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Alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Eine Falltür war nicht vorhanden, und die Stahltrossen des Aufzugs hatte Dick durchschneiden lassen.

 

»Holen Sie die Lampen!« befahl er. »Und von jetzt ab trägt jeder eine bei sich.«

 

Als ob diese Worte als Signal gewirkt hätten, erlosch das Licht von neuem, und die Tür schloß sich, bevor jemand sie erreichen konnte. Aber diesmal dauerte die Dunkelheit nur einen Augenblick.

 

»Die Geschichte fängt an, unheimlich…« begann Dick und verstummte plötzlich.

 

Vor dem Götzen lag ein Lederbeutel. Er war neu und groß.

 

Dick sprang hin, hob ihn auf und legte ihn auf den Tisch.

 

»Seien Sie vorsichtig!« warnte Steel.

 

Rasch betastete Dick den Beutel.

 

Fast wäre er in Ohnmacht gefallen, als er den Beutel bis zum Rand mit den gelben Steinen gefüllt sah, die er in der Brust des Götzen entdeckt hatte. Er holte tief Atem und winkte Steel zu sich.

 

»Das sind wohl ungefähr alle, die darin lagen?« fragte er.

 

Steel war sprachlos vor Erstaunen und konnte nur nicken.

 

»Inspektor, sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen ihre Sachen zusammensuchen«, befahl Dick. »Ich hebe die Bewachung dieses Hauses auf.«

 

Kurz darauf verließen sie alle das rätselhafte Gebäude. Dick streckte gerade die Hand aus, um die Tür zu schließen, als sie von selbst ins Schloß fiel. Zugleich wurde es drinnen hell. Am Fenster schob jemand die Gardine beiseite und schaute hinaus.

 

»Ich versuche es!« rief Dick und hob den Revolver.

 

Drei Schüsse knallten, Scheiben klirrten, der Lichtstreifen erlosch.

 

»Jetzt kann ich in ernste Schwierigkeiten kommen«, sagte Dick, »aber ich hoffe, daß ich ihn getötet habe!«

 

»Wen?« fragte Audrey ängstlich.

 

Aber er gab keine Antwort, denn schon ertönten Polizeipfeifen, und von allen Seiten strömten Polizisten und Neugierige herbei. Trotz seiner hohen Stellung in Scotland Yard mußte Dick seinen Namen, seine Adresse und die Nummer seines Revolvers angeben, bevor er in ein Auto steigen konnte. Den Lederbeutel stemmte er fest auf die Knie.

 

»Wir fahren erst zu meiner Wohnung und legen die übrigen Steine dazu«, sagte er zu Audrey. »Dann bringe ich sie nach Scotland Yard. Ich habe keine Ruhe, bis ich sie hinter bombensicheren Stahltüren weiß.«

 

»Ich glaube, ich bin ein schlechter Detektiv«, murmelte sie. »Beinahe hätte ich geschrien!«

 

»Ich auch, Miß Bedford«, meinte Steel. »Können Sie wohl einen Umweg machen und mich beim Middlesex- Hospital absetzen? Ich möchte meine Hand verbinden lassen.«

 

Sie kamen seinem Wunsch nach.

 

»Eigentlich hätten Sie einen Polizisten mitnehmen sollen, Captain Shannon«, sagte Audrey, als Steel ausgestiegen war.

 

Er lachte.

 

»Ach, zwischen der Wardour Street und Scotland Yard kann uns doch nichts passieren.«

 

Aber schon wenige Minuten später ereilte sie das Schicksal. Ein großes Auto kam hinter ihnen her, machte plötzlich eine Wendung und fuhr in die kleinere Droschke hinein, so daß sie krachend auf den Gehsteig geschleudert wurde.

 

Dicks erster Gedanke galt Audrey. Im Nu hatte er sie mit einem Arm umfaßt und zog sie an sich, um ihr Gesicht zu schützen, als die Scheiben in tausend Stücke zersprangen. Gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen, und eine Hand tastete hinein. Dick sah, wie die Finger nach dem Lederbeutel griffen, und seine Faust stieß zu. Der Schlag traf den Mann gegen die Schulter, so daß er eine Sekunde lang den Beutel losließ. Dann führte dieser einen Stoß durch die Tür. Dick sah Stahl aufblitzen. Er wand und drehte sich, um auszuweichen und seinen Revolver herauszuziehen, und wehrte sich durch einen gewaltsamen Fußtritt, der glücklicherweise traf. Ein Schrei ertönte, und ein Messer fiel klirrend auf die Scherben.

 

»Haltet den Mann!« schrie Dick. Er hatte den herbeieilenden Polizisten gesehen, aber das Knattern der Maschine übertönte seine Stimme. Im Bogen glitt der große Wagen um den Beamten herum und verschwand in der Shaftesbury Avenue.

 

Mühsam kletterte Dick aus dem Taxi und half Audrey auf die Füße.

 

»Haben Sie sich die Nummer gemerkt?« fragte er.

 

»Ja«, erwiderte der Chauffeur. »X.G. 97435.«

 

Dick lachte.

 

»Meine eigene! Unser Freund hat jedenfalls Humor.«

 

Jetzt fand sich auch ein Polizeiinspektor ein, der nach einer kurzen Unterhaltung mit Dick ein Auto besorgte und mit ihm zum Haymarket fuhr.

 

»Hallo!« rief der Captain, als sie vor der Wohnung vorfuhren, und er zu den Fenstern hinaufschaute. Er hatte seinem Diener befohlen, das Wohnzimmer nicht zu verlassen, bis er selbst zurückkehrte, und nun war oben alles dunkel.

 

»Kommen Sie herein in den Flur und halten Sie den Beutel«, sagte er zu dem Beamten. »Audrey, Sie bleiben hinter dem Inspektor stehen.«

 

Er schaltete die Treppenbeleuchtung ein und öffnete die Vorsaaltür. Aber in dem Raum war die Birne entfernt worden, so daß er vergebens auf den Lichtknopf drückte. Mit vorgehaltenem Revolver trat er die verschlossene Wohnzimmertür ein, drehte das Licht an und sah seinen Diener William blutend vor dem Sofa liegen. Der Safe stand offen, wie er erwartet hatte. Die gesprengte Tür hing in den Angeln, und die Zuckerschale mit ihrem kostbaren Inhalt war verschwunden.

 

Glücklicherweise erwies sich Williams Wunde als ungefährlich, und als der Mann wieder zum Bewußtsein kam, ging Dick in das nebenan liegende Schlafzimmer, wo ein Fenster offenstand. Er schloß es und ließ das Rouleau herab. Die Schubladen seines Toilettentisches waren geöffnet und das Bett durchwühlt worden.

 

Er verließ die Wohnung wieder und bemerkte, daß es im Treppenhaus dunkel war.

 

»Wer hat das Licht ausgedreht?« rief er hinab.

 

»Ich dachte, Sie hätten es getan!« erwiderte der Inspektor.

 

»Kommen Sie herauf und bringen Sie den Beutel mit.«

 

»Den Beutel? Aber den haben Sie doch genommen!«

 

»Was?« schrie Dick.

 

»Als Sie eben herunterkamen, sagten Sie doch: ›Geben Sie den Beutel her und bleiben Sie hier stehen‹«, entgegnete der Beamte erschrocken.

 

»Ach, Sie Quadratesel!« tobte Dick. »Haben Sie denn nicht Ihre Augen aufmachen können?«

 

»Es war doch dunkel –«

 

»Audrey, haben Sie den Mann gesehen?«

 

Keine Antwort.

 

»Wo ist die junge Dame?« rief Dick wild.

 

»Hier unten, neben der Tür.«

 

Dick fuhr herum und drehte das Licht an.

 

Audrey war verschwunden.

 

Der Chauffeur wartete noch. Er hatte einen Herrn mit einem Beutel in der Hand herauskommen sehen, nachher war die Dame gefolgt. Aber in welcher Richtung sie sich entfernt hatten, oder ob sie zusammen weggegangen waren, konnte er nicht angeben.

 

In kürzester Zeit hatten alle Polizeiwachen Londons von dem Raub erfahren. Motorfahrer waren unterwegs, um die Schutzleute zu veranlassen, auf einen Mann mit einem Lederbeutel zu achten, ebenso auf eine genau beschriebene junge Dame im Regenmantel.

 

Der Diener William wußte nur anzugeben, daß er die Zeitung gelesen und dann plötzlich das Bewußtsein verloren hatte.

 

Als Dick hastig herauskam, um nach Scotland Yard zu fahren, begegnete er einem Polizisten in Zivil, den er kannte, und fragte ihn, ob er vielleicht Audrey gesehen hätte. Aber der Mann verneinte.

 

»Ich stand oben am Eingang zur Untergrundbahn«, sagte er. »Wie immer war ein großes Gedränge dort. Aber es ist mir niemand aufgefallen. Nur Slick Smith kam in einem ganz durchweichten, dunkelblauen Mantel vorbei.«

 

»Wann?«

 

»Vor ungefähr fünf Minuten.«

 

In Scotland Yard waren noch keine Nachrichten eingelaufen, als Dick dort eintraf, und er machte sich daher sofort auf den Weg, um Slick Smith aufzusuchen.

 

Dieser war nicht in seiner Wohnung, aber der Hauswirt hatte nichts dagegen, daß Dick nach oben ging, um ihn dort zu erwarten. Die Tür war zu, ließ sich jedoch leicht öffnen. Dick trat in das Zimmer ein, hatte aber keine Gelegenheit, sich genauer umzusehen, weil der Inhaber der Wohnung ihm fast auf dem Fuß folgte.

 

Slick lächelte und hatte eine große Zigarre im Mundwinkel.

 

»Guten Abend, Captain!« sagte er vergnügt. »Wie nett von Ihnen, daß Sie mich besuchen!«

 

»Erzählen Sie mir bitte genau, was Sie von fünf Uhr an getrieben haben«, erwiderte Dick schroff.

 

»Das ist nicht so einfach. Ich weiß nur, daß ich mich um Viertel nach neun auf dem Haymarket befand. Einer Ihrer Spürhunde sah mich. Es wäre albern, es abzuleugnen. Während der übrigen Zeit bin ich herumgebummelt. Das Bequemste für Sie ist, wenn Sie sich bei der Stormerschen Agentur erkundigen. Die Firma läßt mich nämlich beobachten. Sie brauchen nur dort anzufragen. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Captain: lassen Sie uns die Karten aufdecken. In Ihrer Wohnung ist heute eingebrochen worden – wollen Sie mich deshalb holen?«

 

»Ich will Sie gar nicht holen. Aber Sie sind als verdächtig bekannt und wurden in der Nähe des Haymarket gesehen, als der Einbruch stattfand. Was ist denn eigentlich mit Ihrem Gesicht los?« Er drehte ihn nach der Lampe hin. Von der Backe bis über das linke Ohr hinauf zog sich eine lange Schramme, die sogar einige Haare entfernt hatte. »Das ist ja die Spur einer Kugel! Und hier am Kinn – rührt die Wunde etwa von Glasscherben her? Hören Sie zu, Smith: Sie standen hinter einem Fenster, die Kugel fuhr durchs Glas, streifte Ihre Stirn, prallte dann an Ihrem Kopf ab, und ein Glassplitter – ach, was ist denn das?« Er zupfte einen winzigen Glassplitter von dem nassen Mantelärmel des Mannes und hielt ihn Slick vor die Augen.

 

Eine Weile schwiegen beide und sahen einander an.

 

»Alle Achtung, Shannon!« sagte Slick Smith dann. »Sie haben das Zeug zu einem tüchtigen Detektiv. Ja, man hat auf mich geschossen – durch das Fenster einer Autodroschke. Einer von diesen schäbigen Halunken in Soho hat einen heimlichen Groll gegen mich. Hier ist die Nummer des Wagens – falls Sie Nachforschungen anstellen wollen.« Er holte eine Karte mit einer darauf gekritzelten Nummer aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sein Alibi war gut vorbereitet.

 

Diese Kaltblütigkeit reizte Dick aufs äußerste. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, und er wußte im Grund seines Herzens, daß er sich weniger um den Verlust der Diamanten als um Audreys Sicherheit sorgte.

 

»Smith«, sagte er eindringlich, »wollen Sie mir den Gefallen tun, wenigstens bis zu einem gewissen Grad offen gegen mich zu sein? Als ich nach Hause fuhr, befand sich Miß Bedford in meiner Begleitung – kennen Sie die Dame?«

 

»Ich habe sie einmal getroffen.«

 

»Schön. Es ist mir jetzt vollkommen gleichgültig, ob Sie mit dem Einbruch zu tun hatten oder nicht, aber sagen Sie mir, ob Sie Miß Bedford heute abend gesehen haben.«

 

Smith lächelte strahlend.

 

»Natürlich hab‘ ich sie gesehen! Vor zwei Minuten stand sie noch vor diesem Haus.«

 

Er hatte kaum gesprochen, als Dick auch schon die Treppe hinabstürmte. Auf dem Gehsteig ging jemand im Regenmantel auf und ab.

 

»Audrey!« rief er, und bevor er selbst wußte, was er tat, hielt er sie schon in den Armen. »Ach, Kind, Sie wissen nicht, was diese Minute für mich bedeutet«, sagte er mit zitternder Stimme.

 

Sie machte sich sanft von ihm frei.

 

»Hat Mr. Smith Ihnen nicht gesagt, daß ich hier warte?«

 

»Nahm er denn an, daß ich hier sein würde?« entgegnete er erstaunt.

 

Er führte sie nach oben, und sie erzählte.

 

»Ich dachte auch, daß Sie es wären, als jemand herunterkam und dem Inspektor etwas zuflüsterte. Aber als er die Tür aufriß, sah ich, daß Sie es nicht waren. Dick – es war Malpas! Ich hätte beinahe laut aufgeschrien, aber meine Hand berührte zufällig das silberne Abzeichen in meiner Tasche, und ich wurde mir wieder meiner Verantwortung als Detektivin bewußt. Ich eilte hinter ihm her und verfolgte ihn durch die Panton Street zum Leicester Square und zur Coventry Street. Dort bog er in eine Nebengasse ab, ging am Pavilion-Theater vorüber und die Great Windmill Street hinauf. Dort wartete ein Wagen auf ihn, aber als er einstieg, beging ich eine Dummheit. Ich schrie ›Halt!‹ und rannte darauf zu. Zu meiner größten Überraschung fuhr er nicht davon, sondern schaute aus der geschlossenen Limousine heraus und sagte: ›Sind Sie es, Miß Bedford? Steigen Sie doch bitte ein. Ich möchte mit Ihnen sprechen.‹ Und als er dann blitzschnell aus dem Auto sprang, ergriff ich die Flucht. Wie ich ihm entkommen bin, weiß ich selbst nicht. Es war kein Mensch in der Nähe, und ich war in einer entsetzlichen Todesangst! Ich rannte um mehrere Straßenecken und konnte kaum noch laufen, als plötzlich Mr. Smith in Sicht kam. Ich erschrak zuerst furchtbar, denn ich dachte, es wäre Malpas. Das ist alles. Mr. Smith brachte mich dann zu Ihrer Wohnung, und dort hörten wir von einem Polizisten, daß Sie sich nach ihm erkundigt hätten.«

 

Dick holte tief Atem.

 

»Wie kam es denn, daß Sie in der Nähe waren, Smith?«

 

»Ich war der jungen Dame gefolgt – was ich vielleicht unterlassen hätte, wenn ich gewußt hätte, daß sie zur Firma Stormer gehört«, entgegnete Slick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber jetzt werden Sie gehen wollen. Gute Nacht!«