Kapitel 9

 

9

 

Mr. Smith kam mit einer bestimmten Absicht nach Great Bradley. Er wußte, daß nicht nur das geheimnisvolle Verschwinden Farringtons, sondern vielleicht auch die Identität des rätselhaften Montague Fallock eher in dieser kleinen Stadt als in der großen Metropole aufgeklärt werden konnte. Es ging jetzt um die Ehre von Scotland Yard. In einem Zeitraum von nur sieben Tagen waren zwei Morde, eine mysteriöse Schießerei und ein Selbstmord vorgekommen, der von so merkwürdigen Nebenumständen begleitet war, daß man auch hier einen Mord vermuten mußte. Und die Polizei war noch nicht in der Lage, der ungeduldig wartenden Öffentlichkeit auch nur die leiseste Erklärung für all diese Ereignisse zu geben. Hierzu kam noch der Einbruch im Zollamt, so daß Scotland Yard in eine Art Verteidigungsstellung getrieben war.

 

»Es kursieren allerhand dumme Gerüchte über uns«, sagte der Polizeipräsident an dem Morgen, an dem Mr. T.B. Smith nach Great Bradley abfuhr. Er reichte ihm eine Zeitung über den Tisch, und der Detektiv nahm sie mit einem sonderbaren Lächeln. Er las die auffallende Überschrift und den gesperrt gedruckten Artikel, in dem die Leistungsfähigkeit der Polizei in Frage gestellt wurde, und reichte das Blatt seinem Vorgesetzten wieder zurück.

 

»Ich glaube, wir können all diese Geheimnisse gleichzeitig aufklären. Ich werde mir heute einmal das ›geheimnisvolle Haus‹ näher ansehen – dort ist das Ende der Lösung zu finden.«

 

Der Polizeipräsident sah ihn interessiert an.

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie gerade darüber sprechen. Ich habe nämlich heute morgen einen Bericht über dieses merkwürdige Haus von dem Wachtmeister des Bezirks erhalten.«

 

»Was hat er denn gemeldet?«

 

»Es ist ein ziemlich inhaltsloser Bericht, wie ihn Wachtmeister gewöhnlich abfassen. Der Besitzer ist ein offensichtlich kranker Amerikaner mit exzentrischen Launen. Ja, noch mehr – Sie werden sicherlich überrascht sein –, er ist von kompetenten medizinischen Autoritäten für geisteskrank erklärt worden.«

 

»Geisteskrank?« Mr. Smith war wirklich erstaunt.

 

»Jawohl, er ist nicht zurechnungsfähig und genießt auch alle Vorrechte, die das Gesetz solchen Leuten einräumt. Wer hätte das gedacht?«

 

Mr. Smith schaute nachdenklich vor sich hin.

 

»Ich hatte die dunkle Vorstellung, daß ich in dem Bewohner des Hauses vielleicht einen Mann kennenlernen würde, der in nahen Beziehungen zu Fallock steht.«

 

»Dann ist es allerdings eine bittere Enttäuschung für Sie«, meinte der Polizeipräsident. »Aber an diesen Tatsachen besteht kein Zweifel. Ich habe alle Dokumente nachprüfen lassen. Der Mann ist wirklich von zwei hervorragenden Spezialisten untersucht worden. Er befindet sich jetzt in der Behandlung eines Arztes, der dort wohnt und zu gleicher Zeit der Sekretär dieses Mr. Moole ist. Das Rätsel dieses geheimnisvollen Hauses ist damit gelöst – es ist eine Privatirrenanstalt, weiter nichts.«

 

Mr. Smith schwieg eine Weile.

 

»Nun, auf jeden Fall ist es kein Unglück, wenn ich diesen zurückgezogenen Mann einmal aufsuche und mir sein Haus genauer ansehe«, sagte er schließlich.

 

Er kam am frühen Nachmittag in Great Bradley an und ließ sich sofort zu dem »geheimnisvollen Haus« fahren. Der Chauffeur hielt aber schon in einiger Entfernung von dem großen Eingangstor, und Mr. Smith untersuchte zunächst vorsichtig und sorgfältig die ganze Umgebung. Es war wirklich ein sonderbares Haus. Die Fassaden machten keinerlei Anspruch auf architektonische Schönheit. Das massige Gebäude stand etwas abseits von der Straße inmitten eines ungepflegten, großen Grundstücks. Den ganzen Nachmittag über beschäftigte sich der Detektiv damit, Entfernungen abzumessen und alle Ein- und Ausgänge festzustellen. Auch untersuchte er, welche Baumgruppen und Sträucher bei einer Annäherung an das Haus Deckung bieten konnten. Er machte eine Skizze von der Lage des Grundstücks, von den Wegen und Zugängen, ebenso von der großen elektrischen Kraftstation, die ungefähr hundert Meter vom Hause entfernt inmitten eines dichten Gehölzes stand.

 

Am nächsten Morgen hatte sein Besuch keinen heimlichen Charakter mehr, und er ließ seinen Wagen diesmal direkt vor dem Eingang halten. Langsam ging er den geschotterten Weg zur Haustür entlang. Sein Blick ruhte auf der Spitze des Schornsteins der Kraftstation, der über den Baumwipfeln zu sehen war. Mr. Smith schüttelte den Kopf. Irgend etwas mußte hier nicht stimmen. Er hatte insgeheim die große Anlage besichtigt, die der exzentrische Eigentümer des »geheimnisvollen Hauses« dort für seine Zwecke erbaut hatte.

 

Man könnte ein großes Industriewerk damit betreiben, dachte er. Er hatte bei seiner heimlichen Inspektion auch den einäugigen Ingenieur gesehen, einen Mann mit düsteren Gesichtszügen, der eine entstellende Narbe auf der einen Seite des Gesichtes hatte.

 

Er hätte noch weitere Nachforschungen angestellt, aber plötzlich hatte er gefühlt, daß etwas unter seinen Füßen knackte, als er durch das eine Fenster schauen wollte. Sofort hatte drinnen ein Gong angeschlagen, und eine Rolljalousie hatte sich geräuschlos hinter dem Fenster herabgesenkt, so daß er nichts mehr von dem Innern sehen konnte.

 

Er war schnell zur Seite getreten und hatte gerade das Tor passiert, als dieses zuschlug. Offenbar war das durch eine Schaltvorrichtung von der Kraftstation aus bewerkstelligt worden.

 

Mr. Smith machte nun einen offenkundigen Besuch am hellen Tage. Außerdem hatte er zwei Detektive mitgenommen und sie vor dem Haupteingang Aufstellung nehmen lassen, denn er wollte nicht unnötig Gefahr laufen.

 

Er stieg die vier breiten Marmorstufen der vorderen Treppe zur Haustür empor, strich seine Schuhe auf einer merkwürdigen Metallmatte ab und drückte die Glocke. Die Haustür selbst war durch einen Vorhang halb verborgen, wie man sie in den Hausfluren der Vorstadtwohnungen findet. Sie bestehen gewöhnlich aus bunten Perlenschnüren oder langen Bambusstäbchen. Hier waren auch Schnüre zu sehen, aber es waren Tausende von Stahlkügelchen, auf feinen Drähten aufgezogen, die von einem Stab über der Tür herunterhingen. Man konnte annehmen, die ganze Haustür sei aus Stahl, aber als sie sich öffnete, zog sich der Vorhang ähnlich wie auf der Bühne zurück. Dieser Vorhang schien zwangsläufig mit dem öffnen der Tür in Verbindung zu stehen.

 

Im Eingang stand ein schlanker Mann. Sein großes Gesicht war bleich, seine Augen ausdruckslos. Er trug einen gutsitzenden schwarzen Anzug und hatte die achtungsvolle Haltung eines obersten Hausbeamten.

 

»Mr. Smith von Scotland Yard«, stellte sich der Besucher kurz vor. »Ich möchte Mr. Moole sprechen.«

 

Der Mann sah ihn argwöhnisch an.

 

»Wollen Sie bitte näher treten«, sagte er dann und geleitete ihn in ein großes, vornehm eingerichtetes Wohnzimmer. »Ich fürchte, Sie können Mr. Moole nicht sehen. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist er leidend. Aber wenn ich etwas für Sie tun kann –«

 

»Sie können mich zu Mr. Moole bringen«, wiederholte Mr. Smith lächelnd, »sonst nichts.«

 

Der Mann zögerte.

 

»Wenn Sie darauf bestehen –«

 

Der Detektiv nickte.

 

»Ich bin sein Sekretär und sein Arzt – Dr. Fall. Ich werde nachher Schwierigkeiten bekommen – vielleicht teilen Sie mir mit, in welcher Angelegenheit Sie kommen?«

 

»Das werde ich Mr. Moole selbst erklären.«

 

Der Arzt verbeugte sich.

 

»Dann kommen Sie bitte mit.« Er führte Mr. Smith durch die große Eingangshalle und öffnete eine einfache Tür, die zu einem kleinen Lift führte. Dann trat er zur Seite, um den Detektiv zuerst eintreten zu lassen.

 

»Bitte nach Ihnen«, sagte Mr. Smith höflich.

 

Dr. Fall lächelte und ging voran; Mr. Smith folgte ihm.

 

Sie fuhren rasch in die Höhe bis zum dritten Stock.

 

Die innere Einrichtung des Hauses ist ähnlich wie in einem Hotel, dachte Mr. Smith.

 

Mit dicken Teppichen belegte Gänge führten von dem Fahrstuhl nach rechts und links, und die lange Wand vor ihm war in regelmäßigen Zwischenräumen von Türen unterbrochen. Dr. Fall ging den linken Korridor entlang bis zum Ende und öffnete eine große Tür aus Rosenholz, worauf eine innere Tür sichtbar wurde. Der Arzt öffnete auch diese und trat in ein geräumiges Zimmer. Mr. Smith folgte ihm. Der Raum war nur spärlich möbliert, trotzdem aber kostbar ausgestattet. Die Wände waren mit einer Täfelung von poliertem Myrtenholz überzogen. Auf einem viereckigen tiefblauen, schweren Teppich stand eine silberne Bettstelle in der Mitte des Zimmers. Aber weder die sonderbare Einrichtung noch der reichvergoldete kleine Tisch, der vor dem Bett stand, noch der prachtvolle elektrische Kronleuchter erregten die Aufmerksamkeit von Mr. Smith. Sein Blick wurde sofort von dem Mann gefesselt, der in dem Bett lag.

 

Er hatte eine merkwürdige gelbe Gesichtsfarbe, und seine Augen blickten so teilnahmslos, daß man ihn für eine Wachsfigur hätte halten können. Nur an den regelmäßigen Atemzügen und an dem krampfhaften Zucken der Lippen war zu erkennen, daß der Mann lebte. Das Gesicht war ausdruckslos und leer, die Augen hart und glanzlos. Der Detektiv schätzte das Alter des Mannes auf etwa siebzig Jahre.

 

»Dies ist Mr. Moole«, sagte Dr. Fall verbindlich. »Ich fürchte nur, Sie werden nicht viel zu hören bekommen, wenn Sie mit ihm sprechen.«

 

Mr. Smith trat an die Seite des Bettes und begrüßte den Mann durch ein Kopfnicken, aber dieser reagierte nicht darauf.

 

»Wie geht es Ihnen, Mr. Moole?« fragte Mr. Smith höflich. »Ich bin von London gekommen, um Sie zu besuchen.«

 

Aber die eingesunkene Gestalt in den Kissen gab kein Zeichen von sich, daß sie seine Worte verstanden hatte.

 

»Wie heißen Sie?« fragte Mr. Smith nach einer Weile.

 

Einen Augenblick belebten sich die Züge des alten Mannes, und es schien ein schwaches Verständnis in ihm aufzudämmern.

 

»Jim Moole«, sagte er mit heiserer, krächzender Stimme, »der arme, alte Jim Moole. Hab niemand nix getan.«

 

Er warf einen scheuen, furchtsamen Blick auf Dr. Fall, dann schlossen sich seine blutleeren Lippen wieder, und obgleich Mr. Smith sich die größte Mühe gab, konnte er ihn nicht wieder zum Sprechen bringen.

 

Schließlich verließ er das Zimmer.

 

»Sie werden mir recht geben«, meinte der Arzt höflich, »daß Mr. Moole nicht in der Lage ist, eine längere Unterhaltung zu führen.«

 

»Darin stimme ich mit Ihnen überein«, erwiderte der Detektiv liebenswürdig. »Ein amerikanischer Millionär – das ist Mr. Moole doch wohl?«

 

Dr. Fall beobachtete Mr. Smith scharf und ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen.

 

»Ja, Mr. Moole ist ein amerikanischer Millionär«, wiederholte er.

 

»Er spricht nur nicht wie ein Amerikaner. Selbst wenn man seine Geisteskrankheit in Betracht zieht, bleibt diese Tatsache merkwürdig.«

 

»Von welcher Tatsache sprechen Sie?« fragte Dr. Fall schnell.

 

»Wir haben hier einen amerikanischen Millionär vor uns, einen Mann, der doch wahrscheinlich einige Bildung und Kultur besitzt, die sich bis zu einem gewissen Grade auch in seiner Sprache äußern müßte. Es ist doch sehr sonderbar, daß er wie ein gewöhnlicher Landarbeiter aus Somerset spricht.«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte der Arzt schroff.

 

»Genauso, wie ich es sage. Er spricht in dem Dialekt eines Mannes, der in Somerset aufgewachsen ist. Mr. Moole besitzt offenbar nur eine sehr geringe Bildung, und ich habe nicht den Eindruck, daß er ein amerikanischer Millionär ist.«

 

»Sie sind anscheinend noch nicht oft mit Geisteskranken zusammengekommen, sonst wäre Ihnen sicher bekannt, daß diese unglücklichen Menschen weder in ihrer Sprache noch in ihren Handlungen ihre frühere gesellschaftliche Stellung erkennen lassen.«

 

Dr. Fall führte den Detektiv wieder zu dem Fahrstuhl, aber Mr. Smith lehnte es ab, hinunterzufahren.

 

»Ich möchte lieber gehen.«

 

Er hatte einen guten Grund dafür, denn er wollte dabei das Haus näher kennenlernen und die Lage der einzelnen Räume feststellen. Dr. Fall hatte nichts dagegen einzuwenden und führte ihn die Treppe hinunter, die mit weichen, roten Läufern belegt war.

 

»Ich weiß sehr wohl über Geisteskranke Bescheid«, sagte Mr. Smith, »besonders über solche, die dem niederen Volk und der Verbrecherklasse angehören.«

 

»Sie scheinen meinen Worten nicht glauben zu wollen.« Dr. Fall sah seinen Besucher stirnrunzelnd an. »Ich muß nachdrücklich betonen, daß ich nicht nur Mr. Mooles Sekretär, sondern auch Arzt bin.«

 

»Das ist mir nicht neu«, erwiderte Smith lächelnd. »Sie sind amerikanischer Arzt und haben in Pennsylvanien Ihr Examen gemacht. Sie kamen an Bord der ›Lucania‹ nach England, weil Sie New York sehr schnell verlassen mußten, da Sie in irgendeine Skandalaffäre verwickelt waren. Es ist tatsächlich leichter, Ihren Werdegang seit Ihrer Ankunft in diesem Lande zu verfolgen, als genaue Auskunft über Mr. Moole zu erhalten, der obendrein auch auf der amerikanischen Gesandtschaft nicht bekannt ist.« – Dr. Fall wurde dunkelrot.

 

»Sie überschreiten Ihre Amtsbefugnisse«, sagte er böse, »wenn Sie auf eine Tragödie anspielen, bei der ich nur das unschuldige Opfer von Verbrechern war.«

 

»Es ist möglich, daß ich das tue«, gab Mr. Smith zu.

 

Er verneigte sich leicht vor dem Doktor und stieg die breiten Marmorstufen hinunter zu dem Rasen, der sich vor dem Haus ausdehnte. Am Gartentor traten die beiden Leute zu ihm, mit denen er hergekommen war. Einer von ihnen war Ela.

 

»Nun, was haben Sie herausgebracht?«

 

»Ich habe allerhand gesehen, was uns wahrscheinlich in Zukunft nützlich sein wird«, entgegnete Mr. Smith, als er mit seinem Assistenten in den Wagen stieg. Dann wandte er sich an den anderen Beamten.

 

»Bleiben Sie hier und beobachten Sie, wer ein und aus geht. Ich komme in einigen Stunden zurück.«

 

Der Mann grüßte, und das Auto fuhr ab.

 

»Ich muß noch einen Besuch machen«, sagte Mr. Smith, »und es wäre besser, wenn ich dabei allein wäre. Der Chauffeur soll mich in der Nähe des Pfarrhauses absetzen.«

 

*

 

Lady Constance Dex war auf den Besuch des Detektivs vorbereitet. Sie hatte aus dem Fenster ihres Zimmers gesehen, daß er am Pfarrhaus vorbeigefahren war und die Richtung auf das »geheimnisvolle Haus« eingeschlagen hatte. Sie erwartete ihn im Empfangssalon, und er kam sofort zur Sache.

 

»Ich habe eben jemanden besucht, der gut mit Ihnen befreundet ist.«

 

»Meinen Sie Mr. Moole?«

 

»Ja«, erwiderte Mr. Smith liebenswürdig.

 

Lady Constance dachte lange nach, bevor sie wieder sprach. Offenbar überlegte sie, wie weit sie dem Beamten Aufklärung geben sollte.

 

»Ich vermute, daß Sie die Zusammenhänge bereits kennen«, sagte sie dann. »Wenn Sie Platz nehmen wollen, will ich Ihnen noch einige Informationen in Ergänzung zu meinen früheren Mitteilungen geben.«

 

Mr. Smith ließ sich in einem Sessel nieder.

 

»Es ist wahr, ich verkehre in dem ›geheimnisvollen Haus‹.« Sie sah den Detektiv nicht an, sondern schaute in den Garten hinaus. »Ich erzählte Ihnen schon von meiner großen Liebe zu George Doughton. Wahrscheinlich kennen Sie seinen Sohn?«

 

Mr. Smith nickte.

 

»Es war eine Liebe auf den ersten Blick. George Doughton war Witwer, er hatte einen liebenswürdigen, heiteren und gutmütigen Charakter, war kühn und tapfer, ein ausgezeichneter Mann. Als Forscher hatte er einen großen Ruf, wie Sie ja wissen. Ich lernte ihn in London kennen. Er machte mich auch mit seinem Freund, dem verstorbenen Mr. Farrington, bekannt. Als dieser in Great Bradley ein Haus für den Sommer mietete, war George Doughton hier sein Gast, und ich lernte ihn besser als irgendeinen anderen Menschen in meinem Leben kennen.«

 

Sie machte eine Pause.

 

»Es war eine große und starke Liebe«, fuhr sie dann mutig fort. »Warum sollte ich mich nicht zu einem Erlebnis bekennen, auf das ich stolz bin? Unsere Hochzeit war festgesetzt und sollte an dem Tage stattfinden, an dem er sich nach Westafrika einschiffte. George Doughton war ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle. Alle Skandalaffären waren ihm in tiefster Seele verhaßt. Er konnte sich mit der modernen moralischen Auffassung und der Lockerung der Sitten nicht befreunden, in dieser Beziehung blieb er etwas altmodisch. Er hatte ein besonderes Ideal von der Frau und hielt daran fest. Sein Vorurteil ging so weit, daß Männer und Frauen, die schuldig geschieden waren, für ihn nicht mehr existierten.«

 

Das Sprechen fiel ihr schwer.

 

»Ich bin eine geschiedene Frau«, sagte sie stockend, nahm sich aber dann wieder zusammen und fuhr leise fort: »In jugendlicher Unbesonnenheit habe ich mich schuldig gemacht. Es war eine Torheit. Ich hatte einen Mann von kühler Berechnung und wenig angenehmem Charakter geheiratet, als ich nicht viel älter als ein Kind war. Ich lief ihm mit einem Mann davon, der mich aus diesem schrecklichen Leben befreite, den ich aber nicht liebte und der eigentlich mehr wie ein Bruder zu mir stand. Ein ritterlicher, heiter-freundlicher Charakter, dem aber dieses Abenteuer selbst teuer zu stehen kam. Die Indizien für meine Schuld waren erdrückend, und meinem Manne fiel es damals nicht schwer, die Scheidungsklage gegen mich durchzuführen. Diese unangenehme Angelegenheit geriet in Vergessenheit, aber in den Tagen, als ich George Doughton zu lieben begann, fürchtete ich, daß die Erinnerung an die alte Skandalgeschichte wieder aufleben könnte. Meine Sorge war auch nicht unbegründet, wie Sie noch sehen werden. Der Tag der Hochzeit rückte naher, aber zwei Tage vorher verließ mich George Doughton, ohne mir ein Wort der Erklärung zu geben. Die erste Nachricht, die ich erhielt, war die Mitteilung von seiner Abreise nach Afrika. Später habe ich nichts mehr von ihm erfahren.« Ihre Stimme war immer leiser geworden, so daß er sie kaum noch verstehen konnte.

 

Mr. Smith schwieg mitfühlend. Es war unmöglich, an der Wahrheit ihrer Worte zu zweifeln oder sie jetzt in ihrem Schmerz mit Fragen zu quälen.

 

»Mr. Farrington war sehr liebenswürdig zu mir«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Er machte mich auch mit Dr. Fall bekannt.«

 

»Aus welchem Grunde?« fragte der Detektiv schnell.

 

»Die Zusammenhänge sind mir erst später klargeworden. Damals erfuhr ich nur, daß Dr. Fall weitgehende Interessen in Westafrika hatte und daß ich durch ihn mit George Doughton in Verbindung kommen konnte. Ich griff wie eine Ertrinkende nach diesem Strohhalm. So wurde ich ständiger Gast im ›geheimnisvollen Haus‹. Ich bin die einzige Fremde, die seit Menschengedenken ihren Fuß dorthin gesetzt hat. Ich hatte auch einen gewissen Erfolg dadurch, denn ich erfuhr stets den Aufenthalt meines Geliebten und war in der Lage, Briefe an ihn zu senden in der Gewißheit, daß sie ihn erreichen würden. Heute habe ich allerdings Grund zu der Annahme, daß Mr. Farrington von ganz anderen Beweggründen geleitet wurde, als er mich mit Dr. Fall bekannt machte. Er wollte jeden meiner Schritte genau beobachten, damit ich mich nicht unabhängig von ihm mit George Doughton in Verbindung setzen konnte. Das ist meine Geschichte, soweit sie meinen Verkehr im ›geheimnisvollen Haus‹ betrifft. Mr. Moole habe ich nur ein einziges Mal gesehen.«

 

»Und Mr. Farrington?«

 

»Ich habe ihn niemals dort getroffen.«

 

»Oder Montague Fallock?«

 

Sie hob die Augenbrauen.

 

»Montague Fallock habe ich niemals gesehen«, sagte sie langsam, »obgleich ich viel von ihm gehört habe. Er wußte auch von der Skandalgeschichte und versuchte in den Tagen meiner Verlobung, mich zu erpressen.«

 

»Davon haben Sie mir noch gar nichts erzählt.«

 

»Darüber ist auch nicht viel zu sagen«, erwiderte sie mit einer müden Handbewegung. »Vor diesem geheimnisvollen Erpresser hatte ich die größte Angst, und seinen Verleumdungen schrieb ich es auch zu, daß George Doughton etwas von meiner Vergangenheit erfuhr. Heute weiß ich genau, daß Montague Fallock ihm meine Geschichte erzählte. Er verlangte ungeheure Summen von mir – ich gab ihm, soviel damals in meinen Kräften stand, ich ruinierte mich beinahe, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber es hatte doch alles keinen Zweck.«

 

Sie erhob sich und ging im Zimmer auf und ab.

 

»Ich habe mit Montague Fallock noch nicht abgerechnet.«

 

Als sie sich dem Detektiv jetzt zuwandte, sah er, daß ihre bleichen Züge einen harten und entschlossenen Ausdruck angenommen hatten.

 

»Ich könnte Ihnen sehr viel erzählen, Mr. Smith, wodurch Sie wahrscheinlich in die Lage versetzt würden, diesen gemeinsten Menschen, der jemals lebte, zur Rechenschaft zu ziehen und vor den Richter zu stellen.«

 

»Darf ich Sie bitten, mir alle Tatsachen mitzuteilen?« sagte Mr. Smith höflich.

 

Aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe meine eigenen Pläne, mich an dem Mann zu rächen, der mein Leben vergiftete«, erwiderte sie entschieden. »Wenn Montague Fallock stirbt, soll er von meiner Hand fallen!«

 

Kapitel 4

 

4

 

Es war eine böse Nacht für London. Sie war nicht wild oder stürmisch, aber die ganze Stadt war – wie eine Mohammedanerin, die bis zu den Augen verschleiert ist – in Nebel gehüllt. Der weiche, graue Dunst hing über den engen Straßen der Stadt, durch die sich den ganzen Tag über der Verkehr gewälzt hatte, und machte die kleinen Seitenstraßen zu einem wahren Irrgarten. Fast noch schwerer war es, sich auf den großen Plätzen zurechtzufinden. Besonders unten am Boden war der graue Dunst so dicht, daß man nicht einen Meter weit sehen oder etwas erkennen konnte. Die Menschen gingen gespenstisch und abenteuerlich durch eine fremde, unbekannte Welt.

 

Gelegentlich zerrissen die Nebelschleier, um sich dann nur wieder fest zu schließen. Vor dem Jollity-Theater brannte eine große Anzahl starker Bogenlampen, deren zitterndes Licht den Platz erhellte. Eine ununterbrochene Reihe von Fahrzeugen strömte hierher. Die Wagen sahen wie ungeheuer große, glitzernde Käfer aus, die von irgendwoher auftauchten. Sie verschwanden wieder in dem ungewissen Nebel, nachdem die Fahrgäste ausgestiegen waren. Auch eine lange Prozession von Fußgängern wand sich über diesen erleuchteten Platz.

 

Inmitten der Menge bewegte sich ein junger Bursche mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen, der offenbar Zeitungen verkaufte, aber alle ankommenden Wagen scharf beobachtete. Plötzlich stürzte er an den Rand des Gehsteigs, wo soeben ein Taxi hielt. Ein Herr stieg etwas schwerfällig aus und half dann einer jungen Dame heraus.

 

Nur einen Augenblick wurde die Aufmerksamkeit des Jungen von der glänzenden Erscheinung dieser Dame abgelenkt. Das in ein weites, elfenbeinfarbenes Cape gehüllte Mädchen hatte einen zarten Teint und war groß und schlank. Ihre Augen, die unter großen, schöngeschwungenen Wimpern hervorschauten, waren ausdrucksvoll und von wunderbar blauer Farbe. Sie lachte.

 

»Sei vorsichtig, Tante«, sagte sie vergnügt, als noch eine etwas untersetzte ältere Dame mit steifen Bewegungen aus dem Wagen stieg. »Dieser Londoner Nebel ist gefährlich.«

 

Der Zeitungsjunge war eine Sekunde lang in den Anblick des Mädchens versunken, aber dann erinnerte er sich plötzlich an seinen Auftrag. Seine Keckheit kam wieder zum Durchbruch, und er drängte sich vor.

 

»Zeitung gefällig, mein Herr?«

 

Der Angesprochene schien ihn zuerst abweisen zu wollen, aber die Haltung des Jungen ließ ihn seine Absicht ändern.

 

Während er in seiner Westentasche nach Kleingeld suchte, betrachtete ihn der Zeitungsjunge genau. Unter dem großen Hut war ein Gesicht mit kraftvollen Zügen zu sehen, aber es zeigte eine ungesunde, graublasse Farbe. Die Lippen waren dünn und zusammengekniffen, und tiefe Furchen liefen von den Nasenflügeln zum Kinn. Die Augen standen dicht beisammen und hatten eine trübdunkle Färbung.

 

Das ist er, sagte der Junge zu sich selbst.

 

Die junge Dame lachte, als sie sah, daß sich ihr Begleiter in dieser ungemütlichen Umgebung so sehr für Zeitungen interessierte, und wandte sich an einen jungen Mann in Gesellschaftskleidung, der eben aus einem zweiten Auto gestiegen war und auf sie zutrat.

 

Diesen Augenblick, in dem die anderen abgelenkt wurden, benutzte der kleine Bursche und trat noch etwas näher an den älteren Herrn heran.

 

»T.B.S.«, sagte er leise, aber klar verständlich.

 

Der Mann erbleichte plötzlich, und das Geldstück, das in seiner großen, weißbehandschuhten Hand lag, fiel klirrend zu Boden.

 

Der Zeitungsjunge bückte sich schnell und hob es geschickt auf.

 

»T.B.S.«, flüsterte er noch einmal und noch eindringlicher.

 

»Hier?« Die Lippen des alten Herrn zitterten.

 

»Er beobachtet das Theater – eine Menge Detektive sind hier«, erwiderte der Junge rasch und war froh, daß er seine Botschaft angebracht hatte. Während er das Geldstück zurückgab, schob er ein Stück Papier in die Hand des Mannes.

 

Dann drehte er sich mit einem vergnügten Blick zu der jungen Dame um, sah sie prahlerisch an, streifte auch ihren Begleiter mit den Augen und verschwand wieder in der Menge.

 

Der ganze Vorfall hatte kaum länger als eine Minute gedauert. Gleich darauf saß die kleine Gesellschaft in einer Loge, zu der die prickelnden Melodien der Ouvertüre des »Strand Girl« hinaufschallten.

 

»Ich wünschte, ich wäre ein kleiner Londoner Straßenjunge«, sagte das junge Mädchen nachdenklich und rückte den Veilchenstrauß an ihrem Ausschnitt zurecht. »Denken Sie nicht auch an Abenteuer, Frank?«

 

Frank Doughton schaute mit einem bedeutungsvollen Lächeln zu ihr hinüber, und sie errötete unter seinem Blick.

 

»Nein, das tue ich nicht«, erwiderte er liebenswürdig.

 

Doris lachte ihn an und zuckte dann ihre schönen, zarten Schultern.

 

»Für einen jungen Journalisten sind Sie viel zu offen und zu vertrauensselig, Frank. Ich möchte fast sagen: zu unerfahren. Sie müßten sich daran gewöhnen, diplomatischer zu sein und mit größerem Scharfsinn zu arbeiten – sehen Sie sich doch einmal unseren gemeinsamen Freund, den Grafen Poltavo, an!«

 

Ihre Stimme klang mutwillig, und er fühlte sich verletzt. Als der Name des Polen genannt wurde, verfinsterten sich seine Züge.

 

»Der kommt doch nicht etwa heute abend auch?« fragte er unangenehm berührt.

 

Doris nickte mit lachenden Augen.

 

»Ich weiß nicht, was Sie an diesem Mann finden«, sagte er ein wenig vorwurfsvoll. »Ich will jede Wette mit Ihnen eingehen, daß der Kerl ein Spitzbube ist! Er ist aalglatt und gewandt, aber er hat einen schlechten Charakter. Lady Dinsmore«, wandte er sich an die ältere Dame, »gefällt er Ihnen denn auch so gut?«

 

»Fragen Sie nur Tante Patricia nicht«, entgegnete die junge Dame. »Sie hält ihn für den liebenswürdigsten und faszinierendsten jungen Mann in London – streite es nicht ab, Tante!«

 

»Das fällt mir gar nicht ein, denn es stimmt. Graf Poltavo –« Lady Dinsmore unterbrach sich, um einige Leute durch ihr Lorgnon zu betrachten, die eben in die gegenüberliegende Loge getreten waren. Sie sah. nur den Schimmer eines grauen Kleides und eine Hand, die in einem weißen Handschuh steckte, da die Loge nicht erleuchtet war. »Graf Poltavo ist der einzige wirklich interessante Mann Londons. Er ist einfach ein Genie.« Sie schloß ihr Lorgnon, das leise einschnappte. »Es macht mir immer großes Vergnügen, mich mit ihm zu unterhalten. Lächelnd erzählt er nette Witze, zitiert in einem Atem Talleyrand und Lucullus, und man hat das Gefühl, daß er sich während der Unterhaltung ganz unabhängig von dem, was gesagt wird, seine Meinung über die Leute bildet und alle Resultate in seinem Gedächtnis registriert. Jeder bekommt sein Fach, auf dem fein säuberlich sein Name notiert wird. Wie Medizinflaschen im Schrank eines Apothekers – so wohlgeordnet stelle ich mir diese Urteile vor.«

 

Doris nickte nachdenklich.

 

»Ich möchte einmal einige von ihnen nehmen und öffnen. Vielleicht werde ich es eines Tages noch tun.«

 

»Nehmen Sie sich in acht«, erwiderte Frank böse. »Wahrscheinlich finden Sie auf jeder dieser Flaschen drei Kreuze und außerdem das Wort ›Gift‹ verzeichnet.« Er sah sie mit wachsendem Unmut an. In der letzten Zeit hatte sich ihr Benehmen gegen ihn vollkommen geändert. Sie war seine gute Freundin gewesen, die ihm vertraut hatte, und nun hatte sie sich vor seinen Augen in eine Fremde verwandelt, die ihm fast feindlich gegenüberstand. Und doch war sie schöner als jemals. Aber sie machte sich jetzt über ihn lustig, spottete über ihn und fand ein grausames Vergnügen daran, ihn zu kränken. Sie verhöhnte seine Jugend, seine Schwerfälligkeit, seinen offenen, arglosen und ehrlichen Charakter. Am schwersten freilich war der feine Spott zu ertragen, mit dem sie seinen schüchternen Versuchen begegnete, sich ihr zu nähern, um ihr seine Zuneigung auszudrücken. Und wie gerne hätte er ihr die Leidenschaft gestanden, die ihn fast gegen seinen Willen für sie ergriffen hatte.

 

Er verfiel in bittere und trübe Gedanken. Er dachte an den seidenweichen Stutzer, diesen Grafen, der als sein Rivale aufgetaucht war und der durch sein Auftreten, sein gutes Benehmen und durch seine Vorliebe für Kunst und Literatur glänzte. Welche Chancen hatte er, ein einfacher Brite, gegen solche offensichtliche Überlegenheit – wenn sich dieser Mensch nicht, wie er im Innersten hoffte, noch als Verbrecher entpuppte! Er wollte die Meinung ihres Vormunds darüber hören.

 

»Mr. Farrington«, fragte er laut, »wie denken Sie denn hierüber – hallo!«

 

Er sprang plötzlich auf und hob den Arm, um den älteren Herrn zu stützen.

 

Farrington war aufgestanden und schwankte ein wenig. Er war auffallend blaß geworden, und sein Gesicht zuckte, als ob er Schmerzen hätte.

 

Mit der größten Anstrengung riß er sich zusammen.

 

»Doris«, fragte er schnell, »wo hast du dich von Lady Constance getrennt?«

 

Das Mädchen schaute erstaunt auf.

 

»Ich habe sie heute nicht gesehen. Sie ist gestern abend nach Great Bradley gefahren – das stimmt doch, Tante?«

 

»Ja, es war recht sonderbar und meiner Meinung nach unhöflich«, erwiderte Lady Dinsmore, »daß sie ihre Gäste im Stich ließ und in ihrem Auto durch den Nebel zu ihrer Wohnung da draußen fuhr. Manchmal kommt mir der Gedanke, daß Constance ein wenig verrückt ist.«

 

»Ich wünschte, ich könnte auch dieser Ansicht sein«, sagte Farrington grimmig. Dann wandte er sich plötzlich an Doughton.

 

»Kümmern Sie sich, bitte, um Doris. Ich vergaß ganz, daß ich noch eine Verabredung habe.«

 

Er winkte Frank mit einer kaum wahrnehmbaren Geste, und die beiden verließen die Loge.

 

»Haben Sie etwas entdeckt?« fragte Farrington, als sie draußen standen.

 

»In welcher Beziehung?« fragte Frank unschuldig.

 

Ein beinahe ironisches Lächeln huschte über Mr. Farringtons Züge.

 

»Für einen jungen Mann, der so wichtige Nachforschungen betreibt, sind Sie ein wenig unachtsam.«

 

»Ach, Sie meinen die Tollington-Affäre! Nein, bis jetzt habe ich noch nichts herausgebracht; ich glaube allerdings auch nicht, daß es meine Sache ist, den Detektiv zu spielen, Nachforschungen anzustellen und Leute aufzuspüren. Ich kann ganz nette Kurzgeschichten schreiben, aber als Detektiv tauge ich nicht viel. Es ist natürlich äußerst liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mir den Auftrag gegeben haben –«

 

»Reden Sie keinen Unsinn«, unterbrach ihn der alte Herr. »Es ist nicht Liebenswürdigkeit – es ist mein eigenstes Interesse. Irgendwo in diesem Lande befindet sich der Erbe der Tollington-Millionen. Ich bin einer der Treuhänder dieses großen Vermögens und natürlich sehr daran interessiert, den Erben zu finden, damit ich meine Verantwortlichkeit loswerde. Sie wissen, daß ich demjenigen, der ihn entdeckt, gern einige tausend Pfund zahle.« Er sah auf seine Uhr. »Ich möchte aber noch über etwas anderes mit Ihnen sprechen – es betrifft Doris.«

 

Sie standen in dem kleinen Gang, der hinter der Loge vorbeiführte, und Frank wunderte sich, warum Mr. Farrington gerade diesen Augenblick wählte, um eine so wichtige und intime Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Er war dem Millionär äußerst dankbar, daß er ihm den Auftrag erteilt hatte, obgleich die Aufgabe, den unbekannten Erben des Tollington-Vermögens zu finden, ebenso schwierig war wie die, die sprichwörtliche Stecknadel im Heuschober zu entdecken. Aber er hatte den Auftrag dankbar angenommen, weil er dadurch Gelegenheit hatte, Doris Gray häufiger zu sehen.

 

»Sie kennen meine Ansicht«, fuhr Mr. Farrington fort und sah wieder auf seine Uhr. »Ich möchte, daß Doris Sie heiratet. Sie ist ein gutes Mädchen, der einzige Mensch in der Welt, zu dem ich Zuneigung empfinde.« Seine Stimme zitterte, man konnte nicht an seinen Worten zweifeln. »Irgendwie bin ich beunruhigt – die Schießerei, deren unfreiwilliger Zeuge ich neulich war, hat mich nervös gemacht. Aber jetzt gehen Sie hinein und versuchen Sie, Doris zu erobern.«

 

Er reichte Frank die Hand. Der junge Journalist nahm sie und erschrak, als er die eiskalten Finger des Millionärs berührte. Farrington nickte noch kurz und sagte im Fortgehen: »Ich werde nicht lange bleiben.« Dann ging er in das Vestibül und verschwand auf die Straße. Ein Pfiff brachte ein Taxi herbei.

 

»Zum ›Savoy-Hotel‹«, rief Farrington, als er in den Wagen sprang und der Chauffeur mit einem Ruck anfuhr.

 

Aber gleich darauf öffnete er das Fenster.

 

»Halten Sie, ich will hier aussteigen.« Er entlohnte den Chauffeur reichlich. »Ich will lieber zu Fuß gehen«, bemerkte er gleichgültig.

 

»Das ist aber ein wenig ungemütlich in dem Nebel heute abend, mein Herr«, meinte der Mann höflich. »Es wäre doch besser, wenn ich Sie zum Hotel führe.«

 

Aber Mr. Farrington war bereits im Nebel verschwunden.

 

Er zog sein Halstuch enger zusammen, rückte den Hut tief in die Stirn und eilte die Straße entlang wie jemand, der ein bestimmtes Ziel hat.

 

Plötzlich blieb er stehen und hielt ein anderes Taxi an, das langsam an den Gehsteig heranfuhr.

 

Kapitel 3

 

3

 

Mr. T.B. Smith saß allein in seinem Büro in Scotland Yard. Das Themseufer, der Fluß und auch das große, palastähnliche Parlamentsgebäude waren von dichtem Nebel völlig eingehüllt. Seit zwei Tagen lag London schon unter einer dunklen Dunstschicht, und wenn man den Wetterpropheten Glauben schenken durfte, konnte man sich noch auf zwei weitere Nebeltage gefaßt machen.

 

Der hübsche Raum mit seiner mattpolierten Eichentäfelung und den vornehmen, eleganten Beleuchtungskörpern bot selbst einem Mann von verwöhntem Geschmack einen angenehmen Aufenthalt. Ein helles Feuer flackerte in dem gekachelten Kamin, und eine silberne Uhr tickte melodisch auf der Marmorplatte darüber. Neben Mr. Smith stand ein mit einer weißen Serviette bedecktes Tablett, auf dem ein zierlicher silberner Teetopf und alle nötigen Gegenstände zur Teebereitung standen.

 

Mr. Smith schaute auf die Uhr, es war fünfundzwanzig Minuten nach eins.

 

Er drückte auf einen Klingelknopf, der seitlich am Schreibtisch angebracht war. Gleich darauf klopfte es leise, und ein Polizeibeamter erschien in der Türöffnung.

 

»Gehen Sie in die Registratur und holen Sie mir« – er machte eine kurze Pause und schaute auf ein Stück Papier, das vor ihm lag – »das Aktenstück Nr. G 7941.«

 

Der Mann zog sich geräuschlos zurück, und T.B. Smith schenkte sich bedächtig eine halbe Tasse Tee ein.

 

Nachdenkliche Falten zeigten sich auf seiner Stirn, und ein Ausdruck ungewöhnlicher Sorge lag auf seinen sonst so gleichmäßigen Zügen, die die Sonne Südfrankreichs gebräunt hatte.

 

Er war von seinem Urlaub plötzlich zurückgekehrt, um sich einer Aufgabe zu widmen, die nur ein Mann von seiner Begabung lösen konnte. Er sollte den größten Schwindler der letzten Zeit, Montague Fallock, aufspüren. Und nun war diese Aufgabe noch dringender geworden, denn Montague Fallock oder seine Anhänger waren für den Tod zweier Männer verantwortlich, die man in der vorigen Nacht am Brakely Square leblos aufgefunden hatte.

 

Niemand hatte Montague gesehen; es existierte keine Fotografie von ihm, die die vielen Detektive auf seine Spur hätte bringen können. Man hatte zwar Agenten von ihm festgenommen und sie strengen Verhören unterworfen, aber es waren immer nur die Agenten anderer Agenten gewesen. Montague selbst hatte sich unsichtbar gehalten; er stand hinter einem Stahlnetz von Banken, Rechtsanwälten und anonymen Personen – für den Arm der Gerechtigkeit unerreichbar.

 

Der Polizeibeamte kehrte mit einer kleinen schwarzen Ledermappe zurück, die er vor Mr. Smith niederlegte. Dann verließ er das Zimmer wieder.

 

Mr. Smith öffnete die Tasche und zog drei kleine Päckchen daraus hervor, die mit einer roten Schnur umwunden waren.

 

Er machte das eine auf und legte drei Karten vor sich hin. Es waren vergrößerte Fotografien von Fingerabdrücken. Selbst wenn man kein Experte auf diesem Gebiet war, konnte man sofort erkennen, daß sie von demselben Finger herrührten, obwohl sie offensichtlich unter den verschiedensten Umständen aufgenommen waren.

 

Der Detektiv verglich sie mit einer kleineren Fotografie, die er aus seiner Westentasche hervorgeholt hatte. Es bestand gar kein Zweifel darüber – auch dieser vierte Abdruck stimmte mit den anderen überein. Man hatte ihn durch ein umständliches Verfahren von einem kaum sichtbaren Abdruck auf dem letzten Brief gewonnen, den dieser Erpresser an Lady Constance Dex gerichtet hatte.

 

Er klingelte wieder, und der Beamte erschien aufs neue in dem Zimmer.

 

»Ist Mr. Ela in seinem Büro?«

 

»Jawohl. Er bearbeitet den Fall im Zollamt.«

 

»Ach ja, ich erinnere mich – zwei Männer wurden überrascht, wie sie dort das Gepäck berauben wollten. Sie entflohen, nachdem sie einen Polizisten in dem Gebäude niedergeschossen hatten.«

 

»Sie sind zwar beide entkommen, aber der eine ist von einem Beamten durch einen Schuß verwundet worden. Man hat Blutspuren an der Stelle gefunden, wo das Auto wartete.«

 

Mr. Smith nickte.

 

»Bitten Sie Mr. Ela, zu mir zu kommen, wenn er mit seiner Arbeit fertig ist.«

 

Polizeiinspektor Ela hatte seine Nachforschungen anscheinend schon beendet, denn kurz darauf erschien er in dem Büro. Er hatte etwas melancholische Züge.

 

»Treten Sie näher«, sagte Mr. Smith lächelnd, »und erzählen Sie mir all Ihre Leiden und Ihren Kummer.«

 

Mr. Ela ließ sich in einem rohrgeflochtenen Stuhl nieder.

 

»Meine Hauptsorge besteht darin, Augenzeugen zu finden, die nähere Angaben machen können. Bis jetzt fehlt jeder Anhaltspunkt für die Identität der Räuber, die beinahe einen Mord auf dem Gewissen haben. Die Nummer des Wagens war natürlich gefälscht, man hat das Auto nicht über Limehouse hinaus verfolgen können. Ich stehe vor scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten. Ich weiß nur, daß einer der Vagabunden entweder verwundet oder getötet und von seinem Freund in den Wagen getragen wurde. Es ist möglich, daß seine Leiche irgendwo auftauchen wird – dann könnten wir vielleicht weiterkommen.«

 

»Wenn das nun zufällig mein Freund Montague Fallock wäre«, meinte Mr. Smith gutgelaunt, »dann könnte ich glücklich sein. Was wollten die beiden denn erbeuten? Suchten sie nach Goldbarren?«

 

»Das glaube ich kaum – es schienen ganz einfache Diebsgesellen zu sein. Sie haben ein paar Koffer aufgebrochen, einen Teil des Passagiergepäcks vom Dampfer ›Mandavia‹, der am Tag vorher von der Westküste Afrikas eingetroffen war. Es war Gepäck, wie es Passagiere eben ein oder mehrere Tage in der Zollstation lassen, bis sie weiterreisen. Die aufgebrochenen Koffer gehören dem Sekretär eines Gouverneurs des Kongostaates, der Frau eines höheren Kolonialbeamten, dessen Namen ich vergessen habe – und einem gewissen Dr. Goldworthy, der eben aus dem Kongogebiet zurückgekommen ist, wo er sich der Erforschung der Schlafkrankheit widmete.«

 

»Das klingt ja gerade nicht sehr erschütternd«, sagte Mr. Smith nachdenklich. »Ich verstehe nicht, warum so hochmoderne, elegante Verbrecher im Auto angefahren kommen, um sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben; warum sie in Masken und mit Pistolen auftreten – sie waren doch maskiert, wenn ich mich recht entsinne?« Ela nickte. »Warum kommen diese Leute wegen solcher Bagatellen?«

 

»Nun erzählen Sie mir aber auch von Ihrem Fall«, bat der Inspektor.

 

»Von dem Fall Montague Fallock«, erwiderte Smith mit einem verbissenen Lächeln. »Wieder der edle Montague Fallock! Er war so bescheiden, nur zehntausend Pfund von Lady Constance Dex zu fordern – der Schwester des bekannten und ehrenwerten Pfarrers Jeremiah Bangley in Great Bradley. Wenn sie nicht zahlt, will er sie mit einer alten Liebesaffäre bloßstellen.

 

Bangley ist ein großer, freundlicher, vornehmer Herr, der ganz unter dem Einfluß seiner Schwester steht. Sie ist eine stattliche und immer noch schöne Frau. Die Angelegenheit hat ihre Bedeutung eigentlich dadurch schon halb verloren, daß der betreffende Mann vor kurzer Zeit in Afrika starb. Das sind alle wesentlichen Details. Ihr Bruder wußte schon von der ganzen Sache, aber Montague wollte sie eben der ganzen Welt bekanntmachen. Er droht, die Dame umzubringen, wenn sie seine Forderung der Polizei mitteilen sollte. Es ist nicht das erstemal, daß er zu derartigen Drohungen greift. Der letzte, den er zu erpressen suchte, war der Millionär Farrington – merkwürdigerweise ein guter Freund von Lady Dex.«

 

»Es ist wie verhext«, meinte Ela. »Konnten Sie denn keine weiteren Anhaltspunkte finden, als Sie die Leichen der beiden Männer durchsuchten, die gestern nacht ermordet wurden?«

 

Mr. Smith ging in dem Raum auf und ab, er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schüttelte nachdenklich den Kopf.

 

»Ferreira de Coasta war der eine, und Henri Sans der andere. Zweifellos standen die beiden im Sold Montagues. Coasta war ein gebildeter Mann, der ihm wahrscheinlich als Vermittler gedient hat. Von Haus aus Architekt, war er wegen dunkler Geldangelegenheiten in Paris in Schwierigkeiten gekommen. Sans war ein untergeordneter Agent, dem man mehr oder weniger Vertrauen entgegenbrachte. Ich habe weder bei dem einen noch bei dem anderen etwas Besonderes gefunden, das mich auf die Spur Montague Fallocks hätte bringen können. Sehen Sie, nur dieses Ding habe ich entdeckt.«

 

Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und nahm ein kleines, silbernes Medaillon heraus, das eingravierte Ornamente und ein schon halb verwischtes Monogramm trug.

 

Mr. Smith drückte auf eine Feder, und das Medaillon sprang auf. Es enthielt nur ein kleines, weißes, kreisrundes Papier.

 

»Ein gummiertes Etikett«, erklärte Mr. Smith. »Aber die Inschrift ist interessant.«

 

Ela nahm den kleinen Gegenstand in die Hand, hielt ihn ans Licht und las.

 

Mor: Cot.

Gott schütz dem Kenig

 

»Ungeheuer patriotisch, aber eine unglaubliche Orthographie, ich kann nichts damit anfangen.«

 

Smith steckte das Medaillon wieder in seine Tasche und verschloß dann das Aktenstück in einer Schreibtischschublade.

 

Ela gähnte.

 

»Entschuldigen Sie, aber ich bin sehr müde. Übrigens – liegt in diesem Great Bradley, das Sie vorhin erwähnten, nicht irgend so ein romantisches Haus?«

 

Mr. Smith nickte und zwinkerte mit den Augen.

 

»Es ist die Stadt, in der das ›geheimnisvolle Haus‹ liegt«, sagte er und erhob sich. »Aber die Extravaganzen eines liebeskranken Amerikaners, der verrückte Häuser baut, gehen schließlich die Polizei nichts an. Sie können bis Chelsea in meinem Wagen mitfahren.« Bei diesen Worten zog er seinen Mantel an und nahm seine Handschuhe. »Möglicherweise haben wir Glück und überfahren Montague im Nebel.«

 

»Sie scheinen ja heute abend in einer Stimmung zu sein, in der Sie an Wunder glauben«, meinte Ela, als sie zusammen die Treppe hinuntergingen.

 

»Ich bin in der Stimmung, zu Bett zu gehen«, erwiderte Mr. Smith ehrlich.

 

Als sie draußen angelangt waren, war der Nebel so dicht, daß sie zögernd stehenblieben. Der Chauffeur, der Mr. Smiths Wagen lenkte, war ein kluger und zäher Polizeibeamter, aber seine lange Erfahrung sagte ihm, daß es ein nutzloses Beginnen war, an diesem Abend nach Chelsea zu fahren.

 

»Die ganze Straße ist nebelig und unsichtig«, sagte er. »Ich habe eben mit der Westminster-Wache telefoniert und dort die Auskunft bekommen, daß es unmöglich sei, durch den Nebel zu fahren.«

 

Mr. Smith nickte.

 

»Dann werde ich hier in der Polizeidirektion schlafen. Sie suchen sich besser hier auch ein Quartier in einer der Wachstuben«, wandte er sich an seinen Chauffeur. »Was wollen Sie tun, Ela?«

 

»Ich werde ein wenig im Park spazierengehen«, entgegnete Ela ironisch.

 

Mr. Smith ging zu seinem Büro zurück, und Ela folgte ihm.

 

Oben drehte er das elektrische Licht an, aber er blieb in der Tür stehen. Während ihrer Abwesenheit von höchstens zehn Minuten mußte jemand hiergewesen sein. Zwei Schubladen des Schreibtisches waren gewaltsam geöffnet worden, und der Fußboden war mit Schriftstücken bedeckt, die bei einer hastigen Durchsuchung hinuntergeworfen worden waren.

 

Mr. Smith war mit einigen großen Schritten am Schreibtisch das Aktenstück war fort.

 

Ein Fenster stand offen, und dichte Nebelschwaden drangen in das Zimmer.

 

»Sehen Sie – hier sind Blutspuren«, rief Ela und zeigte auf das mit Blutflecken bedeckte Löschpapier der Schreibunterlage.

 

»Er hat sich mit der Hand am Glas geschnitten.« Mr. Smith wies auf die zerbrochene Fensterscheibe. Dann schaute er hinaus.

 

Eine leichte Hakenleiter, wie sie bei amerikanischen Feuerwehren benützt wird, hing draußen an der Brüstung. Der Nebel war so dicht, daß man unmöglich erkennen konnte, wie lang sie war. Die beiden zogen sie mühelos nach oben. Sie bestand aus leichten Bambusstangen, an denen in gewissen Abständen kurze Eisenklammern angebracht waren.

 

»Auch hier sind Blutspuren«, bemerkte Ela. Dann wandte er sich schnell an den Beamten, der auf sein Klingelzeichen erschienen war, und gab seine Anordnungen in größter Eile. »Der Inspektor vom Dienst soll sofort mit allen verfügbaren Mannschaften das Polizeipräsidium umstellen – rufen Sie die Wache Cannon Row an, daß alle Leute an der Absperrung teilnehmen sollen. Ein Mann mit einer verletzten Hand soll verhaftet werden – geben Sie den Befehl an alle Reviere durch.«

 

»Wir haben nur wenig Aussicht, unseren Freund auf diese Weise zu fassen«, sagte Mr. Smith. Er nahm ein Vergrößerungsglas und betrachtete einen der Blutflecken.

 

»Wer mag das gewesen sein?« fragte Ela.

 

Mr. Smith zeigte auf den blutigen Fingerabdruck.

 

»Montague Fallock – und er weiß jetzt gerade das, was er unter keinen Umständen erfahren sollte.«

 

»Und was ist das?«

 

Mr. Smith antwortete nicht gleich. Er stand mitten im Zimmer und schaute sich um, ob er nicht irgendwelche Spuren oder Anhaltspunkte finden könnte, die der Einbrecher hinterlassen hatte.

 

»Er weiß genausoviel wie ich«, sagte er grimmig. »Aber vielleicht bildet er sich ein, daß ich noch mehr weiß – die Dinge werden sich ja entwickeln.«

 

Kapitel 2

 

2

 

»Meuchelmörder!«

 

Dieser Schrei schrillte durch die stille Nacht und weckte auch das Interesse und die Neugier eines Bewohners des Brakely Square, der noch wach war. Es war Mr. Gregory Farrington, der gewöhnlich an Schlaflosigkeit litt. Er hörte den Ruf, legte das Buch, in dem er gelesen hatte, stirnrunzelnd aus der Hand, erhob sich aus seinem Lehnstuhl, zog den Schlafrock dichter um seinen etwas behäbigen Körper und trat an das Fenster. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber er steckte die Finger zwischen zwei Brettchen und bog sie so, daß er durchschauen konnte.

 

Die Fenster waren beschlagen, und die Straßenlaternen waren nur undeutlich und verschwommen zu sehen. Er rieb die Scheiben mit den Fingerspitzen klar.

 

Zwei Männer standen vor dem Haus, mitten auf dem einsamen Fahrdamm. Sie sprachen erregt miteinander. Mr. Farrington konnte selbst durch das geschlossene Fenster ihre harten Stimmen hören. An ihren heftigen Gesten erkannte er sie als Italiener.

 

Er sah, daß der eine seine Hand hob, um den anderen zu schlagen, und er sah das Blitzen eines Pistolenlaufes.

 

»Hm!« sagte Mr. Farrington.

 

Er war allein in seinem schönen Haus am Brakely Square. Der Hausmeister, die Köchin und ein Stubenmädchen, auch der Chauffeur waren zu einem Dienstbotenball gegangen. Die Stimme auf der Straße wurde lauter.

 

»Dieb!« hörte er plötzlich in französischer Sprache rufen. »Soll ich mich denn bestehlen lassen –« Den Rest konnte er nicht mehr verstehen.

 

Auf der anderen Seite des großen Platzes war ein Polizist erschienen. Mr. Farrington rieb die Glasscheibe energischer und schaute ängstlich nach dem Beamten. Dann ging er die Treppe hinunter, öffnete die Metallklappe seines Briefkastens und lauschte. Es war nicht schwer, alles zu verstehen, was sie sagten, obgleich sie jetzt leiser sprachen, denn sie standen am Fuß der Stufen, die zu der Haustür führten.

 

»Was willst du eigentlich?« fragte der eine auf französisch. »Es ist eine Belohnung ausgesetzt – da könnte man Geld verdienen, gewiß! Aber wenn man ihn selbst packt, kann man genug für zwanzig bekommen! Unglücklicherweise haben wir beide dieselbe Absicht, aber ich schwöre dir, daß ich dich nicht betrügen will –« Dann wurde seine Stimme ganz leise.

 

Mr. Farrington stand in der dunklen Eingangshalle, kaute an dem Ende seiner Zigarre und versuchte, die einzelnen Bruchstücke dieser Unterhaltung zusammenzusetzen. Die beiden Männer mußten Komplicen oder Helfershelfer von Montague Fallock sein, diesem Erpresser, nach dem die Polizei aller Länder Europas suchte. Und sicher hatten die beiden unabhängig voneinander den Plan gefaßt, ihn zu erpressen – oder ihn zu verraten.

 

Mr. T.B. Smith bewohnte ebenfalls ein Haus am Brakely Square. Er war ein hoher Beamter im Polizeipräsidium und sehr begierig darauf, Montague Fallock zu fassen. Mr. Farrington, der all dies genau wußte, war sich darüber klar, daß das wohl der Grund der eben gehörten Unterhaltung vor dem Tor seines schönen Hauses war.

 

»Ich sage dir ja gerade«, erklärte der zweite Mann jetzt ärgerlich, »daß ich alle Vorkehrungen getroffen habe, um Monsieur – aufzusuchen. Das mußt du mir glauben –«

 

»Dann wollen wir zusammen gehen«, erwiderte der andere bestimmt. »Ich traue niemandem, am allerwenigsten einem unzuverlässigen Neapolitaner –«

 

*

 

Der Polizist Habit hatte nichts von dem Streit gehört, wie aus der späteren Untersuchung hervorging. Er sagte ganz bestimmt aus: »Ich hörte nichts Außergewöhnliches.«

 

Aber plötzlich waren, kurz nacheinander, zwei Schüsse gefallen.

 

Sie waren unverkennbar aus einer oder zwei Browningpistolen abgefeuert worden. Dann schrillte eine Polizeipfeife auf, und der Schutzmann P.C. Habit eilte in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Er blies laut auf seiner eigenen Alarmpfeife.

 

Als er ankam, fand er drei Männer, von denen zwei tot auf dem Boden lagen. Der dritte war Mr. Farrington, der zitternd vor dem Eingang seines Hauses stand. Er hatte eine Alarmpfeife im Mund. Sein grauer Schlafrock flatterte im Wind.

 

Zehn Minuten später erschien Mr. T.B. Smith auf der Bildfläche. Bei seiner Ankunft hatte sich schon eine große Menschenmenge angesammelt, die Hälfte aller Schlafzimmerfenster am Brakely Square war von neugierigen, und sensationslüsternen Menschen besetzt, auch die Rettungswache war schon erschienen.

 

»Sie sind tot«, berichtete der Polizist.

 

T.B. Smith schaute auf die beiden Männer, die auf dem Boden lagen. Offensichtlich waren es Ausländer. Einer war sehr gut, fast vornehm gekleidet, der andere trug einen etwas abgenützten Kellnerfrack unter einem langen Ulster, der ihn vom Hals bis zu den Füßen einhüllte.

 

Die beiden Männer lagen beinahe Kopf an Kopf, der eine auf dem Gesicht, mit dem Rücken nach oben. Der Polizist hatte ihn in dieser Lage gefunden und hatte ihn wieder so hingelegt, nachdem er festgestellt hatte, daß menschliche Hilfe hier vergeblich war. Der andere lag zusammengekauert an seiner Seite.

 

Die Polizisten hielten die Menschenmenge in der nötigen Entfernung von dem Schauplatz, während der Chef der Geheimpolizei, Mr. T.B. Smith, eine genaue Untersuchung vornahm. Er fand eine Pistole auf dem Boden, eine andere unter dem zusammengekauerten Mann. Während dann die beiden Toten in den Wagen gebracht wurden, wandte er sich an Mr. Farrington.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein und mit mir nach oben kommen«, bat der bestürzte Millionär, »ich will Ihnen gern alles erzählen, was ich weiß.«

 

Mr. T.B. Smith nahm einen besonderen Geruch wahr, als er in den Hausflur kam, sagte jedoch nichts darüber. Sein Geruchssinn war in einer außergewöhnlichen Weise entwickelt, aber er war ein taktvoller und verschwiegener Mann.

 

Er kannte Farrington – wer kannte ihn nicht! – als seinen Nachbarn und als einen Mann von ungewöhnlichem Reichtum.

 

»Ihre Tochter –«, begann er.

 

»Mein Mündel, meinen Sie wohl«, verbesserte ihn Mr. Farrington, als er alle Lichter in seinem Wohnzimmer eingeschaltet hatte. »Sie ist nicht zu Hause; sie bleibt die Nacht über bei meiner Freundin Lady Constance Dex – kennen Sie die Dame?«

 

Mr. Smith nickte.

 

»Ich kann Ihnen leider nur wenig Informationen geben«, erklärte Mr. Farrington. Er war bleich und zitterte. Seine Verfassung erschien ganz natürlich für einen guten Bürger, der das Gesetz achtete und Zeuge eines so entsetzlichen Mordes gewesen war. »Ich hörte Stimmen und ging zur Haustür hinunter – ich hatte die Absicht, einen Polizisten zu rufen –, dann hörte ich zwei Schüsse, die fast zu gleicher Zeit fielen; ich öffnete die Tür und sah die beiden Männer dort auf der Straße liegen, wie sie später auch von dem Polizisten gefunden wurden.«

 

»Worüber sprachen die beiden denn?«

 

Mr. Farrington zögerte.

 

»Ich hoffe, daß ich nicht als Zeuge bei der Verhandlung dieses Falles zugezogen werde?« Aber Mr. Smith gab ihm in dieser Hinsicht keine Hoffnung. »Sie sprachen über den allbekannten Montague Fallock – einer drohte, ihn bei der Polizei anzuzeigen.«

 

»Ja«, sagte Mr. Smith. Man konnte aus diesem »Ja« entnehmen, daß er die Zusammenhänge ahnte und verstand.

 

»Und wer war der dritte Mann?« fragte er plötzlich.

 

Auf Mr. Farringtons Gesicht kam und ging die Farbe.

 

»Der dritte Mann?« stammelte er.

 

»Ich meine den Mann, der die beiden erschossen hat. Es ist doch klar, daß sie von einer dritten Person getötet wurden. Man hat zwar zwei Pistolen gefunden, aber aus keiner von ihnen ist ein Schuß abgegeben worden. Das entnehme ich daraus, daß beide Waffen gesichert waren. Ebenso ist der Laternenpfahl, in dessen Nähe die beiden standen, durch ein Geschoß beschädigt worden, das keiner der Männer abgefeuert haben kann. Deshalb bin ich der Überzeugung, Mr. Farrington, daß noch ein dritter Mann zugegen war. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihr Haus durchsuche?«

 

Ein leichtes Lächeln zeigte sich jetzt auf dem Gesicht des Millionärs.

 

»Nicht das geringste. Wo wollen Sie mit Ihren Nachforschungen beginnen?«

 

»Im Erdgeschoß – in der Küche.«

 

Mr. Farrington führte den Detektiv die Treppe hinunter. Sie benützten die Dienertreppe, die in das Reich der abwesenden Köchin führte. Er drehte das elektrische Licht in dem Raum an, als sie eintraten.

 

Es war nichts zu entdecken, was darauf hingedeutet hätte, daß jemand hier eingedrungen war.

 

»Dies ist die Kellertür«, erklärte Mr. Farrington. »Hier ist die Speisekammer, und hier geht es zum Hofflur. Die Tür ist verschlossen.«

 

Mr. Smith drückte die Klinke nieder, die Tür öffnete sich leicht.

 

»Aber Sie sehen doch, daß sie nicht verschlossen ist«, sagte er und trat in den dunklen Gang.

 

»Das kann nur eine Nachlässigkeit des Hausmeisters sein«, erwiderte Mr. Farrington erstaunt. »Ich habe strengsten Befehl gegeben, alle Türen zu schließen. Wenn Sie weiter untersuchen, werden Sie finden, daß die Hoftür verriegelt und mit einer Kette versehen ist.«

 

Der Detektiv beleuchtete die Tür mit seiner Taschenlampe.

 

»Das scheint mir nicht der Fall zu sein – sie ist nur angelehnt.«

 

Mr. Farrington war außer sich.

 

»Nur angelehnt?« wiederholte er.

 

T.B. Smith trat auf den kleinen Hof hinaus. Man konnte von der Straße aus über eine kleine Treppe dorthin gelangen. Er ließ das Licht seiner Lampe über die Steinfliesen gehen. Plötzlich sah er etwas auf dem Boden glitzern, bückte sich und hob es auf. Es war eine kleine, mit einer Goldkapsel versehene Flasche, die offenbar aus der Handtasche einer Dame gefallen war. Er roch daran.

 

»Ja, das ist es«, sagte er dann.

 

»Was meinen Sie?« fragte Mr. Farrington argwöhnisch.

 

»Ich meine den Geruch, den ich in Ihrer Eingangshalle wahrnahm. Es ist ein besonderer Duft.« Wieder roch er an dem kleinen Fläschchen. »Gehört dieser Gegenstand Ihrem Mündel?«

 

Farrington schüttelte heftig den Kopf.

 

»Doris ist noch niemals in ihrem Leben hier gewesen«, sagte er. »Abgesehen davon kann sie Parfüms nicht leiden.«

 

Mr. Smith ließ das Fläschchen in seine Tasche gleiten.

 

Alle weiteren Nachforschungen ergaben kein Anzeichen für die Anwesenheit einer dritten Person, und T.B. Smith folgte Mr. Farrington in sein Arbeitszimmer.

 

»Was halten Sie von der ganzen Sache?« fragte Mr. Farrington.

 

Mr. Smith antwortete nicht gleich. Er ging erst zum Fenster und schaute hinaus. Die kleine Menschenmenge, die von den Schüssen angelockt worden war, hatte sich allmählich wieder zerstreut. Der Nebel, der schon den ganzen Abend hereinzubrechen drohte, hatte sich nun auch über den Platz verbreitet, und die Straßenlaternen erschienen nur undeutlich als große, gelbe Lichtkugeln in dem dichten Dunst.

 

»Ich glaube, daß ich nun endlich auf die Spur Montague Fallocks gekommen bin.«

 

Mr. Farrington schaute ihn mit offenem Munde an.

 

»Ist das Ihr Ernst?« fragte er ungläubig.

 

Der Detektiv nickte.

 

»Was halten Sie denn von der offenen Tür da unten – es muß doch irgendein Fremder hier gewesen sein!« rief Mr. Farrington. »Sie denken doch nicht etwa, daß Montague Fallock heute abend in diesem Hause war?«

 

Mr. Smith nickte wieder. Es trat ein kurzes Schweigen ein.

 

»Er hat einen Erpressungsversuch an mir verübt«, meinte Mr. Farrington, »aber ich glaube nicht –«

 

Der Detektiv klappte seinen Mantelkragen hoch.

 

»Ich habe noch eine unangenehme Aufgabe vor mir, ich muß diese unglücklichen toten Leute durchsuchen.«

 

Farrington schauderte. »Das ist schrecklich«, sagte er heiser.

 

Mr. Smith sah sich in dem schönen Zimmer um. Die silbernen Beschläge leuchteten matt in dem milden Licht abgeblendeter Kronleuchter. Kostbare Rosenholzpaneele bedeckten die Wände, ein kräftiges, wärmendes Feuer brannte in dem vergitterten Kamin. Der Boden war mit prachtvollen persischen Teppichen belegt. Wenige auserlesene Gemälde schmückten die Wände jedes von ihnen hatte ein Vermögen gekostet.

 

Auf dem Schreibtisch stand eine große Fotografie in einem einfachen Silberrahmen. Es war das Bild einer schönen Frau in der Blüte ihres Lebens.

 

»Verzeihen Sie«, begann Mr. Smith und ging zu dem Schreibtisch hinüber. »Ist dies nicht …?«

 

»Es ist Lady Constance Dex«, erwiderte Mr. Farrington kurz. »Sie ist mit mir und meinem Mündel eng befreundet.«

 

»Ist sie augenblicklich in der Stadt?«

 

»Sie ist in Great Bradley. Ihr Bruder ist dort Pfarrer.«

 

»Great Bradley?« Mr. Smith runzelte die Stirn, als ob er sich an etwas erinnern wollte. »Liegt in dieser Gegend nicht das ›geheimnisvolle Haus‹?«

 

»Ich habe auch davon gehört«, entgegnete Mr. Farrington mit einem fast unmerklichen Lächeln.

 

»C.D.« sagte Mr. Smith halb zu sich selbst, als er zur Tür ging.

 

»Wie meinen Sie?«

 

»C.D. – das sind doch die Initialen von Lady Constance Dex.«

 

»Das stimmt – aber wie kommen Sie darauf?«

 

»Dieselben Buchstaben sind auch auf dem goldenen Verschluß des Parfümfläschchens eingraviert. Gute Nacht.«

 

Mr. Farrington blieb bestürzt und erschrocken zurück.

 

Kapitel 19

 

19

 

Farrington hatte sich mit Dr. Fall in dem Büro des letzteren eingeschlossen. Es war ein Ereignis eingetreten, das dem Arzt, den kaum etwas aus der Fassung bringen konnte, doch Sorgen bereitete. Düstere Falten lagen auf seiner Stirn. Farringtons Gesicht war vor Wut verzerrt.

 

»Sind Sie dessen auch ganz sicher?« fragte er.

 

»Ganz sicher«, erwiderte Dr. Fall kurz. »Er hat alle Vorbereitungen getroffen, um London zu verlassen. Seine Koffer sind gestern abend vom Charing-Cross-Bahnhof nach Paris geschickt worden. Sein Haus ist vermietet – die Miete hat er sich im voraus zahlen lassen. Seine Möbel sind so gut wie verkauft. Es unterliegt keinem Zweifel, daß er uns betrogen hat.«

 

»Er sollte es wagen!« stieß Farrington atemlos hervor. Die Adern auf seiner Stirn schwollen an, und nur mit größter Anstrengung unterdrückte er seine leidenschaftliche Aufwallung.

 

»Ich habe diesen Kerl aus dem Rinnstein aufgelesen; ich habe diesem verhungerten Hund erst eine Existenz geschaffen; ich habe ihm noch eine Chance gegeben, als er sein Leben schon verspielt hatte … Ich kann nicht daran glauben, daß er so kühn war!«

 

»Diese Art von Verbrechern nimmt sich alles heraus«, sagte Dr. Fall gelassen. »Sie sehen, er ist ein ganz abscheulicher Vertreter seiner Rasse – er besitzt ihre aalglatte Gewandtheit, ihre Hinterlist und ihre rücksichtslose Energie. Er würde Sie verraten, er würde seinen eigenen Bruder preisgeben. Hat er nicht seinen Vater – vielmehr seinen angeblichen Vater – seinerzeit niedergeschossen? Ich bat Sie gleich, ihm nicht zu trauen, Farrington. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er das Haus überhaupt nicht mehr verlassen.«

 

»Um Doris‘ willen habe ich ihn gehen lassen. Ja, ja«, fuhr er fort, als er den überraschten Blick in den Augen Dr. Falls sah. »Ich brauchte jemand, der Angst vor mir hatte und meine Pläne in dieser Richtung förderte. Die Heirat war notwendig.«

 

»Sie haben ein wenig sentimental gehandelt, wenn ich meine Meinung sagen darf.«

 

»Ich will Ihre Meinung nicht hören«, fuhr Farrington auf. »Sie werden niemals begreifen, was ich für dieses Kind empfinde. Ich nahm sie nach dem Tod ihres Vaters zu mir, der einer meiner besten Freunde war. Ich gestehe, daß mich in der ersten Zeit der Gedanke reizte, mir ihr Vermögen anzueignen. Aber als die Jahre vergingen, wurde sie mir immer lieber – sie trug einen neuen und schönen Einfluß in mein Leben, Fall. Es war ein Gefühl, das meinem Dasein bis dahin fremd geblieben war. Ich liebte Doris, und ich liebte sie mehr als Geld oder Macht – und das will viel heißen. Ich wollte alles tun, was zu ihrem Vorteil war, und als meine Spekulationen fehlschlugen und ich mir Geld von ihrem Vermögen lieh, zweifelte ich niemals daran, es mit der Zeit zurückzahlen zu können. Als alles Geld verbraucht war« – er sprach ganz leise – »und ich vor der Tatsache stand, daß ich das einzige menschliche Wesen in der Welt, das ich liebte, finanziell ruiniert hatte, entschloß ich mich zu einem Schritt, den ich von allen meinen Verbrechen am meisten bedauert habe. Ich räumte George Doughton aus dem Weg, um Doris mit dem Erben der Tollington-Millionen verheiraten zu können. Denn ich wußte seit langem, daß Doughton der Mann war, den wir suchten. Ich tötete ihn«, sagte er trotzig, »um der Frau seines Sohnes willen. Es ist eine Ironie des Schicksals!«

 

Er lachte rauh.

 

»Poltavo ließ ich gehen, weil ich ihn brauchte, um meine Pläne im Hinblick auf Doris zu fördern. Daß er in dieser Beziehung nichts taugte und wir schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht haben, tut nichts zur Sache. Doris ist nun glücklich verheiratet«, sagte er mit Befriedigung. »Wenn sie ihren Gatten auch jetzt noch nicht liebt, so wird sie ihn doch später lieben lernen. Sie achtet Frank Doughton, und jeder Tag wird ihr Zugehörigkeitsgefühl zu ihm stärken, und daraus wird allmählich ihre Liebe erwachsen. Ich kenne Doris, ihre geheimen Gedanken und Wünsche. Sie wird mich vergessen –« Seine Stimme zitterte. »Gott gebe, daß sie mich wirklich vergißt!« Er änderte das Thema schnell. »Haben Sie heute morgen eine Nachricht von Poltavo bekommen?«

 

»Nichts Besonderes. Er hat sich mit dem einen oder anderen Agenten in Verbindung gesetzt und die üblichen Briefe geschrieben. Unser Mann, der ihn überwacht, sagt aber, daß er eine große Sache vorhat, von der er uns nicht unterrichtet hat.«

 

»Wenn er uns wirklich betrügt –«

 

»Was könnten Sie dann tun?« fragte Dr. Fall ruhig. »Er ist jetzt nicht mehr in unserer Hand.«

 

Ein leises Summen kam aus der einen Ecke des Raumes.

 

Der Arzt wandte sich bestürzt an Farrington.

 

»Vom Signalturm – was mag das sein?«

 

Hoch über dem Haus erhob sich ein viereckiger einzelner Turm, in dem Tag und Nacht ein Wachtposten stationiert war. Fall ging ans Telefon und nahm den Hörer ab. Er sprach einige Worte und horchte dann. Schließlich hängte er wieder an und berichtete.

 

»Poltavo ist in Great Bradley. Einer unserer Leute hat ihn gesehen und es hierher signalisiert.«

 

»In Great Bradley?« Farrington kniff die Augen zusammen. »Was tut er denn hier?«

 

»Was hatte er neulich in seinem Wagen hier zu schaffen, als er Frank Doughton entführte?« fragte Dr. Fall. »Er wollte damit doch nur den Verdacht auf uns lenken, das ist ganz klar.«

 

Wieder summte es leise, und wieder führte Dr. Fall mit gedämpfter Stimme ein Gespräch mit dem Wachtposten auf dem Turm.

 

»Poltavo befindet sich auf dem Hügelgelände südlich der Stadt«, wandte er sich dann an Farrington. »Er ist offenbar dorthin gekommen, um jemanden zu treffen. Der Posten sagt, daß er ihn vom Turm aus mit seinem Fernglas sehen kann. Er beobachtet auch einen Mann, der auf ihn zukommt.«

 

»Wir wollen selbst nach oben gehen«, erwiderte Farrington.

 

Sie verließen das Zimmer, traten in einen anderen Raum und öffneten dort die Tür eines scheinbaren Schrankes, die aber in Wirklichkeit zu einem der unzähligen Fahrstühle führte, mit denen das Haus versehen und zu deren Inbetriebsetzung das große Kraftwerk notwendig war.

 

Sie gingen in die Kabine und erreichten ein paar Sekunden später das Innere des Turmes, von dessen oberstem Gemach aus man durch zahlreiche Fenster und Teleskope einen vollkommenen Rundblick über die Umgebung des »geheimnisvollen Hauses« hatte. Einer der ausländischen Arbeiter, die Farrington angestellt hatte, beobachtete das entfernt liegende Hügelgelände durch ein großes Fernglas, das auf einem Dreifuß montiert war.

 

»Sehen Sie, dort ist er«, sagte der Mann.

 

Farrington schaute selbst durch das Glas. Es war zweifellos Poltavo. Aber wer mochte der alte Mann sein, der gebückt daherkam und dessen weißer, langer Bart vom Winde zerzaust wurde?

 

Dr. Fall suchte die Gegend mit einem anderen großen Fernglas ab.

 

»Es wird der Vermittler sein«, meinte Farrington schließlich.

 

Sie beobachteten die Begegnung und den Austausch der Briefe. Farrington stieß einen Fluch aus. Aber plötzlich sah er, daß der Fremde auf Poltavo zusprang und daß die beiden auf dem Boden miteinander rangen. Als die Handschellen aufblitzten, wandte er sein bleiches Gesicht Dr. Fall zu.

 

»Mein Gott«, sagte er leise, »er ist in eine Falle gegangen!«

 

Sie sahen sich ein paar Augenblicke schweigend an.

 

»Wird er uns verraten?« Farrington sprach den Gedanken des anderen aus.

 

»Er wird soviel wie möglich verraten. Wir müssen sehen, was sich weiter ereignet. Wenn sie ihn in die Stadt mitnehmen, sind wir verloren.«

 

»Ist irgend etwas von der Polizei zu sehen?« fragte Farrington.

 

Sie suchten den Horizont ab, konnten aber nichts entdecken. Sie beobachteten Mr. Smith, der mit seinem Gefangenen langsam über das Hügelgelände kam.

 

»Sie gehen zu dem kleinen Sommerhaus«, rief Dr. Fall plötzlich.

 

»Unmöglich!« erwiderte Farrington, aber in seinen Augen blitzte Hoffnung auf.

 

»Sie gehen tatsächlich nach Moor Cottage«, sagte Dr. Fall. »Wir müssen schnell handeln!«

 

Im nächsten Augenblick waren die beiden wieder in dem Fahrstuhl und hielten erst an, als sie ganz unten angekommen waren.

 

»Haben Sie eine Pistole bei sich?« fragte Farrington.

 

Fall nickte.

 

Sie verließen die Fahrstuhlkabine und eilten einen gewölbten Gang entlang. In gewissen Abständen brannten Lampen in Nischen. Sie kamen an einer Tür vorbei, die an der linken Seite in die starke Mauer eingelassen war.

 

»Wir müssen sie hier herausbringen, wenn es notwendig ist«, sagte Farrington leise. »Sie macht uns doch keine Schwierigkeiten?«

 

»Sie ist eine sehr ruhige Gefangene.«

 

Am Ende des langen Ganges befand sich eine schwere eiserne Tür. Fall schloß sie auf, und sie traten in einen dunklen Raum. Dr. Fall drehte den Lichtschalter an. Es war ein kleines Zimmer ohne Fenster, das indirekt beleuchtet wurde. In einer Ecke war eine graugestrichene, eiserne Schiebetür zu sehen. Dr. Fall schob sie geräuschlos beiseite, und ein anderer Fahrstuhl wurde sichtbar. Die beiden gingen hinein, und der Fahrstuhl sank und sank, als ob er niemals auf Grund kommen würde. Aber schließlich hielt er doch an, und die Männer traten in einen aus dem Felsen gehauenen Gang.

 

Es war leicht zu erkennen, daß es einer der alten Stollen des Bergwerks war, das nicht mehr benutzt wurde und über dem das Haus errichtet war. Fall tastete nach dem Schalter, und gleich darauf strahlte helles Licht auf.

 

Auf den Schienen, die den Gang entlangliefen bis zu einer Stelle; die sie von ihrem Standpunkt aus nicht sehen konnten, stand ein kleiner Wagen, der durch elektrischen Antrieb bewegt werden konnte. Eine dritte Schiene führte den Strom zu.

 

Farrington stieg ein, und Dr. Fall folgte ihm. Bläuliche Funken knisterten auf der mittleren Schiene, als der kleine Wagen in Bewegung gesetzt wurde. Bald war er in voller Fahrt.

 

In den Kurven verlangsamten sie die Geschwindigkeit – wenn sie lange Strecken vor sich hatten, fuhren sie schneller. Nach fünf Minuten stellte Farrington den Strom ab und zog die Bremsen an. Sie stiegen in einem großen Räume aus, der ähnlich dem war, von dem sie abgefahren waren. Auch hier war wieder ein Fahrstuhl eingebaut, der sie in die Höhe brachte.

 

»Wir wollen langsam fahren«, flüsterte Dr. Fall Farrington ins Ohr. »Es hat keinen Zweck, Geräusche zu verursachen und Verdacht zu erregen. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es jetzt mit Mr. Smith zu tun haben.«

 

Farrington nickte, und plötzlich stand der Fahrstuhl von selbst still. Sie machten keinen Versuch, die Tür zu öffnen. Sie konnten Stimmen hören: Mr. Smith und Poltavo unterhielten sich miteinander. In diesem Augenblick sprach der Pole.

 

Er erbot sich, alles zu verraten. Die beiden waren im Dunkeln Zeugen seiner Hinterlist. Sie hörten auch, daß das Auto ankam und daß sich der Detektiv entfernte. Eine Tür schlug zu, und ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Dr. Fall trat einen Schritt vorwärts, drückte eine Feder in dem Holzwerk, vor dem er stand, und eins der Paneele glitt lautlos zur Seite.

 

Poltavo sah die beiden nicht, bis sie vor ihm standen. Als er dann in ihre haßerfüllten Gesichter blickte, wußte er, welches Schicksal ihn erwartete.

 

»Was wollen Sie?« flüsterte er kaum vernehmlich.

 

»Seien Sie ruhig«, sagte Farrington leise, »oder Sie sind ein toter Mann.« Er hielt ihm die Spitze eines Messers an die Kehle.

 

»Wohin bringen Sie mich?« fragte Poltavo, der totenbleich geworden war und von Kopf bis Fuß zitterte.

 

»Dahin, wo Sie möglichst wenig Gelegenheit haben, uns zu verraten«, erwiderte Dr. Fall.

 

Ein höhnisches Lächeln zeigte sich auf seinen Zügen. Poltavo, der ahnte, was ihm jenseits des Tunnels bevorstand, vergaß das Messer an seiner Kehle und schrie.

 

Starke Hände packten ihn und unterdrückten den Schrei. Poltavo fühlte einen Schlag hinter dem Ohr und verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, befand er sich auf dem kleinen elektrischen Wagen, der den alten Bergwerksstollen entlangfuhr. Er lag halb auf dem Boden, halb stützte er sich gegen Dr. Falls Knie. Er machte keinen Versuch, sich zu bewegen. Es wurde kein Wort gesprochen, als sie ihn aus dem Wagen zerrten, in einen anderen Fahrstuhl brachten und nach oben fuhren. Schließlich standen sie wieder in dem kleinen Zimmer am Ende des Ganges, der unter dem »geheimnisvollen Haus« entlanglief.

 

Eine Tür wurde geöffnet, und Poltavo wurde hineingestoßen. Er hörte, daß sich die Stahltür hinter ihm schloß. Als der Raum erhellt worden war, erkannte er, daß er sich in seinem früheren Gefängnis befand.

 

Dort standen der Tisch und der schwere Stuhl, in der Ecke war der verschlossene Eingang zu dem anderen Fahrstuhl. Immerhin war er jetzt nicht mehr in den Händen der Polizei, das war sein erster Gedanke, der ihn in gewisser Weise beruhigte. Er war hier allerdings auch nur so lange sicher, als es Farrington und seinem Freund gut dünkte. Was würden sie mit ihm beginnen? Wie konnte er sich entschuldigen? Sie hatten seine Unterhaltung mit dem Detektiv angehört, dessen war er sicher. Er ärgerte sich über seine Torheit. Er hätte nicht nach Moor Cottage gehen sollen. Es lag etwas Unheimliches über diesem Platz. Aber Mr. Smith hätte das doch besser wissen sollen als er. Warum hatte er ihn allein gelassen?

 

Diese und tausend andere Fragen schossen ihm durch den Kopf, als er unruhig in dem gewölbten Raum auf und ab ging. Diesmal hatten sie keine Eile, ihn mit Nahrung zu versorgen. Er hatte fast vergessen, welche Zeit es war. In diesem unterirdischen Gewölbe, in das kein Sonnenstrahl drang, war es ja auch gleich, ob es Tag oder Nacht war. Sie hatten ihm nicht einmal die Handschellen abgenommen. Würden sie nun kommen und ihn davon befreien? Was hatten sie mit ihm vor? Er fühlte sorgfältig an seinen Taschen entlang. Mr. Smith hatte ihm die einzige Waffe genommen, die er mit sich führte. Zum erstenmal seit vielen Jahren war Poltavo unbewaffnet.

 

Sein Herz schlug zum Zerspringen, und er atmete schwer. Eine entsetzliche Angst packte ihn. Er wandte sich nach der Wand und wollte die Tür suchen, durch die er hereingekommen war, aber zu seinem größten Erstaunen war sie nicht zu finden. So weit er sehen konnte, lief die Steinwand ohne Unterbrechung von einem Ende des Raumes zum anderen. Entfliehen konnte er nicht, er mußte geduldig warten, bis er ihre Pläne entdeckte. Er zweifelte nicht daran, daß es ihm schlechtgehen würde, denn er hatte jedes Recht auf ihr Vertrauen verwirkt. Aber wenn das die einzige Folge seines Verhaltens gewesen wäre, hätte ihn das wenig gekümmert. Er hatte sich Dr. Fall gegenüber gerühmt, daß er schon in sehr schwierigen Lagen gewesen war und dem Tod in manchen merkwürdigen und schrecklichen Situationen ins Auge gesehen hatte, aber die Überzeugung, daß er einem unvermeidlichen Schicksal nicht entgehen konnte, war noch nie so stark in ihm aufgetaucht wie diesmal. Denn er lag im Keller des »geheimnisvollen Hauses«, von hundert geheimen Kräften bewacht.

 

Es blieb ihm nur die schwache Hoffnung, daß Mr. Smith entdecken würde, auf welche Weise er aus dem Raum in Moor Cottage entführt worden war, und ihm bis hierher folgen würde.

 

Offenbar befürchteten die Bewohner des »geheimnisvollen Hauses« dasselbe, denn selbst hier in der Stille des unterirdischen Gefängnisses konnte Poltavo sonderbare Geräusche hören. Es polterte und knirschte, als ob die Konstruktion des ganzen Hauses von Grund auf geändert würde.

 

Er brauchte nicht lange zu warten. Der Fahrstuhl in der Ecke des Raumes kam schnell herunter, und Dr. Fall trat ein.

 

»Mr. Smith ist im Haus«, sagte er. »Er nimmt eine Durchsuchung vor. In einigen Augenblicken wird er hier unten sein. Unter diesen Umständen muß ich Ihnen allerdings eins der Geheimnisse dieses Hauses verraten.« Er packte ihn heftig am Arm und führte ihn halb, halb zerrte er ihn in eine Ecke des Zimmers. Da Poltavo gefesselt war, konnte er keinen Widerstand leisten. Scheinbar berührte Dr. Fall nur einen Teil der Wand, aber er mußte entweder mit der Hand oder mit dem Fuß auf eine starke Feder gedrückt haben, denn ein Teil der Steinwand schwang nach rückwärts und enthüllte eine dunkle Öffnung.

 

»Gehen Sie hier hinein«, sagte Dr. Fall und stieß ihn ins Dunkle.

 

Wenige Augenblicke später betrat Mr. Smith in Begleitung dreier Detektive den Raum, den Poltavo eben verlassen hatte, aber er konnte keine Spur von dem Gefangenen finden, der hier geweilt hatte.

 

Poltavo mußte im Dunkeln warten. Er befand sich in einem kleinen, zellenartigen Raum, der offenbar nur den einen Eingang hatte, durch den er gekommen war.

 

Er konnte allerdings unbehindert atmen, denn das Entlüftungssystem in den Kellerräumen war großartig und genial angelegt.

 

Die zwanzig Minuten, die er allein blieb, erschienen ihm wie Stunden. Endlich öffnete sich die Tür wieder, und er wurde herausgerufen.

 

Farrington war jetzt in dem Raum. Er war von Dr. Fall, seinem treuen Assistenten, und dem einäugigen Italiener begleitet. Poltavo erinnerte sich, daß er diesen Mann im Kraftwerk gesehen hatte, als man ihm eines Tages erlaubte, die Anlage zu besichtigen.

 

Der Raum sah etwas verändert aus. Poltavo war so nervös, daß er das sofort wahrnahm. Der Tisch war zurückgezogen, so daß der auf dem Boden befestigte Stuhl frei stand.

 

Er hatte sich schon das erstemal über die schweren Schrauben gewundert, die ihn festhielten. Dr. Fall und der Italiener packten ihn derb, führten ihn quer durch den Raum und stießen ihn auf den Stuhl.

 

»Was haben Sie vor?« fragte Poltavo totenbleich.

 

»Das werden Sie gleich sehen.«

 

Sie nahmen ihm die Handfesseln ab und schnallten ihn geschickt an den Stuhl. Seine Handgelenke und Ellenbogen wurden an den Armlehnen, seine Schenkel an den Beinen des massiven Möbels befestigt.

 

Poltavo sah Farrington vor sich stehen. Das Gesicht des großen Mannes war erstarrt wie eine Maske. Kein Muskel bewegte sich darin, die Augen waren fest auf den Verräter gerichtet. Dr. Fall kniete nieder, und Poltavo hörte, wie Tuch zerrissen wurde.

 

Er hatte jedes seiner beiden Hosenbeine aufgerissen.

 

»Soll das Ganze ein Scherz sein?« fragte Poltavo mit einer verzweifelten Anstrengung, seine Furcht zu überwinden.

 

Aber er erhielt keine Antwort.

 

Er beobachtete seine Kerkermeister mit wachsendem Entsetzen. Was war der Sinn all dieser Vorbereitungen? Die beiden Männer, die sich an dem Stuhl zu schaffen machten, hoben merkwürdig aussehende Gegenstände vom Boden auf und befestigten sie an jedem seiner Handgelenke. Er fühlte die kalte Oberfläche einer Metallplatte, die sich gegen seine Haut drückte. Noch war er sich nicht über die Gefahr klar, in der er schwebte, noch ahnte er nichts von dem grausamen Entschluß der beiden Männer, deren Geheimnis er hatte verraten wollen.

 

»Mr. Farrington«, wandte er sich bittend an den großen Mann, »wir wollen uns doch verständigen. Ich habe verloren.«

 

»Das stimmt«, erwiderte Farrington. Es waren seine ersten Worte.

 

»Geben Sie mir genug Geld, daß ich das Land verlassen kann, nur das Geld, das ich in der Tasche habe, und ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen nie wieder Schwierigkeiten bereiten werde.«

 

»Mein Freund, ich habe Ihnen nur zu lange getraut. Sie haben sich mir aufgedrängt, als ich Sie nicht wünschte, Sie haben meine Pläne bei allen möglichen Gelegenheiten durchkreuzt, Sie haben mich betrogen, wann es Ihnen nur möglich war oder wann sich Ihnen ein Vorteil dadurch bot. Ich bin fest entschlossen, Ihnen jede Möglichkeit zu nehmen, mir noch einmal zu schaden.«

 

»Was soll denn dieses Theater bedeuten?« fragte Poltavo. Blinde Furcht und Wut kämpften in ihm.

 

Jetzt erst entdeckte er, daß die sonderbaren Klammern an seinen Handgelenken durch dicke, grüne Schnüre mit einem Kontakt in der Wand verbunden waren. Er stieß einen entsetzten Schrei aus, als er das sah, und nun wurde ihm der schreckliche Ernst seiner Lage plötzlich klar.

 

»Mein Gott!« schrie er. »Sie wollen mich doch nicht umbringen?!«

 

Farrington nickte langsam.

 

»Ja, wir werden Sie schmerzlos töten, Poltavo. Wenn wir weiterleben wollen, müssen Sie sterben. Wir werden Ihnen keine unnötigen Qualen bereiten, aber das Abenteuer Ihres Lebens ist nun zu Ende, mein Freund.«

 

»Sie werden mich doch nicht durch elektrischen Strom töten?« stöhnte der Mann in dem Stuhl. Seine Stimme war heiser und krächzend geworden. »Sagen Sie doch, daß es nicht wahr ist sagen Sie, daß Sie mich nicht hinrichten wollen, Farrington! Geben Sie mir doch die Möglichkeit, zu leben – machen Sie mit mir, was Sie wollen, übergeben Sie mich der Polizei! Alles andere, nur das nicht, Farrington, nur das nicht!«

 

Farrington gab einen kleinen Wink, Dr. Fall ging zur Wand und legte seine Hand auf einen großen, schwarzen Schalter.

 

»Ich verrate Sie nicht …« Poltavos Stimme klang hohl. »Geben Sie mir doch die Möglichkeit … Ich werde ihnen nicht sagen – daß Sie –«

 

Dann verstummte er plötzlich, denn der schwarze Schalter hatte sich umgedreht, und der Tod kam mit blitzartiger Schnelligkeit über Poltavo.

 

Die drei Männer beobachteten die Gestalt. Man sah noch ein leises Zittern in den Händen, dann nickte Farrington, und der Arzt drehte den Schalter wieder ab.

 

Schnell lösten sie alle Fesseln, und der bewegungslose Körper glitt von dem Stuhl herunter.

 

So starb Ernesto Poltavo, ein Abenteurer und ein Schurke, in der Blüte seines Lebens.

 

Farrington schaute mit düsteren Blicken auf die Leiche. Er wollte eben etwas sagen, als plötzlich eine scharfe Stimme hinter ihm erklang.

 

»Hände hoch!«

 

Die steinerne Tür, durch die Poltavo vom Korridor zu seiner Richtstätte gebracht worden war, stand weit offen, und im Eingang stand Mr. Smith, dicht hinter ihm tauchte Ela auf. Eine Pistole blitzte in der Hand des Detektivs auf.

 

Kapitel 18

 

18

 

Drei Tage nach dem Austausch der Briefe ging Graf Poltavo in dem groben Anzug eines Landedelmanns langsam über die Hänge im Süden der Stadt bis zum höchsten Punkt, einem großen, sanft ansteigenden Hügel, von dessen Spitze aus man nach jeder Richtung hin einen weiten Überblick hatte.

 

Der Himmel war bedeckt, und ein kühler Wind wehte. Man konnte sicher sein, daß sich bei diesem Wetter keine Spaziergänger in dieser Gegend aufhielten. Zu seiner Linken, halb verborgen durch die Hügelkette und einen graublauen Dunstschleier, lag Great Bradley mit seinem regen industriellen Leben. Rechts war die massige, häßliche Fassade des »geheimnisvollen Hauses« zu sehen, die jedoch halb durch die umgebenden Baumgruppen verdeckt war. Daneben ragte ein Schornstein auf, aus dem dünne Rauchwolken zum Himmel aufstiegen. Hinter diesem lag das alte Maschinenhaus des verlassenen Bergwerks und rechts davon das hübsche, kleine Landhaus, aus dem Lady Constance Dex vor einer Woche so rätselhaft verschwunden war. Es war das Ziel vieler Neugieriger geworden.

 

Lady Constance Dex war nun schon seit neun Tagen verschwunden. Man hatte sich ihre unerwartete Abwesenheit auf verschiedene Weise zu erklären versucht. Die Polizei von Great Bradley hatte systematisch und mit großer Gründlichkeit alles durchsucht. Nur Mr. Smith und die wenigen Leute, die er in sein Vertrauen zog, waren davon überzeugt, daß sie sich nicht weit von Moor Cottage aufhalten konnte.

 

Graf Poltavo hatte sich mit einem sehr guten Feldstecher versehen und beobachtete nun sorgfältig alle Straßen, die zu seinem Standort führten. Ein Auto, das aus dieser Entfernung unheimlich klein aussah, fuhr die gewundene weiße Chaussee entlang, etwa zwei Meilen entfernt. Er hielt es im Brennpunkt seines Glases, als es einen Hügel in die Höhe fuhr, auf der anderen Seite wieder in das Tal hinunterglitt und schließlich in einer Staubwolke auf der Straße nach London entschwand. Dann entdeckte er plötzlich den Boten. Quer durch das hügelige Gelände kam die gebeugte Gestalt eines Mannes auf ihn zu, der ab und zu anhielt und sich umschaute, als ob er nicht recht wüßte, welche Richtung er einschlagen sollte. Poltavo hatte sich flach auf den Boden gelegt und sein Glas auf ihn gerichtet.

 

Er sah einen alten Mann mit weißem Bart und grauem Haar. Er trug einen handgewebten Anzug, keinen Kragen und hielt den Hut in der Hand. Sein Hemd war am Halse geöffnet, er hatte aber ein Halstuch umgebunden. Alle diese Einzelheiten konnte Poltavo durch seinen scharfen Feldstecher erkennen. Er war befriedigt.

 

Das war kein Mann, der ihn überlisten wollte. Poltavo hatte umfangreiche Vorsichtsmaßregeln getroffen. Auf. den drei Wegen, die zu diesem Gelände führten, hatte er in gleichmäßiger Entfernung von seinem Standort drei Automobile aufgestellt. Er war auf alle möglichen Entwicklungen der Lage gefaßt. Wenn er fliehen mußte, konnte er ein Auto erreichen, welchen Weg er auch immer einschlagen mußte, und auf diese Weise konnte er einen großen Abstand zwischen sich und seine Verfolger bringen.

 

Der Mann kam näher. Poltavo prüfte ihn noch einmal hastig aus kurzer Entfernung und war zufrieden. Dann erhob er sich und ging dem Boten entgegen.

 

»Haben Sie einen Brief für mich?« fragte er.

 

Der Alte sah ihn argwöhnisch von der Seite an.

 

»Ihr Name?« fragte er rauh.

 

»Mein Name ist Poltavo«, sagte der Pole lächelnd.

 

Langsam faßte der Bote in seine Tasche und holte einen großen Briefumschlag hervor.

 

»Sie müssen mir aber erst etwas geben«, forderte er Poltavo auf.

 

Poltavo händigte ihm ein versiegeltes Paket ein und erhielt dafür den Brief.

 

Wieder blickte er den alten Mann lächelnd an. Abgesehen von dem langen weißen Bart und den grauen Haaren, die unter dem breitkrempigen Hut hervorquollen, hatte der Mann ein verhältnismäßig jugendliches Gesicht.

 

»Dies ist ein historischer Augenblick«, sagte Poltavo fröhlich. Er war in der glücklichsten Stimmung seines Lebens. Alle Hoffnungen, die sich an den Inhalt des Briefumschlages knüpften, der nun in seiner Tasche steckte, stiegen wieder vor seinem Geiste auf. »Nennen Sie mir doch Ihren Namen, lieber Freund, damit ich ihn behalte und gelegentlich einmal, nicht jetzt, auf Ihre Gesundheit trinken kann.«

 

»Mein Name ist T.B. Smith«, sagte der alte Mann langsam, »und ich verhafte Sie unter dem Verdacht der Erpressung.«

 

Poltavo sprang zur Seite. Sein Gesicht war aschgrau geworden. Er fuhr mit der Hand an seine Pistolentasche, aber bevor er seine Absicht ausführen konnte, hatte ihn der Detektiv gepackt. Zwei starke Arme, die hart wie Stahl zu sein schienen, ergriffen ihn, dann fiel er zu Boden, und Mr. Smith kniete auf ihm. Einen Augenblick war er durch den Schrecken wie gelähmt. Schnell nahm er sich wieder zusammen, aber es war schon zu spät, er fühlte etwas Hartes und Kaltes an seinen Handgelenken. Eine Hand packte ihn am Genick und riß ihn vom Boden auf, so daß er wieder auf seinen Füßen stand. Der Detektiv, dessen weißer Bart beim Kampf zerzaust worden war, machte eine komische Figur, aber Poltavo hatte jetzt keinen Sinn mehr für Humor.

 

»Habe ich Sie doch erwischt, mein Freund?« fragte Mr. Smith vergnügt, während er seine Verkleidung abnahm und die graue Schminke von seinem Gesicht abwischte.

 

»Es wird Ihnen schwerfallen, mir etwas zu beweisen«, sagte Poltavo herausfordernd. »Wir sind allein, Sie und ich – und mein Wort gilt ebensoviel wie das Ihre. Was nun den Herzog von Ambury betrifft –«

 

Mr. Smith lachte laut auf.

 

»Armer Mann«, erwiderte er nachsichtig, »es gibt überhaupt keinen Herzog von Ambury! Ich dachte mir, daß Sie im englischen Adel nicht Bescheid wüßten. Aber ich hätte nicht geglaubt, daß Sie so schnell in die Falle gehen würden. Die Herzogswürde von Ambury existiert seit zweihundert Jahren nicht mehr, der Titel wird nicht mehr verliehen. Die Briefe wurden von Ambury Castle an Sie adressiert – das ist eine kleine Vorstadtvilla in der Umgebung von Bolton, deren Miete etwa vierzig Pfund im Jahr beträgt. Wir Engländer haben doch eine größere Phantasie, als Sie uns zutrauen, mein lieber Graf«, fuhr er fort. »Sie spielt eine bedeutende Rolle bei den Namen, die unsere weniger bemittelten Mitbürger ihren Häusern geben.«

 

Er führte seinen Gefangenen quer durch das Hügelgelände.

 

»Was werden Sie mit mir anfangen?« fragte Poltavo.

 

»Ich bringe Sie zuerst zur Polizeistation in Great Bradley von dort lasse ich Sie nach London überführen. Ich habe drei Haftbefehle für Sie, darunter zwei, die auf Ersuchen fremder Regierungen ausgestellt sind, aber ich glaube, die Leute müssen noch ein wenig warten, bis sie Sie wegen Ihrer alten Missetaten zur Rechenschaft ziehen können.«

 

Ihr Weg führte sie an Moor Cottage vorbei. Mr. Smith erwartete hier in einer Viertelstunde mehrere Polizeibeamte, denn er hatte seine Anordnungen genau auf die Minute getroffen.

 

Er öffnete die Haustür und schob seinen Gefangenen hinein.

 

»Wir wollen nicht in das Arbeitszimmer gehen«, sagte er lächelnd. »Vielleicht wissen Sie auch, daß unsere gemeinsame Freundin, Lady Constance Dex, unter ungewöhnlichen Umständen aus diesem Raum verschwunden ist. Da ich Sie aber unter allen Umständen in Gefangenschaft behalten möchte, wollen wir lieber das Wohnzimmer als vorübergehende Zelle wählen.«

 

Er öffnete die Tür zu dem kleinen Raum, in dem das Klavier stand, und wies mit der Hand auf einen der vielen bequemen Sessel.

 

»Nun, mein Freund, haben wir eine Gelegenheit, uns gegenseitig zu verständigen. Ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß Sie einer sehr schweren Bestrafung entgegengehen. Ich weiß, daß Sie nur ein Agent sind und im Auftrag anderer Leute handeln, aber in diesem besonderen Fall gingen Sie auf eigene Faust vor. Sie haben die weitgehendsten Vorbereitungen getroffen, England zu verlassen.«

 

Poltavo lächelte.

 

»Da haben Sie recht«, gab er zu.

 

»Ich habe all Ihre schönen Koffer gesehen – sie sind wunderbar neu und mit feinen Etiketten versehen. Ich habe sie auch durchsucht.«

 

Poltavo hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und drehte mit den gefesselten Händen an seinem Schnurrbart.

 

»Gibt es denn keinen Weg, aus dieser ganzen Affäre wieder herauszukommen?«

 

»Sie können die Sache viel leichter für sich machen«, erwiderte der Detektiv ruhig.

 

»Auf welche Weise?«

 

»Wenn Sie mir alles sagen, was Sie von Farrington wissen, und wenn Sie mir alle Informationen über das ›geheimnisvolle Haus‹ geben, die Sie besitzen. Wo ist zum Beispiel Lady Constance Dex?«

 

Poltavo zuckte die Schultern.

 

»Sie ist am Leben, das kann ich Ihnen ja sagen. Ich erhielt einen Brief von Dr. Fall, in dem er mir so etwas andeutete. Ich weiß nicht, wie sie gefangengenommen wurde, auch kenne ich den genauen Sachverhalt nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, daß sie wohlauf ist und gut versorgt wird. Farrington mußte sie in Sicherheit bringen – sie hat einmal nach ihm geschossen. Deshalb mußte er auch schneller verschwinden, als er ursprünglich beabsichtigte. Er wußte genau, daß sie weitere Gewaltmaßnahmen gegen ihn ergreifen würde. Über die innere Einrichtung des ›geheimnisvollen Hauses‹ weiß ich wenig oder gar nichts. Farrington ist natürlich –«

 

»Mit Montague Fallock identisch«, vollendete Mr. Smith. »Das wußte ich schon.«

 

»Was wollen Sie denn sonst noch von mir wissen?« fragte Poltavo erstaunt. »Ich bin selbstverständlich bereit, Ihnen alles zu sagen, wenn Sie mir die Sache leichtmachen wollen. Der Mann, der dort unter dem Namen Mr. Moole lebt, ist ein halbverrückter alter Landarbeiter, den Farrington vor einigen Jahren zu sich nahm, um ihn seinen Zwecken dienstbar zu machen. Er ist der Mann, der, ohne es zu wissen, als angeblicher Millionär in dem Hause wohnt und dessen Vermögen von Farrington zum Schein verwaltet wird. Das alles ist so arrangiert worden, um den Verdacht zu zerstreuen, der natürlich auf ein Haus fällt, das sonst niemand besucht. Die Bewohner genießen dadurch mehr Sicherheit und Schutz.«

 

»Das ist mir alles klar«, sagte Mr. Smith. »Es ist, wie Sie sagen, eine geniale Idee. Was wissen Sie von Dr. Fall?«

 

Poltavo zuckte die Schultern.

 

»Sie wissen ebensoviel von ihm wie ich. Es gibt aber doch vielleicht noch manche Dinge, die Sie nicht kennen«, fuhr er langsam fort. »Besonders eine Tatsache wäre von ungeheurem Wert für Sie. Sie werden Farrington niemals erwischen.«

 

»Darf ich fragen, warum?« Mr. Smith war sehr interessiert.

 

»Das ist mein Geheimnis«, erklärte der Pole, »und ich bin bereit, es Ihnen zu verkaufen.«

 

»Der Preis?« fragte der Detektiv nach einer Pause.

 

»Meine Freiheit. Ich werde das Geheimnis nur verraten, wenn Sie mich freilassen«, sagte Poltavo kühn. »Ich weiß, daß Sie großen Einfluß bei der Polizei haben und solche Dinge ermöglichen können, besonders, da noch keine Anklage gegen mich erhoben ist. Außerdem können Sie mich höchstens belangen, weil ich durch einen Trick Geld zu bekommen suchte – und auch das dürfte nur sehr schwer zu beweisen sein. Ich weiß wohl, daß Sie das in Abrede stellen, aber bedenken Sie, daß auch ich eine gewisse Kenntnis des Gesetzes und einige Erfahrungen mit englischen Gerichten habe. Ich fürchte mich nicht vor dem englischen Gesetz und nicht vor dem Urteil, das Ihre Richter über mich verhängen werden. Aber mir graut vor der Auslieferung und der Behandlung, die mir dann zuteil werden wird.« Er zitterte. »Nur weil ich die Auslieferung fürchte, mache ich Ihnen dieses Angebot. Bringen Sie alles für mich in Ordnung, und ich will Ihnen nicht nur das Geheimnis von Farringtons Fluchtplan verraten, sondern Ihnen auch eine vollständige Liste seiner Agenten geben, die Sie sonst nirgends finden werden. Während meines Aufenthaltes in dem ›geheimnisvollen Haus‹ war ich vom Morgen bis zum Abend hauptsächlich damit beschäftigt, die Namen und Adressen dieser Leute auswendig zu lernen.«

 

Mr. Smith sah ihn nachdenklich an.

 

»Ihr Vorschlag ist nicht ohne weiteres abzulehnen«, meinte er dann. »Aber ich muß einen Augenblick darüber nachdenken.« Er hörte ein Geräusch auf der Straße und zog den Vorhang beiseite. Ein Wagen war draußen vorgefahren, und einige Beamte von Scotland Yard stiegen aus, unter denen er Ela erkannte.

 

»Ich werde Sie kurze Zeit hier einschließen, während ich mit meinen Freunden berate.«

 

Mr. Smith ging hinaus, schloß die Tür von außen ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Draußen traf er Ela.

 

»Haben Sie ihn?«

 

»Ja, ich habe ihn gefangen – ich hoffe sogar, die ganze Bande jetzt in meiner Hand zu haben.«

 

»Und das ›geheimnisvolle Haus‹?«

 

»Auch das. Es hängt jetzt alles davon ab, was wir mit Poltavo machen. Wenn wir es vermeiden können, ihn vor ein Gericht zu stellen, kann ich diese Verbrecherbande, diese ganze große Organisation, mit einemmal vernichten. Ich weiß, es geht gegen das Gesetz, aber schließlich liegt es im Interesse der öffentlichen Ordnung und des Gesetzes selbst. Wieviel Mann haben wir zur Verfügung?«

 

»Zur Zeit sind etwa hundertfünfzig Leute in Great Bradley. Die Hälfte davon ist dort stationiert, die andere wird von unseren eigenen Beamten gestellt.«

 

»Senden Sie einen Mann mit dem Befehl hin, daß sie das ›geheimnisvolle Haus‹ umstellen sollen. Niemand darf das Gebäude verlassen. Alle ankommenden oder abfahrenden Wagen und Autos sind anzuhalten. Vor allem darf kein Wagen aus Great Bradley heraus, bevor seine Insassen nicht aufs genaueste durchsucht worden sind. – Was ist denn das?« Er wandte sich schnell um.

 

Ein unterdrückter Schrei, der aus dem Hause kam, hatte ihre Unterhaltung unterbrochen.

 

»Rasch!« rief Mr. Smith.

 

Er eilte hinein, erreichte die Tür des Wohnzimmers, in dem er den Gefangenen zurückgelassen hatte, schloß mit fester Hand auf und riß die Tür auf.

 

Der Raum war leer!

 

Kapitel 17

 

17

 

Mr. Smith spielte gerade Golf in Walton Heath, als nach ihm telefoniert wurde.

 

Er brach sofort auf und traf Ela beim Mittagessen im Ritz-Hotel.

 

»Jetzt ist alles verständlich«, sagte er. »Das eigenartige Verschwinden Mr. Farringtons ist aufgeklärt.«

 

»Mir ist aber die endgültige Lösung doch noch ein wenig schleierhaft«, erwiderte Ela unsicher.

 

»Dann will ich es Ihnen einmal in einfachen Worten erklären«, entgegnete Mr. Smith, als er sich eine Sardine von der Horsd’oeuvre-Platte nahm. »Farrington wußte schon lange, daß George Doughton der gesuchte Tollington-Erbe war. Er kannte dieses Geheimnis seit vielen Jahren. Aus diesem Grund ließ er sich auch in Great Bradley nieder, wo die Doughtons beheimatet waren. Offenbar waren damals die älteren Doughtons schon gestorben, und nur George Doughton, der etwas romantische und unpraktische Wissenschaftler, repräsentierte die Familie.

 

George hatte sich in die jetzige Lady Constance Dex verliebt, und da Farrington das wußte, tat er alles, um sich bei ihr beliebt zu machen. Er wußte, daß das Vermögen zu gleichen Teilen an Doughton und seine Frau fallen sollte. George Doughton war Witwer und hatte einen Sohn, der damals zur Schule ging. Es ist sehr leicht möglich, daß Farrington den Jungen, der nur in den Ferien nach Great Bradley kam, nicht kannte und keine Ahnung von seiner Existenz hatte.

 

Die Tatsache, daß dieser Knabe am Leben war, muß seine Absichten geändert haben. Immerhin schien er der Verlobung der beiden nichts in den Weg zu legen, während er einen Plan ausdachte, durch den er einen großen Teil der Tollington-Millionen für sich erwerben konnte. Aber er muß sein Vorhaben noch einmal geändert haben.

 

Während seines Aufenthalts in Great Bradley wurde ihm die Pflegschaft von Doris Gray anvertraut, und als er sich mehr und mehr für das junge Mädchen interessierte und sie liebgewann, muß er die außerordentlich günstige Chance wahrgenommen haben, die ihm das Schicksal gewissermaßen in die Hände spielte. Diese Liebe zu Doris Gray war einer seiner wenigen schönen Charakterzüge.

 

Mit teuflischer List und Genialität, mit rücksichtsloser Konsequenz, die an die unheimlichen Taten der Borgias erinnert, plante er zuerst George Doughtons Tod, um dann dessen Sohn mit seinem Mündel zu verheiraten. Er machte die beiden jungen Leute miteinander bekannt, gab ihnen Gelegenheit, sich häufig zu sehen, und hoffte, auf diese Weise das gewünschte Resultat zu erzielen.

 

Aber die Dinge entwickelten sich nicht schnell genug für ihn. Außerdem muß er, wie kürzlich die anderen Treuhänder, plötzlich erfahren haben, daß das Testament einen bestimmten Termin zur Auffindung des Erben setzte. Infolgedessen versuchte er, seine Nichte zu beeinflussen, aber er fand wenig Gegenliebe bei ihr. Er hat sogar den kühnen Trick versucht, Frank Doughton dazu anzustellen, sich selbst zu entdecken! Hiermit verband er eine doppelte Absicht. Einmal mußte der junge Mann dann dauernd mit ihm in Verbindung bleiben, zweitens wurden die anderen Treuhänder zufriedengestellt, die Farrington den Auftrag gegeben hatten, die nötigen Maßnahmen zur Auffindung des vermißten Erben zu ergreifen.

 

Aber alle Bemühungen, Doris Gray einer Heirat mit Frank Doughton geneigt zu machen, mißlangen. Der Termin näherte sich immer mehr, an dem er das Vermögen des jungen Mädchens aushändigen mußte. Seine Vormundschaft erlosch zufällig zu demselben Zeitpunkt, an dem auch die Frist zur Auffindung des Erben ablief. Farrington wurde also zu einem verzweifelten Schritt getrieben. Aber es gab natürlich auch noch andere Gründe für seine Handlungsweise.

 

Ausschlaggebend für ihn war auch die Erkenntnis, daß ich ihn verdächtigte, und die Gewißheit, daß Lady Constance ihn verraten würde, sobald sie entdeckte, daß er für den Tod ihres Geliebten verantwortlich war. Aber der Hauptgrund für sein Verschwinden war das Testament, das nach seinem angeblichen Tod eröffnet und verlesen wurde.

 

In diesem Testament setzte er unumstößlich fest, daß Doris Frank Doughton unverzüglich heiraten sollte. Vermutlich weiß sie jetzt, daß Farrington noch lebt. Wahrscheinlich enthüllte er ihr seine Pläne, soweit sie seinen angeblichen Tod betrafen, weil er von Schrecken erfaßt wurde, daß sie noch zögerte.«

 

Mr. Smith schaute durch das Fenster auf den Verkehrsstrom, der Piccadilly entlangflutete. Auf seinem Gesicht drückten sich Sorge und Zweifel aus.

 

»Ich könnte Farrington morgen fassen, wenn ich wollte«, sagte er nach einer Weile, »aber ich möchte nicht nur ihn, sondern seine ganze Organisation in die Hand bekommen.«

 

»Was halten Sie denn von dem Verschwinden der Lady Constance Dex?« fragte Ela. »Während wir warten, ist sie doch schließlich in Gefahr?«

 

Mr. Smith schüttelte den Kopf.

 

»Wenn sie in diesem Augenblick noch nicht tot ist, wird ihr nichts geschehen. Wenn Farrington sie töten wollte – denn er war es, der sie entführt hat –, hätte er es ebensogut in ihrem Hause tun können. Niemand hätte diesen Mord aufklären können. Lady Constance muß warten. Wir müssen dem Glück so lange trauen, bis ich in der Lage bin, den unterirdischen Raum zu inspizieren, wo sie gefangengehalten wird. Ich will dieser Erpresserbande ein für allemal das Handwerk legen, die direkt unter den Augen der Polizei und allen Gesetzen zum Hohn ihr Unwesen treibt. Bevor mir das nicht gelungen ist, will ich nicht mehr ruhig schlafen!«

 

»Und Poltavo?«

 

»Auch Poltavo kann noch ein wenig warten«, meinte Mr. Smith lächelnd.

 

Er zahlte die Rechnung; sie verließen das Hotel und überquerten die Straße. Ein Mann, der scheinbar die Auslagen in den Schaufenstern betrachtete, beobachtete sie, als sie herüberkamen, und folgte ihnen unauffällig. Ein anderer, der auf der entgegengesetzten Seite der Straße entlangkam und ostentativ in einer Zeitung las, kam dicht hinter ihnen her.

 

Mr. Smith und sein Begleiter erreichten die Cork Street, die verlassen dalag. Nur ein oder zwei Fußgänger waren zu sehen. Der erste der beiden Verfolger beschleunigte jetzt seine Schritte, griff nach seiner Hüfttasche und zog einen Gegenstand hervor, der in der Aprilsonne aufglänzte. Aber bevor er die Hand erheben konnte, holte der vierte Mann ihn ein, ließ seine Zeitung fallen, schlang mit außerordentlicher Geschicklichkeit einen Arm um den Hals des Mannes, drückte ihm das Knie in den Rücken und entwand ihm die Pistole.

 

Mr. Smith wandte sich bei dem Lärm des Kampfes sofort um und eilte dem Detektiv zu Hilfe. Der Gefangene war von kleiner Gestalt, hatte scharfgeschnittene Gesichtszüge und war offenbar Italiener. Ein dünner schwarzer Schnurrbart, buschige, dichte Brauen und lebhafte braune Augen, die jetzt haßerfüllt aufloderten, sprachen für seine südliche Heimat.

 

Die drei Beamten hatten ihn bald durchsucht und entwaffnet und legten ihm kräftige Handschellen an. Bevor sich die unvermeidliche Menge neugieriger Menschen ansammeln konnte, saßen sie schon in einem Auto und fuhren die Vine Street entlang.

 

Der Mann wurde sofort verhört. Man stellte die üblichen Fragen an ihn, aber er war verstockt und antwortete nicht. Niemand zweifelte daran, daß er die Absicht hatte, Mr. Smith meuchlings zu ermorden. Denn außer der Pistole, mit der er offensichtlich sein Opfer hatte niederschießen wollen, fand man noch ein langes Dolchmesser in seiner Brusttasche. Aber der wichtigste Fund, den man bei ihm machte und der das größte Interesse von Mr. Smith erregte, war ein Blatt Papier, auf dem drei Zeilen in italienischer Sprache standen. Sie wurden sofort übersetzt, und es war daraus zu ersehen, daß dem Mann genaue Instruktionen gegeben waren, wo sich Mr. Smith aufhielt.

 

»Führen Sie ihn in eine Zelle – ich glaube, wir werden noch hinter diese Sache kommen. Wenn dieser Mann nicht ein von Poltavo gedungener Meuchelmörder ist, dann habe ich mich sehr geirrt!«

 

Der Gefangene beantwortete keine Frage. Mr. Smith gab es schließlich verzweifelt auf, ihn durch weiteres Verhör zu einem Geständnis zu bringen.

 

Am nächsten Morgen weckte man den Mann bei Tagesanbruch und bedeutete ihm, sich schnell anzukleiden. Er wurde von zwei Beamten auf die Straße geführt, wo ein Auto wartete, das ihn gleich darauf in schneller Fahrt nach Dover brachte. Zwei Detektive begleiteten ihn auf einen Dampfer und fuhren mit ihm nach Calais. Dort verabschiedeten sie sich freundlich von ihm, überreichten ihm noch hundert Franc und teilten ihm in seiner eigenen Sprache mit, daß er auf Grund eines Befehls des Innenministeriums des Landes verwiesen sei.

 

Der Mann war froh, wieder auf freiem Fuß zu sein, und benützte den größten Teil des ihm übergebenen Geldes dazu, ein langes Telegramm an Poltavo zu senden.

 

Mr. Smith, der bestimmt wußte, daß dieses Telegramm kommen würde, wartete in der Empfangsstation der Londoner Hauptpost schon darauf. Man überreichte ihm eine Kopie der Depesche, und er las sie lächelnd.

 

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte er zu dem Vorstand und reichte ihm das Formular zurück. »Ich gebe es zur Bestellung frei. Ich weiß jetzt alles, was ich wissen wollte.«

 

Poltavo erhielt die Botschaft eine Stunde später und fluchte nicht wenig über die Unvorsichtigkeit seines Agenten. Das Telegramm war in offener italienischer Sprache abgefaßt, und jeder, der die Sprache beherrschte, konnte es lesen und auch verstehen, wenn er Kenntnis von den Tatsachen hatte, auf die es sich bezog.

 

Poltavo wartete den ganzen Tag auf einen Besuch der Polizei, und als Mr. Smith gegen Abend bei ihm vorsprach, war er darauf vorbereitet, alles erklären und entschuldigen zu können. Aber er war sehr erstaunt, als man ihn weder um eine Erklärung noch um eine Entschuldigung bat. Die Frage, die Mr. Smith an ihn stellte, berührte eine ganz andere Angelegenheit. Er erkundigte sich nämlich nach Mrs. Doughton und ihrem verschwundenen Vermögen.

 

»Ich hatte das Vertrauen Mr. Farringtons«, sagte Poltavo, der froh war, daß der Besuch des Detektivs nichts mit der gefürchteten Sache zu tun hatte. »Aber ich war aufs höchste erstaunt, als ich entdeckte, daß der Schrank vollständig leer war. Es war ein böser Schicksalsschlag für die arme junge Dame. Sie ist jetzt mit ihrem Gatten in Paris.«

 

Mr. Smith nickte.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein, mir ihre Adresse zu geben?«

 

»Mit Vergnügen.« Graf Poltavo nahm sein Notizbuch aus einer Schublade.

 

»Es ist möglich, daß ich morgen selbst nach Paris fahre«, fuhr Mr. Smith fort. »Ich habe die Absicht, das junge Paar aufzusuchen. Es ist zwar nicht sehr korrekt, Jungvermählte auf der Hochzeitsreise zu stören, aber ein Polizeibeamter besitzt Vorrechte!«

 

Die beiden lächelten sich verständnisinnig an. Poltavo fühlte sich erleichtert, daß der Besuch des Detektivs sich nicht auf seine eigene Person bezog. Er hatte vor diesem hervorragenden Beamten von Scotland Yard einen gewaltigen Respekt, der allerdings zum größten Teil aus Furcht vor ihm bestand. Er maß Mr. Smith Fähigkeiten bei, die dieser Mann vielleicht gar nicht besaß, aber auf der anderen Seite gestand er ihm gewisse Eigenschaften wie List und Schläue nicht zu, die zu den vortrefflichsten Kampfmitteln des Detektivs gehörten. Wer konnte auch annehmen, daß Mr. Smith Poltavo an diesem Abend nur besuchte, um dessen Argwohn zu zerstreuen und ihn in Sicherheit zu wiegen?

 

Nachdem die üblichen Höflichkeitsphrasen zum Abschied gewechselt waren, trennten sie sich.

 

Poltavo machte sich an die Ausarbeitung eines neues Falles, der der interessanteste aller Erpressungsversuche werden sollte, die mit Fallock in Verbindung standen.

 

Er wartete, bis die Tür sich hinter dem Detektiv geschlossen hatte, und beobachtete dann vom Fenster aus, daß er in sein Auto stieg und davonfuhr. Erst dann schloß er die unterste Schublade seines Schreibtisches auf, drückte auf eine Feder in deren Doppelboden und öffnete ein Geheimfach, dem er ein kleines Paket von Briefen entnahm.

 

Viele der Bogen, die er auf dem Tisch ausbreitete, trugen das Erdbeerblatt und das Wappen der Herzogs von Ambury. Die Briefe zeigten eine wenig flüssige Handschrift, aber sie waren alle sehr wichtig. Der Herzog hatte sich in jungen Jahren mit einer Dame in Gibraltar verheiratet. Sein Regiment lag damals in der Festung, und seine Erbfolge war zu jener Zeit nur eine entfernte Möglichkeit. Die Frau, mit der er sich, wie die Briefe bewiesen, vermutlich unter dem Namen eines Mr. Wilson verheiratet hatte (eine Abschrift der Heiratsurkunde lag auch bei den Schriftstücken), war eine typische, faszinierend schöne Spanierin, aber sie war nicht von hoher Geburt.

 

Offenbar bereute der Herzog später diesen übereilten Schritt, denn zwei Jahre, nachdem er den Titel erhalten hatte, vermählte er sich mit der dritten Tochter des Earl von Westchester, ohne – soweit Poltavo es übersehen konnte – sich von seiner ersten Frau scheiden zu lassen.

 

Hier war eine glänzende Sache, die beste, die jemals diesen Erpressern in die Hände gefallen war. Der Herzog von Ambury war einer der reichsten Leute in England, halb London gehörte ihm, und seine Güter lagen in fast allen Grafschaften des Landes verstreut. Wenn jemand in der Lage war, gut zu zahlen, so war er es.

 

Die Spanierin war gestorben, aber sie hatte einen Sohn aus ihrer Ehe mit dem jetzigen Herzog. Die ganze Frage der Erbschaft des Titels und der Nachfolge wurde von der Veröffentlichung dieser Dokumente betroffen. Alle Beweise für die Einzelheiten des Falles befanden sich in Poltavos Besitz. Eine merkwürdig steife Handschrift füllte die Seiten der Briefe, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Sogar eine Kopie der Todesurkunde hatte der verräterische Diener angefertigt. Die Sache war schon im Fluß, und Poltavo hatte unter den Annoncen in der »Times« bereits Antwort auf den Brief erhalten, den er seinem Opfer geschickt hatte.

 

Die Erwiderung lautete sehr günstig. Es stand nichts von Rechtsanwälten darin, es war auch nicht angedeutet, daß man die Sache der Polizei anzeigen würde. Der Herzog wollte tatsächlich zahlen, er wollte jedes pekuniäre Opfer bringen, um seine Ehre zu retten.

 

Es handelte sich jetzt nur noch darum, über die Bedingungen einig zu werden. Poltavo hatte die Höhe der Abstandssumme auf fünfzigtausend Pfund festgesetzt. Mit diesem Betrag konnte er England verlassen und ein Leben führen, wie er es sich wünschte, ohne sich jemals wieder in riskante und gefahrvolle Unternehmungen einlassen zu müssen. Nachdem ihm Doris Gray entgangen war, hatte auch der Verkehr in der Gesellschaft keinen Reiz mehr für ihn, und er sehnte sich nach Abwechslung und neuen Abenteuern. Die fünfzigtausend Pfund schienen ihm sicher zu sein. Er hatte zwar ein Abkommen mit Farrington getroffen, wonach er diesem zwei Drittel der Summe auszuzahlen hatte, aber er dachte überhaupt nicht an eine solche Möglichkeit.

 

Er redete sich ein, daß er Farrington in Wirklichkeit in seiner Gewalt habe. Ein Mann, der sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen durfte, war machtlos und konnte ihm nicht gefährlich werden. Er hatte jetzt alle Trümpfe in der Hand. Seine Tätigkeit in London hatte ihm schon etwa zehntausend Pfund eingebracht. Dr. Fall schrieb energische Briefe an ihn, in denen er ihn ersuchte, den Anteil, der für das »Haus« bestimmt war, sofort zu schicken. Aber Poltavo hatte diese Schreiben mit Verachtung behandelt. Er fühlte sich als Herr der Situation, da er den größten Teil des Geldes, das er in der Hand hatte und das nach dem Abkommen nicht ihm allein gehörte, auf eine Pariser Bank überwiesen hatte. Er war auf alle Möglichkeiten gefaßt – und nun stand ihm hier noch ein großer Erfolg bevor. Wenn er das Schweigegeld des Herzogs von Ambury erhalten hatte, konnte er einen Strich unter sein vergangenes Leben ziehen.

 

Er klingelte. Ein Italiener mit abstoßenden Gesichtszügen trat ein. Es war einer der Agenten, die Poltavo von Zeit zu Zeit engagierte, um Dinge zu erledigen, die unter seiner Würde lagen oder deren Ausführung ihm zu gefährlich erschien.

 

»Federigo«, sagte Poltavo auf italienisch. »Antonio ist festgenommen und von der Polizei nach Calais abgeschoben worden.«

 

»Das ist mir bekannt, mein Herr. Er hatte großes Glück. Ich fürchtete schon, daß sie ihn ins Gefängnis stecken würden.«

 

Poltavo lächelte.

 

»Das Vorgehen der englischen Polizei ist manchmal ganz unverständlich. Antonio wollte den ersten Chef des Geheimdienstes ermorden, und sie haben ihn freigelassen! Ist das nicht Wahnsinn? Aber Antonio wird auf keinen Fall wieder zurückkommen. Denn wenn die Leute auch zuweilen verrückt sind, werden sie doch nicht so dumm sein, ihn wieder hier landen zu lassen. Ich habe ihm telegrafiert, nach Paris zu gehen und mich dort zu erwarten. Wenn Sie durch einen unglücklichen Zufall jemals in eine Lage wie unser tüchtiger Antonio kommen sollten, so bitte ich mir aber vor allem aus, daß Sie mir keine Telegramme schicken!«

 

»Darauf können Sie sich verlassen, mein Herr«, erwiderte der Italiener grinsend. »Ich werde Ihnen keine schicken, denn ich kann nicht schreiben.«

 

»Ein ausgezeichnetes Manko!«

 

Poltavo nahm ein Kuvert vom Tisch.

 

»Sie geben diesen Brief einem Manne, der Sie am Branson Square treffen wird. Die genaue Stelle habe ich Ihnen ja schon erklärt.«

 

Der Italiener nickte.

 

»Dieser Mann wird Ihnen dafür einen anderen Brief einhändigen. Sie kommen nicht hierher zurück, sondern gehen zu dem Haus Ihres Bruders in der Great Saffron Street. Dort wird ein Mann vor der Tür stehen, der einen langen Mantel trägt. Sie gehen dicht an ihm vorbei und stecken dieses Kuvert in seine Tasche – haben Sie mich verstanden?«

 

»Jawohl, ich habe mir alles genau gemerkt.«

 

»Dann gehen Sie, und Gott möge Sie beschützen«, sagte Poltavo fromm, als er diesen Brief abschickte, der den Herzog von Ambury in Schrecken und Verwirrung setzen würde.

 

Es war schon spät am Abend, als Federigo Freggetti die Great Saffron Street erreichte. Er eilte durch die verlassene Straße, bis er an das Haus seines Bruders kam. In der Nähe der engen Tür stand ein Mann, der auf jemanden zu warten schien. Federigo ging an ihm vorbei, tat so, als ob er strauchelte, entschuldigte sich und ließ dabei den Brief in die Tasche des anderen gleiten. Mit raschem Blick hatte er den Fremden als den Grafen Poltavo erkannt; auf der Straße war niemand zu sehen, und in dem Halbdunkel hätte selbst das schärfste Auge die Übergabe des Briefes nicht beobachten können. Poltavo ging langsam zum Ende der Straße, sprang in ein Mietauto, das dort auf ihn wartete, und erreichte sein Haus, nachdem er den Wagen noch öfter gewechselt hatte, ohne einem der vielen wachsamen Agenten von Scotland Yard in die Arme zu laufen. In seiner Wohnung öffnete er in höchster Spannung den Brief. Würde der Herzog von Ambury die große Summe zahlen, die er von ihm gefordert hatte? Und wenn dies nicht der Fall war, welchen Betrag würde er als Schweigegeld anbieten? Aber schon bei den ersten Worten, die er las, atmete er auf.

 

*

 

Ich bin bereit, die Summe zu zahlen, die Sie von mir verlangen, obgleich ich der Ansicht bin, daß Sie sich eines schweren Verbrechens schuldig machen. Und da Sie zu fürchten scheinen, daß ich Ihnen irgendeinen Streich spielen könnte, wird Ihnen das Geld durch einen alten Landarbeiter von meinem Gut in Lancashire überbracht werden, der nichts von der Sache weiß, die er vermitteln soll. Er wird Ihnen die Summe gegen Übergabe der Trauungsurkunde aushändigen. Wenn Sie einen Treffpunkt angeben, der all Ihren Anforderungen auf Entlegenheit und Sicherheit entspricht, so werde ich den Mann zu diesem Platz schicken, zu einer Zeit, die Sie bestimmen mögen.

 

Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich auf Poltavos Zügen, als er den Brief zusammenfaltete.

 

»Nun ist es an der Zeit, daß wir uns trennen, Freund Farrington«, sagte er halblaut vor sich hin. »Ich brauche Sie nicht mehr. Der Wert Ihrer Bekanntschaft hat in dem Maße abgenommen, als mein Wunsch nach Freiheit erwacht ist. Fünfzigtausend Pfund«, wiederholte er mit Bewunderung und Freude. »Ernesto, du hast ein ungeahntes Glück! Ganz Europa steht dir offen, und du kannst dieses traurige England verlassen! Ich gratuliere dir, mein Freund!«

 

Die Frage, wo er den Boten treffen würde, war sehr wichtig. Obgleich er aus dem Brief ersah, daß sein Opfer unter allen Umständen den öffentlichen Skandal vermeiden wollte, mit dem Poltavo gedroht hatte, traute er dem Herzog doch nicht recht. Daß er einen alten Landarbeiter senden wollte, war eine gute Idee, aber wo konnte er mit ihm zusammenkommen? Als er Frank Doughton entführte, beabsichtigte er, ihn in ein kleines Haus zu bringen, das er im Osten Londons gemietet hatte. Die Fahrt zu dem »geheimnisvollen Haus« war nur ein Scheinmanöver, um den Verdacht auf Farrington zu leiten und die Polizei von der wirklichen Spur abzulenken. Das Auto sollte nach London zurückkehren, Frank Doughton, unter dem Einfluß eines Betäubungsmittels willenlos gemacht, in das kleine Haus in West-Ham gebracht und dort so lange zurückgehalten werden, bis die Frist abgelaufen war, die Farrington als Termin für die Hochzeit festgesetzt hatte.

 

Aber die Übergabe einer großen Geldsumme in diesem Haus war eine ganz andere Sache. Es war ja möglich, daß die Polizei das Haus umstellte. Um sicherzugehen, mußte er einen Platz im Freien wählen, eine Stelle, die ihm einen klaren Überblick nach jeder Seite hin ermöglichte.

 

Sollte er sich nicht noch einmal für Great Bradley entscheiden? Das wäre in doppelter Hinsicht gut. Wieder fiel dann der Verdacht auf das »geheimnisvolle Haus«, und er hatte dessen Hilfsquellen zu seiner Unterstützung, wenn die Sache im letzten Augenblick schiefgehen sollte. Er konnte ja im schlimmsten Falle erklären, daß er das Geld für Farrington kassieren wolle.

 

Ja, Great Bradley und die öde, abschüssige Gegend im Süden der Stadt wollte er wählen, und er traf alle Vorbereitungen in diesem Sinne.

 

Kapitel 21

 

21

 

Eine Gruppe von Polizisten und Detektiven stand vor dem Tor des »geheimnisvollen Hauses«, als das Auto, in dem Ela und Lady Dex saßen, in schärfstem Tempo heranfuhr.

 

Ela sprang aus dem Wagen, als er noch nicht zum Stillstand gekommen war.

 

»Sie haben Smith gefangen!« rief er dem Inspektor zu, der den Befehl über die anwesende Truppe hatte. »Schließen Sie die Kette um das Haus! Alle bewaffneten Beamten folgen mir!«

 

Er eilte den Gartenpfad entlang, aber er wandte sich nicht nach dem Haus, sondern bog zum Kraftwerk ab.

 

Ein Mann mit grimmigem Gesicht stand im Eingang und maß die Beamten mit bösen Blicken.

 

Er versuchte, die Schiebetür zu schließen, aber Ela packte ihn am Kragen und schleuderte ihn nach innen.

 

Im nächsten Augenblick stand er in der Station und war von wütenden Arbeitern umringt. Ein großer, gutaussehender Mann mittleren Alters, der die Oberaufsicht hatte, kam auf Ela zu. Er trug einen großen Schraubenschlüssel in der Hand, um die Eindringlinge abzuwehren.

 

Aber Elas Pistole sprach von seinen Absichten.

 

»Treten Sie sofort zurück!« rief er. »Führen Sie hier die Aufsicht?«

 

Er sprach fließend italienisch.

 

»Was soll das alles bedeuten, mein Herr?« fragte der Mann.

 

»Ich gebe Ihnen eine Minute Zeit, die große Dynamomaschine zum Stehen zu bringen.«

 

»Aber das ist unmöglich! Das darf ich nicht tun – das ist gegen jegliche Vorschrift und Ordnung.«

 

»Wollen Sie meinem Befehl nachkommen?« stieß Ela zwischen den Zähnen hervor. »Wenn Sie mir nicht gehorchen, sind Sie ein toter Mann.«

 

Der Italiener zögerte und ging dann zu dem großen Schaltbrett, auf dem eine ganze Reihe von Lampen brannte.

 

»Ich will es nicht tun«, sagte er düster. »Dort ist der Hebel legen Sie ihn selbst um.«

 

Plötzlich leuchtete eine rote Lampe auf dem Schaltbrett auf.

 

»Was ist das?« fragte Ela.

 

»Das Signal kommt aus den Kellerräumen«, erwiderte der Italiener. »Sie wollen mehr Strom haben.«

 

Ela wandte sich wütend zu dem Mann um und hob seine Pistole. Eine wilde Entschlossenheit lag in seinen Augen.

 

»Gnade!« brüllte der Mann, streckte die Hand aus, ergriff den großen Hebel, über dem »Gefahr« stand, und legte ihn um.

 

Plötzlich wurden alle Lichter in dem Raum düster, die großen Schwungräder verlangsamten ihren Lauf und kamen zum Stillstand. Nur das Tageslicht erleuchtete die Kraftstation jetzt. Ela stand auf der erhöhten Plattform vor der großen Schalttafel und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper, als ob er vom Fieber geschüttelt würde.

 

»Hoffentlich bin ich noch rechtzeitig gekommen!« sagte er leise zu sich selbst.

 

Die große Maschinenhalle war von vielen Polizisten gefüllt.

 

»Nehmen Sie diese Leute gefangen«, befahl Ela. »Sehen Sie vor allen Dingen zu, daß niemand einen Schalter berührt. Verhaften Sie die Heizer, und trennen Sie sie von den anderen. Nun zu Ihnen«, wandte er sich wieder in Italienisch an den Aufseher. »Ich gebe Ihnen jetzt eine Chance. Sie gehen nicht nur frei aus, sondern ich verspreche Ihnen auch eine große Belohnung, wenn Sie mir gehorchen. Ich bin Polizeibeamter und bin hierhergekommen, um dieses Haus zu durchsuchen. Sie sprachen eben von den Kellerräumen – wissen Sie den Weg dorthin?«

 

Der Mann zögerte.

 

»Der Fahrstuhl geht nicht mehr, mein Herr«, erwiderte er.

 

»Gibt es keinen anderen Weg?«

 

Wieder zauderte der Aufseher.

 

»Es ist auch eine Treppe da«, stammelte er nach einer Weile und fuhr dann schnell fort: »Wenn hier ein Verbrechen vorliegt und Signor Moole Anarchist ist, so weiß ich nichts davon, das schwöre ich Ihnen. Ich bin ein ehrlicher Mann aus Padua.«

 

»Ich will Ihnen das glauben«, sagte Ela ruhiger. »Sie machen ein großes Unrecht wieder gut, wenn Sie mir den Weg zu den unterirdischen Räumen zeigen.«

 

»Ich werde Ihnen gehorchen und alles tun, was Sie wünschen«, erwiderte der Mann hilflos. »Ich rufe hier alle zu Zeugen an, daß ich mein Bestes getan habe, um die Befehle meines Herrn auszuführen.« Er ging mit Ela durch den Privatgarten hinter dem Haupthaus und führte ihn zu einem offenen Gang, der am Kellergeschoß entlanglief.

 

An dessen äußerstem Ende befand sich eine Tür. Der Mann öffnete sie mit einem Schlüssel, den er von einem Bund aus seiner Tasche nahm. Sie mußten noch zwei weitere Türen passieren, bevor sie zu der Wendeltreppe kamen, die in die Tiefe des »geheimnisvollen Hauses« führte. Zu Elas Erstaunen waren die Gänge beleuchtet, und er fürchtete schon, daß gegen seinen Befehl die Lichtmaschine wieder in Gang gebracht worden war. Aber der Italiener beruhigte ihn.

 

»Die Lampen werden von Reservebatterien gespeist«, erklärte er. »Von dort kann man genügend Strom entnehmen, um das ganze Haus zu beleuchten. Aber sie genügen nicht, um Kraftstrom zu liefern.«

 

Sie stiegen hinunter. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Ela zählte siebenundachtzig, als sie schließlich zu einem Treppenabsatz kamen, von dem aus sich eine Tür öffnete. Der Detektiv beobachtete, daß der Italiener sich auf dieselbe Methode Eingang verschaffte, die er selbst vorher angewandt hatte. Der Mann steckte einen eisernen Dorn in ein kaum sichtbares Loch, und die Tür tat sich auf.

 

Ela eilte mit den anderen Beamten den Gang entlang, bis sie zu der roten Tür kamen, die sich ebenfalls wieder öffnen ließ.

 

Zwei Lichter brannten düster in dem Raum. Ela sah die Gestalt in dem Stuhl, und sein Mut sank. Er stürzte vorwärts – Farrington hörte ihn zuerst.

 

Der große Mann wandte sich um. Drei Schüsse fielen kurz nacheinander. Ela stand aufrecht und unverletzt, aber Farrington schwankte und fiel zu Tode getroffen nieder.

 

»Verhaften Sie diesen Mann!« rief Ela. Im nächsten Augenblick war Dr. Fall gefesselt.

 

*

 

In seinem Büro in Scotland Yard lehnte sich T.B. Smith in seinem Stuhl zurück und beendete schmunzelnd den Bericht, den er Frank Doughton und dessen Gattin, die ihm gegenübersaßen, gegeben hatte:

 

»Mein Freund Ela hatte gerade in dem Moment den Strom abschalten lassen, in dem Dr. Fall auf Farringtons Zuruf hin den Schalter drehte. Mich erreichte nur noch ein schwacher Stromstoß, der mich zwar kurze Zeit ohnmächtig werden ließ, von dem ich mich aber, wie Sie ja sehen, wieder glänzend erholt habe.« Mr. Smith lächelte dem jungen Paar, das eben von seiner unter so unglücklichen Umständen begonnenen Hochzeitsreise zurückgekehrt war, zu und erkundigte sich nach dem Befinden von Mrs. Doris. Aber ein Blick in ihr Gesicht, das strahlend ihrem Mann zugekehrt war, belehrte ihn, daß diese Frage ganz unnötig war.

 

In einem wenigstens hatte Farrington recht behalten: Frank und Doris waren doch noch ein glückliches Paar geworden.

 

 

ENDE

 

Kapitel 20

 

20

 

Die Durchsuchung des »geheimnisvollen Hauses« hatte Mr. Smith nicht zufriedengestellt. Er hatte allerdings auch nicht erwartet, brauchbare Anhaltspunkte zu finden. Er war sich völlig darüber klar, daß diese kühnen Männer alle Spuren ihrer Verbrechen verwischt hatten.

 

»Was wollen wir nun machen?« fragte Ela, als sie das Haus wieder verließen.

 

»Sofort zurück nach Moor Cottage«, entgegnete Mr. Smith, als er in das Auto stieg. »Ich bin sicher, daß wir eine große Entdeckung machen werden. Sicher führt von dort irgendein unterirdischer Gang hierher. Auf diesem Weg sind Lady Constance und Poltavo fortgebracht worden. Wenn es notwendig ist, werde ich alle Holztäfelungen in den beiden Zimmern des Erdgeschosses zertrümmern! Ich muß den geheimen Gang zu Mr. Farringtons Haus finden.«

 

Eine halbe Stunde lang durchforschten sie den Raum, aus dem Poltavo verschwunden war. Sie bohrten die hölzernen Täfelungen an und untersuchten jedes einzelne Paneel.

 

Dabei machten sie die Entdeckung, daß die eichenen Paneele mit Stahlplatten festgeschraubt waren.

 

»Es ist ein hoffnungsloses Unternehmen. Wir müssen Handwerker haben, die die Platten entfernen können«, sagte Mr. Smith.

 

In Gedanken hatte er das kleine Medaillon wieder aus der Tasche genommen und geöffnet.

 

»Es ist doch zu absurd.« Er lachte hilflos. »In diesen einfachen Worten liegt nun die Lösung, und doch können wir klugen Leute von Scotland Yard sie nicht finden …«

 

»Gott schütz dem Kenig!« sagte Ela traurig. »Ich möchte nur wissen, wie uns das helfen sollte.«

 

Plötzlich zeigte Mr. Smith auf das Klavier. Er eilte zu dem Instrument, hob den Deckel auf und schlug einen Akkord an. Der Ton klang etwas dürftig, das Klavier schien seit langer Zeit nicht mehr gestimmt worden zu sein.

 

»Ich werde einmal ›Gott schütze den König‹ spielen!« rief Mr. Smith mit glänzenden Augen. »Ich glaube, dann wird sich etwas ereignen.«

 

Langsam spielte er die bekannte Weise von Anfang bis zu Ende und schaute dann auf.

 

»Versuchen Sie es noch einmal in einer anderen Tonart«, riet Ela. Wieder spielte Mr. Smith die Nationalhymne. Als er fast zu Ende war, knackte plötzlich die Wand. Er sprang auf. Eins der langen Paneele hatte sich geöffnet. Einen Augenblick sahen sich die beiden Männer an. Sie waren allein in dem Haus, obwohl eine Polizeiwache in Rufweite stand. Die anderen Polizeitruppen waren in der Nähe des »geheimnisvollen Hauses« zusammengezogen.

 

Mr. Smith drehte seine unentbehrliche Taschenlampe an und drang in die dunkle Öffnung vor.

 

»Ich werde einmal allein hineingehen und sehen, was geschieht.«

 

»Ich glaube, es ist besser, wir gehen zusammen«, erwiderte Ela grimmig.

 

»Hier ist ein elektrischer Schalter.«

 

Mr. Smith drehte daran, und eine elektrische Lampe leuchtete im Innern einer kleinen Liftkabine auf.

 

»Hier befinden sich wahrscheinlich die notwendigen Knöpfe – wir wollen einmal diesen versuchen.«

 

Er drückte auf einen Knopf, und der Fahrstuhl begann sich zu senken. Nach einer Weile hielt er an, und die beiden traten hinaus.

 

»Dies ist ein Teil des alten Bergwerks«, erklärte Smith. »Wirklich eine geniale Idee.«

 

Er leuchtete mit seiner Lampe die Wände des Stollens ab, um die elektrischen Schalter zu finden. Er fand sie auch, und im nächsten Augenblick war der Stollen hell erleuchtet.

 

»Teufel noch einmal! Sogar eine unterirdische Trambahn haben sie sich eingerichtet! Sehen Sie doch einmal her!« rief er mit Bewunderung.

 

Auf der kleinen Endstation befanden sich zwei Geleise mit einer Weiche, und ein Wagen schien auf sie zu warten. Ein paar Minuten später hatten Mr. Smith und sein Assistent das andere Ende des unterirdischen Ganges erreicht. Sie fanden auch den zweiten Fahrstuhl.

 

»Das hätten wir geschafft. Sie haben alles elektrisch eingerichtet. Ich dachte mir schon, daß das große Kraftwerk Farringtons einem ganz besonderen Zweck dienen müsse. Nun sehe ich, wieviel Strom sie brauchen. Treten Sie vorsichtig in den Fahrstuhl, und merken Sie sich genau, welchen Weg wir machen. Ich nehme an, daß wir uns jetzt etwas mehr als dreißig Meter unter der Erdoberfläche befinden. Schätzen Sie es einmal oberflächlich, wenn wir nach oben fahren.«

 

Er drückte auf einen Knopf, und der Fahrstuhl glitt aufwärts. Oben traten sie in dem kleinen Zimmer hinaus und fanden die Tür zu dem langen Gang.

 

»Das sieht so aus, als ob hier ein Zimmer oder ein größerer Raum dahinter läge«, meinte Mr. Smith, als er vor einer mit roter Farbe gestrichenen Tür stand, die in eine der dicken Wände eingelassen war. Er lehnte sich dagegen, aber sie bewegte sich nicht. Sie untersuchten die ganze Umgebung, konnten aber kein Schlüsselloch finden.

 

»Die Tür scheint durch irgendeine geheimnisvolle Feder oder einen Schalter in Bewegung gesetzt zu werden, oder sie bewegt sich überhaupt nicht«, flüsterte er Ela zu.

 

»Wenn sie durch eine Feder bewegt wird, werde ich sie schon herausfinden.« Elas Hand tastete über die Oberfläche der Tür, und plötzlich hielt er an.

 

»Hier ist eine Öffnung, die etwas größer ist als ein Nadelöhr.« Er nahm ein Universalmesser mit vielen Klingen aus der Tasche und bog eine Stahlnadel heraus. »Pfeifenreiniger sind manchmal auch zu anderen Dingen nütze«, sagte er und drückte den langen, dünnen Stab in die Öffnung. Plötzlich öffnete sich die Tür geräuschlos.

 

Mr. Smith war der erste, der mit dem Revolver in der Hand in den Raum trat. Er befand sich in einem Zimmer, das keineswegs das Aussehen eines Gefängnisses hatte, selbst wenn es diesem Zweck dienen sollte. Die Wände waren mit kostbaren Brokatstoffen bespannt, der Teppich war dick und weich, und die Möbel zeugten von künstlerischem Geschmack.

 

»Lady Constance«, rief Mr. Smith überrascht.

 

Eine Frau, die neben einer Leselampe saß, erhob sich schnell und sah den Detektiv verwirrt an.

 

»Mr. Smith!« Sie eilte auf ihn zu. »Gott sein Dank, daß Sie gekommen sind!«

 

Sie ergriff seine beiden Hände und weinte fast vor Freude. Sie sprach unzusammenhängende Worte, erzählte von ihrer Gefangennahme, ihrer Furcht, ihrer Dankbarkeit für ihre Rettung.

 

»Setzen Sie sich, Lady Constance«, sagte Mr. Smith freundlich. »Versuchen Sie Ihre Gedanken zu ordnen – haben Sie Poltavo gesehen?«

 

»Poltavo?« fragte sie verwundert. »Nein, ist er denn hier?«

 

»Er muß sich irgendwo hier aufhalten. Ich bin gerade auf der Suche nach ihm. Wollen Sie hierbleiben oder wollen Sie mit uns kommen?«

 

»Ich möchte Sie begleiten«, sagte sie schaudernd.

 

Sie gingen zusammen hinaus.

 

»Führen alle diese Türen hier zu Räumen, die ähnlich sind wie dieser?« fragte der Detektiv.

 

»Ich glaube, daß eine Anzahl von unterirdischen Zellen hier liegt«, antwortete sie flüsternd. »Aber die größte von ihnen ist ganz in der Nähe.«

 

Sie zeigte auf eine rot angestrichene Tür, die etwa zwanzig Schritt entfernt lag. Ela untersuchte sie genau.

 

Offenbar öffneten sie sich alle nach demselben Stecksystem, das im Mittelalter sehr beliebt war. Die Italiener hatten dieses Geheimnis wahrscheinlich aus ihrem Vaterland mitgebracht, in dem einst die Borgias, die Medicis und die Viscontis lebten.

 

»Bleiben Sie hier stehen«, sagte Mr. Smith leise, und Lady Constance lehnte sich an die Wand.

 

Ela preßte seinen Pfeifenreiniger wieder in die Öffnung, die Tür tat sich langsam auf, und Mr. Smith trat hinein.

 

Einen Augenblick stand er still und versuchte die Bedeutung dieses schrecklichen Anblicks zu verstehen: Ein toter Körper lag auf dem Boden, zwei erbarmungslose Männer mit harten Gesichtern standen daneben, Farrington hatte die Arme verschränkt und schaute düster auf den Toten nieder, Dr. Fall war noch an dem Schaltbrett beschäftigt.

 

Mr. Smith hob langsam seinen Revolver.

 

»Hände hoch!« rief er.

 

Kaum hatte er diese Worte ausgestoßen, als der Raum schon vollständig verdunkelt war. Sein Begleiter wurde heftig zurückgeschleudert, denn die elektrische Schließvorrichtung war eingeschaltet worden und die Tür schlug Ela ins Gesicht. Er wollte sich dagegenstemmen, um sie offenzuhalten, aber alle seine Bemühungen waren umsonst. Auch mit dem Pfeifenreiniger hatte er keinen Erfolg.

 

Er wurde bleich. »Mein Gott! Sie haben Smith gefangen!«

 

Einen Augenblick stand er unentschieden da. Er hatte eben die Szene in dem Zimmer gesehen und wußte, welches Schicksal seinem Vorgesetzten drohte.

 

»Schnell zurück in den Gang!« rief er und führte Lady Constance Dex mit sich. Er fand ohne Schwierigkeit den Weg zum Fahrstuhl, er drückte den Knopf … Jetzt fuhren sie mit größter Schnelligkeit auf dem elektrischen Wagen die Schienen entlang … Jetzt trug sie der andere Fahrstuhl in die Höhe, und sie traten in das Zimmer in Moor Cottage ein. Das Auto von Mr. Smith wartete noch vor dem Haus.

 

»Sie kommen am besten mit mir«, sagte Ela schnell, und Lady Constance sprang nach ihm in den Wagen.

 

»Zu dem ›geheimnisvollen Haus‹ – schnell!« schrie Ela dem Chauffeur zu.

 

»Später bringe ich Sie zu Ihren Freunden – ich darf es jetzt nicht wagen, auch nur eine Sekunde zu verlieren …«

 

»Was werden sie tun?«

 

»Ich weiß, was sie vorhaben«, erwiderte er grimmig. »Farrington spielt seinen letzten Trumpf aus, und Mr. Smith soll sein Opfer sein!«

 

*

 

In der Dunkelheit des unterirdischen Raumes stand Smith seinen Feinden gegenüber. Er hatte den Finger am Abzug seiner Pistole, und seine Augen versuchten, die Finsternis zu durchdringen.

 

»Rühren Sie sich nicht!« sagte er ruhig. »Ich schieße sofort!«

 

»Es ist gar nicht nötig, daß Sie schießen«, erwiderte Dr. Fall höflich. »Das Licht ging zufällig aus. Ich versichere Ihnen, daß Sie und Ihre Freunde nichts zu fürchten haben!«

 

Mr. Smith tastete sich mit vorgestrecktem Revolver an der Wand entlang. In der Dunkelheit fühlte er die große Gestalt des Arztes mehr, als er sie sah, und er streckte vorsichtig die Hand aus.

 

Plötzlich berührte etwas seine Handfläche, das sich unter gewöhnlichen Umständen wie die Spitzen eines Bastbesens angefühlt haben würde. Mr. Smith wurde heftig rückwärts gestoßen.

 

»Schnell in den Stuhl mit ihm«, rief Farrington. »Das war eine gute Idee von Ihnen, Doktor.«

 

»Es war der Sprühapparat«, sagte Dr. Fall zufrieden. »Davon bekommt man einen kräftigen elektrischen Schlag. Sie haben sich wirklich einen mächtigen Bundesgenossen erwählt, als Sie die elektrische Kraft zu Hilfe nahmen, Farrington.«

 

Nun brannten die Lichter wieder, und Smith wurde an den Stuhl geschnallt. Er hatte sich von dem Schlag erholt, aber es war zu spät. Während er bewußtlos gewesen war, hatte man Poltavos Leiche entfernt. Sie behandelten den Detektiv jetzt genauso wie vorher den Polen; er fühlte die elektrischen Kontakte auf der bloßen Haut seiner Handgelenke und biß die Zähne zusammen.

 

»Mr. Smith«, begann Farrington höflich, »ich fürchte, Sie haben sich selbst in eine böse Situation gebracht – wo ist der andere Mann?« fragte er schnell und sah Dr. Fall an.

 

»Ich habe ihn vergessen«, erwiderte der langsam. »Er muß draußen im Gang sein.«

 

Er ging zu der unsichtbaren Tür im Hintergrund und öffnete sie durch eine Berührung. Ein paar Minuten später kam er zurück, sein Gesicht sah plötzlich alt und eingefallen aus.

 

»Er ist fort – auch die Frau ist verschwunden.«

 

Farrington nickte.

 

»Kommt es noch darauf an?« fragte er rauh. »Die beiden können nicht viel wissen! Stellen Sie die elektrische Sicherung für die Tür ein.«

 

Fall drehte an einem Schalter, dann wandte sich Farrington erneut Smith zu.

 

»Sie wissen, in welcher Lage Sie sich befinden – ich werde Ihnen jetzt mitteilen, wie Sie sich daraus befreien können.«

 

»Ich bin begierig, das zu erfahren«, entgegnete der Detektiv kühl. »Aber ich warne Sie davor, mir zu sagen, meine Rettung hänge davon ab, daß ich Sie entfliehen lasse. Ich fürchte, daß ich in diesem Fall zum Tode verurteilt bin.«

 

»Sie haben richtig vermutet. Ich stelle die Bedingung, mich und meine Freunde frei und unversehrt aus England zu bringen. Ich weiß, daß Sie mir erwidern wollen, Sie hätten nicht die Macht dazu, aber ich kenne die außerordentlichen Vorrechte Ihrer Abteilung in Scotland Yard genau. Ich weiß, daß ich mit Ihrer Hilfe das ›geheimnisvolle Haus‹ verlassen und morgen früh in Calais landen kann … Niemand in ganz England könnte Sie daran hindern, mir zu helfen. Ich biete Ihnen Ihr Leben an, wenn Sie meine Bedingungen annehmen. Sonst –«

 

»Sonst?«

 

»Werde ich Sie töten«, antwortete Farrington kurz, »wie ich auch Poltavo getötet habe. Sie sind mein schlimmster Feind, mein gefährlichster Gegner. Sie waren für mich schon immer ein Mensch, dem man möglichst aus dem Wege gehen mußte. Und ich werde Sie mit weniger Gewissensbissen töten, weil nur Sie daran schuld sind, daß ich in den letzten Monaten dieses Hundeleben führen mußte. Es wird Sie interessieren, Mr. Smith, daß Sie mich einmal beinahe gefangen hätten. Der ganze Flügel des Hauses, in dem Mr. Moole liegt, ist verschiebbar und beweglich nach dem Prinzip eines riesigen Aufzugs. Das Geheimnis des ›geheimnisvollen Hauses‹ liegt in Wirklichkeit in systematisch und vorzüglich angeordneten Aufzügen und Fahrstühlen. Das heißt praktisch, daß ich mein Arbeitszimmer in den ersten Stock placieren, es aber auch zum vierten Stock hinaufheben kann. Und das kostet mich nicht einmal so viel Mühe, als nötig ist, um einen Stuhl von einem Zimmer in ein anderes zu tragen.«

 

»Das habe ich schon vermutet. Sie hätten als Elektroingenieur ein Vermögen verdienen können.«

 

»Das bezweifle ich stark«, erwiderte Farrington kühl. »Aber die Vergangenheit und verpaßte Gelegenheiten interessieren mich jetzt weniger als meine und Ihre Zukunft. Wozu haben Sie sich entschlossen?«

 

Smith lächelte.

 

»Ich werde Ihre Bedingung nicht annehmen«, sagte er liebenswürdig. »Ich bin auf meinen Tod vollständig vorbereitet. Nichts in der Welt, keine Drohung gegen mich oder meine nächsten Angehörigen oder Freunde könnte mich dazu bewegen, so gefährliche Verbrecher wie Sie und Ihre Komplicen entkommen zu lassen. Ihre Zeit ist um, Farrington. Ob ich ein wenig früher oder später sterben muß, ändert nichts daran, daß Sie in einem Monat selbst tot sind, ob Sie mich nun umbringen oder laufen lassen.«

 

»Sie sind sehr kühn, mir das ins Gesicht zu sagen«, zischte Farrington ihn an.

 

Smith sah an den wütenden Blicken und den verbissenen Gesichtern, daß seine Worte getroffen hatten.

 

»Wenn Sie sich einbilden, noch entkommen zu können«, fuhr er unbekümmert fort, »dann verschwenden Sie nur Zeit, die Sie besser anwenden könnten, denn jeder Augenblick Verzögerung bringt Sie beide dem Galgen näher.«

 

»Mein Freund, Sie beschleunigen nur Ihren eigenen Tod«, sagte Dr. Fall.

 

»Was das anbetrifft«, entgegnete Smith achselzuckend, »habe ich nicht die Absicht, Ihnen etwas zu prophezeien, denn ich kann ebensowenig in die Zukunft sehen wie Sie. Und wenn es der Wille der Vorsehung ist, daß ich in Ausübung meiner Pflicht sterben soll, so bin ich mit meinem Los zufrieden wie jeder Soldat, der auf dem Feld der Ehre stirbt. Denn es scheint mir«, sagte er halb zu sich selbst, »daß die geschworenen Feinde der Gesellschaft schrecklicher, entsetzlicher und gefährlicher sind als die anstürmenden Feinde, denen ein Soldat gegenübertreten muß. Sie sind nur Feinde, solange der Wahnsinn des Krieges dauert, aber Sie sind Ihr ganzes Leben lang Feinde der Gesellschaft.«

 

Dr. Fall wechselte einen Blick mit seinem Vorgesetzten. Farrington nickte.

 

Der Doktor beugte sich nieder, nahm den Lederhelm auf und setzte ihn mit derselben Behutsamkeit auf den Kopf des Detektivs, die er das erste Mal angewandt hatte.

 

»Ich gebe Ihnen noch drei Minuten Bedenkzeit.«

 

»Sie verschwenden drei Minuten!« Die Stimme des Mannes in dem Stuhl wurde durch den Lederhelm gedämpft.

 

Trotzdem zog Farrington seine Uhr aus der Tasche und hielt sie in der Hand. Kein Muskel in seinem Gesicht bewegte sich. Stark, groß und entschlossen stand er vor seinem Opfer. Während der hundertachtzig Sekunden herrschte lautlose Stille in dem Raum, so daß man das Ticken der Uhr hören konnte.

 

Als die Zeit um war, ließ er sie wieder in seine Tasche gleiten.

 

»Wollen Sie tun, was ich von Ihnen verlangt habe?«

 

»Nein«, war die entschiedene Antwort.

 

»Schalten Sie ein!« rief Farrington wild.

 

Dr. Fall legte seine Hand auf den elektrischen Schalter. In diesem Augenblick flackerten die Lichter, und ihre Leuchtkraft verminderte sich langsam.

 

»Schnell!« rief Farrington.

 

Gerade als das Licht ausging, drehte der Doktor den Schalter an. Smith fühlte ein scharfes, brennendes Zucken, das seinen ganzen Körper blitzartig durchdrang, und verlor dann das Bewußtsein.

 

Kapitel 16

 

16

 

Doris Grays Hochzeitsmorgen dämmerte herauf. Die Sonne ging strahlend auf, es war ein herrlicher Tag. Doris saß am Fenster und schaute auf die Gärten am Brakely Square hinunter. Sie hatte die Hände um die Knie geschlungen. Ihre Stimmung war nicht die beste, sie war bedrückt und aufgeregt. Glücklicherweise waren so viele andere Dinge mit der Hochzeit verknüpft, daß sie nicht viel Zeit hatte nachzudenken. Von Frank hatte sie am letzten Abend ein Telegramm erhalten, das zu ihrem Erstaunen in Great Bradley aufgegeben war. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus war sie ärgerlich darüber, daß er London verlassen hatte. Es kränkte sie, daß er selbst am Vorabend seiner Hochzeit noch in seine Arbeit vertieft war. Sie vermutete, daß ihn seine Nachforschungen nach dem Tollington-Erben wieder nach Great Bradley geführt hatten. Wenigstens den letzten Tag vor der Hochzeit hätte er doch in ihrer Nähe zubringen müssen, damit sie ihn erreichen konnte, wenn sie ihn brauchte oder um Rat fragen wollte. Plötzlich tauchte der unangenehme Gedanke in ihr auf, daß er sich in seiner Stellung als ihr zukünftiger Gatte schon zu sicher fühlte. Poltavo dagegen war ihr sehr behilflich gewesen. Sie hatte mit ihm am Nachmittag des vorigen Tages Tee getrunken. Dezent und zurückhaltend hatte er es vermieden, ihre Hochzeit überhaupt zu erwähnen, ebensowenig hatte er von sich selbst gesprochen. Aber alles, was er nicht mit Worten ausdrückte, sagten seine Blicke. Sie fühlte Mitleid mit ihm, denn sie zweifelte nicht an der Echtheit seiner Gefühle. Poltavo schnitt an diesem Tage sehr gut ab.

 

Ein Dienstmädchen weckte Doris aus ihren Träumereien und brachte sie zur nüchternen Wirklichkeit zurück.

 

»Mr. Debenham ist gekommen, gnädiges Fräulein. Ich habe ihn in das Wohnzimmer geführt.«

 

»Ach, das ist der Rechtsanwalt – ich werde sofort hinunterkommen.«

 

Mr. Debenham ging nachdenklich in dem Raum auf und ab, als sie eintrat.

 

»Ich vermute, daß Ihnen bekannt ist, daß ich Ihrer Trauung beiwohnen muß«, sagte er, als er ihr die Hand gab. »Ich muß Ihnen die Schlüssel zu dem Safe Ihres Bankdepots übergeben. Hier ist eine Aufstellung über den genauen Geldbetrag, der sich dort befinden muß.«

 

Bei diesen Worten legte er eine Abrechnung auf den Tisch.

 

»Sie können in einer freien Stunde ja einmal hineinsehen, aber rund gerechnet beträgt das Vermögen, das Ihnen Ihr verstorbener Vater hinterließ, achthunderttausend Pfund. Es ist in erstklassigen Wertpapieren angelegt, wahrscheinlich werden Sie auch noch finden, daß eine große Summe von Dividenden auf Ihre Papiere fällig ist. Der verstorbene Mr. Farrington hat diese etwas ungewöhnliche Art der Aufbewahrung gewählt, um Ihr Geld sicherzustellen, obgleich ich ihm einen entgegengesetzten Rat gab. Ich möchte Ihnen noch mitteilen, daß er mich vor ungefähr sechs Jahren darüber um Rat fragte. Ich war damals gegen die Festlegung des Geldes, aber die Ereignisse haben mir unrecht gegeben, denn gleich darauf muß er große Verluste an der Börse gehabt haben, wie seine Bücher ausweisen. Ich möchte bemerken, daß ein Mann mit einer weniger starken Energie als Mr. Farrington unter den damaligen Verhältnissen leicht in Versuchung hätte kommen können.

 

Ich habe mich jetzt nur noch meiner Verantwortung zu entledigen. Ich bin hierhergekommen, um Sie vorher noch einmal zu sehen und zu fragen, ob Ihr Onkel Ihnen etwas von der großen Tollington-Erbschaft gesagt hat. Er war einer der Treuhänder, obwohl er nicht direkt etwas mit der Verwaltung zu tun hatte.«

 

Sie sah erstaunt auf.

 

»Es ist merkwürdig, daß Sie diese Frage an mich stellen. Mr. Doughton bemüht sich, den Erben dieses Vermögens zu finden.«

 

»Das ist mir bekannt. Ich frage nur deshalb, weil ich eine Nachricht von den anderen Treuhändern in Amerika erhalten habe. Es tut mir leid, daß die Nachforschungen Ihres Gatten erfolglos sein werden, wenn er den Erben nicht innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden entdeckt.«

 

»Warum denn?« fragte sie verwundert.

 

»Die Bestimmungen des Testaments sind sehr eigenartig«, erklärte Mr. Debenham. »Das Tollington-Vermögen, wie Sie vielleicht wissen –«

 

»Ich weiß wirklich nichts davon«, unterbrach sie ihn.

 

»Dann will ich es Ihnen erzählen«, sagte er lächelnd. »Das Vermögen soll zu gleichen Teilen an den Erben und dessen Gattin fallen.«

 

»Wenn er nun aber nicht mit einer Frau gesegnet ist?« fragte sie belustigt.

 

»In diesem Fall fällt das Geld automatisch an die Frau, die der Erbe eventuell heiratet. Aber das Testament bestimmt, daß der Erbe zwanzig Jahre nach dem Tode Tollingtons gefunden sein muß. Und dieser Termin läuft morgen ab.«

 

»Armer Frank!« sagte sie kopfschüttelnd. »Und er gibt sich doch die größte Mühe. Er hatte ja auch schon einige Erfolge. Wenn er also bis morgen diesen geheimnisvollen Erben nicht ausfindig gemacht hat, bekommt er nichts für all seine Anstrengungen?«

 

»Ich glaube kaum, daß er etwas erhält. Die Belohnung ist für den Mann ausgesetzt, der innerhalb der festgesetzten Zeit den Tollington-Erben ermittelt. Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich wußte, daß Mr. Doughton an der Sache interessiert ist, und weil«, er zögerte einen Augenblick, »weil ich dachte, daß Ihr Onkel Sie vielleicht ins Vertrauen gezogen hat.«

 

»Sie meinen, daß er mir gesagt hätte, wer der Gesuchte sei? Glauben Sie denn, daß er das wußte und aus irgendeinem Grunde geheimhielt?«

 

»Bitte, seien Sie mir nicht böse«, erwiderte der Rechtsanwalt schnell. »Ich möchte nichts gegen Mr. Farrington sagen, aber ich weiß, daß er ein sehr kluger und berechnender Mann war. Ich nahm an, daß er Ihnen vielleicht doch verschiedenes anvertraut hätte, so daß Sie in der Lage gewesen wären, Ihren zukünftigen Gatten bei seinen Bemühungen zu unterstützen.«

 

Aber sie schüttelte wieder den Kopf.

 

»Ich habe keinerlei Kenntnis von dieser Sache. Mein Onkel hat mir niemals etwas Näheres darüber mitgeteilt. Er war sehr verschlossen, wenn es sich um geschäftliche Dinge handelte. Und doch bin ich davon überzeugt, daß er mich sehr gern gehabt hat.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber sie war nicht traurig, weil sie sich an seine Güte erinnerte, sondern weil er sie zu einer so demütigenden Handlung zwang, bei der ihr eigenes Herz nicht mitsprechen durfte. Sie fühlte sich unaussprechlich erniedrigt und bedrückt.

 

»Das war alles, was ich Ihnen mitzuteilen hatte«, erklärte Mr. Debenham. »Ich werde Sie später noch auf dem Standesamt wiedersehen?«

 

Sie nickte.

 

»Darf ich der Hoffnung Ausdruck geben«, sagte er in seiner umständlichen Weise, »daß Sie sehr glücklich werden und daß sich in Ihrer Ehe alle Hoffnungen erfüllen mögen, die Sie daran knüpfen?«

 

»Ich weiß kaum, welche Hoffnungen ich haben sollte«, erwiderte sie müde.

 

Der gute Mr. Debenham schüttelte traurig den Kopf, als er zu seinem Büro zurückging.

 

*

 

Hatte es schon jemals eine so nüchterne und prosaische Trauung gegeben wie die ihre? Doris legte sich diese Frage vor, als sie in den Wagen stieg, der sie zum Standesamt bringen sollte. Wie andere junge Mädchen hatte auch sie sich diesen wunderbaren Tag in den herrlichsten Farben ausgemalt, wenn sie unter den Klängen der Orgel am Arm ihres Vormundes Gregory Farrington die Stufen hinaufschreiten würde. Und sie hatte von einer vollkommen glücklichen und beseligenden Ehe geträumt. Jetzt aber stand sie vor der Wirklichkeit, ihre Träume waren vernichtet. Sie, die Erbin eines großen Vermögens, eines der schönsten Mädchen Londons, fuhr nun in einem Mietauto zu einer stillen Trauung.

 

Frank wartete vor dem Eingang des düsteren Amtsgebäudes auf sie. Auch Mr. Debenham und einer seiner Angestellten, den er als Trauzeugen mitgebracht hatte, waren schon zugegen. Doris war Mrs. Doughton geworden, bevor sie sich ganz darüber klar wurde, was eigentlich geschah.

 

»Nun bleibt nur noch eines zu tun«, sagte der Rechtsanwalt, als sie wieder draußen in dem hellen Sonnenlicht der Straße standen. Er schaute auf seine Uhr.

 

»Wir wollen jetzt gleich zur London-Safe-Deposit-Bank fahren, und wenn Sie mir die Vollmacht geben, so werde ich für Sie in aller Form von dem Vermögen Besitz ergreifen und es meinen Bankiers übergeben. Ich glaube, diese Angelegenheit muß ordnungsgemäß erledigt werden.«

 

Doris war damit einverstanden.

 

Frank war während der Fahrt schweigsam, er machte nur ein paar nebensächliche Bemerkungen über den Verkehr auf den Straßen. Doris fühlte dankbar seine Zurückhaltung. Ihr Gemüt war in wirrem Aufruhr. Sie war jetzt verheiratet – diese eine Tatsache nahm alle ihre Gedanken in Anspruch –, verheiratet mit einem Mann, den sie zwar ganz gern hatte, den sie aber nicht liebte. Sie war mit einem Mann verheiratet, den ein anderer für sie ausgesucht hatte, zum Teil gegen ihren Willen. Sie sah ihn heimlich an. Auch er war in einer gedrückten, freudlosen Stimmung. Das war ein aussichtsreicher Anfang ihrer Ehe! Wie würde alles enden?

 

Der Wagen hielt vor einer düsteren Granitfassade, und sie stiegen aus. Mr. Debenham bezahlte den Chauffeur, dann stiegen sie zusammen die steinernen Treppen zu den Gewölben der Bank hinunter.

 

Es gab noch einen kurzen Aufenthalt, als Mr. Debenham erklärte, in wessen Vollmacht er gekommen sei. Während die Beamten in ihren Büchern nachschlugen, erschien auch Poltavo auf der Bildfläche.

 

Er beugte sich über Doris‘ Hand und behielt sie etwas länger in der seinen, als es Frank lieb sein konnte. Er flüsterte einige nichtssagende Glückwünsche und begrüßte Mr. Debenham durch ein Kopfnicken.

 

»Graf Poltavo ist hier auf Wunsch Ihres verstorbenen Onkels anwesend«, sagte der Rechtsanwalt. »Ich erhielt einige Tage vor seinem Verschwinden einen Brief, in dem er mir dies mitteilte.«

 

Frank nickte unzufrieden, aber er war doch großzügig genug, sich in die Lage dieses Mannes zu versetzen, und gab sich Mühe, freundlich gegen ihn zu sein.

 

Ein uniformierter Beamter führte sie durch viele lange Korridore zu einem besonderen Gewölbe, das durch eine schwere eiserne Gittertür abgeschlossen war. Der Beamte öffnete, und sie traten in die kleine Steinkammer, die von Deckenlampen erleuchtet war.

 

Das einzige Möbelstück in diesem Raum war ein kleiner Geldschrank, der in der einen Ecke stand. Der Rechtsanwalt drehte den Schlüssel in dem Schloß fachgerecht um, und die Stahltür tat sich auf. Mr. Debenham versperrte die Öffnung, so daß sie nicht in das Innere des Schrankes sehen konnten. Dann wandte er sich plötzlich aufs höchste erstaunt um.

 

»Der Schrank ist leer«, sagte er.

 

»Leer?« rief Doris atemlos.

 

»Nur dies lag darin.« Er reichte ihr einen kleinen Briefumschlag, den sie mechanisch öffnete. Sie las den Inhalt:

 

Unglücklicherweise war ich gezwungen, Dein Vermögen für die Durchführung meiner Pläne zu verwenden. Du wirst mich deswegen anklagen, aber verzeihe mir, denn ich habe Dir einen größeren Schatz gegeben als den, den Du verloren hast – einen Gatten –

 

»Was soll das bedeuten?« fragte sie leise.

 

Frank nahm den Brief aus ihrer Hand und las ihn zu Ende.

 

– einen Gatten in der Person Frank Doughtons, und Frank Doughton ist der Erbe der Tollington Millionen, wie es sein Vater vor ihm war. Alle nötigen Schriftstücke, die seine Identität mit dem Erben beweisen, sind in einem versiegelten Kuvert enthalten, das mein Rechtsanwalt verwahrt. Es trägt ein großes C auf der Vorderseite.

 

Die Unterschrift des Briefes lautete: Gregory Farrington.

 

Mr. Debenham fand seine Fassung zuerst wieder. Sein praktischer Verstand wandte sich sofort der augenblicklichen Lage zu.

 

»Ich kann bestätigen, daß ich ein solches Kuvert in Verwahrung habe«, erklärte er. »Mr. Farrington übergab es mir mit der strikten Anweisung, es den Testamentsvollstreckern oder einer anderen Person nicht eher zu übergeben, als bis ich ganz bestimmte Instruktionen von ihm erhalten würde. Ich spreche Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch aus, Mr. Doughton.«

 

Er wandte sich zu dem erstaunten jungen Mann und schüttelte ihm die Hand. Frank hatte wie im Traum zugehört. Er war der Erbe der Tollington-Millionen – er, der Sohn George Doughtons? Und während der ganzen Zeit hatte er nach Mr. Tollingtons Schwester gesucht – nach seiner eigenen Großmutter!

 

Plötzlich wurde ihm alles klar. Alle Anstrengungen und Nachforschungen hätte er sich vielleicht ersparen können, wenn er den Vornamen der Mutter seines Vaters gewußt hätte!

 

Er konnte sich nur ganz schwach an diese gutmütige alte Dame erinnern. Sie starb, als er noch in die Schule ging. Niemals war ihm der Gedanke gekommen, daß diese heitere Frau, die nur wenige Stunden vor ihrem geliebten Mann aus dem Leben schied, in irgendeiner Beziehung zu Tollingtons Schwester stehen könnte, die er so sehr gesucht hatte. Er atmete schwer, als er erkannte, daß sein großes Glück ihn in demselben Augenblick ereilte, in dem seine Frau finanziell ruiniert wurde. Er sah sie an, aber der Schlag war zu schwer für sie, als daß sie seine ganze Tragweite sofort hätte erfassen können.

 

Liebevoll legte er seinen Arm um ihre Schultern. Poltavo, der nervös an seinem kleinen Schnurrbart drehte, betrachtete die beiden mit gesenkten Augenlidern. Ein häßliches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

 

»Aber mein Liebling, es ist ja alles gut«, sagte Frank beruhigend. »Dein Vermögen ist sichergestellt – er hat es ja nur zeitweise nötig gehabt.«

 

»Ach, das ist es nicht«, erwiderte sie mit einem unterdrückten Schluchzen. »Es ist das Bewußtsein, daß mein Onkel dich durch eine List zu dieser Ehe gezwungen hat. Daß er mein Vermögen nahm, kümmert mich nicht. Geld bedeutet mir nicht viel. Aber er hat dich durch einen Trick gefangen und mich als Lockspeise dazu benützt.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

 

Aber in wenigen Augenblicken hatte sie sich wieder gefaßt. Sie sagte nichts mehr und duldete es, daß Frank sie zu dem Wagen führte.

 

Poltavo sah dem Auto nach, bis es außer Sicht kam. Er lächelte wieder unverschämt und wandte sich an den Rechtsanwalt.

 

»Wirklich ein schlauer Kopf, dieser Mr. Farrington«, sagte er mit bitterem Ton. Er mußte diesen Mann selbst gegen seinen Willen bewundern.

 

Mr. Debenham sah ihm fest ins Gesicht.

 

»Die Gefängnisse dieses Landes sind voll von Leuten, deren Spezialität eine solche Schlauheit ist«, erwiderte er trocken und ließ Poltavo stehen, ohne sich von ihm zu verabschieden.