Kapitel 21

 

21

 

Dora Elton hörte, wie Martin nach Hause kam, und riß sich zusammen. Sie fror, obwohl sie noch in ihren Pelzmantel gehüllt war und in einem behaglich warmen Raum saß.

 

Lacy Marshalt war tot. Auch wenn sie nicht hinter jener Menge auf dem Portman Square gestanden und es gehört hätte, wäre es ihr zum Bewußtsein gekommen, denn die wilde Besessenheit, die sie gepackt hatte, war plötzlich von ihr gewichen. Und nun war ihr zumute wie einem Mörder am Morgen des Hinrichtungstages.

 

Der Türgriff drehte sich, und Martin Elton trat ein. Bei seinem Anblick zuckte ihre Hand zum Mund empor, um einen Schrei zu unterdrücken. Sein Gesicht und seine Hände waren schmutzig, sein Frackhemd mit Staub und Flecken bedeckt. Von dem Beinkleid hing ein Tuchfetzen herab und enthüllte ein zerschrammtes Knie. Die blutlosen Lippen machten sein Gesicht plötzlich alt, und die Augen lagen tief in den Höhlen.

 

Eine Sekunde lang blieb er in der Tür stehen und starrte sie an. Es lag weder Vorwurf noch Zorn in seinem Blick.

 

»Hallo, die Polizei ist also doch gekommen?« fragte er.

 

»Die Polizei?«

 

»Du schicktest sie doch her, um nach dem Geld zu suchen. Ich sprach mit Gavon: er hatte offenbar Lust, eine Haussuchung vorzunehmen. Du hast das doch wohl nicht vergessen?«

 

Sie hatte es wirklich vergessen. Es war inzwischen so viel geschehen!

 

»Ich habe es verhindert. Gavon glaubt, daß ich hysterisch bin.«

 

Er spreizte die schmutzigen Finger über dem Feuer aus.

 

»Der Ansicht bin ich auch. Aber jetzt will ich baden und mich umkleiden.«

 

Plötzlich fuhr sie mit der Hand in seine Tasche, holte einen großen Browning heraus und untersuchte ihn. Die Pistole war erst kürzlich abgefeuert worden und roch noch nach Pulver.

 

»Haben sie dich gesehen?« fragte sie leise.

 

»Ich weiß es nicht – es kann sein. Was willst du tun?«

 

»Zieh dich nur um. Ich habe noch einen Gang zu machen – in einer Viertelstunde bin ich wieder hier.«

 

»Schön«, erwiderte er dumpf.

 

Sie kannte eine Terrasse am Regent-Kanal und fuhr in einer Autodroschke hin. Nachdem sie den Chauffeur bezahlt und entlassen hatte, ging sie mitten auf die Brücke und ließ die Pistole hinabfallen. Sie hörte deutlich, wie die Waffe das dünne Eis durchschlug. Dann ging sie zu dem anderen Kanalufer und fand sehr bald wieder ein Auto.

 

Martin saß in seinem Ankleidezimmer und trank heißen Kaffee, als sie zurückkehrte. Er erriet, wo sie gewesen war.

 

»Es tut mir leid, daß du dich so dumm benommen hast – wegen des Geldes«, sagte er. »Ich hatte es mir anders überlegt und es Stanford zurückgegeben. Gavon war hier, während wir aus waren.«

 

»Ja, Lucy sagte so etwas. Was hast du mit deinen Kleidern gemacht?«

 

»Im Zentralofen«, erwiderte er kurz.

 

»Ich gehe jetzt zu Bett«, murmelte sie und bot ihm die Lippen zum Kuß.

 

»Frauen sind doch wunderlich«, sagte er vor sich hin, als sie das Zimmer verlassen hatte.

 

Er selbst ging nicht zur Ruhe. Sein Anzug lag für die erwartete plötzliche Vorladung bereit. Die ganze Nacht hindurch saß er grübelnd am Kaminfeuer – aber er bereute nichts. Er war eingeschlafen, als er um sieben von dem Hausmädchen geweckt wurde.

 

»Ein Herr möchte Sie sprechen – Captain Shannon.«

 

Martin erhob sich fröstelnd.

 

»Ich lasse bitten«, entgegnete er.

 

Dick Shannon kam sofort herein.

 

»Morgen, Elton! Gehört das Ihnen?« Er hielt ihm das goldene Zigarettenetui hin.

 

»Ja.«

 

Dick steckte es wieder ein.

 

»Wollen Sie mir bitte erklären, wie es kommt, daß wir es dort fanden, wo Marshalt ermordet wurde?«

 

»Um welche Zeit wurde der Mord begangen?« erwiderte Elton höflich.

 

»Um acht.«

 

Martin nickte.

 

»Um acht befand ich mich auf der Polizeiwache in der Vine Street und setzte Inspektor Gavon auseinander, daß meine Frau zeitweise an Geistesverwirrung leidet. Wußten Sie das nicht?«

 

In diesem Augenblick trat Dora bleich und hohläugig ins Zimmer.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie.

 

»Shannon sagte mir eben, daß Lacy Marshalt tot ist. Das war mir ganz neu. Wußtest du es schon?«

 

»Ja – und warum ist Captain Shannon hier?«

 

»Weil mein Zigarettenetui wie durch Zauber sich auf das Dach des Malpas’schen Hauses verirrt hat«, entgegnete Martin lächelnd.

 

»Ich habe nicht gesagt, daß es dort gefunden wurde!« warf Dick ein.

 

»Dann muß ich es wohl geträumt haben«, antwortete Martin gelassen.

 

»Hören Sie, Elton, ich rate Ihnen, mir gegenüber so offen zu sein, als es mit Ihrer Sicherheit vereinbar ist«, warnte ihn Dick. »Wie kommt es, daß das Etui auf dem Dach von Portman Square 551 gefunden wurde?«

 

»Ich habe es dort verloren, als ich früher am Abend versuchte, in Marshalts Haus einzudringen, um – um eine kleine Abrechnung mit ihm zu halten. Aber es ist nicht möglich, das Dach zu erreichen. Auf das Haus nebenan kommt man ziemlich leicht hinauf, aber als ich von dort aus bei Marshalt eindringen wollte, stieß ich auf Schwierigkeiten. Und gestern abend wurde es noch schwieriger, weil sich ein Mann auf dem Dach befand – vermutlich ein Detektiv.«

 

»Wie kamen Sie denn wieder hinunter?«

 

»Das war das Erstaunliche. Jemand hatte glücklicherweise für einen Strick gesorgt, der am Schornstein angebunden und in regelmäßigen Abständen geknotet war – er war so bequem wie eine Leiter.«

 

Shannon überlegte einen Augenblick und ersuchte Martin dann, mit ihm nach der Vine Street zu kommen.

 

»Wir müssen Ihre Geschichte genau nachprüfen«, sagte er.

 

Zu seiner Verwunderung wurden Martins Aussagen auf der Polizeiwache vollauf bestätigt.

 

»Ja, Mr. Elton war um acht Uhr hier und sah aus, als ob er von einem Maskenball käme«, erwiderte der Beamte auf Dicks Frage. »Ganz zerlumpt und beschmutzt.«

 

»Und diese Uhr hier geht richtig?« erkundigte sich Dick.

 

»Ja, jetzt geht sie wieder«, entgegnete der Inspektor. »Nur gestern abend blieb sie einmal stehen – gerade um die Zeit, als Sie hier waren, Mr. Elton. Es muß wohl an der Kälte gelegen haben, denn wir brauchten sie fast gar nicht aufzuziehen, um sie wieder in Gang zu bringen.«

 

»Die dumme Uhr wird Sie wahrscheinlich vor dem Galgen bewahren«, sagte Dick, als sie wieder draußen waren. »Ich habe mir eine Vollmacht für eine Haussuchung bei Ihnen verschafft und werde jetzt damit beginnen.«

 

»Wenn Sie etwas finden, was für Sie von Wert ist, werde ich der erste sein, der Sie beglückwünscht«, erwiderte Elton kühl.

 

Kapitel 22

 

22

 

Die Zeitungen berichteten eingehend und wahrheitsgetreu über das Ereignis der vergangenen Nacht, und der ›Globe Herald‹ fügte hinzu:

 

 

»Die Polizei steht vor einem fast unlösbaren Rätsel oder vielmehr vor einer Reihe von Rätseln, die wir hier aufzählen wollen:

 

1. Wie gelangte Marshalt in das sorgsam behütete Haus dieses Sonderlings? Da er seinen Nachbar so sehr fürchtete, daß er Privatdetektive mit seinem Schutz betraut hatte, muß er starke Beweggründe gehabt haben, um sich zum Betreten des geheimnisvollen Hauses zu entschließen.

 

2. Auf welche Weise wurde Marshalts Leiche aus Nr. 551 entfernt?

 

3. Wer tötete den Bedienten Tonger, und warum wurde er überhaupt getötet?

 

4. Wo ist Malpas? Ist er etwa auch in die Hände der gespenstischen Verbrecher gefallen?«

 

 

Dick nickte anerkennend, als er diesen Artikel las. Daß bei aller Genauigkeit mehrere wichtige Punkte übersehen worden waren, konnte ihm nur lieb sein. Gleich morgens um zehn Uhr hatte er die Köchin Marshalts verhört. Die Frau wußte jedoch nur auszusagen, daß ihr Herr um halb acht abends das Haus verlassen hätte, und daß Tonger gut mit ihm gestanden hätte und ein nüchterner Mann gewesen wäre. Nur in der letzten Zeit hätte er angefangen zu trinken und zu seinen Mahlzeiten statt der Zitronenlimonade alkoholhaltige Getränke verlangt.

 

All dies sagte Dick nicht viel, und er beschloß, Audrey aufzusuchen, um zu sehen, ob sie vielleicht eine der Lücken ausfüllen könnte. Er fand sie in dem leeren Speisesaal, wo sie ein spätes Frühstück einnahm.

 

»Ich habe die Zeitungen schon gelesen«, sagte sie. »Sie sind recht gut unterrichtet.«

 

»Ja«, bestätigte er und holte den auf dem Schreibtisch gefundenen Bogen hervor. »Ist das vielleicht einer von den Briefen, die Sie für Mr. Malpas geschrieben haben?«

 

»Es ist meine Handschrift. Besinnen kann ich mich nicht darauf. Ich schrieb die Sachen immer ganz mechanisch ab, weil sie mir teils sinnlos, teils wunderlich vorkamen. Übrigens – was soll ich mit dem Geld machen, das er mir gegeben hat?«

 

»Heben Sie es für seine Erben auf«, erwiderte er finster.

 

»Er ist doch nicht etwa tot?«

 

»Genau sieben Wochen nach dem Tag, an dem ich ihn fasse, wird der alte Teufel tot sein!«

 

Er fragte sie noch einmal, wie Malpas aussähe, und notierte sich ihre Beschreibung. Es war der Mann, dessen Gesicht er durch das Oberlichtfenster gesehen hatte!

 

Als Dick gegangen war, legte sich Audrey wieder zu Bett, denn die Ereignisse des vergangenen Tages hatten sie sehr angegriffen und erschüttert. Sie mußte wohl eingeschlummert sein, denn plötzlich fuhr sie erschrocken in die Höhe.

 

Ihre Tür war nur angelehnt, und sie wußte genau, daß sie sie vorher geschlossen hatte. Wer hatte sie geöffnet? Sie trat auf den Korridor hinaus, aber es war niemand zu sehen. Sollte sie sich doch getäuscht haben?

 

Im nächsten Augenblick sah sie einen Brief am Boden liegen, bei dessen Anblick ihr fast der Atem verging. Er kam von Malpas. Mit zitternden Fingern riß sie den Umschlag auf und schaute auf das unordentliche Gekritzel:

 

 

»Lacy und sein Untergebener sind tot. Sie werden denselben Weg gehen, wenn Sie mich verraten. Erwarten Sie mich heute abend um neun am Eingang von St. Dunstan, Outer Circle. Wenn Sie zu Shannon darüber sprechen, soll es Ihnen schlecht bekommen.«

 

 

Sie durchflog die Zeilen noch einmal. St. Dunstan, das Heim für blinde Soldaten, lag weit draußen in einer einsamen Gegend. Sollte sie Dick zu Rate ziehen? Ihr erster Gedanke war, ihm von dieser Nachricht Mitteilung zu machen, aber ihr zweiter galt seiner Sicherheit. Sie durfte ihn nicht einweihen, denn er suchte nach Malpas, und dies konnte seinen sicheren Tod bedeuten.

 

Den ganzen Tag über beschäftigte sie sich mit dem Problem, und dabei hatte sie ständig das dunkle, quälende Gefühl, daß sie bewacht und beobachtet wurde. Wer war nur dieser rätselhafte Mann – dieser graue Schatten, der ungesehen kam und ging?

 

Sie hoffte immer noch, daß Dick nachmittags oder zu Tisch erscheinen würde, aber der Captain hatte keine Zeit. So zog sie sich denn nach dem Essen auf ihr Zimmer zurück, um einen Plan zu entwerfen.

 

Erstens wollte sie all ihr Geld im Safe des Hotels zurücklassen, zweitens einen recht kräftig aussehenden Chauffeur wählen und sich keinen Schritt von der Autodroschke entfernen. Sie hätte gern einen Revolver mitgenommen, aber sie besaß keinen und verstand auch kaum, damit umzugehen.

 

Sie mußte lange warten, bis endlich ein passender Chauffeur von der nötigen Größe und Stärke des Weges kam.

 

»Ich habe eine Verabredung mit einem Herrn im Outer Circle«, sagte sie hastig. »Und ich – ich möchte nicht mit ihm allein gelassen werden – verstehen Sie?«

 

Er verstand durchaus nicht. Sonst pflegten solche junge Damen ganz entgegengesetzte Wünsche zu haben.

 

Es schneite und stürmte, und die Straßen wurden leerer und dunkler. Es war eine lange Fahrt, aber endlich hielt das Auto am Bordstein.

 

»Hier sind wir bei St. Dunstan«, sagte der Chauffeur und blieb neben der Tür stehen. »Es ist aber niemand hier.«

 

Aber im nächsten Augenblick glitt ein langes Auto heran und hielt dicht hinter ihnen. Audrey sah, daß eine gebeugte Gestalt mühsam ausstieg, und wartete gespannt, was folgen sollte.

 

»Audrey!«

 

Die Stimme war unverkennbar.

 

»Bitte, kommen Sie hierher«, sagte sie.

 

Er kam langsam auf sie zu – sie erkannte das lange Kinn über dem weißen Schal und die große Nase.

 

»Kommen Sie her, und schicken Sie Ihre Droschke fort!« rief er ungeduldig.

 

»Nein, der Chauffeur bleibt hier«, erklärte sie fest. »Ich habe nicht viel Zeit. Wissen Sie, daß die Polizei nach Ihnen sucht?«

 

»Schicken Sie das Auto fort!« wiederholte er heftig. »Sie haben jemand drin – der Teufel soll Sie holen! Ich schrieb Ihnen doch –«

 

Sie sah glitzernden Stahl in seiner Hand und wich zurück.

 

»Ich schwöre Ihnen, daß niemand anders als der Chauffeur bei mir ist.«

 

»Kommen Sie her!« befahl er. »Steigen Sie in mein Auto.«

 

Sie wollte sich umdrehen, glitt aber in dem nassen Schnee aus. Rasch packte er sie an beiden Armen und stand nun hinter ihr.

 

»Nanu – was soll denn das?« brüllte der Chauffeur ihn an und näherte sich in drohender Haltung.

 

»Halt!« Eine Revolvermündung brachte ihn zum Stehen.

 

»Fahren Sie fort! Hier!«

 

Eine Handvoll Geld flog ihm vor die Füße, und als er sich bückte, es aufzuheben, sauste der Revolverkolben auf seinen Hinterkopf nieder. Er fiel um wie ein schwerer Klotz.

 

Das geschah, bevor sich Audrey der großen Gefahr bewußt wurde, in der sie schwebte. Sie fühlte, daß der Mann sie aufhob.

 

»Wenn Sie schreien, schneide ich Ihnen die Kehle durch!« zischte er ihr ins Ohr. »Sie sollen denselben Weg gehen wie Marshalt und Tonger – den Weg, den auch Shannon gehen wird, wenn Sie nicht tun, was ich will –«

 

Er preßte eine Hand auf ihren Mund und zerrte sie auf sein Auto zu. Aber dann ließ er sie plötzlich los, und sie stürzte halb ohnmächtig zu Boden. Bevor sie wieder ganz zu sich kam, schossen die Lampen von Malpas Auto an ihr vorüber. Sie sah drei Leute laufen, hörte Schüsse knallen und wurde auf die Füße gestellt. Der Arm, der sie umfaßt hielt, gab ihr ein sonderbar beruhigendes Gefühl, und sie schaute in Dick Shannons Gesicht.

 

»Sie unartiges Kind!« sagte er streng. »War das ein Schreck!«

 

»Haben Sie – haben Sie ihn gesehen?«

 

»Malpas? Nein, nur seine Scheinwerfer, aber es ist ja immerhin entfernt möglich, daß sie ihn an irgendeinem Tor anhalten. Mein Mann hatte Sie aus den Augen verloren, und es war ein reiner Glücksfall, daß er Sie bei Clarence Gate wiedersah. Er rief mich in Marylebone an – nun, wir wollen froh sein, daß alles so gut abgelaufen ist.« Er schauderte. »Hat der Kerl etwas von Belang gesagt?«

 

»Nein, er stieß nur eine Menge ungemütlicher Drohungen aus, die hoffentlich nicht in Erfüllung gehen. Dick, ich kehre zu meinen Hühnern zurück.«

 

Shannon lachte leise.

 

»Selbst das grimmigste Ihrer Hühner würde nicht imstande sein, Sie jetzt zu beschützen. Malpas hält es aus irgendeinem Grund für notwendig, Sie zu beseitigen. Übrigens habe ich Sie Tag und Nacht von zwei eifrigen Leuten bewachen lassen. Haben Sie das nicht bemerkt?«

 

Nachdem er sie ins Hotel zurückgebracht hatte, fuhr er nach Hause und stieß vor seiner Tür auf Mr. Brown.

 

»Warten Sie hier auf mich?« fragte er.

 

»Ja, seit einigen Minuten. Haben Sie ihn gefaßt?«

 

Dick fuhr herum.

 

»Wen?«

 

»Nun, natürlich Malpas! Sie vergessen, daß Ihre Kanonade die friedlichen Bewohner von Regent’s Park in fürchterliche Angst versetzt und lebhafte Reklame für Ihren Kampf mit dem Teufelskerl gemacht hat.«

 

»Teufelskerl? Kennen Sie Malpas?«

 

»Sehr genau, und Lacy Marshalt auch – noch besser als den verstorbenen Laker.«

 

»Kommen Sie mit mir hinauf«, erwiderte Dick, und Mr. Brown folgte ihm so lautlos, daß er sich umdrehte, um sich zu vergewissern, ob er auch hinter ihm wäre.

 

»Sie sprachen eben von Laker: wer ist das?«

 

»Ein Dieb und Trunkenbold. Obwohl er Malpas kannte, war er unvorsichtig genug, ihn in berauschtem Zustand zu besuchen – infolgedessen wurde seine Leiche kürzlich aus der Themse gefischt.«

 

»Meinen Sie den Mann, der am Embankment ins Wasser geworfen wurde?«

 

»Ja, das war Laker. Wundern Sie sich, daß es sogenannte Teufel in Menschengestalt gibt, die sich durch Mord einen Ausweg aus ihren Verlegenheiten suchen? Warum auch nicht? Begeht man einen Mord, ohne ihn zu bereuen, so sind alle weiteren nur eine natürliche Folge davon. Ich habe viele Mörder gekannt –«

 

»Gekannt!« wiederholte Dick bestürzt.

 

»Ja, ich habe lange Sträflingsjahre hinter mir. Mein eigentlicher Name ist Torrington, und ich war zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, wurde aber begnadigt, als ich zwei Kindern das Leben rettete, und zwar den Kindern des höchsten Verwaltungsbeamten von Kapstadt. Aus diesem Grund hat man mir auch die Führung eines Passes unter falschem Namen gestattet.« Er lächelte flüchtig. »Ich gehöre sozusagen den privilegierten Klassen an. Und ich interessiere mich für Malpas, noch mehr allerdings für den verstorbenen Marshalt. Aber darüber brauche ich wohl keine weiteren Worte zu verlieren. Malpas ist gefährlich, Captain Shannon. Auf einen Mord mehr oder weniger kommt es ihm nicht an. An Ihrer Stelle würde ich ihn in Ruhe lassen.«

 

»Ein netter Ratschlag für einen Polizeibeamten!« meinte Dick lachend.

 

»Es ist ein guter Rat«, erwiderte Brown. »Wo mögen sie nur Marshalts Leiche hingebracht haben?« fragte er dann.

 

Dick zuckte die Schultern.

 

»Sie muß noch irgendwie im Haus versteckt sein«, entgegnete er ausweichend.

 

»Das glaube ich nicht. Ich habe einen Gedanken – aber ich habe schon zuviel gesagt. Kommen Sie mit und trinken Sie bei mir im Hotel noch einen Nachttrunk, Captain Shannon!«

 

Dick lehnte lächelnd ab.

 

»Aber dann bringen Sie mich doch wenigstens nach Hause?« fragte Brown. »Ich bin ein schwacher, alter Mann und bedarf des polizeilichen Schutzes.«

 

Dazu war Dick bereit. Unterwegs sah er, daß Mr. Torrington manchmal weniger hinkte. Es war, als ob er zuweilen vergäße, den Fuß nachzuschleppen. Schließlich machte Dick eine Bemerkung darüber.

 

»Ich glaube, das beruht auf Gewohnheit«, entgegnete Torrington unbefangen. »Ich hatte mir das Nachschleppen des Fußes so angewöhnt, daß es mir zur zweiten Natur geworden ist.«

 

Er spähte scharf um sich.

 

»Erwarten Sie, jemand zu sehen?« fragte Dick.

 

»Ja, ich sehe mich nach dem Schatten um. Er hat sich heute noch gar nicht blicken lassen.«

 

Shannon lächelte.

 

»Sie lieben es wohl nicht, beobachtet zu werden? Alle Achtung, daß Sie es bemerkt haben!«

 

Torrington schaute ihn groß an.

 

»Ach, Sie meinen den Polizisten, der mir folgt? Dort an der Ecke steht er. Nein, ich sprach von dem Mann, der auf Ihrer Spur ist.«

 

»Auf meiner Spur?«

 

»Wußten Sie das denn nicht? Du lieber Himmel, und ich dachte, Sie wüßten alles.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Slick Smith wohnte in einem altertümlichen Haus in Bloomsbury. Er hatte dort das erste Stockwerk gemietet und nahm an der unmodernen Einrichtung keinen Anstoß. Im Gegenteil, die ewig gurgelnde Zisterne unter seinem Schlafzimmerfenster hatte etwas Beruhigendes und war eine bequeme Stufe für ihn, um über die Hofmauer zu gelangen. Auf diese Weise konnte er die Nebenstraße leichter erreichen, als wenn er die Treppe hinunter und durch die Haustür gegangen wäre. Welches Geschäft er eigentlich betrieb, wußte niemand im Haus. Nachts war er meistens außerhalb, und den größten Teil des Tages schlief er hinter verschlossenen Türen. Wenn ein Besucher kam, klingelte er nicht, sondern pfiff leise auf der Straße, worauf Slick selbst herunterkam und öffnete. Abends ging er im Frack aus und sprach in einer Bar oder einem eleganten Nachtklub vor, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nacht für Nacht verfolgten ihn erfahrene Leute von Scotland Yard, aber stets verloren sie ihn an derselben Stelle aus den Augen, und zwar an der Ecke von Piccadilly Circus und der Shaftesbury Avenue, dem am strahlendsten beleuchteten Platz Londons.

 

An dem Abend, an dem Audrey nach St. Dunstan fuhr, saß Slick Smith in einem Nachtklub. Er lauschte der Musik des Tanzorchesters, als sich ihm ein kleiner Mann näherte und zaghaft einen Stuhl heranzog.

 

»Slick, im Astoria ist eine Dame mit enorm viel Ware abgestiegen –«

 

»Sie heißt Levellier und trägt das Zeug auf dem Leib, und jeder Mensch in London weiß es«, fiel ihm Smith ins Wort. »Interessiert mich nicht.«

 

»Aber im Hotel Imperial wohnt ein steinreicher Mann, der heute eine Diamanten-Tiara –«

 

»Tiara – ja, für seine Frau. Zwölfhundert Pfund. Er heißt Mollins, trägt einen Revolver und hat eine Bulldogge, die am Fußende seines Bettes schläft.«

 

Der Zuträger seufzte.

 

»Das ist alles, was ich weiß. Aber in den nächsten Tagen kommt ein Kerl aus Südafrika mit einem großen Vermögen –«

 

»Erzählen Sie mir alles, was Sie über den Kunden wissen!« sagte Slick plötzlich in verändertem Ton, legte die Hand auf den Tisch und bewegte sie scheinbar zufällig zu dem Mann hin. Dieser nahm die Banknote, die darunter lag, dankbar an sich.

 

Bald darauf ging Slick fort. Überall, wohin er kam, wiederholte sich dasselbe Spiel. Als er sich schließlich den Bücken der Leute von Scotland Yard entzog, hatte er nicht viel erfahren. Erst später sollte er neue Nachrichten hören.

 

Um zwei Uhr nachts schlich sich ein Vagabund zu den Hintergebäuden des Portman Square, und eine halbe Stunde später wurde Dick Shannon durch die Telephonklingel aus dem Schlaf geweckt.

 

»Hier Steel, Captain … ich spreche von Nr. 551 aus, bitte, kommen Sie doch her. Hier ereignen sich die sonderbarsten Dinge.«

 

Eine Viertelstunde später stieg Dick vor Nr. 551 aus dem Auto. Steel und ein anderer Beamter erwarteten ihn in der offenen Haustür.

 

»Was ist denn geschehen?« fragte er, als sie in der Halle standen und die Tür geschlossen war.

 

»Um Mitternacht fing es an«, erwiderte Steel leise. »Es klang so, als ob jemand die Treppe hinaufginge. Wir saßen in Malpas‘ Zimmer und kamen heraus, konnten aber niemand entdecken. Beide können wir uns doch nicht getäuscht haben.«

 

»Sie haben es auch gehört?« fragte Dick den hünenhaften Polizisten.

 

»Ja – es lief mir ganz kalt über den Rücken –«

 

Er fuhr herum und starrte die Treppe hinauf. Auch Dick hörte es und schauderte leicht zusammen.

 

Es war ein Geräusch, als ob Pantoffeln über Steinfliesen schlürften. Gleich darauf ertönte unterdrücktes Gelächter.

 

Shannon schlich auf die Treppe zu. Oben brannte ein verdecktes Licht, und der Schatten eines ungeheuerlichen Kopfes glitt über die Wand hin. Im Nu stand Dick oben – aber es war nichts zu sehen!

 

»Sonderbar!« murmelte er. »Das würde Tante Gertrud bange machen.«

 

Steel fing die Worte »Tante Gertrud« auf. Das war das verabredete Stichwort. Vor dem Hause stand ein Polizist, der sofort herbeieilte, als er eine Taschenlampe aufblitzen sah.

 

»Telephonieren Sie, daß der Chef alle Abteilungsreserven braucht«, befahl Steel. »Und eine Schutzmannskette. Er wird es verstehen, wenn Sie ›Gertrud‹ sagen!« Als er zurückkehrte, fand er Shannon oben in Malpas‘ Zimmer, dessen Samtdraperien bis auf die Fenster und Alkovenvorhänge entfernt worden waren.

 

»Hier war jemand«, sagte er. »Ich spielte mit dem Polizisten Karten und wollte gerade geben, als wir Schritte hörten. Ich legte die Karten gehäufelt auf den Tisch – und jetzt liegen sie auf dem Boden …« Steel unterbrach sich, denn wieder ertönten die leise raschelnden Schritte, und diesmal wurden sie lauter, bis sie draußen auf dem Vorplatz anhielten. Die angelehnte Tür begann sich ganz langsam zu öffnen. Shannon griff in die Tasche und richtete den Revolver auf die Türritze. Aber es ereignete sich nichts weiter, und als er leise durch das Zimmer schlich und auf den Vorplatz hinaushuschte, war nichts zu sehen.

 

Der Polizist nahm den Helm ab und wischte sich die Stirne.

 

»Mit Menschen aus Fleisch und Blut nehme ich es jederzeit auf«, sagte er heiser, »aber das ist doch zu unheimlich!«

 

»Durchsuchen Sie die Zimmer da oben!« befahl Dick. »Und scheuen Sie sich nicht, Ihren Knüppel anzuwenden.«

 

Er hörte, wie der Mann langsam und schwerfällig die Treppe hinaufstieg, und als die Schritte verstummten, rief er nach oben, ob alles in Ordnung sei.

 

Ein dumpfes Geräusch war die Antwort, und im nächsten Augenblick rollte der Helm des Polizisten die Stufen herab und flog Dick vor die Füße. Shannon und Steel stürzten die Stufen hinauf und sahen den Schutzmann mit einer Schlinge um den Hals unter der Decke baumeln und mit den Armen und Beinen strampeln. Er war schon fast erstickt, als Steel den Strick durchschnitt und ihn mit Dicks Hilfe nach unten trug. In Malpas‘ Zimmer legten sie ihn auf dem Teppich nieder und gossen ihm etwas Kognak zwischen die krampfhaft zusammengebissenen Zähne.

 

»Da kommt der Inspektor!« rief Dick. »Stellen Sie die Türsperre ab und lassen Sie ihn herein.«

 

Steel tat, wie ihm geheißen war, zog aber die Hand mit einem Schrei zurück. Der lähmende Schlag von zweihundertfünfzig Volt war ihm durch und durch gegangen.

 

Unten wurde heftig an die Tür geklopft, und plötzlich erlosch das elektrische Licht.

 

»Stellen Sie sich an die Wand und hüten Sie sich, Ihre Lampe zu benützen«, sagte Shannon leise.

 

Aber Steel hatte sie schon angedreht. Sofort blitzte es neben ihm auf, und eine Kugel pfiff an seinem Kopf vorüber.

 

Dick warf sich zu Boden und riß seinen Untergebenen mit sich. Das donnernde Gehämmer gegen die Haustür dröhnte durch das ganze Gebäude. Shannon schob sich vorwärts, indem er in einer Hand seine Lampe, in der anderen den Revolver hielt. Steel folgte seinem Beispiel. Die Dunkelheit im Zimmer war undurchdringlich. Shannon hielt inne, um zu lauschen.

 

»Er ist in der Ecke neben dem Fenster«, flüsterte er.

 

»Ich glaube, er steht drüben an der Wand«, erwiderte Steel ebenso leise. »Großer Gott!« Ein unheimlich grüner Lichtkegel blitzte plötzlich auf der getäfelten Wand neben einem Büfett auf, und in diesem Schein sahen sie eine Gestalt liegen. Das Licht wurde immer greller, so daß jede schauerliche Einzelheit sichtbar wurde.

 

Es war ein Mann im Frackanzug mit einer pulvergeschwärzten Hemdbrust. Das Gesicht war wachsbleich, die Hände waren auf der Brust gekreuzt. Eine Sekunde lang packte selbst Shannon panische Furcht bei diesem grauenerregenden Anblick.

 

»Es ist ein Toter!« stöhnte Steel. »Großer Gott! Es ist Marshalt! Shannon – sehen Sie doch, Shannon – es ist Marshalts Leiche!«

 

Die Gestalt lag starr und steif, bis das grüne Licht trüber wurde und erlosch, während ein hohl rollendes Geräusch entstand.

 

Dick sprang auf und tastete an der Täfelung der Wand herum. Im gleichen Moment ertönten von unten hastige Rufe und Schritte wurden laut.

 

»Hier herauf! Lampen andrehen, das Licht ist aus!« schrie Dick.

 

Aber im selben Augenblick flammten wie auf Kommando die Glühbirnen wieder auf.

 

»Wer hat die Tür geöffnet?« fragte Shannon.

 

»Wir wissen es nicht. Mit einemmal ging sie auf.«

 

Shannon ließ sich eine Axt bringen und bearbeitete damit die Wandtäfelung. In wenigen Minuten hatte er sie an der Stelle zerschlagen, wo er Marshalts Leiche hatte liegen sehen. »Ein Speisenaufzug«, sagte er und atmete auf. »Das erklärt alles.«

 

Aber von der Leiche war nichts zu sehen. Shannon ging durch den Keller und durch die offenstehende Tür nach dem ebenfalls offenen Hoftor.

 

»Wo ist Ihre Schutzmannskette, Inspektor?« fragte er scharf, als er in die stille Hintergasse hinausblickte.

 

Die zweite Hälfte der Absperrungsmannschaften schien sich verspätet zu haben, denn sie erschien erst, als Shannon wieder oben in Malpas‘ Zimmer war. Er war der festen Überzeugung, daß es dort eine Treppe geben müsse, die zur Küche hinabführte, und nach längerem Suchen entdeckte er wirklich eine verborgene Drehtür an der Stelle, wo die große Treppe den Vorplatz erreichte.

 

»Hier ist der Kerl herumgeschlichen«, sagte er befriedigt und stieg ein paar Stufen hinunter, »und von oben hat er dann den Polizisten überfallen. Nun ist er natürlich über alle Berge. Verteufelt, daß die Leute nicht rechtzeitig da waren!«

 

Er stieg aufs Dach hinauf, wo er zu seiner Verwunderung noch einen von Willitts Posten fand. Erstaunt fragte er ihn, was er noch hier zu suchen hätte.

 

»Ich führe nur meinen Auftrag aus«, erwiderte der Mann.

 

»Haben Sie etwas gesehen?«

 

»Vor kurzem kam jemand auf den Hof heraus. Ich dachte, Sie wären es. Seit einer Stunde hielt auch ein großes Auto vor dem Tor. Der Mann schleppte etwas Schweres hinter sich her. Ich hörte ein Stöhnen, als er es ins Auto hob. Wer es war, konnte ich nicht sehen, nahm aber an, daß es einer von Ihren Leuten wäre.«

 

Als Shannon wieder nach unten kam, überreichte ihm Steel einen auf dem Hof gefundenen Gegenstand: eine flache Ledertasche mit einigen winzigen Phiolen, einer Spritze und zwei Nadeln. Die Spritze war offenbar rasch weggepackt worden, denn sie war noch bis zur Hälfte mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt, und das Samtfutter der Tasche war durchnäßt.

 

»Senden Sie den Inhalt der Spritze sofort zum Analysieren ein«, sagte Shannon ernst. »Ich fange allmählich an, klarzusehen.«

 

Kapitel 24

 

24

 

Eines Morgens stattete Mr. John Stormer seiner Detektiv-Agentur einen seiner nicht eben häufigen und stets überraschenden Besuche ab. Er warf sich in den Schreibtischsessel, klemmte einen Kneifer auf die breite Nase und fragte den ehrerbietig wartenden Willitt nach dem Stand des Geschäfts.

 

»Heute morgen kamen fünf neue Fälle: vier Ehegeschichten und eine Erpressungssache.«

 

»Und was gibt es Neues am Portman Square?«

 

Willitt berichtete eingehend, und nachdem Stormer ihn stumm bis zu Ende angehört hatte, erledigte er mit unglaublicher Geschwindigkeit alle laufenden Angelegenheiten, die aber so zahlreich waren, daß er erst gegen neun Uhr abends den letzten Brief unterschrieb. »Was den Fall Malpas betrifft«, sagte er dann, »so gelten die Anordnungen weiter, bis sie von Marshalts Anwälten aufgehoben werden. Das Haus wird weiter bewacht, ein Mann bleibt auf dem Dach, und einer von unseren besten Leuten bleibt immer – Slick Smith auf der Spur. Sie verstehen?«

 

»Jawohl.«

 

»Es ist fatal, daß wir ihm derart auf den Fersen bleiben müssen, aber ich muß sichergehen. Kabeln Sie sofort, wenn sich etwas ereignen sollte. – Was wollte übrigens Marshalt von diesem Mädchen – Bedford heißt sie wohl?«

 

»Ja. Bisher hat sie in Fontwell gewohnt.«

 

»Und Mrs. Elton – ist sie nicht auch eine geborene Bedford?«

 

»Ja, unter dem Namen hat sie geheiratet.«

 

»Hm – ob dieses Mädchen –? Sie wohnt jetzt im Palace-Hotel? Wir brauchten eigentlich notwendig einen weiblichen Detektiv, und sie war noch dazu Sekretärin von Malpas –«

 

»Ich glaube, Shannon ist in sie verliebt.«

 

»So?« erwiderte Stormer zerstreut. »Na, einem hübschen Mädchen macht jeder Mann den Hof. Das hat weiter nichts zu sagen. Aber Shannon möchte ich ganz gern mal sprechen.«

 

Er griff nach dem Telephonhörer.

 

Willitt schlug ein Notizbuch auf und nannte erst die Nummer von Dicks Privatwohnung. Stormer rief an und hatte Glück, denn Dick war eben nach Hause gekommen.

 

»Hören Sie, Shannon, ich habe Ihnen doch gelegentlich schon geholfen – wie Sie wissen, machte ich Sie auf Slick Smith aufmerksam, als der herüberkam.«

 

»Ganz recht, aber hier bei uns benimmt er sich geradezu musterhaft!« erklärte Dick lachend.

 

»Den Anschein gibt er sich gewöhnlich. Irgendwie muß er doch seinen Unterhalt erwerben. Aber ich habe Sie nicht seinetwegen angerufen. Es ist Ihnen doch bekannt, daß der verstorbene Marshalt uns mit der Bewachung seines Hauses beauftragt hatte. Wir setzen unsere Tätigkeit natürlich fort, bis seine Anwälte den Auftrag zurückziehen, und es wäre mir lieb, wenn Sie meine Leute inzwischen gewähren ließen. Ich habe ihnen befohlen, der Polizei nach Kräften beizustehen und ihr nichts in den Weg zu legen.«

 

»Sehr liebenswürdig. Ich begreife Ihre Verlegenheit.«

 

»Das bezweifle ich. Sagen Sie, haben Sie eigentlich den Herrn gesehen, den Marshalts Anwälte angestellt haben, um sein Haus zu bewachen?«

 

»Gesehen habe ich ihn.«

 

»Betrachten Sie ihn einmal genau!« Stormer lachte und hängte an.

 

Er kicherte noch vor sich hin, als er zu Tisch ging. An diesem Abend speiste er in Audreys Hotel, und nach dem Essen schlenderte er in die Halle hinaus.

 

»Haben Sie noch ein Zimmer frei?« erkundigte er sich bei dem Portier. »Ich sehe eben, daß ich heute nicht mehr nach Hause kommen kann.«

 

Der Angestellte schlug im Register nach.

 

»Sie können Nr. 461 haben.«

 

»Das ist mir zu hoch. Ich möchte ein Zimmer im zweiten Stock haben.«

 

Wieder blätterte der Portier in dem Heft.

 

»Nr. 250 und 270 sind frei.«

 

»Schön, dann geben Sie mir Nr. 270. Siebzig ist meine Glückszahl.«

 

Audrey wohnte in Nr. 269.

 

Kapitel 25

 

25

 

Audrey war den ganzen Tag unterwegs gewesen, um sich Arbeit zu verschaffen. Dick Shannon hatte sie nichts davon gesagt, denn sie hatte ihn so gern, daß sie davor zurückscheute, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schließlich hatte sie sich an den Redakteur eines Blattes gewandt, für den sie früher ab und zu Artikel über Hühnerzucht geschrieben hatte, und dieser hatte sie auf ihre Anfrage hin kommen lassen und ihr eine Stellung in der Redaktion seines Fachblattes angeboten. Das Gehalt war nicht hoch, und Audrey verbrachte den letzten Teil des Tages damit, eine billige Wohnung zu suchen. Zu ihrer Freude fand sie in der Nähe der Redaktion ein behagliches Zimmer und teilte dem Portier bei ihrer Rückkehr mit, daß sie ausziehen würde.

 

Gegen Abend sprach Dick Shannon bei ihr vor, der durch einen seiner Leute von ihrem bevorstehenden Umzug benachrichtigt worden war. Sie war etwas betreten, als er ihr verriet, daß er über ihr Tun und Lassen genau unterrichtet sei.

 

»Es ist mir aber doch lieb, daß Sie gekommen sind«, meinte sie nach einer Weile. »Ich wollte Ihnen noch etwas zeigen.«

 

Sie öffnete ihre Handtasche, nahm den kleinen Kieselstein heraus und legte ihn in seine ausgestreckte Hand. Er starrte verwundert darauf, drehte ihn hin und her und prüfte das Siegel.

 

»Woher haben Sie das Ding nur?« fragte er sie bestürzt.

 

Sie erzählte ihm, wo sie es gefunden hatte.

 

»Was ist es denn?«

 

»Ein Diamant – noch ungeschliffen. Er wird ungefähr achthundert Pfund wert sein.«

 

»Ist das wirklich wahr?« fragte sie verblüfft.

 

»Ja, ganz gewiß. Das Siegel ist von der Minengesellschaft. Darf ich ihn behalten?«

 

»Ja, natürlich.«

 

»Weiß jemand etwas davon?«

 

»Nein«, erwiderte sie etwas zögernd. »Höchstens Mr. Malpas. Als ich mir neulich meinen Zimmerschlüssel ausbat, und er nicht da war, nahm ich alles, was ich in meiner Tasche hatte, heraus und legte es auf den Tisch, bis ich den Schlüssel in dem zerrissenen Futter fand.«

 

»Dabei wird er ihn gesehen haben – er oder einer seiner Agenten!« rief Dick erregt. »Und deshalb versuchte er wahrscheinlich gestern, Sie zu fassen.«

 

Audrey seufzte, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Es fehlte nicht viel daran, daß sie sich nach ihrem Hühnerhof in Fontwell zurücksehnte. Aber es war immerhin ein Trost, daß sie neue und nicht unangenehme Arbeit gefunden hatte, und so schlief sie denn bald ein und erwachte erst nach langen Stunden, als etwas Kaltes, Klebriges ihr Gesicht berührte.

 

»Audrey Bedford, ich komme, um dich zu holen«, sagte eine dumpfe Stimme.

 

Mit einem Schrei fuhr sie empor. Es war ganz dunkel – nur …

 

Kaum eine Elle von ihrem Kopf entfernt schwebte scheinbar in der Luft ein matt und sonderbar beleuchtetes Gesicht …

 

Wie versteinert starrte sie in die schmerzverzerrten Züge Lacy Marshalts …

 

 

»Die junge Dame hat einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten. Ich habe nach einem Arzt und einer Pflegerin telephoniert.«

 

»Wissen Sie, was ihr zugestoßen ist?« fragte Dick. Er stand im Schlafanzug neben seinem Bett und hielt den Hörer in der Hand.

 

»Nein, Captain. Der Nachtportier im ersten Stock hörte einen gellenden Schrei, und als er hinaufrannte, stand Miß Bedfords Tür auf. Er sah, daß sie ohnmächtig war, und ließ mich holen. Ich war unten in der Halle.«

 

»Keine Spur von Malpas?«

 

»Nicht die geringste. Jemand muß wohl versucht haben, sie zu überfallen, denn der Herr, der nebenan wohnt, wurde besinnungslos am anderen Ende des Ganges aufgefunden. Wahrscheinlich hat er mit einem Gummiknüppel einen Hieb über den Kopf erhalten. Er ist ins Krankenhaus gegangen, um sich verbinden zu lassen.«

 

Kurze Zeit später traf Dick im Hotel ein. Audrey hatte sich inzwischen ein wenig erholt. Sie saß in einem Morgenrock an dem Gasofen – sehr bleich, aber wie gewöhnlich ruhig und gefaßt.

 

»Ich kann weiter nichts erzählen, als daß ich Mr. Marshalt sah.«

 

»Sie auch!« Dick biß sich auf die Lippen. »Wir hatten gestern abend dieselbe Vision. Das bedeutet also, daß Marshalt noch lebt und in der Gewalt dieses Teufels ist. Gestern abend fanden wir eine Spritze in seinem Haus. Die Flüssigkeit wurde analysiert – es ist ein Gemisch von Hyoscin, Morphium und einem anderen noch nicht festgestellten Betäubungsmittel, mit dem man einen Menschen in vollkommene Bewußtlosigkeit versetzen kann. Heute erhielt ich auch einen Brief von Malpas.« Er nahm ein mit Maschine geschriebenes Blatt aus seiner Tasche. »Dies ist nur eine Abschrift. Das Original wird auf Fingerabdrücke geprüft.«

 

Audrey griff danach und las:

 

 

»Wenn Sie kein Dummkopf sind, müssen Sie gestern etwas entdeckt haben. Marshalt ist nicht tot, denn er trug eine kugelfeste Weste, wie Sie bemerkt haben würden, wenn Sie ihn untersucht hätten, statt sich nur um das Mädchen zu kümmern. Ich bin froh, daß er lebt – der Tod wäre zu gut für ihn gewesen. Er wird sterben, wenn ich die Zeit dazu für gekommen halte. Sollten Sie wünschen, daß er am Leben bleibt, so ziehen Sie Ihre Posten und Spione aus dem Haus zurück.«

 

 

»Alle Beobachtungen stimmen mit dieser Angabe überein«, sagte Dick. »Marshalt wird in andauernder Betäubung gehalten und überall hingeschleppt, wohin es Malpas beliebt.«

 

»Mir kam es aber nicht wie ein wirkliches Gesicht vor«, erwiderte Audrey mit einem leisen Schauder.

 

»Sie glauben, daß es eine Maske war? Ich weiß nicht recht. Jedenfalls ist es eine sehr merkwürdige Geschichte!«

 

Als Shannon das Hotel verließ, erkundigte er sich nach dem Herrn von Nr. 270, aber man wußte im Büro weiter nichts von ihm, als daß er sich als »Henry Johnson aus Südafrika« eingeschrieben hatte und noch nicht aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war.

 

Am nächsten Morgen fiel ihm Stormers Bemerkung über den von den Anwälten eingesetzten Hausverwalter ein, und er machte sich sofort auf den Weg zu dem Marshaltschen Haus. Ein Mädchen, das er bereits kannte, öffnete ihm und führte ihn ins Wohnzimmer.

 

»Hier sind wohl große Veränderungen vorgegangen?« fragte Dick. »Wie ich höre, haben Sie jetzt einen Hausverwalter bekommen?«

 

»So kann man ihn wohl nicht nennen«, erwiderte sie zögernd. »Der Herr war ein Freund von Mr. Marshalt und heißt Stanford.«

 

»Was?! Doch nicht Bill Stanford?« rief Dick überrascht.

 

»Doch, Mr. William Stanford. Er ist oben im Arbeitszimmer.«

 

»Nun, dann werde ich einmal zu ihm hinaufgehen«, entgegnete Dick lachend. »Mr. Stanford und ich sind alte Bekannte.«

 

Bill saß mit einer riesigen Zigarre im Mund am Kamin und las in einer Sportzeitung.

 

»Guten Morgen«, sagte er gleichmütig. »Ich habe Sie schon erwartet, Captain. Sie glauben gar nicht, wie erstaunt ich war, als die Anwälte nach mir schickten!«

 

»Sie kannten ihn wohl von Südafrika her?«

 

»Ja. Aber hier bewegten wir uns doch in ganz verschiedenen Gesellschaftskreisen. Marshalt hat die Bestimmung aber selbst hinterlassen. ›Falls ich aus irgendeinem Grund verschwinden sollte‹, und so weiter, steht in dem Papier. Die Sache ist ja auch ganz einträglich, aber nicht sehr behaglich. Nachmittags darf ich ein paar Stunden ausgehen, aber nachts wird es hier derart ungemütlich, daß mir die Geschichte auf die Nerven geht. Und gestern abend war ja nebenan ein fürchterlicher Spektakel.«

 

Dick setzte sich.

 

»Ja, es ging allerlei drüben vor«, erwiderte er. »Hat sich die Tätigkeit der Gespenster auch bis hierher erstreckt?«

 

Stanford fröstelte leicht.

 

»Bitte, sprechen Sie nicht von Gespenstern, Captain! Ich sage Ihnen, gestern abend glaubte ich wahrhaftig, ich sähe – aber das ist zu albern!«

 

»Marshalt?«

 

»Nein, den anderen – Malpas.«

 

»Wo denn?«

 

»In der Tür der Vorratskammer. Nur eine Sekunde lang.«

 

»Und was taten Sie da?«

 

Bill lachte verlegen.

 

»Ich lief nach oben und schloß mich ein.«

 

Shannon stand auf.

 

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich mir die Vorratskammer einmal ansehen.«

 

»Aber gern!« Stanford öffnete ein Schubfach und nahm einen großen Schlüsselbund heraus. »Der alte Tonger verwahrte die Gewehre und Patronen seines Herrn und sonst allerlei Gerümpel dort.«

 

Der Raum lag am Ende des von der Halle abzweigenden Ganges und hatte ein stark vergittertes, kleines Fenster und einen verdeckten Herd. Außer Waffen, Sätteln, alten Kisten, einer Bank mit einem Gaskocher, einem verrosteten Schraubstock, einigen Werkzeugen und Putzlappen war nichts zu sehen als –

 

»Was ist in diesen Kisten?«

 

»Ich weiß es nicht – habe noch nicht nachgesehen«, sagte Stanford.

 

Shannon zog einen Schiebedeckel auf.

 

»Revolvermunition«, murmelte er, »und ein Paket ist kürzlich erst herausgenommen worden, denn das darunterliegende ist frei von Staub. Stanford, warum glauben Sie, daß es Malpas gewesen sein könnte?«

 

»Ich weiß es nicht – nach den Beschreibungen nehme ich das an. Gesehen habe ich ihn ja nie.«

 

Dick ging noch einmal mit ihm nach oben und untersuchte die Tür, die zu Marshalts Privaträumen führte.

 

»Sie funktioniert doch noch?« fragte er.

 

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Stanford mürrisch.

 

»Was machen denn Eltons?« erkundigte sich Dick, als er hinunterging, um das Haus zu verlassen.

 

»Keine Ahnung. Dicke Freunde sind wir nie gewesen.«

 

Stanford schloß die Haustür hinter ihm, kehrte dann ins Arbeitszimmer zurück, verschloß die Eingangstür und öffnete eine andere, die nach dem kleinen Eßzimmer führte.

 

»Du hast gute Ohren, Martin«, sagte er.

 

Elton ging aufs Fenster zu und folgte Shannon mit den Augen, bis er nicht mehr zu sehen war.

 

»Immer wieder kommt der mir in den Weg!« erwiderte er ohne Erregung. »Ja, ich erkannte seine Stimme sofort, als ich euch sprechen hörte. Wie lange bleibst du noch hier? Ich habe etwas vor –«

 

»Tut mir leid, Martin, aber ich muß jetzt hier ehrliches Spiel treiben. Ich war ein Freund Lacys.«

 

»Und Malpas – kennst du den auch?«

 

Stanfords Augen wurden klein.

 

»Ja, ich kenne ihn«, flüsterte er, »und wenn es zu mausen gibt, dann weiß ich, wo ich mausen werde!«

 

Kapitel 26

 

26

 

Willitt war höchst verwundert, als er morgens ins Büro kam und es heftig klingeln hörte. Er fand seinen Chef in jämmerlichem Zustand auf einem Sofa.

 

»Ich sterbe –« murmelte Stormer – »bringen Sie mir starken Kaffee und eine Kiste voll Phenacetin. O, mein Kopf! Ich habe eine Beule, so groß wie ein Hühnerei! Und bei Hühnern fällt mir ein: schaffen Sie mir die kleine Bedford her …«

 

»Ist Ihnen über Nacht etwas zugestoßen?«

 

»Sehen Sie mir das nicht an? Aber niemand außer Ihnen darf es wissen. Wenn jemand nach mir fragt, bin ich in Amerika …«

 

Willitt beeilte sich, alles Gewünschte herbeizuschaffen.

 

»Und nun telephonieren Sie nach einem Barbier, und holen Sie mir aus dem nächsten Laden einen Kragen!« Sein Gesicht verzog sich schmerzlich, als er sich aufrichtete und nach der Kaffeetasse griff.

 

»Sie brennen natürlich darauf, mich auszufragen«, fuhr er dann fort. »Nun, ich hatte einen Kampf mit einem Gespenst und zog den kürzeren.«

 

»Wer war es denn?«

 

»Das weiß ich nicht. Ich wachte von einem Schrei auf, ging hinaus, um zu sehen, was los wäre, und entdeckte zwei, drei oder auch sechs Leute, die den Flur entlangliefen. Von ebenso vielen wurde ich über den Kopf gehauen und kam erst wieder zu mir, als mir der Hoteldetektiv den Kragen aufmachte. Vergessen Sie ja nicht die kleine Bedford. Sie hat eine Anstellung bei dem Hühnerblatt, und ich glaube nicht, daß es ihr dort gefallen wird. Gehen Sie zu ihr und bieten Sie ihr einen guten Posten mit beliebig hohem Gehalt an. Verstehen Sie?«

 

»Jawohl.«

 

»Fassen Sie das Mädel ab, wenn sie zum Essen geht. Sie soll dann Torrington alias Brown beobachten. Und kommen Sie mir nicht unverrichteter Sache zurück, Willitt! Ich bin derartig kaputt, daß ich sehr grob werden würde.« –

 

Audrey begann ihre Arbeit in der Redaktion mit einer gewissen Befriedigung, die aber nicht lange vorhielt. Sie entzweite sich bald mit Mr. Hepps, als er darauf bestand, daß sie schriftlich ein Futtermittel für Hühner empfehlen sollte, das sie für absolut schädlich hielt. Und etwas später am Tag geriet er in Wut über einen von ihr verfaßten Artikel.

 

»Viel zu lang!« schrie er. »Und Ihre Handschrift mißfällt mir auch! Können Sie denn nicht mit Maschine schreiben? Sie werden sich ordentlich zusammennehmen müssen, wenn Sie hier – wo wollen Sie hin?« fragte er verblüfft, als sie aufstand und Hut und Mantel vom Haken nahm.

 

»Nach Hause, Mr. Hepps«, erwiderte sie gelassen. Die Grundsätze, die hier herrschen, gefallen mir nicht.«

 

»Dann scheren Sie sich zum Teufel!« brüllte er.

 

Gegen vier Uhr ging sie fort und trat ausgehungert in ein benachbartes, kleines Restaurant.

 

Gleich nach ihr kam ein Herr herein und nahm mit einer Verbeugung an demselben Marmortisch Platz. Als sie ihn flüchtig ansah, kam er ihr irgendwie bekannt vor; aber sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern vertiefte sich in einen Zeitungsbericht über »Sonderbare Vorfälle im Palace-Hotel«.

 

»Verzeihen Sie, Miß Bedford!«

 

Bestürzt blickte sie auf.

 

»Mein Name ist Willitt. Vielleicht entsinnen Sie sich – ich kam einmal nach Fontwell, um Erkundigungen einzuziehen –«

 

»Ach ja – gerade als ich nach London abreiste.«

 

»Ganz recht. Ich bin ein Vertreter der Stormerschen Detektiv-Agentur –«

 

Audrey nickte. Von dieser bekannten Firma hatte sie schon öfter gelesen.

 

»Mr. Stormer hat mich beauftragt, mit – mit einem Vorschlag an Sie heranzutreten, Miß Bedford. Wir sind nämlich in Verlegenheit. Eine Dame, die für uns arbeitete, hat sich verheiratet, und wir haben bis jetzt noch keinen Ersatz für sie gefunden. Nun meinte Mr. Stormer, ich sollte einmal anfragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, in unsere Agentur einzutreten?«

 

»Ich?! Sie meinen – als Detektivin?«

 

»Wir würden Ihnen keine unangenehme Arbeit übergeben. Sie kämen nur für Fälle aus der guten Gesellschaft in Frage.«

 

»Aber kennt Mr. Stormer denn – meine Vorgeschichte?«

 

»Sie meinen den Juwelenraub? Ach, darüber weiß er selbstverständlich Bescheid. Das macht ihm nichts aus. Er möchte Sie damit beauftragen, einen Herrn zu beobachten, einen gewissen Mr. Torrington.«

 

»Torrington? Wer ist das?«

 

»Ein steinreicher Südafrikaner. Interessieren Sie sich für Südafrika?«

 

Sie zuckte zusammen.

 

»Jawohl – wenn alle Geschichten, die ich gehört habe – wahr sind –« erwiderte sie langsam.

 

»Wir verlangen nicht, daß Sie hinter Torrington herlaufen«, fuhr Willitt fort. »Es wäre uns aber lieb, wenn Sie mit ihm bekannt würden.«

 

»Ist er – ein Verbrecher?«

 

»Gott behüte! Ein durchaus redlicher Mann. Wir möchten nur gern wissen, mit wem er verkehrt –«

 

»Kann ich Mr. Stormer vielleicht selbst sprechen?«

 

»Er ist schon wieder in Amerika«, flunkerte Willitt, »und vor seiner Abreise hat er mir ausdrücklich aufgetragen, Sie um jeden Preis als Mitarbeiterin zu gewinnen.«

 

Audrey lachte.

 

»Nun, versuchen kann ich es ja«, meinte sie vergnügt.

 

Willitt atmete erleichtert auf.

 

Als er ins Büro zurückkam, fand er John Stormer in milderer Stimmung und berichtete mit Genugtuung über den Erfolg seiner Sendung. Er hatte kaum das Zimmer verlassen, als Stormer sich ans Telephon begab.

 

»Hier Stormer. Sind Sie es selbst, Hepps? Besten Dank für Ihre Hilfe.«

 

»Es ging mir sehr gegen den Strich«, erwiderte der Redakteur in bedauerndem Ton. »Sie scheint ein nettes und begabtes Mädchen zu sein. Was wird sie nur von mir denken! Ich werde nicht so leicht wieder einem netten Mädel ins Gesicht sehen können – ich schäme mich wirklich!«

 

»Ach was, das ist vielleicht nur zu Ihrem Besten!« lachte Stormer und hängte an.

 

 

Torrington bewohnte eines der teuersten Appartements im Ritz-Carlton-Hotel. Er empfing nur sehr selten Besuch, und als ein schäbiger, kleiner Mann sich bei ihm melden lassen wollte und eine Verabredung vorschützte, dauerte es eine ganze Weile, bis er vorgelassen wurde.

 

»Mr. Brown« saß an seinem Schreibtisch und schob das Blatt, an dem er geschrieben hatte, zur Seite, um sich den Besucher genau anzusehen.

 

»Sie kommen aus Kimberley?« fragte er. »Ich erinnere mich nicht, Sie jemals gesehen zu haben. Sie wissen natürlich, welchen Namen ich damals führte?«

 

»Ich weiß«, erwiderte der kleine Mann, »aber ich werde ihn nicht aussprechen. Wenn ein Mann sich Brown nennt – so ist er für mich eben Mr. Brown. Offen gesagt – ich verbüßte zur selben Zeit wie Sie eine Strafe.«

 

Torrington fuhr mit der Hand in die Tasche.

 

»Ich besinne mich nicht auf Sie, aber ich habe mir auch große Mühe gegeben, alle Leute zu vergessen, mit denen ich am Wellenbrecher arbeitete.«

 

Auf dem Schreibtisch lag der Brief, den der alte Herr gerade beendigt hatte. Der Fremde sah die schwungvolle Unterschrift, aber der Bogen war zu weit entfernt, als daß er ihn hätte lesen können. Er suchte nach einem Vorwand, um hinter den Tisch zu kommen.

 

Torrington schob ihm eine Banknote zu.

 

»Ich hoffe, daß es Ihnen in Zukunft besser gehen wird.«

 

Der kleine Mann nahm den Geldschein, ballte ihn zusammen und schleuderte ihn zum Erstaunen seines Wohltäters an ihm vorüber in den leeren Kamin. Verwundert sah sich »Mr. Brown« um, und in dieser Sekunde wurde die Unterschrift gelesen.

 

»Behalten Sie Ihr Geld!« sagte der Fremde. »Denken Sie, daß ich deshalb hergekommen bin – Torrington?«

 

Daniel Torrington stand auf.

 

»Nehmen Sie das Geld, und machen Sie sich nicht lächerlich!«

 

Der Mann holte sich den zerknitterten Schein und ging. Torrington machte die Tür leise hinter ihm zu. Woher wußte dieser Mensch –?

 

Da fiel sein Blick auf den Brief, und er begriff.

 

Kapitel 17

 

17

 

An dem Nachmittag desselben Tages machte Audrey einen Spaziergang im Green Park, wo es um diese Zeit immer sehr still und leer war. Es wehte jedoch ein so eisiger Nordwind, daß sie mitten auf der Brücke plötzlich umkehrte. Als sie an dem See entlangging, kam sie auch an einer Bank vorbei, auf der eine Frau weit zurückgelehnt saß und mit hintenübergebogenem Kopf zum Himmel starrte. Ihre Stellung war so unnatürlich und sonderbar, daß Audrey unwillkürlich anhielt, als auch ein anderer Spaziergänger stehenblieb.

 

»Was mag mit der Frau sein?« fragte sie ängstlich.

 

Der Mann trat rasch auf die Bank zu, und Audrey folgte ihm.

 

Die Frau schien zwischen dreißig und vierzig Jahren alt zu sein. Ihre Augen waren halb geschlossen, Gesicht und Hände blau vor Kälte. Neben ihr lag eine kleine, silberne Reiseflasche ohne Stöpsel, aus der eine Flüssigkeit auf die Bank tropfte. Sonderbarerweise kam Audrey das Gesicht bekannt vor, aber sie konnte sich nicht darauf besinnen, wo sie die Frau schon gesehen hatte.

 

Der Mann hatte seine Zigarre weggeworfen und hob den Kopf der Unglücklichen behutsam empor. Im selben Augenblick kam auch ein Schutzmann herbei.

 

»Ist sie krank?« fragte er.

 

»Sehr krank, fürchte ich«, erwiderte der Mann ruhig. »Miß Bedford, gehen Sie lieber fort.«

 

Sie sah ihn verwundert an. Woher kannte er ihren Namen?

 

»Gegenüber von der Horseguard-Wache steht noch ein Polizist«, sagte der Beamte zu Audrey. »Würden Sie so gut sein und ihm sagen, daß er die Unfallstation anrufen und dann herkommen soll?«

 

Sie eilte davon, und erst als sie verschwunden war, erinnerte sich der Polizist an seine Vorschriften.

 

»Ich habe ganz vergessen, nach ihrem Namen zu fragen! Kennen Sie die Dame vielleicht?«

 

»Ja, es ist Miß Bedford«, erwiderte Slick Smith. »Ich kenne sie dem Aussehen nach. Wir haben eine Zeitlang im selben Büro gearbeitet.« Er griff nach dem silbernen Fläschchen, hob den Stöpsel vom Boden auf und schloß es sorgfältig. Dann überreichte er es dem Beamten.

 

»Sie werden dies brauchen«, sagte er und setzte bedeutungsvoll hinzu: »An Ihrer Stelle würde ich niemand einen Schluck daraus tun lassen, mit dem Sie es gut meinen.«

 

»Sie glauben, daß es Gift ist?« fragte der Mann erschrocken.

 

»Riechen Sie es denn nicht? Wie bittere Mandeln – die Frau ist tot.«

 

»Selbstmord?«

 

»Wer weiß! Schreiben Sie sich lieber auch meinen Namen auf: Richard James Smith, der Polizei als Slick Smith bekannt. Ich stehe in den Registern von Scotland Yard. «

 

Der andere Schutzmann erschien, und gleich darauf kam auch der Krankenwagen mit einem Arzt. Der Doktor erklärte sofort, daß die Frau durch Zyankali vergiftet und tot sei …

 

Dick Shannon hörte durch Zufall von diesem Ereignis, interessierte sich aber weiter nicht dafür, bis der mit dem Fall betraute Beamte zu ihm kam, um sich nach Slick Smith zu erkundigen.

 

»Ja, ich kenne ihn: ein amerikanischer Schwindler und Dieb«, sagte er. »Hier hat er sich aber noch nichts zuschulden kommen lassen. Wer war die Frau?«

 

»Unbekannt. Es scheint Selbstmord vorzuliegen.«

 

Abends warf Audrey einen Blick in die Zeitung und bemerkte eine kurze Notiz:

 

 

»Die Leiche einer unbekannten Frau wurde heute im Green Park gefunden. Man nimmt an, daß Selbstmord durch Gift vorliegt.«

 

 

Sie war also tot! Audrey überlief ein Schauder. Wer konnte es nur sein? Sie wußte doch genau, daß sie die Frau schon gesehen hatte …

 

Plötzlich fiel es ihr ein. Es war die Betrunkene, die neulich vor Marshalts Haustür solchen Lärm gemacht hatte …

 

Audrey stand auf, ging ans Telephon und rief Shannon an. Der freudige Ton seiner Stimme weckte ein warmes Glücksgefühl in ihrem Herzen.

 

»Wo sind Sie gewesen? Ich wartete schon dauernd auf einen Anruf von Ihnen … es ist doch nichts geschehen?«

 

»Nein, aber ich las eben von der toten Frau im Green Park. Ich war dabei, als sie gefunden wurde, und ich glaube, daß ich sie kenne.«

 

»Ich komme sofort zu Ihnen«, erwiderte Dick.

 

Kurze Zeit später saß er bei ihr, und sie berichtete ihm, was sie wußte.

 

»Sie erinnern sich doch, daß ich Ihnen von einer Frau erzählte, die an Mr. Marshalts Tür klopfte?«

 

Dick pfiff leise durch die Zähne.

 

»Ich möchte nicht haben, daß Sie bei dieser Affäre als Zeugin auftreten«, meinte er nach kurzem Nachdenken. »Das kann Smith tun – und mit Tonger werde ich heute abend sprechen. Übrigens – wann besuchen Sie Malpas?«

 

»Morgen.«

 

»Sie flunkern, meine Liebe. Sie wollen heute abend hingehen.«

 

Audrey lachte.

 

»Ja, allerdings. Ich dachte nur, Sie würden Umstände machen –«

 

»Das stimmt vermutlich. Zu wann hat er Sie bestellt?«

 

»Um acht soll ich kommen.«

 

Er sah nach der Uhr.

 

»Ich werde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, entgegnete er. »Jetzt gehe ich zu Marshalt, und drei Minuten vor acht erwarte ich Sie an der Nordseite des Portman Square. Bitte, keine Einwendungen. Und geben Sie mir Ihr Wort, das Haus nicht zu betreten, bevor Sie mich gesprochen haben.«

 

Sie zögerte eine Sekunde, gab ihm aber dann das Versprechen und fühlte sich wesentlich erleichtert.