag in einem Theater zubringen wollten, das ganz in der Nähe dieses palastartigen Hotels lag. Anthony blieb noch einen Augenblick im Eingang stehen und winkte seinen liebenswürdigen Gastgebern zum Abschied zu, dann trat er in die Empfangshalle.


»Ich möchte ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer haben.«


Er hatte nicht die geringste Absicht gehabt, in das Ritz-Carlton oder irgendein anderes Hotel überzusiedeln, aber im Augenblick kam ihm der Gedanke, daß dies das richtige Hauptquartier für einen Briganten sei, der der ganzen Gesellschaft den Krieg erklärt hatte.


»Ich werde mein Gepäck später schicken. Aber wohlverstanden, ich muß Zimmer haben, von denen aus man die Straße übersehen kann.«


»Darf ich um Ihren Namen bitten?«


Anthony zeichnete sich in bester Stimmung in das Hotelbuch ein, und bevor der Portier erwähnen konnte, daß bei Ritz-Carlton Zimmer für Leute ohne Gepäck nicht reserviert werden, wenn sie nicht eine große Anzahlung machten, fragte Anthony schon, wo die nächste Depositenkasse der Hardware Trustbank von New York sei.


»Wenn Sie herauskommen, gleich rechts, mein Herr. Dann müssen Sie noch einmal nach rechts abbiegen und die Geschäftsräume liegen vor Ihnen. Es ist aber gebräuchlich, daß man …«


Aber in diesem Augenblick kam eine willkommene Unterbrechung.


Jemand klopfte Anthony auf die Schulter. Er wandte sich um und sah in das Gesicht eines großen, liebenswürdig dreinschauenden Herrn, dessen dunkle Gesichtsfarbe darauf schließen ließ, daß er sein Leben in der frischen Luft verbrachte.


»Sie sind doch Mr. Newton?« fragte er erwartungsvoll.


Anthony trat einen Schritt zurück und streckte dann die Hand aus.


»Ich kann mich wirklich nicht auf Ihren Namen besinnen, aber ich kenne Sie doch so gut?«


»John Frenchan, von der Firma Frenchan und Carter. Sie erinnern sich doch an unser Geschäft in Kapstadt?«


»Aber selbstverständlich«, sagte Anthony begeistert und schüttelte die Hand des anderen kräftig. »Daß ich das vergessen konnte! Wo haben wir uns doch gleich kennengelernt? Aber jetzt weiß ich Ihren Namen. Er war mir früher so geläufig wie mein eigener.«


Er wandte sich von dem Tisch ab, und der Hotelangestellte wagte nicht, die beiden in ihrer Unterhaltung zu stören. Er schrieb mechanisch eine Zimmernummer hinter Mr. Newtons Namen, aber in seine Privatliste trug er ein: »Kein Gepäck.« Und dahinter setzte er ein Fragezeichen, das auch mehr als berechtigt war.


Anthonys neuer Freund führte ihn in den Palmengarten, wo die Herrschaften bei Kaffee und Zigarren saßen. Ein Kellner trat heran und setzte Stühle für sie zurecht.


»Sie haben ja schon gespeist – darf ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?« fragte Mr. Frenchan. »Mit welchem Schiff sind Sie denn herübergekommen?«


»Mit der Balmoral Castle«, antwortete Anthony.


In seiner früheren Stellung hatte er viel mit Schiffen und Schiffsverbindungen zu tun gehabt, und es waren ihm nicht nur die Dampfer der Castle Line geläufig, sondern auch der Name der bekannten Firma Frenchan und Carter, die zu den größten Importeuren von landwirtschaftlichen Maschinen in Kapstadt gehörte. In der Zeitung hatte er gelesen, wann die Balmoral Castle angekommen war.


»Ich habe Sie schon im Pallaterium erkannt«, sagte Frenchan. »Ich war meiner Sache ganz gewiß.«


»Wie?« fragte Anthony und entdeckte plötzlich, daß dieser Mann einer der drei Herren war, von denen er sich während des Mittagessens beobachtet geglaubt hatte. »Aber natürlich, ich habe Sie auch erkannt, ich wußte nur nicht, wo ich Sie unterbringen sollte.«


»Ich glaube, Sie haben auch viel Geld in Südafrika verdient?« Mr. Frenchan schien nach dem Ton seiner Stimme mit dem Erwerb seines eigenen großen Vermögens nicht recht zufrieden zu sein. »Es ist doch so leicht, Geld zu verdienen. Aber ich muß sagen, ich habe mich wohler gefühlt, als ich nur ein Pfund in der Woche hatte. Geld macht nicht glücklich!«


Anthony, der noch niemals so viel Geld besessen hatte, um sich zu einer solchen Auffassung aufzuschwingen, war ein wenig betroffen.


»Ja, ich habe ungefähr zwanzigtausend Pfund verdient.« Er zuckte die Schultern, um anzudeuten, daß eine solche Summe eigentlich nicht recht als Geld bezeichnet werden könne. »Aber ich war ja auch nicht lange in Afrika.«


Mr. Frenchan sah ihn mit neuem Interesse an. Als einen Vertreter der Kapitalisten könnte man Mr. Newton gebrauchen, aber wenn er ein selbständiger Kapitalist war, eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten, Geschäfte mit ihm zu machen.


»Kennen Sie die Goldheims sehr gut? Ich sah, daß Sie mit ihnen speisten.«


»Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich sie sehr gut kenne«, entgegnete Anthony, der erkannte, daß er in diesem Augenblick nicht lügen durfte. »Ich habe sie eigentlich mehr durch Zufall kennengelernt.«


»Ein tüchtiger Geschäftsmann, dieser Goldheim.« Mr. Frenchan blickte nachdenklich auf seine Zigarre. »Er verdient sein Geld mit Petroleum. Der Mann ist eine Million wert, vielleicht auch zwei.«


»Sehen Sie einmal an!« Und um etwas zu sagen und auch zugleich einige nützliche Nachrichten zu sammeln, fragte Anthony: »Bleiben Sie lange in London?«


»Etwa drei bis vier Monate.« Mr. Frenchan machte ein unzufriedenes Gesicht. »Ich wäre überhaupt nicht hergekommen, wenn mein armer, verrückter Bruder nicht gestorben wäre.«


Anthony war gespannt, ob es die Armut oder die Verschrobenheit des verstorbenen Mr. Frenchan war, über die sich sein neuer Freund so aufregte. Sicherlich ärgerte er sich über eins von beiden, denn seine Züge verfinsterten sich.


»Ein Mann hat kein Recht«, explodierte er plötzlich, »die Mildtätigkeit bis zur Verrücktheit zu treiben. Wenn jemand sein Testament macht, soll er so über sein Vermögen disponieren, daß er seine Verwandten nicht lächerlich macht. Man soll sie beneiden, ja – aber nicht die Achseln über sie zucken.«


Anthony gab das ohne weiteres zu.


Mr. Frenchan sah entrüstet aus. Er schob seine Unterlippe vor und machte gerade keinen liebenswürdigen Eindruck.


»Wenn er tausend Pfund dem Waisenhaus, tausend Pfund einem Hospital in London und dann vielleicht noch zehntausend für ein Kinderheim hinterlassen hätte, würde niemand etwas dazu sagen. Persönlich bin ich auf das Geld meines Bruders überhaupt nicht angewiesen, ebensowenig meine Familie.«


Anthony entnahm dieser wegwerfenden Erklärung, daß der verstorbene Mr. Frenchan seinem Bruder überhaupt nichts hinterlassen hatte.


»Zu welcher Religion bekennen Sie sich eigentlich, Mr. Newton?« fragte Frenchan plötzlich und völlig unerwartet.


Anthony war einen Augenblick verdutzt.


»Ich gehöre zu den Altmethodisten«, sagte er dann. Wenn er überhaupt einer besonderen Kirche angehörte, so war es diese Sekte. Als Kind war er jeden Sonntagmorgen in ihre Kirche mitgenommen worden.


Der Eindruck, den diese Nachricht auf Mr. Frenchan machte, war überwältigend. Er lehnte sich weit in seinen Stuhl zurück und sah den jungen Mann lange groß an.


»Was für ein merkwürdiger Zufall«, sagte er dann langsam. »Sie sind der erste Altmethodist, dem ich in diesem Lande begegne.«


Anthony war sehr erstaunt. Er hatte niemals geglaubt, daß die Sekte, der er früher angehörte, einen solchen Eindruck hervorrufen könnte … und er dachte nun dankbar an die kleine Kapelle zurück, die er in seiner Jugend immer besucht hatte.


Mr. Frenchan erklärte dem jungen Mann, welche besondere Bewandtnis es damit hatte.


»Mein Bruder Walter war ein merkwürdiger Mensch. Ich will damit nicht sagen, daß der Altmethodismus eine merkwürdige Religion ist, aber mein Bruder ging in dieser Beziehung zu weit. Er beschäftigte zweitausend Leute in seinem Geschäft, aber er stellte nur Altmethodisten an. Es ist sicherlich eine gute Religion. Aber mein Bruder war so bigott, daß er alle anderen Bekenntnisse verachtete. Mr. Newton, Sie als ein Mann von Welt werden mir doch zugeben, daß das gerade nicht sehr großzügig von ihm war?«


Anthony stimmte ihm vollkommen bei.


»Und weil er nun diese sonderbaren Ansichten hatte«, fuhr Mr. Frenchan bitter fort, »bin ich in eine sehr unangenehme Lage gekommen. Ich habe zu meinem Rechtsanwalt gesagt: Bin ich denn nun gezwungen, jahrelang hier in London zu sitzen und mich um bedürftige, arme Leute zu kümmern, die zu den Altmethodisten gehören, nur um das Testament meines Bruders auszuführen? Ich wäre verrückt, wenn ich das täte!«


Mr. Frenchan war sehr aufgebracht und trank seine Tasse hastig aus. Es lag ein sonderbarer Ausdruck in seinen Augen, der Anthony zuerst etwas verwirrte, dann aber ermutigte.


»Wollen Sie noch einen Likör haben?« fragte Mr. Frenchan plötzlich.


Anthony nickte.


»Ich möchte, daß Sie meinen Rechtsanwalt kennenlernen«, fuhr Frenchan fort. »Das ist ein Mann, der Ihnen gefallen wird. Ein kluger Mensch, der in die Welt paßt. Ein bißchen argwöhnisch, aber ich glaube, daß das mit seinem Beruf zusammenhängt. Wahrscheinlich kennen Sie die Firma schon – Whipplewhite, Sommers und Soames.«


Anthony nickte wieder. Er hatte zwar niemals von einer solchen Firma gehört, aber der Name klang ganz nach Rechtsanwälten.


Mr. Frenchan sah auf die Uhr.


»Ich glaube, wir könnten ihn jetzt treffen. Sie werden es bestimmt nicht bereuen, seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Er ist ein tüchtiger Schotte, aber ein Mann mit einem goldenen Herzen. Er sieht in jedem Menschen eigentlich einen möglichen Verbrecher.« Mr. Frenchan lächelte vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Aber schließlich wird ihn ja sein Beruf zu solchen Anschauungen gebracht haben«, meinte er nachdenklich.


»Ich habe bei meinem Rechtsanwalt ähnliche Wahrnehmungen gemacht«, sagte Anthony ruhig. »Im allgemeinen sind Juristen ja vorsichtige Leute, und die erste Folge der Vorsicht ist, daß man zunächst immer das Schlechtere vermutet.«


Mr. Frenchan stand auf.


»Kommen Sie mit. Wir wollen einmal sehen, ob es uns gelingt, ihn zu finden. Am ehesten treffen wir ihn jetzt in der Nähe des Gerichts. Mir liegt sehr viel daran, daß Sie ihn kennenlernen.«


Als sie durch den Empfangsraum gingen, sah ihn der Mann, der das Fremdenbuch führte, durchdringend an, aber Anthony kümmerte sich nicht weiter darum. Es war ihm durchaus nicht erwünscht, daß die Geldfrage in Gegenwart seines neuen, reichen Freundes erörtert wurde. Mr. Frenchan rief einen Wagen an, und nach kurzer Zeit hielten sie vor dem Portal des Zentralgerichtshofes.


»Sehen Sie, dort steht er«, sagte Mr. Frenchan. »Das ist aber ein unerwarteter Glückszufall.«


Ein schmächtiger, bleicher Mann, der düster dreinschaute, stand in nachdenklicher Haltung auf den Stufen der breiten, großen Treppe. Er trug einen tadellosen Zylinder und nickte Mr. Frenchan kurz zu. Man konnte sich leicht vorstellen, daß dieser Mann die ganze Welt von Verbrechern bevölkert glaubte. Er betrachtete die vielen Menschen, die durch die Türen eilten, mit dem Basiliskenblick eines zur Untätigkeit verdammten Henkers.


»Ich möchte Ihnen meinen Freund Newton vorstellen, Whipplewhite«, sagte Frenchan, und der Rechtsanwalt streckte den anderen seine kalte Hand entgegen. »Können Sie uns nicht irgendwohin begleiten – ich möchte Sie gerne sprechen.«


Mr. Whipplewhite schüttelte traurig den Kopf.


»Es tut mir leid, das ist nicht möglich«, erwiderte er kurz. »In einer halben Stunde habe ich einen Termin bei Gericht.«


»Ach Unsinn«, rief Mr. Frenchan laut. »Sie haben doch sicherlich einen Vertreter, der für Sie plädieren kann. Kommen Sie mit uns!«


Mr. Whipplewhite zögerte noch.


»Ich möchte es lieber nicht tun«, meinte er dann, als er auf die Uhr sah. »Fünf Minuten habe ich für Sie übrig, aber wir dürfen nicht weit von hier weggehen.«


»Wir werden schon ein Restaurant hier in der Nähe finden, und eine Tasse Tee wird Ihnen auch nicht schaden, Mr. Newton.«


Anthony war zwar so gesättigt, daß er im Augenblick nichts von Essen und Trinken hören wollte, aber er gab selbstverständlich seine Zustimmung, und bald saßen die drei in einem kleinen, nicht allzu hellen Restaurant, in dem Mr. Whipplewhite gewöhnlich verkehrte.


»Diesen Herrn kenne ich sehr gut von Südafrika her. Es ist Mr. Newton, ich habe Ihnen doch schon öfter von ihm erzählt.«


Anthony war über alles höchst verwundert. Es war offensichtlich, daß er mit einem anderen verwechselt wurde, aber er ließ ruhig alles über sich ergehen. Die dringende Frage des Mittagessens war ja nun zur Zufriedenheit gelöst, und ein reichliches Abendessen schien ihm auch zu winken, obwohl er weniger Hunger fühlte als seit langer Zeit. Über eins war er sich klar: er mußte große, wertvolle Gepäckstücke bringen, bevor er den argwöhnischen Portier soweit beruhigen konnte, daß er ihm den Schlüssel zu seinem Zimmer einhändigte. Das war eine Tatsache. Zweitens aber stand fest, daß Mr. Frenchan eine einflußreiche Bekanntschaft für ihn war.


»Mr. Frenchan, ich habe die Höhe des Vermögens Ihres Bruders genau festgestellt. Es beträgt nicht sechshundertvierzigtausend, sondern nur fünfhundertzwölftausend Pfund und sechs Schilling.«


Mr. Frenchan schüttelte nur unwillig den Kopf.


»Ich wünschte, es wären überhaupt nur sechs Schilling«, sagte er böse.


Der Rechtsanwalt wurde ungeduldig.


»Ich weiß, daß Sie mich für närrisch halten«, fuhr Mr. Frenchan fort, »aber Walter und ich waren sehr gute Freunde, und so verrückt auch seine letzten Bestimmungen sein mögen, ich habe die Absicht, sie genau auszuführen.«


»Aber warum übergeben Sie denn nicht das Geld der Kirche und überlassen ihr alles Weitere?« fragte Mr. Whipplewithe. »Das ist die einfachste Lösung, und sie wird Ihnen eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen. Bei der Kirchenverwaltung weiß man doch viel besser mit den Verhältnissen der Gemeindemitglieder Bescheid als Sie.«


»Das würde mit den Testamentsbestimmungen meines Bruders nicht übereinstimmen. In seinem letzten Willen steht doch ganz ausdrücklich: Am 1. Januar jedes Jahres soll ein Fünftel meines Vermögens einer vertrauenswürdigen, solventen Persönlichkeit übergeben werden, damit es an bedürftige Mitglieder der altmethodischen Gemeinde verteilt wird.«


»Am 2. Januar«, verbesserte ihn der Rechtsanwalt. »Aber Sie haben den Absatz nicht ganz richtig zitiert, Mr. Frenchan. Es steht dort: Ein Fünftel meines Vermögens soll sofort nach meinem Tode …«


»Selbstverständlich. Das zweite Fünftel wird dann am nächsten 2. Januar verteilt. So hatte ich es auch gemeint«, erklärte Mr. Frenchan.


Mr. Whipplewhite lehnte sich im Stuhl zurück und spielte mit einem Zahnstocher. Seine Blicke schweiften ins Leere.


»Ich möchte nur wissen«, sagte er langsam, »wo Sie eine achtbare, solvente Persönlichkeit finden wollen, der man so große Geldsummen anvertrauen kann? Es ist ja ganz gut und schön, daß Sie das Geld dem Testament gemäß verteilen wollen. Aber wie wollen Sie denn wissen, ob das Geld nicht in die Hände irgendeines Schwindlers fällt? Ich weiß schon.« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie wollen sagen, daß ich ja hier an Ort und Stelle bin und mich darum kümmern kann, daß das Geld richtig angewandt wird. Aber Sie müssen doch einsehen, daß ich ein sehr beschäftigter Rechtsanwalt bin und unter keinen Umständen die volle Verantwortung dafür übernehmen kann, daß jeder Pfennig des Geldes Ihres Bruders an unterstützungsbedürftige Altmethodisten gezahlt wird. Das kann man doch unmöglich von mir verlangen. Sie brauchen einen vermögenden Mann, dem man restlos vertrauen kann, und der auch eigenes Vermögen hat. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, würde ich ruhig sagen: Übertragen Sie ihm die ganze Sache und gehen Sie nach Südafrika zurück. Aber sollten Sie einen solchen Mann nicht finden, dann müssen Sie für die nächsten fünf Jahre in England bleiben, mein lieber Frenchan, ob Sie sich nun darüber ärgern oder nicht. Das muß Ihnen doch Ihr eigener Verstand sagen. Dann müssen Sie eben selbst die Verteilung des Geldes überwachen.«


»Das ist ganz ausgeschlossen«, erwiderte Mr. Frenchan nachdrücklich. »Außerdem bin ich doch selbst kein Altmethodist.« Er sah auf Anthony. »Sehen Sie, hier ist ein Mitglied dieser Gemeinde.«


»Sie wollen doch aber nicht damit sagen, daß Sie diese schwere Verantwortung einem jungen Mann übertragen wollen, der erst noch vorwärtskommen will? Der vielleicht nicht einmal die Zeit und die Neigung hat, sich solchen mildtätigen Aufgaben zu widmen?«


Anthony hörte schweigend zu und verstand allmählich die Zusammenhänge.


»Mr. Whipplewhite«, sagte Frenchan scharf, »ich kann Ihnen nicht gestatten, daß Sie beleidigend von Mr. Newton sprechen. Sie kennen mich nun schon lange Jahre und wissen, daß ich mich in meinem Urteil über Menschen noch nie getäuscht habe. Ich kenne Mr. Newtons Charakter ebensogut wie den Ihrigen.«


»Ich gebe gern zu, daß Sie gewöhnlich das Richtige treffen«, meinte der Rechtsanwalt zögernd. »Aber hier handelt es sich um ein etwas phantastisches, wenn ich so sagen soll, um ein verrücktes Testament, dessen einzelne Bestimmungen nur von einem –«


»Nur von einem Ehrenmann ausgeführt werden können, so wollten Sie sicher sagen«, unterbrach ihn Mr. Frenchan.


Aber der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf.


»Die Ehrenhaftigkeit ist ja gut und schön«, sagte er mürrisch. »Aber vor allen Dingen ist bares Geld notwendig. Wenn dieser Herr uns ein Vermögen von zehntausend Pfund nachweisen kann …«


Anthony Newton wagte kaum, einen solchen Glückszustand auszudenken. Er war etwas heiser, als er sich jetzt in die Unterhaltung mischte.


»Wenn Sie sich die Mühe machen und zu meiner Bank mitkommen wollen …« begann er, zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich weiß nicht, ob ich einen solchen Auftrag annehmen kann. Bitte bestehen Sie nicht darauf, Mr. Frenchan. Aber sollten Sie irgendwelchen Zweifel an meinen Vermögensverhältnissen haben, dann begleiten Sie mich bitte zur Bank von England, und sprechen Sie mit einem der Direktoren. Ich zweifle nicht, daß Sie dann in dieser Beziehung beruhigt sein werden.«


»Was habe ich gesagt?« rief Mr. Frenchan triumphierend. »Wollen Sie so liebenswürdig sein und Mr. Newton zur Bank begleiten?«


»Ich habe jetzt nicht die Zeit, nach Burlington Gardens zu gehen«, sagte der Rechtsanwalt. »Ich sagte Ihnen doch schon vorhin, daß ich nachher einen Termin habe.« Bei diesen Worten erhob er sich. »Aber wenn Mr. Newton in der Lage ist, bis heute abend fünftausend Pfund als sein Vermögen nachzuweisen, dann will ich als Testamentsvollstrecker Ihres Bruders Ihrer Wahl zustimmen.«


»Sie sind aber schrecklich kleinlich. Ich möchte meinen Freund nicht um dergleichen Dinge bitten.«


»Aber das hat ja nichts zu sagen«, entgegnete Anthony höflich. »Ich halte den Einwand, den Mr. Whipplewhite macht, für vollkommen berechtigt. Und wenn Sie mir eine Zeit und einen Ort angeben, dann will ich Ihnen gerne die Summe von fünftausend Pfund bringen. Aber ich kann sie nicht als Bürgschaft hinterlegen.«


»Ich habe ja auch gar nicht die Absicht, das zu verlangen«, erwiderte Mr. Whipplewhite. »Es genügt mir, wenn ich die Summe in Ihrem Besitz sehe.«


Anthony atmete tief.


»Es ist gerade noch genügend Zeit, zur Bank zu gehen. Also wo soll ich Sie wieder treffen?«


»Kommen Sie um halb acht zum Restaurant Cambrai in der Regent Street. Ich bin leider nicht früher fertig. Paßt Ihnen diese Zeit, Frenchan?«


»Ich protestiere eigentlich gegen die ganze Abmachung«, sagte Mr. Frenchan. »Aber wenn Mr. Newton so liebenswürdig ist, auf Ihren Vorschlag einzugehen, der meiner Meinung nach ebenso exzentrisch ist wie das Testament meines Bruders, dann habe ich schließlich gar nichts dagegen.«


Anthony eilte aus dem Café. Er hätte gerne vor den Augen seines neuen Freundes ein Mietauto bestiegen und dem Chauffeur den Auftrag gegeben, zur Bank von England zu fahren, aber er hatte ja nicht einmal mehr das Geld zu einer Autobusfahrt. Er ging also zu Fuß durch den Park und sah sich nach Zeitungen um, die die Leute weggeworfen hatten. Als er einige aufgesammelt hatte, ließ er sich auf einer einsamen Bank nieder und schnitt das Papier mit seinem Taschenmesser in gleichmäßig lange Streifen, legte sie zusammen und steckte sie in seine etwas abgetragene Brieftasche, die dadurch dick und umfangreich wurde.


Er war so eifrig bei seiner Arbeit, daß er nicht bemerkte, wie ein Mann quer über den Rasen auf ihn zukam und ihn aufmerksam betrachtete.


»Sie sammeln wohl Presseausschnitte?«


Anthony schaute auf und war sich über den Beruf des Fremden sofort klar. Er sah aus wie ein Gardefeldwebel in Zivil oder wie ein Detektiv-Sergeant von Scotland Yard in Alltagskleidung.


Anthony nickte vergnügt.


»Sie haben recht geraten.«


»Was haben Sie denn damit vor?« fragte der andere etwas offizieller.


»Jedes dieser Papiere stellt eine Hundertpfundnote vor«, entgegnete Anthony.


Der Detektiv setzte sich neben ihn.


»Es scheint so, als ob wir beide besser miteinander bekannt werden müßten«, meinte er.


»Das ist wohl möglich. Sie sind doch ein Beamter von Scotland Yard?«


»Ganz richtig – aber wie kommen Sie darauf?«


»Arbeiten zur Zeit viele Kautionsschwindler in London?«


»Soviel ich weiß, gibt es vier Banden – ist jemand hinter Ihnen her?«


Anthony nickte.


»Ja, dann müssen wir Sie wohl unter Beobachtung stellen«, sagte der Beamte.


»Um Gottes willen, machen Sie das nicht!« erwiderte Anthony erschrocken. »Sagen Sie mir lieber, wie diese Leute vorgehen.«


»Sie arbeiten alle nach derselben Methode. Gewöhnlich haben sie Geld an Arme und Bedürftige zu verteilen. Jemand hinterläßt zu diesem Zwecke Geld, und sie suchen nach einem ehrenhaften Mann, der sich in guten pekuniären Verhältnissen befindet und nicht allzu schlau ist, so daß man ihm das Geld anvertrauen kann, ohne fürchten zu müssen, daß er es bei Sektgelagen mit Choristinnen und Schauspielerinnen durchbringt.«


»Das ist recht wenig originell«, meinte Anthony lächelnd.


»Wenig originell und habgierig. Die Leute spekulieren im allgemeinen auf die Schlechtigkeit und Habgier ihrer Mitmenschen. Will man Sie etwa auch auf die Art und Weise hereinlegen?«


Anthony nickte.


»Ich bin ein junger Mann, der eben aus Südafrika zurückgekommen ist und einiges Geld dort verdient hat«, sagte er einfach. »Heute abend soll ich ihnen fünftausend Pfund zeigen, um meine Vertrauenswürdigkeit nachzuweisen.«


Der Detektiv sah schmunzelnd auf die Brieftasche.


»Aha, nun verstehe ich«, erwiderte er und wandte sich zum Gehen. »Und sollten Sie Unannehmlichkeiten bekommen, so will ich Ihnen auf alle Fälle meine Karte geben.«


Anthony kam zur verabredeten Zeit zu dem Treffpunkt. Der Rechtsanwalt wartete schon auf ihn. Er war in die Lektüre einer Abendzeitung vertieft und hatte ein Glas Absinth vor sich stehen.


»Ein gefährliches Getränk, Mr. Newton«, meinte er. »Aber es wirkt sehr wohltuend. Ich leide an schlechter Verdauung. Haben Sie inzwischen Mr. Frenchan gesehen?«


Anthony schüttelte den Kopf.


»Ein merkwürdiger Mann, aber durchaus glaubwürdig und ehrlich«, sagte der Rechtsanwalt. »Wie er sich bisher vor Verlusten geschützt hat, mag der Himmel wissen. Er vertraut gleich jedem ersten besten, ich möchte fast sagen, jedem hergelaufenen Kerl auf der Straße. Ich hoffe, daß Sie mir nicht böse sind, Mr. Newton, aber ein Rechtsanwalt muß nun einmal scharf vorgehen.«


»Das begreife ich vollkommen«, entgegnete Anthony.


In diesem Augenblick trat Mr. Frenchan ein. Zuerst sprachen sie über ein Ereignis, von dem in allen Zeitungen und Extrablättern berichtet wurde, dann seufzte Mr. Frenchan plötzlich auf.


»Nun wollen wir zum Geschäft kommen und sehen, daß wir möglichst schnell damit fertig werden.«


Er zog eine stattliche Brieftasche heraus und entnahm ihr einen dicken Stoß Banknoten.


»Aber warum in aller Welt haben Sie denn das mitgebracht?« fragte der Rechtsanwalt.


»Weil ich gar nicht einsehe, warum Mr. Newton uns trauen soll, wenn Sie ihm mißtrauen«, sagte Frenchan mit Nachdruck. »Ich vertraue Mr. Newton blindlings.«


»Aber sprechen Sie doch nicht so laut«, warnte der Rechtsanwalt. »Es ist doch gar kein Grund dazu vorhanden, Spektakel zu machen.«


»Mr. Newton traut mir ebenso«, fuhr Mr. Frenchan etwas ruhiger fort.


»Haben Sie das Geld mitgebracht?« wandte sich der Rechtsanwalt geschäftsmäßig an Anthony.


Mr. Newton zog seine Brieftasche heraus.


»Was habe ich Ihnen gesagt?« rief Frenchan. »Das ist ein Mann von Vermögen, ein Mann von Ehre, Whipplewhite. – Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« Er lehnte sich über den Tisch zu Anthony.


»Aber natürlich!«


Mr. Frenchan warf ihm seine Brieftasche in den Schoß.


»Nehmen Sie sie, gehen Sie fünf Minuten hinaus und kommen Sie dann wieder zurück.«


»Aber warum denn?« fragte Anthony.


»Ich will damit nur zeigen, daß ich Ihnen traue. Und ich darf dann voraussetzen, daß Sie mir gleiches Vertrauen entgegenbringen.«


»Ganz bestimmt«, sagte Anthony und nahm die Brieftasche an sich. »Aber sie enthält viel Geld, zählen Sie es bitte hier vor meinen Augen nach.«


»Das ist nicht notwendig«, erwiderte Mr. Frenchan überlegen. Aber trotzdem nahm er Anthony die Tasche aus der Hand, öffnete sie, zog ein Paket Banknoten heraus und drehte die beiden ersten Scheine um. Anthony sah, daß es wirklich Banknoten waren, und zwar Hundertpfundnoten. Darunter würden wahrscheinlich Fälschungen stecken, vermutete er. Aber die beiden obersten waren zweifellos echt.


»Ich tue es nicht gerne«, sagte Anthony, als ihm die Brieftasche wieder gereicht wurde. »Sie kennen mich doch nicht genügend.«


»Es wäre gut, wenn Sie den Vorschlag von Mr. Frenchan annähmen«, entgegnete der Rechtsanwalt höflich.


Anthony ließ also die kleine Ledermappe in seine Tasche gleiten und ging langsam aus dem Restaurant. Es fuhr gerade ein Mietauto vorüber.


»Halten Sie nicht!« rief er dem Chauffeur zu, als er auf den langsam fahrenden Wagen sprang. »Bringen Sie mich zum Victoria-Bahnhof!«


Während der Wagen durch die dunklen Straßen fuhr, nahm er die Tasche heraus und untersuchte den Inhalt. Die beiden Hundertpfundnoten waren tatsächlich echt.


In dem Restaurant warteten Mr. Whipplewhite und Mr. Frenchan auf Anthonys Rückkehr.


»Ein gescheiter Gimpel!« sagte Mr. Frenchan.


»Das sind sie doch alle«, erwiderte der andere verächtlich. »Nur die kann man noch leimen!«


Plötzlich fuhr er in die Höhe und sah einem Herrn von militärischem Aussehen ins Gesicht.


»Nun, warten Sie auf ein Opfer?«


»Ich weiß nicht, was Sie wollen, Sergeant. Wir warten hier auf einen Freund«, entgegnete Frenchan.


»Da werden Sie lange warten können«, meinte Sergeant Maud von Scotland Yard. »Ich habe den jungen Mann schon den ganzen Nachmittag beobachtet.«


Er lachte, daß seine Zähne zu sehen waren, und weidete sich an der Bestürzung und dem Schrecken der beiden anderen.


»Bei einer solchen Gelegenheit, lieber Herr, stehen alle früheren Polizisten im Himmel auf und singen Halleluja!«


10. Kapitel

10. Kapitel


Der Witzbold


Mr. Anthony Newton hatte sich über manche Erfahrung gefreut, aber manche hatte er auch stillschweigend ertragen müssen. Seine Wahl in das Parlament hatte ihm großes Vergnügen bereitet, denn die Wählerschaft war erstaunt, als sie plötzlich im Unterhaus durch einen Mann vertreten war, von dessen Existenz sie bisher noch nichts gewußt hatte. Aber er hatte auch die Petition über sich ergehen lassen müssen, daß ihm sein Sitz genommen werden sollte, und nach einer aufregenden und nicht ganz angenehmen Woche in dem bedeutendsten Parlament der Welt hatte er seinen Platz aufgegeben.


»Es ist immer besser, freiwillig zu gehen, mein alter Freund«, sagte sein Rechtsanwalt, »als hinausgeworfen zu werden. Und obendrein drohte Ihnen auch noch eine Klage wegen Komplotts.«


Aber Anthony Newtons Wahl ins Parlament hatte wenigstens ein glänzendes Resultat – sein Name wurde dadurch äußerst bekannt. Die Folgen dieses Abenteuers waren in mancher Beziehung belustigend und auch vorteilhaft, denn Lammer-Green wurde hierdurch auf ihn aufmerksam. Anthony saß in der Halle seines Hotels und rauchte nach Tisch eine Zigarre, als die nähere Bekanntschaft begann. Ein paar große Hände legten sich plötzlich auf seine Schultern, er wurde buchstäblich von seinem Stuhl in die Höhe gehoben, und eine rauhe Stimme sagte zu ihm:


»Geben Sie mir meinen Schilling wieder!«


Dann wurde er heftig gerüttelt, und man hörte eine Münze auf den Boden fallen.


»Ich danke Ihnen auch«, sagte die Stimme wieder, und Mr. Lammer-Green bückte sich, um ein Schillingstück aufzunehmen, das aus Anthonys Hosen gefallen war.


Vorher hatte er es ihm nämlich zwischen Hals und Kragen gesteckt und ihn dann so lange geschüttelt, bis es wieder auf den Flur fiel.


Anthony schaute wütend in das grinsende Gesicht Mr. Lammer-Greens. Er hätte ihn am liebsten umgebracht.


»Ach, Sie sind es!« rief er dann, denn erkannte den Witzbold und Spaßmacher von früher her oberflächlich.


Der ehrenwerte Mr. Lammer-Green war ein langer, knochiger, junger Mann, der keinen anderen Lebenszweck kannte, als Witze und Possen zu machen und seinen Spaß mit einer harmlosen Welt zu treiben. Früher war er einmal an Bord des französischen Kreuzers »Arlot« in der Verkleidung eines Sultans von Muskwash erschienen. Der Admiral war auch darauf hereingefallen und hatte zu seinen Ehren einen königlichen Salut abfeuern lassen.


Ein andermal war er mit einer großen Menge von Arbeitern erschienen und hatte die Fahrstraße von Piccadilly Circus aufgerissen, kurz vor Schluß der letzten Theatervorstellungen. Dadurch hatte er den Verkehr im Herzen Londons auf zwölf Stunden lahmgelegt. Auch hatte er schon drei Bürgermeister von drei Provinzstädten verhaftet und sie in einem extra für diese Zwecke gebauten schwarzen Gefangenenwagen nach London gebracht.


Er war der Sohn eines Lords und sollte später einmal den Titel erben. Außerdem war er sehr reich und Junggeselle.


»Man hat Leute schon für Geringeres als das totgeschlagen«, sagte Anthony etwas böse. »Na, nehmen Sie Platz, Sie lange, nutzlose Latte!«


Sie hatten sich, seit sie im Kriege zusammengekommen waren, nicht mehr getroffen. Anthony erwähnte es dem anderen gegenüber.


»Mit Krieg mag ich nicht gern etwas zu tun haben«, erwiderte Mr. Green entschieden. »Die Sache macht eigentlich keinen Spaß. Ich muß Frieden haben. Wissen Sie schon, welche großartige Sache ich in Greenwich angestellt habe? Beinahe hätte ich drei Monate Gefängnis dafür bekommen! Donnerwetter, das war einmal ein Vergnügen! Ich habe einen Kerl gemietet und ihm den Auftrag gegeben, auf das große Fernrohr des Observatoriums hinaufzuklettern und kleine, schwarze Flecke auf die Linse zu machen. Verstehen Sie, alter Freund, das waren dann Sonnenflecke!«


Er lachte laut auf und schlug sich vor Begeisterung auf die Knie.


Anthony sah ihn verwundert an.


»Ich kann gar nicht verstehen, wie ein großer, verständiger Mensch mit so viel Geld seine Zeit damit zubringen kann, nur dummes Zeug zu machen. Warum zum Teufel, heiraten Sie denn nicht und lassen sich irgendwo auf dem Lande nieder?«


»Das paßt mir ganz und gar nicht in den Kram.« Lammer-Green schüttelte sich. »Wissen Sie, ich kann Weiber nicht leiden. Ich bekomme immer eine Gänsehaut, wenn ich davon höre. Eine Frau würde mich bald unter dem Pantoffel haben und mich beherrschen. Das ist meine schwache Seite.«


Plötzlich begann er wieder zu lachen.


»Ist doch ein merkwürdiger Zufall, daß Sie ausgerechnet das Heiraten erwähnen. Ich habe nämlich von Ihnen gehört.«


»Von mir?« fragte Anthony verwundert. »In Verbindung mit Heiraten?«


Mr. Green nickte heftig.


»Sie werden ja den Rechtsanwalt – so eine Art Heiratsmakler –, den Sie an der Nase herumführten, noch nicht vergessen haben?«


Anthony konnte sich sehr gut darauf besinnen.


»Ich habe auch von dem Spaß erfahren, den Sie sich mit der Wahl gemacht haben. Ich habe es mir überlegt und zu mir selbst gesagt: ›Diesen verrückten Kerl mußt du dir einmal ansehen.‹«


Nun war Anthony Newton alles andere, nur kein Spaßvogel. Er betrachtete die Methoden und Praktiken, durch die sich Mr. Lammer-Green einen Namen gemacht hatte, als kindisch und verächtlich. Die beiden hatten zwar zusammen im selben Regiment gedient, aber man hätte sie unter keinen Umständen Freunde nennen können. Green wurde als ein liebenswürdiger Narr angesehen, trotzdem er auch beachtenswerten Mut besaß. Er war der letzte, dessen Bekanntschaft Anthony erneuern wollte. Selbst in den Tagen, als es ihm so schlecht ging, war ihm niemals der Gedanke gekommen, sich an ihn um Hilfe zu wenden.


»Ich muß Ihnen einmal etwas erklären, – ich habe nämlich eine große Sache vor.« Mr. Green sprach jetzt ganz leise. »Das wird ein Hauptspaß – das ist noch viel besser als die Geschichte mit dem Admiral. Unter allen Umständen ist es schon eine gute Vorbedeutung, daß Sie etwas von Heiraten erwähnt haben. Kennen Sie den alten Gaggle?«


Anthony schüttelte den Kopf.


»Der Mann hat Millionen in Margarine verdient«, erklärte Green schnell. »Er hat einen Landsitz in Oxton, ist geadelt worden und besitzt eine Tochter mit einem schrecklichen Gesicht im Alter von dreißig Jahren. Wenn die in London über die Straße geht, hält sie den ganzen Verkehr auf. Sie ist ganz fürchterlich, mein alter Junge, geradezu häßlich. Färbt obendrein noch ihr Haar und hat Füße so groß wie Ruderboote. Der alte Gaggle ist ganz verrückt und will sie an einen alten Aristokraten verheiraten. Haben Sie auch alles verstanden?«


Seine Augen glänzten vor Erregung, und er quietschte vor Vergnügen, als er an seinen herrlichen Plan dachte. Anthony hatte schon davon gehört, daß sich Mr. Lammer-Green die Hilfe anderer Leute verschaffte, aber er hatte sich auch in seinen wildesten Träumen nie eingebildet, daß er sich an ihn wenden würde, und war begreiflicherweise sehr neugierig. Wenn Lammer-Green als Endziel seiner Pläne irgendeinen rohen Witz betrachtete, so liefen alle Pläne Anthony Newtons auf Geldverdienen hinaus.


»Was haben Sie denn vor?« fragte er. Aber es dauerte noch einige Zeit, bevor Green zu lachen aufhörte und sich wieder so weit in der Gewalt hatte, daß er antworten konnte.


»Der alte Gaggle ist scharf auf Lords. Er hat ganz offen erklärt, daß er seiner Tochter eine halbe Million Mitgift gibt, wenn sie einen wirklichen Lord heiratet. Mein alter Herr hat auch von der Sache gehört und mir sofort die Neuigkeit übermittelt – er liebt auch einen kräftigen Spaß.«


Der Vater Lammer-Greens war Lord Latherton, der auch noch andere Dinge als die Witze seines Sohnes liebte, wenn das Gerücht nicht log.


»Ich habe folgenden Plan«,.sagte Mr. Green vertraulich. »Ich werde in Begleitung meines Sekretärs – den sollen Sie spielen, Newton, alter Knabe – in der Nachbarschaft des Landsitzes vom alten Gaggle eine Autotour machen und werde in der Nähe des Hauses krank werden. Sie gehen hinein, bitten um Hilfe und lassen dabei die Worte ›Seine Hoheit‹ fallen – haben Sie mich auch verstanden? Der alte Gaggle wird uns dann in sein Haus einladen, – ich werde in einem fremden Akzent sprechen, und der alte Gaggle wird sich sagen: Aha, das ist ein fremder Prinz, den wollen wir uns für Gertie oder wie seine Tochter sonst heißen mag, angeln! Ich werde dann erwidern: ›O ja, ich will mich in aller Stille trauen lassen, niemand darf um die Sache wissen, sonst werde ich meinen Thron verlieren.‹ Haben Sie verstanden?«


»Sehr gut«, sagte Anthony.


»Der Papa, der Prinz und Gertie werden dann zusammen zu irgendeinem Hause fahren, wo ein Geistlicher wartet. Sie müssen irgendeinen falschen Pfarrer besorgen, einer von Ihren Kameraden oder Freunden wird Ihnen zuliebe die Rolle schon übernehmen. Dann wird der Prinz zur Stadt fahren und geheimnisvoll verschwinden. Alle Zeitungen sind dann voll davon. ›Romantische Hochzeit. Das mysteriöse Verschwinden des prinzlichen Bräutigams. Wo ist Prinz Opscotch?‹ Was denken Sie von dem Spaß?«


»Und was soll denn mit mir geschehen? Soll ich auch verschwinden?« fragte Anthony trocken.


Er wollte eigentlich die ganze Sache ablehnen und nichts mit diesem phantastischen Vorhaben zu tun haben, das eigentlich recht roh und niederträchtig war. Anthony war Damen gegenüber immer sehr höflich, selbst wenn sie Füße wie Ruderboote hatten. Und er war auch etwas empört darüber, daß dieser verrückte Spaßmacher so selbstverständlich annahm, daß er ihm bei seinen dummen Streichen helfen würde.


Aber er war auch ein schneller Denker und wies infolgedessen den Auftrag nicht zurück.


»Das ist ein sonderbarer Plan. Aber er ist doch etwas grausam für die junge Dame«, sagte er vermittelnd.


»Ach was«, entgegnete Lammer-Green verächtlich. »Das tut gar nichts. Mein lieber, alter Freund, das wird mein Hauptspaß. Das ist eine ganz grandiose Idee, die größte, die mir jemals gekommen ist. Die ganze Welt wird darüber sprechen. Ich werde eine größere Sensation hervorrufen als der deutsche Schneider, der vorgab, Kaiser Wilhelm zu sein!«


»Ich werde mir die Sache noch überlegen.«


Als Mr. Green am nächsten Morgen Anthony wieder besuchte, erhielt er eine Zusage.


Sir Joshua Gaggle lebte auf seinem Gut in Oxton Manor. Es war ein alter Besitz, der früher einem normannischen Freiherrn gehörte.


Aber Sir Joshua hatte die Besitzung weniger wegen ihres Alters als vielmehr wegen des klingenden Titels gekauft.


Matilda Gaggle war eine schlanke Dame im Alter von neunundzwanzig Jahren. Sie hatte eine rötliche, gesunde Gesichtsfarbe, die man schließlich bei einem liebenswürdigen, großzügigen Charakter noch ertragen hätte, aber Matilda besaß auch eine scharfe Zunge und war verbittert, weil noch niemand um ihre Hand angehalten hatte.


Sie wollte aber nicht den ersten besten nehmen, da sie von einem gewissen Ehrgeiz besessen war.


»Ich glaube nicht, daß wir es hier auf dem Lande zu etwas bringen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Es wäre besser, wenn wir die Hälfte der Zeit in Hampstead wohnten, Vater. Durch deinen Adelstitel könntest du wenigstens in Hampstead eine gewisse Rolle spielen, aber diese Gegend wimmelt ja von Lords und ihrem Anhang, und niemand hält etwas von einem gewöhnlichen Sir. Du weißt doch, welche Erfahrungen wir gemacht haben. Wenn wir sie zum Essen eingeladen haben, waren sie immer irgendwo anders verabredet.«


»Es wird schon jemand kommen, mein Liebling«, meinte Sir Joshua hoffnungsvoll. »In Hampstead gibt es erst recht keinen richtigen Umgang für uns. Dort leben meistens nur gewöhnliche Leute, mit denen es sich nicht lohnt, zu verkehren.«


»Aber hier ist überhaupt niemand«, erwiderte Matilda ärgerlich.


Vater und Tochter saßen im Wohnzimmer, von dem aus sie den Park überblicken konnten. Beide sahen zugleich einen fremden Herrn, der die Zufahrtsstraße entlangkam.


Er war jung und tadellos gekleidet, auch sah er sehr hübsch aus. Matilda stand auf und ging ans Fenster.


»Wer mag das sein?« fragte sie, als Sir Joshua an ihre Seite trat.


»Ich weiß nicht, wer das sein könnte«, entgegnete er stirnrunzelnd und eilte in die Halle, um die Ankunft des Fremden zu erwarten.


»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten mache«, sagte dieser bescheiden, »aber Seine Hoheit … ich meine, mein Herr hat einen leichten Ohnmachtsanfall erlitten, und ich möchte Sie fragen, ob Sie uns erlauben würden, eine Weile hier zu bleiben?«


»Aber gewiß, natürlich!« antwortete Sir Joshua erregt. »Bitten Sie seine Hoheit … wie darf ich ihn denn nennen?«


Anthony biß sich auf die Lippen.


»Sagte ich Hoheit – ach, wie indiskret von mir.« Offenbar war es ihm peinlich, daß er sich versprochen hatte. »Der Name meines Herrn ist Mr. Smith …«


»Würden Sie dann so liebenswürdig sein, Seiner … Mr. Smith zu sagen, daß er uns willkommen ist?«


Als Anthony gegangen war, eilte der aufgeregte Sir. Joshua strahlend ins Wohnzimmer zurück.


»Es ist ein Prinz, Tilda, eine Hoheit – nein, nicht der Mann, der an die Tür kam. Das ist nur sein Angestellter, oder so etwas Ähnliches. Ich meine den anderen. Er hat draußen einen Ohnmachtsanfall gehabt und ließ anfragen, ob er einige Zeit hereinkommen könnte, um sich auszuruhen.«


Miss Gaggle erhob sich schnell und ging rasch zur Tür. Ein prächtiges Auto fuhr die Zufahrtsstraße herauf. Der junge Mann, den sie eben gesehen hatte, saß am Steuer, und hinten im Wagen lehnte, ganz in seinen Pelz gewickelt, ein großer Herr von vornehmem Äußeren.


Er hatte die Augen geschlossen, und als der Wagen hielt, half ihm Anthony beim Aussteigen, denn er schien sehr schwach und angegriffen zu sein.


»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, gnädiges Fräulein«, sagte er leise. »Wir werden Ihre Freundlichkeit niemals vergessen.«


Tilda machte einen Hofknicks.


»Seien Sie versichert, daß wir es uns zur hohen Ehre rechnen, Euer … Mr. Smith«, sagte sie beinahe atemlos.


Der fremde Herr wurde in das Gastzimmer gebracht, und einige Minuten später kam Anthony mit sehr ernstem Gesicht die Treppe herunter.


»Ich fürchte, daß wir Ihre Gastfreundschaft diese Nacht in Anspruch nehmen müssen – ich kann einfach nicht zulassen, daß wir weiterfahren. Ach nein, er mag keinen Arzt sehen«, fügte er hinzu, als Sir Joshua diesen Vorschlag machte.


Sir Joshua hatte die Freude, daß sein hoher Gast mehrere Tage bei ihm blieb. Es waren für ihn hoffnungsfrohe, für seine Tochter angenehme Tage.


»Ich weiß noch nicht, ob er wirklich ein Prinz ist oder nicht«, sagte Matilda zu ihrem Vater, als sie allein in seinem Arbeitszimmer waren. »Aber er ist irgend jemand. Ich habe genügend Leute gesehen, die nichts vorstellten in der Welt, und ich weiß das. Er ist eine große, stattliche Erscheinung, und ich glaube, daß man ihn leicht leiten kann. Er ist ganz verliebt in mich.«


In der Abgeschlossenheit seines eigenen Zimmers sprach Mr. Lammer-Green über seine Hoffnungen und Befürchtungen zu Anthony.


»Ich hasse Frauen, die immer das Regiment führen, wollen, Newton. Sie ist das herrschsüchtigste Mädchen, dem ich jemals begegnet bin. Es wäre besser, wenn die ganze Sache schon vorbei wäre, ich fühle mich schon gelangweilt. Ist es Ihnen gelungen, einen Geistlichen aufzutreiben?«


Anthony nickte.


»Dann werde ich ihr morgen meine Erklärung machen. Wie die wohl erstaunt sein wird!«


»Das glaube ich auch«, pflichtete Anthony bei.


Am Abend saß Anthony noch spät bei Sir Joshua, der nach einigen einleitenden Phrasen auftaute.


»Sehen Sie einmal, Mr. Newton«, sagte er, denn Anthony hatte seinen richtigen Namen angegeben, »ich bin ein einfacher Mann, und ich möchte einmal offen mit Ihnen reden. Wer ist denn eigentlich Seine Hoheit?«


»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«


»Ist er – irgend jemand – ich meine, eine Persönlichkeit mit einem Titel?«


Anthony bejahte.


»Mehr wollte ich ja auch nicht wissen. Hat er Vermögen?«


»Er ist steinreich«, erwiderte Anthony prompt, aber Sir Joshua schien wenig damit zufrieden zu sein.


»Ich hoffte, daß er nicht über große Mittel verfügte. Im übrigen muß ich Ihnen sagen, daß meine Tochter für ihn schwärmt. Er ist doch noch nicht verheiratet?«


»Nein.«


»Haben Sie eigentlich einigen Einfluß auf ihn?«


»O ja, ich glaube schon.«


Nun ging Sir Joshua zum letzten Angriff über.


»Um es geradeheraus zu sagen, wenn Sie es fertigbringen, daß er meine Tochter heiratet, dann können Sie schon ein paar tausend Pfund verdienen!«


Anthony sah den Versucher lange Zeit an, bevor er antwortete.


»Auch ich bin ein Geschäftsmann«, sagte er schließlich. »Geben Sie mir Ihr Versprechen schriftlich.«


Sir Joshua streckte seine Hand aus.


»Geschäft ist Geschäft«, sagte er geheimnisvoll. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und brachte unter gewissen Schwierigkeiten ein Dokument zustande, das unmißverständlich und klar abgefaßt war.


»Genügt das?«


Anthony las es durch und nickte.


»Wenn sich die Angelegenheit durchführen läßt, so werden Sie wohl verstehen, daß die Hochzeit in möglichst unauffälliger Weise vor sich gehen muß? Es wäre möglich, daß mein Freund unter einem angenommenen Namen heiraten muß.«


»Das habe ich mir auch schon alles überlegt«, erwiderte der geschäftstüchtige Sir Joshua. »Ich kenne auch ein wenig das Gesetz. Wenn man im Handel vorwärtskommen will, so muß man schon rechtskundig sein. Und es ist mir bekannt, daß eine Eheschließung eine Eheschließung bleibt, ob sie nun auf den eigenen oder auf einen anderen Namen vollzogen ist. Ich weiß, daß er irgend jemand ist, denn ich habe meinen Diener neulich beauftragt, seine Briefe durchzusehen. Ihrer Meinung nach habe ich mir sicherlich zuviel herausgenommen, aber ich will lieber Ihren Vorwurf ertragen, als ein Risiko auf mich nehmen. Mein Diener sah also einen Brief mit einer Krone und der Anrede: Mein lieber Sohn.«


Anthony war einen Augenblick bestürzt. Offenbar war Sir Joshua nicht so dumm, wie sich Mr. Lammer-Green einbildete.


»Ich erwarte nicht, einen Prinzen als Schwiegersohn zu bekommen«, fuhr der kleine, untersetzte Mann fort. »Sollte dies der Fall sein, so wäre ich natürlich aufs freudigste überrascht. Bringen Sie nur die Hochzeit zustande, mein Junge, dann werde ich Ihnen zweitausend Pfund auszahlen.«


Mr. Green lag in seinem Bett, als Anthony in sein Zimmer trat.


»Schließen Sie einmal die Tür«, sagte Mr. Green, »und sehen Sie die Zeitungsnotizen durch, die ich aufgesetzt habe. Lassen Sie alles mit der Maschine schreiben und schicken Sie es an möglichst viele Zeitungen, wenn die Hochzeit vorüber ist. Ich werde ihr sagen, daß ich der Großherzog von Litauen bin.«


»Aber Sie werden sich doch nicht unter diesem Namen und Titel trauen lassen?«


»Aber warum denn nicht? Das ist doch der beste Teil des ganzen Spaßes. Haben Sie sich denn schon nach einem Geistlichen umgesehen?«


»Ich habe auch schon die Kirche.«


Mr. Green richtete sich im Bett auf.


»Was meinen Sie?«


»Ich habe mir eine Kirche geliehen zu diesem Zweck, eine kleine Kapelle, die abseits am Wege liegt, ungefähr zwölf Meilen von hier, sie gehört zu einer, größeren Pfarrgemeinde, und der Geistliche kommt nur einmal in der Woche dorthin. Mein Freund hat den Schlüssel.«


Mr. Green warf sich wieder in die Kissen und brüllte vor Vergnügen.


»Sie sind der beste Assistent, den ich jemals hatte«, erklärte er und wischte sich die Augen. »Das war wirklich ein schlauer Gedanke, mich an Sie zu wenden, Newton. Ganz London wird vor Freude schreien, wenn das bekanntwird!«


»Ich möchte Sie aber etwas fragen«, unterbrach ihn Anthony. »Angenommen, dies sei der größte Spaß, der jemals gemacht wurde, seitdem die Albert Memorial Hall steht sind Sie auch davon überzeugt, daß Sie kein Unrecht begehen? Dieses unglückliche junge Mädchen hat Ihnen niemals etwas zuleide getan …«


»Aber sie versucht doch, mich für die Ehe anzufangen, und sie ist furchtbar herrschsüchtig. Sie fängt schon jetzt an, mich zu kommandieren, und es ist so selbstverständlich, daß ich ihr gehorche, daß ich mich schon wahnsinnig über sie geärgert habe. Sie ist ein entsetzlich herrschsüchtiger Teufel, Newton, ich habe tatsächlich keine Frau getroffen, die ihr ähnlich ist.«


Anthony verließ ihn, damit er sich alle Einzelheiten seines Planes noch genau überlegen konnte.


Am nächsten Nachmittag kam die große Stunde, in der Mr. Lammer-Green Miss Matilda Gaggle seinen Antrag machen wollte. Sie waren im Rosengarten, Und er lehnte sich in seinen großen Ruhestuhl zurück.


»Ach, Miss Matilda«, sagte er seufzend, »ich werde mich immer an diese glückliche Zeit erinnern!«


Er bedeckte seine Augen mit seiner großen Hand, und die praktische Miss Gaggle steckte ihm ihr Taschentuch zwischen die Finger.


»Ja, es waren sehr schöne Tage«, stimmte sie ihm bei. »Aber bewegen Sie doch Ihre Füße nicht so unvorsichtig, Sie werden noch die Weintrauben zertreten. Mr. Smith, warum tragen Sie eigentlich die Haare nicht auf der einen Seite gescheitelt? Ich kann diese zurückgebürsteten Haare nicht leiden!«


Mr. Lammer-Green hörte es und war verärgert.


»Ihr Diener hat Ihren Rock auch nicht ordentlich ausgebürstet.« Sie klopfte ihn leicht mit den Fingerspitzen ab.


Mr. Green zitterte. Sie war wirklich das unausstehlichste und herrschsüchtigste Mädchen, das er jemals getroffen hatte.


»Matilda«, sagte er so leise, daß sie einen Augenblick sogar ihren Ordnungssinn vergaß, »Matilda, müssen wir uns denn trennen?«


»Ich weiß nicht, warum wir das müßten«, erwiderte sie und küßte ihn einfach aufs Ohr …


Anthony Newton arrangierte alles.


»Der junge Mann hat eine große Zukunft, meine Liebe«, sagte Sir Joshua strahlend.


»Das glaube ich auch«, meinte Matilda. »Aber ich weiß nicht, ob ich ihn nach der Hochzeit noch zu sehen wünsche. Die Idee, die Flitterwochen zu verschieben …«


»Das schlug doch John vor. Er will doch nach der Trauung gleich zur Stadt fahren, um die Familienjuwelen zu holen.«


»Warum können wir denn das nicht zusammen tun? Nein, ich liebe diesen Mr. Newton nicht – er ist mir zu anmaßend.«


Der Bräutigam hatte allerhand Wünsche, die Anthony erfüllen sollte.


»Lassen Sie uns nur nicht allein, alter Junge«, bat er inständig. »Sie hat schon ohne weitere Umstände mein Ohr geküßt, ohne daß ich sie im mindesten dazu ermutigte. Sie ist eine schreckliche Frau, der man nicht trauen kann. Bleiben Sie bloß an meiner Seite, bis die Zeremonie vorüber ist. Ich habe Ihnen als Belohnung hundert Pfund versprochen, ich werde sie auf zweihundert erhöhen. Aber geben Sie nur nicht zu, daß sie mich noch einmal küßt.«


»Aber eine junge Dame hat doch auch ihre Rechte«, sagte Anthony bestimmt. »Wenn sie Sie küssen will, dann steht ihr das doch frei.«


Trotzdem blieb er an dem Vorabend der Hochzeit immer an der Seite Mr. Lammer-Greens, worüber sich Miss Gaggle nicht wenig ärgerte.


Anthony hatte auch noch eine ernste Unterredung mit ihm.


»Ich habe mir alles überlegt, Mr. Green, Es scheint mir, daß Ihr kleiner Scherz sehr böse für Sie enden kann. Kennen Sie das Gesetz über diesen Punkt?«


»Ach, lassen Sie mich mit dem Gesetz in Frieden«, erwiderte der erzürnte Freier.


»Es gibt nur eine Möglichkeit, einer Gefängnisstrafe zu entgehen«, sagte Anthony. »Sie müssen beweisen können, daß Sie das Opfer einer Intrige sind, Und ich will ja ganz gern den Schuft in diesem Stück spielen.«


Anthony erklärte ihm seinen Plan.


Morgen auf dem Wege zur Kirche sollte Mr. Green sich die Ohren mit Watte zustopfen.


»Aber mein lieber, alter Junge, dann höre ich ja nichts!« protestierte der Bräutigam.


»Aber das rettet Sie doch. Sie brauchen doch auch gar nichts zu hören. Wenn ich nicke, dann sagen Sie ja, und wenn ich Ihnen winke, dann sprechen Sie die bekannten Worte: ›Ich, der und der, und so weiter, nehme dich und so weiter.‹ Es ist gut, wenn Sie die Worte leise sagen. Das ist so Brauch, wenn die Leute heiraten. Wenn nachher irgendwie Unannehmlichkeiten kommen, können Sie ja sagen, daß Sie nichts gehört haben und dachten, ich heirate die junge Dame und Sie wären mein Brautführer. Die Zeitungen werden eine große Geschichte aus der Sache machen.«


Am nächsten Morgen waren sie eine Viertelstunde vor der Ankunft der Braut in der Kirche. Der Verabredung gemäß trug sie ein ganz einfaches weißes Kleid. Mr. Lammer-Green schüttelte sich, als er sie sah. Aber er war sehr zufrieden mit Anthony, denn der »Geistliche« sah ganz echt aus. Er hatte einen Schnupfen und war erkältet, genau wie die richtigen Landpfarrer. Seine Gewänder waren etwas alt und abgetragen, und seine Finger steif vor Kälte. Offensichtlich langweilte ihn die ganze Geschichte.


Mr. Lammer-Green paßte genau auf, schaute immerfort Anthony an und sagte auch richtig »Ja«, als die Zeremonie soweit gediehen war. Mit heiserer, kaum vernehmlicher Stimme murmelte er die Trauungsformel, als ihre beiden Hände vereinigt waren.


Als das glückliche junge Paar in die Sakristei ging, nahm Anthony Sir Joshua beiseite.


»Es tut mir leid, daß ich jetzt schon gehen muß«, sagte er. Sir Joshua nahm einen Scheck aus seiner Westentasche und überreichte ihn Anthony.


»Ich sah draußen zwei Wagen warten – einer davon ist wohl der Ihrige?«


»Es ist ein Mietauto«, erwiderte Anthony lakonisch. »Ich nehme immer Mietautos, wenn ich schnell fortkommen will.«


Sir Joshua eilte in die Sakristei und kam noch zur rechten Zeit, um dem ersten Familienstreit beizuwohnen, dem noch viele folgen sollten.


»Dein Name ist John Lammer-Green«, rief die neugebackene junge Frau mit schriller Stimme. »Das ist der Name, auf den die Heiratslizenz ausgestellt ist, und das ist der Name, auf den du geheiratet hast. Nun sei doch nicht verrückt!«


Mr. Lammer-Green verfärbte sich, und seine Hand zitterte beim Schreiben. Er hatte die Watte aus den Ohren genommen und konnte jetzt sehr gut hören. Er starrte entsetzt auf den Pfarrer.


»Entschuldigen Sie eine Frage … sind Sie wirklich ein Geistlicher?«


Der andere nickte.


»Ich bin der Kurator der St. Margaretenkirche.«


Der Bräutigam machte ein langes Gesicht.


»Dann bin ich ja wirklich … verheiratet?«


»Aber natürlich … Sie haben auf eine besondere Lizenz hin heiraten können. – Ihr Freund hat alles arrangiert.« –


Mr. Lammer-Green atmete schwer.


»Nein, der war nicht mein Freund«, stöhnte er, »er war wirklich nicht mein Freund!«


Kapitel 9

 

9

 

Dick Shannon bewohnte ein Stockwerk am Haymarket, und am Tag nach Audreys Entlassung aus dem Gefängnis waren Inspektor Lane, Steel und er selbst dort versammelt.

 

»Sie haben sie verfehlt?« fragte der Inspektor.

 

Dick seufzte und nickte.

 

»Aber da sie vorzeitig entlassen wurde, muß sie sich melden, und das wird man mir sofort berichten. Lassen wir das einstweilen. Wie steht es denn mit Malpas?«

 

»Er bleibt nach wie vor ein Rätsel«, erwiderte Lane. »Und sein Haus ist ein noch größeres Geheimnis als er. Er bewohnt es ununterbrochen seit Januar 1917, und kein Mensch hat ihn gesehen. Seine Rechnungen bezahlt er prompt, und gleich nach seinem Einzug hat er viel Geld für allerlei neue Anlagen ausgegeben: elektrische Leitungen, Alarmapparate und dergleichen Finessen. Eine große Turiner Firma hat das Haus ausgestattet.«

 

»Hat er keine Dienstboten?«

 

»Nein. Das ist das Seltsamste an der Geschichte. Nahrungsmittel kommen nicht ins Haus, woraus hervorgeht, daß er entweder verhungern oder ausgehen muß. Ich habe es von vorn und von hinten beobachten lassen, aber keiner meiner Leute hat den Mann zu sehen bekommen, obwohl sie sonst verschiedene sonderbare Dinge bemerkten.«

 

»Bringen Sie jetzt das Mädchen herein, Steel«, sagte Shannon, und gleich darauf schob sein Assistent eine stark gepuderte junge Dame ins Zimmer, die sich mißmutig auf einem Stuhl niederließ.

 

»Miß Neilsen, Berufstänzerin ohne Anstellung?« fragte Dick.

 

»Ja.«

 

»Erzählen Sie uns von Ihrem Besuch in Portman Square Nr. 551.«

 

»Hätte ich gewußt, daß ich gestern nacht, als ich so mitteilsam war, mit einem Detektiv sprach, dann hätte ich nicht soviel gesagt«, entgegnete sie unwillig. »Der alte Mann verlangte von mir, daß ich nebenan bei Mr. Marshalt Spektakel machen und schreien sollte, daß Marshalt ein Schuft wäre. Dann sollte ich ein Fenster einschlagen und mich verhaften lassen.«

 

»Einen Grund dafür gab er nicht an?«

 

»Nein. Die Sache paßte mir nicht, und ich war heilfroh, als ich wieder draußen war. War das ein scheußlicher Kerl! Und das Zimmer ganz dunkel! Ein richtiges Gespensterhaus! Türen, die von selbst aufgehen – Stimmen, die von nirgendwoher kommen – ich dankte meinem Schöpfer, als ich wieder auf der Straße stand.«

 

»Woher kannten Sie denn den Mann?« fragte Dick mißtrauisch.

 

»Er hatte meinen Namen in den Inseraten gelesen – bei den Stellengesuchen.«

 

Da weitere Fragen ergebnislos blieben, wurde sie wieder entlassen, und nun berichtete Lane weiter.

 

»Der Steuerbeamte beschwerte sich, daß er Mr. Malpas nicht zu sehen bekäme. Man glaubte, daß er zu wenig Einkommensteuer zahlte. Als er aber vorgeladen wurde, kam er nicht selbst, sondern sandte statt dessen einen Erlaubnisschein zur Einsicht in sein Bankkonto. Es war das einfachste Konto von der Welt: fünfzehnhundert Pfund jährlich bar eingezahlt und fünfzehnhundert Pfund im Jahr ausgezahlt. Keine Geschäftsquittungen. Nichts weiter als Abgaben, Grundsteuer und größere Summen für laufende Ausgaben.«

 

»Und Besuch kommt nie ins Haus?«

 

»Nur zweimal im Monat, gewöhnlich an einem Sonnabend. Wie es scheint, ist es jedesmal ein anderer Mann. Die Leute kommen immer erst nach Einbruch der Dunkelheit und bleiben nie länger als eine halbe Stunde. Einmal war es ein Neger, und einer meiner Leute machte sich an ihn heran, konnte aber nichts aus ihm herausbringen.«

 

»Malpas muß schärfer beobachtet werden«, befahl Dick, und der Inspektor machte sich eine Notiz. »Nehmen Sie einen dieser Besucher unter irgendeinem Vorwand fest und durchsuchen Sie ihn. Vielleicht stellt sich dabei heraus, daß Malpas nur Almosen verteilt – oder auch nicht!«

 

 

Audreys kleiner Geldvorrat schwand dahin, und es war ihr noch nicht gelungen, eine Anstellung zu erhalten. Am ersten Weihnachtstag bestand ihr Frühstück nur aus einer trockenen Brotscheibe und kaltem Wasser.

 

Am folgenden Dienstag erhielt sie jedoch zu ihrer größten Überraschung einen Brief, der nur aus zwei mit Bleistift geschriebenen Zeilen bestand:

 

»Kommen Sie heute nachmittag um fünf zu mir. Ich habe Arbeit für Sie. Malpas, Portman Square Nr. 551.«

 

Sie runzelte die Stirne und starrte auf den Zettel. Wer war Malpas, und wie hatte er von ihr erfahren?

 

Aber Not kennt kein Gebot, und zur angegebenen Zeit stand Audrey, durchnäßt vom Regen, vor dem Haus und klopfte leise mit den Fingern an, da sie keinen Klopfer fand.

 

»Wer ist da?«

 

Die Stimme schien aus dem Türrahmen zu kommen.

 

»Miß Bedford.«

 

Nach einer kurzen Pause öffnete sich die Türe langsam.

 

»Kommen Sie herauf – das Zimmer im ersten Stock«, sagte die Stimme.

 

Die Haustür schloß sich wieder hinter Audrey. Von unerklärlichem Grauen gepackt, wollte sie entfliehen und suchte nach dem Türgriff, aber sie entdeckte keinen. Schließlich bekämpfte sie ihre Angst und stieg die Stufen hinauf. Im ersten Stock bemerkte sie nur eine Tür und klopfte nach einem kleinen Zögern dort an.

 

»Herein!« Diesmal kam die Stimme von oben.

 

Einen Augenblick brauchte Audrey noch, um Mut zu sammeln, dann trat sie durch die nur angelehnte Tür ein.

 

Die Wände des großen Raums waren so dicht mit schwarzem Samt verkleidet, daß man nicht sehen konnte, wo sich die Fenster befanden, und wo die Decke anfing. Der dicke Teppich verschlang jedes Geräusch ihrer Schritte.

 

Am entfernten Ende des Zimmers saß an dem Schreibtisch eine merkwürdig widerwärtige Gestalt. Das Licht einer Stehlampe, die von einem grünen Schirm bedeckt war, warf einen fahlen Schein auf sie. Der Kopf war kahl, das bartlose Gesicht von tausend Falten bedeckt, die Nase dick. Und das lange, spitze Kinn bewegte sich fortwährend, als ob der Mann mit sich selbst spräche.

 

»Setzen Sie sich auf diesen Stuhl«, gebot die dumpfe Stimme.

 

Audreys Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, und sie nahm zitternd hinter dem kleinen Tisch Platz.

 

»Ich habe Sie kommen lassen, um Ihr Glück zu machen«, murmelte die Stimme. »Schon viele haben auf dem Stuhl dort gesessen und sind als reiche Leute fortgegangen. Sehen Sie, was auf dem Tisch liegt?«

 

Er mußte wohl auf einen Knopf gedrückt haben, denn plötzlich flammte über ihrem Kopf ein strahlend helles Licht auf, und sie sah ein Bündel Banknoten auf dem Tisch.

 

»Nehmen Sie es!« sagte der Mann.

 

Sie streckte zitternd die Hand aus und ergriff das Paket und einen Schlüssel. Das Licht erlosch langsam wieder.

 

»Ihr Name ist Audrey Bedford, nicht wahr? Nach neunmonatlicher Haft, die Sie wegen Mitschuld an einem Juwelenraub verbüßt haben, sind Sie vor drei Wochen aus dem Gefängnis entlassen worden?«

 

»Ja, ich mache kein Hehl daraus. Ich hätte es Ihnen auf jeden Fall gesagt.«

 

»Sie waren natürlich unschuldig?«

 

»Ja.«

 

»Sie sind schlecht angezogen … das verletzt mein Schönheitsgefühl. Kaufen Sie sich gute Kleider, und kommen Sie nächste Woche zur selben Zeit wieder. Der Schlüssel öffnet alle Türen, wenn die Sperrvorrichtung ausgeschaltet ist.«

 

Endlich erholte sich Audrey von ihrem Staunen.

 

»Ich muß aber wissen, welche Pflichten ich zu übernehmen habe«, sagte sie. »Es ist sehr großmütig von Ihnen, mir so viel Geld anzuvertrauen, aber Sie werden einsehen, daß ich es unmöglich annehmen kann, ohne zu wissen, was Sie von mir verlangen.«

 

»Ihre Aufgabe besteht darin, einem Mann das Herz zu brechen!« lautete die Antwort. »Gute Nacht!«

 

Sie fühlte einen kühlen Luftzug und drehte sich um.

 

Die Tür stand offen, und Audrey wußte, daß sie entlassen war.

 

Hastig eilte sie die Treppe hinunter. Als sie den Schlüssel in das winzige Loch stecken wollte, entglitt er ihren zitternden Fingern und fiel zu Boden. Sie suchte danach und fand dicht daneben einen nußgroßen Kieselstein, an dem ein Klümpchen roten Siegellacks mit dem deutlichen Abdruck eines Petschafts klebte. Sie nahm sich vor, den sonderbaren Gegenstand nächste Woche wieder mitzubringen, und steckte ihn in ihre Handtasche. Gleich darauf stand sie wieder auf der Straße.

 

Ein Mietauto kam vorbei und hielt auf ihren Wink hin am Bordstein an. Schon wollte sie einsteigen, als sie plötzlich eine Frau in durchnäßtem Pelzmantel bemerkte, die sich taumelnd bemühte, den Klopfer des Nachbarhauses in Bewegung zu setzen. Trotz ihres Abscheus vor betrunkenen Frauen erregte diese Jammergestalt doch Audreys Mitleid, und sie wollte auf sie zugehen, um ihr behilflich zu sein. Aber im gleichen Moment wurde die Haustür aufgestoßen.

 

»Was soll denn das heißen?« rief ein ältlicher Mann. »Wer macht hier einen solchen Spektakel vor dem Haus eines Gentlemans? Gehen Sie weg oder ich hole einen Polizisten!«

 

Es war Tonger. Die Betrunkene schwankte auf ihn zu und brach zusammen. Er schleuderte sie ins Haus und schlug die Tür zu.

 

»Das ist Mr. Marshalts Haus«, meinte der Chauffeur. »Er ist der afrikanische Millionär. Wohin soll ich Sie bringen?«

 

Kapitel 1O

 

1O

 

 

Martin Elton war mit seiner Frau im Theater und schlenderte während einer Pause im Foyer umher. Er stammte aus gutem Haus, war aber durch Spiel, Wetten und manche andere Dinge allmählich immer mehr heruntergekommen. Nur ab und zu nickte ihm noch jemand aus der Ferne zu, und der einzige, der ihn anredete, war ihm unwillkommen.

 

»Abend, Elton! Na, wie geht’s? Stanford soll ja in Italien sein, wie ich höre? Haben Sie was vor?« fragte Slick Smith.

 

»Nein.«

 

»Kürzlich von Marshalt gehört?«

 

»Ich weiß nicht viel von ihm.«

 

»Aber ich. Er ist auch ein Dieb, und wenn er etwas stiehlt, bleibt gewissermaßen eine Lücke zurück. Aber da klingelt es schon – auf Wiedersehen!«

 

Als Martin und Dora nach Hause kamen, wandte sie sich im Wohnzimmer ungeduldig an ihn.

 

»Was hast du denn, Bunny? Diese Launen sind wirklich unausstehlich!«

 

»Hast du etwas von deiner Schwester gehört?« entgegnete er und warf ein Scheit in den Kamin, bevor er sich niederließ.

 

»Nein, und hoffentlich höre ich auch nie wieder von ihr! Die winselnde Gefängnisratte!«

 

»Ich habe sie nicht winseln hören. Und ins Gefängnis haben wir sie gebracht.«

 

Sie schaute ihn verwundert an.

 

»Du hast sie doch selbst geradezu aus dem Haus gejagt, als sie das letztemal hier war!«

 

»Ja, das weiß ich. Aber London ist ein verteufelter Platz für alleinstehende junge Mädchen ohne Geld und Freunde. Ich wollte, ich wüßte, wo sie ist.«

 

»Überlassen wir sie dem Schutz Gottes«, erwiderte Dora spöttisch.

 

Aber Martins Augen wurden klein und lauernd.

 

»Wenn du dich so gegen deine Schwester benimmst, wie würde es dann wohl mir ergehen, wenn du einmal in aller Eile zwischen mir und deiner eigenen Sicherheit wählen müßtest?« fragte er langsam.

 

»Sauve qui peut – das ist mein Wahlspruch«, erklärte sie lachend.

 

Er warf seine Zigarre ins Feuer und stand auf.

 

»Dora«, sagte er dann mit eisiger Stimme, »Lacy Marshalt ist kein wünschenswerter Bekannter.«

 

Sie musterte ihn erstaunt.

 

»Ist er unehrlich?« entgegnete sie harmlos.

 

»Es gibt viele unehrliche Männer, mit denen eine Dame nicht in einem reservierten Zimmer bei Shavarri dinieren darf.«

 

»Ach, du hast spioniert? Marshalt kann unter Umständen sehr nützlich für uns sein.«

 

»Für mich nicht – am allerwenigsten, wenn er heimlich mit meiner Frau diniert.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Wenn es noch einmal vorkommt, suche ich ihn auf und jage ihm drei Kugeln durch die Brusttasche, in der er seine vorzüglichen Zigarren bei sich trägt. – Was ich mit dir machen würde, weiß ich noch nicht. Das hängt ganz von meiner Stimmung und von – deiner Nähe ab.«

 

Sie war totenbleich geworden, suchte vergeblich nach Worten und lag ihm plötzlich schluchzend zu Füßen.

 

»Ach, Bunny, sprich doch nicht so – schau mich nicht so entsetzlich an! Ich will ja alles tun, was du willst … ich schwöre dir, daß nichts vorgefallen ist … es war eine Laune von mir, daß ich hinging …«

 

Er strich über ihr goldenes Haar.

 

»Du bedeutest mir sehr viel, Dora«, sagte er freundlich. »Ich habe dich nicht gut beeinflußt … ich habe selbst die meisten guten Grundsätze über Bord geworfen, nach denen sich andere Leute richten. Aber an einem werde ich immer festhalten: ich verlange ehrliches Spiel unter Dieben, weil ich selbst ehrlich spiele!«

 

Kapitel 6

 

6

 

Big Bill war nicht sentimental, aber dieser Vorschlag ging selbst ihm zu weit.

 

»Das ist unmöglich. Bedenke doch, wenn sie gefaßt wird und uns verrät?«

 

»Das ist auch mein einziges Bedenken, und es ist nur gering«, entgegnete Dora.

 

Der große Mann starrte einen Augenblick vor sich hin.

 

»Das Ding muß unbedingt aus dem Haus«, sagte er dann. »Schließe die Tür zu, Dora!«

 

Sie gehorchte. Auf dem Kaminsims stand eine wunderschön emaillierte Uhr, die mit einer kleinen Faungestalt geschmückt war. Stanford hob den Faun und damit einen Teil der Uhr ab, die ruhig weitertickte. Ein leiser Druck auf eine Feder genügte, um eine Seite des Bronzekastens zu öffnen und ein genau hineinpassendes Stanniolpaket zu zeigen. Er legte es auf den Tisch, und als er es auspackte, flammten blaue, grüne und weiße Blitze blendend auf. Voll Bewunderung sah Dora auf die Steine.

 

»Hier liegen nun siebzigtausend Pfund«, meinte Stanford nachdenklich, »und daneben liegen zehn Jahre für irgendjemand – sieben für Diebstahl und drei für Majestätsbeleidigung.«

 

Der elegante Martin Elton schauderte.

 

»Schenke dir doch solche Bemerkungen. Es handelt sich jetzt nur darum, wer das Ding fortbringt.«

 

»Audrey natürlich«, erklärte Dora gelassen. »Kein Mensch kennt sie, und niemand verdächtigt sie. Und Pierre ist leicht zu erkennen. Aber dann ist auch Schluß mit diesen Geschichten, Martin. Du weißt, der Krug geht solange zu Wasser, bis –«

 

»Vielleicht macht Lacy Marshalt ihn zu einem Direktor«, höhnte Stanford.

 

»Ich kenne den Mann ja kaum«, entgegnete sie. »Ich erzählte dir, daß ich ihn auf dem Ball bei Denshores getroffen habe, Bunny. Er ist Südafrikaner und steinreich, aber unerhört geizig.«

 

Martin sah sie mißtrauisch an.

 

»Ich wußte nicht, daß du ihn kennst –«

 

»Zur Sache!« rief Stanford ungeduldig. »Was soll werden – wenn sie gefaßt wird? Elton, nach der Geschichte in Leyland Hall hast du den Kram doch durch einen Mann aus Bognor außer Landes schaffen lassen. Erinnerst du dich? Nun, mit diesem Freund aus Bognor hat sich Dick Shannon heute stundenlang unterhalten.«

 

Martins hübsches, blasses Gesicht wurde noch einen Schein bleicher.

 

»Er wird nichts verraten«, murmelte er.

 

»Wer weiß! Wenn einer ihn dazu bringt, ist es Shannon.«

 

»Der Schmuck muß weg«, sagte Dora. »Packe ihn wieder ein, Martin.«

 

Er machte sich an die Arbeit, wickelte die Kette in Watte und legte sie in eine kleine, flache Zigarrenschachtel, die er mit braunem Papier umhüllte und verschnürte. Dann steckte er das Päckchen unter ein Sofakissen und brachte die Uhr wieder in Ordnung.

 

»Plaudert deine Schwester aus, wenn sie gefaßt wird?« fragte Stanford.

 

Dora überlegte einen Augenblick.

 

»Nein, bestimmt nicht!« sagte sie dann und ging hinauf, um Audrey zu holen.

 

Als das junge Mädchen ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf einen großen, breitschulterigen Mann mit kurzgeschorenem Haar, der sie mit ernsten, strengen Augen ansah.

 

»Mr. Stanford«, stellte Dora vor. »Und dies ist mein Mann.«

 

Verwundert betrachtete Audrey den zierlichen, stutzerhaften Mr. Elton, dessen bleiche Gesichtsfarbe durch das dunkle Schnurrbärtchen und die kohlschwarzen Augenbrauen noch mehr hervorgehoben wurde. Das war also der vielgepriesene Martin!

 

»Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Audrey!« sagte er und schaute sie begeistert an. »Du hast ja eine entzückende Schwester, Dora!«

 

»Ja, sie ist jetzt hübscher als früher«, erwiderte seine Frau kühl, »aber fürchterlich angezogen.«

 

Audrey wurde nicht leicht verlegen, aber der unverwandte Blick des großen Mannes, der sie geradezu durchbohrte und abschätzte, war ihr unbehaglich. Sie atmete erleichtert auf, als er sich verabschiedete. Martin begleitete ihn hinaus, um Dora Gelegenheit zu geben, ihre Geschichte vorzubringen.

 

Sie erzählte von einer mißhandelten Frau, die sich genötigt gesehen hätte, aus Angst vor ihrem brutalen Gatten das Land zu verlassen, und nicht einmal Zeit gehabt hätte, das Miniaturbild ihres Kindes mitzunehmen.

 

»Wir haben uns das Bild verschafft«, fuhr sie fort. »Nach dem Buchstaben des Gesetzes waren wir allerdings nicht dazu berechtigt, aber die arme Mutter tat uns so leid. Durch ein gutes Trinkgeld hat Martin einen Diener des Hauses bewogen, uns das Bild zu bringen. Nun scheint der Mann aber die Sache herausgebracht zu haben und läßt uns Tag und Nacht beobachten, so daß wir es nicht wagen, das Bild durch die bereits gewarnte Post oder durch einen Boten fortzuschicken. Heute kommt nun ein Freund der armen Lady Nilligan nach London, und wir haben verabredet, ihm das Bild auf den Bahnhof zu bringen. Nun fragt es sich – würdest du wohl so lieb sein, es hinzutragen, Audrey? Dich kennt hier niemand. Die Spione werden dich nicht belästigen, und du kannst einer bedauernswerten Frau einen großen Dienst erweisen.«

 

»Aber das ist doch eine sehr sonderbare Geschichte!« rief Audrey und runzelte die Stirne. »Könnt ihr denn nicht einen Dienstboten schicken? Oder kann der Mann nicht herkommen?«

 

»Ich sagte dir doch, daß unser Haus bewacht wird!« entgegnete Dora ungeduldig. »Aber natürlich, wenn du nicht willst –«

 

»Selbstverständlich werde ich es tun«, lachte Audrey.

 

»Wie nett von dir! Aber eins muß ich dir noch sagen: falls die Sache doch herauskommen sollte, darfst du unseren Namen nicht nennen. Ich bitte dich, mir bei dem Andenken an unsere tote Mutter zu schwören –«

 

»Das ist nicht nötig«, unterbrach sie Audrey kühl. »Ich verspreche es dir – das genügt.«

 

Aus dem kleinen Diner, von dem Dora gesprochen hatte, schien nichts geworden zu sein, denn um halb neun kam sie zu ihrer Schwester nach oben und übergab ihr ein längliches, fest verschnürtes und versiegeltes Päckchen.

 

Sie beschrieb ihr den geheimnisvollen Pierre genau.

 

»Vor allem aber kennst du mich nicht«, schärfte sie ihr noch einmal ein, »und du hast auch das Haus Curzon Street Nr.508 nie in deinem Leben betreten. Und zu dem Mann sagst du weiter nichts als: ›Dies ist für Madame.‹«

 

Audrey wiederholte die Worte.

 

»Welche Umstände für eine solche Kleinigkeit!« meinte sie dann. »Ich komme mir fast wie eine Verschworene vor.«

 

Nachdem sie das Päckchen in einer inneren Manteltasche verborgen hatte, verließ sie das Haus und entfernte sich in der Richtung nach Park Lane. Martin folgte ihr, behielt sie im Auge, bis sie in einen Omnibus stieg, und fuhr dann in einem Mietauto hinter ihr her.

 

Vor dem Charing Cross-Bahnhof stieg Audrey ab und eilte in die große Halle. Dort wimmelte es von Menschen, und es dauerte eine Weile, bis sie Pierre entdeckte, einen untersetzten, flachsbärtigen Mann mit einem kleinen Muttermal auf der linken Backe, das ihr als Erkennungszeichen dienen sollte. Ohne weiteres zog sie das Päckchen aus dem Mantel, ging auf ihn zu und sprach ihn mit den verabredeten Worten an.

 

Er schaute sie forschend an und ließ das Päckchen so schnell in seine Tasche gleiten, daß sie seiner Bewegung kaum zu folgen vermochte.

 

»Bien!« sagte er. »Wollen Sie Monsieur danken und –«

 

Er fuhr blitzschnell herum, aber der Mann, der ihn am Handgelenk gepackt hatte, ließ sich nicht abschütteln. Im selben Augenblick wurde auch Audrey am Arm gefaßt.

 

»Kommen Sie mit, meine Liebe«, sagte eine freundliche Stimme zu ihr. »Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard.«

 

Plötzlich stockte er jedoch und starrte entsetzt in ihr Gesicht.

 

»Meine Bettelprinzessin!« sagte er leise.

 

»Bitte, lassen Sie mich los!« Schreckliche Angst packte Audrey, und sie versuchte sich freizumachen. »Ich muß zu –« Noch rechtzeitig verstummte sie.

 

»Sie wollen natürlich zu Mrs. Elton«, ergänzte er.

 

»Nein, ich kenne keine Mrs. Elton«, erwiderte sie atemlos.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte, darüber müssen wir noch genauer sprechen. Ich möchte Ihren Arm nicht festhalten. Wollen Sie mich so begleiten?«

 

»Sie – Sie verhaften mich?« keuchte sie.

 

Er nickte ernst.

 

»Ich muß Sie leider festnehmen, bis eine gewisse Angelegenheit aufgeklärt ist. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie in Unwissenheit gehandelt haben. Aber Ihre Schwester ist keineswegs unschuldig.«

 

Sprach er von Dora? Das Herz wurde ihr schwer, aber sie nahm sich zusammen.

 

»Ich will gern mit Ihnen sprechen und keinen Fluchtversuch machen. Aber ich komme nicht von Mrs. Elton, und sie ist nicht meine Schwester. Ich habe heute nachmittag geflunkert, als ich das behauptete.«

 

Er winkte ein Auto heran, gab dem Chauffeur Anweisung, wohin er fahren sollte, und half ihr beim Einsteigen.

 

»Sie lügen, um Ihre Schwester und Bunny Elton zu schützen«, sagte er unterwegs.

 

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, aber eins wußte sie jetzt klar: es war kein Miniaturbild gewesen, das sie Pierre übergeben hatte. Es war etwas ganz anderes – etwas Entsetzliches!

 

»Was war in dem Paket?« fragte sie tonlos.

 

»Die Diamantenkette der Königin von Griechenland, wenn ich nicht sehr irre. Man überfiel sie und riß ihr das Kollier vom Hals.«

 

Audrey richtete sich auf, und ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Dora!

 

»Sie wußten natürlich nicht, um was es sich handelte«, sagte er, als ob er zu sich selbst spräche. »Es ist in diesem Fall eine furchtbare Zumutung an Sie, aber Sie müssen die Wahrheit sagen – auch wenn es für Ihre Schwester ein Schicksal bedeutet, das sie längst erwartet.«

 

Das Auto schien sich im Kreise zu drehen. »Tu alles, was du kannst, für Dora…« Die beharrliche Mahnung ihrer Mutter dröhnte ihr in den Ohren. Sie zitterte heftig, und ihr Gehirn war plötzlich wie gelähmt.

 

Sie wußte nur, daß sie verhaftet war – sie, Audrey Bedford!

 

»Ich habe keine Schwester«, log sie, und atmete schwer. »Ich habe die Kette gestohlen.«

 

Als sie sein freundliches Lachen hörte, hätte sie ihn ermorden mögen.

 

»Sie armes, liebes Baby! Der Überfall wurde von drei erfahrenen Banditen ausgeführt. Nun hören Sie einmal zu. Ich gestatte Ihnen nicht, daß Sie diesen tollen Plan in die Tat umsetzen und sich einfach für diese Leute opfern. Wußten Sie denn nicht, daß Dora Elton und ihr Mann zu den gefährlichsten Verbrechern Londons gehören?«

 

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte.

 

»Nein, nein –« schluchzte sie. »Ich weiß nichts … sie ist nicht meine Schwester.«

 

Dick Shannon seufzte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie anzuklagen.

 

Pierre war schon vor ihnen auf der Polizeistation eingetroffen, und Audrey sah entsetzt zu, als man ihn durchsuchte, das Päckchen öffnete und seinen blitzenden Inhalt auf dem Schreibtisch niederlegte. Dann nahm sie Shannon freundlich an der Hand und führte sie hinter die Stahlschranke.

 

»Name: Audrey Bedford«, sagte er. »Adresse: Fontwell, West Sussex. Sie wird beschuldigt, im Besitz gestohlenen Gutes gewesen zu sein und gewußt zu haben, daß es sich um gestohlenes Gut handelte. – Nun sagen Sie die Wahrheit!« flüsterte er ihr zu.

 

Aber sie schüttelte den Kopf.

 

Kapitel 7

 

7

 

Lacy Marshalt saß in seinem Frühstückszimmer und verglich ein Foto mit der Momentaufnahme eines unternehmenden Pressefotografen, die in einer Zeitung wiedergegeben war: ein junges Mädchen, das in Begleitung eines Polizisten und einer Gefängniswärterin ein Auto verließ.

 

Tonger kam hereingeschlüpft.

 

»Haben Sie geklingelt, Lacy?«

 

»Ja, vor zehn Minuten. Und nun ein für allemal: ich verbitte mir diese Anrede!«

 

Der kleine Mann rieb sich vergnügt die Hände.

 

»Ich hab‘ einen Brief von meinem Mädel bekommen«, sagte er. »Sie ist in Amerika und gut bei Kasse – wohnt in den ersten Hotels. Ein schlaues Kind!«

 

Lacy faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.

 

»Mrs. Elton wird gleich hier sein. Sie kommt durch die Hintertür. Erwarte sie dort und führe sie durch den Wintergarten in die Bibliothek. Wenn ich klingle, bringst du sie auf demselben Weg wieder zurück.«

 

Als Dora kaum fünf Minuten später in der Bibliothek erschien, stand Lacy vor dem Kaminfeuer.

 

»Ich habe meine liebe Not gehabt, um herzukommen«, sagte sie. »Konnte es denn nicht nachmittags sein? Ich mußte Martin allerlei vorlügen. Gibt es denn nicht wenigstens einen Kuß?«

 

Er neigte sich zu ihr und streifte ihre Wange mit den Lippen.

 

»Was für ein Kuß!« spottete sie. »Nun, und –?«

 

»Dieser Juwelenraub! Die Polizei scheint anzunehmen, daß das angeklagte junge Mädchen deine Schwester ist?«

 

Sie schwieg.

 

»Ich weiß natürlich, daß du eine Diebin bist. Ich kenne Stanford von Südafrika her, und er gehört zu deiner Bande. Aber dieses Mädchen – ist sie auch daran beteiligt?«

 

»Du weißt, wie weit sie beteiligt ist«, erwiderte sie unmutig. Sie war schließlich nicht unter soviel Gefahren hierhergekommen, um über Audrey zu sprechen. »Übrigens stand hinten ein Mann und beobachtete das Haus, als ich herkam. Er sah aus wie ein Gentleman, hager und vornehm, und er hinkte –«

 

»Was?« Lacy packte sie am Arm. Er war bleich geworden. »Du belügst mich!«

 

Sie riß sich erschrocken los.

 

»Was soll denn das heißen?«

 

»Ach, es sind die Nerven! Sie ist also deine Schwester?«

 

»Meine Stiefschwester«, murmelte sie.

 

»Ihr hattet verschiedene Väter?«

 

Sie nickte.

 

Er schwieg eine Weile und lachte dann unheimlich auf.

 

»Und sie geht ins Gefängnis – um dich zu retten? – Nun, mir kann es recht sein. Ich habe Zeit.«

 

Kapitel 8

 

8

 

Audrey war fest geblieben, hatte ihre Schwester nicht verraten und war zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt worden. An einem trüben Dezembermorgen wurde sie wieder aus dem Holloway-Gefängnis entlassen. Sie ging in der Richtung nach Camden Town davon, stieg in eine Straßenbahn und fuhr zum Euston- Bahnhof.

 

Ihr Gesicht war ein wenig schmaler geworden, und die Augen blickten ernster, aber es war die alte Audrey, die sich in einem Restaurant eine große Portion gebratener Nieren mit Ei bringen ließ. Neun Monate lang hatte das monotone Leben im Gefängnis sie zermürbt. Zweiundsiebzig Stunden in der Woche hatte sie mit dem Abschaum der Unterwelt verbracht, ohne auf das Niveau dieser Leute herabzusinken, und ohne sich ihnen maßlos überlegen zu fühlen. In bitteren Nächten hatte sie verzweifeln wollen, weil man ihr solches Unrecht angetan hatte.

 

Trotzdem kam ihr Doras Handlungsweise nicht unnatürlich vor. Sie war immer rücksichtslos und egoistisch gewesen. Nur daß ihre Schwester im Charakter soviel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatte, schmerzte Audrey.

 

Mit einem Seufzer stand sie auf und ging nach der Kasse, um zu bezahlen.

 

Wohin sollte sie sich nun wenden? Zuerst zu Dora, um sich zu vergewissern, ob sie ihr auch nicht mit ihren Gedanken unrecht getan hatte. Aber bei Tag wäre ein Besuch nicht angebracht gewesen. So machte sie sich denn auf die Wohnungssuche, mietete schließlich ein hochgelegenes Hinterzimmer und machte sich bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg.

 

In der Curzon Street wurde sie von demselben Mädchen empfangen, das ihr bei ihrem ersten Besuch geöffnet hatte.

 

»Mrs. Elton ist nicht zu sprechen«, erklärte sie schnippisch.

 

Aber Audrey trat ruhig ein.

 

»Gehen Sie nach oben und sagen Sie Ihrer Herrin, daß ich hier bin.«

 

Das Mädchen eilte hinauf, und Audrey folgte ihr. In der Wohnzimmertür kam ihr Dora in großem Abendkleid entgegen.

 

»Wie kannst du dich unterstehen, hierherzukommen?« fragte sie wütend.

 

Audrey trat ins Zimmer und schloß die Tür.

 

»Ich wollte mir deinen Dank holen«, sagte sie schlicht. »Ich habe etwas Törichtes – etwas Wahnsinniges getan, weil ich Mutter vergelten wollte, was ich ihr schuldig war.«

 

»Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«

 

Martin mischte sich ins Gespräch.

 

»Daß Sie die Stirn haben, hierherzukommen! Sie versuchten, uns ins Verderben zu ziehen. Sie haben Ihre – haben Mrs. Elton mit Schande bedeckt und erscheinen nun hier ganz einfach im Haus. Verdammt unverfroren!«

 

»Wenn du Geld brauchst, so schreibe!« rief Dora und stieß die Tür auf. »Solltest du dich noch einmal hier zeigen, so lasse ich einen Polizisten rufen.«

 

»Das kannst du jetzt schon tun«, entgegnete Audrey kühl. »Ich bin zu gut bekannt mit Polizisten und Gefängniswärtern, um mich durch solche Drohungen einschüchtern zu lassen, liebe Schwester.«

 

Dora machte die Tür rasch wieder zu.

 

»Wenn du es denn durchaus wissen willst – wir sind keine Schwestern«, sagte sie leise und tückisch. »Du bist nicht einmal Engländerin! Dein Vater war Mutters zweiter Mann – ein Amerikaner! Und er sitzt lebenslänglich verurteilt in Kapstadt!«

 

Audrey tastete nach einer Stuhllehne.

 

»Das ist nicht wahr!«

 

»Es ist wahr!« zischte Dora. »Mutter erzählte es mir, und Mr. Stanford kennt die ganze Geschichte. Dein Vater kaufte Diamanten und erschoß den Mann, der ihn verriet. In Südafrika ist der Ankauf von Diamanten ein Kapitalverbrechen, und er brachte Schande über Mutter. Sie nahm einen anderen Namen an und kehrte nach England zurück. Du hast nicht einmal ein Recht auf den Namen Bedford! Sie haßte den Mann so, daß sie alles änderte.«

 

Audrey nickte.

 

»Und Mutter verließ ihn natürlich«, sagte sie halb zu sich selbst. »Sie blieb nicht in seiner Nähe, um ihn zu trösten und sein schweres Los zu erleichtern. Sie verließ ihn einfach. Wie ihr das ähnlich sieht!«

 

Ihre Worte klangen weder boshaft noch erbittert, denn sie hatte die Gabe, Tatsachen objektiv und leidenschaftslos zu betrachten. Langsam hob sie den Blick, bis sie Doras Augen begegnete.

 

»Ich hätte nicht ins Gefängnis gehen sollen. Du bist es nicht wert. Und Mutter ebensowenig. «

 

»Du unterstehst dich, so von unserer Mutter zu sprechen!« schrie Dora wütend.

 

»Ja, sie war auch meine Mutter. Aber sie steht nun jenseits meiner Kritik und deiner Verteidigung. Wie heiße ich denn dann in Wirklichkeit?«

 

»Das kannst du selbst herausbringen!« höhnte Dora.

 

Kapitel 32

 

32

 

Am Nachmittag desselben Tages hielt sich Martin Elton fast eine Stunde lang in seiner Bank auf, prüfte den Inhalt seines diebessicheren Safes, zerriß allerlei Papiere und steckte vier einzelne, dicht beschriebene Briefbogen in seine Brusttasche. Sobald er wieder nach Hause kam, rief er Stanford an und bat ihn, sofort zu ihm zu kommen.

 

Stanford erklärte sich erst nach längeren Ausflüchten und Einwendungen dazu bereit und war in übler Laune, als er kurz vor fünf in der Curzon Street erschien.

 

»Zum Teufel, was fällt dir denn ein, daß du mich herbeorderst, als ob ich ein Kuli wäre!« fuhr er Martin wütend an.

 

Elton lag auf einer Couch und blickte von seinem Buch auf.

 

»Mach die Tür zu und schrei nicht so!« erwiderte er gelassen. »Die Sache ist ernst, sonst hätte ich dich nicht herbestellt.« Er stand auf, nahm sich eine Zigarre und bot auch Stanford eine an, die dieser mißmutig nahm. »Audrey ist jetzt bei Stormer angestellt, und das Kind ist schlau.«

 

»Was geht mich das an! Wenn du mich nur deshalb-«

 

»Ich sage dir, daß sie schlau ist. Und daß sie uns nach jener Diamantengeschichte nicht gerade freundlich gesinnt ist, kannst du dir wohl denken. Nun weiß ich zufällig, daß Stormer für fast alle Botschaften in London arbeitet –«

 

Stanford lachte höhnisch.

 

»Meinetwegen kann sie Beweise sammeln, soviel sie will!« sagte er. »Mir soll’s recht sein. Ist das alles?«

 

»Nicht ganz. Besinnst du dich noch auf den kleinen Feldzugsplan für die Sache mit der Königin von Griechenland, den du wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten schriftlich ausgearbeitet hast?«

 

»Gewiß, aber der ist doch vernichtet.«

 

»Leider nicht«, fuhr Martin kaltblütig fort. »Es war eine so geniale Arbeit, daß ich sie dummerweise aufbewahrte. Audrey war vorgestern hier. Sie kam, während Dora und ich ausgegangen waren, und ging zu Doras Zimmer hinauf, um ihr Haar überzukämmen. Dora bewahrt die Schlüssel zu meinem Depositenfach in ihrem Schreibtisch auf.«

 

Stanford starrte ihn an.

 

»Nun – und?«

 

»Als ich heute nach der Bank ging, um Geld herauszunehmen, waren all meine Papiere verschwunden.«

 

Stanford wurde bleich.

 

»Du meinst, daß mein Plan auch verschwunden ist?«

 

»Ja, das meine ich.« Er hob abwehrend die Hand. »Geh bitte nicht gleich in die Luft. Ich gebe zu, daß es verrückt von mir war, ihn aufzuheben. Natürlich hätte ich ihn sofort vernichten müssen – besonders weil du darin sogar Namen genannt hattest, wenn ich mich recht erinnere. Für mich ist die Geschichte ebenso fatal wie für dich – vielleicht noch unangenehmer, da Dora und ich etwas bei ihr auf dem Kerbholz hatten, du dagegen nicht.«

 

»Du hast mich reingelegt, du Schweinehund! Wie kann man nur so wahnsinnig sein, so etwas aufzuheben?«

 

»Warum hast du Namen hineingeschrieben? Natürlich mache ich mir Vorwürfe, aber wenn die Sache vor Gericht kommt, so ist deine eigene Schlauheit daran schuld.«

 

Stanford zuckte die Schultern. Trotz seiner scheinbaren Stärke und Großmäuligkeit war er im Grund ein Schwächling, wie Martin sehr wohl wußte.

 

»Was soll ich denn jetzt tun?« fragte er verbissen.

 

Elton begann nun, Mittel und Wege mit ihm zu besprechen …

 

 

Torrington hatte Audrey für den Abend entlassen.

 

»Ich habe noch eine wichtige Besprechung«, sagte er. »Sie können also ins Theater gehen oder sich sonst nach Belieben die Zeit vertreiben.«

 

Audrey freute sich darüber, denn Dora hatte sie eingeladen, bei ihr zu essen.

 

»Ich gehe nachher noch aus und muß deshalb früh essen«, hatte Dora am Telephon geäußert. »Du brauchst dich also nicht schön zu machen.«

 

Sie öffnete ihrer Schwester selbst die Tür.

 

»Meine Köchin ist eben auf und davon gegangen«, erklärte sie und küßte Audrey. »Und mein Mädchen wollte so gern ihre kranke Mutter besuchen. Ich hatte nicht das Herz, ihr die Bitte abzuschlagen. Du mußt also Nachsicht haben. Martin ist zum Glück in den Klub gegangen. Er kommt erst nachher, um mich abzuholen.«

 

Der Tisch war sehr hübsch für zwei Personen gedeckt, und auch das Essen ließ nichts zu wünschen übrig, denn trotz all ihrer Fehler war Dora eine vorzügliche Hausfrau.

 

»Wir wollen eine kleine Flasche Sekt trinken, um unsere Versöhnung zu feiern«, sagte sie beim zweiten Gang, stand auf, nahm eine Flasche aus dem silbernen Kühler und entfernte geschickt den Draht über dem Korken.

 

Audrey lachte.

 

»Ich habe lange keinen getrunken«, sagte sie.

 

»Solchen Sekt hast du wohl noch nie bekommen«, plauderte Dora heiter. »Martin ist ein Kenner.«

 

Der Propfen knallte, und sie füllte ein Glas, so daß der rosige Schaum überlief.

 

»Auf unser nächstes vergnügtes Beisammensein!« sagte sie und hob ihr Glas.

 

Audrey lachte leise und nippte.

 

»Du mußt aber austrinken!« rief Dora.

 

Ihre Schwester leerte das Glas mit feierlicher Miene.

 

»Ach«, sagte sie dann etwas bestürzt, »das schmeckt ja ganz bitter – fast wie Chinin. Aber ich verstehe wohl nicht viel von Wein.«

 

Eine halbe Stunde später kam das Hausmädchen unerwartet zurück.

 

»Ich dachte, Sie wollten ins Theater gehen?« fragte Dora scharf.

 

»Ich habe solche Kopfschmerzen bekommen«, erwiderte die Angestellte. »Leider konnte ich die Eintrittskarte, die Sie mir schenkten, nicht benützen. Aber wenn ich vielleicht bei Tisch aufwarten soll…«

 

»Wir sind schon fertig mit dem Essen«, entgegnete Dora. »Miß Bedford ist eben gegangen.«

 

 

Torrington warf seinem Besucher einen scharfen, prüfenden Blick zu und deutete dann stumm auf einen Stuhl.

 

»Wenn ich nicht irre, haben wir uns schon gesehen, Mr. Torrington«, begann Martin.

 

»Ich weiß genau, daß wir uns nie gesehen haben, obwohl ich Sie vom Hörensagen kenne. Legen Sie Ihren Mantel ab, Mr. Elton. Sie baten um eine Unterredung unter vier Augen, und ich habe sie aus verschiedenen Gründen bewilligt. Ich glaube, Sie sind ein Schwager meiner Sekretärin.«

 

Martin neigte den Kopf.

 

»Ja, unglücklicherweise.«

 

»Unglücklicherweise?« Der alte Herr zog die Augenbrauen hoch. »Ach, Sie meinen wegen ihrer Vergangenheit? Das arme Mädchen war ja wohl in einen Juwelenraub verwickelt.«

 

»Sie hatte die Diamanten bei sich, als sie verhaftet wurde.«

 

»So? Das ist ja schlimm! Natürlich wußte ich das, als ich die junge Dame anstellte. Sie wollen mich wohl vor ihren Ränken warnen?«

 

»Nein, ich komme aus einem ganz anderen Grund her, erwiderte Martin, der trotz Torringtons ernster Miene das Gefühl hatte, der alte Mann triebe seinen Spott mit ihm. »Verzeihen Sie mir, wenn ich ein sehr peinliches Thema berühren muß. Sie wurden vor Jahren in Südafrika wegen unerlaubten Diamantenhandels verurteilt –«

 

»Ja, ich war das Opfer eines der größten Schurken im Diamantengebiet, eines gewissen Lacy Marshalts, der jetzt tot ist.«

 

»Sie hatten eine junge Frau«, fuhr Martin zögernd fort, »und ein Kind – ein kleines Mädchen, das Dorothy hieß.«

 

Torrington nickte stumm.

 

»Ihre Frau war außer sich über die Schande, verschwand aus Südafrika und ließ nie wieder von sich hören, nicht wahr?«

 

»Doch, einmal schrieb sie.« Die Worte klangen wie ein Peitschenhieb.

 

»Sie kam mit dem Baby und einer älteren Tochter nach England, nahm den Namen Bedford an und lebte hier von ihrem kleinen Einkommen.«

 

»Von einer Rente«, verbesserte Torrington. »Ich hatte sie vor meiner Verhaftung in eine Rentenbank eingekauft. Bitte, sprechen Sie weiter!«

 

Martin holte tief Atem.

 

»Aus irgendeinem Grund erzog die Frau Dorothy in dem Glauben, daß sie die Tochter ihres ersten Gatten sei, während sie das andere kleine Mädchen für älter ausgab. Aus welchem Grund –«

 

»Lassen wir das!« fiel ihm Torrington ins Wort. »All dies kann wahr oder unwahr sein.«

 

Martin wagte nun den entscheidenden Schritt.

 

»Sie sind der Meinung, daß Ihre Tochter Dorothy tot ist. Das stimmt aber nicht. Sie lebt, und zwar hier in England. Sie ist meine Frau.«

 

Daniel Torringtons Augen schienen den Mann zu durchbohren.

 

»Ist das die Geschichte, die Sie mir erzählen wollten?« fragte er. »Daß meine kleine Dorothy noch lebt und Ihre Frau ist?«

 

Eine lange, drückende Pause entstand.

 

Endlich brach Torrington das lastende Schweigen.

 

»Sind Ihnen eigentlich die näheren Umstände meiner Verhaftung bekannt? – Nein? Dann werde ich sie Ihnen einmal erzählen.

 

Ich saß auf der Vortreppe meines Hauses in Wynberg und hatte mein Baby auf dem Schoß, als ich Marshalt um das Gebüsch herumkommen sah. Ich war überrascht, daß er zu mir kam – bis ich zwei Detektive hinter ihm bemerkte. Er hatte Angst vor mir, Todesangst! Als ich aufstand und das Kind in die Wiege legte, zog er einen Revolver und schoß. Nachher sagte er, ich hätte zuerst gefeuert, aber das war eine Lüge. Ich hätte überhaupt nicht geschossen, aber seine Kugel traf die Wiege, und ich hörte das Kind schreien. Da erst legte ich auf ihn an, und er wäre ein toter Mann gewesen, wenn ich nicht des Kindes wegen in so große Aufregung geraten wäre. Ich fehlte, und sein zweiter Schuß zerschmetterte mir das Bein. Wußten Sie das?«

 

Martin schüttelte den Kopf.

 

»Ich dachte mir, daß es Ihnen neu sein würde. Das Kind war verwundet – die Kugel fuhr durch den kleinen Zeh des einen Fußes und zerbrach den Knochen – mich wundert nur, daß Ihre Frau Ihnen davon noch nichts gesagt hat –«

 

Martin schwieg.

 

»Meine kleine Dorothy ist nicht tot. Das weiß ich schon seit einiger Zeit, und nun habe ich sie auch mit Hilfe meines Freundes Stormer gefunden.«

 

»Und sie weiß – ?« fragte Martin totenbleich.

 

»Nein, sie weiß es nicht. Sie soll es erst erfahren, wenn meine Aufgabe erledigt ist.«

 

Seine kalten Augen durchdrangen unbarmherzig Martins Gesicht.

 

»Ihre Frau ist meine Tochter, wie? Sagen Sie ihr, sie möchte herkommen und mir ihren linken Fuß zeigen. Sie können Geburtsscheine fälschen, Elton – aha, das saß – aber kleine Fußzehen, die zerschossen wurden, können Sie nicht nachbilden!«

 

Er klingelte.

 

»Bringen Sie den Herrn hinaus«, sagte er, »und wenn Miß Bedford nach Hause kommt, möchte ich sie sofort sprechen…«

 

Eine Viertelstunde später standen sich Dora und Martin im Wohnzimmer gegenüber, und er berichtete ihr das Ergebnis seiner Unterredung mit Torrington.

 

»Vielleicht läßt sich alles noch zu unseren Gunsten verschieben. Er wird zahlen, um sie zurückzubekommen, wenn –«

 

»Wenn -?«

 

»Wenn sie noch lebt«, erwiderte Dora leise, »und wenn inzwischen nichts anderes passiert ist.«

 

Kapitel 33

 

33

 

Abends um elf erhielt Slick Smith den Besuch einer Dame. Der Hauswirt, der sehr auf guten Ruf hielt, erklärte unmutig, daß er das zu so später Stunde nicht dulden könnte.

 

»Es handelt sich um eine äußerst wichtige Botschaft meines Freundes, Captain Shannon. Vielleicht würden Sie so freundlich sein, mir Ihr Wohnzimmer auf kurze Zeit zur Verfügung zu stellen?« erwiderte Slick.

 

Dazu erklärte sich der Mann bereit.

 

Nach einer Viertelstunde entfernte sich die Dame wieder, und Slick bedankte sich bei dem Wirt.

 

Dann ging er in seine Wohnung hinauf, vertauschte den Frack mit einem Straßenanzug, schlüpfte in einen Flauschmantel und steckte allerhand rätselhafte Gegenstände ein. Die Dame, die ihn besucht hatte, wartete noch vor dem Haus auf ihn, und sie gingen zusammen bis zum Marble Arch. Slick bemerkte sehr wohl, daß der unvermeidliche Mann von Stormer ihm folgte, kümmerte sich aber nicht darum. Er verabschiedete sich von der Dame und fuhr in einer Droschke nach dem Greville-Gebäude, wo der Nachtportier ihn dienstbeflissen empfing und im Lift nach oben fuhr. Slick besaß zur Zeit eine elegante Wohnung im zweiten Stock des Hauses …

 

 

Am selben Abend machte Sergeant Steel seine übliche Runde durch die zahllosen, außerordentlich verschiedenartigen Nachtklubs, die in London seit dem Krieg aus dem Boden geschossen waren. Gegen zwölf kehrte er heim und fühlte schon in der Tasche nach seinem Schlüssel, als ihm ein Mann mit einer Handtasche entgegenkam. Steel war todmüde, aber als er diese Tasche sah, nahm er die Verfolgung sofort auf. Sie war so schwer, daß der Mann sie bald in die eine, bald in die andere Hand nahm. Es war eine lange Jagd, denn der Mann merkte die Gefahr, beschleunigte seine Schritte, huschte bald um diese, bald um jene Ecke und begann schließlich zu laufen. Aber auch Steel hatte flinke Beine und ließ nicht von ihm ab, denn sein Instinkt sagte ihm, daß er diesen Mann stellen müßte. Der Flüchtling wurde immer nervöser, als die Verfolgung andauerte, und als er an einer Straßenecke einen Polizisten stehen sah und Steel dicht hinter sich wußte, zauderte er eine Sekunde, ließ dann die Tasche fallen und eilte blitzschnell davon.

 

In diesem Augenblick erkannte ihn Steel: es war Slick Smith.

 

»Folgen Sie dem Mann«, befahl er dem Polizisten und wandte seine Aufmerksamkeit der Handtasche zu …

 

 

Dick Shannon war beim Auskleiden, als sein Assistent mit leuchtenden Augen ins Zimmer stürzte.

 

»Sehen Sie her!« rief er und öffnete die Tasche mit einem Ruck.

 

Wie versteinert schaute Dick hinein.

 

»Die Diamanten!« flüsterte er.

 

»Slick Smith hatte sie!« fuhr Steel atemlos fort. »Ich sah ihn von weitem und folgte ihm, ohne zu wissen, daß er es war. Er kniff aus, und als ich ihn erreichte, ließ er die Tasche fallen.«

 

»Holen Sie ein Auto!« erwiderte Dick und zog sich schnell wieder an.

 

Fünf Minuten später erschien Steel wieder, und diesmal hatte er die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Das Auto war von Polizisten umringt. Sie verteilten sich auf den Sitzen und brachten die Diamanten wohlbehalten nach Scotland Yard.

 

Dick kehrte mit Steel dann zum Haymarket zurück. Vor seiner Haustür fand er einen kleinen, schmutzigen Jungen. William stand neben ihm.

 

»Er sagt, er hätte einen Brief für Sie«, meldete der Diener. »Mir wollte er ihn nicht geben.«

 

»Ich bin Captain Shannon«, sagte Dick, aber der kleine Mann schien immer noch abgeneigt, sich von seiner Botschaft zu trennen.

 

»Bringen Sie ihn herein«, befahl Shannon.

 

Im Wohnzimmer zog der Junge endlich einen unsauberen Fetzen Zeitungspapier aus der Tasche. Dick nahm ihn und sah, daß es ein Stück von einem Londoner Morgenblatt war. Die Botschaft war mit Bleistift auf den unbedruckten Rand gekritzelt:

 

 

»Um Himmels willen, retten Sie mich! Ich bin am Foulds Kai. Der Teufel will mich noch vor morgen früh umbringen.

 

Lacy Marshalt.«

 

 

»Lacy Marshalt!« schrie Steel. »Großer Gott, das ist doch nicht möglich!«

 

»Woher hast du das?« fragte Dick rasch.

 

»Ein Junge gab es mir in der Spa Road. Er sagte, ein Herr hätte es dicht bei Dockhead durch ein Gitter gesteckt, und ich würde ein Pfund kriegen, wenn ich es Captain Shannon brächte.«

 

»Warum kam er denn nicht selbst damit her?«

 

Der Bursche grinste.

 

»Weil er Sie kennt!«

 

»Weißt du, wo Foulds Kai ist?«

 

»Ja, ich hab‘ oft dort geangelt.«

 

»Gut, dann kannst du uns den Weg zeigen. William, holen Sie den Wagen heraus. Setzen Sie den Bengel neben sich, und desinfizieren Sie ihn! Hier hast du dein Geld.«

 

Sie fuhren bei Scotland Yard vor, um ein paar Beamte mitzunehmen, und hielten an der London Bridge an, wo sie einen Distriktssergeanten vorfanden, der am Fluß Bescheid wußte. Dann wurde der Junge entlassen. Kurz darauf sahen sie das glitzernde Wasser der Themse.

 

»Nach rechts«, sagte der Sergeant.

 

Sie betraten einen Pfahlrost, auf dem Dicks Schritte hohl und dumpf tönten, als er darauf entlangging und ins Wasser hinunterschaute.

 

»Niemand zu sehen. Wir müssen ins Lagergebäude hinein.«

 

»Hilfe!«

 

Die Stimme klang schwach, aber Dick hörte sie und hob die Hand.

 

Einen Augenblick standen alle reglos und lauschten, dann hörten sie das leise Wimmern wieder:

 

»Hilfe! Um Himmels willen, Hilfe!«

 

Dick beugte sich über das Wasser hinab. Die Flut stieg, und etwas weiter nach rechts lag ein Boot. Vorsichtig tastete er sich hin und sprang hinein.

 

»Hilfe!« Jetzt klang die Stimme näher.

 

»Wo sind Sie?« schrie Dick.

 

»Hier!«

 

Es war Marshalts Stimme!

 

Da keine Ruder vorhanden waren, zog sich Dick, nachdem er das Boot losgemacht hatte, mit den Händen an den Planken entlang, bis er die Stelle erreichte, von der der Ruf gekommen war. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er umher, und wenige Sekunden später fiel ihr Schein auf Marshalts Gesicht. Der Mann stand bis über die Schultern im Wasser, und seine über den Kopf emporgereckten Hände waren an einem Pfahl festgebunden.

 

»Machen Sie das Licht aus – sonst faßt er Sie!« schrie er.

 

Dick folgte der Aufforderung, und im selben Augenblick knallten zwei Schüsse. Sein Hut flog davon, und er fühlte einen brennenden Schmerz am linken Ohr. Rasch paddelte er das Boot mit den Händen zurück und holte Steel.

 

»Holen Sie Ihren Revolver heraus und machen Sie Licht«, sagte er, während er das Boot wieder durch das Labyrinth der faulenden Pfähle steuerte. »Und schießen Sie, sobald Sie einen Kopf sehen!«

 

Drei Minuten später war Marshalt aus seiner furchtbaren Lage befreit und sank keuchend auf dem Boden des Bootes nieder. So schnell als möglich brachten sie ihn zur nächsten Polizeiwache, wo er nach einem heißen Bad und in geborgten Kleidern etwas mehr zu sich kam. Er zitterte allerdings noch wie Espenlaub.

 

Dick hatte inzwischen mit einigen Leuten das Lagerhaus durchsucht, ohne etwas anderes zu finden als eine der grünen Patronenschachteln, die er in Marshalts Vorratszimmer gesehen hatte.

 

Marshalt selbst wußte nicht viel zu erzählen, als Dick erschien.

 

»Es war dumm von mir, in die Falle zu gehen, als Tonger mir den Brief brachte«, begann er. »Den Brief einer Dame, die mir schrieb, daß ich sie dort treffen würde. Sie können Tonger fragen.«

 

»Ich fürchte, er kann uns nichts mehr sagen«, warf Dick ein.

 

»Wie? Er ist doch nicht –«

 

»Eine Stunde, nachdem man Sie überfallen hatte, fand man ihn – erschossen auf.«

 

»Großer Gott!« erwiderte Marshalt tonlos und schwieg eine Weile. »Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu kam«, fuhr er dann mit einem Seufzer fort, »aber ehe ich hinüberging, zog ich eine kugelfeste Weste an – ein unbequemes Kleidungsstück, das ich während des Kriegs im Balkan getragen hatte, als ich dort in Geschäften herumreiste. Sie rettete mir tatsächlich das Leben. Ich ging ohne Mantel nach Nr. 551 hinüber und wurde auch gleich eingelassen, nachdem ich geklopft hatte. Als eine Stimme von oben mich aufforderte, hinzukommen, folgte ich der Einladung natürlich und stand plötzlich einem offenbar verkleideten Mann gegenüber. ›Nun hab ich dich!‹ rief er lachend und richtete den Revolver auf mich. Der Schuß war das Letzte, was ich hörte, bevor ich wieder zu mir kam. Auch was nachher mit mir geschah, weiß ich nicht recht. Ich muß wohl viel geschlafen haben, und ein paarmal kam der alte Mann und bohrte mir eine Nadel in den Arm …« Er lehnte sich matt zurück. »Und das Weitere wissen Sie ja bereits.«

 

Dick nickte.

 

»Nur eins, Marshalt! Gibt es einen Durchgang oder eine Tür, die das Malpas’sche Haus mit dem Ihrigen verbindet?«

 

»Meines Wissens nicht.«

 

»Und Sie behaupten, Malpas nicht wiedererkannt zu haben? Sie müssen doch irgendeinen Gedanken – oder wenigstens eine Ahnung über seine Persönlichkeit haben?«

 

Marshalt zögerte einen Augenblick.

 

»Sie werden es vielleicht phantastisch finden«, meinte er dann, »aber es kommt mir so vor, als ob – als ob Malpas eine Frau wäre.«

 

Kapitel 34

 

34

 

Audrey hatte einen fürchterlichen Traum. Es war ihr, als ob sie auf der Kante eines hohen, schmalen Turmes läge, der dauernd hin- und herschwankte. Außerdem quälten sie entsetzliche Kopfschmerzen. Sie fühlte ein dunkles Verlangen nach einer Tasse Tee und streckte die Hand nach der Klingel aus, aber sie griff ins Leere, und nach einiger Zeit wurde ihr klar, daß sie auf einer Matratze am Boden lag, denn ihre tastende Hand berührte den Fußboden. Es war stockdunkel, und sie war sehr durstig. Die Zunge klebte ihr am Gaumen.

 

Schließlich erhob sie sich langsam und unsicher, mußte sich aber an die Wand stützen, um nicht umzusinken. Sie suchte nach einer Tür, fand auch eine und öffnete sie. Sie hatte die unklare Empfindung, daß sie einen langen Gang vor sich hätte, an dessen Ende ein Deckenlicht brannte. Sie ging darauf zu und entdeckte in einem kleinen Raum eine Wascheinrichtung, wo sie sich erfrischen konnte. Sie wusch das Gesicht und trank nachher von dem Wasser, indem sie die Hände als Becher benützte. Dann ließ sie sich auf einer Fensterbank nieder und versuchte nachzudenken.

 

Mühsam ging sie Schritt für Schritt in ihrer Erinnerung rückwärts, und plötzlich entsann sie sich des Sektes, der so abscheulich geschmeckt hatte … Dora!

 

Sie stand immer noch unter dem Einfluß des Betäubungsmittels, aber allmählich drang doch zu ihrem Bewußtsein durch, warum es so dunkel war. Sämtliche Fenster waren durch schwere Läden verschlossen. Vergeblich suchte sie die fest eingerammten eisernen Riegel zu bewegen. Die Anstrengung erschöpfte nur ihre schwachen Kräfte, und sie sank ohnmächtig‘ zu Boden.

 

Als sie wieder zu sich kam, war sie erfroren und steif, aber die Kopfschmerzen hatten bedeutend nachgelassen. Sie trank noch etwas Wasser und kehrte dann in das Zimmer zurück, in dem sie erwacht war. Nach einigem Suchen gelang es ihr, dort Licht zu machen, und nun sah sie, daß die Einrichtung des Raumes nur aus der Matratze und einem zerbrochenen Stuhl bestand. Unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft riß sie eine starke Stange von der Lehne ab, um sie im Notfall als Waffe zu benützen. Dann sank sie erschöpft auf die Matratze nieder und fiel sofort in tiefen Schlaf.

 

Nach einer Weile erwachte sie wieder und richtete sich auf, denn sie hatte jemand sprechen hören. Lautlos schlich sie den Gang hinab bis zu der verschlossenen Tür und lauschte. Die Stimme kam von unten, und als sie sie erkannte, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen.

 

Es war Lacy Marshalt! Zitternd kauerte sie sich nieder und schaute durch das Schlüsselloch. Draußen war es hell, und sie bemerkte die Gestalt eines Mannes.

 

»Hier irgendwo muß es sein!« sagte Marshalt eben wieder.

 

Der Mann draußen schien ebenso angestrengt zu horchen wie sie selbst. Plötzlich drehte er sich um, und sie sah die große Nase, das lange Kinn – Malpas!

 

Mit wankenden Knien flüchtete sie in das Zimmer zurück. Ein furchtbares Grauen hatte sie gepackt und raubte ihr fast den Verstand. Nach wenigen Sekunden klopfte es leise an die Flurtür.

 

Mit angehaltenem Atem starrte sie auf die Tür. Noch zweimal klopfte es, dann wurde es wieder totenstill. Audrey wagte nicht, sich zu rühren. Endlich knirschte ein Schlüssel, es raschelte, dann fiel die Tür wieder zu. Audreys Herz schlug rasend, als sie sich nach einer Weile auf den Gang hinauswagte. Aber dann wäre sie vor Freude fast in Tränen ausgebrochen. Auf dem Fußboden stand ein Tablett mit heißem Kaffee, Brötchen, Butter und kaltem Fleisch, Nachdem sie gierig gegessen und getrunken hatte, klärten sich ihre Gedanken, und sie begann zu überlegen. Was konnte Dora nur veranlaßt haben, sie hier im Haus von Malpas gefangenzuhalten? Sie drehte alle Lichtschalter an, die sie finden konnte, und öffnete auch den Wasserhahn wieder. Die Helligkeit und das plätschernde Wasser übten eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Ab und zu ging sie an die Flurtür, aber draußen herrschte tiefe Stille.

 

Erst als sie zum siebtenmal hinaustrat, hörte sie jemand die Treppe herabkommen. Rasch kniete sie nieder und schaute durch das Schlüsselloch. Eine dunkle Gestalt glitt an der Tür vorüber und hielt auf dem breiten Treppenpodest an. Nun sah sie den Mann deutlich. Er trug einen langen Mantel und einen Schlapphut. Jetzt streckte er die Hand aus, und ein Teil der Wand öffnete sich – eine etwa sechs Zoll große Tür, die so gut durch die Tapete verdeckt war, daß nicht einmal Shannons geübtes Auge sie entdeckt hatte. Er griff mit der Hand hinein, eine blaue Flamme zuckte auf, und das Licht im Flur erlosch. Dann kam er auf die Tür zu.

 

Audrey sah, wie das Ende des Schlüssels in das Loch fuhr, wandte sich mit einem entsetzten Schrei um, rannte in ihr Zimmer zurück, schlug die Tür fest zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen … »

 

Die Flurtür öffnete sich …