Kapitel 8

 

8

 

Der Mann, der sein Vermögen verspielte

 

Am Samstagabend ist der Martaus-Klub stets von den elegantesten Leuten besucht, die das Wochenende in der Stadt verbringen. Es gibt dort schöne Tischlampen, deren helles Licht durch farbige Seidenschirme abgedämpft ist, blütenweißes Tischzeug, blitzendes Silber, schöne Gläser und exotische Blumen. Die einzelnen Tische stehen an den Wänden, so daß in der Mitte ein freier Platz bleibt, in dessen glattem Parkettboden sich die Kronleuchter spiegeln.

 

Junge und alte Leute können sich im Martaus-Klub sehr wohl fühlen – wenn sie das nötige Geld dazu haben. Aber es ist nicht die Höhe der Rechnungen, die der Oberkellner Louis ausschreibt, noch sind es die Preise für den Wein oder das ausgezeichnete Stachelbeerkompott, die jemand ruinieren können.

 

Mr. John Eder konnte mit Leichtigkeit die Rechnung bezahlen für alles, was er bei Martaus aß. und trank oder rauchte. Und der Klub war wirklich ebenso unschuldig wie amüsant. Niemals wurden in den Räumen Kartenspiele geduldet. Der Oberkellner Louis kannte jedes Gesicht und auch die Geschichte jedes einzelnen Gastes. Mit größter Genauigkeit konnte er angeben, wie hoch die Bankguthaben der Gäste waren, die hier verkehrten.

 

Mr. John Eder kannte er noch nicht, er war das neueste Mitglied, aber er schätzte ihn vorsichtig und sachkundig ein.

 

John Eder hatte mit einer fremden Dame getanzt, was bei Martaus nicht üblich war. Es galt dort als Regel, daß man seine eigene Tanzpartnerin mitbrachte.

 

Aber an dem Abend war Mr. Welby dort. John kannte ihn oberflächlich, obwohl er ihn jahrelang nicht gesehen hatte. Mr. Welby war ein Muster von Eleganz und offenbar eine bedeutende Persönlichkeit. Als er durch den Saal auf ihn zuschritt, fühlte sich John ihm gegenüber wie ein armer Verwandter aus der Provinz. John war acht Jahre in Südafrika gewesen und kam sich jetzt etwas fremd in dem großstädtischen Leben und Treiben vor. Aber Mr. Welby war liebenswürdig und freundlich und bestand darauf, ihm Maggie Vane vorzustellen, eine hübsche junge Dame in prachtvollem Abendkleid. Sie trug reichen Schmuck – ihre Perlenkette kostete allein zwanzigtausend Pfund. Ihre Erscheinung raubte John den Atem, und als sie vorschlug, noch zu Bingley zu gehen, dachte er nicht im Traum daran, zu widersprechen.

 

Sie gingen durch die Vorhalle, wo sich der Oberkellner Louis zu schaffen machte. Mit einer kleinen Entschuldigung trat er an John heran und bürstete ein Stäubchen von dem Kragen seines tadellos sitzenden Fracks. Dabei flüsterte er ihm mit leiser Stimme etwas zu, so daß es seine Begleiter nicht hören konnten.

 

»Gehen Sie nicht zu Bingley.«

 

John sah ihn verwundert an, denn das Benehmen des Mannes erschien ihm ungehörig.

 

Bis sechs Uhr morgens blieb er bei Bingley und ließ dort Schecks zurück in einer Höhe, die seine gesamten aus Afrika zurückgebrachten Ersparnisse ausmachten, ja noch etwas mehr. Er war nach England zurückgekommen und hatte von einem kleinen Gut auf dem Land geträumt, wo er etwas angeln und auf die Jagd gehen konnte. Auch ein Buch über die Jagd auf Hochwild in Afrika hatte er schreiben wollen. Und alle diese Träume waren zu Ende, als der Croupier mit einem faden Lächeln auf den Lippen mechanisch die Karte umwandte:

 

»Le Rouge gagnant et couleur!«

 

Er hatte nicht geahnt, daß Bingley eine Spielhölle war. Zu Anfang hatte das Lokal auch nicht diesen Eindruck gemacht. Erst als ihn dieses schöne Mädchen in die inneren Räume führte, wurde er nervös, denn er sah, daß hier trente et quarante mit hohen Einsätzen gespielt wurde. Er saß an ihrer Seite am Spieltisch, setzte in bescheidenen Grenzen und gewann. Das dauerte an, bis er waghalsiger wurde und seine Einsätze erhöhte.

 

Man war sehr entgegenkommend bei Bingley. Als er kein Geld mehr zu verspielen hatte, nahm man seine Schecks an, ja man hatte sogar Formulare vorrätig, die er nur auszufüllen brauchte.

 

John Eder kam zu seiner Wohnung in der Jermyn Street zurück, die unmittelbar über Georges und Leons Zimmer lag, und schrieb einen Brief an seinen Bruder nach Indien …

 

Manfred hörte den Schuß und wachte auf. Er kam im Pyjama in das Wohnzimmer und fand Leon bereits dort, der zur Decke emporstarrte.

 

Manfred eilte auf das Treppenpodest hinaus und fand dort den Eigentümer der Pension, nur mit Hemd und Hose bekleidet. Auch er hatte den Schuß in seiner unteren Wohnung gehört.

 

»Ich dachte zuerst, es wäre bei Ihnen gewesen«, sagte er. »Dann müssen wir bei Mr. Eder nachsehen.«

 

Als sie zusammen die Treppe emporstiegen, erzählte er, daß Mr. Eder erst vor kurzer Zeit wieder nach England zurückgekommen sei.

 

Die Tür war verschlossen, aber der Hausherr hatte einen Schlüssel, mit dem er öffnen konnte. Im Wohnzimmer brannte das Licht noch, und ein Blick sagte Manfred alles, was vorgefallen war. Eine zusammengesunkene Gestalt lag quer über dem Tisch, das Blut tropfte aus einer Wunde in der Brust auf den Fußboden, wo es sich in einer großen Lache angesammelt hatte. Gonsalez untersuchte ihn sofort.

 

»Er ist nicht tot«, sagte er, »und ich glaube auch nicht, daß die Kugel ein wichtiges Organ getroffen hat.«

 

Der Mann hatte sich in die Brust geschossen, aber aus der Richtung des Schußkanals sah Gonsalez, daß die Verwundung nicht lebensgefährlich war. Er verband ihn in aller Eile, so gut es ging, und sie legten ihn vorsichtig auf das Sofa. Als diese ersten notwendigen Handreichungen geschehen waren, schaute sich Gonsalez um und entdeckte den Brief, der alles erklärte.

 

»Mr. Pinner«, wandte er sich an den Hauswirt, »es liegt doch sicher in Ihrem Interesse, daß von dieser Sache nichts bekannt wird? Sie hätten nur Unannehmlichkeiten davon, wenn herauskäme, daß jemand in Ihrer Pension Selbstmord verüben wollte.«

 

»Das ist das Schlimmste, was mir passieren könnte.«

 

»Dann werde ich diesen Brief in Verwahrung nehmen. Rufen Sie jetzt das Hospital an und sagen Sie, daß ein Unglücksfall vorliegt. Erwähnen Sie nichts von einem beabsichtigten Selbstmord. Erzählen Sie nur, daß der Herr vor kurzer Zeit aus Südafrika zurückkam und daß sich seine Pistole beim Auspacken durch eine Fahrlässigkeit entlud.«

 

Mr. Pinner nickte und verließ schnell den Raum.

 

Gonsalez ging zum Sofa, wo Eder lag. In diesem Augenblick schlug der junge Mann die Augen auf und schaute erregt von Manfred zu Gonsalez.

 

»Mein lieber Freund«, sagte Leon sanft, als er sich über den Verwundeten beugte, »es ist Ihnen ein Unglück passiert – verstehen Sie mich? Ihre Wunde ist nicht lebensgefährlich. Gleich wird der Krankenwagen kommen, um Sie abzuholen. Beruhigen Sie sich, ich werde Sie jeden Tag im Hospital besuchen.«

 

»Wer sind Sie denn?« fragte Mr. Eder mit leiser Stimme.

 

»Ich bin Ihr Nachbar«, erwiderte Leon lächelnd.

 

»Aber der Brief!« stieß Mr. Eder atemlos hervor.

 

Leon legte ihm begütigend die Hand auf die Stirn.

 

»Den habe ich in meiner Tasche. Sie bekommen ihn zurück, wenn Sie wieder gesund sind. Sie haben also verstanden, daß Ihnen ein Unglück passiert ist?«

 

John Eder nickte.

 

Eine Viertelstunde später fuhr der Krankenwagen vor, und Mr. Eder wurde fortgebracht.

 

Als die beiden Freunde wieder in ihrer eigenen Wohnung waren, öffnete Leon in aller Seelenruhe den Brief und las ihn.

 

»Nun?« fragte Manfred.

 

»Unser junger Freund kam von Südafrika mit siebentausend Pfund zurück, die er sich in acht Jahren durch harte Arbeit erspart hat. Die ganze Summe verlor er in weniger als acht Stunden in einer Spielhölle, die er nicht näher bezeichnet. Er ist nicht nur um seine ganzen Ersparnisse gekommen, sondern hat anscheinend noch Schecks geschrieben, um größere Spielschulden zu decken.«

 

Leon strich sein Kinn.

 

»Wir müssen in seinem Zimmer noch genauer Umschau halten. Hoffentlich hat Mr. Pinner nichts dagegen.«

 

Der Hauswirt war sehr zuvorkommend und gestattete gern, daß Leon die Wohnung Mr. Eders durchsuchte, bevor die Polizei auf der Bildfläche erschien. Leon fand denn auch bald das Scheckbuch, das in der inneren Brusttasche von Mr. Eders Frack steckte, und nahm es mit sich nach unten.

 

»Er hat keinen Namen auf die Scheckabschnitte geschrieben«, sagte er enttäuscht. »Es steht immer nur ›bar‹ darauf. Natürlich hat er alles derselben Person übergeben. Er hat ein Konto bei der Third National Bank of South Africa. Die Londoner Niederlassung dieser Bank ist in der Throgmorton Street.«

 

Er notierte sorgfältig die Nummern aller Schecks – es waren im ganzen zehn.

 

»Zuerst müssen wir ein Telegramm an die Bank schicken, um die Auszahlung dieser Schecks zu verhindern. Natürlich kann er verklagt werden, aber Spielschulden brauchen nach dem Gesetz nicht bezahlt zu werden. Und bevor man ihn wegen der Nichteinlösung der Schecks belangt, kann sich noch manches ereignen. Auf jeden Fall gewinnen wir dadurch Zeit.«

 

Am nächsten Nachmittag ereignete sich denn auch schon etwas. Leon hatte strikte Anweisung gegeben, daß jeder, der nach Mr. Eder fragte, an ihn gewiesen würde. Um drei Uhr erschien ein tadellos gekleideter junger. Mann an der Tür.

 

»Ist dies die Wohnung von Mr. Eder?«

 

»Nein, das gerade nicht«, entgegnete Gonsalez. »Hier wohne ich mit meinem Freund, aber wir sind bevollmächtigt, Mr. Eder zu vertreten.«

 

Der Besucher runzelte argwöhnisch die Stirn.

 

»Sie haben Vollmacht? Nun gut, dann können Sie mir ja einige Auskünfte geben. Warum sind denn die Schecks bei der Bank gesperrt worden? Mein Chef ist heute morgen zur Bank gegangen, um die Beträge abzuheben, und die Bank weigerte sich, sie auszuzahlen. Weiß Mr. Eder hierüber Bescheid?«

 

»Wer ist denn Ihr Chef?« fragte Leon liebenswürdig.

 

»Mr. Mortimer Birn.«

 

»Und seine Adresse?«

 

Der junge Mann nannte sie. Mr. Mortimer Birn besaß offensichtlich ein Inkassobüro und zog für eine Reihe von Leuten die Schecks ein, die sie nicht durch ihre Banken gehen lassen wollten. Der junge Mann behauptete mit Nachdruck, daß die Schecks das Eigentum mehrerer Personen seien.

 

»Ein sonderbarer Zufall, daß alle zehn Schecks an Mr. Birn gelangt sind«, meinte Leon lächelnd.

 

»Ich möchte lieber Mr. Eder persönlich sprechen«, sagte der Angestellte Mr. Birns unliebenswürdig.

 

»Sie können ihn nicht persönlich sprechen, er hat einen Unglücksfall gehabt. Aber ich werde Ihren Mr. Birn aufsuchen.«

 

Das kleine Büro Mr. Birns lag in der Glasshouse Street. Die Art des Geschäftes war weder unten am Eingang noch oben an der Bürotür näher angegeben. Aber Leon Gonsalez sah sofort, als er eintrat, daß er es mit einem Geldverleiher zu tun hatte.

 

In dem äußeren Raum befand sich niemand. Es war hier gerade Platz genug für einen kleinen Tisch und einen Stuhl. In Kopfhöhe war eine hölzerne Trennungswand eingezogen, um den wenig beneidenswerten Mann, der in diesem Raum arbeiten mußte; vor Zug und unmittelbarer Sicht zu schützen. Aus diesem kleinen Zimmer führte eine Tür in das Privatbüro Mr. Birns.

 

Leon lauschte, denn er hörte Stimmen.

 

»… hierherkommen, ohne telefonische Anmeldung, was? Sie kommt immer morgens, habe ich Ihnen das nicht schon hundertmal gesagt?« brüllte jemand.

 

»Sie kennt mich nicht«, sagte ein anderer unwirsch.

 

»Sie braucht nur Ihr Haar zu sehen …«

 

In diesem Augenblick kam der junge Mann durch die Tür, dem Leon in der Jermyn Street aufgemacht hatte. Eine Sekunde lang sah Gonsalez zwei Herren in dem anderen Zimmer. Der eine war klein und untersetzt, der andere schlank und rothaarig. Der Angestellte machte sofort kehrt, und die laute Unterhaltung hörte plötzlich auf. Als Gonsalez in das Büro gebeten wurde, war nur der Geschäftsinhaber sichtbar.

 

Birn war der untersetzte, kahlköpfige Mann. Er war sehr liebenswürdig und erzählte Leon dieselbe Geschichte, die ihm der junge Mann vorgetragen hatte.

 

»Was wird nun Mr. Eder wegen dieser Schecks unternehmen?« fragte er schließlich.

 

»Ich glaube nicht, daß er sie einlösen wird«, entgegnete Leon höflich. »Sie wissen ja, daß es Spielschulden sind.«

 

»Es sind aber doch Schecks«, unterbrach ihn nun Mr. Birn. »Und ein Scheck ist ein Scheck, ob er nun für Spielschulden oder für einen Sack Kartoffeln in Zahlung gegeben wird.«

 

»Ist denn das auch nach dem Gesetz so? Und wenn es so ist – sind Sie doch so liebenswürdig und schreiben mir einen Brief dieses Inhalts. In dem Fall wird der Bezahlung nichts mehr im Weg stehen.«

 

»Ja, das will ich tun. Wenn Sie es wünschen, kann ich den Brief gleich schreiben.«

 

»Bitte.«

 

Aber Mr. Birn schrieb den Brief nicht.

 

Statt dessen sprach er von seinen Rechtsanwälten und beklagte sich heftig über die Charakterlosigkeit der jungen Leute, die nicht einmal mehr Ehrenschulden einlösen wollten. (Warum er sich damit zufriedengab, daß die Schecks Spielschulden deckten, erklärte er nicht genauer.) Schließlich beendete er die Unterredung etwas plötzlich. Leon hatte inzwischen darüber nachgedacht, wer wohl der dritte Mann gewesen sein mochte, den er vorher durch die Tür gesehen hatte. Vermutlich hatte er den Raum durch eine der drei Türen des kleinen Büros verlassen.

 

Leon ging die enge Treppe hinunter und trat auf die Straße. Als er auf dem Gehsteig stand, fuhr ein kleiner Wagen vor, aus dem eine junge Dame stieg. Sie sah ihn nicht an, sondern ging an ihm vorbei und stieg die Treppe empor. Sie war allein und hatte das luxuriöse Auto selbst gelenkt. Gonsalez interessierte sich für sie und wartete ungefähr zwanzig Minuten, bis sie wieder herauskam. Sie schien in gedrückter Stimmung zu sein.

 

Leon wurde neugierig und machte sich sofort auf den Weg zu dem Hospital, in dem Mr. Eder lag. Der junge Mann hatte sich schon so weit erholt, daß er sich mit Leon unterhalten konnte.

 

Schon seine ersten Worte verrieten seine Furcht und Bestürzung.

 

»Sagen Sie mir doch, was Sie mit dem Brief gemacht haben? Ich war so töricht –«

 

»Er ist vernichtet«, erwiderte Leon wahrheitsgetreu. »Nun müssen Sie mir aber verschiedenes erzählen, junger Freund. Wo war die Spielhölle, in der Sie Ihr Geld verloren haben?«

 

Es dauerte lange, bis er Mr. Eder überzeugt hatte, daß er keinen Vertrauensbruch damit beging, wenn er ihm die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende erzählte.

 

»Es war also eine Dame, die Sie dorthin gebracht hat«, sagte Leon nachdenklich.

 

»Sie war aber nicht daran beteiligt«, erwiderte John Eder schnell. »Sie war nur ein Besucher wie ich auch, und sie sagte mir, daß sie fünfhundert Pfund verloren hätte.«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete Leon begütigend. »Ist sie blond? Hat sie tiefblaue Augen und fährt sie ihr eigenes Auto?«

 

Der junge Mann sah ihn erstaunt an.

 

»Ja, sie hat mich in ihrem Wagen hingebracht. Auch ist sie blond und hat blaue Augen. Sie ist wirklich eine der schönsten Frauen, die ich jemals gesehen habe. Sie brauchen sich ihretwegen keine Sorgen zu machen. Sie ist ein Opfer wie ich und ebenso betrogen worden, wenn überhaupt ein Betrug vorliegt.«

 

»Die Adresse war also Paul Street Nr. 196, Mayfair?«

 

»Die Straße stimmt sicher, hoffentlich auch die Nummer. Aber Sie werden doch nichts gegen die Leute unternehmen? Es war doch mein eigener Fehler. Sind Sie nicht einer der beiden Herren, die unter mir wohnen?«

 

Leon nickte.

 

»Vermutlich sind die Schecks bei der Bank präsentiert und nicht alle bezahlt worden.«

 

»Sie sind noch nicht vorgezeigt – oder jedenfalls noch nicht ausbezahlt worden, will ich lieber sagen. Und wenn Sie sich wirklich erschossen hätten, mein junger Freund, dann wären sie überhaupt nicht ausgezahlt worden, weil dann Ihre Bank verpflichtet gewesen wäre, automatisch alle Zahlungen aus Ihrem Konto einzustellen.«

 

Manfred mußte an diesem Abend allein speisen, denn Leon war von seinem Besuch noch nicht zurückgekehrt. Erst um acht Uhr brachte ein Bote einen Brief, in dem Leon bat, dem Überbringer seinen Gesellschaftsanzug und mehrere andere Gegenstände zu übergeben.

 

Manfred war zu sehr an Leons Art gewöhnt, um erstaunt zu sein. Er packte einen kleinen Handkoffer und händigte ihn dem Boten ein. Er selbst verbrachte den Abend mit Briefschreiben.

 

Um halb drei hörte er auf der Straße eine Schlägerei, und gleich darauf kam Leon herein. Er war gelassen und ruhig, obgleich er kurz vorher einen Zusammenstoß mit einem jungen Menschen gehabt hatte, der ihm vor dem Haus aufgelauert hatte.

 

Manfred sah, daß er nicht in Gesellschaftskleidung war, sondern den Anzug trug, in dem er am Morgen die Wohnung verlassen hatte.

 

»Hast du den Koffer bekommen?«

 

»Ja, es ist alles in Ordnung.«

 

Leon zog einen kurzen Stock aus Rhinozeroshaut aus der Tasche. Es war eine dieser gefürchteten Waffen, die man in Südafrika »sjambok« nennt, ungefähr eineinhalb Fuß lang. Manfred hatte sie ihm auf seine Bitte am Nachmittag mit den anderen Sachen geschickt. Er besah sich den Schläger im Licht.

 

»Es ist gut, ich habe ihm die Haut nicht aufgeschlagen. Ich war schon in Sorge.«

 

»Wer war es denn?«

 

Leon drehte das Licht aus, bevor er antwortete, zog die Gardinen zurück, öffnete das Fenster und schaute hinaus. Dann trat er wieder vom Fenster zurück, ließ die Vorhänge übereinanderfallen und schaltete das Licht wieder ein.

 

»Er ist fortgegangen, aber es wird wohl nicht das letzte Mal sein, daß wir von der Bande belästigt werden.«

 

Er trank ein Glas Wasser, setzte sich an den Tisch und lachte.

 

»Du weißt doch, daß Mr. Fare von Scotland Yard, der uns ab und zu besucht, unser Freund ist?«

 

»Ja, natürlich«, entgegnete Manfred lächelnd. »Warum sagst du das – hast du ihn getroffen?«

 

»Nein, andere Leute haben ihn gesehen und geglaubt, daß ich mit der Polizei in Verbindung stehe. Ich hatte Gelegenheit, Mr. Bingley aufzusuchen, und er und seine Spießgesellen sind davon überzeugt, daß ich ein Spitzel oder, mit anderen Worten, ein Detektiv bin. Man nimmt allgemein in diesen Kreisen an, daß ich von der Polizei beauftragt bin, Spielhöllen zu beobachten. Daher auch die Aufmerksamkeit, mit der man mir nachspürt. Auf meinem Rückweg nach der Jermyn Street hatte ich glücklicherweise vergessen, dem Chauffeur die Nummer zu sagen, und er fuhr an den Leuten vorbei, die auf mich warteten, bevor ich ihn anhalten konnte.«

 

Er erzählte Manfred von seinem Besuch im Hospital und von der Unterredung mit Mr. Birn.

 

»Birn und Bingley sind natürlich identisch. Er ist der Besitzer von drei, vielleicht sogar noch mehr Spielhöllen in London. Auf alle Fälle steht er mit seinem Geld hinter diesen Unternehmungen. Ich glaube nicht, daß er sich persönlich in einem dieser Lokale sehen läßt. Das Haus in Mayfair war selbstverständlich heute abend geschlossen, und ich habe mir auch keine Mühe gegeben, es aufzusuchen. Sie waren sehr besorgt, daß Mr. Eder die Polizei benachrichtigen könnte. Aber wie soll ich dir das elegante und schöne Haus in der Bayswater Road beschreiben, wo sich eine Menge reicher und eleganter Leute Abend für Abend versammeln und ihr Glück beim Bakkarat versuchen?«

 

»Wie bist du denn dahin gekommen?«

 

»Man hat mich mitgenommen. Ich speiste im Martaus-Klub zu Abend, erkannte Mr. Welby nach der Beschreibung sofort wieder und begrüßte ihn als einen alten Freund. Er ließ sich wirklich täuschen und glaubte, daß er mich schon früher getroffen hätte, bevor ich nach Argentinien ging, wo ich ein Vermögen erwarb. Natürlich setzte er sich an meinen Tisch und trank einige Liköre mit mir, dann stellte er mich einer sehr schönen jungen Dame vor, die ein ungewöhnlich luxuriöses Auto fährt.«

 

»Du bist nicht erkannt worden?«

 

Leon schüttelte den Kopf.

 

»Der Schnurrbart, den ich mir diesen Abend zugelegt habe, war zu geschickt angebracht«, sagte Leon stolz. »Ich habe mir auch viel Mühe gegeben und jedes Haar einzeln angesetzt. Mehr als zwei Stunden habe ich mit dieser Arbeit zugebracht. Auch du hättest mich wahrscheinlich nicht gleich wiedererkannt. Ich habe mit der schönen Miss Margaret getanzt und –« er zögerte.

 

»Du hast auch mit ihr geflirtet!«

 

Leon zuckte die Schultern.

 

»Mein lieber Manfred, es war notwendig«, erwiderte er feierlich. »Es war ein glücklicher Zufall, daß sich ein Diamantring in meiner Tasche befand, den ich von Südafrika mitgenommen hatte – in Wirklichkeit kaufte ich ihn heute nachmittag in der Regent Street für hundertzwanzig Pfund. Es war wirklich großartig, wie ihr der Ring paßte. Sie war vorher nicht gerade in der besten Stimmung, aber durch dieses geschickte Geschenk erhielt ich dann Zutritt zu der Spielhölle in der Bayswater Road. Sie brachte mich selbst in ihrem Auto dorthin. Und ich muß sagen, daß mein Besuch nicht ohne Gewinn war«, meinte er bescheiden und zog ein dickes Paket Banknoten aus der Tasche.

 

Manfred lachte leise.

 

Leon war der geschickteste Kartenkünstler Europas. Mit seinen langen, feinen Fingern könnte er mit der unglaublichsten Schnelligkeit Karten mischen. Seine Begabung hätte ihm ein Vermögen eingebracht, wenn er ein berufsmäßiger Falschspieler geworden wäre.

 

»Es wurde Bakkarat gespielt, und ein äußerst intelligenter Croupier holte die Karten aus einem kleinen Kasten hervor«, erklärte Leon. »Die benutzten Karten wurden in eine Schale geworfen. Der Stoß in dem Kasten war natürlich so sorgfältig gemischt, daß der Croupier die Reihenfolge genau kannte. Es war verhältnismäßig leicht, ein Dutzend Karten aus der Schale zu nehmen, aus dem Zimmer zu gehen und sie so zu ordnen, daß sie abwechselnd günstig und ungünstig für die Bank waren. Aber sie nun auf die Karten hinaufzupraktizieren, die der Croupier verteilte, das war ein Meisterstück, mein lieber George!«

 

Leon erzählte nicht, daß er die Aufmerksamkeit des Croupiers, der nur selten die Hand von den Karten nahm, und der ganzen Gesellschaft für einen Augenblick abgelenkt hatte, um dieses Kunststück auszuführen. Daß sein Vorhaben geglückt war, bewies das Paket Banknoten, das vor ihm auf dem Tisch lag.

 

Er legte seinen Rock ab und zog seine alte Samtjacke an. Dann ging er im Zimmer auf und ab und steckte die Hände in die Taschen.

 

»Margaret Vane«, sagte er leise. »Sie ist eine der wunderbarsten Frauen, die jemals gelebt haben, George. Schön, begabt – und doch, wenn sie wirklich das ist, als was sie heute abend auftrat, dann ist sie das verabscheuungswürdigste, gemeinste Wesen, das …«

 

Er schüttelte traurig den Kopf.

 

»Spielt sie eine führende Rolle oder ist sie auch nur eine von den Betrogenen?«

 

Leon antwortete nicht gleich.

 

»Ich weiß es selbst nicht«, sagte er dann langsam. Er erzählte von seinem Erlebnis in dem Büro Mr. Birns, von dem Mann mit den roten Haaren und dem Streit der beiden.

 

»Ich zweifle keinen Augenblick, daß die Dame, von der er sprach, Margaret Vane war. Aber das allein würde meinen Glauben an ihre Schuld nicht erschüttert haben. Nachdem ich die Spielhölle in der Bayswater Road verließ, wollte ich erfahren, wo sie wohnte. Sie hatte alle Fragen darüber so schlau und geschickt umgangen, daß ich argwöhnisch wurde. Ich nahm ein Auto und wartete, bis sie herauskam. Als sie dann wegfuhr, folgte ich ihr. Sie hielt vor dem Haus Mr. Birns am Fitzroy Square. Dort wartete ein Mann auf sie, der ihren Wagen in Empfang nahm. Miss Vane ging direkt in das Haus und schloß die Tür selbst auf. Ich folgerte daraus, daß Mr. Birn und sie viel enger befreundet sind, als ich vorher dachte.

 

Ich entschloß mich, zu warten, und ließ den Wagen auf der anderen Seite des Platzes halten. Etwa eine Viertelstunde später kam sie wieder heraus, und zu meiner größten Überraschung hatte sie sich umgezogen. Ich bezahlte den Wagen und folgte ihr zu Fuß. Sie wohnt in der Gower Street.«

 

»Das ist wirklich sehr merkwürdig«, gab Manfred zu. »Da scheint irgend etwas nicht zu stimmen.«

 

»Das glaube ich auch. Ich werde morgen zur Gower Street gehen.«

 

Gonsalez brauchte nur wenig Schlaf. Am nächsten Morgen um zehn Uhr war er schon unterwegs.

 

Er brachte Manfred einen interessanten Bericht.

 

»Ihr wirklicher Name ist Elsie Chaucer, und sie wohnt mit ihrem Vater zusammen, der an beiden Beinen gelähmt ist. Sie haben eine kleine Wohnung, ein Dienstmädchen und eine Krankenschwester, die den Vater pflegt. Man weiß nicht viel von ihnen in der Nachbarschaft. Ich konnte nur so viel herausbekommen, daß es ihnen früher sehr gut ging. Der Vater beschäftigt sich den ganzen Tag mit Karten, er will ein neues System ausfindig machen. Das erklärt wahrscheinlich auch ihre Anmut. Sie empfangen niemals Besuch. Die Hausbesitzerin nimmt an, daß das junge Mädchen eine Schauspielerin ist. Es ist alles recht sonderbar«, sagte Leon nachdenklich. »Die Lösung finden wir natürlich bei Birn.«

 

»Wir werden die Sache schon aufklären, Leon.«

 

»Das denke ich auch. Seine Wohnung bietet keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.«

 

*

 

Mr. Birn war am Abend fast immer zu Hause. Er saß tief vergraben in einem weichen Sessel, rauchte eine lange, teure Zigarre und las die »London Gazette«.

 

Um Mitternacht kam seine Haushälterin, eine ältere Französin, ins Zimmer. Sie führte seinen Haushalt schon lange und hatte sich ihm durch ihre Verschwiegenheit unentbehrlich gemacht.

 

»Alles in Ordnung?« fragte Mr. Birn gleichgültig.

 

»Monsieur, ich wünschte, Sie würden einmal mit Charles sprechen.«

 

Charles war der Chauffeur Mr. Birns, und zwischen ihm und der Haushälterin bestand eine dauernde Fehde.

 

»Was hat er denn wieder angestellt?« Mr. Birn runzelte die Stirn.

 

»Jeden Abend kommt er in die Küche und erhält dort sein Abendessen. Er ist angewiesen, die Tür zu schließen, wenn er fortgeht. Aber als ich um elf Uhr die Tür verriegeln wollte, stand sie offen. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wäre sie offengeblieben, und man hätte uns vielleicht heute nacht umgebracht.«

 

»Ich werde morgen früh mit ihm sprechen«, brummte Mr. Birn. »Haben Sie die Tür zu Mademoiselles Zimmer aufgelassen?«

 

»Jawohl, der Schlüssel steckt.«

 

»Gute Nacht«.« Mr. Birn wandte sich wieder der Lektüre seiner Zeitung zu.

 

Um halb drei wurde die Haustür leise geöffnet, und Mr. Birn hörte leichte Schritte in der Eingangshalle. Er schaute auf die Uhr, steckte sich eine neue Zigarette an, erhob sich und ging mit steifen Schritten zu dem Geldschrank, der in die Wand eingelassen war. Er schloß ihn auf und nahm eine leere Stahlkassette heraus. Diese stellte er auf den Tisch, öffnete sie und setzte sich dann wieder in seinen Stuhl.

 

Gleich darauf klopfte es leicht.

 

»Kommen Sie herein«, sagte Mr. Birn.

 

Die junge Dame, die abwechselnd Vane und Chaucer hieß, trat in das Zimmer. Sie war sehr geschmackvoll gekleidet. In mancher Beziehung hob das schlichte Kostüm ihre ungewöhnliche Schönheit noch mehr. Mr. Birn betrachtete sie mit Genugtuung.

 

»Nehmen Sie Platz, Miss Chaucer.« Er streckte seine Hand nach dem kleinen Leinenbeutel aus, den sie in der Hand trug, öffnete ihn und nahm eine Perlenkette heraus. Er ließ sie durch die Finger gleiten und prüfte sie dann sehr genau.

 

»Ich habe kein Stück davon gestohlen«, sagte sie verächtlich.

 

»Das ist sehr leicht möglich, aber es sind schon die merkwürdigsten Dinge vorgekommen.«

 

Dann nahm er die Diamantnadel, die Ringe mit den großen Brillanten und die Smaragdarmbänder in die Hand und betrachtete alles genau und eingehend, bevor sie in den Beutel zurückwanderten, den er in die Stahlkassette legte.

 

Er sprach nicht, bis er den Kasten wieder in den Safe zurückgestellt hatte. »Nun, wie ist es heute gegangen?«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Ich interessiere mich nicht für Glücksspiele«, sagte sie kurz.

 

Mr. Birn lachte.

 

»Sie sind wirklich töricht«, erwiderte er ganz offen.

 

»Ich wünschte, man könnte mir nicht mehr vorwerfen«, entgegnete Elsie Chaucer bitter. »Sie brauchen mich doch nicht mehr, Mr. Birn?«

 

»Setzen Sie sich doch«, befahl er. »Wem haben Sie heute abend Gesellschaft geleistet?«

 

Sie zögerte einen Augenblick.

 

»Dem Herrn, den Mr. Welby mir gestern abend vorstellte.«

 

»Ach so, dem Südamerikaner?« Mr. Birn machte ein langes Gesicht. »Von dem haben wir nicht viel Nutzen, das wissen Sie doch? Fast viertausend Pfund haben wir an ihn verloren!«

 

»Abzüglich des Diamantrings.«

 

»Sie meinen den Ring, den er Ihnen geschenkt hat? Nun ja, der ist vielleicht hundert Pfund wert, und ich will froh sein, wenn ich sechzig dafür bekomme«, sagte Mr. Birn achselzuckend. »Sie können ihn übrigens behalten, wenn Sie wollen.«

 

»Nein, danke«, erwiderte sie ruhig. »Ich brauche solche Geschenke nicht.«

 

»Kommen Sie einmal her«, sagte Mr. Birn plötzlich.

 

Widerstrebend erhob sie sich, ging um den Tisch herum und stand nun vor ihm.

 

Er stand auf und nahm ihre Hand in die seine.

 

»Elsie, ich habe Sie wirklich gern und bin immer Ihr guter Freund gewesen, wie Sie wissen. Wenn Sie mich nicht gehabt hätten, was wäre dann aus Ihrem Vater geworden? Man hätte ihn an den Galgen gehängt! Das wäre doch schrecklich gewesen, was?«

 

Sie antwortete nicht und löste nur behutsam ihre Hand aus der seinen.

 

»Sie hätten es wirklich nicht nötig, diese Schmuckstücke und diese schönen Kleider jeden Abend auszuziehen, wenn Sie vernünftig wären«, fuhr er fort, »und –«

 

»Glücklicherweise bin ich vernünftig, wenn Sie darunter einen klaren Verstand verstehen. Und jetzt möchte ich gehen, wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Birn. Ich bin sehr müde.«

 

Er ging wieder zu dem Geldschrank, schloß ihn umständlich auf und nahm ein längliches Paket heraus, das in braunes Papier eingeschlagen, sorgsam verschnürt und versiegelt war.

 

»Das ist eine Brillantenhalskette – sie ist achttausend Pfund wert. Ich werde sie morgen in meinem Safe auf der Bank deponieren – das heißt, wenn Sie –«

 

»Was meinen Sie?« fragte Elsie Chaucer ruhig.

 

»Wenn Sie die Kette gern haben wollen, trage ich sie nicht auf die Bank, sondern schenke sie Ihnen. Ich habe nun einmal eine Schwäche für schöne Frauen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ist es Ihnen noch nie aufgefallen, Mr. Birn, daß ich schon viele Halsketten hätte haben können, wenn ich gewollt hätte? Nein, ich danke Ihnen. Ich sehne mich nach dem Ende meines Dienstverhältnisses.«

 

»Und wenn ich Sie nun nicht freilasse?« sagte Mr. Birn ärgerlich, als er das Paket wieder in den Geldschrank zurücklegte und die Tür sorgfältig abschloß. »Nehmen Sie einmal an, ich brauchte Sie noch für weitere drei Jahre? Was meinen Sie denn dazu? Die Tat Ihres Vaters ist in keiner Weise verjährt, er kann jeden Augenblick verhaftet werden. Kein Mensch darf einen anderen umbringen, selbst wenn der andere ein einfacher Croupier ist. In England steht noch immer der Strang darauf.«

 

»Ich habe für den Fehltritt meines Vaters schwer genug bezahlt«, erwiderte sie leise. »Sie wissen ja gar nicht, wie ich dieses Leben hasse, Mr. Birn. Ich fühle mich elender als die verkommenste Frau auf der Welt. Ich muß mein Leben damit zubringen, Männer ihrem Ruin entgegenzulocken! Ich wünschte bei Gott, ich hätte niemals diesen Vertrag mit Ihnen gemacht. Manchmal ist mir schon der Gedanke gekommen, meinem Vater offen zu sagen, wieviel ich für seine Sicherheit zahlen muß, und ihn dann entscheiden zu lassen, ob mein Opfer das wert ist.«

 

Mr. Birn sah sie betroffen an.

 

»Sie werden keinen solchen Unsinn machen«, sagte er dann scharf. »Ich habe doch eben nur gescherzt, als ich davon sprach, daß Sie mir noch länger helfen sollten. Nun gehen Sie aber besser nach Hause, meine Liebe, und legen sich schlafen.«

 

Er begleitete sie die Treppe hinunter bis zur Haustür und schaute ihr noch nach, bis sie in der dunklen Straße verschwand. Dann schloß er die Tür fest zu und ging in sein Zimmer zurück. Er trank das halbe Glas Whisky, das er auf dem Tisch hatte stehen lassen, auf einen Zug aus, aber sein Gesicht verzog sich dabei.

 

»Das Zeug schmeckt aber sonderbar«, sagte er, ging zwei Schritte auf die Tür zu und fiel plötzlich bewußtlos nieder.

 

Während Mr. Birn Elsie Chaucer begleitet hatte, war ein Fremder in das Zimmer geschlüpft. Er trat jetzt hinter den Fenstervorhängen hervor, neigte sich über den Mann und öffnete ihm den Kragen. Dann ging er leise in den schwach erleuchteten Gang und winkte jemand. Manfred kam geräuschlos herein – er trug Gummiüberschuhe.

 

Er blickte auf Mr. Birn und dann auf die Überreste in dem Whiskyglas. »Du hast ihm wohl Buthylchlorid gegeben?«

 

»Ganz recht«, bestätigte Leon sachlich, »den ›Knockout-Tropfen‹, der in Verbrecherkreisen so beliebt ist.«

 

Er durchsuchte die Taschen Mr. Birns, nahm den Schlüsselbund heraus, öffnete den Safe und trug das versiegelte Paket zum Tisch. Dann sah er nachdenklich auf den Bewußtlosen.

 

»Er wird nur fünf Minuten unter der vollen Wirkung des Schlafmittels stehen, aber ich denke, das genügt!«

 

»Hast du dir eigentlich überlegt, welche Folgen derartige Dämmerzustände unter dem Einfluß von Buthyl haben können?« fragte Manfred. »Ich habe dich beobachtet, wie du das Hyocin mit Morphium gemischt hast, bevor wir fortgingen.«

 

»Ich habe die Quantitäten nicht genau gemischt«, erwiderte Gonsalez sorglos. »Und wenn er tatsächlich abkratzte, würde ich nicht darum weinen. Du mußt ihm nach einer halben Stunde noch eine Spritze geben, George, dann werde ich wieder hier sein.«

 

Er nahm einen kleinen, schwarzen Kasten aus der Tasche und öffnete ihn. Die Injektionsspritze war schon gefüllt. Sachkundig rollte er den Ärmel des Mannes zurück und machte die Injektion.

 

Mr. Birn wachte am nächsten Morgen mit fürchterlichen Kopfschmerzen auf.

 

Er konnte sich nicht darauf besinnen, wie er zu Bett gekommen war, aber offensichtlich hatte er sich selbst entkleidet, denn er hatte seinen violettseidenen Pyjama an. Er klingelte und erhob sich. Obgleich der ganze Raum sich um ihn zu drehen schien, konnte er sich doch auf den Füßen halten.

 

Seine Haushälterin trat ein.

 

»Was ist eigentlich gestern abend mit mir passiert?« fragte er.

 

Sie sah ihn verblüfft an.

 

»Nichts – als ich mich von Ihnen verabschiedete, saßen Sie in der Bibliothek im Sessel.«

 

»Dann ist es dieser ganz abscheuliche Whisky«, brummte er.

 

Ein kaltes Bad und eine Tasse Tee milderten die entsetzlichen Schmerzen, aber er war noch sehr schwach auf den Beinen, als er in die Bibliothek ging.

 

Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und ein furchtbarer Schrecken erfaßte ihn. Wenn man ihm ein Schlafmittel in den Whisky gegossen hatte! Er konnte sich zwar nicht vorstellen, wann das möglich gewesen wäre. Aber wenn jemand einen Einbruch verübt hatte …!

 

Er öffnete den Geldschrank und atmete erleichtert auf.

 

Das Päckchen lag noch an seiner Stelle. Dann war es also doch dieser verdammte Whisky. Er frühstückte nicht, bestellte seinen Wagen und fuhr direkt zur Bank.

 

Als er später in sein Büro kam, fand er seinen jungen Angestellten in einem Zustand höchster Verwirrung und Aufregung

 

»Vorige Nacht müssen Einbrecher hier gewesen sein, Mr. Birn!«

 

»Einbrecher?« wiederholte Mr. Birn entsetzt. Aber dann lachte er. »Ach, die können ja doch nicht viel holen. Aber wie kommen Sie zu der Annahme?«

 

»Ich will darauf schwören, daß jemand hier war. Der Geldschrank stand offen, als ich heute morgen hierherkam, und eins der Geschäftsbücher war herausgenommen – es lag auf Ihrem Tisch.«

 

Birn lächelte verschmitzt.

 

»Nun, ich wünsche den Herren Einbrechern viel Glück.«

 

Trotzdem war er betroffen und sah alle seine Papiere sorgfältig durch, ob eines der wichtigen Dokumente fehlte. Alle Schuldscheine, die er besaß, befanden sich im Gewahrsam der Bank, in derselben großen Kassette, die nun auch das kostbare Halsband barg. Es war ihm zur Bezahlung einer Schuld übergeben worden.

 

Kurz vor Tischzeit kam der Clerk wieder in sein Büro.

 

»Der bewußte Herr ist wieder da«, sagte er flüsternd.

 

»Wen meinen Sie denn?« fragte Mr. Birn mürrisch.

 

»Sie wissen doch, der Herr von der Jermyn Street, der die Schecks von Mr. Eder gesperrt hat.«

 

»Lassen Sie ihn herein.«

 

»Nun, mein Herr«, begann er liebenswürdig, als Leon hereinkam, »haben Sie sich die Sache überlegt?«

 

»Ja – ich kann Sie doch wohl allein sprechen?«

 

Birn gab seinem Angestellten einen Wink, den Raum zu verlassen.

 

»Ich bin heute gekommen, um alle Schulden zu begleichen, zum Beispiel die Schuld eines Mr. Chaucer.«

 

Mr. Birn starrte ihn an.

 

»Wirklich, ein liebenswürdiger Herr, dieser Chaucer! Ich habe ihn heute morgen besucht. Vor einiger Zeit hat er einen solchen Nervenschock erlitten, daß ihm beide Beine gelähmt wurden. Er konnte infolgedessen seine Wohnung seit langer Zeit nicht mehr verlassen.«

 

»Sie erzählen mir da Zeug, das mich nicht im geringsten interessiert«, sagte Mr. Birn grob.

 

»Der arme Mensch steht unter dem Eindruck, daß er einen rothaarigen Croupier totgeschlagen hat, der in Ihren Diensten stand: Offenbar hat er gespielt und den Kopf verloren, als er sah, daß Ihr Croupier seine letzten Banknoten einstrich.«

 

»Mein Croupier!« entgegnete Mr. Birn mit meisterhaft geheuchelter Entrüstung. »Was meinen Sie denn eigentlich? Ich habe überhaupt keine solchen Angestellten.«

 

»Er schlug ihn mit einem Geldrechen über den Kopf. Am nächsten Morgen sind Sie zu Mr. Chaucer gegangen und haben ihm vorgelogen, daß Ihr Croupier tot sei. Damit versuchten Sie Geld von ihm zu erpressen. Sie erfuhren dann aber, daß er ruiniert war und nichts mehr zahlen konnte. Aber er hatte eine schöne Tochter, und Sie kamen auf die Idee, daß sie Ihnen bei Ihren Plänen behilflich sein könnte. So hatten Sie eine kleine Unterredung mit ihr, und sie willigte ein, in Ihre Dienste zu treten, um ihren Vater vor dem Ruin und dem Zuchthaus zu retten.«

 

»Sie erzählen mir hier ein hübsches Märchen«, sagte Birn, aber er war kreidebleich geworden, und seine Hand, mit der er die Zigarre aus dem Mund nahm, zitterte bedenklich.

 

»Um Ihren Plan zu fördern«, fuhr Gonsalez fort, »haben Sie dann noch eine Annonce unter den Todesanzeigen der ›Times‹ erscheinen lassen, und ebenso haben Sie einer kleinen Zeitung einen großaufgemachten Bericht über das Begräbnis von Mr. Jinkins eingesandt. Das haben Sie nur getan, um Mr. Chaucer und seine Tochter vollständig einzuschüchtern und in die Hand zu bekommen.«

 

»Sie faseln doch nur dummes Zeug«, murmelte Mr. Birn und versuchte zu lächeln.

 

»Ich habe heute morgen Mr. Chaucer davon überzeugen können, daß Mr. Jinkins lebt, sich der besten Gesundheit erfreut und jetzt in Brighton eine Spielhölle leitet. Das ist natürlich eine Filiale Ihrer vielen Unternehmungen. Nebenbei mochte ich Ihnen noch sagen, daß Sie Miss Elsie Chaucer nicht wiedersehen werden.«

 

Mr. Birn atmete schwer.

 

»Sie wissen ja verteufelt viel zu berichten«, begann er wütend, aber als er Leons Blick begegnete, wurde er plötzlich still.

 

»Birn«, sagte Gonsalez sanft, »ich werde Sie ruinieren – ich werde Ihnen den letzten Pfennig des Geldes abnehmen, das Sie den törichten Besuchern Ihrer Spielhöllen gestohlen haben.«

 

»Versuchen Sie das nur«, erwiderte Birn unsicher. »Es gibt noch ein Gesetz in diesem Lande! Gehen Sie doch hin und berauben Sie die Bank! Da werden Sie ja sehen, wo Sie hinkommen.« Er lachte hämisch. »Auf meiner Bank habe ich Werte von etwa zweihunderttausend Pfund – gehen Sie doch hin, mein schlauer Freund, und bitten Sie den Bankdirektor, Ihnen mein Depot auszuhändigen. Die Papiere liegen in Safe Nr. 65«, fügte er höhnisch hinzu. »Das ist die einzige Art, wie Sie mich ruinieren können.«

 

Leon erhob sich achselzuckend.

 

»Möglicherweise irre ich mich. Vielleicht können Sie sich nach alledem doch noch Ihrer unrechtmäßigen Verdienste erfreuen.«

 

»Darauf können Sie Ihren Kopf wetten.« Mr. Birn zündete seine Zigarre wieder an.

 

Aber an demselben Nachmittag erhielt der Spielhöllenbesitzer eine dringende Nachricht von seiner Bank, und die Unterredung, die er mit Leon Gonsalez am Vormittag gehabt hatte, fiel ihm wieder ein. Auf dem schnellsten Weg fuhr er zu der Bank.

 

»Ich weiß nicht, was mit Ihrem Safe los ist«, erklärte ihm der Geschäftsführer. »Einer meiner Clerks bemerkte einen sonderbaren Geruch in der Stahlkammer. Wir haben natürlich die Sache sofort untersucht und dabei entdeckt, daß aus dem Schlüsselloch Ihres Safes Rauchschwaden herauskamen.«

 

»Warum haben Sie ihn nicht sofort geöffnet?« schrie Birn entsetzt und suchte zitternd nach seinen Schlüsseln.

 

»Weil ich keinen Schlüssel habe. Das müssen Sie doch wissen.«

 

Mr. Birn öffnete den Safe hastig. Eine dicke, gelbe Rauchwolke kam daraus hervor, die ihn beinahe bewußtlos machte … Von all seinen Bankpapieren und Schuldscheinen war nichts übriggeblieben als ein Häufchen stinkender, schwarzer Asche, eine flache Glasflasche und ein paar beschmutzte Brillanten …

 

*

 

Der Detektiv, der auf telefonischen Anruf von Scotland Yard herbeigeeilt war, schüttelte den Kopf.

 

»Es sieht so aus, als ob Sie aus Versehen ein Paket hineingelegt haben, das eine scharf ätzende Säure enthielt. Unsere chemische Abteilung wird schon herausbekommen, welche Säure es war. Entweder ist sie herausgeflossen, oder das Päckchen wurde durch eine Explosion gesprengt.«

 

»Das kann nicht stimmen«, jammerte Mr. Birn. »Das einzige Päckchen, das dort lag, enthielt ein Brillantenhalsband.«

 

»Die Überbleibsel haben wir gefunden«, erwiderte der Beamte. »Sind Sie denn sicher, daß niemand an das Päckchen kommen und diese vernichtende Säure hineinschieben konnte? Auf diese Weise ließe sich die Sache leicht erklären. Ein flaches Fläschchen, wie wir es gefunden haben – der Verschluß aus einer Masse, die bald von der Säure zerfressen wurde –, mehr brauchen wir doch nicht. Hat vielleicht jemand das Päckchen vorher geöffnet und die Flasche hineingesteckt?«

 

»Das ist ganz unmöglich!« stöhnte Mr. Birn.

 

Er saß da, hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und weinte um sein verlorenes Vermögen.

 

Kapitel 7

 

7

 

Der Mann, der Musik liebte

 

Die hervorstechendsten Eigenschaften des Mr. Homer Lynne waren weitgehende Sympathie und eine unüberwindliche Vorliebe für Tschaikowskys Konzertouvertüre »1812«. Er liebte zwar Musik im allgemeinen, aber seine Nachbarn in Pennerthon Road in Hampstead bezeugten mit einer gewissen Bitterkeit, daß er dieser großen Schlachtkomposition vor allem anderen den Vorzug gab. Zuerst hatte es private Auseinandersetzungen mit ihm gegeben, dann war er wegen öffentlicher Ruhestörung vor das Polizeirevier zitiert worden. Als auch das nichts nützte, schrieben die Rechtsanwälte der benachbarten Parteien scharfe Briefe an ihn.

 

Es war ebenso sonderbar als bedauernswert, daß dieser sympathische und liebenswürdige Herr sich nicht im geringsten um die Wünsche und das Wohlergehen seiner Nachbarn kümmerte. In seinem Schlafzimmer stand das größte und lauteste Grammophon, das Hampstead jemals gesehen hatte. Der teuere Apparat war außerdem mit einem automatischen Plattenwechsler versehen, so daß der Spektakel unentwegt von neuem begann. Aber das schlimmste war, daß Mr. Lynne sich die Nachtstunden zu seinen Konzerten wählte.

 

Auf dem Polizeirevier hatte er angegeben, daß Grammophonmusik das einzige Mittel sei, seine aufgeregten Nerven so weit zu beruhigen, daß er Schlaf finden könne. Und nur sein Lieblingsstück »1812« sei laut genug, um diese Wirkung zu erzielen.

 

Daß Mr. Lynne sonst sehr mitfühlend war, konnten zum mindesten drei betrübte Elternpaare bezeugen. Er war ein Theateragent, der hauptsächlich für Südamerika arbeitete; seine Spezialität war die Zusammenstellung von »Truppen« für zwanzig größere oder kleinere Theater. Die großen Künstler, die auf seine Engagements hin durch Argentinien, Mexiko, Chile und Brasilien gereist waren, lobten ihn über die Maßen. Sie waren ausgezeichnet behandelt worden und hatten überall das größte Entgegenkommen bei den Leuten gefunden, für die Mr. Lynne sie engagiert hatte. Man nahm an, und es war auch eine Tatsache, daß er selbst finanziell an einer großen Anzahl von Theatern und Varietes interessiert war. Darin konnte man auch zum Teil die Erklärung für die Aufmerksamkeit finden, die den bekannten Künstlern auf ihren Tourneen zuteil wurde.

 

Aber er schickte auch kleinere Artisten auf Reisen, unbedeutende Leute, deren Namen niemals auf den Programmen englischer Aufführungen zu finden waren. Sie wurden je nach ihrer äußeren Erscheinung und nach der Art ihres Wesens gewählt. Auch spielte dabei die Frage eine große Rolle, ob sie irgendwelche Verwandten besaßen oder sonst gebunden waren.

 

»Es ist ein entzückendes Land«, pflegte Mr. Homer Lynne zu sagen.

 

Er machte einen würdigen, vertrauenerweckenden Eindruck, verfügte über gute, gefällige Manieren und war glattrasiert mit Ausnahme eines kleinen grauen Backenbartes. Wenn man ihn nicht genauer kannte, hätte man ihn für einen erfolgreichen Rechtsanwalt mit einer Praxis in Kirchenangelegenheiten halten können.

 

»Es ist wirklich ein außerordentlich sympathisches Land, aber ich weiß nicht, ob ich ein junges Mädchen wie Sie dorthin schicken kann. Natürlich bekommen Sie ein sehr gutes Gehalt, und das Leben ist angenehm dort – haben Sie eigentlich Verwandte?«

 

Wenn die junge Dame dann etwas von einem Bruder oder einem Vater erzählte, oder auch nur von einer Mutter oder einer unverheirateten Tante sprach, die sich um sie kümmerte, so nickte Mr. Lynne und versprach, am nächsten Tag zu schreiben. Dieses Versprechen erfüllte er auch unweigerlich und bedauerte, mitteilen zu müssen, daß er die Dame für den Posten für nicht geeignet halte – und damit sagte er die Wahrheit. Wenn sie aber vollständig allein stand und keine Verwandten oder Freunde besaß, die ihm später durch Nachforschungen die Hölle heiß machten, dann konnte sie sicher sein, von ihm ein Dampferbillett erster Klasse nach Südamerika zu erhalten; aber nicht für eine Tournee, wie er sie für große Künstler arrangierte. Auch sollten die Damen nicht an den großen Bühnen auftreten, wo man sie leicht finden konnte. Er schickte sie zu kleineren Vergnügungsetablissements, die weniger den Charakter eines Theaters, aber mehr den eines Kabaretts hatten.

 

Im Laufe seiner Tätigkeit hatten ihn drei junge Mädchen angelogen, als sie sich um eine Stellung bei ihm bemühten. Sie erzählten ihm, daß sie keine Verwandten hätten, aber nach einiger Zeit erschien ein Bruder und erkundigte sich nach dem Verbleib seiner Schwester.

 

An einem herrlichen Junimorgen erlebte Mr. Lynne einen ähnlichen Fall. Er saß in .seinem schönen Büro, hatte die Hände gefaltet und schaute ernst auf einen nervösen, kleinen, jüdischen Herrn, der an der anderen Seite des großen Mahagonischreibtisches Platz genommen hatte und seinen großen, breitkrempigen Hut im Schoß hielt.

 

»Rosie Goldstein«, sagte Mr. Lynne nachdenklich. »Ja, ich glaube, ich kann mich auf den Namen besinnen.«

 

Er klingelte, und ein junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe erschien in der Tür.

 

»Bringen Sie mir mein Engagementsbuch, Mr. Mandez.«

 

»Sie müssen wissen, Mr. Lynne«, sprach der Besucher auf den Agenten ein, »daß ich nicht die geringste Kenntnis davon hatte, daß meine Tochter Rosie so weit über See gehen wollte, bis eine ihrer Freundinnen mir sagte, sie wäre zu Ihnen gegangen und hätte hier ein Engagement für Südamerika erhalten.«

 

»Ich verstehe vollkommen. Sie hat Ihnen also nicht gesagt, daß sie fortgehen wollte?«

 

»Nein.«

 

Der junge Mann kam mit einem großen Buch zurück. Mr. Lynne wandte langsam die einzelnen Blätter um und fuhr mit dem Finger die Liste der Namen entlang.

 

»Hier haben wir sie schon«, sagte er dann. »Rosie Goldstein. Ja, ich besinne mich jetzt ganz genau auf die junge Dame. Aber sie erklärte mir, sie sei eine Waise.«

 

Goldstein nickte.

 

»Das hat sie wohl getan, weil sie fürchtete, ich würde sie nicht fortreisen lassen«, sagte er dann mit einem Seufzer der Erleichterung. »Aber solange ich weiß, wo sie ist, mache ich mir nicht soviel Sorgen. Können Sie mir ihre augenblickliche Adresse sagen?«

 

Lynne schloß das Buch sorgfältig und sah seinen Besucher liebenswürdig an.

 

»Ich habe ihre gegenwärtige Adresse nicht«, entgegnete er freundlich. »Aber wenn Sie ihr einen Brief schreiben wollen, so adressieren Sie nur bitte an mich. Ich werde ihn dann zu unseren Agenten nach Buenos Aires senden. Die werden natürlich wissen, wo sie sich augenblicklich aufhält. Sie müssen bedenken, daß ich mit vielen größeren und kleineren Theatern in Verbindung stehe und daß ich mich nicht darum kümmern kann, wo die einzelnen Künstler zur Zeit auftreten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie augenblicklich weiter im Lande ist.«

 

»Ja, das begreife ich vollkommen«, sagte Mr. Goldstein dankbar.

 

»Sie hätte Ihnen aber unter allen Umständen sagen müssen, was sie vorhatte«, meinte Mr. Lynne und schüttelte den Kopf.

 

In Wirklichkeit meinte er ja, daß sie es ihm hätte sagen müssen.

 

»Aber auf alle Fälle werde ich sehen, was wir in dieser Angelegenheit tun können.«

 

Er reichte Mr. Goldstein seine kleine, fleischige Hand, und Mr. Mandez begleitete den Herrn bis zur Tür.

 

Drei Minuten später saß Mr. Lynne einer hübschen jungen Dame gegenüber, die schon einige Bühnenpraxis besaß. Sie war mit einer Truppe, die in Revuen auftrat, auf Reisen gewesen. Als sie alles über ihre bisherige kurze Theaterlaufbahn erzählt hatte, kam Mr. Lynne zu der entscheidenden Frage.

 

»Was sagen denn Ihr Vater und Ihre Mutter dazu, daß Sie so weit in die Welt hinausgehen wollen?« Er schaute sie mit seinem wohlwollenden Lächeln an.

 

»Ich habe keine Eltern mehr.«

 

Mr. Lynne sah, daß sie sehr ernst geworden war und daß ihre Lippen zitterten. Daraus schloß er, daß sie erst kürzlich einen schweren Verlust erlitten haben mußte.

 

»Aber Sie haben doch sicher noch Geschwister oder nahe Verwandte?«

 

»Nein, auch nicht. Ich stehe ganz allein in der Welt, Mr. Lynne. Sie werden mich doch hoffentlich engagieren?« fragte sie bittend.

 

Natürlich war Mr. Lynne entschlossen, sie zu engagieren. In Wirklichkeit brachten ja die kleineren Artisten, die er nach Südamerika schickte, unendlich viel mehr ein als die großen Nummern, deren Namen in London und in der ganzen Welt bekannt waren.

 

»Ich werde Ihnen morgen meinen Bescheid zukommen lassen«, sagte er wie gewöhnlich.

 

»Sie haben doch nichts gegen mich? Bitte engagieren Sie mich doch.«

 

Er lächelte.

 

»Nun, dann will ich Ihnen jetzt schon zusagen, Miss Hacker. Sie brauchen sich deswegen keine Sorge zu machen. Ich werde Ihnen den Kontrakt zuschicken – aber es ist eigentlich besser, Sie kommen persönlich her und unterzeichnen hier.«

 

Das Mädchen eilte mit beflügelten Schritten die Treppe hinunter zum Leicester Square. Ihr Herz jubilierte. Sie hatte ein Engagement in Aussicht, und ihr Honorar war dreimal größer als das größte Gehalt, das sie jemals früher erhalten hatte! Am liebsten hätte sie allen Leuten, denen sie begegnete, von ihrem Glück mitgeteilt. Und doch hätte sie sich nicht im Traum einfallen lassen, daß sie schon ein paar Augenblicke später einem vollständig fremden Menschen all ihre frohen Hoffnungen erzählen würde.

 

Er sah hübsch aus, war tadellos gekleidet und machte den Eindruck eines Ausländers. Sein Gesicht war so freundlich und gütig, daß Kinder sofort Zutrauen zu ihm fassen konnten – eine Eigenschaft, die kein Psychologe bisher analysiert hat.

 

Sie machte seine Bekanntschaft buchstäblich durch einen Zufall. Er stand am Fuß der Treppe, als sie herunterkam. In ihrer großen Freude verfehlte sie eine Stufe und fiel ihm in die Arme.

 

»Entschuldigen Sie, bitte, es tut mir sehr leid«, sagte sie lächelnd.

 

»Sie sehen aber gerade nicht sehr traurig aus – im Gegenteil, Sie sehen wie eine junge Dame aus, die eben ein sehr vorteilhaftes Engagement nach Übersee erhalten hat.«

 

Sie starrte ihn an. »Woher wissen Sie denn das?«

 

»Das weiß ich, weil – nun gut, ich weiß es eben.« Er lachte, gab scheinbar seine Absicht auf, nach oben zu gehen, wandte sich um und ging mit ihr auf die Straße.

 

»Ja, Sie haben recht. Ich werde nach Südamerika gehen. Es ist eine außerordentliche Gelegenheit für mich. Gehören Sie auch zur Bühne?«

 

»Nein, ich bin kein Schauspieler und habe auch sonst nichts mit Theater zu tun. Aber ich kenne die Länder sehr gut, in die Sie gehen wollen. Möchten Sie gerne etwas über Argentinien hören?«

 

Sie sah ihn etwas erstaunt an.

 

»Ach ja«, sagte sie zögernd, »aber ich –«

 

»Ich möchte eine Tasse Tee trinken, kommen Sie doch bitte mit«, forderte Leon sie liebenswürdig auf.

 

Obgleich sie weder den Wunsch hatte, Tee zu trinken, noch sich mit ihm zu unterhalten, übte seine Persönlichkeit doch eine solche Anziehungskraft auf sie aus, daß sie die Einladung annahm. In demselben Augenblick unterhielt sich Mr. Lynne mit seinem dunkelhäutigen Angestellten.

 

»Fonso, sie ist wirklich eine ausgesuchte Schönheit.« Dabei küßte der sonst so nüchterne und ruhige Mann ekstatisch die Spitzen seiner Finger.

 

Es war das drittemal, daß Leon Gonsalez das elegante Büro Mr. Homer Lynnes in der Panton Street besuchte.

 

Früher bestand einmal eine Organisation, die man »Die Vier Gerechten« nannte. Sie hatten sich zusammengefunden zu dem Zweck, Gerechtigkeit an denen auszuüben, die das Gesetz verschont oder übersehen hatte, und der Ruf ihrer kühnen Taten war in die ganze Welt gedrungen. Einer von ihnen war allerdings schon gestorben, und von den dreien, die noch übrigblieben, hatte sich Poiccart, den man früher das Gehirn der vier nannte, zu einem stillen Leben nach Sevilla zurückgezogen. Vor kurzem hatte er einen Brief von einem Landsmann aus Rio de Janeiro erhalten, der allerdings nicht wußte, daß er zu den Vier Gerechten gehörte. Dieser schrieb ohne besondere Absicht, aber mit großer Erbitterung über gewisse Vorkommnisse. Poiccart wechselte verschiedene Briefe mit ihm und erfuhr dadurch, daß die meisten der hübschen jungen Engländerinnen, die in den obskuren Tanzhallen kleiner Städte aufgetaucht waren, durch die Agentur des ehrenwerten Mr. Lynne engagiert worden waren. Poiccart hatte seinen beiden Freunden in London darüber berichtet.

 

»O ja, es ist ein ausgezeichnetes Land«, sagte Leon Gonsalez und rührte nachdenklich seinen Tee um. »Sie sind natürlich sehr zufrieden mit Ihrem Engagement?«

 

»Es ist einfach wundervoll. Denken Sie, ich werde wöchentlich zwölf Pfund erhalten, außerdem Wohnung und Essen. Ich kann fast das ganze Geld sparen.«

 

»Wissen Sie eigentlich schon, wo sie auftreten werden?«

 

»Ich kenne doch das Land nicht«, antwortete sie lächelnd. »Es ist sehr beschämend für mich, aber ich kenne nicht eine einzige Stadt in Argentinien.«

 

»Es gibt auch nur wenig Leute, die darüber Bescheid wissen. Aber Sie haben wahrscheinlich schon einmal etwas von Brasilien gehört?«

 

»O ja, das ist ein kleines Land in Südamerika. Das weiß ich.«

 

»Wo die Nüsse herkommen«, scherzte Leon. »Nein, da irren Sie. Es ist kein kleines Land, es ist so breit wie von hier bis zur Mitte von Persien und so groß wie von Brighton bis zum Äquator. Haben Sie jetzt ungefähr einen Begriff von der Größe Brasiliens?«

 

Sie sah ihn staunend an.

 

Leon fuhr fort, ihr zu erzählen, aber er beschränkte sich auf Nachrichten über das Klima dieser Länder. Nicht ein einziges Mal erwähnte er ihren Kontrakt. Die eigentliche Absicht seines Zusammenseins mit ihr kam ans Tageslicht wenn sie auch nichts davon merkte –, als er sich von ihr verabschiedete!

 

»Ich werde Ihnen ein Buch schicken, Miss Hacker, das Sie sicherlich interessieren wird, wenn Sie nach Argentinien gehen. Sie finden darin alle Informationen, die Sie brauchen.«

 

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen«, sagte sie dankbar. »Darf ich Ihnen meine Adresse geben, damit das Buch auch ankommt?«

 

Weiter wollte Leon nichts erreichen. Er steckte den kleinen Zettel, auf den sie sie geschrieben hatte, in seine Brieftasche, und sie trennten sich.

 

George Manfred, der sich einen kleinen Zweisitzer gekauft hatte, wartete vor der Nationalgalerie auf ihn, und sie fuhren nach Kensington Gardens. Die Restaurationsräume dort waren zu dieser Zeit sehr wenig besucht. Sie ließen sich an einem einsamen Tisch nieder, und Leon erzählte von dem Erfolg seines Besuches.

 

»Es war außerordentlich günstig, daß ich eins seiner Opfer getroffen und kennengelernt habe.«

 

»Hast du denn Lynne selbst gesehen?«

 

Leon nickte.

 

»Nachdem ich mich von dem Mädchen verabschiedet hatte, besuchte ich ihn noch. Es war recht schwer, an diesem mexikanischen Herrn vorbeizukommen – ich glaube, er heißt Mandez –, aber schließlich saß ich doch Lynne gegenüber. Ich spiele wirklich nicht Banjo«, fuhr er lachend fort, »ich gebe dir in allem Ernst die feierliche Erklärung, mein lieber George. Das Banjo ist für mich ein schreckliches Instrument –«

 

»Du willst also mit anderen Worten sagen, daß du dich als einen Banjosolisten vorgestellt hast, der um ein Engagement in Südamerika bat?«

 

»Du hast es erraten. Und ich brauche dir wohl kaum zu sagen, daß er mich nicht nahm. Aber der Mann ist tatsächlich interessant.«

 

»Für dich sind alle Menschen interessant, Leon«, sagte Manfred lachend, stellte seine Kaffeetasse beiseite und steckte sich eine lange, dünne Zigarre an.

 

»Ich hätte dem Kerl am liebsten gesagt, daß er seiner ganzen Veranlagung nach eigentlich ein richtiger Brandstifter ist. Er hat das Gesicht eines Mordbrenners – Lombroso hat diesen Typ am genauesten beschrieben. Eine fleckenlose, zarte Haut, ein plumpes, kindliches Gesicht, außergewöhnlich feine Haare. Man kann solche Leute unter Tausenden herausfinden.«

 

Er strich sich das Kinn und runzelte die Stirn.

 

»Diese Kerle leben von der Zerstörung menschlichen Glücks und profitieren davon. Ich glaube, dieser Menschentyp ist zu allen Verbrechen fähig. Ich würde gerne einmal mit unserem Freund Poiccart hierüber sprechen.«

 

»Kann er nicht gesetzlich belangt werden?« fragte Manfred. »Können wir ihn nicht einfach anzeigen?«

 

»Nein, wir haben durchaus keine Handhabe gegen ihn. Der Mann ist wirklich ein Agent. Die Namen von ausgezeichneten Künstlern stehen in seinen Engagementsbüchern, und sie geben ihm alle das beste Zeugnis. Die Lüge, die nur halb eine Lüge ist, kann man leichter entdecken als einen Verbrecher, der nur halb ein Verbrecher ist. Wenn der Hauptkassierer der Bank von England zum Falschmünzer würde, so würde er der erfolgreichste Fälscher der Welt werden. Dieser Mr. Lynne hat sich nach allen Seiten hin gesichert. Ich habe vor einigen Tagen mit einem jüdischen Herrn gesprochen, einem kleinen, lebhaften Mann namens Goldstein, dessen Tochter vor sieben oder acht Monaten abgereist ist. Er hat bis jetzt noch nichts von ihr gehört, und er sagte mir, daß Mr. Lynne sehr erstaunt war, als er erfuhr, daß sie einen Vater hatte. Er machte seine Geschäfte am liebsten und eigentlich prinzipiell nur mit alleinstehenden Mädchen.«

 

»Hat Lynne dem Mann die Adresse seiner Tochter mitgeteilt?«

 

Leon zuckte die Schultern.

 

»Argentinien ist ein Land mit annähernd drei Millionen Quadratkilometern – wie soll man sie da finden? Cordova, Tucuman, Mendoza, Salta, Santa Fe, Rosalio – das sind nur ein paar Städte, und es gibt Hunderte von Plätzen, wo die kleine Goldstein jetzt tanzen mag. Und diese kleineren Orte haben weder einen englischen noch einen amerikanischen Konsul. Es ist entsetzlich, daran zu denken, George.«

 

Manfred sah nachdenklich auf den grünen Rasen des Parks.

 

»Wenn wir nur ganz sicher wären«, fuhr Gonsalez fort. »Es wird allerdings zwei Monate dauern, bevor wir es genau feststellen können, aber das Geld würde sich sicher lohnen. Unsere junge Freundin wird mit dem nächsten Postdampfer nach Südamerika abfahren. Du sagtest doch vor einiger Zeit, daß du gern wieder einmal nach Spanien gehen würdest? Ich glaube, ich werde die Reise nach Südamerika machen.«

 

»Das wird das beste sein. Ich sehe keine Möglichkeit, gegen den Mann vorzugehen, wenn du dich nicht vorher an Ort und Stelle informiert hast.«

 

*

 

Miss Lilah Hacker ging in Boulogne an Bord der »Braganza« und war sehr überrascht, als sie entdeckte, daß der höfliche fremde Herr, der sie so unterhaltend über die Geographie Südamerikas aufgeklärt hatte, auf demselben Dampfer fuhr. Sie war in der rosigsten Stimmung und freute sich, in das Land zu kommen, in dem es ihr so gut gehen würde. Ihre Hoffnungen auf die Zukunft waren himmelhoch. Und wenn sie auch ein wenig enttäuscht war, daß der liebenswürdige Mr. Gonsalez sich während der Überfahrt nicht viel um sie kümmerte, sondern sich merkwürdig zurückhielt, so war ihr sein Verhalten doch nicht besonders wichtig. –

 

*

 

Einen Monat, nachdem Miss Hacker die »Braganza« betreten hatte, waren ihre Hoffnung und ihr Glaube an die Menschheit beinahe ganz zerstört. Die Schuld daran trug Rafferty, ein stämmiger Irländer, der allerdings in Argentinien geboren war. Er war der Eigentümer der Tanzhalle »La Plaza« in einer kleinen Stadt im Innern des Landes, wo Viehmärkte abgehalten wurden. Mit zwei anderen Mädchen war sie dorthin geschickt worden. Ihre Gefährtinnen besaßen allerdings schon Erfahrung darin, wie man die Gauchos zu unterhalten hatte, die jede Nacht zur Stadt kamen und für die das Lokal »La Plaza« der größte Anziehungspunkt war.

 

»Sie müssen Ihr Benehmen aber von Grund auf ändern«, sagte Rafferty lässig. »Ich habe gehört, daß Sie gestern abend Spektakel machten, als Senor Santiago wünschte, daß Sie sich auf seinen Schoß setzen sollten.«

 

»Ja, das stimmt«, erwiderte Miss Hacker empört. »Ich kann mich doch nicht mit einem Farbigen einlassen!«

 

»Also hören Sie einmal zu. In diesem Land gibt es keine Farbigen. Verstanden? Mr. Santiago ist ein Gentleman, außerdem hat er dicke Gelder – und wenn er sich das nächstemal um Sie bemüht, dann sind Sie gefälligst nett und liebenswürdig zu ihm. Haben Sie das begriffen?«

 

»Das tue ich nicht.« Sie war blaß und zitterte vor Aufregung. »Ich fahre heute noch nach Buenos Aires zurück.«

 

»So? Sehen Sie einmal an!« Ein breites Grinsen ging über Raffertys Gesicht. »Die verrückte Idee können Sie sich aber gleich aus dem Kopf schlagen!«

 

Plötzlich ergriff er sie am Arm.

 

»Sie gehen jetzt sofort auf Ihr Zimmer und bleiben dort so lange, bis ich Sie heute abend zur Vorstellung herunterhole. Und wenn Sie Launen und Grillen haben sollten – dann wird Ihnen das noch leid tun!«

 

Er stieß sie durch die rohe Holztür der kleinen Kammer, die ihr als Schlafzimmer diente. Nachdem er die Tür zugeschlagen hatte, blieb er noch im Gang stehen. Seine Flüche und Drohungen brachten sie vollständig außer Fassung und ließen ihr fast das Blut stocken.

 

Am Abend kam sie herunter und absolvierte ihre Tanznummer. Zu ihrem Erstaunen und ihrer Erleichterung erregte sie nicht die geringste Aufmerksamkeit des protzigen Mr. Santiago. Dieser halbblütige Spanier mit dem gelben Gesicht saß unten und würdigte sie keines Blicks.

 

Auch Mr. Rafferty war ungewöhnlich höflich und liebenswürdig.

 

Sie ging etwas beruhigter in ihr Zimmer zurück. Aber plötzlich entdeckte sie, daß der Schlüssel verschwunden war. Erfüllt von neuer Sorge legte sie sich nicht zu Bett, sondern blieb auf und wachte. Worauf sie wartete, wußte sie selbst nicht. Um ein Uhr hörte sie leise Schritte im Gang, und gleich darauf versuchte jemand, ihre Tür zu öffnen. Aber sie hatte zur Sicherung die Stuhllehne unter die Türklinke gestellt. Es wurde heftig daran gerüttelt, und der morsche Stuhl krachte. Dann vernahm sie ein Geräusch, als ob ein Kissen mit einem Stock geschlagen würde, und es war ihr, als ob draußen jemand längs der Holzwand zu Boden gesunken wäre. Einen Augenblick später klopfte es leise an ihrer Tür.

 

»Miss Hacker!« Sie erkannte die Stimme sofort wieder, »öffnen Sie schnell, ich will Sie von hier fortbringen.«

 

Mit zitternden Händen rückte sie den Stuhl fort, entfernte die wenigen schwachen Möbelstücke, die sie gegen die Tür gestellt hatte, und öffnete. Bei dem Licht einer Kerze, die sie angesteckt hatte, sah sie Mr. Gonsalez, der mit ihr auf der »Braganza« nach Argentinien gekommen war.

 

»Treten Sie ganz leise auf. Wir gehen über die Hintertreppe auf den Hof hinunter. Haben Sie einen Mantel? Nehmen Sie ihn mit, wir müssen über sechzig Kilometer mit dem Auto fahren, bevor wir die Eisenbahn erreichen …«

 

Als sie durch die Tür trat, sah sie jemand im Gang liegen, und schaudernd erkannte sie, was das Geräusch vorhin bedeutet hatte.

 

Sie erreichten den großen Hof hinter der Tanzhalle, wo viele staubbedeckte Autos standen. Die Wagen gehörten den Farmern und ihren Gauchos, die in die Stadt gekommen waren, um sich am Abend zu amüsieren. Schnell gingen die beiden durch das Tor. Leon führte das Mädchen zu einem großen Wagen, der in der Mitte der Straße stand. Sie schaute sich noch einmal nach Raffertys Lokal um. Die Fenster waren hell erleuchtet, die Klänge der Kapelle tönten schwach durch die ruhige Nacht. Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und weinte.

 

Leon Gonsalez hatte eine Anwandlung von Reue, denn er hätte ihr dies alles ersparen können.

 

Genau zwei Monate waren seit dem Tag seiner Abreise verflossen, als Leon die Treppe zu der Wohnung in der Jermyn Street hinauf eilte. Manfred saß behaglich in einem Sessel und las die Zeitung.

 

»Du siehst vergnügt und wohl aus, Leon.« George sprang auf und drückte dem Freund die Hände. »Du hast mir kein einziges Mal geschrieben – ich habe allerdings auch nicht erwartet, daß du Zeit, dazu finden würdest. Ich bin erst vor zwei Tagen zurückgekommen.«

 

Er berichtete kurz, wie es Poiccart in Sevilla ging.

 

»Hast du unseren Fall prüfen können?« fragte er dann.

 

»Ja, es bestätigt sich alles, was wir vermutet haben«, erwiderte Leon grimmig. »Nur vor Gericht können wir nicht beweisen, daß Lynne schuldig ist. Aber für uns liegt die Sache vollständig klar. Ich habe seinen Agenten besucht, als ich in Buenos Aires war, und habe in dessen Abwesenheit den Schreibtisch erbrochen und alle Papiere, durchgesehen. Es waren auch verschiedene Briefe von Lynne dabei. Aus ihrem Inhalt und Ton ging deutlich hervor, daß er genau weiß, um was es sich bei diesen Engagements handelt.«

 

Die beiden Freunde schauten einander an.

 

»Der Rest ist einfach«, sagte Manfred. »Ich möchte es dir überlassen, alle Einzelheiten auszuarbeiten, mein lieber Leon, und ich hoffe, Mr. Lynne wird es noch bitter bereuen, daß er vom schmalen Pfad der Tugend abgewichen ist.«

 

Es gab keinen unverdrosseneren und gewissenhafteren Mann als Leon Gonsalez. Wenn es solche Verbrechen zu strafen galt, so bedeutete die Ausarbeitung des Planes für ihn keine Anstrengung, sondern ein Vergnügen. Noch niemals wandte ein Feldherr auch der geringsten Kleinigkeit größere Sorgfalt zu als Leon.

 

Bevor der Tag zu Ende ging, hatte er die Gegend, in der Mr. Lynne lebte, ausgekundschaftet und dabei auch erfahren, daß Mr. Lynne Musik leidenschaftlich liebte.

 

Der Wagen, der Leon nach der Jermyn Street zurückbrachte, fuhr ihm nicht schnell genug, und als er endlich angekommen war, stürmte er in das Wohnzimmer.

 

»Das Unmögliche ist doch möglich, mein lieber George«, rief er und ging aufgeregt in dem Zimmer auf und ab. »Zuerst glaubte ich, daß ich meinen Plan nicht zur Ausführung bringen könnte. Aber denke dir, dieses Scheusal liebt Musik! Er hat ein mächtiges Grammophon in seiner Wohnung aufgestellt!«

 

»Willst du nicht erst einmal etwas Eiswasser trinken?« fragte Manfred freundlich.

 

»Nein, nein, mir ist es durchaus nicht zu heiß. Ich bin vollständig kühl und bei Sinnen, ich bin so kalt wie Eis. Wer hätte so günstige Umstände erwartet? Heute abend werden wir nach Hampstead fahren und uns einmal sein Konzert anhören!«

 

Es dauerte lange, bis er einen zusammenhängenden Bericht über alles gab, was er herausgebracht hatte. Mr. Lynne war denkbar unbeliebt bei seinen Nachbarn, und Leon erklärte auch die Ursache.

 

Manfred verstand alles noch besser, als er abends in der stillen Straße, in der Mr. Lynnes Haus lag, das Rollen der Pauken und Trommeln, das Schrillen der Trompeten, das Dröhnen der Glocken, die Schüsse der Kanonen und all den lauten Spektakel hörte, der »1812« bei unmusikalischen Leuten so beliebt machte.

 

»Es klingt wie eine wirkliche Militärkapelle«, sagte Manfred erstaunt.

 

Ein Polizist kam den Gehsteig entlang. Als er das Auto vor dem Hause halten sah, wandte er sich lachend zu den beiden.

 

»Ein fürchterlicher Lärm, was?«

 

»Ich wundere mich nur, daß nicht alle Leute in der Nähe aufwachen«, meinte Manfred.

 

»Das tun sie schon, oder wenigstens früher war es so. Allmählich haben sie sich daran gewöhnt. Es ist das lauteste Grammophon, das es überhaupt gibt.«

 

»Wie lange dauert denn dieser Radau? Doch nicht die ganze Nacht hindurch?« fragte Manfred.

 

»Ich glaube, er läßt das Ding jeden Abend ungefähr eine Stunde lang laufen. Der Herr, der hier wohnt, kann ohne Musik nicht einschlafen. Er muß wohl so eine Art Künstler sein.«

 

»Das glaube ich auch«, erwiderte Leon grinsend.

 

Am nächsten Tag fand er heraus, daß vier Dienstboten bei Mr. Lynne beschäftigt waren, von denen drei im Haus schliefen. Mr. Lynne kam gewöhnlich um zehn Uhr abends heim, nur an den Freitagen verließ er die Stadt.

 

Am Mittwoch hatten die Köchin, die Haushälterin und der Hausmeister ihren freien Abend. Es blieb also nur das Hausmädchen übrig, und diese Schwierigkeit war leicht zu überwinden. Die Unannehmlichkeit bestand nur darin, daß die Angestellten ungefähr um elf Uhr schon wieder zurückkamen. Leon entschied sich deshalb dafür, sein Unternehmen am Freitagabend auszuführen, an dem Mr. Lynne gewöhnlich nach Brighton ging. Er beobachtete, wie der Agent vom Victoria-Bahnhof abfuhr, und rief dann Lynnes Wohnung an.

 

»Ist dort der Hausmeister Masters?« fragte er.

 

»Jawohl, mein Herr«, antwortete die Stimme eines Mannes.

 

»Hier ist Mr. Mandez«, sagte Leon, indem er das etwas gebrochene Englisch des Mexikaners nachahmte. »Mr. Lynne kommt heute abend nach Hause zurück und hat eine sehr wichtige Besprechung in seiner Wohnung. Er wünscht, daß niemand von den Dienstboten anwesend ist.«

 

»Jawohl, mein Herr«, antwortete Masters, ohne irgendwelche Überraschung zu zeigen. Offenbar hatte er auch schon früher ähnliche Instruktionen erhalten. Leon hatte größere Schwierigkeiten erwartet und sich komplizierte Erklärungen ausgedacht, die nun überflüssig waren.

 

»Soll ich allein hierbleiben?«

 

»Nein, Mr. Lynne sagte ausdrücklich, daß er niemand sehen will, wenn er zurückkommt. Er läßt auch bestellen, daß Sie die Seitentür und die Küchentür offenlassen sollen«, fügte er noch hinzu. Das war ein glänzender Einfall.

 

»Ich werde alles so ausführen.«

 

Leon ging darauf sofort zum Postamt und sandte ein Telegramm an Mr. Lynne, Hotel Ritz, Brighton.

 

›Die junge Goldstein ist in Santa Fe entdeckt worden, schrecklicher Spektakel, Polizei hat Nachforschungen angestellt. Muß Sie unbedingt sofort sprechen. Warte auf Sie in Ihrem Haus. Mandez.‹

 

»Um acht Uhr hat er die Depesche, um neun Uhr kommt ein Zug von Brighton zurück, um halb elf ist er in Hampstead«, sagte Leon zu Manfred, der vor dem Postamt auf ihn wartete.

 

»Sobald es dunkel wird, gehen wir in seine Wohnung.«

 

Ohne die geringsten Schwierigkeiten kamen sie ins Haus. Manfred ließ seinen Zweisitzer vor dem Haus eines Doktors stehen, denn dort fiel ein Wagen nicht auf. Dann gingen die beiden zu Fuß nach Lynnes Haus. Es war ein einzeln stehendes, großes Gebäude, in der luxuriösesten Weise möbliert. Die Dienstboten hatten sich, wie erwartet, entfernt. Bald hatten sie auch das große Zimmer Lynnes gefunden, das nach der Straße zu lag.

 

»Dort steht seine Spektakelkiste«, sagte Leon und zeigte auf einen wunderschön geschnitzten Schrankapparat in der Nähe des Fensters. »Mit elektrischem Antrieb. Wohin führt eigentlich diese Leitung?«

 

Er verfolgte den Draht bis über das Bett, wo er in einem Schalter endete.

 

»Ach so, wenn dieser höllische Lärm ihn so weit müde gemacht hat, daß er schlafen will, kann er das Grammophon abstellen, ohne aus dem Bett zu klettern.«

 

Er öffnete den Deckel des Grammophons und betrachtete die Platte.

 

»›1812‹«, sagte er lachend. Er knipste am Schalter. Die grüne Scheibe setzte sich sofort in Bewegung. Dann ging er zu dem Bett, drehte dort den Schalter, und augenblicklich blieb die Scheibe stehen.

 

»Das hätten wir also.«

 

Leon schaute sich in dem Raum um, und schließlich fand er das, was er suchte. An einer Tür war ein starker Messingbügel befestigt, an dem man Kleider aufhängen konnte. Er zog mit aller Kraft daran, aber der Haken rührte sich nicht.

 

»Das ist vorzüglich«, sagte er und öffnete die kleine Mappe, die er mitgebracht hatte. Die starke Kordel, die er herausnahm, knotete er mit einem Ende an dem Kleiderhaken fest und versuchte, ob sie auch hielt. Dann nahm er ein paar Handschellen heraus, schloß sie auf und legte sie auf das Bett, ebenso ein Instrument, das wie ein Feldmarschallstab aussah. Es war ungefähr 35 cm lang, und zwei breite Filzstreifen waren daran befestigt. Neun Kordelschnüre, doppelt so lang wie der Handgriff, hingen von dem oberen Ende herunter. Sie waren sauber zusammengefaltet und an dem Handgriff festgebunden.

 

Leon drehte den Stab um, und Manfred sah ein rotes Siegel.

 

»Was ist denn das, Leon?«

 

Gonsalez zeigte ihm das Siegel, und Manfred las:

 

»Gefängnisverwaltung.«

 

»Dieses Ding nennt man allgemein ›neunschwänzige Katze‹. Es ist durchaus echt, und ich habe einige Mühe gehabt, es zu beschaffen.«

 

Er schnitt die Schnur durch, welche die neun Stränge zusammenhielt. Manfred nahm sie in die Hand und betrachtete sie neugierig. Die einzelnen Kordeln waren etwas dünner als Gardinenschnüre, aber viel fester und dichter gedreht. An den Enden waren sie mit gelber Seide einen halb Zoll lang abgebunden.

 

Leon nahm die Peitsche in die Hand und ließ sie durch die Luft schwirren.

 

»Sie ist im Pentonville-Gefängnis gemacht, und ich fürchte, ich bin nicht so gewandt in ihrer Handhabung wie der Beamte, der sie gewöhnlich benutzt.«

 

Es war jetzt ganz dunkel geworden. Die beiden gingen wieder nach unten und warteten in dem Raum, der direkt an die Eingangshalle stieß.

 

Kurz nach halb elf wurde die große Haustür geöffnet und wieder geschlossen.

 

»Sind Sie hier, Mandez?« hörten sie Mr. Lynne rufen. Seine Stimme klang etwas ängstlich. Er war einige Schritte auf die Tür des Raumes zugegangen, als Gonsalez heraustrat.

 

»Guten Abend, Mr. Lynne«, sagte er.

 

Der Theateragent drehte das Licht an.

 

Er sah die Gestalt eines einfach gekleideten Mannes vor sich, aber er konnte nicht erkennen, wer es war, denn das Gesicht des Fremden war von einem weißen, durchbrochenen Schleier verdeckt.

 

»Wer sind Sie und was wollen Sie?« stieß Lynne keuchend hervor.

 

»Ich will mit Ihnen abrechnen!« erwiderte Leon kurz. »Bevor wir aber weiter verhandeln, möchte ich Ihnen nur das eine sagen: Wenn Sie irgendwie schreien oder versuchen, die Aufmerksamkeit anderer Leute zu erregen, so schieße ich Sie über den Haufen!«

 

»Was wollen Sie denn von mir?« fragte Lynne zitternd. Plötzlich sah er Manfred, der ähnlich verschleiert auf ihn zutrat. Seine Kräfte verließen ihn, und er sank in einen Sessel, der in der Halle stand.

 

Manfred packte ihn am Arm und führte ihn nach oben in das Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen; es brannte nur eine kleine Lampe auf dem Nachttisch.

 

»Ziehen Sie Ihren Rock aus«, befahl Manfred.

 

Mr. Lynne gehorchte.

 

»Nun die Weste.«

 

Die Weste fiel auf die Erde.

 

»Nun müssen Sie auch noch das Hemd ablegen«, sagte Gonsalez.

 

»Was haben Sie denn vor?« fragte Lynne heiser.

 

»Das werde ich Ihnen später sagen.«

 

Mr. Lynne stand nackt bis zum Gürtel; sein Gesicht zuckte vor Aufregung und Nervosität, aber er wagte keinen Widerstand, als Manfred ihm die Handfesseln anlegte.

 

Die beiden Freunde führten ihn zur Tür, wo der Kleiderhaken befestigt war. Leon steckte das lose Ende der starken Kordel durch die Ösen der Handfesseln und zog die Arme Lynnes straff nach oben über seinen Kopf.

 

»Nun können wir miteinander reden«, sagte Gonsalez. »Mr. Lynne, seit langer Zeit treiben Sie ein schreckliches und schändliches Gewerbe. Sie haben junge Mädchen, die in manchen Fällen noch Kinder waren, nach Südamerika geschickt. Die Strafe für ein derartiges Vergehen ist Zuchthaus, wie Sie wissen, und außerdem dies.«

 

Mit diesen Worten nahm er die Peitsche auf und schüttelte die neun Stränge. Mr. Lynne schaute sie entsetzt an.

 

Gonsalez ließ die »neunschwänzige Katze« durch die Luft sausen.

 

»Ich schwöre Ihnen aber, daß ich niemals wußte …«, stieß Lynne hervor. »Sie können es nicht beweisen –«

 

»Es fällt mir auch gar nicht ein, es in der Öffentlichkeit beweisen zu wollen«, erwiderte Leon. »Ich bin nur hierhergekommen, um Ihnen den Beweis zu erbringen, daß Sie das Gesetz nicht ungestraft übertreten können.«

 

In diesem Augenblick stellte Manfred das Grammophon an, und das Schmettern der Trompeten und der Donner der Pauken füllten den Raum mit ohrenbetäubendem Lärm.

 

Der Polizist, der vor wenigen Tagen mit Manfred und Gonsalez gesprochen hatte, ging langsam am Haus vorbei und blieb grinsend stehen. Einer der Nachbarn Lynnes trat zu ihm.

 

»Was für einen abscheulichen Spektakel das Ding wieder macht«, sagte er verärgert.

 

»Ja, es ist fürchterlich. Ich glaube, der Mann müßte sich einmal eine neue Platte anschaffen«, meinte der Polizist. »Das klingt so, als ob man einer Katze auf den Schwanz tritt oder als ob jemand um Hilfe schreit.«

 

»Es hat noch niemals anders geklungen«, brummte der andere und ging weiter.

 

Auch der Polizist entfernte sich. Aus dem Schlafzimmer Mr. Lynnes aber tönten die sieghafte Melodie der Marseillaise, das Donnern der Kanonen und ein ängstliches Jammern und Schreien, für das man Tschaikowsky nicht verantwortlich machen konnte.

 

Kapitel 6

 

6

 

Der Mann, der glücklich war

 

An einem schönen Frühsommerabend stieg Leon Gonsalez am Piccadilly Circus vom Autobus, ging mit energischen Schritten Haymarket hinunter und bog in die Jermyn Street ein, ohne scheinbar zu bemerken, daß ihm jemand wie ein Schatten folgte.

 

Manfred schaute von seiner Schreibarbeit auf, als sein Freund in das Zimmer trat, und nickte ihm lächelnd zu. Leon legte seinen leichten Überzieher ab, trat ans Fenster und sah auf die Straße.

 

»Wonach schaust du denn so ängstlich aus, Leon?«

 

»Nach Jean Prothero, der Barside Buildings Nr. 75 in Lambeth wohnt«, erwiderte Gonsalez, ohne sich in seiner Beschäftigung stören zu lassen. »Ah, dort ist er, dieser eifrige Bursche!«

 

»Wer ist denn eigentlich Jean Prothero?«

 

Leon lachte.

 

»Ein sehr unternehmender Herr, daß er es wagt, sich am hellichten Tag in Westend auf der Straße sehen zu lassen«, gab Leon ausweichend zur Antwort. Er schaute auf seine Uhr. »Es ist allerdings nicht so tollkühn von ihm, denn alle Leute, die etwas vorstellen, kleiden sich jetzt zum Abendessen um.«

 

»Ist er etwa ein Fassadenkletterer, der um diese Zeit in die Wohnungen einbricht?«

 

Leon lachte wieder.

 

»Nein, nicht ganz so etwas Gewöhnliches. Du meinst doch vermutlich einen Menschen, der ins Schlafzimmerfenster steigt, während die Familie im Untergeschoß beim Abendessen sitzt, und dann alle Wertsachen stiehlt, deren er habhaft werden kann?«

 

»Ja, ganz richtig.«

 

Leon schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Mr. Prothero ist viel interessanter, und zwar aus einem ganz anderen Grund. Zunächst einmal ist er ein kahlköpfiger Verbrecher, das heißt, er wird wahrscheinlich zum Verbrecher werden. Und wie du wohl weißt, George, sind solche Leute selten. Die Durchschnittsverbrecher haben struppige oder dünne Haare, und manchmal tragen sie einen Scheitel auf der verkehrten Seite, aber in den seltensten Fällen haben sie eine Glatze. Auf dem Schädel von Mr. Prothero wächst auch nicht ein einziges Haar. Er ist Schiffsmaat auf einem Frachtdampfer, der zwischen den Kanarischen Inseln und Southampton verkehrt, und hat eine sehr hübsche junge Frau; sein Schwager ist merkwürdigerweise ein Einbrecher, der allerdings nur kleine Diebstähle begeht. Ohne es zu wissen, habe ich seinen Verdacht erregt. Er weiß nämlich zufällig, daß ich einer der Vier Gerechten bin«, ergänzte er scheinbar sorglos.

 

»Woher weiß er das?« fragte Manfred nach einer Weile.

 

Leon hatte seinen Rock ausgezogen und eine seidene Hausjacke angelegt. Er rollte sich erst eine spanische Zigarette und steckte sie in Brand, bevor er antwortete.

 

»Vor vielen Jahren, als die ganze Welt in Aufruhr war wegen der verderbenbringenden Organisation der Vier Gerechten, wurdest du festgenommen, mein lieber George, und im Chelmsford-Gefängnis eingesperrt. Von dort bist du damals auf eine recht abenteuerliche Weise entkommen, und als wir die Küste erreichten, gingen wir beide und Poiccart an Bord der Jacht unseres guten Freundes, des Prinzen von Asturien, der uns damals die Ehre gab, als Vierter in unserem Bunde zu agieren.«

 

Manfred nickte.

 

»Auf diesem Schiff befand sich auch Mr. Jean Prothero«, fuhr Leon fort. »Wie er dorthin kam, will ich dir später einmal erklären. Ich vergesse niemals ein Gesicht, das ich einmal gesehen habe, George, aber unglücklicherweise geht es anderen Leuten auch so. Mr. Prothero erinnerte sich an mich, und als er mich in Barside Buildings sah –«

 

»Was hast du denn in Barside Buildings zu tun?« fragte Manfred lächelnd.

 

»Dort wohnen zwei Verbrecher, die nichts voneinander wissen und beide farbenblind sind!«

 

Manfred legte seine Feder nieder und wandte sich um. Er war schon darauf gefaßt, wieder einen Vortrag über Verbrecherphysiognomien und Kriminalstatistiken zu hören, denn er hatte die Begeisterung in Gonsalez‘ Stimme gehört.

 

»Diese beiden Leute machen es mir möglich, Mantegazzas und Schemls vollständig falsche Theorien zu widerlegen, daß Verbrecher niemals farbenblind sind. Und doch sind diese beiden Männer von frühester Jugend an Übeltäter gewesen, sie haben schon lange Gefängnisstrafen hinter sich. Und das Merkwürdigste: Auch ihre Väter waren farbenblind und waren Verbrecher!«

 

»Nun gut, aber du wolltest mir doch etwas von Mr. Prothero erzählen?« unterbrach ihn Manfred taktvoll.

 

»Einer der beiden Leute, die ich beobachtet habe, ist Mr. Protheros Schwager, der Halbbruder seiner Frau. Ihr eigener Vater ist ein rechtschaffener Zimmermann, der in einer Wohnung über ihnen haust. Diese Wohnungen sind allerdings nur sehr klein, sie bestehen gewöhnlich aus zwei Zimmern und einer Küche. Die Baumeister dieser Mietskasernen in Lambeth haben den Luxus eines Badezimmers nicht für nötig gehalten. Ich bin auch mit Mrs. Prothero bekannt geworden, als ich versuchte, ihren Bruder auszuholen.«

 

»Und dabei hast du vermutlich auch Mr. Prothero kennengelernt«, sagte Manfred geduldig.

 

»Nein, dem bin ich nur zufällig auf der Treppe begegnet. Ich bemerkte, daß er mich scharf ansah, aber sein eigenes Gesicht lag im Schatten, und ich erkannte ihn erst, als ich ihn heute zum zweitenmal traf. Er folgte mir hierher, und ich habe auch die Überzeugung, daß er mir gestern nachgegangen ist. Heute wollte er sich wohl nun die Bestätigung holen, daß ich wirklich hier wohne.«

 

»Du bist doch ein merkwürdiger Mensch«, meinte Manfred.

 

»Möglich, daß ich noch viel merkwürdiger werde«, erwiderte Leon lächelnd. »Es hängt jetzt alles davon ab, ob Prothero glaubt, daß ich ihn erkannt habe. Wenn das der Fall ist –«

 

Leon zuckte die Schultern.

 

»Es ist nicht das erstemal, daß ich mit dem Tod gespielt habe und doch mit heiler Haut davongekommen bin«, sagte er leichthin.

 

Manfred ließ sich aber durch den sorglosen Ton seines Freundes nicht täuschen.

 

»Ist es so schlimm? Ich glaube, daß die Sache für Prothero noch viel gefährlicher ist. Ich möchte nicht gern einen Menschen töten, nur weil er uns erkannt hat … Das deckt sich durchaus nicht mit meiner Ansicht über Recht und Gerechtigkeit.«

 

»Ganz recht«, entgegnete Leon kurz. »Das wird wohl auch nicht nötig sein. Es sei denn –« Er machte eine Pause.

 

»Was meinst du?«

 

»Es sei denn, daß Prothero seine Frau wirklich liebt. Dann wird es ein sehr schwieriger Fall werden.«

 

Am nächsten Morgen kam er mit seiner Tasse Tee in Manfreds Schlafzimmer. George schaute ihn verwundert an.

 

»Was ist denn mit dir los, Leon? Du bist wohl gar nicht zu Bett gewesen?«

 

Leon Gonsalez trug einen grauen Flanellrock, dazu gleiche Beinkleider und ein weiches, seidenes Hemd. Manfred schloß aus diesem Anzug, daß er die ganze Nacht aufgeblieben war und sich seinen Studien gewidmet hatte.

 

»Ich habe im Speisezimmer gesessen und eine Friedenspfeife geraucht.«

 

»Aber doch nicht die ganze Nacht? Ich wachte einmal auf und sah kein Licht.«

 

»Ich saß im Dunkeln, ich wollte ja auch nur verschiedenes hören.«

 

Manfred rührte nachdenklich seinen Tee um.

 

»Steht es schon so schlimm? Hast du etwa erwartet …?«

 

Leon lächelte.

 

»Ich habe allerdings nicht das erwartet, was eintrat. Willst du mir einen sehr großen Gefallen tun, mein lieber George?«

 

»Was soll es sein?«

 

»Sprich bitte heute nicht über Mr. Prothero. Wir wollen uns lieber über rein wissenschaftliche, am besten landwirtschaftliche Dinge unterhalten, wie es sich für ehrbar andalusische Farmer ziemt. Außerdem wollen wir spanisch sprechen.« Leon war sehr ernst geworden.

 

Manfred runzelte die Stirn.

 

»Warum das alles? Du bist etwas geheimnisvoll. Aber wenn du es willst, werde ich nur in Spanisch über Landwirtschaft sprechen und Prothero in keiner Weise erwähnen.« Er nickte seinem Freund zu und erhob sich. »Darf ich wenigstens darüber sprechen, daß ich ein Bad nehmen will?« fragte er ein wenig ironisch.

 

An diesem Tag ereignete sich nichts Besonderes. Einmal war Manfred nahe daran, doch von Mr. Prothero zu sprechen, aber Leon, der seine Gedanken erriet, hob warnend den Finger.

 

Gonsalez selbst sprach über Verbrechen, er beleuchtete das Thema allerdings mehr von der wissenschaftlichen Seite und ging besonders auf seine Entdeckung ein, daß es farbenblinde Verbrecher gäbe. Aber von Mr. Prothero sagte er kein Wort.

 

Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, entfernte sich Leon aus der Wohnung, kam aber gleich wieder zurück.

 

»Gott sei Dank, nun können wir wieder frei und ohne Bedenken miteinander reden.«

 

Er stellte einen Stuhl an die Wand und kletterte hinauf. Direkt über ihnen befand sich ein kleiner Ventilator, der mit Schrauben an der Wand befestigt war. Leon summte eine kleine Melodie, als er den Schraubenzieher ansetzte und geschickt das Deckgitter löste. Manfred sah ihm interessiert zu.

 

»Sieh einmal hierher, George. Nimm dir auch einen Stuhl.«

 

Manfred sah einen kleinen, flachen, braunen Kasten, der etwa 5 X 5 cm groß war. In der Mitte befand sich eine schwarze, etwas vertiefte Scheibe aus Hartgummi.

 

»Weißt du, was das ist?« fragte Leon. »Das ist ein Mikrophon!«

 

»Dann hat wohl jemand unsere ganzen Gespräche belauscht?«

 

Leon nickte.

 

»Der Herr über uns muß einen recht traurigen und öden Tag gehabt haben. Selbst wenn er spanisch sprechen kann, muß er sich da oben schrecklich gelangweilt haben.«

 

»Aber …«, begann Manfred.

 

»Du brauchst dir keine Sorge zu machen. Er ist fortgegangen. Um aber ganz sicher zu sein –«

 

Geschickt löste er einen der Drähte, mit denen der Apparat in dem Lüftungsschacht aufgehängt war.

 

»Mr. Prothero kam gestern abend«, erklärte Leon. »Er mietete das Zimmer über uns. Er hat direkt danach gefragt, das hörte ich von dem Oberkellner. Der Mann ist mir treu ergeben, weil ich ihm dreimal so viel und dreimal so oft Trinkgeld gebe, als er es von den anderen Bewohnern der Pension gewöhnt ist. Ich wußte nicht genau, was Prothero im Schilde führte, bis ich hörte, daß er das Mikrophon den Schacht herunterließ.«

 

Leon befestigte das Gitter wieder über der Öffnung und sprang dann von dem Stuhl herunter.

 

»Du mußt mir versprechen, morgen mit nach Lambeth zu kommen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir Mr. Prothero dort treffen. Aber wir werden seine Frau sehen, die regelmäßig um elf Uhr ihre Einkäufe in der London Road macht. Sie ist sehr ordnungsliebend.«

 

»Warum soll ich sie denn sehen?«

 

Gewöhnlich deckte Leon seine Pläne nicht eher auf, als bis der dramatische Abschluß dicht bevorstand.

 

»Ich brauche dein Urteil, deine große Menschenkenntnis. Du sollst mir sagen, ob diese Frau solche Eigenschaften besitzt, daß ein kahlköpfiger Mann ihretwegen einen Mord begeht.«

 

Manfred sah ihn bestürzt an.

 

»Wer soll denn das Opfer sein?«

 

»Ich«, entgegnete Gonsalez und krümmte sich vor Lachen, als Manfred ihn verständnislos anschaute. –

 

Einige Minuten vor elf sahen sie Mrs. Prothero. Leon drückte Manfreds Arm und gab ihm ein Zeichen mit den Augen.

 

»Dort geht sie.«

 

Eine junge Frau ging quer über die Straße. Sie war hübsch und viel besser gekleidet, als man es bei ihrem Stand erwarten konnte. Sie hatte Handschuhe an und trug einen Einkaufsbeutel in der einen, eine kleine Handtasche in der anderen Hand.

 

»Sie ist wirklich reizend«, sagte Manfred.

 

Mrs. Prothero war vor dem Schaufenster eines Juweliers stehengeblieben, und Manfred hatte Gelegenheit, sie zu beobachten.

 

»Nun, was hältst du von ihr?«

 

»Sie ist tatsächlich eine außerordentlich schöne junge Frau.«

 

»Komm, ich will dich mit ihr bekannt machen.« Leon zog ihn mit sich fort.

 

Mrs. Prothero sah sich erstaunt um, lächelte dann aber, als sie Leon erkannte. Manfred sah eine Reihe blitzender weißer Zähne und volle, rote Lippen. Sie sprach zwar nicht wie eine Dame, aber sie besaß eine ruhige und klangvolle Stimme.

 

»Guten Morgen, Herr Doktor«, begrüßte sie Leon. »Was tun Sie denn schon so früh morgens hier?«

 

Manfred fiel es auf, daß sie seinen Freund mit »Doktor« anredete, aber er wußte ja, daß Gonsalez in den verschiedensten Berufen auftrat, um sich die gewünschten Nachrichten für seine Zwecke zu verschaffen.

 

»Wir kommen gerade vom Guy-Hospital. Dies ist Dr. Seibert«, stellte er Manfred vor. »Sie sind beim Einkaufen?«

 

Sie nickte.

 

»Eigentlich hätte ich es nicht nötig gehabt, heute auszugehen. Mein Mann ist für drei Tage unten bei den Docks.«

 

»Haben Sie Ihren Bruder heute morgen schon gesehen?« fragte Leon.

 

Ein Schatten glitt über ihr Gesicht.

 

»Nein«, erwiderte sie kurz.

 

Offensichtlich war sie nicht sehr stolz auf diesen Verwandten. Vielleicht ahnte sie sein dunkles Gewerbe, jedenfalls hatte sie nicht den Wunsch, weiter darüber zu sprechen, denn sie änderte das Thema schnell.

 

Sie plauderten noch eine Weile miteinander, dann verabschiedete sie sich mit einer Entschuldigung von ihnen. Die beiden sahen ihr nach, bis sie in einem Lebensmittelgeschäft verschwand.

 

»Glaubst du, daß ihr Mann ihretwegen einen Mord begehen könnte?« fragte Leon.

 

»Es wäre nicht ausgeschlossen. Aber warum sollte er denn dich umbringen?«

 

»Das werden wir ja sehen.«

 

Als sie am Nachmittag wieder nach Hause kamen, fanden sie mehrere Briefe vor. Ein Kuvert, das ein großes Wappen trug, zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich.

 

»Lord Pertham«, sagte er, als er nach der Unterschrift sah. »Wer ist denn eigentlich Lord Pertham?«

 

»Ich habe gerade kein Nachschlagebuch zur Hand, aber mir kommt der Name bekannt vor. Was will denn Lord Pertham von uns?«

 

›Sehr geehrter Herr, unser gemeinsamer Freund, Mr. Fare von Scotland Yard, wird heute bei uns in Connaught Gardens zu Abend speisen. Dürften wir auch Sie bitten, zu kommen? Mr. Fare erzählte mir, daß Sie einer der tüchtigsten Kriminologen unserer Zeit sind, und da ich mich auch für diesen Zweig der Wissenschaft ganz besonders interessiere, würde ich mich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.‹

 

Unter der Unterschrift stand noch ein Nachsatz:

 

›Natürlich schließt diese Einladung auch Ihren geschätzten Freund ein.‹

 

Manfred rieb sich das Kinn. »Ich möchte wirklich heute abend nicht in vornehmer Gesellschaft speisen.«

 

»Aber ich«, erwiderte Leon entschieden. »Ich habe eine Vorliebe für gute englische Küche, und ich erinnere mich, daß Lord Pertham in dem Ruf steht, eine Art Epikuräer zu sein.«

 

Pünktlich um acht erschienen sie in dem großen Haus von Lord Pertham, das an der Ecke von Connaught Gardens stand. Sie wurden sofort von einem Diener eingelassen, der ihre Hüte und Mäntel abnahm und sie in einen geräumigen, etwas düsteren Empfangssalon führte.

 

Ein großer, schlanker Mann mit vollem, grauem Haar lehnte am Kamin. Er mochte etwa fünfzig Jahre sein. Schnell kam er auf die beiden zu, als sie eintraten.

 

»Wer von Ihnen ist Mr. Fuentes?«

 

»Das ist mein Name«, erwiderte Manfred lächelnd, »aber mein Freund ist der große Kriminologe.«

 

»Ich freue mich sehr, Sie beide kennenzulernen, aber ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Durch einen unglücklichen Umstand ist der Brief, den ich an Mr. Fare geschrieben habe, nicht rechtzeitig aufgegeben worden. Ich habe es leider erst vor einer halben Stunde erfahren. Hoffentlich macht es Ihnen nicht zuviel aus.«

 

Manfred murmelte eine konventionelle Höflichkeitsphrase, als sich die Tür öffnete und eine Dame hereinkam.

 

»Darf ich Sie Mylady vorstellen?«

 

Die Dame war schmal und hager. Ihre blauen, ausdruckslosen Augen und ihre dünnen Lippen entbehrten jedes Reizes. Sie machte einen verdrießlichen Eindruck und runzelte häufig die Stirn, was sie noch mehr entstellte.

 

Leon Gonsalez, der unwillkürlich jedes Gesicht analysierte, das er sah, kam zu dem Urteil: Groll, Argwohn, Undankbarkeit, Hartherzigkeit, Eitelkeit.

 

Als sie Gonsalez und Manfred nachlässig die Hand gab, vertieften sich die Falten auf ihrer Stirn noch mehr.

 

»Das Essen ist fertig, Pertham«, wandte sie sich an den Lord und machte nicht den geringsten Versuch, ihren Gästen gegenüber freundlich zu sein.

 

Bei Tisch war es sehr peinlich. Lord Pertham war nervös, aber obwohl eine denkbar schlechte Stimmung herrschte, ließen sich die beiden Freunde nicht beeinflussen. Dieser große, stattliche Mann schien sich vor seiner Frau zu fürchten, er war sehr rücksichtsvoll, fast unterwürfig in ihrer Gegenwart. Als die unliebenswürdige Gastgeberin schließlich das Zimmer verließ, machte er kein Hehl daraus, daß er sich erleichtert fühlte.

 

»Ich fürchte, daß Sie sich bei Tisch nicht gut unterhalten haben. Mylady hatte eine kleine Auseinandersetzung mit dem Koch.«

 

Offensichtlich hatte Mylady die Angewohnheit, sich stets mit ihren Dienstboten zu überwerfen, denn der Lord erwähnte in der Unterhaltung einige Leute, die sie entlassen hatte. Er sprach des langen und breiten über die Physiognomie von Dienstboten. Aber Manfred, der wie sein Freund eifrig zuhörte, schien es, daß der Lord keine große Autorität auf diesem Gebiet war. Er sprach sehr stockend und machte viele Fehler, aber Leon verbesserte ihn nicht. Gelegentlich erwähnte er auch, daß sein Interesse an Verbrechen noch gestiegen sei, da sein eigenes Leben bedroht würde.

 

»Wir wollen jetzt nach oben gehen und Mylady Gesellschaft leisten«, sagte er nach einer Weile. Manfred hätte darauf wetten können, daß Lord Pertham alles, was er über Kriminologie gesagt hatte, besonders für diesen Abend einstudiert hatte.

 

Sie gingen die breite Treppe zur ersten Etage hinauf und traten in einen kleinen Salon ein. Der Lord schien überrascht zu sein, daß niemand anwesend war.

 

»Ich bin sehr erstaunt«, begann er, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Lady Pertham hereinstürzte. Sie war totenbleich, und ihre dünnen Lippen zitterten.

 

»Pertham«, rief sie atemlos, »es ist ein Mann in meinem Ankleidezimmer!«

 

»Was, ein Einbrecher?« Der Lord eilte aus dem Zimmer.

 

Die beiden Freunde wollten ihm folgen, aber er blieb halbwegs auf der Treppe stehen und wehrte sie mit einer Handbewegung ab.

 

»Es ist besser, Sie bleiben unten bei Mylady. Läute doch bitte nach Thomas, Liebling!«

 

Leon und George standen am Fuß der Treppe, als er oben eine Tür aufstieß. Gleich darauf hörten sie einen Schrei und Geräusche, als ob jemand handgemein geworden wäre. Manfred eilte die Treppe hinauf; oben wurde eine Tür heftig zugeworfen. Man hörte erregte Stimmen, dann krachte ein Schuß, und etwas fiel schwer zu Boden.

 

Manfred stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Tür des Zimmers, aus dem der Lärm kam.

 

»Es ist alles in Ordnung«, hörten sie Lord Perthams Stimme.

 

Einen Augenblick später schloß er die Tür auf.

 

»Ich fürchte, ich habe diesen Menschen umgebracht.«

 

Er hatte die rauchende Pistole noch in der Hand. Mitten im Zimmer lag ein ärmlich gekleideter Mann, sein Blut färbte den perlgrauen Teppich.

 

Gonsalez ging schnell zu dem reglos Daliegenden und drehte, ihn um. Auf den ersten Blick sah er, daß der Mann tot war. Lange und ernst blickte er in das Gesicht des Einbrechers.

 

»Kennen Sie ihn?« fragte Lord Pertham.

 

»Ich glaube, ja«, erwiderte Gonsalez ruhig. »Es ist mein farbenblinder Verbrecher.« Er erkannte den Bruder von Mrs. Prothero.

 

Die beiden Freunde gingen nach Hause und ließen Lord Pertham mit einem Detektiv von Scotland Yard zurück. Seine Frau war ganz aufgelöst vor Aufregung und hatte einen Weinkrampf bekommen.

 

Keiner der beiden sprach, bis sie ihre Wohnung erreicht hatten. Leon setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung in den großen Armsessel und rauchte zufrieden.

 

»Leon!«

 

Gonsalez rührte sich nicht.

 

»Leon!«

 

Gonsalez drehte sich langsam um und sah George an.

 

»Ist dir heute abend bei der Schießerei nichts aufgefallen?«

 

»O doch, verschiedenes.«

 

»Was denn?«

 

»Vor allem dieses seltsame Zusammentreffen, daß ausgerechnet der Bruder von Mrs. Prothero in Lord Perthams Haus einbrechen muß. Hast du eigentlich die Hand des Toten betrachtet?«

 

»Nein.« Manfred sah Leon erstaunt an.

 

»Das ist schade – die Sache wäre dir dann wohl noch viel merkwürdiger vorgekommen. Was hast du denn beobachtet?«

 

»Ich wunderte mich, daß Lord Pertham eine Pistole bei sich trug. Er muß sie schon während des Essens bei sich gehabt haben.«

 

»Das kann ich dir leicht erklären. Erinnerst du dich, daß er uns erzählte, er sei in anonymen Briefen bedroht worden?«

 

»Das hatte ich ganz vergessen. Wer hat denn die Tür oben abgeschlossen?«

 

»Natürlich der Einbrecher.« Leon lächelte, und dieses Lächeln verriet Manfred, daß sein Freund nicht seine wahre Meinung sagte.

 

»Da wir nun gerade von verschlossenen Türen sprechen –«

 

Leon erhob sich, ging in sein Zimmer und kehrte mit zwei kleinen Instrumenten zurück, die wie Glocken von elektrischen Klingeln aussahen. Feine Metallspitzen schauten daraus hervor.

 

Leon schloß die Tür des Wohnzimmers und legte eine der Alarmglocken auf den Fußboden. Dann befestigte er die Metallspitze an dem Türflügel, so daß es unmöglich war, die Tür zu öffnen, ohne einen Druck auf die Klingel auszuüben. Er versuchte es, und sofort ertönte ein schrilles Klingelzeichen.

 

»Das wäre in Ordnung«, sagte er und wandte sich zu den Fenstern.

 

»Erwartest du denn Einbrecher?«

 

»Allerdings, und ich möchte wirklich nicht deshalb meinen Schlaf opfern.«

 

Leon schien mit dem Verschluß der Fenster nicht zufrieden zu sein und schob noch einen Keil hinein.

 

Eine andere Tür, die von Manfreds Zimmer direkt auf den Gang führte, sicherte er in derselben Weise wie die erste.

 

Mitten in der Nacht schlug die eine Alarmklingel schrill an. Manfred sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Seine eigene Tür war intakt, und er eilte in das Wohnzimmer, aber Gonsalez war ihm schon zuvorgekommen und betrachtete die Sicherung. Die Tür war nicht zugeschlossen. Mit dem Pantoffel schob er die Alarmglocke beiseite.

 

»Kommen Sie herein, Lord Pertham«, sagte er dann. »Wir wollen die Sache in aller Ruhe besprechen.«

 

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann hörten sie Schritte, und ein Mann trat in das Zimmer. Er war in Gesellschaftskleidung, trug aber keinen Hut. Manfred sah erstaunt auf den kahlen Kopf.

 

»Nehmen Sie Platz und machen Sie es sich bequem. Ich darf Ihnen wohl die Waffe abnehmen, die Sie in der Tasche haben? Vielleicht können wir dann die Angelegenheit auf freundschaftliche Weise erledigen.«

 

Zweifellos war es Lord Pertham, obwohl man nichts mehr von seinem üppigen Haarwuchs sehen konnte. Manfred war aufs höchste überrascht, als Leon mit seiner linken Hand in die Rocktasche des Besuchers griff und eine Pistole hervorzog, die er sorgfältig auf den Kaminsims legte.

 

Lord Pertham sank in einen Stuhl und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Eine Weile herrschte tiefe Stille in dem Zimmer.

 

»Erinnerst du dich des ehrenwerten George Fearnside?« begann Leon.

 

»Fearnside – ja, er war doch damals auf der Jacht des Herzogs«, sagte Manfred verblüfft.

 

»Ganz recht. Wir dachten seinerzeit, daß er uns nicht mit entkommenen Übeltätern identifizieren würde, aber offensichtlich wußte er doch, daß wir die Vier Gerechten waren. Sie erbten Ihren Titel doch etwa vor sechs Jahren, Lord Pertham?«

 

Der zusammengesunkene Mann nickte, aber plötzlich richtete er sich auf. Sein Gesicht war kreidebleich, und tiefe, schwere Schatten lagen unter seinen Augen.

 

»Nun, meine Herren, es scheint, daß Sie mich fingen, anstatt daß ich Sie faßte. Was wollen Sie nun unternehmen?«

 

Gonsalez lachte leise.

 

»Ich habe nicht die geringste Neigung, vor Gericht als Zeuge aufzutreten und zu bekunden, daß Lord Pertham ein Bigamist ist und schon seit vielen Jahren ein Doppelleben führt. Denn das würde bedeuten, daß ich auch gewisse unangenehme Details über mich selbst geben müßte.«

 

Lord Pertham räusperte sich.

 

»Ich kam hierher, um Sie zu töten«, sagte er heiser.

 

»Das haben wir vermutet«, erwiderte Manfred. »Was steckt denn eigentlich hinter dieser ganzen Geschichte, Leon?«

 

»Es wäre wohl das beste, wenn Lord Pertham uns alles erzählte«, entgegnete Gonsalez.

 

Der Lord sah sich im Zimmer um.

 

»Würden Sie mir bitte ein Glas Wasser geben?«

 

Leon erfüllte seine Bitte.

 

»Es ist richtig«, begann er nach einer Weile, »daß ich Sie als zwei Mitglieder der Vier Gerechten erkannte. Ich war mit dem Herzog eng befreundet und befand mich zufällig an Bord seiner Jacht, als Sie dorthin kamen. Mein Freund erzählte mir zwar eine lange Geschichte von einer Flucht, die Ihre Anwesenheit auf der Jacht erklären sollte, aber als ich in Spanien an Land ging und die Berichte in den Zeitungen las, wußte ich, wer Sie waren. Wahrscheinlich wissen Sie auch aus meinem früheren Leben, daß ich als gewöhnlicher Matrose in der Handelsmarine diente und um die ganze Welt reiste. Diese Art Leben sagte mir mehr als alles andere zu. Auf diese Weise konnte ich Land und Leute kennenlernen, und zwar von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus, als ich es als Mitglied der großen Gesellschaft jemals hätte tun können. Wenn man die Welt wirklich kennenlernen will, muß man als Matrose reisen!

 

Ich traf Martha Grey eines Abends in einem Theater im Osten Londons. Als ich noch zur See fuhr, handelte ich auch wie ein richtiger Matrose. Zwischen mir und meinem Vater herrschten nicht gerade die besten Beziehungen, und ich hatte deshalb auch nie das Verlangen, nach Hause zu gehen. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, aber als das Mädchen an meiner Seite im dunklen Theater saß, verliebte ich mich in sie.«

 

»Und Sie haben dann Miss Grey geheiratet?« fragte Leon.

 

»Nein«, erwiderte der Lord schnell. »Ich ließ mich törichterweise überreden, mich drei Monate später mit Mylady trauen zu lassen, nachdem mir das Abenteurerleben zur See über geworden war und ich wieder in der Gesellschaft verkehrte. Sie war die Erbin eines großen Vermögens und war aus diesem Grund eine gute Partie. Dies spielte sich ab, bevor mein Vater den Titel und das Vermögen seines Vetters geerbt hatte. Das Eheleben, das ich mit Mylady führte, war entsetzlich, es war die Hölle auf Erden. Sie haben sie ja heute abend selbst gesehen und ihre Art kennengelernt. Ich habe eine zu große Achtung vor Frauen und stand zu sehr unter ihrem Einfluß, als daß ich das giftige Temperament meiner Frau hätte zügeln können. Und dieses schreckliche Leben, das ich zu Hause führen mußte, trieb mich zu Martha.

 

Sie hat einen guten Charakter.« Seine Augen leuchteten auf. »Sie ist die reinste, selbstloseste und liebevollste Frau, die jemals lebte. Als ich sie wieder traf, wurde mir erst bewußt, wie sehr ich sie liebte. Bei einem Mädchen ihrer Art blieb kein anderer Weg – ich heiratete sie. Auf einer Reise nach Australien bekam ich ein schweres Fieber und verlor mein ganzes Haar. Das war aber schon lange, bevor ich Martha traf. Es mag Eitelkeit gewesen sein, daß ich mir eine Perücke machen ließ, als ich wieder zu meinen Verwandten und zur Gesellschaft zurückkehrte. Aber es hatte einen doppelten Vorteil für mich: Einmal verbarg sie meinen kahlen Kopf und außerdem schützte sie mich vor der Gefahr, von meinen früheren Kameraden erkannt zu werden.

 

Als ich allmählich grau wurde, ließ ich auch die Farbe meiner Perücke meinem Alter entsprechend ändern. Martha fand nichts dabei, daß ich keine Haare hatte. Das Leben, das ich mit ihr führe, ist sehr glücklich. Ich muß sie von Zeit zu Zeit verlassen, um mich um die Verwaltung meines Besitzes zu kümmern. Dann gebe ich vor, daß ich eine längere Seereise mache. Mylady muß ich auf der anderen Seite erzählen, daß ich in Geschäftsangelegenheiten nach Amerika fahre, um ihr meine Abwesenheit zu erklären.«

 

»Der Mann, den Sie erschossen haben, war natürlich Marthas Halbbruder«, sagte Gonsalez.

 

Lord Pertham nickte.

 

»Es war einer der unglücklichsten Zufälle, daß er ausgerechnet in mein Haus einbrechen mußte. Bei dem Handgemenge riß er mir die Perücke ab und erkannte mich. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu erschießen«, sagte der Lord ruhig. »Ich tat es mit vollem Bewußtsein, weil mein Lebensglück durch ihn vernichtet worden wäre und weil er schon seit Jahren seine Schwester tyrannisiert und von ihrem geringen Einkommen lebt.«

 

Gonsalez nickte.

 

»Ich sah ein Büschel grauer Haare in seiner Hand und vermutete, was sich zugetragen hatte.«

 

»Was werden Sie nun tun?« fragte Lord Pertham.

 

»Was haben Sie denn vor?« fragte Leon dagegen. »Vielleicht ist es Ihnen lieb, wenn ich es Ihnen sage?«

 

»Das ist wohl das beste«, erwiderte Lord Pertham ernst.

 

»Sie nehmen Mylady mit sich auf eine Reise, sobald die Leichenschau vorüber ist, warten eine genügende Zeit und überreden sie dann, sich von Ihnen scheiden zu lassen. Wenn das geschehen ist, heiraten Sie Mrs. Prothero unter Ihrem wirklichen Namen.«

 

Manfred wandte sich an Leon, nachdem Lord Pertham in das obere Zimmer gegangen war.

 

»Du bist doch eigentlich ein ganz unmoralischer Mensch, Leon. Nimm doch einmal an, Lady Pertham läßt sich nicht von ihm scheiden –«

 

Leon lachte.

 

»Es ist gar nicht nötig, daß sie sich von Lord Pertham scheiden läßt, denn er hat uns ein wenig belogen. Er hat Martha erst geheiratet, verließ sie dann und kehrte wieder zu ihr zurück. Ich weiß das zufällig, weil ich die ganzen Heiratsregister durchgesehen habe. Es gab eine Mrs. Prothero, ehe es eine Lady Pertham gab.«

 

»Du bist wirklich ein Prachtkerl, mein lieber Leon«, sagte Manfred bewundernd.

 

»Ja, da hast du recht«, gab Gonsalez bescheiden zu.

 

Kapitel 5

 

5

 

Der Mann, der Amelia Jones haßte

 

Leon Gonsalez erhielt einen Brief, der eine spanische Marke trug. Während Cordova schlief, hatte der ruhige Poiccart in einer Mußestunde an seine Freunde geschrieben und von allem berichtet, was ihm in den Sinn kam. Er hatte in einer Orangenlaube gesessen und auf den majestätischen Guadalquivir hinabgeschaut, dessen gelbe Fluten aus den Ufern getreten waren.

 

»Er ist von Poiccart«, sagte Leon.

 

»Ja, was schreibt er denn?« fragte George Manfred, der schläfrig in einem großen Lehnstuhl vor dem Kamin saß.

 

Eine grüne Leselampe und das flackernde Feuer beleuchteten das gemütliche Wohnzimmer in der Jermyn Street.

 

»Also – erzähl.« George streckte sich gemächlich aus.

 

»Auf seinen Zwiebelfeldern ist eine Krankheit ausgebrochen«, begann Leon feierlich.

 

Manfred mußte lachen.

 

»Sieh einmal an, Poiccart hat jetzt eine Zwiebelplantage!«

 

»Warum auch nicht?« fragte Leon. »Hast du eigentlich ›Die drei Musketiere‹ gelesen?«

 

»Natürlich«, erwiderte Manfred und schaute lächelnd in die Flammen.

 

»In welcher Ausgabe?«

 

»In dem Buch ›Die drei Musketiere‹«, antwortete Manfred erstaunt.

 

»Das war nicht richtig. Wenn du den wirklichen Charakter der drei Musketiere kennenlernen willst, dann mußt du das Buch ›Nach zwanzig Jahren‹ lesen. Da ist einer von ihnen behäbig und dick geworden und legt viel Wert auf seine Kleidung, ein anderer ist ein Hofmann beim König von Frankreich, und der dritte kümmert sich auf seine alten Tage um den Liebeskummer seiner Tochter. Sie sind dann ebenso menschlich geworden, mein lieber Manfred, wie Poiccart, der jetzt Zwiebeln züchtet. Soll ich dir ein wenig aus seinem Brief vorlesen?«

 

»Bitte«, sagte Manfred sehr verlegen.

 

*

 

»Ich habe wunderbare Rosenbeete. Manfred würde seine Freude daran haben … Ereifert Euch nicht zu sehr über diese Geschichten von den neuen Blutproben. Irgend so ein amerikanischer Doktor hat behauptet, daß er daraus die Verwandtschaftsgrade zweier Personen feststellen kann … Die kleinen Ferkel gedeihen aufs beste. Eins von ihnen ist ganz besonders intelligent und nachdenklich, ich habe es George getauft.«

 

Manfred grinste vergnügt.

 

»Wir werden ein gutes Weinjahr bekommen, wie man hier allgemein sagt. Aber die Orangenernte wird nicht so gut ausfallen wie letztes Jahr … Wißt Ihr auch schon, daß die Fingerabdrücke von Zwillingen identisch sind? Merkwürdigerweise sind aber die Fingerabdrücke der menschenähnlichen Affen meistens ungleich. Ich wünschte, Ihr würdet Euch darüber etwas genauer informieren …«

 

*

 

Leon las weiter von Poiccarts kleinen häuslichen Sorgen, von seinen neuen wissenschaftlichen Erfahrungen und von dem Stadtklatsch, dann faltete er die zehn engbeschriebenen Blätter und steckte sie in die Tasche.

 

»Was er da über die Fingerabdrücke von Zwillingen schreibt, ist natürlich nicht richtig. In dem Punkt hat sich Lombroso schwer geirrt. Das ganze System ist überhaupt unzureichend.«

 

»Ich habe aber noch nie gehört, daß jemand etwas daran aussetzte. Warum hältst du es denn für unzureichend?« fragte George erstaunt.

 

Leon rollte sich geschickt eine Zigarette und steckte sie in Brand, bevor er antwortete.

 

»In Scotland Yard haben sie eine Sammlung von schätzungsweise hunderttausend Fingerabdrücken. In Großbritannien gibt es aber fünfzig Millionen Menschen. Wir haben also glücklich in Scotland Yard den fünfhundertsten Teil der ganzen Bevölkerung erfaßt. Nehmen wir einmal an, du wärst ein Polizeibeamter und würdest zur Albert Hall gerufen, wo fünfhundert Leute versammelt sind. Man sagt dir, daß einer von ihnen gestohlene Gegenstände bei sich trägt, und gibt dir die Erlaubnis, alle zu durchsuchen. Würdest du zufrieden sein, einen einzigen zu durchsuchen und alle anderen frei laufen zu lassen, wenn du nichts bei ihm findest?«

 

»Natürlich nicht. Aber was willst du damit sagen?«

 

»Meiner Ansicht nach kann man nicht behaupten, daß zwei menschliche Fingerabdrücke gleich sind, bevor man nicht die Fingerabdrücke aller Bewohner dieses Landes und aller Länder Europas miteinander verglichen hat. Es müßte ein Gesetz eingebracht werden, das die Registrierung der Fingerabdrücke aller Bürger fordert, ferner müßten alle Nationen die Fingerabdrücke ihrer Einwohner untereinander austauschen.«

 

»Damit wäre also das System der Fingerabdrücke geregelt«, sagte Manfred mit dem Brustton der Überzeugung.

 

»Logischerweise wohl, aber in der Wirklichkeit noch lange nicht.«

 

Es trat ein langes Schweigen ein, dann nahm Manfred ein Buch von dem kleinen Regal neben dem Kamin.

 

Plötzlich erhob sich Gonsalez und verließ unauffällig den Raum. Manfred schaute auf die Uhr – es war halb neun.

 

Fünf Minuten später kam Leon wieder zurück. Er hatte sich umgezogen, und seine Verkleidung war wie immer vollkommen. Er hatte sich nicht in dem gewöhnlichen Sinn des Wortes maskiert, denn er hatte sein Gesicht in keiner Weise bearbeitet, hatte auch seine Haare nicht anders gefärbt. Seine Verwandlungskunst bestand nur in seiner vollendeten Mimik und einem besonderen Geschick, sich in das Wesen anderer Menschen einzufühlen. Er sah aus wie ein armer Mann. Sein Kragen war sauber, aber ein wenig ausgefranst, seine Stiefel glänzten, aber sie waren alt und geflickt. Die Absätze waren abgetreten, aber er hatte zwei Gummiecken darauf genagelt, die gerade ein wenig zu groß waren.

 

»Du siehst aus wie ein alter Mann, der sich mühsam seinen Lebensunterhalt erwirbt und dabei doch immer noch versucht, standesgemäß aufzutreten«, meinte Manfred.

 

Gonsalez schüttelte den Kopf.

 

»Heute abend spiele ich die Rolle eines Rechtsanwalts, der vor zwanzig Jahren aus der Liste der Anwälte gestrichen wurde und sich ruinierte, weil er einem armen Mann half, der Gesetzesstrafe zu entkommen. Das ist doch noch eine sympathischere Rolle, George. Außerdem haben die Leute mehr Zutrauen zu mir und suchen meinen Rat in allen möglichen Angelegenheiten. An einem der nächsten Abende mußt du mit mir zu dem Wirtshaus ›Cow and Compasses‹ kommen und meinen Vortrag über das Eigenvermögen der verheirateten Frau hören.«

 

»Viel Erfolg, Leon, und meine besten Grüße an Amelia Jones.«

 

Gonsalez biß sich auf die Lippen und sah nachdenklich in das Kaminfeuer.

 

»Ja, die arme Amelia Jones«, sagte er leise.

 

»Du bist wirklich ein prächtiger Mensch.« Manfred lächelte. »Es gelingt nur dir, eine alte Aufwartefrau mit dem Zauber der Romantik zu umgeben.«

 

Leon zog einen abgetragenen Mantel an.

 

»Ich glaube, der englische Dichter Pope sagte einmal, daß jeder romantisch ist, der etwas Schönes bewundern kann oder fähig ist, selbst eine schöne Tat zu tun. Amelia Jones hat beides getan.«

 

»Cow and Compasses« ist ein kleines Gasthaus in der Treet Road in Deptford. Der Abend war kühl und neblig, und die düstere Straße lag einsam und verlassen da, als Leon in die Schenke eintrat. Das ungünstige Wetter hielt wahrscheinlich auch die Gäste fern, denn es waren nur wenig Rechtsuchende an diesem Abend gekommen. Kaum ein halbes Dutzend Leute befanden sich in der Gaststube, als er zu dem Schanktisch ging.

 

Eine Frau, die offensichtlich auf ihn gewartet hatte, erhob sich von einer Bank, als sie ihn sah. Leon schritt mit dem Glas in der Hand auf sie zu.

 

»Nun, Mrs. Jones, wie geht es Ihnen?« begrüßte er sie. Er schaute in das abgezehrte, bleiche Gesicht einer stattlichen Frau. Ihre Hände zitterten krampfhaft.

 

»Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind«, sagte sie.

 

Sie hielt ein kleines Glas Portwein in der Hand, aber es war kaum berührt. Leon hatte diese Frau kennengelernt, als sie an einem verzweifelten Abend, von Furcht und Schrecken getrieben, aus ihrer einsamen Wohnung in diese Gaststube geflohen war. Er selbst verfolgte damals mit großer Vorsicht einen breitschulterigen Dienstmann, den er in Covent Garden getroffen hatte und der einen außergewöhnlich geformten Schädel besaß. Er war ihm bis zu seiner Wohnung und diesem Gasthaus gefolgt und war gerade dabei, wenn möglich, die Lebensgeschichte dieses Mannes festzustellen und seine Schädelabmessungen zu nehmen, als er die Bekanntschaft von Amelia Jones machte. Diesen Abend hatte sie scheinbar etwas besonders Wichtiges auf dem Herzen, denn sie machte drei vergebliche Ansätze, bevor sie zu erzählen begann.

 

»Mr. Lukas (unter diesem Namen verkehrte Gonsalez in der Wirtschaft), ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten. Sie sind so gütig zu mir gewesen und haben mir schon manchen Rat gegeben wegen meines Mannes und wegen all dieser unangenehmen Dinge. Aber diesmal ist es ein großes Opfer für Sie – Sie sind ein so vielbeschäftigter Mann.«

 

Sie sah ihn bittend, fast flehend an.

 

»Ich habe im Augenblick viel Zeit«, erwiderte Gonsalez.

 

»Würden Sie morgen mit mir fortfahren? Ich möchte, daß Sie – daß Sie jemand sehen.«

 

»Aber gewiß, Mrs. Jones.«

 

»Können Sie mich morgen früh um neun Uhr am Paddington-Bahnhof erwarten? Ich werde natürlich Ihre Fahrkarte zahlen«, sagte sie eifrig. »Ich kann nicht dulden, daß Sie meinetwegen auch noch Ausgaben haben. Ich habe etwas Geld gespart.«

 

»Ich habe heute auch etwas verdient, so daß Sie sich darum nicht zu kümmern brauchen. Haben Sie etwas von Ihrem Mann gehört?«

 

»Nicht von ihm selbst, aber von einem anderen Mann, der eben aus dem Gefängnis gekommen ist.«

 

Ihre Lippen zitterten, und Tränen traten in ihre Augen.

 

»Er wird seine Drohung schon wahr machen, ich weiß es ganz genau«, sagte sie mit schluchzender Stimme. »Aber ich habe nicht meinetwegen Sorge.«

 

Leon sah sie erstaunt an. »Sie haben keine Sorge um sich?«

 

Er hatte schon immer vermutet, daß noch eine dritte Person im Spiel war, aber er hatte bisher noch nicht klarsehen können.

 

»Nein«, erwiderte sie bedrückt. »Sie wissen, daß er mich haßt, und Sie wissen auch; daß er mich umbringen wird, sobald er aus dem Gefängnis kommt. Aber ich habe Ihnen noch nicht alles erzählt.«

 

»Wo ist er denn jetzt?«

 

»Im Gefängnis zu Devizes. Er ist dorthin versetzt worden, in zwei Monaten wird er entlassen.«

 

»Und Sie glauben, daß er dann gleich zu Ihnen kommt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, so wird er es nicht machen«, entgegnete sie bitter. »Das ist nicht seine Art. Sie kennen ihn nicht, Mr. Lukas. Aber niemand kennt ihn so gut wie ich. Wenn er gleich zu mir käme, dann wäre ja alles gut. Aber das tut er nicht. Er wird mich ermorden, ich sage es Ihnen. Ich sorge mich nicht darum, wann es kommt. Er wurde nicht umsonst Bash Jones, der Totschläger, genannt. Ich kann dem Schicksal nicht entfliehen«, fuhr sie grimmig fort. »Er wird geradenwegs in mein Zimmer gehen und mich, ohne ein Wort zu sprechen, einfach niederschlagen. Und das wird dann mein Ende sein. Aber das ist mir alles gleich, darum kümmere ich mich nicht. Es ist das andere, was mir fast das Herz bricht und was mich die ganze Zeit so bedrückt hat.«

 

Leon wußte, es war nutzlos, ihr zuzureden, daß sie ihm alle ihre Sorgen anvertrauen sollte. Kurz darauf verließen sie zusammen die Wirtschaft.

 

»Ich hätte Sie gern gebeten, mich in meiner Wohnung zu besuchen, aber das würde die ganze Sache nur noch schlimmer machen, und ich möchte nicht, daß Sie meinetwegen in Unannehmlichkeiten kommen, Mr. Lukas.«

 

Er gab ihr zum erstenmal die Hand, und sie drückte sie schwach.

 

Nur wenige Menschen haben Amelia Jones bisher die Hand gegeben, dachte Gonsalez.

 

Er ging nach der Jermyn Street zurück und fand Manfred, der vor dem Kamin eingeschlafen war.

 

Am nächsten Morgen wartete er im Paddington-Bahnhof. Sein Anzug war diesmal nicht ganz so abgetragen, und zu seiner Überraschung hatte sich auch Mrs. Jones viel besser gekleidet, als er für möglich gehalten hatte. Ihre Kleider waren zwar einfach, aber niemand hätte in ihr eine arme Aufwartefrau vermutet. Sie lösten Billetts nach Swindon und sprachen auf der Hinfahrt wenig miteinander. Offenbar hatte sie sich noch nicht dazu entschlossen, sich ihm gegenüber auszusprechen.

 

In Newbury wurde der Zug aufgehalten, bis ein Personenzug, der nach der Stadt fuhr, auf ein Nebengeleise umgeleitet war, um einen Feriensonderzug vorbeifahren zu lassen. Frohe Knaben und Mädchen winkten aus den Fenstern.

 

»Ich hatte ganz vergessen, daß die Osterferien beginnen«, sagte Leon.

 

In Swindon stiegen sie aus, und nun sprach Amelia Jones zum erstenmal über den Zweck ihrer Reise.

 

»Wir müssen hier auf dem Bahnsteig bleiben«, sagte sie nervös. »Ich erwarte jemand, und ich möchte gern, daß Sie das Mädchen auch sehen, Mr. Lukas.«

 

Gleich darauf fuhr ein anderer Sonderzug ein, und die Mehrzahl der Fahrgäste waren wieder Kinder. Einige stiegen aus, um von hier aus andere Züge zu benutzen, die nicht nach London fuhren.

 

Leon sprach mit seiner Begleiterin, obwohl er wußte, daß sie ihm nicht zuhörte. Plötzlich sah er, wie ihre Augen aufleuchteten. Sie verließ ihn mit einem kleinen Seufzer, ging den Bahnsteig entlang und begrüßte ein hübsches, schlankes Mädchen, das an der Mütze das rotweiße Band einer berühmten Schule im Westen Englands trug.

 

»Mrs. Jones, es ist lieb von Ihnen, daß Sie hierhergekommen sind, um mich zu treffen. Ich wünschte, Sie würden sich nicht soviel Mühe machen. Ich wäre ebensogerne nach London gekommen«, sagte sie lachend. »Ist dies ein Bekannter von Ihnen?« Sie reichte Leon mit einem freundlichen Lächeln die Hand:

 

»Es ist schon gut, Miss Grace«, entgegnete Mrs. Jones erregt, »ich dachte nur, ich würde schnell hierherfahren, um Sie wieder einmal zu sehen. Wie geht es denn auf der Schule?«

 

»Oh, glänzend. Ich habe einen Schulpreis gewonnen.«

 

»Ist das nicht herrlich?« sagte Mrs. Jones fast ehrfürchtig. »Aber Sie haben Ihre Sachen schon immer sehr gut gemacht, mein Liebling.«

 

Das Mädchen wandte sich an Leon.

 

»Mrs. Jones war meine Kinderfrau vor vielen, vielen Jahren. Das stimmt doch, Mrs. Jones?«

 

Amelia nickte.

 

»Wie geht es denn Ihrem Mann? Ist er noch so unliebenswürdig?«

 

»Ach, er ist nicht so schlecht«, anwortete Mrs. Jones tapfer. »Nur manchmal ist es schwer, mit ihm auszukommen.«

 

»Ich hätte eigentlich Lust, ihn einmal zu sehen.«

 

»Ach nein, das wäre nichts für Sie, Miss Grace«, sagte Mrs. Jones hastig. »Das gibt Ihnen nur Ihr gutes Herz ein. Wo werden Sie denn die Ferien zubringen?«

 

»Ich gehe mit einigen Freundinnen nach Clifton. Molly Walker hat uns eingeladen. Sie ist die Tochter von Sir George Walker.«

 

Amelia Jones sah das Mädchen begeistert an, und Leon verstand, daß sich alle Liebe, deren diese arme Frau fähig war, auf dieses Kind konzentrierte, das sie aufgezogen hatte. Die drei gingen auf dem Bahnsteig auf und ab, bis der Anschlußzug einfuhr. Mrs. Jones stand vor der Tür des Abteils, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Dann schaute sie den Wagen nach, die in der Ferne verschwanden.

 

»Ich werde sie nie wiedersehen«, sagte sie verzweifelt. »Nie wieder!«

 

Ihr Gesicht war eingefallen und noch bleicher als sonst. Leon nahm ihren Arm.

 

»Sie müssen jetzt mit mir kommen und etwas zu sich nehmen, Mrs. Jones. Sie haben wohl dieses junge Mädchen sehr gern?«

 

»Ob ich sie gern habe? O ja, ich liebe sie – sie ist ja meine Tochter!«

 

Als sie nach London zurückfuhren, saßen sie allein in einem Abteil, und nun erzählte Mrs. Jones ihre Leidensgeschichte.

 

»Grace war erst drei Jahre alt, als ihr Vater in Schwierigkeiten kam. Er war schon immer ein brutaler Mensch, und ich bin jetzt davon überzeugt, daß die Polizei seit seiner frühesten Jugend immer ein Auge auf ihn hatte. Als ich ihn heiratete, wußte ich das noch nicht. Er brach in ein Haus ein, in dem ich Kindermädchen war, und ich wurde damals entlassen, weil ich die Küchentür für ihn hatte offenstehen lassen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß er ein Dieb war. Er wurde dann zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt, und als er wieder herauskam, schwor er, er würde nicht wieder ins Gefängnis zurückgehen. Wenn er das nächstemal in Gefahr käme, würde er einen Mord begehen. Er und einer seiner Bekannten machten bald darauf die Bekanntschaft eines reichen Buchmachers in Blackheath. Mein Mann pflegte alle schmutzige Arbeit für ihn zu tun, aber schließlich zankten sie sich, und Bash beraubte mit seinem Komplicen das Haus des Buchmachers. Sie erbeuteten nahezu neuntausend Pfund. Sie verübten den Einbruch an einem Renntage, und Bash wußte, daß sehr viele Banknoten im Haus lagen, die auf dem Rennplatz eingenommen waren. Man konnte also die Herkunft der Scheine nicht nachweisen. Ich dachte zuerst, daß er den Mann umgebracht hätte, und es lag ja auch nicht an ihm, daß es nicht so gekommen war. Er ging in das Schlafzimmer des Buchmachers und schlug ihn im Bett nieder. Das war so seine Art. Er glaubte, die Polizei würde genaue Nachforschungen anstellen und gab mir das Geld, damit ich es verwahren sollte. Ich mußte die Banknoten in eine alte Bierflasche stopfen, die halb mit Sand gefüllt war, dann fest verkorken und den Flaschenhals über und über mit geschmolzenem Stearin begießen, damit die Flasche wasserdicht wurde. Später versenkte ich sie in eine Zisterne, die man von einem der Räume unserer Wohnung auf der Rückseite des Hauses erreichen konnte. Ich war fast wahnsinnig vor Furcht, weil ich dachte, der Buchmacher sei ermordet worden. Aber ich tat alles, was Bash mir sagte, und versenkte die Flasche in dem Brunnen. Am selben Abend wollte Bash Jones mit seinem Komplicen nach Nordengland fahren, aber sie wurden schon am Euston-Bahnhof verhaftet. Bashs Freund wurde bei einem Fluchtversuch getötet, er lief in einen gerade ankommenden Zug hinein. Aber Bash Jones verhafteten sie, und unsere Wohnung wurde vollständig durchsucht. Er bekam fünfzehn Jahre Zuchthaus und wäre schon vor zwei Jahren herausgekommen, wenn er sich im Gefängnis ordentlich benommen hätte.

 

Ich mußte nun meine Lage überdenken, und mein erster Gedanke galt meinem Kind. Es war mir klar, welch trauriges Los Grace bevorstand, wenn sie unter diesen Umständen aufwuchs, in dieser schrecklichen Umgebung, in den Elendsquartieren von London, in ständiger Furcht vor der Polizei. Mein Mann hätte sein Geld immer wieder in ein paar Wochen durchgebracht, selbst wenn er eine Million besessen hätte. Ich wußte, daß ich Bash nun für mindestens zwölf Jahre los war, und als ich lange und angestrengt alles überdacht hatte, faßte ich einen Entschluß.

 

Nach zwölf Monaten wagte ich es, das Geld aus dem Brunnen zu holen, denn die Polizei hatte immer noch ein Auge auf mich und beobachtete mich scharf, da das gestohlene Geld nicht gefunden worden war. Ich will Ihnen nicht erzählen, wie ich gute Kleider kaufte, so daß niemand eine Arbeiterfrau in mir vermuten konnte, und wie ich das Geld anlegte.

 

Ich kaufte wertbeständige Aktien dafür. Ich habe zwar keine gute Erziehung genossen, aber ich habe monatelang die Zeitungen gelesen und immer die Börsenberichte genau studiert. Zuerst verwirrten mich die vielen Zahlen, und ich wußte nicht, was ich daraus machen sollte. Aber allmählich verstand ich sie immer besser, und schließlich kaufte ich argentinische Eisenbahnaktien. Ich übergab sie einem Rechtsanwalt in Bermondsey, den ich zum Verwalter des Vermögens machte. Meine Tochter erhält vierteljährlich die Zinsen und zahlt davon alle ihre eigenen Rechnungen. Ich habe niemals einen Shilling von dem Geld angerührt. Die nächste Aufgabe war nun, meine Tochter aus dieser armseligen Umgebung fortzubringen. Mein Herz brach beinahe, daß ich mich von ihr trennen mußte, aber ich schickte sie in ein Heim für kleine Kinder, bis sie alt genug war, um in die Schule zu gehen. Ich besuchte sie in regelmäßigen Zwischenräumen. Als ich aber nach meinem ersten Besuch merkte, daß sie fast vergessen hatte, wer ich war, gab ich mich als ihre Kinderfrau aus. Nun wissen Sie alles.«

 

Gonsalez schwieg eine lange Weile.

 

»Weiß Ihr Mann davon?« fragte er dann.

 

»Er weiß, daß ich das Geld verbraucht habe.« Sie starrte geistesabwesend aus dem Fenster. »Er weiß auch, daß das Mädchen auf einer guten Schule ist. Er wird alles herausbringen«, sagte sie leise.

 

Das war also das Geheimnis dieser Frau. Leon war aufs tiefste erschüttert.

 

»Warum glauben Sie, daß er Sie töten will? Diese Leute drohen zwar häufig, aber sie führen ihre Drohungen nicht aus.«

 

»Bash Jones droht für gewöhnlich nicht«, unterbrach sie ihn. »Das hat er auch nicht getan. Ich weiß nur, daß er die Leute, die mich kennen, nach mir ausgefragt hat. Es sind die Leute von Deptford, die er im Gefängnis getroffen hat. Er fragt sie, wo ich über Nacht bin, wann ich zu Bett gehe, welche Beschäftigung ich tagsüber habe.«

 

»Ja, jetzt verstehe ich den Zusammenhang. Haben ihm denn die Leute die nötigen Angaben gemacht?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, sie sind alle für mich und haben ihr Bestes getan, um mir zu helfen. Es sind wohl schlechte Menschen, sie begehen Verbrechen, aber in mancher Beziehung haben sie doch ein gutes Herz. Sie haben ihm nichts verraten.«

 

»Wissen Sie das ganz bestimmt?«

 

»Ja. Wenn sie es ihm gesagt hätten, würde er doch nicht weiterfragen. Vor einem Monat wurde Toby Brown von dort entlassen. Er erzählte mir, daß Bash Jones immer noch nach mir fragt. Mein Mann will nicht wieder ins Gefängnis zurück und rechnet damit, daß er noch bis Mitte des Jahres zu leben hat, wenn sie ihn fangen.«

 

Leon kehrte in gehobener Stimmung nach Hause zurück.

 

»Wo warst du denn?« fragte Manfred. »Ich habe inzwischen mit dem tüchtigen Mr. Fare zu Mittag gespeist.«

 

»Und ich habe etwas außerordentlich Erhebendes und Großartiges erlebt. Nicht daß ich selbst eine Heldentat vollbracht hätte, George, nein, aber ich bin ganz begeistert von dieser Amelia Jones. Sie ist eine wunderbare Frau, George. Um ihretwillen werde ich einen Monat Ferien machen. Während der Zeit kannst du ja nach Spanien reisen, unseren lieben Poiccart besuchen und einmal hören, wie es mit seinen Zwiebelfeldern steht.«

 

»Ich würde ganz gerne auf einige Tage nach Madrid gehen«, meinte Manfred nachdenklich. »Ich finde zwar London auch sehr anziehend, aber wenn du wirklich eine Erholungsreise machen willst – wo willst du übrigens deine Ferien verbringen?«

 

»Im Gefängnis zu Devizes«, antwortete Gonsalez freundlich.

 

Manfred kannte ihn zu gut, um irgendeine Bemerkung darüber zu machen.

 

Schon am nächsten Nachmittag begab sich Leon Gonsalez nach Devizes. Er kam bei Einbruch der Dunkelheit dort an und schwankte mit unsicheren Schritten auf den Marktplatz. Um zehn Uhr abends lehnte er an der Rückwand des »Hotel zum Bären« und sang mit lauter Stimme lustige Lieder. Ein Polizist fand ihn dort und forderte ihn auf, ruhig zu sein und weiterzugehen. Darauf begann Leon den Beamten in der unflätigsten Weise zu beschimpfen.

 

Am nächsten Morgen mußte er sich deshalb vor dem Polizeirichter verantworten. Er war angeklagt wegen Trunkenheit, wegen widersetzlichen Benehmens gegen einen Polizisten und wegen Beamtenbeleidigung.

 

»Dieser Fall ist so schwer, daß er kaum mit einer Geldstrafe gesühnt werden kann«, sagte der Polizeirichter. »Dies ist ein Fremder, der von London hierhergekommen ist und sich in der niederträchtigsten Weise benommen hat. Liegt sonst etwas gegen den Mann vor?«

 

»Nein«, entgegnete der Gefängniswärter bedauernd.

 

»Sie werden eine Strafe von zwanzig Shilling zahlen oder, wenn Sie nicht zahlen, einundzwanzig Tage ins Gefängnis wandern.«

 

»Dann will ich lieber ins Gefängnis gehen als das Geld zahlen«, erklärte Leon, der Wahrheit entsprechend.

 

So wurde er denn in das Gefängnis des Ortes gebracht, wie er erwartet hatte.

 

Einundzwanzig Tage später kam er braungebrannt, gesund und vergnügt in die gemeinschaftliche Wohnung in der Jermyn Street zurück. Manfred ging ihm mit ausgestreckten Händen entgegen.

 

»Ich habe schon gehört, daß du zurückgekommen bist«, sagte Leon erfreut. »Ich habe eine großartige Zeit verlebt. Sie haben allerdings meine Berechnungen ziemlich über den Haufen geworfen, als sie mir nur drei Wochen statt eines Monats gaben, und ich dachte schon, ich würde vor dir zurück sein.«

 

»Ich kam gestern an«, erwiderte George, und seine Blicke wanderten zum Büfett.

 

Sechs große spanische Zwiebeln lagen dort in einer Reihe. Gonsalez mußte herzlich lachen. Dann ging er in sein Zimmer und legte den abgetragenen Anzug ab. Als er nach einiger Zeit wieder mit seinem gewöhnlichen Aussehen ins Zimmer trat, erzählte er George Manfred von seinen Erfahrungen.

 

»Bash Jones hat unzweifelhaft die Absicht, seine Frau zu ermorden. Ich habe ihn genau betrachtet, derartig unregelmäßige Gesichtszüge habe ich noch nie gesehen. Wir haben zusammen in der Schneiderwerkstätte gearbeitet. Nächsten Montag kommt er heraus.«

 

»Er hat sich wohl an dich herangemacht, als er entdeckte, daß du von Deptford kamst?«

 

Leon nickte.

 

»Er wird den Anschlag gegen seine Frau am Dritten nächsten Monats ausführen, einen Tag nach seiner Entlassung.«

 

»Woher weißt du denn das so genau?« fragte Manfred erstaunt.

 

»Weil das die einzige Nacht ist, in der Amelia Jones allein in dem Hause schläft. Sie hat noch zwei Untermieter, junge Leute, die bei der Eisenbahn beschäftigt sind, die haben am Dritten jeden Monats bis drei Uhr morgens Dienst.«

 

»Entspricht das den Tatsachen, oder hast du ihm das nur eingeredet?«

 

»Ich habe ihm natürlich ein Märchen erzählt, aber er nahm die Geschichte für bare Münze. Die beiden jungen Leute haben keinen Hausschlüssel und müssen durch die Küchentür hereinkommen, die Mrs. Jones für sie offenläßt. Zu der Küchentür kommt man dann durch einen engen Gang von der Little Mill Street aus, der an der Hauswand entlangführt. Er hat mich gleich mit Fragen bestürmt und mir auch gesagt, daß er niemals wieder ins Gefängnis kommen wird, höchstens auf kurze Zeit. Ein interessanter Mann. Es ist wohl das beste, daß er stirbt«, sagte Leon ernst und nachdenklich. »Denke daran, welches Unheil er anrichten kann, George. Das arme Mädchen, das nun glücklich und zufrieden bei ihren Freundinnen weilt – sie ist so wohlerzogen –«

 

»Wenn sie einen so gemeinen Verbrecher wie Bash Jones zum Vater hat?« fragte Manfred lächelnd.

 

»Ich wiederhole, sie ist wohlerzogen. Erziehung erwirbt ein Mensch durch langen Umgang mit vornehm denkenden Leuten. Nimm den Sohn eines Herzogs und lasse ihn in den Verbrechervierteln von London aufwachsen, und du wirst einen Verbrecher aus ihm machen. Denke doch einmal, wie entsetzlich es wäre, wenn man dieses Kind wieder in die traurige Umgebung von Deptford zurückversetzte! Das würde doch die Folge sein, wenn Bash Jones seine Frau nicht umbrächte. Wenn er sie auf der anderen Seite aber tatsächlich ermordet, dann kommt die ganze schreckliche Wahrheit ans Licht. Beides wäre nicht gut, und ich halte es für das beste, daß wir die Sache mit Bash Jones in Ordnung bringen.«

 

»Ich bin ganz deiner Meinung.« Manfred rauchte nachdenklich seine Zigarre.

 

Leon Gonsalez setzte sich an den Tisch, nahm einen Gedichtband von Browning und las darin. Ab und zu machte er eine Pause und sah gedankenvoll auf das Tischtuch, während er den Plan ausarbeitete, auf welche Weise Bash Jones sterben sollte.

 

Am Nachmittag des betreffenden Tages wurde Mrs. Amelia Jones durch ein Telegramm aus ihrer Wohnung gerufen. Sie traf Leon Gonsalez im Paddington-Bahnhof.

 

»Haben Sie Ihre Schlüssel mitgebracht, Mrs. Jones?«

 

»Ja«, erwiderte sie erstaunt. »Wissen Sie auch schon, daß mein Mann aus dem Gefängnis gekommen ist?«

 

»Es ist mir bekannt, und gerade weil er frei ist, möchte ich, daß Sie einige Tage verreisen. Ich habe Freunde in Plymouth, sie werden Sie wahrscheinlich an der Bahn abholen. Und wenn Sie sich verfehlen sollten, so wenden Sie sich an diese Adresse.«

 

Er gab ihr einen Zettel mit der Adresse einer Pension, die er in einer Zeitung von Plymouth gefunden hatte.

 

»So, und hier haben Sie auch einiges Geld. Ich bestehe darauf, daß Sie es annehmen. Meine Freunde wollen Ihnen sehr gern helfen.«

 

Sie vergoß Tränen der Dankbarkeit; als er sich von ihr trennte.

 

»Sind Sie auch sicher, daß Sie Ihr Haus abgeschlossen haben?« fragte Leon beim Abschied.

 

»Ich habe den Schlüssel hier.«

 

Bei diesen Worten öffnete sie ihre Handtasche, und er sah, daß ihre Hände zitterten.

 

»Lassen Sie einmal sehen.« Leon nahm die Handtasche.

 

Er schaute in seiner kurzsichtigen Art hinein. »Ja, ich sehe ihn, er ist da.«

 

Er faßte hinein, brachte seine Hand scheinbar leer wieder heraus und schloß die Handtasche.

 

»Auf Wiedersehen, Mrs. Jones. Lassen Sie den Mut nicht sinken.«

 

Als die Dunkelheit hereinbrach, begab sich Leon Gonsalez in die Little Mill Street. Er gelangte mit seiner schwarzen Tasche unbemerkt in das Haus, denn es war ein regnerischer und windiger Abend, und die Leute zogen es vor, am warmen Kamin zu sitzen und nicht auf die unwirtliche Straße hinauszugehen.

 

Er schloß die Tür hinter sich. Mit Hilfe einer Taschenlampe fand er den Weg zu dem einfachen Schlafzimmer von Mrs. Jones. Er schlug die Bettdecke zurück, öffnete vorsichtig die schwarze Tasche und nahm den wichtigsten Gegenstand, einen großen, runden Glasbehälter, heraus.

 

Nachdem er sorgfältig eine schwarze Perücke darübergezogen hatte, suchte er in dem Raum nach Kleidungsstücken von Mrs. Jones. Er rollte sie zusammen und machte eine Puppe daraus, die er ins Bett legte. Dann trat er einige Schritte zurück und betrachtete mit Genugtuung sein Werk. Als er mit allem fertig war, stieg er die Treppe hinunter und schloß die Küchentür auf, die ins Freie führte. Um seiner Sache ganz sicher zu sein, ging er den Gang am Hause entlang und sah nach, ob die Tür im Zaun offen war. Das Schloß schien in dauernder Unordnung zu sein, so daß es überhaupt nicht geschlossen werden konnte. Beruhigt kehrte er zurück.

 

In einer Ecke des Schlafzimmers befand sich ein Kleiderhalter, der durch einen billigen Kattunvorhang verdeckt war. Die Kleider hatte er schon vorher verwandt. Er holte sich einen Stuhl, setzte sich an den Tisch und wartete. Geduld, die ja auch andere große Wissenschaftler auszeichnet, gehörte zu seinen hervorragendsten Eigenschaften.

 

Die Kirchenglocken hatten eben zwei geschlagen, als er die Küchentür knarren hörte. Geräuschlos erhob er sich, nahm einen Gegenstand aus der Tasche und trat hinter den Vorhang. Es war ein altes, gebrechliches Haus, in dem man sich nicht bewegen konnte, ohne daß die Bodenbretter krachten. Aber der Mann, der Schritt für Schritt die Treppe heraufschlich, war gewandt und geschickt, und Leon vernahm erst wieder einen Laut, als sich die Tür langsam öffnete und eine Gestalt hereintrat.

 

Behutsam ging der Eindringling näher ans Bett und blieb dann einige Sekunden stehen. Vermutlich lauschte er, ob sich irgend etwas regte … Dann sah Leon, wie er einen Stock hob und mit furchtbarer Gewalt auf die vermeintliche Frau im Bett einschlug.

 

Bash Jones hatte kein Wort gesprochen, bis er das Splittern des Glases hörte. Nun stieß er einen wilden Fluch aus und suchte in seinen Taschen nach Streichhölzern. Diese Verzögerung war sein Verhängnis, denn das unter einem Druck von vielen Atmosphären in der Gasflasche komprimierte Chlorgas erfüllte sofort den Raum. Er hustete, keuchte und wandte sich zur Flucht, aber nach einigen Schritten fiel er um. Das todbringende, gelbe Gas hüllte seinen Körper ganz ein.

 

Leon Gonsalez trat aus seinem Versteck hervor. Der sterbende Bash Jones starrte auf die ungeheuer großen Glasaugen einer Gasmaske, als er das Bewußtsein verlor.

 

Leon sammelte die Glassplitter vorsichtig und wickelte die einzelnen Stücke in eine Papiertüte, die er dann in seiner Tasche verwahrte. Mit der größten Sorgfalt hängte er die Kleider wieder an die Wand, entfernte die Perücke, brachte das Zimmer in Ordnung und öffnete Tür und Fenster. Dann ging er nach unten und öffnete auch dort alle Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Es wehte ein kräftiger Südwestwind, und am Morgen würde das Haus ganz von dem Gas gesäubert sein.

 

Erst als er durch die Küchentür das Haus verlassen hatte, nahm er die Gasmaske ab und legte sie ebenfalls in die Handtasche.

 

Eine Stunde später lag er in seinem Bett und schlief fest und ruhig.

 

Auch Mrs. Jones verbrachte eine friedliche, unbekümmerte Nacht, und in einem kleinen, prächtigen Schlafzimmer im Westen Englands schmiegte sich ein junges Mädchen in die weichen Kissen und seufzte glücklich. Aber Bash Jones schlief den tiefsten Schlaf, aus dem es kein Erwachen gibt.

 

Kapitel 1

 

1

 

Der Mann von Clapham

 

»Die Verteidigung hat behauptet, Mr. Noah Stedland sei ein Erpresser und habe infolge seiner Drohungen eine große Summe von dem Angeklagten erhalten. Der Gerichtshof kann diese unbewiesene Behauptung nicht ohne weiteres annehmen, besonders da die Aussagen des Angeklagten nicht unter Eid geleistet wurden. Sie wurden zwar beim Zeugenverhör erwähnt, es konnte aber nicht der geringste Beweis dafür erbracht werden. Die Verteidigung hat nicht einmal gesagt, welche Art von Drohung Mr. Stedland anwandte …«

 

Die glänzende Rede des Staatsanwalts machte den besten Traditionen des Gerichtes Ehre, und die Geschworenen einigten sich auf »Schuldig«, ohne sich zu einer längeren Beratung zurückzuziehen.

 

Eine Bewegung ging durch den Gerichtssaal, und man hörte ein Raunen und Flüstern, als der Richter seine Hornbrille aufsetzte und zu schreiben begann.

 

Der Angeklagte saß hinter den großen, eichenen Schranken und schaute ermutigend eine junge Frau an, die ihm ihr Gesicht zuwandte. Er war bei dem Spruch der Geschworenen nicht erbleicht und richtete jetzt den ernsten Blick wieder auf die Gestalt des Richters, der in einem braunroten Talar und einer weißen Perücke dort oben saß und so eifrig am Schreiben war. Er wunderte sich, was ein Richter unter diesen Umständen wohl schreiben mochte. Ob er den ganzen Tatbestand noch einmal kurz zusammenfaßte? Der Angeklagte war ungeduldig. Nachdem sein Schicksal besiegelt war, hatte er nur noch den einen Wunsch, möglichst bald mit allem fertig zu sein; der Aufenthalt in diesem großen, hohen Gerichtssaal, aus dem ihm viele verschwommene Reihen von Gesichtern entgegenstarrten, war qualvoll. Er konnte den Anblick des gleichgültigen Verteidigers und vor allem der beiden Männer nicht mehr ertragen, die in der Nähe des Rechtsanwaltes saßen und ihn scharf beobachteten.

 

Er hätte gern gewußt, wer sie waren und welches Interesse sie an dem Ausgang dieses Prozesses hatten. Vielleicht waren es Schriftsteller aus dem Ausland, die hier Eindrücke sammeln wollten. Sie hatten jedenfalls ein fremdländisches Aussehen. Der eine war sehr groß (das hatte er bemerkt, als er einmal aufgestanden war), der andere war klein und hager und sah fast wie ein Jüngling aus, obgleich sein Haar schon ergraut war. Beide waren glattrasiert, trugen schwarze Anzüge und hielten breitkrempige, weiche, schwarze Filzhüte auf ihren Knien.

 

Ein Räuspern des Richters störte den Angeklagten in seinen Betrachtungen.

 

»Jeffrey Storr«, sagte der Richter, »auch ich bin mit dem Spruch der Geschworenen durchaus einverstanden. Sie behaupten, daß Stedland Sie um Ihre Ersparnisse gebracht habe und daß Sie in sein Haus einbrachen, um die Bestrafung dieses Mannes selbst in die Hand zu nehmen und Ihr Geld und ein Schriftstück wieder zu erhalten. Sie sind zwar nicht näher auf den Charakter dieses Schriftstückes eingegangen, haben aber vorgebracht, daß es die Schuld Mr. Stedlands beweisen würde. Solche Behauptungen können nicht ernstlich von einem Gerichtshof in Betracht gezogen werden. Ihre Geschichte klingt so, als ob Sie von diesen berühmten, besser, berüchtigten Leuten gelesen hätten, die man die ›Vier Gerechten‹ nennt. Sie trieben ihr Wesen vor einigen Jahren, aber nun ist ihrer Tätigkeit glücklicherweise Einhalt geboten. Sie hatten sich die Aufgabe gesetzt, dort zu strafen, wo das Gesetz versagte. Es ist eine maßlose Überheblichkeit, anzunehmen, daß das Gesetz jemals versagt. Sie haben ein verdammenswertes Verbrechen begangen, und besonders der Umstand, daß Sie im Augenblick Ihrer Verhaftung im Besitz einer geladenen Schußwaffe waren, fällt bei der Beurteilung Ihrer Tat erschwerend ins Gewicht. Ich verurteile Sie zu sieben Jahren Zuchthaus.«

 

Jeffrey Storr verneigte sich, und ohne noch einen Blick auf die junge Frau zu werfen, wandte er sich kurz um und stieg die Stufen hinunter, die zu den Zellen führten.

 

Die beiden fremdländisch aussehenden Herren, die das Interesse und den Unwillen des Angeklagten erregt hatten, waren die ersten, die den Saal verließen.

 

Als sie auf der Straße angelangt waren, blieb der Größere der beiden stehen.

 

»Wir wollen auf die Frau warten«, sagte er.

 

»Ist er mit ihr verheiratet?« fragte der Kleinere.

 

»Ja, sie haben in der Woche geheiratet, in der er törichterweise sein Geld fortgab. Es war doch ein merkwürdiger Zufall, daß der Richter gerade heute die ›Vier Gerechten‹ erwähnte.«

 

Der andere lächelte.

 

»In demselben Gerichtssaal wurdest du zum Tode verurteilt, Manfred.«

 

»Ich war neugierig, ob sich der alte Gerichtsdiener noch auf mich besinnen würde. Man sagt, daß er kein Gesicht vergißt, das er einmal gesehen hat, selbst nach vielen Jahren nicht. Aber scheinbar hat es Wunder gewirkt, daß ich meinen Bart abnahm. Ich habe den Mann sogar angeredet, ohne daß er etwas merkte. Aber hier kommt sie.«

 

Glücklicherweise war die junge Frau allein. Ein schönes Gesicht, dachte Gonsalez, der Jüngere von beiden. Sie trug den Kopf hoch und stolz und weinte nicht. Gonsalez und Manfred folgten ihr zur Newgate Street, und als sie die Straße nach Hatton Garden überquerte, redete Manfred sie an.

 

»Entschuldigen Sie bitte, Mrs. Storr.«

 

Sie wandte sich um und sah den Fremden argwöhnisch an.

 

»Wenn Sie ein Reporter sind –«, begann sie.

 

»Das bin ich nicht«, erwiderte Manfred lächelnd. »Auch bin ich nicht einmal ein Freund Ihres Mannes, obgleich ich eigentlich vorhatte, Ihnen das vorzulügen. Dann hätte ich wenigstens eine Entschuldigung dafür gehabt, daß ich Sie hier auf der Straße anspreche.«

 

Seine Offenherzigkeit machte Eindruck auf sie.

 

»Ich möchte nicht über Jeffrey sprechen«, sagte sie. »Ich habe nur den einen Wunsch, allein zu sein.«

 

»Das kann ich verstehen«, meinte er mitfühlend. »Aber ich wünschte, ich wäre ein Freund Ihres Mannes, vielleicht könnte ich ihm helfen. Die Geschichte, die er vor Gericht erzählte, ist wahr – das ist doch auch deine Ansicht, Leon?«

 

»Sie ist ganz bestimmt wahr«, bestätigte Gonsalez. »Ich habe besonders seine Augenlider betrachtet. Wenn ein Mann lügt, zwinkert er bei jeder Wiederholung seiner unwahren Behauptung. Hast du noch nicht bemerkt, George, daß Männer nicht lügen können, wenn ihre Hände zusammengepreßt sind, daß aber Frauen die Hände dabei falten?«

 

Mrs. Storr sah Gonsalez verwirrt an. Sie war nicht in der Stimmung, einen Vortrag über die Physiologie des Ausdrucks über sich ergehen zu lassen. Selbst wenn sie gewußt hätte, daß Leon Gonsalez der Verfasser dreier großer Bücher war, die sich den besten Werken Lombrosos oder Mantegazzas an die Seite stellten, hätte sie ihm nicht zugehört.

 

Manfred unterbrach seinen Freund.

 

»Wir glauben wirklich, Mrs. Storr, daß wir Ihren Mann befreien und seine Unschuld beweisen können. Aber wir müssen soviel Material über den Fall sammeln, wie es nur möglich ist.«

 

Sie zögerte einen Augenblick.

 

»Ich wohne in der Grays Inn Road – vielleicht haben Sie die Güte, mich zu begleiten…

 

Mein Rechtsanwalt glaubt nicht, daß es Zweck hat, Berufung einzulegen«, fuhr sie fort, als die beiden Freunde sie in die Mitte genommen hatten und neben ihr hergingen.

 

Manfred schüttelte den Kopf.

 

»Das Berufungsgericht würde das Urteil nur bestätigen«, sagte er ruhig. »Wenn Sie keine anderen Beweise vorbringen können als heute, ist es unmöglich, Ihren Mann zu retten.«

 

Sie sah ihn enttäuscht an, und er merkte, daß sie den Tränen nahe war.

 

»Ich dachte… Sie sagten doch…?« begann sie unsicher.

 

Manfred nickte. »Wir kennen Stedland und –«

 

»Das Merkwürdigste an Erpressern ist doch, daß die Schädelerhöhung am Eintrittspunkt des Okziptalnervs bei ihnen kaum bemerkbar ist«, unterbrach Gonsalez die Unterhaltung nachdenklich.

 

»Mein Freund ist eine Autorität auf dem Gebiet der Schädelkunde.« George Manfred lächelte entschuldigend. »Ja, wir kennen Stedland. Seine Verbrechen sind uns von Zeit zu Zeit berichtet worden. Erinnerst du dich an den Fall Wellingford, Leon?«

 

Gonsalez nickte.

 

»Dann sind Sie wohl Detektive?« fragte Mrs. Storr.

 

Manfred lachte leise.

 

»Nein, wir sind keine Detektive – wir interessieren uns nur für Verbrechen. Ich glaube, wir haben die besten und vollständigsten Akten in der ganzen Welt über Verbrecher, die nicht bestraft wurden.«

 

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

 

»Stedland ist ein böser Mensch.« Gonsalez nickte, als ob ihm erst jetzt diese Erleuchtung gekommen wäre. »Hast du seine Ohren beobachtet? Sie sind ungewöhnlich lang, und die äußeren Ränder sind zugespitzt. Es sind richtige Verbrecherohren!«

 

Die Wohnung von Mrs. Storr war klein, notdürftig eingerichtet und zeigte das typische Aussehen möblierter Mietsräume. Manfred sah sich in dem engen Speisezimmer um.

 

Die junge Frau, die Mantel und Hut abgelegt hatte, kam jetzt zurück und setzte sich zu den beiden Freunden, die sie schon gebeten hatte, Platz zu nehmen.

 

»Es wird mir klar, daß ich dabei bin, mein Geheimnis zu verraten«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Aber ich fühle, daß Sie mir wirklich helfen wollen, und ich habe merkwürdigerweise auch die Überzeugung, daß Sie es können. Die Polizeibeamten waren recht freundlich zu uns und haben uns geholfen, wo sie konnten. Wahrscheinlich hatten sie Mr. Stedland schon seit längerer Zeit im Verdacht und hofften, daß wir ihnen die nötigen Beweise zu seiner Überführung liefern könnten. Als sich diese Hoffnung aber nicht erfüllte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als Anklage gegen meinen Mann zu erheben. Was soll ich Ihnen nun erzählen?«

 

»Die Geschichte, die vor Gericht verschwiegen wurde«, erwiderte Manfred.

 

Sie war einige Zeit ruhig und sammelte sich.

 

»Nun gut, ich will Ihnen alles mitteilen«, sagte sie dann. »Bis jetzt kennt nur der Rechtsanwalt meines Mannes den wahren Sachverhalt. Aber ich glaube, daß auch er daran zweifelt. Und wenn er uns nicht einmal glaubt«, rief sie verängstigt, »wie kann ich erwarten, Sie zu überzeugen?«

 

»Haben Sie keine Sorge, Mrs. Storr, wir sind schon überzeugt«, entgegnete Gonsalez, der sie interessiert angesehen hatte. Manfred nickte.

 

Wieder entstand eine Pause. Es fiel ihr sichtlich schwer, mit ihrem Bericht zu beginnen, und Manfred vermutete, daß sie irgendwie dadurch bloßgestellt wurde. Diese Annahme bestätigte sich auch.

 

»Als junges Mädchen besuchte ich eine große Töchterschule in Sussex; ich glaube, es waren mehr als zweihundert Schülerinnen dort. Ich will mich keineswegs für irgend etwas entschuldigen, was ich damals tat«, fuhr sie schnell fort. »Ich verliebte mich in einen jungen Burschen – er war der Sohn eines Fleischers! Das klingt schrecklich, nicht wahr? Aber Sie müssen bedenken, daß ich noch ein Kind und sehr empfänglich für alles Neue und Ungewöhnliche war – ach, ich weiß, es ist fürchterlich, aber ich traf ihn gewöhnlich nach der Andacht in dem Garten hinter dem großen Versammlungssaal. Er stieg immer über die Mauer, und wir plauderten dann miteinander, manchmal eine ganze Stunde lang. Es war aber nur eine Mädchenschwärmerei, und ich weiß wirklich nicht, warum ich damals eine solche Dummheit beging.«

 

»Mantegazza erklärt derartige Dinge sehr genau in seiner ›Psychologie der Liebe‹«, sagte Leon Gonsalez halb für sich. »Aber verzeihen Sie, daß ich Sie unterbrochen habe.«

 

»Es war weiter nichts als eine Freundschaft zwischen Kindern. Ich sah zu ihm auf wie zu einem Helden und hielt ihn für den Inbegriff aller Männlichkeit. Er muß auch wirklich der beste und schönste aller Fleischerjungen gewesen sein«, meinte sie lächelnd. »Er hat mir niemals ein böses Wort gesagt und war immer sehr gut zu mir. Unsere Freundschaft hörte nach einem oder zwei Monaten von selbst wieder auf, und die ganze Geschichte wäre damit zu Ende gewesen, wenn ich nicht so töricht gewesen wäre, Briefe an ihn zu schreiben. Es waren ganz gewöhnliche, dumme Liebesbriefe, sie waren auch ganz unschuldig – wenigstens erschienen sie mir damals so. Wenn ich sie allerdings heute, von meinem jetzigen Standpunkt aus, lese, bleibt mir der Atem weg, was ich damals alles geschrieben habe.«

 

»Dann haben Sie die Briefe also noch?« fragte Manfred.

 

»Nein. Ich meinte eigentlich nur einen bestimmten Brief, und auch davon besitze ich nur eine Kopie, die mir Mr. Stedland gegeben hat. Dieser eine Brief, der nicht vernichtet wurde, fiel nämlich in die Hände der Mutter des Jungen. Sie war sehr aufgebracht und trug ihn zu der Hauptlehrerin, die viel Aufhebens davon machte. Sie drohte mir, an meine Eltern zu schreiben, die damals in Indien waren. Als ich aber feierlich versprach, unserer Freundschaft ein Ende zu machen, beruhigte sie sich und vertuschte die Sache schließlich. Wie der Brief in Stedlands Besitz kam, weiß ich nicht. Ich hörte von diesem Mann erst eine Woche vor meiner Hochzeit. Jeff hatte ungefähr zweitausend Pfund erspart, und wir waren gerade im Begriff, uns zu verheiraten, als uns plötzlich dieser Schlag wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Ich erhielt einen Brief von einem ganz unbekannten Mann, in dem ich aufgefordert wurde, ihn in seinem Büro aufzusuchen. So kam ich zum erstenmal mit diesem Schuft in Berührung. Seinen Brief sollte ich zu der Unterredung wieder mitbringen. Ich war neugierig, was er von mir wollte und ging tatsächlich nach seinem kleinen Büro in der Nähe der Regent Street. Ich brauchte nicht lange auf die Aufklärung zu warten. Nachdem er mir sein Schreiben wieder abgenommen hatte, erklärte er mir freiheraus, warum er mich bestellt hatte.«

 

Manfred nickte.

 

»Er wollte Ihnen natürlich den Brief verkaufen – wieviel verlangte er?«

 

»Zweitausend Pfund. Das war ja die teuflische Gemeinheit«, sagte die junge Frau heftig erregt. »Er wußte fast auf den Pfennig genau, wieviel Jeff sich erspart hatte.«

 

»Hat er Ihnen damals den Brief gezeigt?«

 

»Nein, nur eine Fotokopie davon, und als ich den Brief dann wieder las und zu meinem Schrecken gewahr wurde, welche Schlußfolgerungen man aus diesem unschuldigen Schreiben ziehen konnte, packte mich ein furchtbares Entsetzen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als Jeff alles zu sagen, denn Mr. Stedland hatte gedroht, Fotokopien des Briefes an alle unsere Freunde und an Jeffreys Onkel zu schicken, der meinen Mann zum einzigen Erben eingesetzt hatte. Zum Glück wußte Jeffrey schon alles, was sich damals in der Schule zugetragen hatte, und ich brauchte deshalb seinen Argwohn und Verdacht nicht zu fürchten. Jeffrey ging zu Stedland, und ich glaube, daß sie in heftigen Streit gerieten. Aber Stedland ist trotz seiner Jahre ein großer, starker Mann, und Jeffrey unterlag in dem Kampf. Das Ende der Sache war, daß Jeff versprach, den Brief für zweitausend Pfund unter der Bedingung zu kaufen, daß Stedland ihm auf eine leere Seite des Schreibens eine Quittung über diese Summe gab. Das bedeutete den Verlust all seiner mühsamen Ersparnisse, es bedeutete auch die Verzögerung unserer Verheiratung. Aber Jeffrey wollte sein Versprechen unter allen Umständen halten. Mr. Stedland wohnt in einem großen Haus in der Nähe von Clapham Common –«

 

»148 Park View West«, unterbrach Manfred.

 

»Sie wissen es?« fragte sie erstaunt. »Ja, dorthin mußte Jeffrey gehen, um das Geschäft abzuschließen. Mr. Stedland öffnete die Haustür selbst und führte Jeff zu seinem Arbeitszimmer im ersten Stock. Mein Mann erkannte, daß es nutzlos war, mit diesem Menschen noch zu rechten oder ihn zu bitten, und bezahlte das Geld nach Stedlands Anweisung in amerikanischen Banknoten –«

 

»Die natürlich viel schwieriger zu verfolgen sind«, warf Manfred dazwischen.

 

»Dann holte Stedland den Brief, schrieb die Quittung auf die leere Seite, löschte sie ab und legte das Schreiben in einen Umschlag, den er meinem Mann gab. Als Jeffrey zu Hause das Kuvert öffnete, fand er nur einen leeren Briefbogen darin.«

 

»Der Betrüger hat ihn übers Ohr gehauen«, sagte Manfred.

 

»Denselben Ausdruck gebrauchte auch Jeffrey. Und nun entschloß er sich zu dieser verzweifelten, wahnsinnigen Tat. Sie haben doch sicher schon von den ›Vier Gerechten‹ gehört?«

 

»Ja, ich habe von ihnen gehört«, antwortete Manfred ernst.

 

»Mein Mann glaubt an ihre Methoden und bewundert sie sehr. Er hat wohl alles gelesen, was jemals über sie geschrieben wurde. Eines Abends, zwei Tage nach unserer Hochzeit – ich hatte darauf bestanden, daß wir uns sofort trauen ließen, nachdem ich die Lage überschaute –, kam er zu mir und sagte: ›Grace, ich werde jetzt die Methoden der Vier Gerechten gegen Stedland anwenden.‹ Er weihte mich in seine Pläne ein. Offenbar hat er Stedlands Haus genau beobachtet und ausgekundschaftet, denn er wußte, daß außer Stedland und seinem Diener niemand dort schlief. Er hatte sich einen Plan ausgedacht, wie er in das Haus kommen konnte. Mein armer Jeffrey – er hatte als Einbrecher wenig Erfolg. Sie haben ja heute gehört, wie es ihm schließlich gelang, in Stedlands Zimmer einzudringen. Er hat wohl gehofft, den Mann mit seinem Revolver einzuschüchtern.«

 

Manfred schüttelte den Kopf.

 

»Stedland ist einer der bekanntesten und gefürchtetsten Revolverhelden in Südafrika gewesen. Er ist der gewandteste und schnellste Schütze, den ich kenne, und er trifft unfehlbar. Natürlich hat er Ihren Mann sofort mit seinem Revolver bedroht, bevor der überhaupt seine Tasche erreichen konnte, um die eigene Waffe zu ziehen.«

 

»Das ist meine Geschichte«, sagte Mrs. Storr ruhig. »Wenn Sie Jeff helfen können, werde ich Ihnen mein ganzes Leben lang dankbar sein.«

 

Manfred erhob sich langsam.

 

»Es war ein wahnsinniges Unternehmen. Ihr Mann hätte sich sagen sollen, daß Stedland ein ihn so belastendes Dokument nicht in seiner Wohnung aufbewahren würde, da er doch mindestens sechs Stunden am Tag nicht zu Hause ist. Vielleicht war der Brief auch vernichtet, obwohl das unwahrscheinlich ist. Stedland wird ihn zu späterem Gebrauch aufgehoben haben. Erpresser sind große Menschenkenner, und er weiß, daß er aus Ihrem Brief noch Geld machen kann. Aber sollte dieser Brief noch existieren –«

 

»Sollte er noch existieren…«, wiederholte sie mit zitternden Lippen. Sie hatte sich lange tapfer aufrecht gehalten, aber nun kam die Reaktion.

 

»Dann wird er in einer Woche in Ihren Händen sein«, sagte Manfred, und mit diesem Versprechen verabschiedeten sich die beiden von ihr.

 

*

 

Mr. Noah Stedland hatte das Gerichtsgebäude an diesem Nachmittag nicht in der besten Stimmung verlassen. Er war nur damit zufrieden, daß er das Haus durch den allgemeinen Ausgang verlassen konnte und nicht in eine der Gefängniszellen abgeführt worden war. Er ließ sich nicht leicht erschrecken, aber er war empfänglich für gewisse Unterströmungen. Es schien ihm, daß die sorgfältig gewählten Worte des Richters weniger nach dem Wortlaut als nach dem Ton eine versteckte Anklage gegen ihn selbst enthielten. Aber auch nachdem er sich darüber klargeworden war, verließ ihn das drückende Gefühl nicht. Er besaß ein beträchtliches Vermögen, das er bei verschiedenen Gelegenheiten zusammengerafft hatte. Manchmal war es plötzlich um bedeutende Summen angewachsen. Er war in seinen Unternehmungen immer erfolgreich gewesen, da er sich niemals von der Stimme des Gewissens oder des Mitleids hatte beeinflussen lassen. Das Leben war für diesen großen, breitschultrigen Mann mit der fahlen Gesichtsfarbe weiter nichts als ein Spiel. Und Jeffrey Storr, gegen den er persönlich keinen Groll hegte, hatte in diesem Spiel eben verloren.

 

Stedland konnte ohne die geringste Erregung daran denken, daß Storr nun in Sträflingskleidern lange Jahre ein schreckliches Leben im Gefängnis führen mußte. Derartige Vorstellungen riefen kein anderes Gefühl in ihm hervor als das eines Spielers, der den Zusammenbruch seines Gegners gelassen und gleichgültig beobachtet.

 

Er öffnete die Tür seines schmalen Hauses selbst und schloß sie wieder, indem er den Schlüssel zweimal umdrehte. Dann stieg er die mit einem abgetretenen Läufer bedeckte Treppe hinauf und ging in sein Arbeitszimmer. Die Geister der armen Menschen, deren Leben er vernichtet hatte, hätten ihm den Aufenthalt in diesem Raum unerträglich machen müssen, aber Mr. Stedland glaubte nicht an Geister. Er fuhr mit dem Finger über die staubige Platte eines Mahagonitisches und schimpfte über die gutbezahlte Aufwartefrau, die für diese Nachlässigkeit verantwortlich war.

 

Er hielt eine große Zigarre zwischen seinen goldplombierten Zähnen, lehnte sich in seinen Sessel zurück und versuchte wieder, sich über dieses merkwürdige Gefühl klarzuwerden, das ihn in dem Gerichtssaal gequält hatte. Weder die Haltung des Richters noch die heftigen Angriffe des Verteidigers beschwerten ihn, ebensowenig die Möglichkeit, daß die Mitwelt ihn verurteilen könnte. Auch das Los des Verurteilten oder der bleichen, abgehärmten Frau bedrückte ihn nicht. Und doch war er ängstlich geworden und hatte sich unruhig umgesehen.

 

Als er eine halbe Stunde lang in Gedanken versunken geraucht hatte, läutete die Glocke an der Haustür, und er ging hinunter, um zu öffnen. Der Mann, der vor der Tür stand, lächelte verlegen. Er war der Angestellte Mr. Stedlands und versah zu gleicher Zeit alle Pflichten vom Hausmeister bis zum Laufburschen für seinen Herrn.

 

»Komm herein, Jope«, sagte Mr. Stedland und schloß die Tür hinter ihm. »Geh in den Keller und bringe mir eine Flasche herauf.«

 

»Wie waren Sie mit meiner Aussage zufrieden?« Der Diener grinste erwartungsvoll.

 

»Verrückter Kerl!« brummte Stedland. »Was sollte denn das, daß du sagst, du hättest mich um Hilfe rufen hören?«

 

»Nichts für ungut, Herr, ich wollte nur die Sache für den Angeklagten ein wenig schlimmer machen«, erklärte Jope unterwürfig.

 

»Ich – um Hilfe rufen!« Mr. Stedland lachte höhnisch. »Denkst du denn, ich würde so einen Lumpenkerl wie dich zu Hilfe rufen? Bei einer wirklichen Prügelei würdest du ja viel nützen! Hol den Whisky!«

 

Als Jope kurz darauf mit einer Flasche und einem Siphon Sodawasser nach oben kam, schaute Stedland mürrisch zum Fenster hinaus. Man konnte von dort aus auf einen kleinen ungepflegten Garten sehen, der von einer hohen Mauer umgeben war. Dahinter lag ein Gelände, auf dem ein halbvollendetes Gebäude stand. Während des Baues war der Unternehmer pleite gegangen, und Mr. Stedland ärgerte sich jedesmal, wenn er die Ruine sah, denn der Grund und Boden, auf dem sie stand, gehörte ihm.

 

Plötzlich wandte er sich um.

 

»Jope, war irgend jemand im Gerichtssaal, den wir kannten?«

 

»Nein, Mr. Stedland«, erwiderte der Mann erstaunt. »Niemand mit Ausnahme des Polizeiinspektors –«

 

»Ach, den meine ich nicht«, rief Mr. Stedland ungeduldig. »Ich kannte alle Detektive, die dort waren. Hast du nicht sonst jemand gesehen, der etwas gegen uns hat?«

 

»Nein, Mr. Stedland. Hat es denn überhaupt etwas zu sagen, ob einer dort war?« fragte Jope kühn. »Denen sind wir doch stets gewachsen, von denen kann uns doch keiner.«

 

»Wie lange sind wir schon beisammen?« brummte Stedland unfreundlich, als er sich ein Glas Whisky einschenkte.

 

Jope lächelte schmeichlerisch.

 

»Nun ja, wir sind schon eine ganze Weile beieinander, Mr. Stedland.«

 

Der große Mann wischte sich die Lippen ab und schaute wieder zum Fenster hinaus.

 

»Ja, das stimmt«, sagte er nach einiger Zeit. »Es ist schon lange her. Du hättest tatsächlich deine Strafe jetzt beinahe abgesessen, wenn ich der Polizei vor sieben Jahren erzählt hätte, was ich von dir wußte –«

 

Jope fühlte sich unbehaglich und wechselte sofort das Gesprächsthema. Er hätte sich sagen können, daß die siebenjährige Gefängnisstrafe von Mr. Stedland in eine lebenslängliche Sklaverei umgewandelt worden war, aber so weit reichten die Gedanken Mr. Jopes nicht.

 

»Ist noch etwas auf der Bank zu erledigen?« fragte er diensteifrig.

 

»Sei doch kein Dummkopf! Die Bank schließt um drei Uhr.« Stedland wandte sich plötzlich zu ihm um. »In Zukunft mußt du in der Küche schlafen.«

 

»In der Küche?«

 

Stedland nickte bestätigend.

 

»Ich möchte nicht wieder von einem nächtlichen Besucher überrascht werden. Dieser Kerl war in meinem Zimmer, bevor ich wußte, was los war. Und hätte ich nicht ein Schießeisen zur Hand gehabt, so hätte er mich überwältigt. Der einzige Weg, auf dem jemand in dieses Haus einbrechen kann, führt durch die Küche, und ich habe eine Ahnung, daß in der nächsten Zeit etwas passiert.«

 

»Der sitzt doch jetzt im Zuchthaus.«

 

»Von dem rede ich doch gar nicht«, fuhr ihn Stedland an. »Ich denke, du hast jetzt begriffen, daß du dein Bett in der Küche aufschlagen sollst.«

 

»Es ist aber so zugig dort –« begann Jope.

 

»Du stellst dein Bett in der Küche auf!« schrie Stedland und schaute den Mann böse an.

 

»Jawohl, gewiß«, sagte Jope schnell.

 

Als der Diener gegangen war, zog Stedland seinen Rock aus und schlüpfte in eine fleckige Hausjacke aus Alpaka. Dann schloß er den Geldschrank auf und nahm sein Bankbuch heraus. Er setzte sich in seinen Stuhl, blätterte zufrieden die Seiten um und träumte von einer großen Plantage in Südamerika und von einem angenehmen und ruhigen Leben. Durch zwölfjährige harte Arbeit in London hatte er ein großes Vermögen zusammengebracht. Er war stets vorsichtig zu Werk gegangen und immer auf seiner Hut gewesen. Alle seine Erpressungen hatte er in geschäftsmäßiger Weise durchgeführt, so daß man ihm nichts nachweisen konnte. Sein Konto bei der Privatbank von Sir William Molbury & Co. war eins der größten. Diese Bank war in der City bekannt wegen ihrer verschwiegenen und geheimnisvollen Geschäftsführung, und aus diesem Grund hatte auch Mr. Stedland sein Konto dort eingerichtet. Außerdem gehörte Molburys Firma zu den altmodischen Banken, die stets große Reserven an barem Geld in ihren Schränken verwahren. Auch dieser Umstand kam Mr. Stedland sehr gelegen, denn er konnte immerhin einmal in die Lage kommen, seine Mittel in kürzester Zeit zusammenraffen zu müssen.

 

Der Abend und die Nacht gingen vorüber, ohne daß sich unangenehme Zwischenfälle ereigneten. Nur Mr. Jope hatte eine etwas heisere Stimme bekommen und meldete seinem Herrn, als er ihm am Morgen den Tee brachte, daß es über Nacht sehr kalt in der Küche gewesen sei und daß er kaum habe schlafen können.

 

»Nimm dir mehr Decken«, erwiderte Stedland kurz.

 

Nach dem Frühstück verließ er das Haus und machte sich auf den Weg nach seinem Büro in der City. Mr. Jope blieb im Haus zurück, um die Aufwartefrau bei ihren Arbeiten zu beaufsichtigen. Er teilte ihr auch im Auftrag seines Herrn mit, daß ihr Gehalt hoch genug sei und daß es sehr viele gute Aufwartefrauen ohne Beschäftigung in der Stadt gäbe. Wenn sie das Arbeitszimmer nicht besser abstauben würde, könnte es unangenehme Konsequenzen für sie haben.

 

Um elf Uhr vormittags kam ein gediegen aussehender, älterer Herr, der einen Zylinder trug. Jope öffnete ihm die Haustür und fragte nach seinen Wünschen.

 

»Ich komme von der Depositenbank«, sagte der Fremde.

 

»Von welcher Depositenbank?« fragte Jope argwöhnisch.

 

»Von der Fetter Lane Depositenbank. Ich möchte nur feststellen, ob der Herr nicht das letztemal, als er zu uns kam, seinen Schlüssel steckenließ.«

 

Jope schüttelte den Kopf.

 

»Wir haben überhaupt nichts mit Depotbanken zu tun«, sagte er mit Nachdruck. »Und außerdem würde mein Herr wohl niemals einen Schlüssel in einem Geldschrank auf der Bank steckenlassen.«

 

»Entschuldigen Sie, dann bin ich sicher an ein falsches Haus geraten«, meinte der ältere Herr lächelnd. »Ist dies nicht die Wohnung von Mr. Smithson?«

 

»Nein«, erwiderte Jope unliebenswürdig und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

 

Der Besucher ging die Stufen zur Straße wieder hinunter und traf an der Ecke einen anderen Herrn.

 

»Sie haben nichts mit Depotbanken zu tun, Manfred«, sagte er.

 

»Das habe ich kaum angenommen«, meinte der Größere von den beiden. »Ich bin davon überzeugt, daß er alle seine Dokumente und Schriftstücke auf seiner Bank hat. Hast du den Diener Jope getroffen?«

 

»Ja«, erwiderte Gonsalez nachdenklich. »Der Mensch hat ein interessantes Gesicht. Schwach entwickeltes Kinn, aber ganz normale Ohren. Die Stirn flieht nach hinten, und soweit ich es beurteilen kann, ist. er ein charakteristischer Spitzschädel.«

 

»Armer Jope!« sagte Manfred, ohne zu lächeln. »Aber jetzt wollen wir auf das Wetter achten, Leon. Vom Golf von Biskaya rückt ein Antizyklon heran. In Eastbourne spürt man seine wohltätigen Wirkungen schon. Wenn er sich in den nächsten drei Tagen wirklich nach London hin ausbreitet, können wir Mrs. Storr gute Nachricht bringen.«

 

»Das glaube ich auch«, stimmte Gonsalez zu. Sie gingen zu ihrer Wohnung in der Jermyn Street zurück. »Eine Möglichkeit, diesen Kerl einfach zu überfallen, gibt es wohl nicht?«

 

Manfred schüttelte den Kopf.

 

»Ich möchte noch nicht sterben«, sagte er, »und ich würde bestimmt mit meinem Lebensende rechnen müssen, denn Noah Stedland ist ein ungemütlich schneller und genauer Schütze.«

 

Manfreds Prophezeiung ging zwei Tage später in Erfüllung. Der Einfluß des Antizyklons dehnte sich über London aus, und ein dünner, gelber Schleier breitete sich über die Stadt. Am Nachmittag heiterte sich das Wetter auf, wie Manfred zufrieden feststellte. Doch schien es, als ob sich der Nebel nicht vor Einbruch der Nacht zerstreuen würde.

 

Mr. Stedlands Büro in der Regent Street war nur klein, aber sehr gut eingerichtet. Auf der Glastür stand unter seinem Namen das bedeutungsvolle Wort: Finanzier. Tatsächlich war Stedland auch als Geldverleiher ins Handelsregister eingetragen. Dieses Geschäft war sehr einträglich und vorteilhaft für ihn, denn was Stedland, der Geldverleiher, an Geheimnissen erfuhr, konnte der Erpresser Stedland ausnützen. Es war keine ungewöhnliche Erscheinung, daß Mr. Stedland Summen zu hohen Prozentsätzen auslieh, die zur Zahlung seiner eigenen erpresserischen Forderungen bestimmt waren. Auf diese Weise konnte er einen doppelten Druck auf seine Opfer ausüben.

 

Nachmittags meldete sein Clerk einen Besucher an.

 

»Ein Herr oder eine Dame?«

 

»Ein Herr«, erwiderte der Angestellte. »Ich glaube, er ist von der Molbury-Bank.«

 

»Kennen Sie ihn?«

 

»Nein, aber er kam schon gestern, als Sie fortgegangen waren, und fragte, ob Sie die Bankabrechnung bekommen hätten.«

 

Mr. Stedland nahm eine Zigarre aus der Kiste, die auf dem Tisch stand, und zündete sie an.

 

»Führen Sie ihn herein«, sagte er dann.

 

Er erwartete nichts Aufregenderes, als daß ihm der nichthonorierte Scheck eines seiner Kunden präsentiert würde.

 

Der Mann, der ins Zimmer trat, war offensichtlich in großer Erregung. Er schloß die Tür hinter sich zu und blieb dann stehen, während er nervös mit seinem Hut spielte.

 

»Nehmen Sie Platz«, sagte Stedland. »Nehmen Sie auch eine Zigarre, Mr. –«

 

»Curtis«, erwiderte der andere heiser. »Danke sehr, ich bin Nichtraucher.«

 

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

 

»Ich möchte Sie kurz in einer privaten Angelegenheit sprechen.« Bei diesen Worten schaute er ängstlich auf die Glastür, die Mr. Stedlands Büro von dem kleinen Raum trennte, in dem seine Angestellten arbeiteten.

 

»Sie können ganz unbesorgt sein«, meinte Stedland belustigt. »Ich kann Ihnen dafür garantieren, daß die Scheidewand schallsicher ist. Was haben Sie denn für Sorgen?«

 

Er vermutete, daß der Mann in einer augenblicklichen Geldverlegenheit steckte, und ein Bankbeamter in solcher Lage konnte sehr nützlich für die Zukunft sein.

 

»Ich weiß kaum, wie ich anfangen soll, Mr. Stedland«, sagte der Mann und setzte sich schüchtern auf die Ecke eines Stuhles. Sein Gesicht zuckte nervös. »Es ist eine schreckliche Geschichte, einfach furchtbar.«

 

Stedland hatte schon oft von solchen furchtbaren Dingen gehört. Manchmal bedeuteten sie nicht mehr, als daß sein Besucher vom Gerichtsvollzieher bedroht und ängstlich bemüht war, seinen Arbeitgeber nichts davon erfahren zu lassen. Zuweilen waren die Geständnisse auch schwererer Art.

 

»Erzählen Sie mir nur alles«, sagte er aufmunternd. »Mich können Sie nicht so leicht aus der Fassung bringen!«

 

Diese Äußerung war jedoch ein wenig voreilig.

 

»Ich bin nicht meinetwegen so in Sorge, sondern wegen meines Bruders John Curtis, der seit zwanzig Jahren Kassierer bei der Bank ist«, erwiderte der Mann aufgeregt. »Ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß er in Schwierigkeiten war, aber er hat an der Börse spekuliert und hat es mir erst heute gesagt. Es ist entsetzlich – ich fürchte, er wird sich das Leben nehmen. Er ist ganz zusammengebrochen.«

 

»Was hat er denn getan?« Stedland wurde ungeduldig.

 

»Er hat sich an den Geldern der Bank vergriffen, mein Herr«, sagte Curtis heiser. »Wäre das vor zwei Jahren passiert, so wäre es nicht so schlimm gewesen, aber gerade jetzt, wo die Geschäfte so schlecht gehen und wir uns die größte Mühe geben müssen, unsere Bilanz in Ordnung zu bringen ich darf nicht daran denken, welche Folgen das noch haben wird.«

 

»Wieviel hat er denn genommen?« fragte Stedland schnell.

 

»Hundertfünfzigtausend Pfund!«

 

Stedland sprang erregt auf.

 

»Hundertfünfzigtausend Pfund?« rief er ungläubig.

 

»Jawohl, mein Herr. Ich kam zu Ihnen, um Sie zu bitten, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Sie sind doch einer der besten Kunden der Bank, und man hält viel auf Sie!«

 

»Was, ich soll auch noch ein gutes Wort für ihn einlegen!« schrie Stedland. Aber plötzlich wurde er wieder ruhig. Er erfaßte die Situation sofort und überdachte die Möglichkeiten. Schnell schaute er auf die Uhr – es war Viertel vor drei.

 

»Weiß in der Bank schon jemand etwas davon?«

 

»Nein, noch niemand, aber es ist meine Pflicht, dem Generaldirektor die ganze traurige Geschichte zu erzählen. Nach Geschäftsschluß werde ich ihn bitten, mir eine Privatunterredung zu gewähren und dann –«

 

»Gehen Sie jetzt zur Bank zurück?«

 

»Ja«, sagte Curtis überrascht.

 

»Nun hören Sie einmal zu, mein Freund.« Stedlands Gesichtszüge waren hart und undurchdringlich geworden. Er nahm zwei Banknoten aus seiner Brieftasche. »Hier haben Sie zwei Fünfzigpfundnoten – nehmen Sie die und gehen Sie nach Hause.«

 

»Aber ich muß wieder zur Bank zurück – man wird sich wundern –«

 

»Das ist ganz gleich, ob man sich wundert. Sie haben doch genügend Entschuldigungsgründe, wenn die ganze Sache herauskommt. Wollen Sie tun, was ich Ihnen sage und jetzt sofort nach Hause gehen?«

 

Der Mann nahm die beiden Banknoten zögernd.

 

»Ich weiß nicht, was Sie –«

 

»Das hat nichts zu sagen, was ich unternehmen werde. Ich habe Ihnen das Geld gegeben, damit Sie den Mund halten und nach Hause gehen. Können Sie denn nicht verstehen?«

 

»Ja – ich verstehe.« Curtis schwankte mit unsicheren Schritten aus dem Zimmer.

 

Fünf Minuten später öffneten sich die Glastüren der Molbury-Bank vor Mr. Stedland. Er ging sofort zur Kasse. Vornehme Ruhe herrschte in den Geschäftsräumen. Der Kassier, der ihn persönlich kannte, trat lächelnd zu ihm.

 

Stedland reichte ihm ein Blatt Papier. Der Mann sah es verwundert an und runzelte die Stirn.

 

»Das ist ja fast Ihr ganzes Guthaben bei uns, Mr. Stedland?«

 

»Ja, ich muß sehr eilig verreisen und komme vor zwei Jahren nicht zurück. Aber es bleibt doch noch genügend, um mein Konto aufrechtzuerhalten.«

 

Es war allgemein bekannt, daß die Firma Molbury & Co. bei solchen Gelegenheiten keine Schwierigkeiten machte.

 

»Dann wollen Sie wahrscheinlich auch den Inhalt Ihres Safes mitnehmen?« fragte der Kassier höflich.

 

»Ja, bitte.«

 

So erhielt er denn den Zinnkasten von der Bank zurück, den er dort deponiert und in den er von Zeit zu Zeit weitere Dokumente hineingelegt hatte.

 

Zehn Minuten später verließ er das Haus. Er hatte nahezu hunderttausend Pfund an Banknoten in seinen Taschen untergebracht und hielt einen Zinnkasten in der einen Hand. Mit der anderen beschützte er seine Hüftentasche, denn er war sehr vorsichtig. Dann bestieg er das wartende Taxi.

 

Als er in Clapham angekommen war, ging er direkt in sein Arbeitszimmer, schloß die Tür hinter sich zu und öffnete den kleinen Geldschrank, in den er zwei dicke Pakete von Banknoten und den Zinnkasten legte. Dann klingelte er nach Jope, und als er ihn kommen hörte, machte er ihm die Tür auf.

 

»Haben wir noch ein Feldbett hier im Hause?« fragte er.

 

»Jawohl, Mr. Stedland.«

 

»Dann bringe es hierher. Ich schlafe heute nacht in meinem Arbeitszimmer.«

 

»Ist etwas los?«

 

»Stelle keine dummen Fragen, sondern tu das, was ich dir sage!«

 

Morgen wollte er einen anderen sicheren Aufbewahrungsort für sein Vermögen suchen. Er brachte den Abend in seinem Arbeitszimmer zu und legte sich nieder, um zu ruhen, aber nicht, um zu schlafen. Auf dem Stuhl neben seinem Bett lag ein Revolver. Mr. Stedland war ein vorsichtiger Mann. Aber obwohl er sich fest vorgenommen hatte, kein Auge zuzutun, war er doch bereits eingeschlafen, als ihn Lärm von der Straße her plötzlich wieder weckte.

 

Von unten klangen die wohlbekannten Glockensignale der Feuerwehr herauf. Scheinbar war ein ganzer Zug unten in der Straße, denn er hörte Motorgeknatter und Stimmengewirr. Jetzt bemerkte er auch einen strengen Brandgeruch im Zimmer, und als er sich umsah, entdeckte er den Widerschein roten Feuers an der Decke. Sofort sprang er aus dem Bett – das halbfertige Gebäude nebenan stand in hellen Flammen. Die Leute waren schon an der Arbeit und bekämpften das Feuer mit mehreren Spritzen. Mr. Stedland lächelte vergnügt. Dieses Feuer würde ihm schöne Summen einbringen, denn er hatte das Bauwerk hoch versichert, und ihm selbst konnte ja nichts passieren.

 

Plötzlich hörte er unten im Flur lautes Sprechen. Eine tiefe Stimme gab irgendeinen Befehl, und Jope sprach aufgeregt dazwischen. Stedland schloß die Tür auf. In der Diele und auf der Treppe brannten die Lichter. Er schaute über das Geländer und sah Jope, der einen Mantel übergeworfen hatte und vor Kälte zitterte. Er stritt mit einem Feuerwehrmann, der einen großen Helm trug.

 

»Ich kann auch nichts dafür«, sagte der Mann. »Ich muß eine Schlauchleitung durch eins dieser Häuser legen. Ich kann keine Rücksicht darauf nehmen, daß dieses Haus Ihnen gehört.«

 

Mr. Stedland wünschte durchaus nicht, daß eine Schlauchleitung durch sein Haus gelegt wurde und hoffte, es so einrichten zu können, daß diese Unannehmlichkeit seinen Nachbarn aufgehalst wurde.

 

»Kommen Sie doch einen Augenblick herauf, ich möchte einen der Feuerwehrleute sprechen.«

 

Der Mann mit dem blitzenden Messinghelm stapfte die Treppe geräuschvoll nach oben.

 

»Tut mir selbst leid«, meinte er, »aber ich muß die Schlauchleitung –«

 

»Warten Sie einen Augenblick, mein Freund«, entgegnete Mr. Stedland lächelnd. »Ich glaube, wir werden uns gleich verständigt haben. Es gibt doch so viele Häuser in dieser Straße, und mit einer Zehnpfundnote kann man doch eine ganze Weile auskommen, nicht wahr? Treten Sie nur ruhig ein.«

 

Mr. Stedland ging in sein Zimmer zurück. Der Feuerwehrmann folgte ihm und beobachtete, wie er seinen Geldschrank aufschloß.

 

»Ich dachte nicht, daß es so leicht sein würde«, sagte er.

 

Stedland drehte sich erregt um.

 

»Hände hoch! Und machen Sie keine Schwierigkeiten, sonst ist es aus mit Ihnen, Noah! Ich bin durchaus bereit, Sie umzubringen!«

 

Noah Stedland sah, daß das Gesicht des Fremden unter dem großen Feuerwehrhelm von einer schwarzen Maske bedeckt war.

 

»Wer – wer sind Sie denn?« fragte er heiser.

 

»Ich bin einer der Vier Gerechten – die man so viel schmäht und die man vor der Zeit totgesagt hat. Und der Tod ist eins meiner Allheilmittel gegen alle Missetaten …«

 

*

 

Am nächsten Morgen um neun Uhr saß Mr. Noah Stedland noch in seinem Arbeitszimmer. Das Frühstück stand unberührt vor ihm auf dem Tisch.

 

Plötzlich kam Jope nach oben und brachte ihm eine böse Nachricht. Gleich hinter ihm trat Polizeiinspektor Holloway mit verschiedenen Polizeibeamten in den Raum.

 

»Wollen Sie nicht so gut sein und mich auf einen kleinen Spaziergang begleiten?« fragte der Beamte von Scotland Yard liebenswürdig.

 

Stedland erhob sich schwerfällig.

 

»Welche Klage erheben Sie gegen mich?« fragte er düster.

 

»Erpressung. Wir haben genug Beweismaterial, um sie an den Galgen zu bringen – wir haben es von einem besonderen Boten erhalten. Sie haben auch Storr ins Unglück gebracht das war besonders niederträchtig von Ihnen!«

 

»Wissen Sie eigentlich, wer Sie verpfiffen hat?« fragte der Oberinspektor, als Stedland seinen Mantel anzog.

 

Aber er erhielt keine Antwort. Manfreds letzte Worte, bevor er wieder auf der nebligen Straße verschwunden war, hatten tiefen Eindruck auf Stedland gemacht:

 

»Wenn wir Sie hätten umbringen wollen, dann hätte Sie der Mann, der sich Curtis nannte, am vorigen Nachmittag leicht töten können. Das wäre ebenso leicht gewesen, wie das Gebäude anzustecken. Und wenn Sie der Polizei irgend etwas von den Vier Gerechten verraten, dann werden wir sie umbringen, selbst wenn Sie hinter den dicksten Gefängnismauern von Petonville sitzen und ein Regiment Soldaten das Gebäude beschützt.«

 

Und irgendwie wußte Mr. Stedland genau, daß sein Feind die Wahrheit sprach. Deshalb schwieg er und sagte nichts. Er sprach auch nicht, als er auf der Anklagebank in Old Bailey saß und zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilt wurde.

 

Kapitel 10

 

10

 

Der Mann, der freigesprochen wurde

 

»Ist es dir schon einmal aufgefallen, daß Giftmörder und Engelmacherinnen unweigerlich mystisch veranlagt sind?« fragte Leon Gonsalez seinen Freund. Er schaute von seinem Buch auf und nahm seine Hornbrille ab, die er beim Lesen benutzt hatte.

 

»Ich habe noch nicht viele Engelmacherinnen oder Giftmörder daraufhin beobachtet«, erwiderte Manfred gähnend. »Verstehst du unter ›mystisch‹ veranlagten Personen ekstatische Menschen, die glauben, daß sie direkt mit der Allmacht in Verbindung treten können?«

 

Leon nickte.

 

»Ich habe niemals ganz verstanden, welche Zusammenhänge zwischen einer oberflächlichen, aber lebhaft in die Augen fallenden Form religiösen Gebarens und dem Verbrechen bestehen«, sagte Leon stirnrunzelnd. »Wahre Religion entwickelt natürlich nicht die schlummernde Veranlagung zum Verbrecher in einem Menschen, aber es ist eine bekannte Tatsache, daß gewisse Verbrecher in eine sonderbare religiöse Begeisterung geraten. Ferri, der zweihundert italienische Mörder befragte, mußte feststellen, daß sie alle gläubig waren. Und in Neapel, der frömmsten Stadt Europas, werden zugleich die meisten Verbrechen begangen. Zehn Prozent aller tätowierten Verbrecher in englischen Gefängnissen sind mit religiösen Symbolen geschmückt.«

 

»Daraus könnte man aber doch nur folgern, daß ein wenig intelligenter Mann, der sich tätowieren läßt, nach Mustern und Bildern verlangt, die ihm vertraut und bekannt sind. Du denkst doch nicht etwa an Dr. Twenden?«

 

Leon nickte langsam. »Ja, ich dachte an ihn.«

 

Manfred lächelte.

 

»Twenden wurde unter allgemeinem Beifall des Publikums freigesprochen, und man jubelte ihm zu, als er den Exeter-Gerichtshof verließ. Und doch war er schuldig!«

 

»So schuldig, wie ein Mensch nur immer sein kann. Ich wundere mich, daß du an diesen Fall gedacht hast. Ich habe doch überhaupt nicht mit dir darüber gesprochen.«

 

»Ist Dr. Twenden etwa religiös veranlagt?«

 

»Das möchte ich gerade nicht behaupten. Ich dachte nur an den frommen Dankbrief, den er schrieb und der in den Zeitungen von Baxeter und Plymouth veröffentlicht wurde – er war so salbungsvoll wie eine Predigt. Von seinem Privatleben weiß ich nur das, was durch die Gerichtsverhandlung bekannt wurde. Du bist davon überzeugt, daß er seine Frau vergiftet hat?«

 

»Ja«, antwortete Manfred ruhig. »Ich hatte sowieso die Absicht, heute abend mit dir darüber zu sprechen.«

 

Der Prozeß des Dr. Twenden war in der letzten Woche die Sensation für die Zeitungen gewesen. Der Arzt war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, seine Frau war siebzehn Jahre älter als er. Man nahm allgemein an, daß er sie nur ihres Geldes wegen geheiratet hatte – sie besaß ein jährliches Einkommen von zweitausend Pfund, das aber nur bis zu ihrem Tod gezahlt wurde. Drei Monate vor diesem Ereignis hatte sie dreiundsechzigtausend Pfund von ihrem Bruder geerbt, der in Johannesburg in Südafrika gestorben war.

 

Twenden und seine Frau hatten nicht in bestem Einvernehmen gelebt. Die Differenzen zwischen ihnen kamen meistens daher, daß sie seine Schulden nicht länger bezahlen wollte. Nachdem sie die Erbschaft angetreten hatte, setzte sie ein Testament auf und schickte das Konzept zu ihrem Rechtsanwalt nach Torquay. Hierin bestimmte sie, daß ihr Mann nur die Zinsen von zwölftausend Pfund erhalten sollte, und auch das nur, falls er sich nicht wieder verheiraten würde. Den Rest ihres Vermögens wollte sie ihrem Neffen, Mr. Jackley, vermachen, der Ingenieur war.

 

Der Rechtsanwalt bereitete ein Schriftstück vor, das all ihren Anforderungen entsprach, und sandte es ihr durch die Post zu. Sie sollte es durchsehen, bevor er das amtliche Dokument ausfertigte. Der Brief kam in Newton Abbott an, wo der Doktor mit seiner Frau wohnte und auch seine Praxis hatte, aber er wurde nicht wieder gesehen. Ein Postbeamter bezeugte, daß er den Brief auf seinem Rundgang etwa um acht Uhr morgens an einem Sonnabend abgegeben hatte. Gerade an diesem Tag wurde Dr. Twenden zu einer Kranken gerufen, die von einer Schlange gebissen worden war, und kehrte erst gegen Abend zurück. Er aß zusammen mit seiner Frau, und es ereignete sich nichts Ungewöhnliches. Der Doktor ging anschließend noch in sein Laboratorium, um die Giftdrüsen der Schlange zu untersuchen, die er herausgeschnitten hatte.

 

Am nächsten Morgen war Mrs. Twenden schwer krank, und es zeigten sich bei ihr Symptome, die auf Blutvergiftung schließen ließ. Am Sonntag abend starb sie.

 

Bei der Untersuchung fand man eine Stichwunde in ihrem Arm, die von einer Einspritzung herrühren mußte. Dr. Twenden hatte etwa zehn Spritzen in seinem Besitz.

 

Sofort fiel ein schwerer Verdacht auf ihn, besonders da er keine anderen Ärzte zu dem Fall zugezogen hatte, bevor jede Hoffnung auf Rettung der unglücklichen Frau geschwunden war. Später wurde bewiesen, daß die Frau an Schlangengift gestorben war.

 

Zugunsten des Doktors sprach allerdings die Tatsache, daß an keiner der Spritzen irgendwelche Spuren nachgewiesen werden konnten. Die Dienstboten sowie ein anderer Arzt sagten außerdem aus, daß auf seine Anordnung hin Dr. Twenden seiner Frau zweimal wöchentlich Einspritzungen machte, um sie von ihrem Rheumatismus zu heilen. Es wurde dabei ein neues Serum angewandt, das erst kürzlich entdeckt worden war. An jenem Sonnabend war eine solche Injektion fällig gewesen.

 

Er wurde vor Gericht gestellt, aber schließlich freigesprochen. In der Zeit zwischen seiner Verhaftung und seiner Freilassung war er so bekannt geworden wie ein erfolgreicher Politiker oder ein grausamer Mörder. Nach seiner Freisprechung wurde er von begeisterten Leuten auf den Schultern aus dem Sitzungssaal getragen. Sie hatten allerdings weder eine bewundernswürdige Eigenschaft in seinem Charakter entdeckt, noch hatten sie ihn gekannt, ehe er plötzlich in diesen bösen Prozeß verwickelt worden war.

 

Wahrscheinlich war die Begeisterung der Menge durch seine Ankündigung von der Anklagebank aus bis zum Siedepunkt erhitzt worden. Er hatte seine Verteidigung selbst geführt.

 

»Ob ich nun verurteilt oder freigesprochen werde, nicht einen Pfennig des Vermögens meiner unvergeßlichen Frau will ich anrühren. Ich bin fest entschlossen, dieses unselige Geld den Armen des Landes zu geben. Ich selbst verlasse England und gehe in ein fernes Land, wo ich in einer fremden Umgebung unter Fremden das Andenken an meine liebe Frau, an die Gefährtin und Freundin meiner Tage, pflegen werde.«

 

Hier war der Angeklagte mit einem Aufschluchzen zusammengebrochen.

 

»Er will also in ein fernes Land gehen«, sagte Manfred, der sich an diese leidenschaftlichen Worte Twendens erinnerte. »Mit dreiundsechzigtausend Pfund kann man allerdings in der Fremde ganz gut leben.«

 

Leon unterdrückte ein Lächeln.

 

»Ich kann derartig zynische Bemerkungen von dir nicht hören. Hast du vergessen, daß die arme Bevölkerung von Devonshire sich zur Stunde noch den Kopf darüber zerbricht, wie man das Geld am besten anwenden könnte?«

 

Manfred lachte verächtlich und las seine Zeitung weiter, aber Leon beschäftigte sich noch mit der Sache.

 

»Ich würde doch diesem Twenden gar zu gerne einmal begegnen«, meinte er nachdenklich. »Kommst du mit mir nach Newton Abbott, George? Die Stadt an sich ist ja nicht besonders schön, aber wir haben von dort aus nur eine halbe Stunde Fahrt zu unserem alten Heim in Babbacombe.«

 

George Manfred legte die Zeitung endgültig beiseite.

 

»Es war ein gemeines Verbrechen«, sagte er düster. »Ich bin ganz deiner Meinung, Leon. Ich habe schon den ganzen Morgen darüber nachdenken müssen. Diese Tat muß irgendwie gerächt werden.

 

Aber«, fügte er zögernd hinzu, »erst müssen wir klare Beweise in der Hand haben, die vor Gericht noch nicht vorgebracht wurden. Auf bloße Vermutung hin können wir nicht handeln.«

 

Leon nickte.

 

»Aber wenn wir Gewißheit haben, dann verspreche ich dir, Manfred, daß ich einen wunderbaren Plan zur Ausführung bringen werde.«

 

Am Nachmittag machte er Mr. Fare einen Besuch. Als der Polizeidirektor seine Bitte hörte, war er nicht überrascht.

 

»Ich war schon neugierig, wie lange es noch dauern würde, bis Sie sich unsere Gefängnisse einmal ansehen wollten. Ich kann die Sache leicht mit meinen Vorgesetzten besprechen. Welche Anstalt wollen Sie denn besichtigen?«

 

»Ein typisches Gefängnis in der Provinz. Was meinen Sie zu Baxeter?«

 

»Baxeter liegt aber doch sehr weit von London entfernt«, entgegnete der Polizeibeamte erstaunt. »Es unterscheidet sich auch sehr wenig von Wandsworth, das wir ganz in der Nähe haben, oder Pentonville, unserem Zentralgefängnis.«

 

»Trotzdem möchte ich gerne Baxeter sehen. Ich habe nämlich die Absicht, an die Küste von Devonshire zu gehen, und bei dieser Gelegenheit könnte ich die Besichtigung gut vornehmen.«

 

Schon am nächsten Tag erhielt Leon den Erlaubnisschein – ein gedrucktes Formular, das den Gefängnisdirektor in Baxeter anwies, dem Überbringer des Schreibens in den Stunden zwischen zehn und zwölf Uhr vormittags und zwei und vier Uhr nachmittags Zutritt zum Gefängnis zu gewähren.

 

Die beiden unterbrachen ihre Reise in Baxeter, und Leon machte sich auf den Weg zum Gefängnis, das hübscher und stattlicher aussah als die meisten anderen Gebäude dieser Art. Er wurde von dem stellvertretenden Direktor und einem kräftigen Oberwärter, einem früheren Gardisten, empfangen. die ihm die drei großen Flügel des Gefängnisses, die Höfe und alle Gebäude der Anstalt zeigten.

 

Auf dem Bahnhof traf Leon wieder mit Manfred zusammen und kam gerade zur rechten Zeit, um den Zug nach Plymouth zu besteigen, der sie nach Newton Abbott bringen sollte.

 

»Ich bin mit meinem Besuch durchaus zufrieden«, sagte Leon. »Es ist das beste Gefängnis und erstaunlich bequem. Ich habe noch kein so angenehmes Gefängnis gesehen.«

 

»Meinst du bequem hineinzukommen oder bequem wieder daraus zu verschwinden?«

 

»Beides.«

 

Sie hatten keine Zimmer im Hotel bestellt. Leon wollte ein Privatquartier in der Nähe von Dr. Twenden nehmen und war auch erfolgreich bei seinen Bemühungen. Drei Häuser von der Wohnung des Arztes entfernt konnten sie möblierte Zimmer mieten.

 

Eine liebenswürdige, rotbäckige Frau von Devonshire war ihre Wirtin. Ihr Mann war Richtkanonier auf einem der großen Schlachtschiffe und befand sich augenblicklich auf hoher See. Leon und George waren die einzigen Untermieter und bekamen zwei gemütliche Schlafzimmer und ein gemeinschaftliches Wohnzimmer im selben Stockwerk. Manfred bestellte sofort Tee, und nachdem sich die Tür hinter der Frau geschlossen hatte, wandte er sich an Leon, der am Fenster stand und intensiv auf die innere Fläche seiner linken Hand schaute, die ebenso wie die rechte in einem grauen Seidenhandschuh steckte.

 

Manfred lachte.

 

»Ich mache im allgemeinen keine Bemerkungen über deinen Anzug, mein lieber Leon. Und wenn man bedenkt, daß du auf dem Kontinent geboren bist, muß man zugeben, daß du merkwürdig wenig Fehler in bezug auf deine Kleidung machst – vom englischen Standpunkt aus.«

 

»Es ist sonderbar«, erwiderte Leon, ohne aufzuschauen.

 

»Aber ich habe früher noch niemals gesehen, daß du seidene Handschuhe trugst«, fuhr Manfred neugierig fort. »In Spanien ist es ja nicht ungebräuchlich, baumwollene oder sogar seidene Handschuhe anzuziehen –«

 

»Feinste Seide«, murmelte Leon. »Und ich kann trotzdem meine Hand in ihnen nicht einmal biegen.«

 

»Hast du sie deshalb in der Tasche stecken lassen?« fragte Manfred überrascht.

 

Gonsalez nickte.

 

»Ich kann sie deshalb nicht biegen, weil ich eine starke Kupferplatte in der inneren Handfläche halte, und auf dieser Platte befindet sich ein halbzollstarker Aufstrich von Plastilin.«

 

»Ach so, nun verstehe ich«, entgegnete Manfred bedächtig.

 

»Ich muß wirklich sagen, daß mir das Baxeter-Gefängnis außerordentlich gefallen hat«, sagte Leon. »Der stellvertretende Direktor ist wirklich ein netter junger Mann. Er freute sich sehr über mein Erstaunen und Interesse, als er mir die Zellen zeigte. Er hat mich sogar den Paßschlüssel des ganzen Gefängnisses besichtigen lassen, der alle Türen schließt und den er persönlich bei sich trägt. Als ich ihn in der Hand hatte, schaute ich den Mann unverwandt an und preßte schnell das Ende des Schlüssels gegen meine Handfläche. Es dauerte nur eine Sekunde, mein lieber George, und weil ich den Seidenhandschuh trug, blieb kein verräterisches Zeichen an dem Schlüssel zurück, das dem Direktor meine hinterlistige Absicht verraten hätte.«

 

Er nahm eine zusammenklappbare Schere aus seiner Tasche, öffnete sie geschickt und schnitt ein Stück Seide aus der inneren Fläche des Handschuhs heraus.

 

»›Wundervoll! Das ist also der Paßschlüssel!‹, sagte ich, betrachtete ihn bewundernd und gab ihn dann zurück. Wir gingen zusammen zu der Strafzelle und besichtigten den Garten; er zeigte mir auch die kleinen, ungepflegten Gräber, wo die hingerichteten Verbrecher liegen. Und während dieser ganzen Zeit mußte ich meine Hand in der Tasche halten, um nicht gegen irgendeinen harten Gegenstand zu stoßen und den Abdruck zu verderben. Hier kannst du ihn sehen.«

 

Die Seide schien besonders präpariert zu sein, denn sie löste sich leicht ab. Darunter zeigte sich in dem grauen Ton der scharfe und unversehrte Abdruck des Schlüssels.

 

»Der kleine Eindruck an der Seite bedeutet wohl die Form des Schlüsselendes?«

 

Leon nickte.

 

»Das ist der Paßschlüssel des Baxeter-Gefängnisses, mein lieber Manfred.« Er lächelte, als er die Kupferplatte auf den Tisch legte. »Hiermit könnte ich nun in das Gefängnis hineinkommen … Nein, das ist doch zu dumm.« Plötzlich hielt er inne und biß sich auf die Lippen.

 

»Das hast du großartig gemacht«, sagte Manfred voll Bewunderung.

 

»Glaubst du?« Leon machte ein trauriges Gesicht. »Weißt du auch, daß es eine Tür dort gibt, die wir nicht damit öffnen können?«

 

»Welche ist denn das?«

 

»Das Eingangsportal, das kann man nur von innen öffnen.«

 

Als die Wirtin mit dem Tablett hereinkam, legte er sorgfältig seinen Hut über die Tonabdrücke.

 

Leon trank seinen Tee und musterte wie geistesabwesend die Tapete. Manfred unterbrach ihn nicht in seinen Gedanken.

 

Leon Gonsalez hatte schon oft die Pläne der Vier Gerechten ausgedacht und alle Einzelheiten eines ganzen Unternehmens ersonnen. Seine außerordentliche Phantasie befähigte ihn, alle Möglichkeiten vorauszusehen. Manfred hatte oft gesagt, daß das Ausdenken des Planes Leon ebensoviel Genugtuung bereitete wie die erfolgreiche Ausführung desselben.

 

»Was für ein schrecklicher Idiot bin ich doch«, sagte er schließlich. »Ich habe nicht darauf geachtet, daß das Haupttor eines Gefängnisses selten ein Schlüsselloch hat. Eine Ausnahme davon macht nur Dartmoor.«

 

Wieder versank er in Nachdenken. Die Stille wurde nur manchmal von geheimnisvollen Bemerkungen unterbrochen, die er zu sich selbst zu machen schien.

 

»Ich schicke das Telegramm … Es muß natürlich von London kommen … Sie werden sicherlich herunterschicken, wenn der Inhalt des Telegramms nur dringend genug ist. Es müssen fünf Leute sein – nein, fünf kann man zur Not in einem Taxi unterbringen … Sechs – wenn die Tür des Gefängniswagens verschlossen ist, aber das wird nicht der Fall sein … Wenn es wider Erwarten nicht geht, muß ich es in der nächsten Nacht versuchen.«

 

»Sag mal, wovon sprichst du eigentlich?« fragte Manfred belustigt.

 

Leon wachte plötzlich aus seinen Träumen auf.

 

»Wir müssen zuerst die Schuld des Mannes genau feststellen, und wir werden heute abend noch damit beginnen. Ich möchte nur wissen, ob unsere Wirtin einen Garten hat.«

 

Es zeigte sich, daß hinter dem Haus ein Garten von zweihundert Yards Länge lag. Leon ging hinunter, machte einen Erkundungsgang und war mit dem Ergebnis zufrieden.

 

»Ist das drüben die Wohnung des Doktors?« fragte er unschuldig, als ihn die Wirtin darauf aufmerksam machte. »Das ist doch nicht etwa der Mann, der den Prozeß in Baxeter gehabt hat?«

 

»Ganz gewiß, derselbe«, sagte die Frau triumphierend. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß es viel Aufsehen hier in der Gegend erregte.«

 

»Glauben Sie, daß er unschuldig ist?«

 

Die Wirtin war nicht darauf vorbereitet, auf diese klare Frage eine klare Antwort zu geben.

 

»Die einen denken so, die anderen so«, erwiderte sie deshalb diplomatisch. »Er ist immer ein netter Mensch gewesen, er hatte auch meinen Mann behandelt, als er das letztemal daheim war.«

 

»Wohnt der Doktor in dem Haus?«

 

»Ja, aber er geht bald fort.«

 

»Davon habe ich auch gehört. Er will doch das ganze Vermögen seiner Frau verteilen, nicht wahr? Das stand in den Zeitungen – die Armen können sich darauf freuen.«

 

Die Wirtin räusperte sich.

 

»Ich hoffe, daß sie es wirklich bekommen«, sagte sie mit einer gewissen Betonung.

 

»Sie scheinen nicht davon überzeugt zu sein?« meinte Manfred lächelnd, als er mit ihr aus dem Garten zurückkehrte, wo er die schönen Chrysanthemen bewundert hatte.

 

»Bis jetzt hat er noch nichts in dieser Richtung unternommen«, erwiderte sie vorsichtig. »Der Vikar war gestern morgen bei ihm und hat ihn gefragt, ob nicht die Armen von Newton Abbott auch einen kleinen Teil der Summe abbekommen könnten. Wir haben hier in der letzten Zeit viel Arbeitslose. Der Doktor hat ihm gesagt, er würde sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, und hat ihm dann einen Scheck über fünfzig Pfund geschickt, soviel ich gehört habe.«

 

»Das ist nicht gerade überwältigend viel«, entgegnete Manfred. »Warum glauben Sie, daß er bald abreisen will?«

 

»Seine Koffer sind gepackt, und seinen Dienstboten ist gekündigt, daher weiß ich es. Die arme Frau, sie hat wohl nicht viel Freude in ihrem Leben gehabt.«

 

Hiermit meinte sie wohl die Frau des Arztes. Aber sie wußte auch nicht mehr von ihr, als was sie von anderen Leuten erfahren hatte, und meinte, daß an den Redereien nicht viel sei. Warum sollte denn schließlich der Doktor nicht hübsche Mädchen auf seine Autotouren in die Heide mitnehmen, wenn ihm das Vergnügen machte.

 

»Ja, er hatte seine Eigenheiten«, sagte sie.

 

Anscheinend hatte der Doktor allerhand Seitensprünge während seiner Ehe hinter sich.

 

»Ich würde ihn gern einmal persönlich sprechen«, sagte Leon.

 

Aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Er empfängt niemand, nicht einmal seine Patienten.«

 

Trotzdem hatte Leon Erfolg, als er einen Besuch machte. Er hatte den Charakter des Arztes richtig beurteilt, als er annahm, daß er einen Zeitungsreporter nicht abweisen würde.

 

Die Haushälterin meldete Leon an. Sie schloß aber vorsichtigerweise die Haustür vor ihm, bis sie sich Bescheid geholt hatte. Gleich darauf kam sie jedoch zurück und ließ ihn ein.

 

Er wurde in das Studierzimmer geführt. Der Raum war in vollständiger Unordnung, und es zeigte sich, daß die Mitteilung von Mrs. Martin auf Wahrheit beruhte. Dr. Twenden wollte die Stadt so bald als möglich verlassen und war gerade, noch damit beschäftigt, Briefe und Rechnungen zu verbrennen.

 

»Treten Sie bitte näher«, sagte der Doktor. »Sie hätten wahrscheinlich irgend etwas über mich erfunden, wenn ich Sie nicht empfangen hätte. Was wollen Sie von mir wissen?«

 

Dr. Twenden sah gepflegt aus, hatte regelmäßige Gesichtszüge und trug einen sorgfältig geschnittenen Schnurrbart.

 

Hellblaue Augen liebe ich nicht, sagte Leon zu sich selbst. Auch der Schnurrbart gefällt mir nicht.

 

»Man hat mich von London hierhergeschickt, um Sie zu fragen, an welche wohltätigen Anstalten Sie das Geld Ihrer verstorbenen Frau verteilen wollen, Dr. Twenden«, erwiderte Leon mit der Unverfrorenheit und rücksichtslosen Offenheit eines Londoner Reporters.

 

Der Doktor runzelte die Stirn.

 

»Die Leute in der Hauptstadt sollten sich doch wenigstens so viel Zeit lassen; daß ich mir das selbst überlegen kann. Ich bin im Begriff, eine wichtige Überseereise zu machen. An Bord des Dampfers habe ich ja Zeit genug, mich damit zu beschäftigen. Ich werde dann sehen, welche der verschiedenen wohltätigen Gesellschaften im Devonshire-Bezirk das größte Anrecht darauf haben, und dementsprechend werde ich das Geld verteilen.«

 

»Wenn Sie nun aber gar nicht mehr zurückkommen?« fragte Leon unbarmherzig. »Es könnte doch irgend etwas passieren, das Schiff könnte untergehen, oder der Zug, mit dem Sie fahren, könnte verunglücken – was wird dann aus dem Geld?«

 

»Das ist ganz meine Sache«, entgegnete Twenden sehr steif und förmlich. Er schloß die Augen eine Sekunde und zog die Brauen zusammen. »Ich möchte jetzt nicht weiter darüber sprechen. Ich habe viele liebenswürdige Briefe aus dem Publikum erhalten, aber auch solche, die mich angriffen und beleidigten. Gerade heute morgen erhielt ich ein Schreiben, in dem gesagt wurde, daß bedauerlicherweise die Vier Gerechten nicht mehr tätig wären. Die Vier Gerechten!« sagte er mit verächtlichem Lächeln. »Als ob ich mich im geringsten um diese blöde Gesellschaft kümmern würde!«

 

Leon lächelte auch.

 

»Vielleicht ist es Ihnen angenehmer, wenn ich Sie heute abend noch einmal aufsuche, wenn Sie jetzt keine Zeit haben?« schlug er vor.

 

»Heute abend bin ich, der Ehrengast einiger Freunde«, erwiderte der Doktor wichtig. »Ich werde nicht vor halb ein Uhr zurückkommen.«

 

»Wo wird denn das Essen stattfinden? Vielleicht kann man darüber einen interessanten kleinen Artikel schreiben.«

 

»Im Lion-Hotel. Sie könnten erwähnen, daß Sir John Marden den Vorsitz führt, auch Lord Tussborough hat seine Anwesenheit zugesagt. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen die Liste aller Teilnehmer geben, die kommen werden.«

 

Die Sache mit dem Festessen trifft sich ja vorzüglich, dachte Leon mit Genugtuung.

 

Er erhielt die Liste, steckte sie in die Tasche und verabschiedete sich mit einigen Verbeugungen.

 

Am Abend beobachtete er von seinem Fenster aus das Haus des Arztes. Er sah, wie er in festlichem Gesellschaftsanzug die Wohnung verließ und in einem Taxi fortfuhr. Eine Viertelstunde später trat die Haushälterin heraus und zog ihre Handschuhe an. Sie wartete etwa zehn Minuten an der Straßenecke und stieg dann in den Autobus nach Torquay, als er vorüberkam.

 

Nach dem Abendessen unterhielt sich Leon ein wenig mit der Wirtin und brachte das Gespräch auch wieder auf das Haus Dr. Twendens.

 

»Vermutlich hat er eine Menge Dienstboten, um die Wohnung in Ordnung zu halten?«

 

»Augenblicklich ist nur Milly Brown bei ihm, die in Torquay wohnt. Aber sie geht nächsten Sonnabend auch weg. Die Köchin ist schon vorige Woche gegangen. Er nimmt alle seine Mahlzeiten im Hotel ein.«

 

Nachdem er das erfahren hatte, überließ er es seinem Freund Manfred, sich weiter mit Mrs. Martin zu unterhalten, was dieser auch ausgezeichnet verstand.

 

Leon schlüpfte durch den Garten und erreichte einen kleinen Gang auf der Rückseite des Hauses. Die Verbindungstür, durch die man in Twendens Garten kommen konnte, war verschlossen, aber die Gartenmauer bot kein unüberwindliches Hindernis. Wie er erwartet hatte, war die Hintertür des Hauses verschlossen, aber ein Fenster in der Nähe stand nur angelehnt. Offensichtlich dachten weder der Doktor noch die Haushälterin an Einbrecher. Ohne große Schwierigkeit kletterte er durch das Fenster und kam durch die Küche in das Haus. Bald fand er auch die Bibliothek, in der er sich am Nachmittag mit dem Doktor unterhalten hatte. Der Schreibtisch besaß keine Geheimfächer, und fast alle Papiere und Briefe lagen verbrannt im Kamin. Große Mengen Asche waren auf dem Rost zu sehen. Auch in dem kleinen Laboratorium und in den anderen Räumen fand Leon nichts Besonderes.

 

Er hatte auch nicht erwartet, gleich bei der ersten Untersuchung eine entscheidende Entdeckung zu machen. Wahrscheinlich hatte die Polizei nach der Verhaftung des Arztes das ganze Haus gründlich durchsucht und hatte es auch während seiner Abwesenheit verwaltet.

 

Leon durchsuchte alle Taschen der Anzüge Twendens, die er in einem Kleiderschrank im Schlafzimmer fand, aber es kam nur ein Theaterprogramm zum Vorschein.

 

»Ich fürchte fast, ich brauche den Paßschlüssel von Baxeter gar nicht«, sagte er bedauernd zu sich selbst und ging wieder nach unten. Er knipste seine elektrische Taschenlampe an, um noch die Kleider zu prüfen, die in der Eingangsdiele hingen, aber der Garderobenständer war leer.

 

Als er den Raum ableuchtete, fiel das Licht auch auf einen großen Briefkasten, der an der Tür befestigt war. Leon hob den gelben Deckel auf, konnte aber zuerst nichts sehen. Der Briefkasten sah aus, als ob er von dem Doktor selbst gemacht worden sei. Das bemalte Blech war ziemlich roh um einen hölzernen Rahmen gebogen; die Holzleisten konnte man genau erkennen. Eine Leiste schien gebrochen zu sein, und Leon faßte mit der Hand hinein. Was er aber für ein gebrochenes Stückchen Holz hielt, erwies sich als ein langes, schmales Paket, das aufrecht stand. Es war nur so verstaubt, daß man es von dem Rahmenwerk des Kastens nicht unterscheiden konnte. Als er das Päckchen herauszog, riß das Papier ein, das sich hinter einen Nagel geklemmt hatte. Dadurch erklärte sich auch, daß das Päckchen beim Leeren des Briefkastens nicht herausgefallen war. Leon blies den Staub vorsichtig ab; auf der Adresse fand er den aufgedruckten Stempel des Pasteur-Institutes. Er steckte das Päckchen in die Tasche und verließ das Haus auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Er war über zwei Stunden ausgeblieben, und Manfred war in ernster Sorge um ihn.

 

»Hast du etwas entdeckt?«

 

»Dies hier.« Leon zog das Päckchen aus der Tasche und erzählte, wo er es gefunden hatte.

 

»Vom Pasteur-Institut?« fragte Manfred erstaunt: »Aber natürlich, das Serum, das er für die Injektion brauchte! Das wird nur im Pasteur-Institut hergestellt. Ich entsinne mich, in den Prozeßberichten darüber gelesen zu haben.«

 

»Er machte zweimal in der Woche Einspritzungen – wenn ich mich recht erinnere, am Mittwoch und am Sonnabend. Es wurde auch durch Zeugenaussage im Prozeß festgestellt, daß am Mittwoch vor dem Mord die Injektion unterblieb. Es ist mir damals schon aufgefallen, daß niemand fragte, warum er an dem letzten Mittwoch keine Injektion gab.«

 

Er öffnete den Papierumschlag und zog eine längliche, hölzerne Schachtel daraus hervor, um die ein Brief gewickelt war. Auch dieses Schriftstück, das in Französisch abgefaßt war, trug den Stempel des Pasteur-Instituts.

 

›Sehr geehrter Herr,

 

wir senden Ihnen, umgehend das Serum Nr. 47, das Sie verlangt haben. Bedauerlicherweise wurde Ihnen durch das Versehen eines Angestellten das Serum in der vergangenen Woche nicht geschickt. Wir haben heute Ihr Telegramm erhalten, in dem Sie uns mitteilten, daß Sie kein Serum mehr besitzen, und senden Ihnen dieses als beschleunigte Eilsendung.«

 

»Kein Serum mehr besitzen«, wiederholte Gonsalez. Er nahm den Papierumschlag auf und sah nach der Marke.

 

»Paris, den vierzehnten September«, las er. »Und hier haben wir auch den Poststempel des Eingangs. Newton Abbott, den sechzehnten September sieben Uhr morgens.« Er runzelte die Stirn. »Dieses Paket wurde also am Morgen des sechzehnten in den Briefkasten gesteckt«, sagte er langsam. »Mrs. Twenden erhielt ihre letzte Einspritzung am Abend des fünfzehnten. Der sechzehnte war ein Sonntag, an dem nur früh morgens einmal Post ausgetragen wird. Begreifst du die Zusammenhänge?«

 

Manfred nickte.

 

»Offensichtlich konnte er keine Injektion machen, weil ihm das Serum ausgegangen war, und diese neue Sendung kam an, als seine Frau im Sterben lag. Wie wir sehen, hat er das Päckchen überhaupt nicht geöffnet.«

 

Er zog eine dünne Glastube aus dem Holzkästchen hervor und kontrollierte den versiegelten Verschluß.

 

»Hm, nun werde ich den Schlüssel für das Baxeter-Gefängnis also doch brauchen. Warum machte er am Mittwoch keine Einspritzung? Weil er kein Serum hatte. Offenbar wartete er darauf, hat es aber schließlich vergessen. Wahrscheinlich hat der Postbote am Sonntag morgen an die Tür geklopft, keine Antwort erhalten und deshalb das kleine Päckchen durch den Einwurf in den Briefkasten gesteckt. Zufällig ist es an einem Nagel hängengeblieben, wo ich es heute entdeckte.«

 

Er legte das Umschlagpapier auf den Tisch und holte tief Atem.

 

»Ich werde mich jetzt daranmachen, den Schlüssel auszufeilen.«

 

Zwei Tage später kam Manfred mit neuen Nachrichten nach Hause.

 

»Wo ist mein Freund?«

 

Mrs. Martin lächelte bedeutungsvoll.

 

»Der Herr arbeitet im Gewächshaus. Ich dachte, daß er neulich einen Scherz machte, als er mich fragte, ob er einen Schraubstock an dem Arbeitstisch anbringen dürfe. Aber er ist tatsächlich an der Arbeit.«

 

»Er arbeitet an einem neuen Radioapparat.« Manfred hoffte, daß die Wirtin von solchen Dingen keine Ahnung hatte.

 

»Er ist sehr eifrig. Eben kam er heraus, um ein wenig Luft zu schöpfen – ich habe noch niemals einen Menschen so schwitzen sehen! Er scheint den ganzen Tag mit der Feile zu hantieren.«

 

»Sie dürfen ihn bei der Arbeit nicht stören.«

 

»Das würde mir im Traum nicht einfallen«, erwiderte Mrs. Martin etwas verletzt.

 

Manfred ging in den Garten hinaus, und Leon sah ihn näherkommen. Das Gewächshaus war ein idealer Arbeitsplatz, denn er konnte von weitem beobachten, wenn sich die Wirtin näherte, und konnte den Schlüssel immer rechtzeitig verbergen. Er arbeitete nun schon den zweiten Tag daran.

 

»Er reist heute ab, genauer gesagt, heute abend«, erklärte Manfred. »Er fährt nach Plymouth und will dort den Dampfer der Holländisch-Amerikanischen Linie nach New York besteigen.«

 

»Heute abend?« fragte Leon erstaunt. »Das könnte ja ganz gut klappen. Mit welchem Zug fährt er denn?«

 

»Das weiß ich nicht.«

 

»Bist du deiner Sache auch ganz sicher?«

 

Manfred nickte.

 

»Er hatte verschiedenen Bekannten erzählt, daß er erst morgen früh fährt, aber er macht sich heute abend aus dem Staube. Die Leute sollen nichts von seiner Abreise erfahren. Ich habe es nur zufällig durch eine Unvorsichtigkeit des Doktors selbst entdeckt, denn ich war heute auf der Post, als er ein Telegramm abschickte. Seine Brieftasche lag offen auf dem Schalterbrett, und ich sah, daß einige Gepäckzettel daraus hervorschauten. Es waren Gepäckzettel für Dampfer, und ich las das Wort ›Rotterdam‹. Sofort schaute ich in den Zeitungen nach und erfuhr, daß der Dampfer ›Rotterdam‹ morgen früh abfährt. Als ich dann später hörte, daß er den Leuten gesagt hatte, er würde morgen früh Newton Abbott verlassen, war ich meiner Sache ganz sicher.«

 

»Das trifft sich vorzüglich, George. Diese Tat wird die Krone unseres Lebenswerkes sein. Ich sage ›unsere‹, aber ich fürchte, ich muß die Sache ganz allein ausführen, obgleich du dabei eine bedeutende Rolle zu spielen hast.« Er lachte leise und rieb sich die Hände. »Wie fast alle anderen Verbrecher hat auch Twenden einen ganz dummen Fehler begangen. Er hat nach einem alten Testament das Vermögen seiner Frau geerbt. Es blieb ihm ihr ganzer Besitz mit Ausnahme von zweitausend Pfund, die sie auf einer Bank deponiert hatte. Diese sollten an ihren Neffen, einen Ingenieur in Plymouth, fallen. In seiner Habgier hat Twenden sicherlich diese Testamentsbestimmung vergessen und hat das ganze Geld auf seine Bank in Torquay eingezahlt. Vor einigen Tagen wurde es von Newton Abbott aus überwiesen, die ganze Stadt sprach darüber. Fahre also sofort nach Plymouth und suche den jungen Mr. Jackley auf, besuche auch seinen Rechtsanwalt oder irgendeinen anderen. Sollte Dr. Twenden die zweitausend Pfund nicht an seinen Neffen gezahlt haben, so soll er einen Haftbefehl gegen Twenden ausstellen lassen. Der Doktor ist unter diesen Umständen ein Treuhänder, der sich heimlich durch Flucht seinen Verpflichtungen entziehen will, und die Justizbehörden werden den Verhaftungsbefehl ausstellen, wenn sie erfahren, daß der Mann morgen mit der ›Rotterdam‹ das Land verlassen will.«

 

»Wenn du ein gewöhnlicher Mann wärest, Leon, würde ich denken, daß deine Rache ein wenig ungenügend ist.«

 

»Das wird sie nicht sein«, entgegnete sein Freund ruhig und gelassen.

 

Abends um neun Uhr dreißig bestieg Dr. Twenden mit hochgeschlagenem Mantelkragen und herabgezogenem Hut ein Wagenabteil erster Klasse auf dem Bahnhof in Newton Abbott. Der Detektivsergeant, den er kannte, trat an ihn heran und klopfte ihm auf die Schulter.

 

»Folgen Sie mir, Doktor.«

 

»Warum denn, Sergeant?« Twenden wurde plötzlich bleich.

 

»Ich habe einen Haftbefehl für Sie in der Tasche.«

 

Als dem Doktor die Anklage auf dem Polizeirevier vorgelesen wurde, wütete er wie ein Wahnsinniger.

 

»Ich werde Ihnen das Geld geben, jetzt sofort! Aber ich muß heute abend noch abfahren. Morgen früh fährt mein Dampfer nach Amerika.«

 

»Das kann ich mir denken«, erwiderte der Polizeiinspektor trocken. »Deshalb haben wir Sie ja gerade festgenommen.«

 

So wurde er denn für die Nacht in eine Zelle eingeschlossen.

 

Am nächsten Morgen fand das erste Verhör statt. Die Zeugen wurden vernommen, und nachdem der junge Mr. Jackley aus Plymouth seine Aussage gemacht hatte, beriet der Gerichtshof.

 

»Wir haben den unumstößlichen Beweis, daß beabsichtigter Betrug vorliegt, Dr. Twenden«, sagte der Richter schließlich. »Sie wurden im Besitz einer großen Geldsumme verhaftet, und man hat Kreditbriefe bei Ihnen gefunden. Daraus geht klar hervor, daß Sie dieses Land für immer verlassen wollten. Unter diesen Umständen bleibt uns nichts anderes übrig, als Ihre Verhaftung aufrechtzuerhalten. Sie werden bei den nächsten Sitzungen vor Gericht gestellt werden.«

 

»Aber ich kann Bürgschaft stellen, ich bestehe darauf«, rief der Doktor wütend.

 

»Bürgschaft wird in diesem Falle nicht angenommen«, erwiderte der Richter scharf.

 

Am Nachmittag wurde Dr. Twenden in einem Taxi ins Baxeter-Gefängnis überführt.

 

Die Gerichtssitzungen fanden in der nächsten Woche statt, und der Doktor mußte nun zu seiner größten Erbitterung in demselben Gefängnis bleiben, aus dem er vor einigen Wochen entlassen worden war.

 

Am zweiten Tag nach seiner Einlieferung erhielt der Direktor des Baxeter-Gefängnisses ein Telegramm.

 

›Sechs Schwerverbrecher Ihrem Gefängnis überwiesen. Ankunft auf Station Baxeter abends 10.15. Senden Sie Gefangenenwagen.‹

 

Das Telegramm war mit »IMPRISON« unterzeichnet, dem Codewort für die Generaldirektion sämtlicher Gefängnisse in England.

 

Zufällig war gerade zur selben Zeit eine Meuterei in einem Londoner Gefängnis vorgekommen, und der Direktor war infolgedessen über die Nachricht nicht erstaunt, auch nicht über die späte Stunde der Ankunft des Gefangenentransportes.

 

Der Zug fuhr in die Station ein. Die Gefangenenwärter warteten auf dem Bahnsteig, gingen dann langsam an den Wagen entlang und schauten nach einem Abteil mit herabgelassenen Vorhängen aus. Aber es waren keine Gefangenen mitgekommen. Der nächste Zug von London kam erst morgens um vier Uhr.

 

»Sie werden den Zug nicht mehr erreicht haben, es gibt gar keine andere Erklärung«, sagte einer der Männer. »Dann müssen wir eben wieder abfahren, Jerry«, wandte er sich an den Chauffeur und warf die Tür der »Grünen Minna« zu, die offengestanden hatte. Der Gefangenenwagen fuhr knatternd aus dem Bahnhof.

 

Langsam ging es die Anhöhe empor und dann durch das große, schwarze Tor; gleich darauf bog der Wagen in ein anderes Portal zur Linken ein, das im rechten Winkel zu dem ersten lag, und hielt vor den offenen Türen eines kleinen, abseits liegenden Ziegelgebäudes, das als Garage diente.

 

Der Chauffeur brummte, als er ausstieg.

 

»Ich lasse den Wagen im Hof stehen – muß ihn morgen sowieso waschen.«

 

Er nickte den Wärtern eine gute Nacht zu und ging nach Hause.

 

Soweit war alles gut verlaufen. Ein starker Südwestwind kam von Dartmoor her, rüttelte an den Fenstern des Gefängnisses und heulte in dem großen, verlassenen, dunklen Hof.

 

Plötzlich hörte man ein leises Knacken, und die Tür der »Grünen Minna« öffnete sich langsam. Leon hatte entdeckt, daß sein Paßschlüssel die Wagentür nicht öffnete. Er war in den Gefangenenwagen hineingeschlüpft:, während die Wärter den Zug absuchten, und es war jetzt schwer geworden, wieder herauszukommen. Er wußte ja nur zu genau, daß überhaupt keine Gefangenen von London kamen, aber er brauchte diesen Wagen zur Ausführung seines Planes. Mit seiner Hilfe war er nun glücklich in das Gefängnis gekommen, wie er es beabsichtigt hatte. Er horchte, aber er konnte nur das Wüten des Sturmes hören. Vorsichtig ging er zu einem kleinen, glasgedeckten Gebäude und benutzte seinen Paßschlüssel. Die Tür öffnete sich, und er stand in einem engen Zimmer, wo die Gefangenen fotografiert wurden. Die nächste Tür führte ihn in einen Abstellraum, und dahinter lagen die Flügel des Gefängnisses. Er hatte bei seinem kurzen Besuch nach allem gefragt und wußte, wo sich die Zellen der Untersuchungsgefangenen befanden.

 

Bald mußte eine Patrouille kommen. Leon schaute auf seine Uhr und wartete, bis der Mann an der Tür vorübergegangen war. Der Wächter würde nun in einen Flügel gehen, von dem aus er keinen Überblick auf diesen Teil des Gefängnisses hatte. Leon öffnete die Tür und trat in die verlassene Halle. Die Fußtritte der Patrouille klangen immer entfernter. Leise stieg er eine eiserne Treppe in die Höhe und kam zu dem oberen Stockwerk, wo er langsam die Zellen entlangging. Plötzlich sah er den Namen, den er suchte.

 

Geräuschlos schloß er die Tür auf. Dr. Twenden sah ihn blinzelnd an, als er sich auf seiner hölzernen Bettstelle aufrichtete.

 

»Stehen Sie auf«, flüsterte Gonsalez, »und drehen Sie sich um.«

 

Schlaftrunken gehorchte der Doktor.

 

Leon band ihm die Hände auf dem Rücken zusammen und faßte ihn am Arm. Er hielt an, als er die Zellentür wieder verschloß. Dann führte er ihn die Treppe hinunter und durch den Abstellraum in das kleine, glasgedeckte Zimmer. Bevor der Doktor wußte, was geschah, hatte Leon ihm ein großes, seidenes Taschentuch über den Mund gebunden.

 

»Können Sie mich hören?«

 

Der Mann nickte.

 

»Können Sie das fühlen?«

 

Leon stieß ihm eine Nadel in den linken Arm.

 

Twenden versuchte, seinen Arm fortzuziehen.

 

»Sie werden den Wert einer solchen Spritze noch schätzen lernen – mehr als irgendein anderer«, sagte ihm Gonsalez ins Ohr. »Sie haben eine unschuldige Frau ermordet und sind trotzdem der Bestrafung durch das Gesetz entgangen. Vor einigen Tagen sprachen Sie so verächtlich von den Vier Gerechten – ich bin einer von ihnen!«

 

Dr. Twenden starrte in der Dunkelheit auf das Gesicht des anderen, das er nicht sehen konnte.

 

»Das Gesetz hat Sie nicht erreichen können, aber wir haben Sie gefaßt. Können Sie mich verstehen?«

 

Der Arzt nickte ängstlich und taumelte.

 

Leon ließ den Arm des Mannes los und fühlte, wie er auf den Boden glitt. Er ließ Twenden dort liegen, ging in den anstoßenden Schuppen, der als Hinrichtungsraum diente, und brachte die beiden herunterhängenden Trittbretter in Stellung, bis sie zusammenstießen. Dann nahm er das Ende eines langen Taues, das er sich um den Leib gewickelt hatte, und warf es über den Galgenarm.

 

Nachdem er alle Vorbereitungen getroffen hatte, kehrte er zu dem bewußtlosen Mann zurück …

 

Als die Gefängniswärter am nächsten Morgen den Raum betraten, sahen sie ein straff angezogenes Tau. Die beiden Trittbretter waren nach unten gefallen, und an dem Strick war ein Mann aufgehängt. Er war kalt und steif. Der Gesetzesstrafe war er entgangen, aber die Strafe der Gerechtigkeit hatte ihn ereilt.

 

Kapitel 5

 

5

 

Der Nebel war noch ebenso dicht und undurchdringlich wie vorher. Die Straßenlaternen verbreiteten ein geisterhaftes gelbes Licht in dem schweren Dunst. Der kleine Zeitungsjunge, der erst die Hälfte seines Auftrages erledigt hatte, eilte dem Fluß zu. Er befreite sich von seinen Zeitungen, indem er sie einfach in einen großen Abfallkasten warf. Dann sprang er geschickt auf einen vorüberfahrenden Autobus, und nach einer halben Stunde hatte er Southwark erreicht. Er bog in eine der engen Straßen ein, die vom Borough abzweigten. Hier brannten nur wenige trübe Gaslaternen, die Nebenstraßen waren enger und düsterer.

 

Er ging einen dunklen und holperigen Weg entlang und sah sich von Zeit zu Zeit um, ob er verfolgt würde.

 

Zwischen den engen Straßenwänden war der Nebel noch dichter, und es herrschte eine warme, stickige Atmosphäre. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren nicht zu erkennen. Es lag etwas Bedrückendes und Beängstigendes in dieser Enge, doch entsprach das ganz dem Charakter dieses ärmlichen Stadtteils.

 

Manchmal hörte er dicht neben sich einen Gassenhauer, oder er sah das aufgedunsene, rote Gesicht eines halbbetrunkenen Menschen in dem Dunst auftauchen.

 

Aber der Junge befand sich hier in heimatlicher Umgebung und ging flink vorwärts. Er pfiff eine Melodie zwischen den Zähnen und eilte mit einer Gewandtheit, die man nur durch lange Übung erreichen kann, an den langen, schmutzigen Rinnsteinen vorbei, bog vor großen, dunklen Pfützen aus und schlug auch vor den schwankenden Gestalten, die man nur undeutlich durch den Nebel sehen konnte, seine Haken.

 

Während er an der einen Häuserfront entlangging und von Zeit zu Zeit mit der Hand nach einer Mauer tastete, hörte er Schritte hinter sich. Er bog um die Ecke, wandte sich sofort wieder um und stieß dabei mit einem Mann zusammen, der ihn mit großen Händen packte. Ohne zu zögern, beugte sich der Junge vor und biß mit seinen scharfen Zähnen in den haarigen Arm.

 

Mit einem heiseren Fluch ließ ihn der Mann fahren, und der Junge, der flink auf die andere Straßenseite sprang, konnte noch hören, wie er hinter ihm herstolperte und wütend schimpfte. In dem undurchdringlichen Nebel war eine Verfolgung jedoch unmöglich.

 

Als der kleine Bursche die Straße entlanglief, öffnete sich plötzlich eine Tür neben ihm. Ein greller, roter Lichtschein fiel nach draußen, und der schmutzbespritzte Anzug des Jungen wurde hell beleuchtet. Er starrte in die Öffnung hinein.

 

Ein Mann stand in der Tür.

 

»Komm herein«, sagte er kurz.

 

Der Junge gehorchte. Heimlich wischte er sich die Stirn und versuchte, seinen schnellen Atem zu unterdrücken. Er trat in ein unansehnliches Zimmer. Der Fußboden war abgetreten und beschmutzt, die Tapeten hingen von den Wänden herunter. Die Luft war verbraucht und stickig. Nur ein Tisch und ein paar alte Stühle standen in der einen Ecke.

 

Der Junge ließ sich in einen Stuhl fallen und sah seinen Herrn, der ihm schon oft verschwiegene Aufträge gegeben hatte, offenherzig und neugierig an. Aber dann schweiften seine Blicke an dem Mann vorbei zu einer Gestalt, die unter einem schweren, dunklen Mantel auf dem Boden lag. Das Gesicht war der Wand zugekehrt.

 

»Nun?« sprach ihn der Mann mit einer wohlklingenden, gebildeten Stimme an, die gleichwohl einen etwas fremden Akzent hatte. Der Mann war schlank, hatte dunkles Haar und dunklen Bart und ein feingeschnittenes Gesicht. Aber seine Züge waren undurchsichtig und hart wie die einer Sphinx. Er hatte den Abendmantel und den Zylinder abgelegt und stand nun in Gesellschaftskleidung vor seinem kleinen Agenten. Ein großer, vielleicht etwas zu großer Strauß von Parmaveilchen steckte in seinem Knopfloch und verbreitete einen schwachen Duft.

 

Der Junge wußte von seinem Herrn nur, daß er Ausländer war, etwas extravagant lebte, in einem großen Haus in der Nähe des Portland Place wohnte und ihn für seine gelegentlichen Dienste sehr gut bezahlte. Daß dieses große Haus ein Hotel war, in dem Poltavo eine recht hohe Rechnung zu begleichen hatte, konnte er nicht ahnen.

 

Der kleine Bursche erzählte, was er an diesem Abend erlebt hatte, und erwähnte besonders seine letzte Begegnung.

 

Poltavo hörte ruhig zu, setzte sich dann, stützte die Ellbogen auf den Tisch und brütete vor sich hin, indem er sein Gesicht in den Händen verbarg. Ein funkelnder Rubin, der in den Kopf einer Kobra eingesetzt war, glänzte in dem Ring, den er am kleinen Finger trug. Plötzlich erhob er sich wieder.

 

»Das ist alles für heute abend, mein Junge«, sagte er ernst. Er zog seine Brieftasche, nahm eine Pfundnote heraus und drückte sie ihm in die Hand.

 

»Und das«, sagte er leise, indem er ihm eine zweite Pfundnote zeigte und dann in die Hand steckte, »ist für – deine Schweigsamkeit. Hast du mich verstanden?«

 

Der Junge schaute schnell und fast furchtsam auf die ruhende Gestalt, die neben der Wand lag, versprach leise, nichts auszuplaudern, und verließ dann den Raum wieder. Als er draußen im Nebel stand, atmete er tief auf.

 

*

 

Nachdem sich der Bote entfernt hatte, öffnete sich die Tür zu einem anderen Raum, und Mr. Farrington trat heraus. Er war fünf Minuten vor dem Jungen hier eingetroffen. Mr. Poltavo lehnte sich in seinen Stuhl zurück und lächelte Farrington an, der düster auf ihn niederblickte.

 

»Endlich kommt die Sache ins Rollen – die Räder fangen an, sich zu drehen«, sagte er freundlich.

 

Mr. Farrington nickte schwer und schaute in die Ecke, wo die Gestalt auf dem Boden lag.

 

»Sie müssen sich noch schneller drehen, bevor die Nacht um ist«, erwiderte er bedeutungsvoll. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß wir äußerst vorsichtig zu Werke gehen müssen. Ein einziger Fehltritt, und das ganze Gebäude stürzt zusammen!«

 

»Da haben Sie zweifellos recht«, entgegnete Poltavo liebenswürdig. Er beugte sich nieder, um den Duft der Veilchen einzuziehen. »Aber Sie vergessen etwas. Das große Gebäude, von dem Sie so geheimnisvoll sprechen«, er unterdrückte ein Lächeln, »kenne ich noch gar nicht. Sie haben es in Ihrer ungeheuer vorsichtigen Weise verstanden, mich über diesen wichtigen Punkt vollkommen in Unkenntnis zu lassen.«

 

Er machte eine Pause und sah Mr. Farrington erwartungsvoll an. Ein leises, ironisches Lächeln umspielte seinen Mund. Der leichte Akzent, mit dem er sprach, machte seine Stimme angenehm und reizvoll.

 

»Habe ich nicht recht?« fragte er dann höflich. »Ich stehe, wie Sie neulich sagten, draußen auf der kalten Straße – ich kenne nicht einmal Ihre nächsten Pläne.«

 

Sein Benehmen war vornehm und ruhig, und nur sein schneller Atem verriet seine Erregung.

 

Mr. Farrington bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl.

 

»Es handelt sich um gewisse finanzielle Angelegenheiten«, sagte er leichthin.

 

»Es gibt aber auch noch andere Dinge, die dringend und sofort erledigt werden müssen«, unterbrach ihn Poltavo. »Ich sehe zum Beispiel, daß Ihre rechte Hand in einem Handschuh steckt, der viel größer ist als der linke. Und ich bilde mir ein, daß unter dem weißen Glacéleder ein dünner seidener Verband ist. Für einen Millionär in Ihrer Lage benehmen Sie sich recht sonderbar – ich möchte fast sagen: verdächtig.«

 

»Pst!« Farrington wandte sich um. In seinem Blick lag Furcht.

 

Poltavo übersah diese Unterbrechung. Er legte seine Hand auf Mr. Farringtons Arm und sprach mit seiner wohltönenden, überzeugenden Stimme auf ihn ein.

 

»Ich möchte Ihnen einen guten Rat geben. Vertrauen Sie sich mir an. Ich spreche hier zu Ihnen, ohne das geringste eigene Interesse daran zu haben. Es wäre wirklich gut, wenn Sie mich ins Vertrauen zögen, denn ich glaube, Sie brauchen jetzt Hilfe, und ich habe Ihnen ja bereits Beweise meiner Fähigkeiten in dieser Beziehung gegeben. Als ich Sie heute nachmittag in Ihrem Hause am Brakely Square aufsuchte, sagte ich Ihnen schon, daß Ihnen ein Mann meiner Art von allergrößtem Nutzen sein könnte. Zuerst waren Sie überrascht, dann wurden Sie argwöhnisch. Als ich Ihnen von meinen Erfahrungen in der Redaktion einer gewissen kleinen Zeitung erzählte, wurden Sie ärgerlich. Ich bin ganz offen zu Ihnen«, sagte er und zuckte die Achseln. »Ich bin ein Abenteurer ohne Geld – kann ich aufrichtiger zu Ihnen sein? Ich nenne mich Graf Poltavo – aber meine Familie hat keinen irgendwie berechtigten Anspruch, einen Adelstitel zu führen. Ich lebe nur von meinem Witz und Verstand und habe mir bis jetzt meinen Lebensunterhalt durch Falschspielen erworben; ich habe fast einen Mord auf dem Gewissen. Ich brauche die wohlwollende Fürsorge eines starken, reichen Mannes – und Sie erfüllen alle Voraussetzungen.« Er neigte sich ein wenig vor und sprach weiter. »Sie sagten mir, ich solle meine Nützlichkeit beweisen nun gut, ich habe die Herausforderung angenommen. Als Sie heute abend ins Theater gingen, wurde Ihnen von einem Boten gesagt, daß der Detektiv T.B. Smith – wirklich ein bewunderungswürdiger Mann – Sie beobachtet und daß er das ganze Theater mit Geheimpolizisten abgesperrt hatte. Ich wählte einen kleinen Jungen als Boten, der Ihnen schon mehr als einmal gedient hat. Damit habe ich Ihnen doch zu gleicher Zeit bewiesen, daß ich nicht nur vollkommen informiert war, welche Schritte die Behörden Ihnen gegenüber ergriffen hatten, sondern daß ich auch wußte, wohin Sie heute abend gehen würden – und daß ich Ihr Geheimnis kannte.«

 

Sein Blick haftete jetzt auf der Gestalt, die von dem dicken Mantel bedeckt war.

 

Er lächelte hintergründig.

 

»Sie sind ein interessanter Mann«, erwiderte Farrington düster. Er schaute auf die Uhr. »Kommen Sie mit mir ins Jollity-Theater – wir können auf dem Weg dorthin die Sache besprechen. Vielleicht fordern wir Mr. Smith heraus«, sagte er lächelnd, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich habe einen sehr guten Freund verloren.« Auch er blickte zu dem schweigend daliegenden Mann. »Sie könnten an seine Stelle treten. Stimmt es, daß Sie etwas von technischen Dingen verstehen, wie Sie mir heute erzählten?«

 

»Ich habe mein Examen als Ingenieur an der Technischen Hochschule zu Padua bestanden und besitze ein Diplom darüber«, entgegnete Poltavo prompt.

 

Kapitel 6

 

6

 

Punkt zehn Uhr, als sich der Vorhang nach dem ersten Akt senkte, wandte sich Lady Dinsmore um und streckte ihre Hand aus, um den ersten der beiden Herren zu begrüßen, die in die Loge traten.

 

»Mein lieber Graf, ich bin sehr böse auf Sie. Ich habe nun schon zu lange auf Sie gewartet und habe diesen jungen Leuten allerhand Gutes über Sie erzählt. Vermutlich waren Sie auch die Veranlassung zu Gregorys plötzlichem Verschwinden?«

 

»Es tut mir unendlich leid!«

 

Graf Poltavo konnte sich den Anschein geben, als ob er seine ganze Aufmerksamkeit auf den Menschen richtete, mit dem er sprach, und als ob er ihn bis auf den Grund seiner Seele durchschauen wollte. Er konnte wunderbar zuhören, und diese Eigenschaft, verbunden mit einer gewissen Heiterkeit seines Temperamentes, hatte ihn in kurzer Zeit in der Gesellschaft beliebt gemacht, die ihm nun ihre Tore geöffnet hatte.

 

»Bevor Sie mich mit Recht verurteilen, Lady Dinsmore, gestatten Sie, daß ich mich wegen der Verspätung tausendmal bei Ihnen entschuldige.«

 

Lady Dinsmore schüttelte den Kopf und schaute zu Farrington hinüber. Aber der ernste Mann hatte sich auf einem Sessel in der Ecke der Loge niedergelassen und schaute verdrießlich ins Parkett hinunter.

 

»Sie sind einfach unverbesserlich, Graf. Aber nehmen Sie jetzt Platz und bringen Sie ruhig Ihre Entschuldigungsgründe vor. Sie kennen ja meine Nichte – ich glaube, auch Mr. Doughton. Er ist einer unserer kommenden führenden Geister.«

 

Der Graf machte eine Verbeugung und setzte sich neben Lady Dinsmore.

 

Frank, der nur durch ein Nicken kühl auf den Gruß geantwortet hatte, nahm seine Unterhaltung mit Doris sogleich wieder auf. Lady Dinsmore wandte sich an den Grafen.

 

»Was können Sie nun zu Ihrer Rechtfertigung vorbringen?« fragte sie etwas abrupt. »Ich lasse Sie nicht so leichten Kaufes entwischen. Unpünktlichkeit ist ein böses Vergehen, und zur Strafe sollen Sie sagen, weshalb Sie nicht gekommen sind.«

 

Poltavo verneigte sich mit einem strahlenden, liebenswürdigen Lächeln.

 

»Es war eine recht unangenehme geschäftliche Angelegenheit, die meine persönliche Gegenwart erforderte – auch Mr. Farrington mußte zugegen sein.«

 

Lady Dinsmore machte eine abwehrende Geste.

 

»Geschäftliche Dinge können mich nicht versöhnen. Mr. Farrington«, fügte sie mit leiser Stimme vertraulich hinzu, »kann von nichts anderem als von Geschäften sprechen. Als er bei mir wohnte, sandte er dauernd Depeschen, kabelte nach Amerika oder entzifferte Codetelegramme. Weder bei Tag noch bei Nacht war Ruhe im Hause. Schließlich wurde es mir zuviel. ›Gregory‹, sagte ich zu ihm, ›ich dulde es nicht, daß du meine Dienstboten mit deinen extravaganten Trinkgeldern verdirbst und mein Haus zu einem Börsenbüro machst. Es ist besser, daß du deine Hausse- und Baissespekulationen im Savoy-Hotel vornimmst und Doris mir allein überläßt.‹ Diesen Rat hat er auch befolgt«, sagte sie mit einer gewissen Genugtuung.

 

Graf Poltavo schaute sich nach Mr. Farrington um, als hätte er zum erstenmal etwas von dessen merkwürdigem Verhalten gehört.

 

»Geht es ihm gesundheitlich nicht gut?«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»Offen gestanden, ich glaube, daß er ein wenig kränkelt. Er macht es aber schlimmer, um nicht an unserer Unterhaltung teilnehmen zu müssen. Er kann Musik an und für sich nicht recht leiden. Doris ist sehr besorgt um ihn, und seitdem sie gemerkt hat, daß es ihm nicht ganz gut geht, ist sie zerstreut. Sie verehrt ihren Onkel – Sie wissen doch, daß sie seine Nichte ist?«

 

Graf Poltavo blickte zu Doris hinüber. Sie saß vorn in der Loge und hatte die Hände leicht im Schoß zusammengelegt. Sie beobachtete das Publikum während der Pause mit einer gewissen Gleichgültigkeit, als ob sie an andere Dinge dächte. Ihre gewöhnliche Harmlosigkeit und ihre frohe Heiterkeit schienen sie im Augenblick ganz verlassen zu haben, und sie war schweigsam, was man sonst nicht an ihr gewöhnt war.

 

»Sie ist wirklich schön«, sagte Poltavo leise vor sich hin.

 

Ein gewisser Unterton in seiner Stimme machte Lady Dinsmore aufmerksam, und sie sah ihn prüfend an.

 

Der Graf erwiderte ihren Blick.

 

»Darf ich eine Frage an Sie richten – ist sie mit Ihrem jungen Freund verlobt?« sagte er leise. »Glauben Sie mir bitte, daß ich nicht nur aus purer Neugierde frage. Ich – ich bin selbst … interessiert.« Er sprach so ruhig und gesetzt wie immer.

 

Lady Dinsmore überlegte schnell.

 

»Ich besitze leider nicht ihr Vertrauen«, antwortete sie schließlich ebenso leise. »Sie ist ein kluges junges Mädchen und fragt niemanden um Rat.« Sie machte eine Pause, fügte dann aber zögernd hinzu: »Sie mag Sie nicht gern, es tut mir leid, wenn ich Ihnen dadurch weh tue, aber das ist ganz offensichtlich.«

 

Graf Poltavo nickte.

 

»Das weiß ich. Würden Sie mir einen aufrichtigen Freundschaftsdienst erweisen und mir mitteilen, warum ich ihr unsympathisch bin?«

 

Lady Dinsmore lächelte.

 

»Ich will sogar noch mehr als das tun«, erwiderte sie freundlich. »Ich will Ihnen Gelegenheit geben, sie selbst danach zu fragen. Frank!« Sie wandte sich nach vorne und klopfte mit ihrem Fächer auf die Schulter des jungen Mannes. »Würden Sie einmal zu mir kommen und mir sagen, was eigentlich Ihr Chefredakteur damit beabsichtigt, daß er all diese schrecklichen Kriegsgerüchte in die Welt setzt? Darunter leidet doch nur die Saison in den Badeorten.«

 

Der Graf erhob sich schweigend von seinem Sessel und nahm den leeren Platz an der Seite der jungen Dame ein. Es herrschte zuerst ein peinliches Schweigen, aber Poltavo ließ sich dadurch nicht einschüchtern.

 

»Miss Gray«, begann er ernst, »Ihre Tante war so liebenswürdig, mir Gelegenheit zu geben, eine Frage an Sie zu richten. Gestatten Sie mir diese Frage?«

 

Doris zog die Augenbrauen hoch, und ihre Lippen kräuselten sich leicht.

 

»Eine Frage, auf die Sie und Tante Patricia keine Antwort finden konnten – das muß allerdings etwas Spitzfindiges sein. Wie kann ich hoffen, eine Antwort darauf zu finden?«

 

Er überhörte den ironischen Ton ihrer Stimme.

 

»Die Frage betrifft Sie selbst.«

 

»Ach!« Sie sah ihn mit blitzenden Augen an, und ihre kleinen Füße klopften ungeduldig auf den Boden. Dann lachte sie ein wenig ärgerlich.

 

»Ich habe nicht viel mit Ihnen im Sinn, Graf, das gebe ich offen zu. Ich habe erfahren, daß Sie niemals sagen, was Sie meinen, oder meinen, was Sie sagen.«

 

»Verzeihen Sie, Miss Gray, wenn ich Ihnen erkläre, daß sie mich ganz und gar verkennen. Ich meine stets, was ich sage, besonders wenn ich mit Ihnen spreche. Aber alles zu sagen, was ich meine, all meine Hoffnungen und Träume zu offenbaren oder gar offen auszusprechen, was ich zu träumen wage«, er sprach ganz leise, »gewissermaßen mein Innerstes nach außen zu kehren wie eine leere Tasche und den Blicken der Menge preiszugeben – nein, das ist nicht meine Art; es wäre auch töricht.« Er machte eine ausdrucksvolle Geste. »Aber um nun zur Sache zu kommen – unglücklicherweise habe ich Sie irgendwie beleidigt, Miss Gray. Ich habe etwas getan oder unterlassen – oder meine unbedeutende Persönlichkeit findet nicht Ihr Interesse. Ist das nicht wahr?«

 

Die Aufrichtigkeit, mit der er sprach, war unverkennbar.

 

Aber das junge Mädchen war mit ihren Gedanken nicht bei der Sache. Ihre blauen Augen blieben kühl, als ob sie etwas anderes beobachtete, und ihr Gesicht hatte in seiner jungen Herbheit eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den Zügen ihres Onkels angenommen.

 

»Ist das die Frage, die Sie an mich richten wollten?«

 

Der Graf verneigte sich schweigend.

 

»Dann will ich Ihnen auch eine Antwort geben«, sagte sie leise, aber erregt. »Ich will Vertrauen gegen Vertrauen schenken – ich will diesem unsicheren Zustand ein Ende machen.«

 

»Das ist mein sehnlichster Wunsch.«

 

Doris sprach weiter, ohne sich um die Unterbrechung zu kümmern.

 

»Sie haben recht – es ist wahr, daß ich mich nicht für Sie interessiere. Ich freue mich, daß ich es Ihnen einmal offen sagen kann. Vielleicht sollte ich einen anderen Ausdruck wählen. Ich habe eine ausgesprochene Abneigung gegen Ihr geheimnisvolles Wesen – es verbirgt sich etwas Dunkles in Ihnen; und ich fürchte Ihren Einfluß auf meinen Onkel. Sie sind mir erst vor vierzehn Tagen vorgestellt worden, Mr. Farrington kennt Sie weniger als eine Woche – trotzdem haben Sie es fertiggebracht, mir einen Heiratsantrag zu machen, was ich eigentlich nur als eine Unverschämtheit – bezeichnen kann. Heute waren Sie drei Stunden bei meinem Onkel. Ich kann nur vermuten, was Sie mit ihm zu tun hatten.«

 

»Wahrscheinlich vermuten Sie das Falsche«, erwiderte er kühl.

 

Farrington sah schnell und argwöhnisch zu ihnen hinüber. Poltavo wandte sich wieder an Doris.

 

»Ich möchte nur Ihr Freund sein an dem Tage, an dem Sie meine Hilfe brauchen«, sagte er leise. »Und glauben Sie mir, dieser Tag wird bald kommen.«

 

»Ist das Ihr Ernst?« fragte sie ein wenig bedrückt.

 

Er nickte zustimmend.

 

»Wenn ich Ihnen nur glauben könnte! Ja, ich brauche einen Freund. Oh, wenn Sie wüßten, wie ich von Zweifeln hin und her geworfen werde! Wie mich Furcht und schreckliche Vorstellungen bedrängen!« Ihre Stimme zitterte. »Es ist irgend etwas nicht so, wie es sein sollte – ich kann Ihnen nicht alles erklären … Wenn Sie mir helfen könnten … Darf ich eine Frage an Sie richten?«

 

»Tausend, wenn Sie es wünschen.«

 

»Und werden Sie mir auch antworten – ich meine, aufrichtig und ehrlich?« In ihrem Eifer sah sie wie ein Kind aus.

 

Er mußte lächeln.

 

»Wenn ich überhaupt antworten kann, so seien Sie sicher, daß ich die Wahrheit sagen werde.«

 

»Dann sagen Sie mir, ob Dr. Fall zu Ihren Freunden gehört?«

 

»Ich kenne ihn recht gut«, erwiderte er schnell. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer Dr. Fall sein konnte, aber die augenblickliche Situation schien diese Lüge zu rechtfertigen – Poltavo fiel das Lügen sehr leicht.

 

»Oder kennen Sie vielleicht Mr. Gorth?«

 

Er schüttelte energisch den Kopf, und sie atmete erleichtert auf.

 

»Und wie stehen Sie zu meinem Onkel? Sind Sie sein Freund?« Sie hatte ganz leise gesprochen, aber sie sah ihn begierig an, als ob von seiner Antwort alles abhinge.

 

Er zögerte.

 

»Das ist schwer zu sagen«, gab er schließlich zurück. »Wenn Ihr Onkel nicht unter dem Einfluß Dr. Falls stände, würde er wohl mein Freund sein.« Er griff alles aus der Luft und folgte nur der Anregung, die er durch ihre erste Frage erhalten hatte.

 

Doris sah ihn plötzlich mit Interesse an.

 

»Darf ich Sie vielleicht fragen, wie Ihr Onkel die Bekanntschaft dieses Dr. Fall gemacht hat?«

 

Poltavo stellte diese Frage mit einer Sicherheit, als ob er alles wüßte und bis auf diesen einen Punkt vollständig informiert wäre.

 

Sie war unentschlossen.

 

»Das weiß ich nicht genau. Dr. Fall haben wir schon immer gekannt. Er lebt nicht in der Stadt, und wir sehen ihn nur gelegentlich. Er ist –« Sie zögerte wieder, fuhr dann aber schnell fort: »Ich glaube, er hat einen furchtbaren Beruf, er behandelt Geisteskranke.«

 

Poltavo war aufs äußerste interessiert.

 

»Bitte erzählen Sie mir noch ein wenig mehr.«

 

»Ich fürchte, Sie lieben den Klatsch«, sagte sie ein wenig ironisch, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich kann ihn nicht ausstehen, aber mein Onkel sagt, das sei ein Vorurteil von mir. Er ist einer dieser ruhigen, bestimmt auftretenden Männer, die sehr wenig sprechen und aus denen man nicht klug wird. Kennen Sie dieses ungewisse Gefühl auch? Es ist so, als ob man gezwungen wäre, einen Tango vor einer Sphinx zu tanzen.«

 

Poltavo lachte, so daß seine weißen Zähne sichtbar wurden. »Und Mr. Gorth?«

 

Wieder zuckte sie zögernd die Schultern.

 

»Das ist ein ziemlich gewöhnlicher Mann, er sieht fast aus wie ein Verbrecher, aber anscheinend hat er meinem Onkel viele Jahre lang treu gedient.«

 

»In welchen Beziehungen steht Dr. Fall zu Ihrem Onkel?« fragte er. »Ist er ihm gleichgestellt?«

 

»Aber natürlich! Er ist ein Gentleman und gehört zur Gesellschaft. Ich glaube auch, daß er ziemlich wohlhabend ist.«

 

»Und wie steht Ihr Onkel zu Gorth?«

 

Er war aufs äußerste interessiert, da er doch die Stellung des Toten einnehmen sollte, der in dem dumpfen Haus in der nebligen Gasse lag.

 

»Es ist ziemlich schwer, die Beziehungen zu beschreiben, in denen Mr. Gorth zu meinem Onkel steht«, sagte sie ein wenig verlegen. »Früher verkehrte mein Onkel mit ihm wie mit seinesgleichen, aber manchmal war er sehr ärgerlich über ihn. Er ist wirklich ein schrecklicher Mensch. Kennen Sie eigentlich die obskure Zeitung ›Der schlechte Ruf‹?« fragte sie unvermutet.

 

Poltavo gab zu, daß er sie kannte und manchmal mit einer gewissen Schadenfreude skandalöse Artikel darin gelesen habe.

 

»Nun, sehen Sie, das war Mr. Gorths Lieblingslektüre. Mein Onkel wollte die Zeitung niemals in seinem Hause dulden, aber sooft man Mr. Gorth sah – er mußte immer in der Küche auf den Onkel warten –, konnte man diese Zeitung bei ihm finden. Er lachte sogar über die Gemeinheiten, die in dem Blatt veröffentlicht wurden. Mein Onkel konnte sich sehr darüber ärgern. Mr. Gorth soll etwas mit der Herausgabe dieser Zeitung zu tun gehabt haben, aber als ich einmal mit meinem Onkel darüber sprechen wollte, wurde er sehr böse.«

 

Poltavo hatte das Gefühl, daß Farrington ihn ständig beobachtete. Er schaute heimlich zu ihm hinüber, ohne den Kopf zu bewegen, und bemerkte, daß Farrington durchaus nicht mit seinem Verhalten einverstanden schien. Er wandte sich ihm zu.

 

»Ein glänzender Anblick – so ein Londoner Theaterpublikum!«

 

»Ja, da haben Sie recht«, erwiderte der Millionär trocken.

 

»Berühmte Leute überall – zum Beispiel Montague Fallock.«

 

Farrington nickte.

 

»Und dieser intelligent aussehende junge Mann auf dem letzten Sitz der vierten Reihe – er sitzt jetzt etwas im Schatten, aber Sie werden ihn vielleicht trotzdem sehen können –«

 

»Mr. Smith«, sagte Farrington kurz. »Ich habe ihn schon gesehen. Ich habe alle Leute erkannt, nur –«

 

»Nur?«

 

»Nur nicht die Dame, die drüben in der Königsloge sitzt. Sie hält sich dauernd im Schatten. Sie wird doch nicht etwa auch eine Detektivin sein?« fragte er ironisch und schaute sich um.

 

Frank Doughton, seine Nichte und Lady Dinsmore unterhielten sich angeregt miteinander.

 

»Poltavo«, sagte Farrington mit gedämpfter Stimme, »ich muß wissen, wer diese Frau ist – ich habe gute Gründe dafür.«

 

Das Orchester spielte ein leises Intermezzo, die Lichter gingen aus, die Unterhaltung hörte auf, und der Vorhang hob sich zum Beginn des zweiten Aktes.

 

Einige Leute rückten mit den Stühlen, um besser sehen zu können, dann war es ganz ruhig, während der Chor auf der Bühne einen felsigen Abhang hinunterstieg.

 

Aber plötzlich schoß ein weißer Lichtstreifen wie ein Blitz aus der Königsloge, und der scharfe Knall eines Pistolenschusses war zu hören.

 

»Mein Gott!« rief Mr. Farrington und taumelte.

 

Aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich im Zuschauerraum, aber eine laute Stimme aus dem Parkett übertönte alles:

 

»Sofort Licht an – schnell!«

 

Der Vorhang fiel, als das Theater plötzlich wieder erleuchtet war.

 

Mr. Smith hatte den Schuß aufblitzen sehen und war in den Seitengang gesprungen. Mit großen Sätzen eilte er zu der Tür, die zur Königsloge führte, aber der Raum war leer. Schnell lief er in den Vorsaal; auch dieser war leer. Aber der Privateingang, der auf die Straße führte, war geöffnet, und die Nebelwolken zogen in großen Schwaden herein.

 

Eilig trat er auf die Straße hinaus und ließ seine Alarmpfeife schrillen. Gleich darauf trat ein Polizist aus dem Nebel, aber er hatte niemand vorbeigehen sehen. Mr. Smith stürzte wieder ins Theater und eilte zu der gegenüberliegenden Loge. Er fand die Menschen hier in völliger Verwirrung.

 

»Wo ist Mr. Farrington?« fragte er und wandte sich an Poltavo.

 

»Er ist fortgegangen«, sagte dieser achselzuckend. »Er war noch da, als der Schuß abgefeuert wurde, der zweifellos auf diese Loge gerichtet war. Man kann es noch aus dem Einschlag des Geschosses erkennen.« Er zeigte auf die Rückwand der Loge, die mit hochglänzend poliertem Paneel verkleidet war. »Als das Licht wieder anging, war er verschwunden. Das ist alles, was ich weiß.«

 

»Er kann gar nicht fortgegangen sein«, erwiderte Mr. Smith kurz. »Das Theater ist völlig umstellt – ich habe Befehl, ihn zu verhaften.«

 

Doris stieß einen Schrei aus. Sie war bleich geworden und zitterte.

 

»Sie wollen ihn verhaften?« rief sie atemlos. »Warum denn?«

 

»Wegen eines Einbruchdiebstahls, den er mit einem gewissen Gorth im Zollamt verübt hat – und wegen versuchten Mordes.«

 

»Gorth!« schrie Doris wild. »Wenn irgend jemand schuld hat, so ist es Gorth – dieser schreckliche Kerl …«

 

»Sprechen Sie nicht so von einem Toten«, sagte Mr. Smith höflich. »Ich glaube, Mr. Gorth wurde bei diesem Abenteuer so schwer verwundet, daß er starb. Vielleicht können Sie mir etwas Genaueres darüber berichten, Mr. Poltavo?«

 

Aber der Graf rang nur verzweifelt die Hände.

 

Mr. Smith trat wieder auf den Korridor. Dort befand sich ein Notausgang, der zur Straße führte. Als Smith ihn untersuchte, fand er, daß er verschlossen war. Auf dem Boden lag ein Handschuh, an der Tür zeigte sich der blutige Abdruck einer Hand.

 

Aber von Farrington selbst war nichts zu sehen.

 

Kapitel 8

 

8

 

Am Morgen nach der Auffindung von Farringtons Leiche saß Mr. T.B. Smith in seinem schönen Arbeitszimmer, von dessen Fenstern aus er Brakely Square überschauen konnte. Er hatte sein einfaches Frühstück beendet. Das Tablett mit dem Geschirr war abgeräumt worden, und er war an seinem Schreibtisch beschäftigt, als der Diener ihm Lady Constance Dex ankündigte.

 

Mr. T.B. Smith schaute gleichgültig auf die Karte.

 

»Führen Sie die Dame herein, George.«

 

Er erhob sich gerade, um seinem Besuch entgegenzugehen, als sich die Tür öffnete und Lady Constance Dex eintrat.

 

Sein erster Eindruck war, daß er eine sehr schöne Frau vor sich hatte. Trotz einer gewissen Härte, die sich in ihren Zügen ausdrückte, und trotz all ihrer Charaktereigenschaften, von denen er schon gehört hatte, war sie doch zweifellos eine sympathische Erscheinung. Sie hatte eine wunderbar zarte Haut, mandelförmige Augen und ebenmäßige Züge. Seiner Schätzung nach mußte sie ungefähr dreißig Jahre alt sein, und er war damit auch nicht weit von der Wirklichkeit entfernt, denn Lady Constance war siebenundzwanzig.

 

Sie war vornehm, aber mit unauffälliger Eleganz gekleidet. Er schob einen Stuhl für sie an die Seite seines Schreibtisches.

 

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

 

Sie lächelte ihn dankbar an und setzte sich.

 

»Ich fürchte, daß Sie mich für einen lästigen Menschen halten, der Sie bei der Arbeit stören will, besonders zu so früher Morgenstunde. Aber ich wollte Sie wegen der außerordentlichen Ereignisse der letzten Tage einmal sprechen. Ich bin gerade wieder in die Stadt gekommen. Sobald ich die letzten Nachrichten erhielt, fuhr ich von daheim ab.«

 

»Mr. Farrington ist oder war doch Ihr Freund?«

 

»Wir sind seit vielen Jahren eng befreundet gewesen«, antwortete sie ruhig. »Er war ein außerordentlicher Mann mit außerordentlichen Fähigkeiten.«

 

»Nebenbei bemerkt, seine Nichte war doch vor einigen Tagen bei Ihnen zu Besuch, wenn ich nicht irre?«

 

»Ja, sie war auf einem Ball, den ich gab, und blieb die Nacht bei mir. Ich fuhr nach dem Tanz mit meinem Auto nach Great Bradley zurück, so daß ich sie seitdem nicht mehr gesehen habe. Ich werde noch zu ihr fahren und sehen, ob ich etwas für sie tun kann.« Sie hatte sehr überlegt und ruhig zu sprechen begonnen, aber bei den letzten Worten mußte sie sich zusammennehmen, um die Herrschaft über ihre Stimme nicht zu verlieren.

 

»Mr. Smith, ich habe erfahren«, sagte sie dann plötzlich, »daß Sie ein kleines Riechfläschchen besitzen, das mir gehört.«

 

»Man fand es damals auf dem Grundstück Mr. Farringtons, als die beiden Italiener ermordet wurden.«

 

»Was schließen Sie daraus?«

 

»Daß Sie in jener Nacht in Mr. Farringtons Haus waren«, erwiderte Mr. Smith offen. »Lady Constance, wir wollen so aufrichtig wie möglich miteinander sprechen. Ich bin der Ansicht, daß Sie in der Nähe waren, als die Schüsse fielen. Als Sie sie hörten, gingen Sie durch die Küche wieder in das Haus und verheißen es dann durch einen hinteren Ausgang.«

 

Er sah, daß sie die Lippen zusammenpreßte, und fuhr in gleichmütigem Ton fort:

 

»Sie können sich denken, daß ich mich mit den Tatsachen, die ich damals feststellen konnte, nicht zufriedengab. Ich setzte in den frühen Morgenstunden meine Nachforschungen fort, als sich der Nebel ein wenig, verteilt hatte. Ich habe dabei Spuren gefunden, aus denen hervorgeht, wie Sie sich entfernt haben. Die Rückseite des Hauses liegt an einer Nebenstraße. Ich fand heraus, daß in den dortigen Garagen vier verschiedene Wagen untergebracht sind. Ich interessierte mich genauer dafür, aber keins der Autos, die dort stationiert sind, besaß die Gummireifen, deren Eindrücke ich feststellen konnte. Die Sache wird sich so zugetragen haben: Sie hörten die Auseinandersetzung vor dem Haus und gingen hinaus, um zu lauschen, nicht, um sich zu entfernen. Als Sie dann wußten, worum es ging, eilten Sie die kleine Straße zurück, bestiegen Ihren Wagen, der dort auf Sie wartete, und fuhren durch den Nebel davon.«

 

»Sie sind wirklich ein Detektiv«, erwiderte sie ein wenig spöttisch. »Können Sie mir noch mehr erzählen?«

 

»Ich kann Ihnen nur noch sagen, daß Sie selbst am Steuer gesessen haben.«

 

Sie lachte.

 

»Es tut mir leid, daß Sie bis nach Great Bradley gehen mußten, um das zu erfahren. Dort weiß jedes Kind, daß ich meinen Wagen selbst fahre.«

 

»Aber ich habe mir diese Mühe gar nicht gemacht«, sagte Mr. Smith lächelnd. »Ich bin aber sehr begierig zu hören, Lady Constance, was Sie damals in Farringtons Haus gemacht haben. Mir ist niemals der Verdacht gekommen, daß Sie diese Männer erschossen hätten. Ich habe genug Beweise, daß die Schüsse nicht von dem Grundstück Mr. Farringtons abgefeuert wurden.«

 

»Wenn ich nun sagte, daß ich in der Nacht eine Gesellschaft gab und mein Haus nicht verließ?«

 

»Mit dieser Behauptung würden Sie sich selbst widersprechen. Sie haben mir vorhin erzählt, daß Sie Ihr Haus verließen und mitten in der Nacht fortfuhren. Diese Fahrt war von ganz besonderer Bedeutung, soweit ich es beurteilen kann. Übrigens geht das auch aus gewissen Nebenumständen hervor.«

 

Sie sah an ihm vorbei zum Fenster hinaus. Auf ihrer Stirn lagen Falten, und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von Entschlossenheit.

 

»Ich könnte Ihnen viel erzählen, was Sie nicht wissen«, sagte sie dann und wandte sich ihm plötzlich wieder zu. »Meine Rückkehr nach Great Bradley ist sehr einfach erklärt. Einer meiner Freunde – oder genauer, ein Freund meines Freundes«, verbesserte sie sich selbst, »ist vor kurzem aus Westafrika zurückgekehrt. Ich erhielt die Nachricht, daß er nach Great Bradley gekommen sei, um mir eine Botschaft von einem Mann zu überbringen, der mir in früheren Jahren einmal sehr nahestand.«

 

Mr. Smith hörte, daß ihre Stimme ein wenig zitterte. Er war davon überzeugt, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte, eine so gute Schauspielerin sie sonst auch sein mochte.

 

»Ich mußte diesen Mann unter allen Umständen treffen«, erklärte Lady Constance ruhig, »obwohl ich nicht wünschte, daß die Angelegenheit weiter bekannt wurde.«

 

»Ich muß Sie wieder unterbrechen. Der Mann, von dem Sie eben sprachen, war Dr. Thomas Goldworthy, der kürzlich von einer Expedition nach dem Kongo zurückkehrte, die er im Auftrag der Londoner Gesellschaft für Tropenheilkunde unternommen hatte. Aber Ihre Erzählung stimmt nicht ganz überein mit der mir bekannten Tatsache, daß Dr. Goldworthy schon in der Nacht vor Ihrer Gesellschaft nach Great Bradley kam. Sie haben ihn doch schon damals gesprochen. Er brachte einen Holzkasten mit, den er vorher im Zollamt abgeholt hatte. Zwei Männer machten den Versuch, den Inhalt dieses Kastens zu rauben. Ich interessierte mich lebhaft dafür, da einer meiner Freunde diesen etwas geheimnisvollen Einbruchsdiebstahl aufzuklären hatte. Das sind also die Tatsachen, die ich weiß. Dr. Goldworthy brachte den Kasten nach Great Bradley, nachdem er an Sie telegrafiert hatte, daß er kommen würde. Sie sprachen mit ihm. Erst nach dieser Begegnung kehrten Sie nach London zurück, um Ihren Ball zu geben. Wirklich, Lady Constance, Ihr Gedächtnis hat nachgelassen.«

 

Sie sah ihn plötzlich entschlossen und herausfordernd an.

 

»Was haben Sie vor? Sie klagen mich nicht wegen des Mordes an den beiden Männern an. Sie können mich nicht einmal bezichtigen, den Anschlag auf Mr. Farrington inszeniert zu haben. Aber Sie wissen so viel von mir und meiner Vergangenheit«, fuhr sie schnell fort, »daß Sie auch noch mehr wissen sollen. Vor Jahren war ich mit einem Mann verlobt, den ich leidenschaftlich liebte. Es war George Doughton.«

 

»Ja, der Forscher.«

 

»Plötzlich und unerwartet ging er damals außer Landes und löste unsere Verlobung aus einem mir unbekannten Grunde. All meine Briefe, meine Telegramme und alle Anstrengungen, wieder mit ihm in Fühlung zu kommen, während er in Afrika weilte, blieben erfolglos. Seit vier Jahren hatte ich weder eine Nachricht von ihm noch eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten. Plötzlich erhielt ich die Mitteilung von seinem Tode. Zuerst nahm man an, daß er infolge eines schweren Fieberanfalls gestorben sei, aber Dr. Goldworthy überzeugte mich, daß George Doughton von einem Menschen vergiftet wurde, der ein Interesse an seinem Tode hatte.«

 

Ihre Stimme zitterte, aber dann faßte sie sich wieder.

 

»All diese Jahre hindurch habe ich ihn nicht vergessen, sein Bild stand immer vor mir. Liebe stirbt nur schwer, Mr. Smith, und verletzte und beleidigte Liebe hat in mir alle Leidenschaften geweckt, deren die weibliche Natur überhaupt fähig ist. Jetzt habe ich zum erstenmal erfahren, warum George Doughton fortging und den Tod fand. – Er hatte mir früher immer erzählt, daß man auf der Jagd nach wilden Tieren immer zuerst das Weibchen töten muß, denn wenn es am Leben bleibt, rächt es den Tod des Gefährten. – Es wird noch eine schreckliche Zeit für jemand kommen«, sagte sie dann bedeutsam. – »Für wen?«

 

»Sie wissen schon zuviel, Mr. Smith. Den Rest müssen Sie mit Ihren unübertrefflichen Methoden selbst herausbringen. Hindern Sie mich nicht daran, meine Rachepläne auszuführen. Das klingt zwar theatralisch, aber es ist mein bitterer Ernst, wie Sie noch sehen werden. Man hat mir George Doughton genommen, man hat ihn ermordet! Und der Mann, der dies tat, war Montague Fallock!«

 

Sie gab keine weiteren Erklärungen, und Mr. Smith war zu vorsichtig, um im Augenblick weiter in sie zu dringen. Er begleitete sie nach draußen, wo ihr Sportwagen auf sie wartete.

 

»Ich hoffe, Sie recht bald wiederzusehen, Lady Constance.«

 

»Ohne Haftbefehl?« fragte sie lächelnd.

 

»Ich glaube, ja«, entgegnete er ruhig. »Der Haftbefehl könnte höchstens für Ihren Freund Fallock bestimmt sein.«

 

Er stand in der Eingangsdiele und sah dem Wagen nach, der schnell um die Ecke des Platzes fuhr. Kaum war er außer Sicht, als ein Motorradfahrer aus der kleinen Nebenstraße herauskam, die an der Hinterseite der Häuser vorbeiführte. Er schlug dieselbe Richtung ein wie das Auto.

 

Mr. Smith nickte befriedigt. Er überließ nichts dem Zufall. Lady Constance würde nun Tag und Nacht beobachtet werden.

 

»Und dabei hat sie nicht einmal Farrington näher erwähnt«, sagte er zu sich selbst, als er die Treppe hinaufstieg. »Man könnte fast annehmen, daß er noch lebt.«

 

Um neun Uhr desselben Abends fuhr der kleine Zweisitzer, den Lady Constance Dex geschickt lenkte, die breite Straße entlang, die nach Great Bradley führt. Dann schlug sie einen Nebenweg ein und hielt schließlich vor dem großen, unregelmäßig gebauten Pfarrhaus, das sich etwas abseits von der Stadt auf einem schönen Grundstück erhob. Behend sprang sie aus dem Wagen.

 

Das Geräusch des haltenden Autos hatte einen der Dienstboten herbeigelockt. Sie ging an dem Mann vorbei, ohne ein Wort zu sagen, eilte nach oben in ihr Zimmer und verriegelte und verschloß die Tür hinter sich, bevor sie den Lichtschalter andrehte. Elektrisches Licht zu besitzen war ein ungewöhnlicher Vorzug in einer so kleinen Stadt, aber sie verdankte diese Annehmlichkeit der Freundschaft, die sie mit dem merkwürdigen Manne unterhielt, der das »geheimnisvolle Haus« bewohnte.

 

Dieses hochaufragende Gebäude, das man vom Pfarrhaus aus nicht sehen konnte, lag drei Meilen entfernt in einem kleinen Tal, das in der Umgegend unter dem Namen »Mördertal« bekannt war. Es war eine hübsche, kleine Schlucht, in der sich vor vielen Jahren einmal ein furchtbares Verbrechen abgespielt hatte, und das Haus paßte ganz zu dem schauerlichen Namen, den die Gegend führte. Niemand sah jemals den Besitzer des »geheimnisvollen Hauses«. Sein Sekretär und seine beiden italienischen Diener kamen häufig nach Great Bradley, um dort ihre Einkäufe zu machen. Ab und zu sah man auch einen geschlossenen Wagen in den Straßen des Ortes. – Die Leute, die gerne erfahren hätten, wer der Eigentümer des Hauses war, konnten nur hoffen, daß eines Tages eine Achse dieses Wagens brechen und so der Insasse gezwungen würde, sich ihnen zu zeigen.

 

Aber im allgemeinen störte niemand den Sonderling in seiner Abgeschiedenheit. Mochte er unerhörte Dinge tun, wie er es auch wirklich tat – die Bewohner von Great Bradley kümmerten sich nicht darum und dankten Gott, daß sie nicht so waren wie dieser unbekannte Mann.

 

Der rätselhafte Mann hatte wirklich sonderbare Gewohnheiten. Er hatte eine eigene elektrische Kraftanlage, deren großer Schornstein über Wadleigh Copse hinausragte. In dem Kraftwerk befanden sich Maschinen von gewaltiger Stärke, die den elektrischen Strom erzeugten, der das große Haus erleuchtete und heizte.

 

In Great Bradley lebten viele ehrbare englische Arbeiter, die böse darüber waren, daß der Besitzer des »geheimnisvollen Hauses« fremde Leute ihnen vorzog. Aber es stand fest, daß nur Ausländer in dem Kraftwerk arbeiteten. Sie hatten ihre eigenen Wohnungen abseits des Ortes, lebten dort friedlich für sich und hatten nicht den Wunsch, mit den anderen Einwohnern der Stadt in nähere Berührung zu kommen. Es waren genügsame Italiener, die gern schwer arbeiten und soviel wie möglich von ihrem Gehalt sparen wollten, um später einmal in ihre geliebte Heimat zurückkehren zu können. Sie wurden für ihre Verschwiegenheit gut bezahlt, und sie hatten sie auch noch nie gebrochen.

 

Lady Constances Haus wurde von der Kraftstation des »geheimnisvollen Hauses« gleichfalls mit Strom versorgt, und sie gehörte auch zu den wenigen Bevorzugten, die das Haus unaufgefordert betreten durften.

 

Sie war einige Zeit damit beschäftigt, sich umzuziehen. Dann brachte ihr Mädchen das Abendessen auf einem Tablett, und als sie mit ihrer Mahlzeit fertig war, ging sie in ihr Wohnzimmer, öffnete eine Schublade ihres Schreibtisches und nahm eine zierliche Pistole heraus. Sie betrachtete sie einen Augenblick, prüfte dann sorgfältig die Munitionskammer und steckte einen Patronenrahmen hinein. Nachdem sie die Waffe gesichert hatte, ließ sie dieselbe in die Tasche ihres Mantels gleiten, schloß ihren Schreibtisch wieder ab, verließ ihr Zimmer und ging die Treppe hinunter. Ihr Wagen wartete noch draußen, aber sie wandte sich an den Diener, der ehrerbietig an der Tür stand.

 

»Bringen Sie das Auto in die Garage – ich will Mrs. Jackson noch besuchen.«

 

»Jawohl, Mylady.«

 

Kapitel 7

 

7

 

Zwei Tage später sprang Frank Doughton Punkt zehn Uhr aus seinem Auto, das vor dem Redaktionsgebäude der »Evening Times« hielt. Er blieb einen Augenblick stehen und atmete die frische, frühlingshafte Märzluft ein; der Nebel, der die letzten Tage so drückend gemacht hatte, war vollkommen verschwunden. Aus einem nahen Blumenladen drang Fliederduft auf die Straße. Frank eilte die Treppe hinauf.

 

»Ist der Chef schon im Büro?« fragte er den Nachrichtenredakteur, der erstaunt aufschaute, als Frank hereinstürzte, und dann nach der Uhr sah.

 

»Nein, noch nicht. Sie haben sich ja selbst übertroffen.«

 

Frank nickte.

 

»Ich mußte heute schon früh fortgehen.«

 

Er warf seinen Hut auf den Schreibtisch, setzte sich und sah die eingegangenen Schriftstücke durch. Aber seine Gedanken waren ausschließlich mit dem Problem beschäftigt, wohin der Millionär verschwunden sein konnte. Er hatte Doris noch nicht wiedergesehen.

 

Das erste Blatt, das er in die Hand bekam, war die Frühausgabe einer Konkurrenzzeitung. Er schaute schnell auf die Überschriften der ersten Seite und sprang plötzlich mit einem erschrockenen Ausruf auf. Er war bleich, und seine Hand zitterte.

 

»Großer Gott!«

 

Der Nachrichtenredakteur wandte sich um.

 

»Was ist denn mit Ihnen los?«

 

»Farrington!« sagte Frank heiser. »Denken Sie, er hat Selbstmord begangen!«

 

»Ja, wir haben auch einen kurzen Artikel darüber gebracht«, bemerkte Jamieson selbstzufrieden. »Das ist eine ganz interessante Geschichte … Kannten Sie ihn denn?« fragte er plötzlich.

 

Frank Doughton sah ihn an. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen.

 

»Ich – ich war mit ihm im Theater an dem Abend, als er verschwand.«

 

Jamieson pfiff leise.

 

Frank Doughton erhob sich rasch und griff nach seinem Hut.

 

»Ich muß schnell zu ihnen gehen – vielleicht kann ich etwas für Doris tun.« Er brach plötzlich ab. Er war nicht mehr imstande weiterzusprechen. Gleich darauf stand er an der Tür.

 

Jamieson sah ihn mitfühlend an.

 

»Ich würde an Ihrer Stelle nach Brakely Square fahren. Vielleicht hat sich die Sache inzwischen aufgeklärt – vielleicht ist es nur ein Irrtum … Haben Sie auch gelesen, daß man die Leiche noch nicht entdeckt hat?«

 

Auf der Straße hielt Frank ein vorbeifahrendes Auto an.

 

Er fuhr zuerst zum Stadtbüro, wo Farrington sich gewöhnlich aufhielt, und hatte eine kurze Unterredung mit dem ersten Sekretär, der ihn über vieles aufklärte. Man hatte einen kurzen Brief Mr. Farringtons gefunden, in dem er erklärte, daß er lebensmüde sei und aus dieser Welt scheiden wolle.

 

»Aber aus welchem Grunde denn?« fragte der junge Mann bestürzt.

 

»Mr. Doughton, Sie scheinen die Tragweite dieser Tragödie nicht ganz zu überschauen. Mr. Farrington war ein Multimillionär, ein Fürst in Finanzkreisen. Wenigstens hielt man ihn bis heute morgen dafür. Wir haben seine Privatbücher durchgesehen. Daraus ging hervor, daß er in den letzten Wochen schwere Verluste an der Börse erlitten hat. Er hat nicht nur sein eigenes Vermögen verloren … Gestern abend hat er nun in einer Anwandlung von Verzweiflung seinem Leben ein Ende gemacht.

 

Selbst wir hatten von diesen geschäftlichen Transaktionen nicht die geringste Ahnung.«

 

Frank Doughton schaute ihn verwirrt an.

 

Sprach dieser Mann wirklich von Farrington, der ihm doch erst in der vorigen Woche erzählt hatte, daß er das Vermögen seines Mündels im letzten Monat um eine ganze Million erhöht habe? Noch vor zwei Tagen hatte er ihm geheimnisvoll etwas von einem großen finanziellen Coup angedeutet, den er bald machen würde. Und nun war dieses große Vermögen verloren, und Farrington selbst lag auf dem Grund der Themse?

 

»Ich fürchte, ich verliere den Verstand!« sagte er vor sich hin. »Mr. Farrington ist kein Mann, der Selbstmord begeht.«

 

»Es ist in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt, aber ich dachte, ich könnte es Ihnen sagen, da Sie ein Freund Mr. Farringtons waren. Mr. T.B. Smith ist mit der Aufklärung des Falls betraut worden. Er wird wahrscheinlich auch Ihre Adresse wissen wollen. Und wenn Sie zufällig etwas erfahren sollten –«

 

»Dann werde ich es Sie bestimmt wissen lassen. Smith ist ein sehr fähiger Beamter.«

 

Doughton gab ihm seine Adresse und ging dann eilig fort. Er war froh, daß der Mann keine weiteren Fragen gestellt hatte.

 

Als er wieder in seinem Auto saß, warf er sich müde in die Polster. Nun zu Doris!

 

Aber das junge Mädchen ließ sich nicht sehen. Lady Dinsmore empfing ihn im Morgenrock. Sie sah besorgt aus, und er drückte ihr schweigend die Hand.

 

»Es ist sehr lieb von Ihnen, mein lieber Freund, daß Sie so schnell gekommen sind. Haben Sie schon alles gehört?«

 

Er nickte.

 

»Wie geht es Doris?«

 

Die Frau sank in einen Stuhl und schüttelte den Kopf.

 

»Das arme Kind nimmt es sehr schwer. Sie weint nicht, aber ihre Gesichtszüge sind wie versteint. Sie wollte es nicht glauben, bis sie seine eigene Handschrift sah. Dann wurde sie ohnmächtig.«

 

Lady Dinsmore nahm ihr Spitzentaschentuch und wischte sich die Augen.

 

»Doris hat nach dem Grafen Poltavo geschickt«, sagte sie dann.

 

Frank starrte sie an.

 

»Warum hat sie das getan?«

 

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte sie seufzend. »Sie spricht sich nicht darüber aus, aber vielleicht fühlt sie, daß der Graf etwas weiß – sie glaubt, daß Gregory irgendwie betrogen worden ist.«

 

Frank neigte sich vor.

 

»Das ist auch meine Ansicht«, sagte er ruhig.

 

Lady Dinsmore sah ihn nachsichtig an.

 

»Sie kennen Gregory nicht«, sagte sie nach einer Weile.

 

»Trotzdem kann ich Ihnen nicht beipflichten. Wenn er nicht ermordet wurde, so muß es Selbstmord gewesen sein. Aber warum hätte sich Mr. Farrington denn selbst umbringen sollen?«

 

»Ich bin sicher, daß er nicht die geringste Absicht hatte, so etwas zu tun«, erwiderte Lady Dinsmore gefaßt.

 

»Und was nehmen Sie an?«

 

»Warum glauben Sie denn, daß er wirklich tot ist?« fragte sie leise.

 

Frank sah sie mit hellem Erstaunen an.

 

»Wie meinen Sie das?« Hatte der Unglücksfall ihr den Verstand geraubt?

 

»Ich meine ganz einfach, daß er ebensowenig tot ist wie Sie oder ich«, entgegnete sie kühl. »Welche Beweise haben wir denn? Nur einen Brief, der von ihm persönlich geschrieben wunde und in dem er uns allen Ernstes mitteilt, daß er sich entschlossen habe zu sterben. Klingt das wahrscheinlich? Ich nehme als sicher an, daß dies das letzte ist, was er beabsichtigte. Wann hat Gregory jemals die Wahrheit gesagt, wenn es sich um seinen Aufenthalt handelte? Nein, glauben Sie mir, er ist nicht tot. Aus Gründen, die nur er kennt, gibt er vor, es zu sein; in Wirklichkeit hat er sich nur entschlossen, in der Verborgenheit zu leben.«

 

»Aber warum denn?« fragte der junge Mann bestürzt. Das war die verrückteste Erklärung, die er sich denken konnte. Sein Kopf wirbelte von den widersprechenden Eindrücken; er schien in ein schreckliches Abenteuer gestürzt worden zu sein, und es verlangte ihn danach, wieder in die nüchterne Alltagswelt zurückzukehren.

 

Die Tür am anderen Ende des Raumes öffnete sich. Er schaute schnell auf und erwartete schon halb, Farrington selbst auf der Schwelle zu sehen.

 

Aber es war Doris. Sie blieb einen Augenblick unentschlossen stehen und starrte die beiden wie abwesend an. In ihrem weißen Morgengewand und mit ihrem schwarzen Haar, das durch ein einfaches Stirnband zusammengehalten wurde, wirkte sie fast wie ein Kind. Das kalte Frühlingssonnenlicht, das durch die Fenster hereinströmte, ließ erkennen, daß die Nacht Spuren in ihren Zügen hinterlassen hatte. Schwache violette Schatten waren unter ihren Augen sichtbar, ihr Gesicht war bleich.

 

Frank trat ihr schnell entgegen. Er sah nur ihr weißes, trauriges Gesicht. Schnell nahm er ihre Hände in die seinen, und sie fühlte seinen warmen Druck.

 

Sie sah ihn lange forschend an, dann zitterten ihre Lippen, und mit einem herzzerreißenden Schluchzen warf sie sich in seine Arme und barg ihren Kopf an seiner Schulter. Frank hielt sie zart.

 

»Nicht weinen, Liebling«, flüsterte er.

 

Er beugte sich nieder und streichelte ihr Haar. Ein liebevoller Ausdruck lag auf seinen Zügen.

 

»Liebling!« sagte er leise.

 

Sie hob das blasse Gesicht zu ihm empor.

 

»Sie – Sie sind so gut zu mir«, hauchte sie. Unter seinem warmen Blick zog eine leichte Röte über ihre Wangen, dann löste sie sich von ihm und setzte sich nieder.

 

Lady Dinsmore kam zu ihr und legte den Arm um sie.

 

»Nun, Frank?« begann sie freundlich und zeigte auf einen Stuhl. »Nehmen Sie doch Platz. Wir wollen uns beraten. Vor allem möchte ich« – sie drückte die kalte Hand des Mädchens – »meine feste Überzeugung aussprechen, daß Gregory nicht tot ist. Ein Gefühl sagt mir, daß er sicher und wohlauf ist.«

 

Doris sah Frank nachdenklich an.

 

»Haben Sie noch etwas erfahren – ich meine, später?«

 

»Es war noch nicht genügend Zeit für neue Entwicklungen. Scotland Yard beschäftigt sich mit der Sache, und Mr. Smith ist mit der Untersuchung beauftragt.«

 

Sie schauderte und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

 

»Smith erklärte doch gestern im Theater, daß er ihn verhaften wollte – wie merkwürdig und schrecklich das alles ist«, sagte sie verängstigt. »Ich – ich muß immer daran denken. Das dunkle Wasser im Strom – mein armer Onkel … Es ist so, als ob ich ihn dort sehen könnte …« Sie schluchzte wieder und konnte nicht weitersprechen.

 

Lady Dinsmore sah hilflos zu Frank hinüber.

 

In diesem Augenblick brachte ein Diener einen Brief.

 

Lady Dinsmore zog die Augenbrauen zusammen.

 

»Von Poltavo«, sagte sie halb zu sich selbst.

 

Doris stürzte vor und nahm den Brief von dem Tablett. Eilig zog sie den Bogen aus dem Kuvert. Sie schien die Botschaft sofort zu verstehen, denn es entfuhr ihr ein kleiner Freudenschrei. Ihr blasses Gesicht überzog sich plötzlich mit einem lebhaften Rot, und sie beugte sich nieder, um den Brief noch einmal zu lesen. Ihre Lippen öffneten sich, ihre ganze Haltung drückte Hoffnung und Zuversicht aus. Dann faltete sie das Schreiben wieder zusammen und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

 

Frank starrte entsetzt hinter ihr her. Er war bleich geworden vor Wut und Eifersucht.

 

Lady Dinsmore erhob sich schnell.

 

»Entschuldigen Sie mich – warten Sie hier«, sagte sie und folgte ihrer Nichte.

 

Frank Doughton ging zerstreut auf und ab und erwartete jeden Augenblick ihre Rückkehr. Erst vor wenigen Minuten hatte er die höchste Glückseligkeit erlebt, als Doris ihren Kopf an seiner Schulter barg – nun war er wieder in den Abgrund tiefster Hoffnungslosigkeit gestoßen. Was mochte in dem kurzen Brief gestanden haben, der sie so freudig erregt hatte? Hätte sie ihn so sorgfältig an sich genommen, wenn er nicht eine Liebesbeteuerung enthalten hätte? – Er war unachtsam und wäre beinahe über einen Stuhl gestolpert. Leise fluchte er vor sich hin.

 

Der Diener, der unbemerkt eingetreten war, machte sich durch ein diskretes Räuspern bemerkbar.

 

»Lady Dinsmore läßt sich entschuldigen und Ihnen bestellen, daß sie Ihnen später schreiben wird.«

 

Er begleitete den jungen Mann zur Haustür.

 

Auf der ersten Stufe blieb Frank steif aufgerichtet stehen, denn er sah sich plötzlich Poltavo gegenüber.

 

Der Graf grüßte ihn mit ernster Miene.

 

»Eine traurige Angelegenheit«, sagte er leise. »Haben Sie die Damen schon gesehen? Wie hat Miss Gray alles aufgenommen? Geht es ihr den Verhältnissen entsprechend gut?«

 

Frank schaute ihn düster an.

 

»Ihr Schreiben hat ihre Stimmung aufs beste beeinflußt.«

 

»Mein Schreiben?« fragte Graf Poltavo erstaunt. »Ich habe ihr doch gar nicht geschrieben – Sie sehen doch, daß ich persönlich komme!«

 

Franks erregte Züge verrieten, daß er Poltavos Worten keinen Glauben schenkte. Er zog wütend den Hut, ging die Treppe hinunter und wäre beinahe mit einem anderen Herrn zusammengestoßen.

 

»Mr. Smith«, sagte er begierig, »haben Sie neue Nachrichten?«

 

Der Detektiv sah ihn interessiert an.

 

»Die Themsepolizei hat die Leiche eines Mannes aufgefischt. In seinen Taschen hat man viele Dinge gefunden, die das Privateigentum Mr. Farringtons sind.«

 

»Dann ist es also doch wahr, daß ein Selbstmord vorliegt?«

 

Der Detektiv schaute an ihm vorbei.

 

»Wenn ein Mann seinen Kopf abschneiden kann, bevor er in den Fluß springt, könnte man an Selbstmord glauben«, erwiderte er vorsichtig. »Ich habe aber noch niemals ein solches Wunder erlebt und bin infolgedessen sehr skeptisch.«

 

*

 

Ein Zug fuhr in den Waterloo-Bahnhof ein. Als er zum Stehen gekommen war, stieg ein großer, schlanker Herr aus. Bei näherer Betrachtung erkannte man, daß er nicht mehr so jung war, wie der erste Eindruck vermuten ließ. An den Schläfen färbten sich seine Haare schon grau, und einige scharfe Linien waren um seine Mundwinkel eingegraben.

 

Sein Gesicht war gebräunt; er schien erst vor kurzem aus einem heißen Klima nach England zurückgekehrt zu sein.

 

Er stand jetzt vor dem Bahnhof und überlegte, ob er hier ein Auto nehmen oder unterwegs einen Wagen anrufen sollte, denn die Nacht war naß und kalt, und die Bahnfahrt hatte ihn ermüdet.

 

Während er noch zögerte, fuhr geräuschlos ein großes Auto heran, und der Chauffeur berührte seine Mütze.

 

»Ich danke Ihnen«, sagte der Mann lächelnd. »Sie können mich zum Metropol fahren.«

 

Er öffnete die Tür und wollte eben einsteigen, als sich eine Hand leicht auf seinen Arm legte. Er wandte sich um und sah in humorvolle graue Augen.

 

»Ich glaube, Sie nehmen besser einen anderen Wagen, Dr. Goldworthy«, sagte der Fremde.

 

»Es tut mir leid –«, begann der Arzt.

 

Der Chauffeur wäre abgefahren, nachdem er seinem Passagier einen schnellen Blick zugeworfen hatte, aber ein Mann, der unverkennbar der Geheimpolizei angehörte, sprang an seine Seite.

 

»Es tut mir auch leid«, erwiderte Mr. T.B. Smith, denn er war es, der den jungen Arzt zurückhielt, »aber ich werde Ihnen alles erklären. Kümmern Sie sich nicht um den Chauffeur, meine Leute werden das in Ordnung bringen, Sie sind mit knapper Not einer Entführung entgangen!«

 

Er brachte den bestürzten Mann nach Scotland Yard, und nach einer längeren Unterhaltung kannte er die Geschichte George Doughtons, der in den Armen Dr. Goldworthys gestorben war. Und er wußte nun auch von einem Kasten, der Papiere enthielt, die der Doktor Lady Constance Dex auszuhändigen versprochen hatte. Er erfuhr auch, wie diese Frau die Nachricht von dem Tod ihres einstigen Geliebten erhalten hatte.

 

»Ich danke Ihnen«, sagte Mr. Smith, als Dr. Goldworthy endete. »Ich glaube, ich verstehe die Zusammenhänge jetzt.«