Kapitel 16

 

16

 

Als Sands Mrs. Gordon Thompson aufsuchte, war es bereits Nachmittag, aber sie saß immer noch in ihrem Morgenrock da und legte Patience. Sie war eine ungewöhnliche Frau, und obwohl sie noch nicht einmal frisiert war, ließ sie Milton Sands sofort in ihr Zimmer eintreten.

 

»Wie geht es Ihnen?« fragte sie und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. »Nehmen Sie sich bitte einen Stuhl.« Sie unterbrach ihr Kartenspiel nicht. »Wir haben uns doch schon irgendwo getroffen?«

 

»Ja, ich glaube vor einiger Zeit in Enghien.«

 

»Oh, ich entsinne mich. Sie sind der Mann, der damals beim Spiel so großes Glück hatte.«

 

»Es ist möglich, daß ich damals mehr Glück hatte als jetzt.«

 

Sie legte die Karten zusammen, lehnte sich zurück und betrachtete ihn aufmerksam.

 

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Sands?«

 

»Oh, Sie können mir sehr viel helfen«, sagte er freundlich, um ihre Sympathie zu gewinnen. »Auf jeden Fall denkt meine Freundin Janet Symonds das.«

 

»Ach, sehen Sie, die kleine Janet!« rief Mrs. Thompson interessiert. »Was macht sie denn?«

 

»Augenblicklich ist sie meine Sekretärin.«

 

»Und welchen Beruf haben Sie zur Zeit?«

 

»Ich bin in gewisser Weise ein Privatdetektiv.«

 

»Welches Spezialfach?« .

 

Mrs. Thompson interessierte sich nun sehr für ihn, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen.

 

»Ich suche nach bestimmten Leuten, und Miss Symonds dachte, daß Sie mir dabei behilflich sein könnten. Sie sagt, daß Sie seit Jahren alle Leute in London kennen, die eine Rolle gespielt haben, und daß Sie …« Er zögerte, weiterzusprechen.

 

»Daß Sie alle Skandalgeschichten wissen, die sich in dieser Zeit abgespielt haben«, ergänzte sie belustigt. »Ja, die kleine Janet hat nicht so ganz unrecht.«

 

Mit wenigen Worten erklärte ihr Milton nun sein Anliegen.

 

»Sie suchen nach Eric Stantons Schwester?« sagte sie nachdenklich. »Da haben Sie sich allerdings eine schwere Aufgabe gestellt. Ich weiß nicht viel. Mrs. Stanton trennte sich von ihrem Mann und wohnte kurze Zeit in einer Pension in Bayswater mit einem älteren Dienstmädchen zusammen. Ich habe sie nie kennengelernt. Manche Leute haben auch angenommen, daß sie nach Belgien gegangen wäre. Ich kann Ihnen nur einen einzigen Anhaltspunkt geben … Das Dienstmädchen hat einen Reitknecht geheiratet, einen entsetzlichen Kerl. Den Namen habe ich im Augenblick vergessen. Er kam in Schwierigkeiten und verschwand von der Bildfläche. Mein Bruder hat ihn früher beschäftigt.«

 

Plötzlich kam Milton eine Idee.

 

»Hieß der Mann nicht Buncher?« fragte er eifrig.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Ja, richtig. Das war sein Name. Kennen Sie ihn denn?«

 

»Ich habe von ihm gehört«, sagte er schnell. »Halten Sie es für möglich, daß er weiß, wo das Kind geblieben ist?«

 

»Das möchte ich stark bezweifeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Seine Frau ist nur kurze Zeit bei Mrs. Stanton im Dienst gewesen. Aber immerhin könnte sie etwas wissen.«

 

»Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, diese Frau ausfindig zu machen, aber bisher ohne Erfolg. Jedenfalls bin ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«

 

»Janets Mutter hätte Ihnen viel helfen können, wenn sie noch lebte. Auf einen Empfehlungsbrief von Mrs. Stanton wurde ich nämlich mit den Symonds bekannt. Sehen Sie, so kommt es, daß ich wohl mit Mrs. Stanton korrespondiert habe, aber sie nicht persönlich kennenlernte. Sie und ihr Mann interessierten sich für eine der Aktiengesellschaften, die mein Mann gründete, und als er finanziell ruiniert war, schrieb sie mir einen sehr liebenswürdigen Brief. Ja, wenn ich es genau sagen soll, schickte sie mir etwas Geld, das ich damals dringend brauchte. Später hörte ich nichts mehr von ihr, bis sie mir von Brügge aus einen Empfehlungsbrief für die Symonds schrieb. Vielleicht weiß Janet das nicht. Ich lebte damals selbst in sehr traurigen Verhältnissen, aber ich tat alles, was in meinen Kräften stand.« Sie lächelte und sah ihn durchdringend an, als er sich erhob. »Ist eigentlich eine Belohnung für die Auffindung der Frau ausgesetzt?« fragte sie gespannt.

 

»Ja.

 

»Vergessen Sie nicht, daß ich einen Teil davon verdient habe«, erklärte sie mit bewunderungswürdiger Offenheit und nahm ihre Karten wieder auf. »Welches Pferd wird denn das Derby gewinnen?« fragte sie, als Milton schon in der Tür stand.

 

»Donavan«, erklärte er prompt.

 

»Da sind Sie aber schlecht beraten.« Sie verteilte die Karten auf dem Tisch.

 

»Ich glaube nicht.« Er schloß die Tür und verließ das Haus.

 

Eine Nachricht hatte er wenigstens erhalten, aber es war schwer, diesen Anhaltspunkt weiter zu verwerten, denn in Pennwaring hatte er sich nicht sehr beliebt gemacht. Hätte er vorher davon gewußt, so hätte er die Gelegenheit besser ausgenützt, die sich ihm damals bot. Trotzdem sagte er sich, daß er die Zeit in Sir Georges Haus äußerst nutzbringend angewandt hatte. Auf jeden Fall hatte er aufgeklärt, welche häßliche Rolle Toady Wilton bei dem Ehestreit der Stantons zugefallen war. Aber diese Sache war augenblicklich nicht so wichtig, da Lord Chanderson Toady ja schon genügend bloßgestellt hatte.

 

Sands hoffte eigentlich, daß er aus den Papieren Wiltons etwas über den Aufenthaltsort von Stantons Schwester erfahren würde. Er hatte geglaubt, daß Wilton stets in Verbindung mit dem jungen Mädchen geblieben war, um sie in einem günstigen Augenblick wieder auftreten zu lassen. Darin täuschte er sich aber. Wilton hatte keine Ahnung von ihrem jetzigen Aufenthalt.

 

Sands hatte mit Eric Stanton verabredet, daß sie in seinem Klub zu Mittag speisen wollten. Stanton war im Gegensatz zu seinem Freund in sehr froher Laune.

 

»Nun, Sie tun ja so, als ob Ihnen alle Felle weggeschwommen wären«, sagte er vergnügt.

 

»Ich bin nicht gerade in trüber Stimmung, aber ich habe viel erfahren, was mich sehr nachdenklich gemacht hat.«

 

»Mir geht es ähnlich. Bitte, wenden Sie Ihre volle Aufmerksamkeit jetzt der Wiederbeschaffung der verlorenen chemischen Formel für biegsames Glas zu. Ich hatte heute morgen eine längere Unterredung mit Mr. President. Und Sie wissen, daß das Komitee der Ausstellung in Lyon eine große Prämie für biegsames Glas ausgesetzt hat.«

 

Milton nickte.

 

»Der letzte Einsendetermin für die Lösung ist nächste, Woche. Und wenn es Ihnen gelingen sollte, diese Papiere zu finden, so würde das für Mr. President sehr viel bedeuten. Heute morgen noch sagte er, daß er es sehr bedauerte, die Lösung nicht einsenden zu können. Ich bin direkt gerührt über das Zutrauen, das er zu seiner Erfindung hat.«

 

»Ist er eigentlich reich?«

 

Stanton schüttelte den Kopf.

 

»Er lebt in ganz guten Verhältnissen und hat ein paar tausend Pfund zurückgelegt, aber er gibt für seine Pferde sehr viel Geld aus.«

 

»Für Donavan?«

 

»Ja. Und nach allem, was ich heute morgen sah, wird das Pferd das Derby gewinnen. Es hat Dean um mehrere Längen geschlagen, und zwar ohne die geringste Anstrengung. Ich habe selbst abgestoppt. Es hat die Meile fast in Rekordzeit zurückgelegt.«

 

»Ich bin davon überzeugt, daß es das Derby beinahe gewinnen wird.«

 

»Warum sollte Donavan nicht Sieger werden? Welches Pferd könnte denn sonst den ersten Platz belegen?«

 

Milton lächelte.

 

»Das Pferd von Sir George Frodmere.«

 

»Ist das tatsächlich Ihre Meinung? Glauben Sie, daß Portonius das Rennen macht?«

 

»Ich habe nur gesagt, daß Sir George Frodmeres Pferd das Rennen macht. Was nachher passiert, ist eine Sache für sich.«

 

»Sie sind ja heute sehr geheimnisvoll«, sagte Eric etwas unwillig. »Wollen Sie den Schleier nicht ein wenig lüften?«

 

»Da müssen Sie bis zum Rennen warten.«

 

Die beiden erhoben sich und verließen zusammen den Klub. Milton verabschiedete sich auf der großen Treppe.

 

»Mit der Auffindung Ihrer Schwester bin ich übrigens einen Schritt vorwärtsgekommen. Ich habe jetzt wenigstens einen Anhaltspunkt, der mir vielleicht weiterhilft. Und wegen Mr. Presidents Schriftstücken wird sich auch noch Rat schaffen lassen. Wann wird denn das Resultat des Wettbewerbs in Lyon bekanntgegeben?«

 

»Merkwürdigerweise an demselben Tag, an dem das Derby stattfindet.«

 

Milton nickte.

 

»Darm kann Mr. President vielleicht an diesem Tag einen doppelten Sieg buchen. Sollten wir uns nicht vorher treffen, so sehen wir uns jedenfalls bei dem Rennen in Epsom.«

 

Damit trennten sich die beiden.

 

*

 

Das kleine Haus, das Sir George seinem Trainer zur Verfügung gestellt hatte, lag an der verwahrlosten großen Fahrstraße, die die Ländereien durchschnitt. Sie war jetzt nicht mehr in Gebrauch, weil ihre Instandsetzung zuviel Geld gekostet hätte.

 

Eines Abends ging Mr. Buncher zum nahegelegenen Dorfwirtshaus. Seine Frau blieb zu Hause und atmete erleichtert auf, als die Tür ins Schloß fiel. Sie war hager und hatte in ihrer siebzehnjährigen Ehe harte Züge bekommen. Schwere Jahre lagen hinter ihr.

 

Sie saß in der Küche und fuhr erschreckt zusammen, als sie hörte, daß jemand an der Gartentür war. Zuerst glaubte sie, ihr Mann wäre zurückgekommen, und eilte hinaus. Aber draußen stand ein Fremder.

 

»Sind Sie Mrs. Buncher?« fragte er freundlich.

 

»Ja.«

 

Es war offenbar ein vornehmer Herr. Nicht nur seine Kleidung, auch sein Benehmen und seine Sprache ließen darauf schließen. Obendrein war er in einem Auto angekommen.

 

»Ich möchte Sie in einer dringenden Angelegenheit ein paar Minuten sprechen.«

 

Sie zögerte. Ihr Mann hatte ihr den strikten Auftrag gegeben, niemand in das Haus zu lassen. Aber einen solchen Fall hatte er wohl nicht vorausgesehen.

 

»Ich glaube, es ist Ihr Vorteil, wenn Sie mit mir sprechen«, erklärte Milton Sands.

 

Mrs. Buncher war sofort interessiert und schloß das Tor auf, wenn ihre Hände auch zitterten.

 

»Wollen Sie bitte nähertreten.«

 

Sie führte Milton in das Wohnzimmer und bot ihm einen Stuhl an.

 

»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, sagte Milton, der absichtlich gewartet hatte, bis Mr. Buncher zu seinem Abendschoppen ins Dorf gegangen war. »Sie waren doch früher bei Mrs. Stanton im Dienst?«

 

Sie zögerte mit der Antwort, aber nach einer kleinen Pause bejahte sie die Frage.

 

»Es ist Ihnen auch bekannt, daß sich Mrs. Stanton von ihrem Mann trennte. Und ihre kleine Tochter mitnahm? Gingen Sie damals mit ihr?«

 

»Ja. Mrs. Stanton ist immer sehr gut zu mir gewesen; ihr Mann dagegen war ein abscheulich brutaler Mensch …« Sie wollte alle Einzelheiten des Falles erzählen, aber Milton hinderte sie daran.

 

»Wie lange waren Sie noch bei Mrs. Stanton, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte?«

 

Mrs. Buncher sah zur Decke und überlegte.

 

»Im ganzen zwei Jahre, ein Jahr in England und ein Jahr in Brügge. Dann kam ich mit ihr nach England zurück, mußte mich aber von ihr trennen, da sie nicht mehr genügend Geld hatte, um meinen Lohn zu bezahlen. Sie mußte sehr sparen.«

 

»Sie wissen doch, daß Mr. Stanton für die Auffindung seiner Schwester eine Belohnung ausgesetzt hat?«

 

Die Frau nickte.

 

»Ich habe davon gehört. Aber es hat keinen Zweck, daß ich mich darum bemühte; ich weiß ja selbst nichts Genaues.«

 

»Wo wohnte denn Mrs. Stanton, als sie nach London zurückkam?«

 

»In Hornsey – in einer Pension.«

 

Milton schrieb sich die Adresse genau auf.

 

»Können Sie mir vielleicht irgendein besonderes Erkennungszeichen nennen, das das Kind an sich hatte? Ein Muttermal, an dem man es erkennen könnte?«

 

»O ja, es hatte ein gelbliches Muttermal rund um das linke Fußgelenk. Es sah aus wie eine Schlange. Und das war merkwürdig, denn wir sagten immer –«, sie hielt plötzlich inne.

 

»Sprechen Sie doch weiter«, ermutigte sie Milton.

 

»Ich möchte nichts gegen Mr. Wilton sagen – er wohnt jetzt hier im Herrenhaus, aber Mrs. Stanton haßte ihn – und wir nannten ihn immer die Schlange.«

 

»Das ist wenigstens ein Anhaltspunkt«, meinte Milton lächelnd.

 

Die Unterhaltung der beiden wurde plötzlich durch ein lautes Klopfen an der Haustür unterbrochen, und die Frau sprang auf.

 

»Mr. Buncher!« rief Sir George von draußen.

 

»Sagen Sie Sir George nicht, daß ich bei Ihnen bin. Wo kann ich mich solange verstecken?« fragte Milton.

 

»Gehen Sie durch den hinteren Gang in die Küche«, erwiderte sie verstört, denn jetzt erinnerte sie sich wieder an den Auftrag ihres Mannes, niemand ins Haus zu lassen.

 

Sie wartete, bis Milton Sands das Zimmer verlassen hatte, und ging erst dann, um Sir George zu öffnen.

 

»Wo ist Ihr Mann?« fragte der Baronet scharf.

 

»Er ist ins Dorf gegangen.«

 

»Dann holen Sie ihn rasch.«

 

Er stand in der offenen Haustür und klopfte ungeduldig mit der Reitpeitsche an seine hohen Stiefel.

 

Die Frau zögerte eine Sekunde, aber dann machte sie sich auf den Weg. Sie hoffte nur, daß der unbekannte Fremde seine Anwesenheit nicht verraten würde.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch vollkommen sicher?« wandte sich Sir George an Toady, der ihn begleitet hatte.

 

»Vollkommen. Ich habe mich bestimmt nicht getäuscht.«

 

»Ich dachte, er würde England an dem Tag vor dem. Derby verlassen?«

 

»Vielleicht hat er Urlaub bekommen, oder er ist auf ein anderes Schiff versetzt worden.«

 

»Das ist allerdings ein unglücklicher Zufall.«

 

Die beiden gingen langsam den Gartenweg auf und ab, der am Haus vorbeiführte, und blieben schließlich eine Weile vor dem Küchenfenster stehen.

 

»Daß dieser niederträchtige Zahlmeister sich ausgerechnet für Rennen interessieren muß, ist schlimm genug. Daß er bei dem Derby zugegen sein wird, ist noch schlimmer, aber am schlimmsten ist es, daß er hierhergekommen ist. Es ist einfach katastrophal, daß er nach – Pennwaring geht, um zu spionieren. Sind Sie sicher, daß er den Galopp gesehen hat?«

 

»Ganz sicher«, erklärte Toady. »Wenn Sie die Bemerkung gestatten, halte ich es entschieden für einen Fehler, das Pferd nachmittags laufen zu lassen. Während des Galopps kann man es ja glücklicherweise nicht beobachten, aber bei der Rückkehr zum Stall kommt der Gaul in einer Entfernung von hundert Metern an der Mauer vorbei. Ich beobachtete Buncher, als er das Pferd zum Stall zurückführte. Dabei sah ich mich zufällig um und entdeckte unseren Zahlmeister. Er saß mit einem Feldstecher oben auf der Umfassungsmauer.«

 

Sir George sah düster drein und runzelte die Stirn.

 

»Er hat uns schon lange im Verdacht. Erinnern Sie sich noch, was er alles sagte, als wir auf den Dampfer kamen? Er meinte, es sei doch sehr zu bedauern, daß El Rey zu einem Gestüt geschickt würde, da er noch so manches Rennen gewinnen könnte. Der hat damals schon etwas gemerkt. Und nun ist er hergekommen, um sich von der Richtigkeit seiner Vermutung zu überzeugen. Was haben Sie denn gemacht?«

 

Toady warf sich in die Brust.

 

»Ich habe vor allem nicht den Kopf verloren«, erwiderte er stolz. »Ich sah nur einen Augenblick zu ihm auf und war sofort auf der Höhe. In solchen Momenten der Gefahr stehe ich immer meinen Mann.«

 

»Reden Sie nicht soviel von sich selbst«, entgegnete Sir George ärgerlich. »Ich will wissen, was passiert ist. Was Sie in gefährlichen Augenblicken machen, weiß ich zur Genüge. Ich habe da meine bösen Erfahrungen mit Ihnen.«

 

»Ich wünschte ihm einfach guten Tag und sprach ein paar Worte mit ihm über das Pferd. Dann fragte ich ihn, ob er einmal zum Stall kommen wollte, um sich den Gaul näher zu besehen. Und er nahm mein Anerbieten an.«

 

»Wenn wir mit Buncher gesprochen haben, müssen wir uns entscheiden, was wir tun wollen.« Sir George schlug mit der Faust in die flache Hand. »Ich brauche dringend größere Summen. Wenn etwas schiefgeht und etwas dazwischenkommt, weiß ich nicht, wie ich durchhalten soll. Wir müssen vor allem herausbringen, wieviel der Zahlmeister weiß, und wieviel er vermutet. Aber das eine kann ich Ihnen nur sagen, er muß um jeden Preis zum Schweigen gebracht werden.«

 

Toady nickte. Er hatte die gefährliche Situation vollkommen erfaßt. Auch ein großer Teil seines eigenen Geldes war auf Portonius gesetzt.

 

»Hier ist er schon«, sagte Sir George leise.

 

Sie waren langsam nach vorne gegangen und standen jetzt an der Haustür, von der aus man die Gartentür beobachten konnte. Der Fremde kam zu gleicher Zeit mit Mr. Buncher und seiner Frau. Sie warf einen ängstlichen Blick auf das Küchenfenster, konnte aber von dem früheren Besucher nichts sehen und hoffte nur, daß er die erste beste Gelegenheit benützt hatte, um sich aus dem Staube zu machen. Sir George wies vielsagend mit dem Kopf auf die Frau.

 

»Schon gut«, brummte Buncher. »Ich brauch dich nicht mehr. Wir wollen allein miteinander reden.«

 

»Wollen Sie ins Wohnzimmer gehen?« fragte sie furchtsam.

 

»Nein, wir sprechen hier draußen. Ach, hier ist ja Mr. Delane.«

 

Sir George erkannte ihn trotz des schwachen Lichtes sofort. Es war tatsächlich der Zahlmeister des Dampfers, auf dem El Rey nach England transportiert worden war.

 

Buncher maß den Fremden mit düsteren Blicken und brummte etwas, das man nicht verstehen konnte.

 

»Wie ich hörte, haben Sie mein Pferd beim Training gesehen?« begann Sir George.

 

Der Zahlmeister nickte.

 

»Nun, was halten Sie von ihm?« fragte der Baronet leichthin.

 

Mr. Delane antwortete nicht gleich, sondern schien sich seine Worte genau zu überlegen.

 

»Es macht sich sehr gut«, sagte er schließlich.

 

»Haben Sie seinen Galopp gesehen?«

 

»Nur das Finish.«

 

»Wirklich ein gutes Pferd. Sind Sie nicht auch der Meinung?« fragte Sir George anscheinend harmlos. Aber er ließ den Mann nicht aus den Augen und beobachtete ihn scharf.

 

»Außerordentlich gut in Form«, entgegnete Mr. Delane sachlich. Aber seine Worte schienen eine besondere Bedeutung zu haben.

 

»Glauben Sie, daß es das Derby gewinnen wird?«

 

Der Zahlmeister nickte.

 

»Ja, der Gaul geht als erster durchs Ziel«, erklärte er überzeugt.

 

»Ich verstehe vollkommen.«

 

Sir George blickte eine Weile dumpf brütend vor sich hin, dann sah er plötzlich auf.

 

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mit mir zum Herrenhaus kämen«, sagte er.

 

Der Zahlmeister lächelte.

 

»Das geht leider nicht, Sir George«, entgegnete er höflich. »Ich muß heute abend noch nach London zurückfahren.«

 

»Kommen Sie zu den Rennen nach Epsom? Ich dachte, Sie wären schon auf See …«

 

»Eigentlich war es ja auch so bestimmt, aber ich wurde auf ein anderes Schiff versetzt, und die Gesellschaft gibt mir bis dahin Urlaub.«

 

Ein peinliches Schweigen trat ein.

 

»Sind Sie eigentlich schon einmal in Bukarest gewesen?« fragte Sir George dann unvermittelt.

 

»Nein«, erwiderte Mr. Delane erstaunt. »Warum fragen Sie danach?«

 

»Ich überlegte mir gerade, ob Sie einen geschäftlichen Auftrag für mich übernehmen wollten. Ich erwarte in nächster Zeit wichtige Nachrichten, die es notwendig machen, daß ich einen Vertreter in Bukarest habe. Und ich glaube, daß Sie sich für den Posten vorzüglich eignen würden. Auf diese Weise könnten Sie Ihren Urlaub nutzbringend verwerten. – Sie müßten nach Bukarest gehen, wo Sie im besten Hotel wohnen würden. Warten Sie dort, bis Sie meine weiteren Anweisungen erhalten. Ich bin bereit, Ihnen für Ihre Mühe sehr anständig zu zahlen. Etwa fünfzig Pfund wöchentlich für Ihre Spesen, und weitere fünfzig Pfund für die Dienste, die Sie mir leisten. Es würde sich um eine Zeit von etwa sechs Wochen handeln. Nebenbei könnten Sie die schöne Gegend am Schwarzen Meer kennenlernen. Und –«

 

»Und auf diese Art und Weise würde ich aus England entfernt sein. Nein, Sir George, ich muß Ihren Auftrag ablehnen.«

 

» Vielleicht willigen Sie ein, wenn ich Ihnen zweihundert Pfund die Woche bewillige. Das wären im ganzen eintausendzweihundert Pfund – das ist doch wirklich eine sehr gute Bezahlung für so kurze Zeit.«

 

Der Zahlmeister war nicht gerade reich, und er zögerte. Schließlich war es ja nicht seine Sache, sich in diese Affäre einzumischen. Hier bot sich eine Gelegenheit wie vielleicht nie wieder in seinem Leben. Er war sonst ein absolut ehrlicher Mann. Aber Sir George hatte ja nichts gesagt, was ihm die Annahme des Vorschlags unmöglich gemacht hätte.

 

Dieser englische Baronet hatte so vielfache Interessen, daß er vielleicht tatsächlich wichtige geschäftliche Transaktionen in Bukarest vornehmen mußte.

 

»Ich will mir die Sache noch überlegen.«

 

»Treffen Sie Ihre Entscheidung lieber jetzt«, sagte Sir George mit freundlichem Lächeln, »und fahren Sie heute abend noch nach Rumänien ab. Sind Sie eigentlich verheiratet?«

 

Mr. Delane schüttelte den Kopf.

 

»Sehen Sie, das macht die Sache ja noch bedeutend leichter. Sie können den Zehnuhrzug von Liverpool Street über Hoek van Holland noch erreichen und dann in Amsterdam den Orientexpreß benützen. An Ihrer Stelle würde ich sofort annehmen.«

 

Der Mann zögerte immer noch. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er anders handelte, als er beabsichtigte. Aber schließlich hatte diese Rennangelegenheit ja nichts mit ihm zu tun. Er wußte nicht einmal genau, ob hier wirklich ein Schwindel durchgeführt werden sollte. Und graue Pferde sahen einander für gewöhnlich ziemlich ähnlich. Es bestand kein großer Unterschied.

 

»Während Ihres Aufenthalts in Bukarest können Sie ja schließlich auch Soltescus Gestüt und El Rey besuchen.«

 

Sir George sagte das so gleichgültig, als ob er nicht viel Wert auf die Entscheidung des Zahlmeisters legte. Aber mit dieser geschickten Äußerung gelang es ihm, das Gewissen Delanes zu beruhigen.

 

»Ich werde noch heute abend fahren«, erklärte dieser.

 

»Gut, kommen Sie mit in mein Haus, damit wir den Vertrag abschließen können«, sagte Sir George und ging voraus.

 

Unterwegs unterhielt er sich noch angeregt mit Mr. Delane über alle möglichen Dinge, nur nicht über Pferde.

 

Da Mr. Buncher nicht fortgeschickt worden war, schloß er sich ihnen an. Das war günstig für Milton Sands, denn nun konnte er sich ungesehen davonschleichen.

 

Kapitel 17

 

17

 

Eine Woche war vergangen, in der Milton Sands alle Hände voll zu tun hatte.

 

John President war von morgens bis abends auf den Beinen und dauernd mit seinem Lieblingspferd beschäftigt.

 

Am Sonnabend vor dem Rennen in Epsom schien es so, als ob die Leute nur noch über die Aussichten der einzelnen Pferde in dem Derby sprechen würden.

 

Eric Stanton ritt mit Milton über die Ebene. Am Abend vorher hatte er John President besucht und mit ihm über Donavan gesprochen. Der alte Herr hatte unerschütterliches Zutrauen zu seinem Pferd und war so optimistisch, als ob er mindestens fünfzig Jahre jünger wäre.

 

Milton Sands war zu Gast bei Stanton, der in der Nähe einen größeren Landsitz hatte.

 

»Ich mache mir keine Sorgen darüber, daß der alte President eventuell sein Geld verlieren wird«, sagte Eric. »Einen solchen Schaden kann man leicht wieder gutmachen. Aber ich fürchte den niederschmetternden Eindruck, den eine Niederlage Donavans auf ihn machen wird. Er ist wirklich sehr alt, und er glaubt felsenfest an den Erfolg seines Pferdes. Ich weiß nicht, ob er eine Niederlage Donavans überstehen wird. Und ich habe einen ganz besonderen Grund, warum ich ihn gerade jetzt glücklich und zufrieden sehen möchte.«

 

Milton schaute ihn verständnisvoll an.

 

»Ich glaube, ich verstehe den Zusammenhang. Aber Sie müssen mir jetzt Ihr volles Vertrauen schenken. Meiner Meinung nach kommt es gar nicht darauf an, was in Epsom passiert.«

 

»Wie meinen Sie denn das?« fragte Eric erstaunt.

 

»Genauso, wie ich es sage. Sie müssen mir gestatten, daß ich nicht alle meine Geheimnisse ausplaudere. Ich bin eben ein Detektiv. Gestern traf ich Soltescu. Er war in bester Stimmung und beging die Taktlosigkeit, mich an einen Spielverlust zu erinnern, den er mir früher beibrachte. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen, aber gerade jetzt habe ich alle Hände voll zu tun. Vor allem beschäftige ich mich mit Ihrer Privatangelegenheit, und ich hoffe, bald vorwärtszukommen. Die Dinge entwickeln sich.«

 

»Haben Sie tatsächlich Hoffnung, meine Schwester zu finden?« fragte Eric schnell.

 

»Ja, ich habe sogar große Hoffnung. Es ist mir gelungen, die Spuren Ihrer Mutter und Ihrer Schwester bis zu einer Pension in einer Vorstadt Londons zu verfolgen. Dort werde ich wahrscheinlich weitere Anhaltspunkte erhalten.«

 

Eric nickte.

 

»Sie wissen nicht, wieviel das für mich bedeutet. Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht an meine Schwester denke. Es kommt mir so vor, als ob ich sie um ihr Geld betröge. Ich lebe hier in Wohlsein und Luxus, während sie sich vielleicht mühselig durchkämpfen muß und in bitterer Armut steckt.«

 

Milton klopfte ihm auf die Schulter.

 

»Ich würde mir nicht zu große Sorgen machen«, erwiderte er freundlich. »In der nächsten Woche erleben wir allerhand Enthüllungen. Ich werde die Hauptrolle dabei spielen, und hoffentlich den Dank und den Applaus meiner Freunde ernten.«

 

Milton trennte sich von Stanton, weil er sich bei der Frau angemeldet hatte, in deren Pension Mrs. Stanton früher gewohnt hatte.

 

Madame Burford war inzwischen glückliche Besitzerin eines Privathotels in Brighton geworden, und dort suchte Milton sie auf.

 

Sie konnte sich deutlich an Mrs. Stanton erinnern und ihm viele wertvolle Einzelheiten mitteilen, die ihm bis dahin unbekannt waren, Mrs. Stanton war von Hornsey aus in eine andere Pension in Bloomsbury gezogen, die Madame Burford ihm angeben konnte, da sie sorgfältig Buch über die Adressen ihrer Mieter führte.

 

Als sie ihm den Namen und die Straße aufschrieb, sah sie ihn lächelnd an.

 

»Sie kommen aber verhältnismäßig spät, um sich zu informieren.«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Sie sind schon der zweite, der sich bei mir nach Mrs. Stanton und ihrer Tochter erkundigt.«

 

»Wer hat denn vor mir nach ihnen gefragt?« sagte Milton erstaunt.

 

»Eine Dame, eine gewisse Mrs. Thompson.«

 

Milton unterdrückte einen Ausruf.

 

Warum interessierte sich plötzlich Mrs. Thompson für die Gesuchten? Aber dann fiel ihm die Belohnung ein, die Stanton ausgesetzt hatte, und er lächelte. Er mußte schnell arbeiten, wenn er nicht noch zu guter Letzt um die Früchte seiner Bemühungen kommen wollte.

 

Seine Furcht war begründet, denn Mrs. Thompson war in den letzten Tagen sehr tätig gewesen. Sie hatte sich in London erkundigt, war von da nach Bloomsbury gefahren, dann nach Balham und wieder zurück nach Bloomsbury. Und sie hatte sehr viel erfahren.

 

Sir George Frodmere erhielt daraufhin ein kurz und bündig abgefaßtes Telegramm von ihr.

 

»Komme um elf Uhr vierzehn. Schicke Auto zur Bahn. Georgina.«

 

»Was, zum Teufel, will sie denn schon wieder?« sagte er ärgerlich.

 

Es bestand kein allzu herzliches Verhältnis zwischen den Geschwistern. Sie standen sich zwar nicht feindlich gegenüber, aber Sir George hielt sich seine Schwester so fern als möglich, weil er bis zu einem gewissen Grade ihre scharfe Zunge fürchtete. Manchmal konnte er sie allerdings gut gebrauchen, aber er hatte sie noch niemals auf seinen Landsitz eingeladen.

 

»Ich kann ihr nicht mehr abschreiben«, wandte er sich an Toady. »Fahren Sie zur Bahn und holen Sie Mrs. Thompson ab. Ich muß morgen zur Stadt. Sie können sich ja mit ihr beschäftigen.«

 

Toady war durchaus nicht entzückt von dieser Aussicht und entschuldigte sich mit einer Verabredung, die er einhalten müßte.

 

»Ach, das ist nicht so wichtig«, erklärte Sir George. »Sie müssen sich um meine Schwester kümmern. Mir fällt sie sowieso immer furchtbar auf die Nerven mit ihrem dauernden Gerede und ihren Skandalgeschichten.«

 

Toady fuhr zum Bahnhof.

 

»Wir freuen uns sehr über Ihr Kommen«, begrüßte er Mrs. Thompson.

 

»Lügen Sie nicht, Toady«, sagte sie schroff. »George ist wütend, daß ich gekommen bin. Aber er muß schon zwei Tage mit mir vorlieb nehmen. Und wahrscheinlich hat die Sache für ihn große Vorteile.«

 

Sie stieg in den Wagen. Toady machte noch mehrmals den Versuch, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen, aber da er keinen Erfolg hatte, lehnte er sich schließlich schweigend in seinen Sitz zurück.

 

Erst als sie sich dem Herrenhaus näherten, wandte sich Mrs. Thompson plötzlich an ihren Begleiter.

 

»Wie steht es mit George? Wird er das Derby gewinnen?«

 

»Wir hoffen es alle stark«, entgegnete Toady vorsichtig.

 

»Sir George legt sein Geld nicht nur auf bloße Hoffnungen hin an«, sagte sie entschieden. »Wenn er so viel Geld wettet, dann muß er ganz besondere Sicherheiten haben. Und ich bin neugierig, warum er die Aussichten seines Pferdes so günstig beurteilt.«

 

»Das wird er Ihnen sicher erklären«, erwiderte Toady diplomatisch. Er liebte es nicht, sich von dieser entsetzlich schwatzhaften Frau ausfragen zu lassen.

 

Erleichtert atmete er auf, als der Wagen vor der Freitreppe des Hauses hielt. Sir George wartete mit düsterem Gesicht oben auf der Terrasse, und sein Willkommensgruß war ziemlich frostig.

 

»Hallo«, sagte er unfreundlich, als seine Schwester die Stufen hinaufstieg. »Warum kommst denn du hierher?«

 

»Aus Sorge um deine Zukunft und dein Wohlergehen, George«, erklärte sie kurz.

 

Er führte sie in die Bibliothek. Sie nahm eine Zigarette aus dem Etui, das auf dem Schreibtisch lag, und zündete sie an.

 

»Sie brauchen nicht hier zu warten, Toady«, sagte sie dann barsch.

 

Wilton ging fort und verwünschte sie wegen ihrer Unhöflichkeit.

 

Als die beiden allein waren, drehte sich Sir George um. Er hatte bis jetzt zum Fenster hinausgesehen.

 

»Nun, Georgina, was führt dich hierher?«

 

»Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, daß du heiratest.« Sie ging direkt auf ihr Ziel los.

 

»Wie kommst du denn plötzlich zu dieser Überzeugung?« fragte er ironisch, aber doch etwas erstaunt.

 

»Eine reiche Heirat könnte dich aus deiner unangenehmen Situation befreien. Ich weiß alles über dich und deine Unternehmungen. Du schwebst ständig in Gefahr, mit dem Gericht in Konflikt zu kommen.«

 

»Willst du mir hier etwa Religionsunterricht geben?«

 

»Nein, das weißt du selbst sehr gut«, entgegnete sie kühl. »Ich bin hergekommen, um geschäftlich mit dir zu sprechen. Und glaube mir, Ehrlichkeit macht sich immer bezahlt.«

 

»Inwiefern soll ich denn meine Ehrlichkeit betätigen?’« fragte er lächelnd.

 

»Du sollst eine vorteilhafte Ehe schließen. Ich kenne eine Dame mit einer halben Million Vermögen. Was sagst du dazu?«

 

»Das kommt mir allerdings sehr komisch vor. Ich bin doch nicht mehr der Jüngste. Aber wo und wie hast du denn diese sagenhafte Dame gefunden? Ich muß gestehen, daß ich seit den letzten zwanzig Jahren erfolglos nach ihr gesucht habe. Ich bin durchaus kein Verächter des schönen Geschlechtes, aber Damen mit großem Vermögen waren nie sehr huldreich zu mir.«

 

Sie setzte sich auf eine Ecke des Diwans.

 

»Ich will dir also meinen Vorschlag machen. Ich habe eine Dame entdeckt, die du wahrscheinlich sofort heiraten kannst. Sie lebt augenblicklich in ärmlichen Verhältnissen, und du brauchst nur nett, liebevoll und ritterlich zu ihr zu sein. Sicher wird sie dich nehmen, da sie nicht von Adel ist. Und dann heiratest du sie einfach.«

 

Er kniff die Augenlider zusammen und sah sie forschend an.

 

»Welchen Vorteil hast du denn davon?« fragte er ruhig.

 

»Ich bekomme zehn Prozent von ihrem Vermögen als Provision«, erwiderte sie geschäftstüchtig. »Wahrscheinlich wirst du nicht gleich über das ganze Vermögen verfügen können, aber vielleicht bist du ein Jahr nach der Heirat in der Lage, mir meinen Anteil auszuzahlen. Sie weiß augenblicklich noch nicht, was für eine große Erbschaft sie machen wird, und du hast Zeit, dich um ihre Gunst zu bewerben, so daß sie dir später willig die Verwaltung ihrer Geldangelegenheiten übertragen wird.«

 

»Ich verstehe. Wer ist denn die Dame?«

 

Mrs. Thompson sah ihn belustigt an.

 

»Glaubst du auch nur einen Augenblick, daß ich dir das jetzt sagen würde? Mein lieber George, für wie einfältig hältst du mich denn? Nein, zuerst müssen wir einen schriftlichen Vertrag machen zwischen George Mortimer Maxwell Frodmere einerseits und Georgina Heloise Gordon Thompson andererseits. Der Vertrag muß in vollkommen einwandfreier juristischer Form aufgesetzt, gestempelt, gesiegelt und mit allen Sicherungen versehen sein, die mein Rechtsanwalt nur ausfindig machen kann. Vorher unternehme ich auch nicht einen Schritt weiter in der Sache.«

 

Sir George blieb eine Weile ruhig am Schreibtisch stehen und betrachtete seine Schwester.

 

»Die Idee ist im Grunde nicht schlecht«, sagte er dann liebenswürdig, ganz im Gegensatz zu seiner früheren Haltung. »Bis jetzt habe ich allerdings kein Glück gehabt mit meinen Heiratsangelegenheiten.«

 

»Du bist doch nicht etwa schon heimlich verheiratet?« fragte sie schnell.

 

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Nein, ich meine nur, meine nutzlosen Bemühungen, mich günstig zu verheiraten, sind alle fehlgeschlagen. Aber ich halte deinen Plan für absolut durchführbar und gut. Wir wollen auch sofort an die Ausführung gehen. Mein Rechtsanwalt soliden Vertrag gleich aufsetzen. Ich werde ihn telegrafisch herrufen.«

 

»Dann telegrafiere auch sofort an den meinen.«

 

»Das ist doch nicht notwendig.«

 

»Das ist wichtiger als alles andere, wenn ich mit dir verhandle. Ich bin. vorsichtig geworden, denn ich kenne dich.«

 

*

 

Sir George Frodmere reiste am nächsten Morgen nicht nach London, wie er ursprünglich beabsichtigt hatte. An seiner Stelle fuhr Toady Wilton, der über den Stimmungswechsel seines Freundes angenehm überrascht war. In der. letzten Zeit war so viel Geld auf Donavan gewettet worden, daß Portonius etwas ins Hintertreffen geriet, und diese Chance wollte sich Toady nicht entgehen lassen. Er suchte seine letzten Geldreserven zusammen, um sie auf Portonius zu setzen, und er war mit sich und seiner Lage augenblicklich sehr zufrieden. In der letzten Zeit hatte Portonius sehr gute Fortschritte gemacht und mußte das Rennen unweigerlich gewinnen. Das Pferd war noch nie in so guter Form gewesen. Die Gefahr, daß der Klimawechsel ihm schaden könnte, war glücklich vorübergegangen. Die für dieses Derby gemeldeten Dreijährigen waren nicht gerade besonders hervorragend, so daß sich schon dadurch die Aussichten Sir Georges verbesserten.

 

Toady fuhr direkt von der Bahn zu dem Büro seines Wettagenten. Der junge Mann saß hinter seinem Schreibtisch und sah keineswegs wie ein Buchmacher aus. Er war unauffällig gekleidet, hatte vornehme Gesichtszüge, trug nicht den geringsten Schmuck und unterschied sich auch sonst vorteilhaft von seinen Kollegen. Man hätte eher annehmen können, daß man sich in dem Büro eines Bankdirektors befände.

 

»Wie geht es mit Ihrem Pferd?« fragte er, als er seinem Besucher eine Zigarette anbot.

 

»Großartig«, entgegnete Toady. »Aber es ist merkwürdig, daß so viel Geld auf Donavan gesetzt wird.«

 

Mr. Gursley nickte.

 

»Sie wissen wahrscheinlich, daß jemand gegen Sie setzt? Sie können soviel Geld eins zu sechs auf Portonius setzen, wie Sie wollen. Gestern wurden mir noch Wetten angeboten mit sechstausend zu eintausend oder dreißigtausend zu fünftausend. Ich hätte abschließen können, wenn ich gewollt hätte.«

 

»Wer hat Ihnen denn das angeboten?« fragte Toady eifrig. »Ist der Mann auch sicher? Hat er genügend Deckung?«

 

»Da können Sie vollkommen beruhigt sein. Er hat das Angebot nicht von sich aus gemacht, er handelt im Auftrag eines anderen. Sie können die Wette heute noch abschließen, wenn Ihnen etwas daran liegt.«

 

Er nahm den Hörer vom Telefon und rief eine Nummer in der Jermyn Street an.

 

»Sie haben mir gestern dreißigtausend zu fünf auf Portonius für das Derby angeboten. Halten Sie Ihr Angebot noch aufrecht?«

 

»Selbstverständlich.«

 

Gursley sah Wilton bedeutungsvoll an.

 

»Wollen Sie die Wette abschließen?«

 

Toady nickte.

 

»Gut, dreißigtausend zu fünf auf Portonius. Die Sache ist abgemacht.«

 

Der Buchmacher legte den Hörer wieder auf.

 

»Sie wissen, daß Sie und Ihre Freunde sich sehr stark für Portonius engagiert haben?«

 

»Wieviel müßten wir zahlen, wenn wir verlören?«

 

»Etwa zwanzigtausend Pfund. Und bis jetzt habe ich erst zehntausend von Ihnen in der Hand.«

 

Toady lächelte.

 

»Ist es nötig oder gesetzliche Bestimmung, daß man das Geld für Wetten vor dem Rennen einzahlt?«

 

»Nein, das Gesetz schreibt es nicht vor. Aber es ist äußerst notwendig, bevor ich weitere Schritte unternehme. Selbst jetzt kann ich die eben telefonisch verabredete Wette erst dann schriftlich bestätigen, wenn Sie mir die betreffende Summe einzahlen. Wenn man mit so großen Beträgen arbeitet, kann man nicht vorsichtig genug sein. Ich weiß, es ist gegen die Gewohnheit, aber ich habe Ihnen das ja gleich zu Anfang unserer Geschäftsverbindung gesagt. Sie müssen das Geld bis morgen früh auf mein Bankkonto überweisen.«

 

»Wird erledigt«, erklärte Toady.

 

Soltescu war in London und konnte ihm das Geld leicht beschaffen.

 

Wilton fuhr sofort zu dem Hotel des Rumänen und traf ihn auch an. Soltescu war in bester Stimmung und Toady hatte in einer Viertelstunde alles erreicht, was er wollte.

 

Kapitel 18

 

18

 

Der Tag des Derbys kam, und die Rennbahn war sehr stark besucht. Überall sah man die großen, farbenfreudigen Plakate der Buchmacher, die in lebhaftem Gegensatz zu dem grünen Rasen und der dunklen Volksmenge standen. Ein unheimliches Gedränge herrschte auf den Sattelplätzen und auf den Tribünen. Jeder Platz war besetzt.

 

Eric Stanton hatte eine Loge für sich und war von fröhlichen Menschen umgeben. Neben ihm saßen Mary President und ihr Großvater, und auch Milton Sands und Janet Symonds waren in der Nähe. Mary schaute auf die große Menschenmenge und wandte sich dann an Eric.

 

»Ich weiß nicht, ich bin so unruhig geworden. Glaubst du wirklich, daß Donavan das Rennen macht?« fragte sie. Er nickte.

 

»Ich persönlich bin davon überzeugt. Milton Sands ist allerdings anderer Ansicht.« Er drehte sich zu ihm um. »Es ist doch richtig, was ich eben sagte?«

 

Milton schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das stimmt nicht. Ich sagte nicht, daß Donavan nicht gewinnen, sondern daß er wahrscheinlich heute geschlagen würde.«

 

»Diese feinen Unterschiede kann ich nicht verstehen. Das ist mir zu hoch. Die Detektive drücken sich doch wirklich zu vorsichtig und geheimnisvoll aus.«

 

Milton Sands hatte nur halb zugehört. Er sah über die Menge weg und erkannte Sir George Frodmere und seine Freunde unten auf der Rennbahn. Sie standen in der Nähe auf einem freien Platz und sprachen anscheinend ernst miteinander. Soltescu ging gerade auf sie zu. Er sah in dem glänzenden Zylinder mit seiner großen Zigarre stattlich aus. Milton Sands überlegte sich, wieviel Geld der Mann wohl verlieren würde, wenn das Rennen nicht so verlief, wie er erwartete.

 

Ähnliche Gedanken kamen auch Sir George Frodmere. Er unterhielt sich mir Wilton über dasselbe Thema.

 

»Ich weiß nicht, wie es heute noch werden soll, Toady«, sagte er nervös. »Aber ich habe ein unangenehmes Gefühl, daß die Sache nicht glatt geht.«

 

»Die Buchmacher denken aber anders darüber«, entgegnete Toady gutgelaunt. »Sie nehmen Wetten fünf zu zwei auf Portonius. Und es ist schwer, selbst große Summen zu diesen Bedingungen unterzubringen.«

 

»Wenn ich dieses Rennen verliere«, sagte Sir George nachdenklich, »dann verlieren Sie Ihr Heim, Toady.«

 

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Wilton erschreckt.

 

»Genauso, wie ich es sage. Wenn ich verliere, werde ich mich verheiraten.«

 

»Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«

 

Sir George lächelte.

 

»Eine äußerst tüchtige Geschäftsfreundin hat mich darauf gebracht«, entgegnete er ausweichend.

 

»Haben Sie der Dame denn schon einen Antrag gemacht?« fragte Toady neugierig.

 

»Dazu ist keine Zeit«, erklärte Sir George kurz. »Leider hat sie andere Ansichten darüber und scheint ihre Neigung einem anderen zuzuwenden, so daß sie wahrscheinlich nicht so leicht umzustimmen sein wird. Ich habe Nachforschungen angestellt … Es wird deshalb notwendig sein, andere Methoden anzuwenden. Aber Sie werden verstehen, daß ich zu diesem Schritt gezwungen bin, wenn unser Plan mißlingt.«

 

»Ich weiß gar nicht, wie Sie dazu kommen, so etwas zu sagen. Es wird nicht schiefgehen«, erklärte Toady aufgeregt. »Was ist denn los? Ist dem Pferd etwas zugestoßen?«

 

»Nein, das ist in bester Form, und ich bin eigentlich fest davon überzeugt, daß es das Rennen macht. Aber ich denke an andere schlimme Möglichkeiten.«

 

»Sie wissen doch bestimmt, daß der wirkliche Portonius nach Belgien abtransportiert, worden ist?« fragte Toady plötzlich.

 

»Warum fragen Sie danach?« erwiderte Sir George unangenehm berührt. »Ich habe noch nie daran gezweifelt.«

 

»Es liegt ja auch gar kein Grund dazu vor. Ich dachte nur so«, entgegnete Toady lahm.

 

»Dann behalten Sie so dumme Fragen lieber für sich«, sagte der Baronet ärgerlich. »Ich habe schon genug Sorgen ohne Ihr Geschwätz.«

 

Er blickte düster vor sich hin. Wenn der Schwindel mit Portonius herauskam, würde man ihn aus dem Rennverband ausschließen, und das würde seinen Ruin bedeuten. Er suchte den Gedanken loszuwerden, aber es gelang ihm nicht. Unruhig ging er zur Waage und schlenderte von dort zum Start.

 

»Sie kommen!« hörte er einige Leute rufen.

 

Ein großes Stimmengewirr erhob sich, als das Feld in Einzelreihe vorüberritt. Die Farben der Jockeys waren weithin zu sehen.

 

Die Erregung der Menge stieg, als die Pferde vorbeidefiliert waren. Am Start gab es noch einen längeren Aufenthalt, und der Starter hatte eine schwere Arbeit. Portonius fiel besonders auf wegen seiner hellen Farbe. Er hatte einen Platz an der Außenseite und war ziemlich ruhig. Donavan dagegen trippelte nervös hin und her, als ob sich die Spannung und Erwartung der Menge auf ihn übertragen hätte.

 

Endlich schoß das weiße Band in die Höhe, und das Feld stürzte vorwärts.

 

Das Geschrei der Menge war ohrenbetäubend, und Mary President zuckte zusammen. Ihr Herz schlug schneller, ihre Hände zitterten, und sie wurde bleich. Eric war aufgestanden, und Milton war merkwürdigerweise verschwunden. Sie wunderte sich einen Augenblick darüber, daß er diesem bedeutenden Rennen nicht zusehen wollte. Aber Miltons Interesse konzentrierte sich jetzt auf andere Dinge.

 

Das Feld raste geschlossen den Hügel hinauf. Das war die erste Kraftprobe, die die Derbypferde zu bestehen hatten.

 

Samborino hatte sich von der Masse gelöst und war zwei Längen vor den übrigen. Hinter ihm kamen Mangla, Texter und Portonius. Das graue Pferd lag ruhig auf der Außenseite. Dicht hinter ihm war Donavan, der mühelos aufholte.

 

»Donavan macht sich gut«, sagte John President, als er das Glas an die Augen setzte. Er folgte jeder Bewegung seines Pferdes.

 

Das Feld hatte jetzt eine lange, gerade Strecke vor sich, bevor die gefürchtete Senkung der Rennbahn kam. Auf dem abschüssigen Gelände änderte sich dann die Stellung der einzelnen Pferde schnell. Mangla fiel zurück – sie hatte das Rennen schon verloren. Texter gelang es, Samborino einzuholen. Aber als das Pferd nach der Kurve wieder in die Gerade einschwenkte, war auch Samborino am Ende seiner Kraft. Texter übernahm die Führung vor Portonius und Donavan, die dicht nebeneinander lagen.

 

Zwischen diesen dreien mußte sich das Rennen entscheiden.

 

»Es wird einen harten Endspurt geben«, meinte Eric.

 

Portonius gelang es, aufzuholen. Er war jetzt in gleicher Höhe mit Texter. Langsam schob sich auch Donavan an der Außenseite vor. Die drei Pferde rasten Kopf an Kopf über die Bahn. Sie waren jetzt dem Ziel schon so nahe, daß der Endspurt begann. Die Jockeys holten mit größter Anstrengung das Letzte aus ihren Pferden heraus. Bis jetzt hatte noch keiner die Peitsche gebraucht. Der Lärm der Menge wuchs, und es konnte kaum noch jemand sein eigenes Wort verstehen. Und doch erhob sich ein lauter Schrei, als Texter unsicher wurde und zurückblieb. Nun konnte die Entscheidung nur noch zwischen Donavan und dem grauen Pferd fallen, und diese beiden lieferten sich einen erbitterten Endkampf.

 

»Keine Peitsche«, sagte John President, und seine Augen glänzten vor Erregung. »Donavan muß frei auslaufen!«

 

Es war, als ob es der Jockey gehört hätte, so genau befolgte er die Anweisung.

 

Aber Portonius bekam nun die Peitsche. Zweimal sauste sie nieder, und er schoß vor.

 

»Jetzt!« rief John President.

 

Wieder schien der Jockey zu gehorchen. Die Peitsche hob sich, fiel aber nur einmal.

 

Das Pferd raste vorwärts und hatte im Nu den Verlust aufgeholt. Nur noch einige Meter trennten sie vom Ziel, und bevor noch einer der Jockeys die Peitsche aufs neue benutzen konnte, flogen sie am Pfosten vorüber.

 

»Totes Rennen!« sagte Eric Stanton, weiß vor Erregung.

 

Einen Augenblick herrschte absolute Ruhe, dann wurde langsam eine Nummer bei dem Sitz des Unparteiischen hochgezogen.

 

Portonius hatte das Rennen um eine Kopflänge gewonnen!

 

Eric wandte sich schnell Mr. President zu. Die Züge des alten Mannes waren bewegungslos, aber er schien in den wenigen Augenblicken stark gealtert zu sein. Jede Linie seines sonst so gesunden Gesichts hatte sich vertieft.

 

In dem Augenblick kam Milton Sands wieder in die Loge und nahm Mr. President am Arm.

 

»Ich muß Sie eine Sekunde sprechen.«

 

Seine Worte hatten einen wunderbar belebenden Einfluß auf den alten Herrn, und als Mary zu ihrem Großvater trat und ihre Hand auf seinen Arm legte, um ihn zu trösten, sah sie ein Lächeln auf seinen Zügen.

 

»Ich bin so traurig«, sagte sie leise.

 

»Du hast gar keinen Grund dazu, Liebling«, sagte er und klopfte sie auf die Wange. »Du wirst noch sehr merkwürdige Dinge erleben.«

 

Die Menge staute sich bei dem Ausgang, wo die Pferde auf ihrem Weg zur Waage vorüberkommen mußten, und die Polizei hatte alle Mühe, die Menschen zurückzuhalten. Sir George führte Portonius und wurde von der Menge bejubelt.

 

Die Leute besprachen erregt das Ereignis, freudig oder traurig gestimmt, je nachdem sie gewettet hatten. Die Nachricht wurde sofort in die weite Welt gemeldet, und die Reporter eilten zu den Telefonen.

 

Portonius hatte das Derby gewonnen!

 

Der Jockey war auf der Waage unter Aufsicht des Vorstandes, und der Beamte wollte gerade das Rennen für gültig erklären, als Milton Sands sich plötzlich in den Raum drängte und dem ersten Vorsitzenden ein Blatt Papier überreichte. Der Mann hob die Hand, las es und sah dann schnell zu dem Beamten an der Waage hinüber.

 

»Erkennen Sie das Rennen noch nicht an«, sagte er und las dann laut vor:

 

»Ich protestiere gegen Portonius, weil er in Wirklichkeit der vier Jahre alte El Rey ist, der kürzlich von Brasilien importiert wurde.«

 

Diese Nachricht wirkte wie eine Bombe auf die Anwesenden, und auch draußen rief sie bald größte Erregung hervor.

 

»Protest! Protest!«

 

Ein paar Minuten später ging eine Tafel mit der gleichen Inschrift hoch.

 

Alles schrie wild durcheinander. Was mochte wohl der Grund hierfür sein? Toady Wilton stand bleich und aufgeregt mitten in der Menge. Man wußte, daß er der Vertraute von Sir George war, und alle bestürmten ihn mit Fragen. Aber er schüttelte nur abweisend den Kopf.

 

»Ich habe keine Behinderung gesehen«, sagte Lord Chanderson verwundert zu Eric Stanton. »Es war ein faires Rennen von Anfang bis zu Ende. Ich verstehe nicht, warum Protest eingelegt worden ist.«

 

»Ich kann es ebensowenig begreifen wie Sie, aber es muß doch ein schwerwiegender Grund vorliegen. Mr. President wäre doch sicher der letzte, der ohne Ursache einen solchen Schritt tun würde.«

 

Sir George Frodmere sah zu Milton hinüber, der eine so schwere Anklage gegen ihn erhoben hatte. Äußerlich trat er vollkommen ruhig und sicher auf.

 

»Das müssen Sie aber erst beweisen. Sie können sich darauf verlassen, daß ich eine Schadenersatzklage gegen Sie erheben werde.«

 

Ein Beamter des Rennklubs mischte sich ein.

 

»Sir George, ich habe in der Zwischenzeit durch den vereidigten Tierarzt Ihr Pferd oberflächlich untersuchen lassen. Allem Anschein nach ist das Tier vier Jahre alt.«

 

»Auch das ist noch kein Beweis«, entgegnete Sir George gelassen. »Es genügt nicht, daß ich unter Verdacht stehe – der Verdacht muß vor allem bewiesen werden. Und welchen Verdacht haben Sie denn? Mr. Sands scheint im Auftrag von Mr. President zu handeln. Ein schönes Paar – der eine ein früherer Zuchthäusler, der andere ein hergelaufener Abenteurer!«

 

»Ich habe alle Beweise in der Hand«, erklärte Milton, auf den die Worte des Baronets nicht den geringsten Eindruck gemacht hatten. »Erstens habe ich das Zeugnis des Zahlmeisters, auf dessen Schiff El Rey nach England gebracht wurde. Er wird unter Eid aussagen, daß der angebliche Portonius dasselbe Pferd ist, das er an Bord hatte, und daß Sie ihm zweihundert Pfund wöchentlich geboten haben, wenn er ins Ausland ginge, bis das Rennen vorüber wäre. Mr. Delane war tatsächlich auf der Reise nach Bukarest, als ich mit ihm zusammentraf und ihn überredete, seinen Entschluß zu ändern. Er hat daraufhin das Geld, das er von Ihnen bekam, auf einer Bank deponiert.«

 

»Der Vorstand des Rennklubs wird sich kaum mit den Aussagen eines Zahlmeisters zufriedengeben können«, entgegnete Sir George. Er kämpfte verzweifelt, um Zeit zu gewinnen. Wenn es ihm gelang, den Protest im Augenblick zu widerlegen, kam er vielleicht doch noch durch!

 

»Wenn dies nicht Portonius ist, dann sagen Sie mir doch, wo das wirkliche Pferd steckt.«

 

»Das ist auch meine Absicht«, erklärte Milton.

 

Er wechselte einige Worte mit dem Vorsitzenden des Rennklubs und führte dann die Beteiligten nach draußen. Ein anderes Pferd hatte inzwischen die Stelle des Derbysiegers eingenommen. Es war jung und in bester Verfassung.

 

»Hier sehen Sie den wirklichen Portonius«, sagte Milton. Auf ein Zeichen nahm der Reitknecht die Decken ab.

 

Sir Georges Augen weiteten sich. Es war kein Zweifel möglich. Dies war Portonius. Aber man konnte ihn kaum wiedererkennen, so gut hatte er sich bei der Pflege erholt, die ihm Milton Sands hatte angedeihen lassen.

 

»Die Sache unterliegt keinem Zweifel«, sagte der Vorsitzende. »Ich kann mich auf das Pferd deutlich besinnen. Es hat seinerzeit das Brocklesbury-Rennen in Lincoln mitgemacht … Der merkwürdige Bau der Hinterbeine ist mir schon damals aufgefallen. Ich habe mir heute vor dem Rennen den Derbysieger daraufhin angesehen und war verwundert, daß mich mein Gedächtnis so im Stich gelassen haben sollte.«

 

Er ging um das Pferd herum.

 

»Dies ist der wirkliche Portonius«, wiederholte er laut und deutlich. »Was haben Sie dazu zu sagen, Sir George?«

 

Der Baronet zuckte die Schultern.

 

»Ich habe mit der Sache nichts zu tun – ich wasche meine Hände in Unschuld. Wenn Sie mir das Rennen absprechen, dann kann ich Ihnen hier keinen weiteren Widerstand leisten. Sollten Sie zu meinen Ungunsten entscheiden, so werde ich die Gerichte anrufen.«

 

Nach diesen Worten bahnte er sich einen Weg durch die Leute und verließ den Rennplatz. Tausende von Gläsern waren nach dem Signalmast gerichtet, an dem jetzt ein großes Plakat hochgezogen wurde:

 

Protest gegen Portonius wegen betrügerischer Eintragung angenommen. Der erste Preis fällt an Donavan.

 

Kapitel 19

 

19

 

»Ist das nicht wundervoll?« rief Mary President. Ihre Augen leuchteten vor Erregung. »Wir haben also tatsächlich das Derby gewonnen!«

 

»Ich gratuliere«, sagte Eric und sah sie zärtlich an.

 

Sie drückte seinen Arm liebevoll.

 

»Ich möchte nur wissen, wie Sie den Betrug entdeckt haben«, wandte er sich an Milton, der inzwischen wieder zu der Gesellschaft zurückgekommen war.

 

»Das war verhältnismäßig einfach. Ich las einen Zeitungsartikel in einem südamerikanischen Blatt, reiste daraufhin nach Tilbury und beobachtete die Ankunft El Reys. Das übrige konnte ich mir leicht zusammenreimen. Ich folgte Sir George und seinen Freunden und entdeckte, auch den Stall, in dem das Pferd untergebracht wurde. Allerdings mußte ich zu diesem Zweck auf ein benachbartes Dach klettern, und das war eine recht unangenehme Aufgabe. Aber es wurde mir dadurch möglich, den Ereignissen genau zu folgen. Ich fürchtete nur, daß der ursprüngliche Portonius erschossen werden sollte. Aber als ich später am Abend sah, wie das Pferd von einem heruntergekommenen Kerl fortgeführt wurde, ging ich ihm nach, und es gelang mir, ihm das Tier abzunehmen. Der Rest war dann leicht.«

 

»Ich bin neugierig, was nun mit Sir George passiert«, meinte Eric. »Auf jeden Fall wird er aus dem Rennklub ausgeschlossen.«

 

Milton nickte.

 

Im selben Augenblick trat ein Postbote in die Loge, der ein Telegramm für Mr. Sands brachte.

 

»Sie müssen ja sehr viel zu tun haben, wenn Sie sich sogar auf den Rennplatz Telegramme schicken lassen!« rief Eric überrascht.

 

»Als guter Detektiv bin ich bereit, überall Nachrichten entgegenzunehmen.«

 

Er riß den Umschlag auf und las den Inhalt, der ihn sehr zu befriedigen schien. Lächelnd steckte er das Formular in die Tasche.

 

»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.«

 

Mit diesen Worten ging er fort.

 

»Milton hat heute seinen großen Tag«, sagte Eric zu Mary. »Willst du noch hierbleiben oder wollen wir lieber nach Hause gehen?«

 

»Ich bin jetzt wieder ganz ruhig geworden. Wir wollen bleiben.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und lächelte ihn an. »Ich möchte den anderen Rennen auch zusehen.«

 

Gleich darauf trat ein uniformierter Bote zu ihnen in die Loge.

 

»Ist Miss Symonds hier?« erkundigte er sich und schaute fragend von einem zum anderen.

 

Janet erhob sich.

 

»Ja. Was wünschen Sie?«

 

»Sie werden verlangt«, erwiderte der junge Mann kurz.

 

Sie errötete leicht. Milton hatte sich, an diesem Tag nicht viel um sie gekümmert, aber sie sagte sich selbst, daß er dazu wenig Zeit hatte.

 

Wenn junge Damen verliebt sind, fällt es ihnen schwer, logisch zu denken, und sie freute sich über diese kleine Aufmerksamkeit um so mehr. Rasch folgte sie dem Boten die Treppe hinunter.

 

»Wer hat denn nach mir verlangt?« fragte sie unten, aber sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß es nur Milton Sands gewesen sein konnte.

 

»Ein Herr. Er sagte mir, ich sollte Sie zu ihm bringen.«

 

Er bahnte einen Weg durch die Menge zu einem Auto, das in der Nähe des Eingangs hielt.

 

Sie zögerte.

 

»Wo ist er denn hingegangen?« fragte sie erstaunt …

 

»Alles in Ordnung, Miss«, entgegnete der Chauffeur. Es war Buncher, den Janet nicht kannte. »Er wartet weiter unten auf Sie.«

 

Ohne noch zu zögern, stieg sie ein, obwohl sie sah, daß es nicht Miltons Auto war. Sie war mit John President nach Epsom gekommen. Aber vielleicht war es Stantons Wagen, oder vielleicht hatte Milton ihn für heute gemietet. Auf keinen Fall hatte sie Zeit, lange danach zu fragen. Möglicherweise wollte Milton schnell zur Stadt zurückkehren, ohne sich erst lange von den anderen zu verabschieden, und hatte sie auf diese Weise zu sich gerufen. Was konnte ihr auch auf der offenen, menschenbelebten Straße passieren?

 

Das Auto fuhr langsam an, steigerte aber nach und nach die Geschwindigkeit, als es die offene Landstraße erreicht hatte.

 

Als sie zehn Minuten gefahren waren, wurde Janet unruhig und klopfte dem Chauffeur auf die Schulter. Aber der Mann kümmerte sich nicht darum und fuhr weiter, ohne sich umzuschauen.

 

Wieder stieß sie ihn an, aber Buncher reagierte nicht im geringsten darauf. Sie lehnte sich vor.

 

»Wohin fahren Sie mich?« fragte sie scharf.

 

Der Mann erwiderte etwas, das sie nicht verstehen konnte.

 

Es hatte keinen Zweck, weiter mit ihm zu verhandeln. Sie war jetzt ernstlich beunruhigt, glaubte aber trotzdem nicht, daß man etwas gegen sie im Schilde führte.

 

Es mußte ein Mißverständnis sein. Oder hatte Milton irgendeinen Plan, bei dessen Durchführung sie ihm helfen sollte?

 

Sie zwang sich zur Ruhe und wollte das Ende der Fahrt in Geduld abwarten. Aber es überkam sie doch eine ungewisse Furcht, die sich nach und nach immer mehr steigerte. Sie wußte, daß Milton Feinde hatte, und sie vermutete, daß irgendein Anschlag gegen ihn geplant war. Die Gefahr kam von einer Bande, die John President beraubt hatte, und Leuten, die dazu fähig waren, konnte man alles zutrauen. Sie erschrak aufs neue, als sie sah, daß der Chauffeur die Straße nach London einschlug.

 

*

 

In der Zwischenzeit ging Sir George zu seinem Wagen, den er an einem Nebeneingang hatte vorfahren lassen. Es blieb ihm keine Zeit, auf Toady Wilton zu warten. Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Die Ereignisse des heutigen Tages bedeuteten den Ruin für ihn, und zwar nicht nur gesellschaftlich, sondern auch finanziell.

 

Er mußte jetzt einen Ausweg finden, mochte es kosten, was es wollte. Alles Planen hatte ihm nichts geholfen. Er stand im Brennpunkt des öffentlichen Interesses, und seine Betrügereien waren enthüllt. Plötzlich hörte er, daß ihn jemand anrief, und wandte sich um. Milton Sands ging schnell hinter ihm her. Sir George blieb stehen, ohne mit der Wimper zu zucken, und wartete auf den Mann, der ihn ruiniert hatte.

 

»Was wollen Sie von mir?« fragte er barsch.

 

»Ich muß noch kurz mit Ihnen sprechen, bevor Sie abfahren. Ich habe eine Neuigkeit, die Sie und auch Ihren Freund Soltescu interessieren wird.«

 

In diesem Augenblick fuhr Buncher an ihnen vorüber. Er hatte Milton erkannt und schlug seinen Kragen hoch. Ein rascher Blick der Verständigung wurde zwischen Sir George und ihm gewechselt, und der Baronet wurde plötzlich höflich.

 

»Was wollten Sie mir denn mitteilen? Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß ich wenig Zeit habe, da meine Anwesenheit in London dringend notwendig ist.«

 

»Ich werde mich so kurz wie möglich fassen«, erwiderte Milton lächelnd. »Die Dokumente über den Herstellungsprozeß des biegsamen Glases von John President sind gefunden worden.«

 

»Das ist ja unmöglich.«

 

»Der Mann, der sie gestohlen hat, gab sie wieder zurück, und die Formel ist dem Ausstellungskomitee in Lyon eingeschickt worden.«

 

»Wer hat die Papiere denn entwendet?«

 

»Darüber kann ich Ihnen nichts Genaueres mitteilen. Vielleicht ahnen Sie es. Ich kann Ihnen nur sagen, daß der Mann, der die Dokumente und eine größere Summe aus der Mappe Monsieur Soltescus nahm, die Tat bereute und die gestohlenen Sachen zurückgab.«

 

»War es Kitson?« fragte Sir George schnell.

 

Milton schüttelte den Kopf.

 

»Mehr kann ich Ihnen nicht erzählen. Aber Sie wissen nun genug; um Monsieur Soltescu einen großen Schrecken einzujagen. Wenn er es erfährt, wird er einen schweren Schock bekommen.«

 

»Ich habe vergessen, daß Sie Privatdetektiv sind. Sie haben schon eine ganze Anzahl von Aufträgen erhalten.«

 

»Und ich war bisher auch einigermaßen erfolgreich, das müssen Sie wohl zugeben. Ich habe den größten Turfschwindel aufgedeckt, der seit langem passierte, und ich habe die gestohlenen Dokumente wiederbeschafft. Aber ich habe noch eine große Aufgabe zu lösen.«

 

»Ja, Sie sollen den Aufenthalt von Miss Stanton ausfindig machen«, erwiderte Sir George lächelnd.

 

Milton sah ihn verwundert an. Dieser Mann war vollkommen ruiniert, und doch leuchteten seine Augen triumphierend. Es mußte etwas Ungewöhnliches geschehen sein, daß er in diesem Augenblick so zuversichtlich erscheinen konnte.

 

»Nun, ich wünsche Ihnen viel Erfolg«, sagte Sir George noch, dann stieg er in seinen Wagen ein.

 

Kapitel 1

 

1

 

»Verteufeltes Pech!«

 

Die lauten, barschen Worte übertönten die Unterhaltung an dem großen Tisch, und die Spieler sahen einen Moment auf. Je nach Temperament und Veranlagung schauten sie neugierig oder ärgerlich auf den älteren Mann, der sich eben erhoben hatte. Sein abstoßendes Gesicht mit den grauen Bartstoppeln zeigte eine fahle Blässe, als er wütend um sich blickte.

 

Er trug einen schäbigen Smoking, der wenig zu seiner vornehmen Umgebung paßte. Sein weißes Hemd war nicht ganz sauber und zerknittert, und als er vom Tisch zurücktrat, sah man seine ausgefransten Hosen und die geflickten Lackschuhe.

 

Mit zitternder Hand fuhr er sich durchs Haar. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, und sein ganzes Benehmen ließ den Kenner darauf schließen, daß er rauschgiftsüchtig war.

 

»Dieses verdammte Monte Carlo!« rief er unbeherrscht. »Niemals habe ich in diesem entsetzlichen Nest Glück! Ich gehe nach Nizza – jawohl!«

 

Weder sein Verhalten noch seine äußere Erscheinung ließen sich mit seinen Tischnachbarn in Einklang bringen. John Pentridge war ein heruntergekommener, mittelloser Mann.

 

Einer der Kasinobeamten näherte sich ihm.

 

»Wäre es nicht besser, wenn sich Monsieur außerhalb des Spielsaals etwas erholen wollte?« fragte er leise und höflich.

 

Pentridge starrte ihn wild an.

 

»Ich bleibe hier!« brüllte er. »Erst haben Sie mich um mein Geld gebracht – was wollen Sie denn jetzt noch?«

 

»Sie stören die anderen Spieler«, erklärte der Angestellte ruhig. Zwei seiner Kollegen eilten ihm zu Hilfe.

 

»Ich bleibe hier – was fällt Ihnen ein! Wollen Sie wohl Ihre Hand von meinem Arm nehmen?«

 

Aber sie hatten ihn schon fest gepackt und führten ihn durch die großen Flügeltüren aus dem Spielsaal.

 

Er wollte sich zur Wehr setzen; der stahlharte Griff der beiden Leute überzeugte ihn jedoch davon, daß er nicht die geringste Aussicht hatte, etwas gegen sie auszurichten.

 

»Morgen komme ich wieder!« rief er, als sie ihn gerade durch die Tür schleppten. »Ich komme wieder, sage ich euch, ihr Lumpen. Und dann habe ich so viel Geld, daß ich das ganze Spielernest aufkaufen kann. Ihr Spitzbuben sollt einmal nach meiner Pfeife tanzen …«

 

Als sie im Vorsaal waren und ihn an die frische Luft setzen wollten, wurde der widerspenstige Mensch plötzlich ruhig und schrak zurück.

 

Die Beamten glaubten, daß er ihnen erneut Widerstand leisten würde, und wollten gerade scharfe Maßnahmen gegen ihn anwenden.

 

»Nein – nicht dahin«, sagte er atemlos und entsetzt. »Sehen Sie die Frau da – der darf ich nicht begegnen. Lassen Sie mich auf einem anderen Weg hinaus.«

 

Die letzten Worte hatte er schnell in Französisch gesprochen. Die Kasino-Angestellten folgten seinen Blicken und bemerkten eine junge Dame, die gerade auf sie zukam.

 

Sie war ungewöhnlich schön und elegant, wenn auch unauffällig gekleidet. Abweichend von den üblichen farbenfreudigen Abendtoiletten trug sie ein enganliegendes schwarzes Kleid und einen kleinen schwarzen Hut. Sie war anscheinend eben erst mit dem Auto angekommen, denn sie hatte einen dunklen Staubmantel über dem Arm. Ein schlanker, grauhaariger Herr begleitete sie. Offenbar wollten sie in den Spielsaal gehen.

 

»Schnell einen anderen Weg«, stöhnte der Gefangene. Er zeigte nicht mehr die geringste Aufsässigkeit, nur Schrecken und Angst prägten sich in seinen Zügen aus.

 

»Rechts«, sagte der Kasinobeamte, der Mitleid mit dem Alten zu haben schien.

 

Sie brachten den unliebsamen Gast durch eine Seitentür in einen kleineren Salon und führten ihn von hier aus auf eine Terrasse.

 

»Monsieur«, erklärte der Beamte mit vollendeter Höflichkeit, »im Namen der Direktion muß ich Ihnen den Rat geben, die Spielsäle des Kasinos nicht wieder zu betreten.«

 

John Pentridge wischte sich die Stirn mit einem schmutzigen Taschentuch.

 

»Woher kommt sie bloß?« fragte er, ohne sich um seine Begleiter zu kümmern. »Das ist das Ende. Ich muß das Geschäft noch heute abend abschließen.« Die letzten Worte hatte er in Englisch gesprochen. »Wie ein Hund muß man leben, überall herumgehetzt, von einer Stadt zur anderen, von einem Land zum anderen –«

 

Plötzlich wandte er sich wieder den Kasinoleuten zu.

 

»Für heute abend habt ihr mich erledigt«, sagte er höhnisch. »Aber morgen komme ich wieder! Dann kaufe ich mir das ganze Kasino! Und die ganze Rasselbande dazu!«

 

Nach dieser Drohung verließ er die Terrasse mit unsicheren Schritten, erreichte die große Freitreppe vor dem prachtvollen Gebäude des Spielklubs und verschwand in der Menge.

 

Aber er war beobachtet worden. Ein ungefähr gleichaltriger und ebenso schlechtgekleideter Mann folgte ihm auf der breiten Straße.

 

Pentridge wandte sich wütend um, als er eine Hand auf seinem Arm fühlte.

 

»Hallo, Penty«, sagte der Fremde freundlich, fast unterwürfig. »Du wirst doch deinen alten Kameraden nicht im Stich lassen. Kennst du den alten Chummy nicht mehr? Wir haben doch mehr als ein Ding miteinander gedreht.«

 

Pentridge sah ihn ärgerlich an.

 

»Ach so, du bist es«, versetzte er böse. »Was willst du denn von mir?«

 

»Meinen Anteil will ich haben, Penty.«

 

Sie kamen gerade unter einer elektrischen Bogenlampe vorüber, und das Licht enthüllte erbarmungslos die tiefen Furchen in seinem Gesicht. Seine kleinen Augen blitzten feindlich auf.

 

»Haben wir nicht seit Jahren zusammengearbeitet?« fragte er mit brüchiger Stimme. »Haben wir uns nicht miteinander durch die ganze Welt geschlagen? Penty, denkst du noch an die alten Tage in Melbourne? Ich wünschte, wir wären wieder in Australien. Weißt du noch, wie Carbine damals in Flemington das große Rennen machte?«

 

»Hör mal zu, Chummy«, erwiderte Pentridge aufgebracht. »Weil wir uns zufällig früher mal im Gefängnis kennengelernt haben und nun beide auf der Straße liegen, habe ich noch lange keine Ursache, für dich zu sorgen. Du hast stets deinen Anteil bekommen.«

 

»Aber nicht von der großen Sache«, widersprach Chummy. »Ich meine die große Entdeckung. Darauf habe ich nämlich schon all die Jahre gewartet, daß wir die zu Geld machen könnten. Hier in Monte Carlo ist ein reicher Kerl, ein Rumäne. Er hat schon überall von der Erfindung erzählt, die er jetzt kaufen will, und so habe ich auch davon gehört. Ich bin doch daran beteiligt, denn ich habe dir geholfen, die Pläne zu klauen. Und wenn du nicht mit mir teilen willst, kann ich ja heute abend noch zu einer gewissen jungen Dame gehen, die gerade mit dem Auto nach Monte gekommen ist.« Seine Stimme klang drohend. »In einer Stunde fährt sie nach Marseille zurück. Wenn ich der sage, daß …«

 

»Halt das Maul«, zischte Pentridge. Er war so erregt, daß seine Lippen zuckten. »Komm mit, wir wollen die Sache in aller Ruhe besprechen. Geh aber nicht neben mir, sondern bleibe in einiger Entfernung – ich will nicht, daß man uns hier zusammen sieht.«

 

Er ging durch die belebten Straßen Monte Carlos zu dem vornehmen Villenviertel der reichen Leute, das abseits des regen Verkehrs lag, und bog schließlich in den Torweg eines großen Hauses ein.

 

»Wohin gehst du denn?« fragte Chummy und blieb argwöhnisch stehen.

 

»Wir wollen uns doch an einem ruhigen Platz unterhalten. Komm nur mit, hier wohnt ein Freund von mir.«

 

Nur widerstrebend folgte ihm Chummy auf den düsteren Weg, der dicht von Bäumen beschattet wurde.

 

Pentridge griff nach dem Totschläger in seiner Tasche.

 

»Was ich dir sagen wollte –«, begann Chummy, aber weiter kam er nicht, denn Pentridge schlug mehrmals heftig auf ihn ein.

 

Zwei Minuten später trat der Verbrecher aus der finsteren Allee und ging mit schnellen Schritten davon. Der Zug nach Nizza fuhr gerade an, als er den Bahnsteig erreichte, und es gelang ihm, noch aufzuspringen. In einem leeren Abteil ließ er sich nieder, beruhigt in der Überzeugung, daß niemand ihn mit seinem früheren Freund gesehen hatte. Hiermit schien er auch recht zu behalten, denn als der Tote am nächsten Morgen gefunden wurde, meldete sich niemand, der über den Mörder etwas aussagen konnte. In Monte Carlo werden derartige Verbrechen möglichst geheimgehalten, da man die Fremden nicht erschrecken will. Infolgedessen wurden die Nachforschungen noch am ersten Tage eingestellt, und Chummy wurde in einem stillen Winkel des Friedhofes begraben, wo die Namenlosen beigesetzt werden.

 

Kapitel 10

 

10

 

In dem kleinen, aber hübschen Wohnzimmer der Presidentschen Stadtwohnung waren überall Blumen aufgestellt, und Mary ordnete gerade einen Strauß in einer Vase, als es klopfte.

 

Milton Sands trat ein, lächelte sie an und reichte ihr die Hand.

 

»Ich muß die Gelegenheit wahrnehmen und habe Sie deshalb hergebeten, während mein Großvater auf dem Lande ist. Mr. Stanton hat mir Ihre Adresse gegeben. Ich bin sehr beunruhigt, denn bei uns wurde eingebrochen.«

 

»Aber würden Sie sich in diesem Fall nicht besser an die Polizei wenden?«

 

»Unter gewöhnlichen Umständen wäre das sicher das beste, aber es handelt sich hier um eine außergewöhnliche Sache.«

 

Er nahm in einem Sessel Platz und hörte ihren Bericht an. Zuerst erzählte sie ihm davon, daß schon auf der Fahrt von Nizza nach Paris jemand versucht hätte, in ihre Kabine einzudringen.

 

»Vor einer Woche«, fuhr sie fort, »wachte ich mit dem Gefühl auf, daß jemand in meinem Zimmer sein müßte. Dann sah ich den Schein einer elektrischen Taschenlampe, und es war mir sofort klar, daß jemand die Schubladen meines Schreibtisches durchsuchte. Ich sprang aus dem Bett und erkannte gerade noch, wie der Mann, der ins Zimmer eingedrungen war, schnell durch die Tür entwischte. Ich konnte nur kurz seine Silhouette gegen das Fenster sehen, aber es war bestimmt der Kerl, der damals in meine Schlafwagenkabine eindringen wollte.«

 

»Ich verstehe«, sagte Milton langsam, und er hatte tatsächlich die Bedeutung dieses Einbruchs erkannt. Soltescu glaubte, daß sich die wertvolle Formel in Miss Presidents Besitz befand.

 

»Wo hält sich Ihr Großvater zur Zeit auf?«

 

»In Sussex. Wir haben ein kleines Haus auf dem Gelände, wo Donavan für das Derby trainiert wird. Ich bin extra zur Stadt gefahren, um mit Ihnen zu sprechen.«

 

»Wäre es möglich, daß Sie heute abend noch nach Sussex zurückkehrten?«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Natürlich, möglich wäre das schon. Mein Großvater würde es sogar begrüßen, wenn ich bald zurückkäme. Aber ich hatte mir eigentlich vorgenommen, ein paar Tage in der Stadt zu bleiben.«

 

Er dachte eine Weile nach.

 

»Fahren Sie bitte morgen wieder ab«, sagte er dann. »Ihr Großvater bleibt doch sicher noch längere Zeit auf dem Lande?«

 

»Ja, bis zu den Rennen in Epsom. Er hat Donavan für das Derby gemeldet.«

 

»Das trifft sich gut«, erwiderte Milton vergnügt. »Und nun werden wir einen Geldschrank mieten.«

 

Sie schaute ihn wieder verwundert an.

 

»Ja, wir mieten einen Geldschrank«, wiederholte er, »und ich schicke ihn in Ihre Wohnung. Ich kenne eine gute Firma, wo man sie billig haben kann.«

 

»Ich brauche doch keinen Safe! Ich habe ja gar nichts hier, was ich darin einschließen könnte.«

 

»Aber wenn ich Ihnen einen Safe schicke, haben Sie doch nichts dagegen, daß er in Ihr Zimmer gestellt wird?«

 

»Nein, das gerade nicht«, entgegnete sie lächelnd. »Aber es ist doch direkt Geldverschwendung.«

 

»Sie vergessen, daß ich ein Detektiv bin, Miss President. Das ist eine ganz interessante, manchmal kostspielige Beschäftigung, und Sie können sich wohl denken, daß ich nicht Geldschränke miete, wenn ich nicht eine ganz besondere Veranlassung dazu habe. Wenn Sie die Sache noch nicht ganz durchschauen, müssen Sie mir eben Vertrauen schenken. Jeder Detektiv hat seine Geheimnisse.«

 

Sie lachte.

 

»Gut, dann werde ich tun, was Sie wollen.«

 

»Ich habe aber noch eine andere Bitte. Würden Sie so liebenswürdig sein und mir Ihren Hausschlüssel geben, damit ich während Ihrer Abwesenheit die Verwaltung des Hauses übernehmen kann?«

 

»Selbstverständlich.«

 

»Ich werde mich um alles kümmern. Und machen Sie sich wegen des Einbruchs keine bösen Gedanken mehr.«

 

»In letzter Zeit sind aber so viele Einbrüche vorgekommen – die ganzen Zeitungen sind voll davon«, sagte sie nervös. »Ich habe auch gelesen, daß ein Schwerverbrecher ausgebrochen ist.«

 

»Das ist alles nicht so gefährlich. Wir werden ja bald sehen, wie sich die Dinge weiter entwickeln. Und was den entsprungenen Sträfling angeht –« Plötzlich hielt er ein. »Da kommt mir eine famose Idee!« Er lachte, sagte ihr aber nicht, was für ein guter Gedanke ihm gekommen war, sondern änderte das Gesprächsthema und fragte nach Eric Stanton.

 

Sie äußerte sich nur sehr vorsichtig über den jungen Mann, und aus ihrer Zurückhaltung erriet Milton alles, was er wissen wollte.

 

Als er in die Stadt ging, sprach er bei der Firma vor, die Geldschränke zu vermieten hatte, und suchte den größten aus, den er finden konnte. Der Inhaber des Geschäfts billigte diese Wahl nicht.

 

»Das ist nur eine ganz leichte Konstruktion«, sagte er und klopfte dabei an die Wände. »Der Kasten ist weder feuer- noch diebessicher. Eigentlich nur ein Schaustück zum Ausstellen. Für den praktischen Gebrauch ist er in keiner Weise geeignet.«

 

»Aber es ist gerade der richtige Schrank für mich«, erklärte Milton. »Hübsch und leicht. Schicken Sie ihn noch heute an die Adresse, die ich Ihnen gegeben habe.«

 

Am nächsten Morgen suchte er Miss President wieder auf. Sie lachte, als er kam, aber sie gestand ihm offen, daß sie etwas enttäuscht sei.

 

»Der Schrank nimmt entsetzlich viel Platz ein und macht sich sehr schlecht in meinem Schlafzimmer.«

 

»Darf ich mir das Möbel einmal ansehen?«

 

Ihr Mädchen führte ihn in den Raum. Der Safe war tatsächlich viel zu groß für das kleine Zimmer. Man sah kaum etwas anderes als das große, grünlackierte Möbel mit den goldenen Verzierungen.

 

»Großartig«, sagte Milton und betrachtete ihn voll Bewunderung. Dann wandte er sich an das Mädchen. »Sind Sie Amerikanerin?«

 

Sie wurde ein wenig rot.

 

»Ja – aber warum fragen Sie danach? Ich kam vor drei Monaten aus den Staaten.«

 

»Sind Sie früher schon in Europa gewesen?«

 

»Nein.«

 

»Sie haben auch noch nicht in Frankreich gelebt?«

 

»Nein«, entgegnete sie leichthin.

 

Als er die Treppe hinunterging, schien er angestrengt über diese Antwort nachzudenken.

 

Unten fragte er Miss President unvermittelt nach dem Namen ihres Dienstmädchens.

 

»Ich habe sie erst vierzehn Tage bei mir«, erklärte Mary. »Sie wurde mir von Sir George Frodmere empfohlen.«

 

»Dann kennen Sie Sir George also doch gut?«

 

»Nur oberflächlich.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Die Sache kam auch ganz zufällig. Mein Mädchen kündigte plötzlich, und er empfahl mir diese neue Kraft so dringend, daß ich versprach, sie einzustellen. Unser eigenes Mädchen bekam eine so gute Stelle, daß ich sie nicht davon abhalten wollte.«

 

»Können Sie mir vielleicht sagen, wer sie engagiert hat?«

 

»Ja, sie gab mir die Adresse, damit ich ihre Post nachschicken kann. Sie ist nämlich verlobt. Ich will einmal sehen, ob ich sie finde…«

 

Sie ging aus dem Zimmer und kam bald darauf mit einem Notizbuch zurück.

 

»Hier habe ich es. Sie ist jetzt bei Mrs. Gordon Thompson beschäftigt.«

 

Milton grinste. Mrs. Gordon Thompson war die Schwester von Sir George Frodmere, eine ältere Dame, die viel in der Gesellschaft verkehrte und leidenschaftlich gern Bridge spielte. Man erzählt sich allerhand Geschichten darüber, wie ungern sie ihre Spielschulden zahlte.

 

Die Sache war vollkommen durchsichtig. Frodmere brauchte eine Verbündete in dem Haus und hatte deshalb seine Schwester überredet, Marys Dienstmädchen für ein höheres Gehalt wegzuengagieren. Und an ihrer Stelle hatte er diese Person eingeschoben. Milton hatte sie auf den ersten Blick erkannt. Er hatte sie bei mehreren Gelegenheiten in Monte Carlo gesehen, und zwar immer in der Gesellschaft Bud Kitsons. Dort und auch an anderen Plätzen galt sie als die Frau des Amerikaners.

 

»Wann fahren Sie ab, Miss President?«

 

»Heute nachmittag.«

 

»Nehmen Sie Ihr Mädchen mit?«

 

Mary runzelte die Stirn.

 

»Das muß ich mir noch überlegen. Ich hatte ja zuerst nicht die Absicht, London so schnell wieder zu verlassen.«

 

»Darf ich Ihnen einen Rat geben? Beurlauben Sie das Mädchen mit vollem Gehalt. Sagen Sie ihr, daß sie in der nächsten Woche nicht gebraucht wird.«

 

»Aber das ist ihr vielleicht unangenehm?«

 

»Das glaube ich kaum«, entgegnete Milton trocken. »Mit welchem Zug fahren Sie?«

 

»Um fünfzehn Uhr fünfundzwanzig.«

 

»Ich werde am Bahnhof sein, um mich von Ihnen zu verabschieden. Können Sie mir den Hausschlüssel jetzt geben?«

 

Sie nahm ihn aus ihrem Täschchen.

 

»Ich hoffe, daß Sie nach Ihrer Rückkehr nie wieder gestört werden.«

 

»Ich möchte Sie noch etwas fragen«, sagte sie, als er im Begriff war fortzugehen. »Was soll ich denn eigentlich in den Geldschrank legen?«

 

»Nichts.« Er dachte eine Weile nach. »Wenn Sie wollen, können Sie ja ein paar Schriftstücke dort unterbringen, die keinen Wert für Sie haben. Aber schließen Sie die Tür sorgfältig zu. Es wird vielleicht viel interessanter, wenn Sie die Papiere in den Safe tun. Es können alte Rechnungen sein. Vielleicht haben Sie auch noch irgendeinen Kasten, in den sie gelegt werden können.«

 

»Ja.«

 

»Das ist gut. Sagen Sie dem Mädchen noch, daß sie alle Fenster und Türen gut verschließen soll, bevor sie das Haus verläßt, und daß sie der Polizei von ihrer Abwesenheit Mitteilung macht.«

 

»Das könnte ich eigentlich auf meinem Weg zum Bahnhof selbst tun.«

 

»Nein, geben Sie dem Mädchen den Auftrag. Wozu soll, man alles selbst machen, wenn man Dienstboten hat?«

 

*

 

Abends um halb zwölf stieg Bud Kitson aus einer Taxe, zahlte den Chauffeur und ging dann die Straße entlang, bis er zu dem Haus John Presidents kam. Ohne Zögern schritt er auf die Tür zu, schloß auf und betrat die Diele. Mit seiner elektrischen Taschenlampe leuchtete er in dem leeren Raum umher, dann ging er weiter zum Speisezimmer und grinste, als er ein Glas, eine Whiskyflasche und Sodawasser auf dem Tisch sah. Sicher hatte seine Frau das alles für ihn bereitgestellt. Er mischte sich ein Glas und trank es, bevor er sich seiner Aufgabe zuwandte. Im Licht der Taschenlampe wählte er die nötigen Werkzeuge aus und stieg dann ruhig die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Er kannte die Lage von Mary Presidents Zimmer genau, denn er betrat das Haus nicht zum erstenmal. Mit Bestimmtheit rechnete er damit, daß er heute Erfolg haben würde.

 

Die entwendeten Dokumente mußten hier zu finden sein – davon war er fest überzeugt. Die Ankunft des großen Geldschranks bewies ihm das zur Genüge. Sonst hätte er diesen Versuch vielleicht überhaupt nicht gemacht. Er war sogar sehr froh darüber, daß sich die Leute einen Safe zugelegt hatten, denn das beschränkte seine Nachforschungen. Er wußte nun genau, wo er die Papiere finden konnte. Als er oben ankam, untersuchte er den neuen Geldschrank und lächelte verächtlich. Das war ja eine ganz altmodische Konstruktion, die man beinahe mit einem Taschenmesser öffnen konnte! Er wählte einen Schlüssel und versuchte, die Tür aufzumachen, aber sie gab nicht nach. Sein geübtes Ohr vernahm allerdings einige Geräusche, die erkennen ließen, daß er bei weiteren Bemühungen Erfolg haben würde. Und gleich darauf hatte er sein Ziel auch erreicht.

 

Aber es blieb ihm keine Zeit, sich um den Inhalt des Geldschranks zu kümmern, denn plötzlich war das Zimmer hell erleuchtet. Schnell wandte er sich um.

 

»Hände hoch!« befahl Milton Sands, der seine Browningpistole auf den Einbrecher gerichtet hielt.

 

»Hallo!« antwortete Bud ruhig. »Wie geht es Ihnen, Mr. Sands?«‘

 

»Verhältnismäßig gut«, entgegnete Milton vergnügt. »Kommen Sie näher, damit ich Sie durchsuchen kann.«

 

Aber das war eigentlich nicht nötig, denn Bud Kitson hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine Schußwaffe einzustecken.

 

»Setzen Sie sich dorthin«, sagte Milton und zeigte auf einen Stuhl. »Oder noch besser, Sie kommen nach unten mit, da können Sie wenigstens rauchen. Geben Sie mir einmal Ihre Lampe.«

 

Er nahm sie ihm aus der Hand und wies nach der Tür. Bud ging nach unten, und Milton folgte ihm auf dem Fuß. So kamen sie in das Speisezimmer.

 

»Drehen Sie das Licht an. Sie können es ruhig tun, denn ich wohne hier.«

 

»Was haben Sie denn eigentlich vor, Mr. Sands?«

 

Bud war sehr verärgert, daß sein Abenteuer so enden sollte.

 

»Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich tun werde. Jedenfalls ist es ein ganz interessantes Spiel – für Sie allerdings weniger angenehm. Wie geht es Maisie?« fragte er freundlich.

 

Kitson grinste.

 

»Ich dachte mir gleich, daß Sie hinter die ganze Geschichte kommen würden, wenn Sie Maisie sähen.«

 

»Ich wußte es schon vorher. Sagen Sie mir jetzt, was wollen Sie denn hier im Haus? Suchen Sie nach den Schriftstücken, die Soltescu verloren hat?«

 

»Aus mir bekommen Sie nichts heraus«, entgegnete Kitson abweisend.

 

»Das werden wir noch sehen. Ich bin sogar davon überzeugt, daß Sie mir alles sagen werden, was ich wissen will. Sollte meine Ahnung in dieser Beziehung nicht in Erfüllung gehen, dann übergebe ich Sie der Polizei, und alle Ihre Komplicen werden dann wahnsinnig über Sie fluchen, denn sie kommen dann auch vor Gericht und müssen die größten Meineide leisten, wenn man sie nach Ihnen und ihren Beziehungen zu Ihnen fragt. Eins kann ich Ihnen übrigens sagen, Bud. Wenn Sie hier nach der Formel für Soltescu suchen, vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Da müssen Sie sich schon anderswo umtun. Und wenn Sie nicht vermuten können, wer die Dokumente in jener Nacht gestohlen hat, kann ich Ihnen auch nicht helfen.«

 

»Meinen Sie, Sir George hat die Mappe?« fragt Kitson schnell.

 

»Ich will keine Namen nennen«, entgegnete Sands diplomatisch.

 

Bud fühlte plötzlich eine merkwürdige Müdigkeit und versuchte krampfhaft, sie zu überwinden. Er konnte sich die Ursache dafür nicht erklären, denn er war durchaus gesund und an diesem Tag erst spät aufgestanden. Was sollte das nur bedeuten? Schließlich fiel sein Blick auf die Whiskyflasche, und er begriff langsam. Er machte eine Anstrengung, sich von seinem Stuhl zu erheben.

 

»Bleiben Sie sitzen«, befahl Milton.

 

Kitson gehorchte willenlos.

 

»Sie haben mich vorhin gefragt, was ich vorhabe. Es tut mir leid, daß ich Ihnen das nicht sagen kann, aber glauben Sie mir, wir beide haben in der nächsten Zeit noch manches miteinander zu besprechen.«

 

Buds Kopf sank auf die Brust. Er wollte noch etwas sagen, wurde aber bewußtlos und fiel vom Stuhl.

 

Sands trug die Whiskyflasche und das Glas in die Küche, leerte beide und wusch sie sorgfältig aus. Dann ging er ins Speisezimmer zurück und füllte die Whiskyflasche von neuem.

 

»Ich bin nun ein wirklicher Detektiv geworden«, sagte er voll Selbstbewunderung, als er auf den besinnungslosen Kitson schaute. »Also, mein lieber Bud, Sie werden jetzt ein seltsames Abenteuer erleben.«

 

Vergnügt packte er das Kleiderbündel aus, das er vor einigen Stunden ins Haus gebracht hatte.

 

Kapitel 11

 

11

 

Sir George Frodmere war ein sehr geldgieriger Mann. Besonders interessierte er sich für große Summen und für die Leute, die über sie verfügten.

 

Er besaß ein Landgut in Cornwall. Das große Herrenhaus betreute der Hausmeister Gillespie mit einem Stab von Dienstboten in mustergültiger Weise. Er war ein braver, ehrenwerter Mann, der schon seit langem bei der Familie diente. Sir George hatte aber leider nicht das nötige Geld, um ein standesgemäßes Leben auf seinem Landgut zu führen. Er bezog nur ein kleines Einkommen aus den Zahlungen der Pächter, und diese Summe genügte bei weitem nicht, um seine Ansprüche zu befriedigen. Vermögen hatte er ebensowenig wie sein Vater. Dieser war allerdings mit den geringen Einkünften ausgekommen, weil er einfach und sparsam gelebt hatte. Sir George aber liebte Eleganz und Luxus, schränkte sich nicht gern ein und konnte dem schlichten Landleben wenig Geschmack abgewinnen. Um so mehr begrüßte er es jetzt, daß Graf Colini nach London kommen wollte.

 

Einer seiner Vertrauten hatte ihm schriftlich davon Mitteilung gemacht:

 

»Ich habe Colini einen Einführungsbrief an Sie mitgegeben. Er nennt sich zwar selbst Graf, ist aber seiner Sprache nach ein Londoner Kind aus dem Osten. Vielleicht ist er auch in Melbourne geboren. Mag dem sein, wie ihm wolle, er hat in Monte Carlo die Bank gesprengt, außerdem hat er auch sonst noch große Gewinne beim Bakkarat erzielt. Ich habe Geld an ihm verdient, aber noch nicht viel, denn er ist im Grunde genommen sehr argwöhnisch. Hoffentlich gelingt es Ihnen, ihn gehörig zur Ader zu lassen. Er hat die Absicht, sich in London umzusehen. Schicken Sie mir ein kleines Geschenk, wenn Sie Erfolg mit ihm haben. Übrigens spricht er immer von einem gewissen John President, und trotz seiner großartigen Prahlereien scheint er doch etwas Angst vor dem Mann zu haben. Vielleicht können Sie etwas daraus machen.«

 

Sir George hatte nicht die Absicht, sein Gut Pennwaring zu verlassen, bis er über die Erfolge Bud Kitsons Nachricht erhalten hatte. Aber als ihm kurz darauf Graf Colini auf einem Briefbogen des Savoy-Hotels seine Ankunft mitteilte, zögerte der Baronet nicht länger, nach London abzureisen.

 

Er suchte den Grafen sofort auf und fand ihn in Hemdsärmeln und Strümpfen in seinem Zimmer. Er war gerade damit beschäftigt, neue Riemen in seine Schuhe einzuziehen.

 

»Man kann dem Personal auch nicht die kleinsten Dinge anvertrauen«, sagte der Mann mit den verlebten, abstoßenden Zügen und der ungesunden, grauen Gesichtsfarbe. Er stellte die Schuhe auf den Boden, als Sir George ins Zimmer kam, und rieb die Hände an den Beinkleidern ab, bevor er ihm die Hand reichte.

 

»Ich freue mich, Sie zu treffen, Graf«, sagte Sir George.

 

»Ich möchte mit Ihnen ein Wort im Vertrauen reden«, unterbrach ihn Colini. »Sie brauchen mich nicht Graf zu titulieren. Ich bin John Pentridge – das ist mein wirklicher Name. Wahrscheinlich haben Sie schon von mir gehört.«

 

Sir George hatte tatsächlich schon von ihm gehört, aber er hatte nie gedacht, daß der Mann, der Soltescu die Erfindung verkauft hatte, mit dem Mann identisch war, der in Monte Carlo die Bank gesprengt hatte. Dieses Ereignis war in allen großen Zeitungen Englands besprochen worden.

 

»In Monte Carlo kann man sich ja ruhig Graf nennen«, fuhr Pentridge fort, »und ich mußte vor allem so auftreten, weil man mich aus dem Kasino ausgewiesen hatte. Deshalb legte ich mir einen anderen Namen und den Grafentitel bei. Augenblicklich kann ich mir das ja leisten, denn ich besitze über zweihunderttausend Pfund.«

 

»Aber ich sehe gar nicht ein, warum Sie in London wieder Ihren ursprünglichen Namen führen sollten. Graf Colini klingt viel besser.« Sir George betrachtete ihn wohlwollend. »Sagen Sie mir, wie ich Ihnen behilflich sein kann.« »Sie können mich in London herumführen – ich werde zahlen. Erzählen Sie ruhig, daß Sie mich schon von früher her kennen. Das wäre besonders gut, wenn wir John President treffen sollten – Sie verstehen doch, was ich meine?«

 

Sir George nickte.

 

»Und dann würde ich auch gern ein kleines Spiel machen. Irgendeine nette, ruhige Sache, bei der man nicht gerade zuviel Geld verliert.«

 

»Das werde ich gern tun. Sie müssen aber auf meinem Landsitz Pennwaring wohnen. Ich werde Sie dann meinen Freunden vorstellen. Einer von ihnen hält sich augenblicklich auch gerade in London auf«, sagte er, als er sich an Toady erinnerte.

 

»Ich möchte heute nach Sandown zu den Rennen gehen.«

 

»Das trifft sich gut. Mein Freund kann Sie hinbringen. Er weiß Bescheid, und er kann Ihnen auch gute Tips geben. Ich werde mich gleich telefonisch mit ihm in Verbindung setzen.«

 

Sir George hatte Glück, denn Toady war zu Hause. Mr. Wilton packte seine Koffer, um nach Cornwall überzusiedeln. Er tat es in aller Heimlichkeit, denn er wollte seinen Gönner Eric Stanton nicht beleidigen, der Sir George absolut nicht traute und Toady wegen des Umgangs mit diesem Mann ständig Vorhaltungen machte. Und Toady mußte auf Eric Stanton Rücksicht nehmen, da er nicht nur bei dem Tode des alten Stanton eine größere Summe erhalten hatte, sondern weil Eric ihn auch häufig beauftragte, Geld für ihn bei den Rennen zu setzen. Wilton führte diese Aufträge nicht immer aus, denn er war viel besser als der Eigentümer selbst über die Chancen unterrichtet, die Erics Rennpferde hatten. Manche Summe, die Stanton auf seine eigenen Pferde setzte, kam nicht weiter als auf das Bankkonto Toady Wiltons.

 

Er folgte dem Ruf seines Freundes sofort und fuhr in einer Taxe zum Savoy-Hotel.

 

Graf Colini und Toady Wilton verstanden sich vorzüglich, ja Pentridge faßte sogar das größte Vertrauen zu Wilton, und auf dem Wege nach Sandown erfuhr dieser manches, was er bisher noch nicht gewußt hatte, besonders über John President.

 

Kapitel 12

 

12

 

Milton Sands ging auf der Rennbahn in Sandown auf und ab. Unerwartet traf er Mary President in der Begleitung Eric Stantons und begrüßte sie erstaunt.

 

»Ich dachte, Sie wären in Sussex?«

 

Sie sah ihn schuldbewußt an, aber Eric nahm sie sofort in Schutz.

 

»Ich wollte Miss Presidents Meinung über mein Rennpferd Jerry hören.«

 

Milton sprach noch eine Weile mit den beiden, dann trennten sie sich. Später sah er, daß Miss President allein zu den Sattelplätzen ging. Mr. Wilton trat auf sie zu, nahm aber kaum den Hut vor ihr ab, denn er fühlte sich ihr im Augenblick vollkommen überlegen.

 

»Hallo, Miss President, sind Sie ganz allein auf der Rennbahn?«

 

»Im Moment bin ich allein«, entgegnete sie höflich.

 

»Ich hatte schon seit langer Zeit die Absicht, einmal mit Ihnen zu sprechen.«

 

Sie wußte, daß das der Fall war, denn er hatte ihr stets seine Aufmerksamkeiten aufgedrängt. Er hatte immer Sir George Frodmere begleitet, wenn dieser zu ihrem Großvater kam, und in letzter Zeit hatten sich diese Besuche öfter wiederholt. Sir George kam unter irgendeinem Vorwand zu dem alten Herrn, und merkwürdigerweise hatte John President keine Abneigung gegen den Baronet, obwohl er wußte, daß dieser Mann nur Nutzen aus seinen Rennerfahrungen ziehen wollte. Mr. Wilton war ihr unausstehlich, besonders da er sich einbildete, viel Glück bei Frauen zu haben. Sie konnte ihn so wenig leiden, daß sie sich Mühe geben mußte, nicht unhöflich zu ihm zu sein.

 

Heute war er wieder ganz besonders unausstehlich.

 

»Wie geht es dem alten Herrn?« fragte er.

 

»Meinem Großvater geht es gut«, antwortete sie kurz.

 

»Sie sehen wirklich entzückend aus«, erklärte er voll Bewunderung. »So schön wie eine Rosenknospe …«

 

»Ich wünschte, Sie würden so etwas nicht sagen«, entgegnete sie und errötete vor Ärger.

 

»Aber warum wollen Sie denn das nicht hören? Es ist nur die reine Wahrheit. Außerdem darf ich Ihnen das doch sagen, weil ich Ihr Freund bin. Und ich glaube, Sie können in der nächsten Zeit Freunde brauchen.«

 

»Was soll denn das heißen?«

 

Er sah sich um, als ob er nach jemand suchte, und schließlich entdeckte er seinen Begleiter.

 

»Kennen Sie den Herrn dort?«

 

In einiger Entfernung sah sie Pentridge. Er war elegant und auffällig nach der neuesten Mode gekleidet, trug hellgelbe Handschuhe und einen tadellosen Zylinder.

 

»Haben Sie den Grafen Colini schon kennengelernt?«

 

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. Und doch interessierte sie sich für den Herrn, der eine große Zigarre rauchte und sich selbstbewußt umschaute.

 

»Das ist Graf Colini, der in Monte Carlo die Bank gesprengt hat«, erwiderte Wilton großartig. »Er ist gerade kein Freund von John President.«

 

Sie wandte sich ab und sah Wilton mit einem ärgerlichen Blick an.

 

»Was soll das heißen?«

 

Er sah ihre Erregung und wollte sie beruhigen.

 

»Sie brauchen sich nicht weiter aufzuregen«, sagte er vertraulich. »Es muß ja sonst niemand etwas davon erfahren.«

 

In dem Augenblick hatte Pentridge ihn gesehen und kam auf ihn zu. Er sah älter aus als ihr Großvater, und seine Gesichtszüge kamen ihr bekannt vor. Aber sie wußte nicht, wo sie ihm schon begegnet war.

 

»Hallo, was machen Sie, Wilton?« fragte Pentridge.

 

»Miss President, darf ich Sie mit Graf Colini bekanntmachen?«

 

Sie starrte Pentridge an. Ihr Blick schien ihn nicht weiter zu stören.

 

»Wie geht es Ihnen, mein Kind? Sie sind also die Enkelin von John President?«

 

Sie wurde dunkelrot und wollte fortgehen, aber Wilton faßte sie am Arm.

 

»Tun Sie doch nicht so«, sagte er unverschämt.

 

In dem Augenblick merkte sie, daß der Mann zuviel getrunken hatte. Toady hatte mit Pentridge zu Mittag gegessen, und die beiden hatten reichlich Alkohol zu sich genommen. Als sie sah, in welcher Verfassung sie sich befanden, wurde sie plötzlich kühl.

 

»Ich kann nicht länger bleiben«, erklärte sie, aber Wilton hielt sie fest.

 

»Bleiben Sie doch noch einen Augenblick.«

 

Milton Sands hatte die Szene beobachtet und kam nun mit langen Schritten auf sie zu. Ohne weitere Umschweife packte er Toady am Kragen und schob ihn zur Seite.

 

So war bisher noch niemand mit Wilton umgegangen, und er erhielt einen schweren Schock. Aber dann faßte er sich wieder.

 

»Was fällt Ihnen denn ein?«« fragte er aufgebracht.

 

Noch drei andere Herren hatten sein anstößiges Betragen beobachtet und waren auch hinzugekommen. Toady war plötzlich von ihnen umgeben. Glücklicherweise waren die anderen Leute durch das Rennen so stark in Anspruch genommen, daß sie nicht weiter auf die Szene achteten.

 

Mary zitterte und ging mit bleichem Gesicht zu ihrem Großvater, der eben erregt auf Toady zukam.

 

»Wie dürfen Sie das wagen?« fuhr Toady Milton Sands an.

 

»Das ist noch gar nichts gegen das, was Sie erleben, wenn Sie noch einmal so unverschämt werden sollten«, entgegnete Milton grimmig.

 

»Was ist denn geschehen, Sands?« fragte Eric Stanton, der im Augenblick hinzugekommen war.

 

»Was los ist?« brüllte Toady. »Ich habe gerade mit einem Mädchen gesprochen, dessen Großvater früher im Gefängnis saß!«

 

»Was sagen Sie da?« rief Eric atemlos.

 

»Ja, er ist ein alter Zuchthäusler«, wiederholte Toady triumphierend und wandte sich an Pentridge, der John President erkannt hatte. »Stimmt das, Graf Colini?«

 

»Vollkommen, mein Freund«, entgegnete Pentridge laut und aggressiv.

 

»Sie sind es?« fragte John President und trat auf ihn zu. Pentridge fühlte sich nun doch etwas unbehaglich, schrak zurück und hob die Hand, als ob er einen Schlag abwehren wollte. Mary flüsterte ihrem Großvater etwas zu.

 

»Sie sind es?« wandte sich der alte Mann wieder an Pentridge.

 

»Ja, ich bin es«, entgegnete dieser trotzig. »Ihr alter Kamerad John Pentridge! Man nannte mich so, weil ich zwanzig Jahre im Gefängnis in Pentridge saß. Und Sie sind John President, der früher zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde. Vor vielen Jahren sind Sie nach Australien deportiert worden, weil Sie einen Mord begangen haben – er hat seine Frau aus Eifersucht erschossen!«

 

Der alte Mann bedeckte das Gesicht mit den Händen.

 

»Ja, das ist so«, sagte er und atmete schwer. »Vor fünfundfünfzig Jahren geschah es, und ich habe schwer dafür gebüßt.«

 

»Hören Sie, was er sagt?« rief Toady. »Und solche Leute dürfen sich heute ungestraft auf der Rennbahn zeigen! Ein alter australischer Zuchthäusler! Da weiß man endlich einmal, in welcher Gesellschaft man sich hier bewegt.«

 

»Sie wären der letzte, der so reden dürfte!«

 

Wilton wandte sich um. Lord Chanderson stand hinter ihm und sah ihn durchdringend an.

 

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Toady mit stockender Stimme. Es war ihm äußerst peinlich, daß der Lord Zeuge dieses Auftritts gewesen war.

 

»Ich sagte, daß Sie der letzte wären, der sich darüber beschweren sollte. Ihr Vorleben ist nicht vollkommen einwandfrei. Mr. Stanton, ist das Ihr Freund?«

 

»Wir standen ganz gut miteinander«, erwiderte Eric ruhig.

 

»Ich halte es für besser, daß Sie erfahren, was mir schon seit Jahren bekannt ist. Mr. Wilton ist der Mann, der meinen Namen in dem Hotel in Paris gefälscht hat. Und er war es auch, der die Briefe fälschte, die Ihr Vater fand. Er hat versucht, sich Ihrer Mutter zu nähern. Die Briefe sind in meinem Besitz. Weil sie ihn damals abwies, wollte er sich an ihr rächen. Außerdem hatte er die Nebenabsicht, von Ihrem Vater Geld zu erpressen.«

 

»Das ist eine gemeine Lüge!« schrie Toady außer sich.

 

»Ihr Vater entdeckte die Fälschung kurz vor seinem Tode und wollte Ihnen alles mitteilen. Wilton aber hat die Tatsache, daß Ihr Vater seinen Namen erwähnte, zu seinen Gunsten mißbraucht und so ausgelegt, als ob Ihr Vater für ihn sorgen wollte.«

 

Ein häßliches Grinsen verzerrte Wiltons Züge.

 

»Sie haben ja eine lebhafte Phantasie, Mylord. Sie können doch nicht wissen, was der Sterbende sagen wollte!«

 

Lord Chanderson nickte.

 

»Doch, dazu bin ich in der Lage. Mr. Stanton hat der Krankenschwester alles anvertraut, die ihn damals pflegte. Und Sie haben nachher die Frau bestochen, damit sie zu Ihren Gunsten aussagte. In meinem Besitz befindet sich aber die beeidete Erklärung der Frau und außerdem ein Nummernverzeichnis der Banknoten, die Sie ihr gezahlt haben.«

 

Während sich die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf Toady konzentrierte, hatte sich Pentridge aus dem Staube gemacht. Selbst John President, der die ganze Welt nach diesem Mann abgesucht hatte, war so fasziniert durch die dramatischen Enthüllungen des Lords, daß er es nicht bemerkte.

 

Eric Stantons Gesicht war bleich und hart.

 

»Das ist wahr, Wilton«, sagte er streng. »Ich kann es an Ihrem Gesicht sehen.«

 

»Ich – ich habe nur – getan, was ich für recht hielt«, erwiderte Toady verstört.

 

»Lassen Sie mich bitte einen Augenblick mit diesem Mann allein«, bat Eric.

 

Was die beiden miteinander besprachen, erfuhr niemand. Milton Sands beobachtete aus einiger Entfernung die Auseinandersetzung und sah nur, daß Stanton plötzlich Toady am Kragen packte und ihn heftig von sich stieß.

 

Kapitel 13

 

13

 

»Die Wetten für das Derby haben eine eigenartige Wendung genommen«, schrieb der Berichterstatter des Sporting Journal. »Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die beiden Pferde, die am meisten für den Sieg genannt werden, noch fast unbekannt sind. Einmal handelt es sich um Portonius, den Sir George Frodmere gemeldet hat. Er ist ein Grauschimmel und hat sein erstes Rennen im vorigen Jahre mitgemacht. Donavan hat sich dagegen noch nicht auf der Rennbahn gezeigt. Auf Portonius ist bereits viel gesetzt worden. Das Pferd wird in Pennwaring auf dem Landgut von Sir George unter Ausschluß der Öffentlichkeit trainiert. Soweit unsere Informationen reichen, scheint das Tier in bester Form zu sein. Donavan ist das Eigentum Mr. John Presidents, dessen Farben dem Publikum bekannt sind durch die wiederholten Sieger des berühmten Hengstes Dean. Donavan wird in der Öffentlichkeit trainiert, und man kann sich einen Begriff von seinen Fähigkeiten machen, wenn man ihn in Sussex Downs sieht, wo er täglich mit Dean trainiert wird. Auch Donavan ist in der besten Verfassung.«

 

»Was meint der Kerl bloß mit dem Ausdruck ›unter Ausschluß der Öffentlichkeit‹?« brummte Sir George, als er mit Toady beim Frühstück saß.

 

»Wie soll ich das wissen?« fragte Wilton. »Sie tun ja so, als ob ich den Artikel geschrieben hätte.«

 

»Ich möchte wirklich wissen, was er damit sagen will – sprechen die Leute eigentlich viel über Portonius?«

 

Toady schüttelte den Kopf.

 

»Nein. Geredet wird natürlich immer. Einige Leute wundern sich, daß Sie ihn hier auf Ihrem Gut trainieren lassen, statt in Newmarket mit Ihren anderen Pferden. Und im Klub hält man sich darüber auf, daß Buncher Ihr Trainer ist – das war ja zu erwarten. Sie wissen doch, in welchem Ruf der Mann steht.«

 

»Sie können Ihren Freunden sagen, daß ich meine Pferde trainiere, wo es mir beliebt«, entgegnete Sir George trotzig. »Und Sie wissen auch, daß ich Buncher außerordentlich gut brauchen kann. Er hat ungewöhnliche Fähigkeiten und kann ein Tier glänzend beurteilen. Und mir sagt er die Wahrheit, mich führt er nicht hinters Licht. Ich weiß so viel von ihm, daß ich ihn jeden Augenblick ins Gefängnis bringen könnte.«

 

Toady nickte.

 

»Ich weiß mehr von Bunchers Sündenregister als irgendein anderer«, fuhr Sir George fort. »Er wäre der beste Trainer von England, wenn er sich nicht dem Trunk ergeben hätte. Ich traf ihn zufällig wieder, nachdem er jahrelang verschollen war, und ich nahm ihn in Schutz, als die Polizei ihn wegen Falschmünzerei suchte. Eines Abends kam er zu mir. Früher hatte er schon mehrere Aufträge für mich zu meiner Zufriedenheit erledigt. Er war damals ganz außer sich vor Schrecken und Furcht, aber ich habe ihm durchgeholfen. Ich verschaffte ihm ein Alibi, indem ich vor Gericht angab, daß er mein Angestellter wäre und sich während der Zeit, in der er gefälschte Banknoten ausgegeben haben sollte, in meinem Hause aufgehalten hätte.«

 

»Er ist Ihnen zu größtem Dank verpflichtet«, stimmte Wilton bei.

 

»Ich lasse einen guten Bekannten niemals im Stich«, bemerkte Sir George selbstgefällig, »ganz gleich, ob er ein Stallknecht oder ein Kabinettsminister ist – besonders, wenn ich seine Dienste gebrauchen kann.«

 

Er nahm die Zeitung wieder auf und las den Abschnitt noch einmal durch, über den er sich ärgerte.

 

»Wenn die Leute etwa glauben, daß ich sie einlade, mein Pferd hier genauer bei der Arbeit zu beobachten, dann haben sie sich schwer geirrt«, sagte er aufgebracht und warf die Zeitung auf den Tisch. »Aber jetzt erzählen Sie mir einmal Ihre Neuigkeiten.«

 

Toady war erst am Abend vorher von London gekommen.

 

»Ich habe auf Portonius‘ Sieg so viel gesetzt, daß Sie vierundzwanzigtausend Pfund gewinnen, wenn er im Derby Erster wird.« Toady zog sein Notizbuch heraus. »Man kann immer noch Wetten auf eins zu sechs abschließen.«

 

»Wie steht es denn eigentlich mit Donavan?«

 

Toady Wilton machte ein ärgerliches Gesicht.

 

»Dieser verdammte alte Kerl – ich wünschte nur, ich könnte es ihm heimzahlen.«

 

»Für den Auftritt neulich haben Sie sich nur selbst Vorwürfe zu machen. Ein Mann von Ihrem Alter und ihrem Aussehen sollte jungen Damen nicht mehr den Hof machen. In Stanton haben Sie einen guten Freund verloren.«

 

»Wir wollen über etwas anderes sprechen«, erwiderte Wilton kurz. »Wäre es nicht gut, wenn Sie Wetten auf Donavan abschlössen, um Ihr eigenes Geld zu sichern?«

 

Sir George lachte verächtlich.

 

»Seien Sie doch nicht komisch. Es ist ganz ausgeschlossen, daß Donavan Portonius schlagen könnte.«

 

»Man kann nicht wissen«, entgegnete Toady vorsichtig. »Bei den Rennen sind schon die merkwürdigsten Dinge passiert.«

 

»Ach, hören Sie auf mit Ihrem Gerede«, sagte Sir George brutal.

 

Es war merkwürdig, wie sehr sich Toady Wilton Sir George unterordnete. Er war ein großer, stattlicher Mann, aber er hatte ein abstoßendes, häßliches Gesicht, und im Grund seines Herzens war er feig. Sir George mußte irgendwelche Tatsachen aus Wiltons Vergangenheit kennen, so daß er ihn vollkommen in der Hand hatte und ihn als Werkzeug benützen konnte.

 

»Von wem kam denn eigentlich dieser Brief?« fragte er.

 

Die Post hatte an dem Morgen nur ein Schreiben gebracht.

 

»Von einer Dame«, entgegnete Wilton und lächelte.

 

»Was, schon wieder eine Dame?«

 

»Ja, Mrs. Bud Kitson.«

 

»Was schreibt sie denn?« fragte Sir George interessiert.

 

»Sie schickt einen Brief für ihren Mann«, mußte Wilton zugeben. Die Angelegenheit wurde immer prosaischer.

 

Sir George sah erstaunt auf.

 

»Aber Bud ist doch in London. Ich erwartete gestern Nachricht von ihm. Miss President ist zu ihrem Großvater nach Sussex abgereist.«

 

»Gestern war sie in Sandown«, bemerkte Toady trocken. »Vielleicht hat Bud davon erfahren und wartete, bis sie fort war.«

 

Sir George schüttelte den Kopf.

 

»Warum hat sie denn hierher geschrieben? Wenn ihr Mann in London ist, muß sie das doch wissen! Ich verstehe den Zusammenhang nicht recht. Wilton, wer von uns dreien hat denn nun eigentlich die Schriftstücke und das Geld, wenn John President nichts hat?«

 

Toady protestierte.

 

»Ich wünschte nur, Sie würden nicht immer derartige Bemerkungen machen.«

 

»Einer von uns muß die Mappe doch genommen haben! Ich war es jedenfalls nicht«, sagte Sir George und streckte seine langen Beine unter dem Tisch aus.

 

»Und ich kann auch einen Eid darauf leisten, daß ich sie nicht genommen habe«, entgegnete Toady schnell. »Bud würde natürlich jeden Augenblick dasselbe beschwören. Soltescu hat Detektiv Sands engagiert, um Nachforschungen anzustellen. Ich glaube aber kaum, daß der etwas herausbekommt. Zum Privatdetektiv hat er wenig Veranlagung.«

 

*

 

Der Tag des Derbys in Epsom kam immer näher, und alle Welt sprach darüber, welches Pferd wohl gewinnen würde. Die Sportsleute haben ein noch viel größeres Interesse an diesen Dingen. Sie sehen sich jedes einzelne Pferd, das genannt wird, genau an und ziehen alle früheren Rennen in Betracht. Man prüft den Stammbaum, die Veranlagung und die Eigenschaften der Vorfahren, um Anhaltspunkte für die Beurteilung zu finden. Jeden Tag erscheinen die Trainingsberichte in den Zeitungen. Auch die Beschaff fenheit der Rennbahn spielt eine Rolle. Manche Pferde leisten viel auf hartem Boden, andere lieben gerade das Gegenteil. Das Interessante an diesem Rennen ist vor allem, daß alle Pferde, die daran teilnehmen, die Rennbahn zum erstenmal betreten.

 

Auf Portonius wurde viel gewettet. Die Agenten George Frodmeres informierten ihn genau über den Stand der Dinge. Leichter war es, Geld auf Donavan zu setzen, über dessen Trainingsstand in den Zeitungen dauernd berichtet wurde. Gerade in den letzten Tagen lauteten die Meldungen sehr günstig.

 

Die Eingeweihten folgten mit großem Interesse dem Training John Presidents, der kein Geheimnis daraus machte. Er behauptete stets, daß er große Hoffnungen auf Donavan setze, und die Fachleute hatten sich persönlich von den guten Eigenschaften des Pferdes überzeugen können. Donavan galt als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das Rennen. Aber Wetten werden nicht allein auf Trainingsberichte hin abgeschlossen. Es war merkwürdig, daß auf Portonius am meisten gesetzt wurde. John President selbst war sehr vorsichtig und hatte noch vierzehn Tage vor dem Rennen keinen einzigen Schilling gesetzt. Aber Donavan machte gute Fortschritte.

 

Eric Stanton war zufrieden mit den Trainingsergebnissen, setzte aber kein Geld auf das Pferd, weil er fürchtete, dadurch die Gewinnchancen Mr. Presidents zu verringern.

 

Selbst Soltescu kümmerte sich jetzt um das Rennen. Er hoffte, durch einen großen Schlag wenigstens einigermaßen für seinen Verlust entschädigt zu werden.

 

Sir George war wütend, als er eines Tages erfuhr, daß die Quote von Portonius auf zehn zu sechs gefallen war. Später klärte sich die Sache auf, denn es stellte sich heraus, daß Soltescus riesige Wetten die Quote derart gedrückt hatten.

 

»Ich verstehe nicht, warum Sie das getan haben«, sagte er düster. »Sie hätten doch noch viel mehr Geld herausschlagen können. Jetzt haben Sie einfach den Markt ruiniert.«

 

Soltescu lachte nur. Er hatte an diesem Morgen schon viel getrunken.

 

»Sagen Sie mir lieber, ob Sie Neuigkeiten für mich haben.«

 

»Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen recht viel berichten. Was mit Kitson passiert ist, weiß ich nicht. Ich, habe seiner Frau gestern abend telegrafiert, und in einem fangen Brief hat sie uns mitgeteilt, daß ihr Mann vor zwei Tagen von zu Hause fortgegangen wäre und daß man seitdem nichts wieder von ihm gehört hätte.«

 

»Glauben Sie, daß er die Papiere gefunden hat und sie jetzt für sich behalten will?« fragte der Rumäne ängstlich.

 

Sir George schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Nein, das traue ich dem Mann nicht zu.«

 

Allerdings hatte er auch schon selbst diesen Verdacht gehabt, aber Bud hatte ja nicht die geringste Gelegenheit, die Schriftstücke weiter zu veräußern.

 

Toady Wilton konnte Soltescu nicht leiden, besonders wenn der Rumäne getrunken hatte. Er entschuldigte sich und ging in sein Zimmer.

 

Wilton wohnte jetzt dauernd in Pennwaring. Das Herrenhaus war sein Hauptquartier und sein Heim. Sir George hatte ihm drei Zimmer in einem Seitenflügel zur Verfügung gestellt. Früher war Toady nur selten hierhergekommen, um Eric Stanton nicht zu ärgern. Aber nachdem diese Freundschaft in die Brüche gegangen war, hielt er sich als Gast in Pennwaring auf. Die großen Räume waren verschwenderisch ausgestattet, denn Toady liebte Luxus über alles. Er hatte all sein Hab und Gut aus der Stadt mitgebracht, selbst die großen Stahlkassetten aus dem Bankdepot, und er fühlte sich hier in der Abgeschlossenheit auf dem Lande viel sicherer. In London hatte er viele Feinde; auch Eric Stanton gehörte jetzt zu ihnen; und Toady war vollkommen davon überzeugt, daß Stanton nicht ruhen würde, bis er ihn zur Rechenschaft gezogen hatte. Er beschloß daher, seine Papiere durchzusehen und alles zu verbrennen, was ihn irgendwie belasten konnte. Mit Erleichterung hatte er zugesehen, wie die Stahlkassetten in einem Schrank seines Zimmers niedergestellt wurden. Sie waren alle von der Bank versiegelt. An diesem Morgen wollte er sie öffnen und den Inhalt prüfen, aber kaum hatte er das erste Siegel gelöst und die Schlüssel aus der Tasche gezogen, als er nach unten gerufen wurde.

 

Kapitel 14

 

14

 

Sir George stand ärgerlich vor dem großen Eßtisch. Soltescu saß in einem Lehnsessel, hatte die Hände in die Taschen gesteckt und schien sich über diese Entwicklung zu freuen. Als dritter war Polizeiinspektor Grayson anwesend. Toady kannte ihn von London her und wußte, daß er ein sehr fähiger Beamter war. Er wurde etwas unruhig, als er ihn sah.

 

»Haben Sie schon das Neueste gehört?« fragte Sir George entrüstet.

 

»Nein.«

 

»Kitson ist im Portland-Gefängnis!«

 

Toady erschrak und wurde noch bleicher.

 

»Aber wie ist denn das gekommen?« fragte er verstört.

 

»Erzählen Sie es ihm doch, Inspektor«, sagte Sir George, der jetzt nervös im Zimmer auf und ab ging.

 

»Es ist eine merkwürdige Geschichte«, begann Grayson mit einem sonderbaren Lächeln. »Ihr Freund, wenn ich so sagen darf – der Mann behauptet wenigstens, daß Sie sein Freund seien, und Sir George sagte mir, daß Sie ihn jedenfalls kennen –, wurde vor drei Tagen in London verhaftet. Sie haben vielleicht in der Zeitung gelesen, daß vor einigen Wochen ein Mann aus dem Gefängnis von Portland ausgebrochen ist, den die Polizei bisher noch nicht wieder finden konnte. Man nahm allgemein an, daß er sich nach London gewandt hätte, und allen Polizeistationen wurde seine Personalbeschreibung mitgeteilt. Am vergangenen Dienstagmorgen fand nun ein Polizist auf seinem Patrouillengang einen bewußtlosen Mann in einem Torweg. Er versuchte, ihn zu wecken, denn er hielt ihn für betrunken. Als ihm das nicht gelang, holte er Hilfe herbei und brachte ihn in einem Wagen zur Polizeistation. Man entdeckte dann, daß der Mann unter seinen Kleidern einen Sträflingsanzug trug. Alles stimmte genau, sogar die Gefängnisnummer. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn zu verhaften und sich mit der Verwaltung des Portland-Gefängnisses in Verbindung zu setzen. Am nächsten Morgen kam der Mann zu sich und protestierte heftig gegen die Anklage. Er erzählte eine unglaubliche Geschichte, daß man ihn betäubt habe. Trotzdem wurde er oberflächlich von den Wärtern wiedererkannt, die ihn nach Portland brachten. Der Gefängnisdirektor und der Anstaltsarzt haben ihn dann verhört. Er blieb aber hartnäckig bei seiner Behauptung, daß er nicht der entkommene Sträfling sei. Als man ihn genauer untersuchte, fand man auch heraus, daß ein Irrtum vorliegen mußte. Die Nummern der Sachen wurden verglichen, und man entdeckte, daß sie gefälscht waren. Die Sache ist ein großes Rätsel. Ich bin nun von London gekommen und möchte Sir George und Sie bitten, mich nach dem Gefängnis von Portland zu begleiten. Die Persönlichkeit des Mannes, der sich selbst Kitson nennt, muß festgestellt werden.«

 

»Ich glaube bestimmt, daß er es ist«, entgegnete Sir George. »Ich habe selbst das Bild des ausgebrochenen Gefangenen gesehen, und mir ist sofort die außerordentliche Ähnlichkeit aufgefallen. Ist es tatsächlich nötig, daß ich persönlich mitkomme?«

 

»Ich fürchte, es ist unumgänglich notwendig«, erwiderte Inspektor Grayson.

 

»Wir müssen wirklich alle drei hingehen? Monsieur Soltescu braucht uns doch sicherlich nicht zu begleiten. Er will mit dem nächsten Zug fortfahren. Es genügt doch, wenn Mr. Wilton dabei ist.«

 

»Es wäre aber besser, Sie kämen alle mit.«

 

»Das ist sehr unangenehm«, meinte Sir George nach einer Pause. »Ich habe jemand hierher eingeladen, und ich wollte bei seiner Ankunft natürlich gern zugegen sein. Aber das ist nun Nebensache. Vor allem müssen wir sehen, daß dieser Pechvogel aus dem Gefängnis befreit wird. Wie weit ist es denn von hier nach Portland?«

 

»Nicht allzu weit, man kann die Strecke bequem im Auto machen.«

 

»Nun, dann bleibt also nichts anderes übrig«, erwiderte Sir George resigniert. »Wir müssen hinfahren, Toady. Holen Sie Ihren Mantel, ich lasse den Wagen sofort kommen. Bei der Gelegenheit können wir ja auch Soltescu zum Bahnhof bringen. Begleiten Sie uns, Inspektor?«

 

Der Beamte nickte.

 

»Wenn Sie es wünschen. Sonst kann ich ja auch den Zug benützen. Aber ich komme dann wahrscheinlich erst einige Stunden später in Portland an, und Sie müßten auf mich warten.«

 

Sir George war wirklich ärgerlich, denn alle seine Dispositionen wurden über den Haufen geworfen. Er hatte das Haus und das Landgut noch nicht verlassen, seitdem das Training von Portonius begonnen hatte, aber er konnte jetzt nichts ändern. Kitson durfte nicht im Gefängnis bleiben, sonst erzählte der Mann womöglich noch Dinge, die verhängnisvoll werden konnten.

 

Er sprach mit seinem Hausmeister, bevor er abfuhr.

 

»Ich erwarte einen Herrn aus der Stadt, Gillespie. Seien Sie recht liebenswürdig zu ihm. Er kann alle Räume benützen, denn er soll sich hier zu Hause fühlen. Spätestens morgen früh komme ich wieder zurück.«

 

»Jawohl, Sir George. Und wie ist es mit Portonius?« »Ach, der Mann kann das Pferd ruhig sehen. Sorgen Sie dafür, daß es ihm hier gefällt. Er ist gerade kein Gentleman«, fügte er zögernd hinzu, »aber Sie müssen ihn trotzdem als einen solchen behandeln.«

 

»Ganz wie Sie wünschen.«

 

Kurz darauf fuhren sie in dem großen, blauen Wagen des Baronets ab, um Bud Kitson aus seiner wenig angenehmen Lage zu befreien.

 

*

 

Eine halbe Stunde nach der Abfahrt Sir Georges hielt ein anderer Wagen vor der großen Treppe des Herrenhauses in Pennwaring.

 

Der Hausmeister, der darauf vorbereitet war, kam eilig die Stufen herunter, um den Fremden zu begrüßen.

 

»Es tut Sir George außerordentlich leid, daß er Sie nicht persönlich empfangen kann, aber er wurde unerwarteterweise abgerufen. Er läßt Sie bitten, es sich hier bequem zu machen, bis er zurückkommt.«

 

Der große, schlanke Herr, der aus dem Auto stieg, nickte. Als er sah, daß der Hausmeister sich um sein Gepäck kümmern wollte, sagte er leichthin: »Meinen Koffer habe ich nicht mitgebracht, ich bleibe nicht lange. Wann wird Sir George denn wieder hier sein?«

 

»Spätestens morgen früh.«

 

»Gut, dann will ich den Tag über hierbleiben. Ich habe mich telegrafisch angesagt.«

 

Der Fremde entließ seinen Chauffeur nur durch ein Kopfnicken, denn er hatte ihm schon vorher genaue Instruktionen gegeben. Der Wagen verließ den Park.

 

Der Besucher hatte viel Zeit, aber er nützte jeden Augenblick aus. Zur größten Überraschung Gillespies war sein Benehmen tadellos und höflich und paßte nicht zu der Beschreibung, die ihm Sir George gegeben hatte. Er war allerdings sehr neugierig und fragte nach allem möglichen. Auch ließ er sich alle Räume des Hauses zeigen. Er selbst hatte ein Zimmer, das neben Toady Wiltons Räumen lag.

 

Als er nach dem Mittagessen erklärte, daß er am Nachmittag etwas ausruhen wollte, atmete der geplagte Hausmeister erleichtert auf.

 

»Wollen Sie sich nicht das Pferd ansehen?« erkundigte er sich noch.

 

Wenn der Fremde die Frage bejahte, hatte der Hausmeister ja weiter nichts zu tun, als ihn der Obhut Bunchers anzuvertrauen. Das enthob ihn selbst jeder weiteren Mühe.

 

»Sie können mich um drei Uhr wieder wecken, dann sehe ich mir Portonius an. Gehört habe ich ja schon viel von ihm.«

 

Um halb zwei ging er in sein Zimmer.

 

Für einen Gast benahm er sich etwas außergewöhnlich. Er schloß die Tür zu und machte sich dann daran, die Verbindungstür zu den Räumen Toady Wiltons zu öffnen. Während Gillespie unten den anderen Dienstboten von dem merkwürdigen Fremden erzählte, durchstöberte dieser Wiltons Zimmer. Die Inspektion dauerte einige Zeit, aber als der Hausmeister ihn um drei Uhr weckte, war alles erledigt.

 

Mr. Buncher war sehr argwöhnisch und fluchte über den Leichtsinn seines Herrn, der einem Fremden gestattete, das Rennpferd zu sehen. Es gelang ihm wenigstens, zu verhindern, daß der Mann den Stall selbst betrat. Er hatte nur den oberen Flügel der Stalltür geöffnet.

 

»Wirklich ein schönes Pferd«, sagte der Besucher anerkennend und pfiff leise.

 

Portonius drehte sich um und kam zu ihm. Der Fremde schien sich sehr gut auf Pferde zu verstehen. Er streckte seine Hand aus, und der Hengst rieb seine Schnauze daran.

 

»Was machen Sie denn da?« fragte Buncher plötzlich.

 

Der Besucher sah den Trainer verwundert an.

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

 

»Sie sehen ja nach seinen Zähnen!«

 

Der andere starrte den Trainer verständnislos an, als ob er nicht begreifen könnte, was dieser von ihm wollte.

 

»Warum sollte ich denn nach seinen Zähnen sehen?« fragte er und lächelte. »Ich bin doch kein Zahnarzt!«

 

»Sir George wünscht nicht, daß andere Leute das Pferd anfassen«, entgegnete Buncher grob und schloß die Stalltür.

 

Die vielen Fragen, die der Fremde an ihn stellte, beantwortete er nur unbestimmt und widerwillig, so daß dem Gast nichts übrigblieb, als nach dem Herrenhaus zurückzukehren und sich zur Abfahrt zu rüsten. Er ging wieder auf sein Zimmer und nahm verschiedene Schriftstücke an sich, die er in Toadys Räumen gefunden hatte. Dann lehnte er sich aus dem Fenster und gab ein Signal mit einer Trillerpfeife. Der Hausmeister und Buncher hörten es ebenso wie der Chauffeur.

 

Drei Minuten später fuhr der Wagen vor. Dem Hausmeister tat es aufrichtig leid, daß der fremde Herr nicht auf die Rückkehr von Sir George warten wollte. Er hielt ihn jetzt wirklich für einen vollkommenen Gentleman, weil er ihm ein so reichhaltiges Trinkgeld gegeben hatte.

 

»Bestellen Sie Sir George bitte, daß ich sehr bedauere, ihn nicht angetroffen zu haben –«

 

Weiter kam der Besucher nicht, denn im gleichen Augenblick fuhr ein anderes Auto die große Rampe herauf und hielt dicht hinter seinem Wagen. Sir George sprang heraus und wurde wütend, als er den Gast sah.

 

Bud Kitson folgte ihm.

 

Es war nicht nötig gewesen, nach Portland zu fahren, denn schon vorher war eine Anweisung vom Innenministerium eingelaufen, den Mann freizulassen. Sir George hatte ihn auf dem Weg nach Pennwaring auf der Landstraße getroffen.

 

»Sie sind doch Milton Sands?« sagte Sir George unwirsch.

 

»Ja, so heiße ich«, entgegnete der Detektiv und zog seine Handschuhe langsam an.

 

»War dieser Herr im Hause?«

 

»Jawohl, Sir George«, erwiderte Gillespie entsetzt.

 

»Auch im Stall?«

 

»Jawohl.«

 

Der Baronet wandte sich zornig an Milton.

 

»Das war also Ihre Absicht! Deshalb haben Sie uns fortgelockt! Womöglich steckt Grayson mit Ihnen unter einer Decke!«

 

»Sie können sich denken, was Sie wollen«, erwiderte Milton Sands gelassen. »Jedenfalls habe ich Ihnen einen Besuch gemacht, und das genügt mir. Darf ich mich von Ihnen verabschieden?«

 

Er lüftete den Hut und wollte die Treppe hinuntergehen. Aber der Baronet trat ihm in den Weg.

 

»Sie gehen nicht eher von hier fort, bis ich genau weiß, was Sie hier gemacht haben. Am Ende nehmen Sie noch etwas mit – ein Mann, der sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen den Zutritt in ein fremdes Haus verschafft, muß sich gefallen lassen, daß man ihn durchsucht.«

 

»Sie werden mich nicht durchsuchen«, entgegnete Milton lächelnd. –

 

Sir George packte ihn am Arm. Im gleichen Augenblick wandte sich Milton aber um und versetzte ihm einen Faustschlag gegen das Kinn, daß der Mann rückwärts die Treppe hinuntertaumelte.

 

»Fassen Sie ihn, Bud«, brüllte Sir George.

 

»Das werde ich nicht gestatten.« Milton hielt die beiden jetzt durch seinen Browning in Schach und stieg schnell in den Wagen. »Ich habe in diesen kurzen Stunden gerade genug erfahren«, sagte er und neigte sich hinaus. »Soviel, daß ich ein Buch darüber schreiben könnte, Sir George! Nicht nur über das, was ich in Ihren Ställen gesehen habe, sondern auch über Ihren Freund Toady.«

 

Wilton stand dabei und hörte entsetzt zu.

 

Der Chauffeur fuhr an, und Sands winkte zum Abschied aus dem Wagen.