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Der Nebel war noch ebenso dicht und undurchdringlich wie vorher. Die Straßenlaternen verbreiteten ein geisterhaftes gelbes Licht in dem schweren Dunst. Der kleine Zeitungsjunge, der erst die Hälfte seines Auftrages erledigt hatte, eilte dem Fluß zu. Er befreite sich von seinen Zeitungen, indem er sie einfach in einen großen Abfallkasten warf. Dann sprang er geschickt auf einen vorüberfahrenden Autobus, und nach einer halben Stunde hatte er Southwark erreicht. Er bog in eine der engen Straßen ein, die vom Borough abzweigten. Hier brannten nur wenige trübe Gaslaternen, die Nebenstraßen waren enger und düsterer.

 

Er ging einen dunklen und holperigen Weg entlang und sah sich von Zeit zu Zeit um, ob er verfolgt würde.

 

Zwischen den engen Straßenwänden war der Nebel noch dichter, und es herrschte eine warme, stickige Atmosphäre. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren nicht zu erkennen. Es lag etwas Bedrückendes und Beängstigendes in dieser Enge, doch entsprach das ganz dem Charakter dieses ärmlichen Stadtteils.

 

Manchmal hörte er dicht neben sich einen Gassenhauer, oder er sah das aufgedunsene, rote Gesicht eines halbbetrunkenen Menschen in dem Dunst auftauchen.

 

Aber der Junge befand sich hier in heimatlicher Umgebung und ging flink vorwärts. Er pfiff eine Melodie zwischen den Zähnen und eilte mit einer Gewandtheit, die man nur durch lange Übung erreichen kann, an den langen, schmutzigen Rinnsteinen vorbei, bog vor großen, dunklen Pfützen aus und schlug auch vor den schwankenden Gestalten, die man nur undeutlich durch den Nebel sehen konnte, seine Haken.

 

Während er an der einen Häuserfront entlangging und von Zeit zu Zeit mit der Hand nach einer Mauer tastete, hörte er Schritte hinter sich. Er bog um die Ecke, wandte sich sofort wieder um und stieß dabei mit einem Mann zusammen, der ihn mit großen Händen packte. Ohne zu zögern, beugte sich der Junge vor und biß mit seinen scharfen Zähnen in den haarigen Arm.

 

Mit einem heiseren Fluch ließ ihn der Mann fahren, und der Junge, der flink auf die andere Straßenseite sprang, konnte noch hören, wie er hinter ihm herstolperte und wütend schimpfte. In dem undurchdringlichen Nebel war eine Verfolgung jedoch unmöglich.

 

Als der kleine Bursche die Straße entlanglief, öffnete sich plötzlich eine Tür neben ihm. Ein greller, roter Lichtschein fiel nach draußen, und der schmutzbespritzte Anzug des Jungen wurde hell beleuchtet. Er starrte in die Öffnung hinein.

 

Ein Mann stand in der Tür.

 

»Komm herein«, sagte er kurz.

 

Der Junge gehorchte. Heimlich wischte er sich die Stirn und versuchte, seinen schnellen Atem zu unterdrücken. Er trat in ein unansehnliches Zimmer. Der Fußboden war abgetreten und beschmutzt, die Tapeten hingen von den Wänden herunter. Die Luft war verbraucht und stickig. Nur ein Tisch und ein paar alte Stühle standen in der einen Ecke.

 

Der Junge ließ sich in einen Stuhl fallen und sah seinen Herrn, der ihm schon oft verschwiegene Aufträge gegeben hatte, offenherzig und neugierig an. Aber dann schweiften seine Blicke an dem Mann vorbei zu einer Gestalt, die unter einem schweren, dunklen Mantel auf dem Boden lag. Das Gesicht war der Wand zugekehrt.

 

»Nun?« sprach ihn der Mann mit einer wohlklingenden, gebildeten Stimme an, die gleichwohl einen etwas fremden Akzent hatte. Der Mann war schlank, hatte dunkles Haar und dunklen Bart und ein feingeschnittenes Gesicht. Aber seine Züge waren undurchsichtig und hart wie die einer Sphinx. Er hatte den Abendmantel und den Zylinder abgelegt und stand nun in Gesellschaftskleidung vor seinem kleinen Agenten. Ein großer, vielleicht etwas zu großer Strauß von Parmaveilchen steckte in seinem Knopfloch und verbreitete einen schwachen Duft.

 

Der Junge wußte von seinem Herrn nur, daß er Ausländer war, etwas extravagant lebte, in einem großen Haus in der Nähe des Portland Place wohnte und ihn für seine gelegentlichen Dienste sehr gut bezahlte. Daß dieses große Haus ein Hotel war, in dem Poltavo eine recht hohe Rechnung zu begleichen hatte, konnte er nicht ahnen.

 

Der kleine Bursche erzählte, was er an diesem Abend erlebt hatte, und erwähnte besonders seine letzte Begegnung.

 

Poltavo hörte ruhig zu, setzte sich dann, stützte die Ellbogen auf den Tisch und brütete vor sich hin, indem er sein Gesicht in den Händen verbarg. Ein funkelnder Rubin, der in den Kopf einer Kobra eingesetzt war, glänzte in dem Ring, den er am kleinen Finger trug. Plötzlich erhob er sich wieder.

 

»Das ist alles für heute abend, mein Junge«, sagte er ernst. Er zog seine Brieftasche, nahm eine Pfundnote heraus und drückte sie ihm in die Hand.

 

»Und das«, sagte er leise, indem er ihm eine zweite Pfundnote zeigte und dann in die Hand steckte, »ist für – deine Schweigsamkeit. Hast du mich verstanden?«

 

Der Junge schaute schnell und fast furchtsam auf die ruhende Gestalt, die neben der Wand lag, versprach leise, nichts auszuplaudern, und verließ dann den Raum wieder. Als er draußen im Nebel stand, atmete er tief auf.

 

*

 

Nachdem sich der Bote entfernt hatte, öffnete sich die Tür zu einem anderen Raum, und Mr. Farrington trat heraus. Er war fünf Minuten vor dem Jungen hier eingetroffen. Mr. Poltavo lehnte sich in seinen Stuhl zurück und lächelte Farrington an, der düster auf ihn niederblickte.

 

»Endlich kommt die Sache ins Rollen – die Räder fangen an, sich zu drehen«, sagte er freundlich.

 

Mr. Farrington nickte schwer und schaute in die Ecke, wo die Gestalt auf dem Boden lag.

 

»Sie müssen sich noch schneller drehen, bevor die Nacht um ist«, erwiderte er bedeutungsvoll. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß wir äußerst vorsichtig zu Werke gehen müssen. Ein einziger Fehltritt, und das ganze Gebäude stürzt zusammen!«

 

»Da haben Sie zweifellos recht«, entgegnete Poltavo liebenswürdig. Er beugte sich nieder, um den Duft der Veilchen einzuziehen. »Aber Sie vergessen etwas. Das große Gebäude, von dem Sie so geheimnisvoll sprechen«, er unterdrückte ein Lächeln, »kenne ich noch gar nicht. Sie haben es in Ihrer ungeheuer vorsichtigen Weise verstanden, mich über diesen wichtigen Punkt vollkommen in Unkenntnis zu lassen.«

 

Er machte eine Pause und sah Mr. Farrington erwartungsvoll an. Ein leises, ironisches Lächeln umspielte seinen Mund. Der leichte Akzent, mit dem er sprach, machte seine Stimme angenehm und reizvoll.

 

»Habe ich nicht recht?« fragte er dann höflich. »Ich stehe, wie Sie neulich sagten, draußen auf der kalten Straße – ich kenne nicht einmal Ihre nächsten Pläne.«

 

Sein Benehmen war vornehm und ruhig, und nur sein schneller Atem verriet seine Erregung.

 

Mr. Farrington bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl.

 

»Es handelt sich um gewisse finanzielle Angelegenheiten«, sagte er leichthin.

 

»Es gibt aber auch noch andere Dinge, die dringend und sofort erledigt werden müssen«, unterbrach ihn Poltavo. »Ich sehe zum Beispiel, daß Ihre rechte Hand in einem Handschuh steckt, der viel größer ist als der linke. Und ich bilde mir ein, daß unter dem weißen Glacéleder ein dünner seidener Verband ist. Für einen Millionär in Ihrer Lage benehmen Sie sich recht sonderbar – ich möchte fast sagen: verdächtig.«

 

»Pst!« Farrington wandte sich um. In seinem Blick lag Furcht.

 

Poltavo übersah diese Unterbrechung. Er legte seine Hand auf Mr. Farringtons Arm und sprach mit seiner wohltönenden, überzeugenden Stimme auf ihn ein.

 

»Ich möchte Ihnen einen guten Rat geben. Vertrauen Sie sich mir an. Ich spreche hier zu Ihnen, ohne das geringste eigene Interesse daran zu haben. Es wäre wirklich gut, wenn Sie mich ins Vertrauen zögen, denn ich glaube, Sie brauchen jetzt Hilfe, und ich habe Ihnen ja bereits Beweise meiner Fähigkeiten in dieser Beziehung gegeben. Als ich Sie heute nachmittag in Ihrem Hause am Brakely Square aufsuchte, sagte ich Ihnen schon, daß Ihnen ein Mann meiner Art von allergrößtem Nutzen sein könnte. Zuerst waren Sie überrascht, dann wurden Sie argwöhnisch. Als ich Ihnen von meinen Erfahrungen in der Redaktion einer gewissen kleinen Zeitung erzählte, wurden Sie ärgerlich. Ich bin ganz offen zu Ihnen«, sagte er und zuckte die Achseln. »Ich bin ein Abenteurer ohne Geld – kann ich aufrichtiger zu Ihnen sein? Ich nenne mich Graf Poltavo – aber meine Familie hat keinen irgendwie berechtigten Anspruch, einen Adelstitel zu führen. Ich lebe nur von meinem Witz und Verstand und habe mir bis jetzt meinen Lebensunterhalt durch Falschspielen erworben; ich habe fast einen Mord auf dem Gewissen. Ich brauche die wohlwollende Fürsorge eines starken, reichen Mannes – und Sie erfüllen alle Voraussetzungen.« Er neigte sich ein wenig vor und sprach weiter. »Sie sagten mir, ich solle meine Nützlichkeit beweisen nun gut, ich habe die Herausforderung angenommen. Als Sie heute abend ins Theater gingen, wurde Ihnen von einem Boten gesagt, daß der Detektiv T.B. Smith – wirklich ein bewunderungswürdiger Mann – Sie beobachtet und daß er das ganze Theater mit Geheimpolizisten abgesperrt hatte. Ich wählte einen kleinen Jungen als Boten, der Ihnen schon mehr als einmal gedient hat. Damit habe ich Ihnen doch zu gleicher Zeit bewiesen, daß ich nicht nur vollkommen informiert war, welche Schritte die Behörden Ihnen gegenüber ergriffen hatten, sondern daß ich auch wußte, wohin Sie heute abend gehen würden – und daß ich Ihr Geheimnis kannte.«

 

Sein Blick haftete jetzt auf der Gestalt, die von dem dicken Mantel bedeckt war.

 

Er lächelte hintergründig.

 

»Sie sind ein interessanter Mann«, erwiderte Farrington düster. Er schaute auf die Uhr. »Kommen Sie mit mir ins Jollity-Theater – wir können auf dem Weg dorthin die Sache besprechen. Vielleicht fordern wir Mr. Smith heraus«, sagte er lächelnd, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich habe einen sehr guten Freund verloren.« Auch er blickte zu dem schweigend daliegenden Mann. »Sie könnten an seine Stelle treten. Stimmt es, daß Sie etwas von technischen Dingen verstehen, wie Sie mir heute erzählten?«

 

»Ich habe mein Examen als Ingenieur an der Technischen Hochschule zu Padua bestanden und besitze ein Diplom darüber«, entgegnete Poltavo prompt.