6
Der Mann, der glücklich war
An einem schönen Frühsommerabend stieg Leon Gonsalez am Piccadilly Circus vom Autobus, ging mit energischen Schritten Haymarket hinunter und bog in die Jermyn Street ein, ohne scheinbar zu bemerken, daß ihm jemand wie ein Schatten folgte.
Manfred schaute von seiner Schreibarbeit auf, als sein Freund in das Zimmer trat, und nickte ihm lächelnd zu. Leon legte seinen leichten Überzieher ab, trat ans Fenster und sah auf die Straße.
»Wonach schaust du denn so ängstlich aus, Leon?«
»Nach Jean Prothero, der Barside Buildings Nr. 75 in Lambeth wohnt«, erwiderte Gonsalez, ohne sich in seiner Beschäftigung stören zu lassen. »Ah, dort ist er, dieser eifrige Bursche!«
»Wer ist denn eigentlich Jean Prothero?«
Leon lachte.
»Ein sehr unternehmender Herr, daß er es wagt, sich am hellichten Tag in Westend auf der Straße sehen zu lassen«, gab Leon ausweichend zur Antwort. Er schaute auf seine Uhr. »Es ist allerdings nicht so tollkühn von ihm, denn alle Leute, die etwas vorstellen, kleiden sich jetzt zum Abendessen um.«
»Ist er etwa ein Fassadenkletterer, der um diese Zeit in die Wohnungen einbricht?«
Leon lachte wieder.
»Nein, nicht ganz so etwas Gewöhnliches. Du meinst doch vermutlich einen Menschen, der ins Schlafzimmerfenster steigt, während die Familie im Untergeschoß beim Abendessen sitzt, und dann alle Wertsachen stiehlt, deren er habhaft werden kann?«
»Ja, ganz richtig.«
Leon schüttelte den Kopf.
»Nein, Mr. Prothero ist viel interessanter, und zwar aus einem ganz anderen Grund. Zunächst einmal ist er ein kahlköpfiger Verbrecher, das heißt, er wird wahrscheinlich zum Verbrecher werden. Und wie du wohl weißt, George, sind solche Leute selten. Die Durchschnittsverbrecher haben struppige oder dünne Haare, und manchmal tragen sie einen Scheitel auf der verkehrten Seite, aber in den seltensten Fällen haben sie eine Glatze. Auf dem Schädel von Mr. Prothero wächst auch nicht ein einziges Haar. Er ist Schiffsmaat auf einem Frachtdampfer, der zwischen den Kanarischen Inseln und Southampton verkehrt, und hat eine sehr hübsche junge Frau; sein Schwager ist merkwürdigerweise ein Einbrecher, der allerdings nur kleine Diebstähle begeht. Ohne es zu wissen, habe ich seinen Verdacht erregt. Er weiß nämlich zufällig, daß ich einer der Vier Gerechten bin«, ergänzte er scheinbar sorglos.
»Woher weiß er das?« fragte Manfred nach einer Weile.
Leon hatte seinen Rock ausgezogen und eine seidene Hausjacke angelegt. Er rollte sich erst eine spanische Zigarette und steckte sie in Brand, bevor er antwortete.
»Vor vielen Jahren, als die ganze Welt in Aufruhr war wegen der verderbenbringenden Organisation der Vier Gerechten, wurdest du festgenommen, mein lieber George, und im Chelmsford-Gefängnis eingesperrt. Von dort bist du damals auf eine recht abenteuerliche Weise entkommen, und als wir die Küste erreichten, gingen wir beide und Poiccart an Bord der Jacht unseres guten Freundes, des Prinzen von Asturien, der uns damals die Ehre gab, als Vierter in unserem Bunde zu agieren.«
Manfred nickte.
»Auf diesem Schiff befand sich auch Mr. Jean Prothero«, fuhr Leon fort. »Wie er dorthin kam, will ich dir später einmal erklären. Ich vergesse niemals ein Gesicht, das ich einmal gesehen habe, George, aber unglücklicherweise geht es anderen Leuten auch so. Mr. Prothero erinnerte sich an mich, und als er mich in Barside Buildings sah –«
»Was hast du denn in Barside Buildings zu tun?« fragte Manfred lächelnd.
»Dort wohnen zwei Verbrecher, die nichts voneinander wissen und beide farbenblind sind!«
Manfred legte seine Feder nieder und wandte sich um. Er war schon darauf gefaßt, wieder einen Vortrag über Verbrecherphysiognomien und Kriminalstatistiken zu hören, denn er hatte die Begeisterung in Gonsalez‘ Stimme gehört.
»Diese beiden Leute machen es mir möglich, Mantegazzas und Schemls vollständig falsche Theorien zu widerlegen, daß Verbrecher niemals farbenblind sind. Und doch sind diese beiden Männer von frühester Jugend an Übeltäter gewesen, sie haben schon lange Gefängnisstrafen hinter sich. Und das Merkwürdigste: Auch ihre Väter waren farbenblind und waren Verbrecher!«
»Nun gut, aber du wolltest mir doch etwas von Mr. Prothero erzählen?« unterbrach ihn Manfred taktvoll.
»Einer der beiden Leute, die ich beobachtet habe, ist Mr. Protheros Schwager, der Halbbruder seiner Frau. Ihr eigener Vater ist ein rechtschaffener Zimmermann, der in einer Wohnung über ihnen haust. Diese Wohnungen sind allerdings nur sehr klein, sie bestehen gewöhnlich aus zwei Zimmern und einer Küche. Die Baumeister dieser Mietskasernen in Lambeth haben den Luxus eines Badezimmers nicht für nötig gehalten. Ich bin auch mit Mrs. Prothero bekannt geworden, als ich versuchte, ihren Bruder auszuholen.«
»Und dabei hast du vermutlich auch Mr. Prothero kennengelernt«, sagte Manfred geduldig.
»Nein, dem bin ich nur zufällig auf der Treppe begegnet. Ich bemerkte, daß er mich scharf ansah, aber sein eigenes Gesicht lag im Schatten, und ich erkannte ihn erst, als ich ihn heute zum zweitenmal traf. Er folgte mir hierher, und ich habe auch die Überzeugung, daß er mir gestern nachgegangen ist. Heute wollte er sich wohl nun die Bestätigung holen, daß ich wirklich hier wohne.«
»Du bist doch ein merkwürdiger Mensch«, meinte Manfred.
»Möglich, daß ich noch viel merkwürdiger werde«, erwiderte Leon lächelnd. »Es hängt jetzt alles davon ab, ob Prothero glaubt, daß ich ihn erkannt habe. Wenn das der Fall ist –«
Leon zuckte die Schultern.
»Es ist nicht das erstemal, daß ich mit dem Tod gespielt habe und doch mit heiler Haut davongekommen bin«, sagte er leichthin.
Manfred ließ sich aber durch den sorglosen Ton seines Freundes nicht täuschen.
»Ist es so schlimm? Ich glaube, daß die Sache für Prothero noch viel gefährlicher ist. Ich möchte nicht gern einen Menschen töten, nur weil er uns erkannt hat … Das deckt sich durchaus nicht mit meiner Ansicht über Recht und Gerechtigkeit.«
»Ganz recht«, entgegnete Leon kurz. »Das wird wohl auch nicht nötig sein. Es sei denn –« Er machte eine Pause.
»Was meinst du?«
»Es sei denn, daß Prothero seine Frau wirklich liebt. Dann wird es ein sehr schwieriger Fall werden.«
Am nächsten Morgen kam er mit seiner Tasse Tee in Manfreds Schlafzimmer. George schaute ihn verwundert an.
»Was ist denn mit dir los, Leon? Du bist wohl gar nicht zu Bett gewesen?«
Leon Gonsalez trug einen grauen Flanellrock, dazu gleiche Beinkleider und ein weiches, seidenes Hemd. Manfred schloß aus diesem Anzug, daß er die ganze Nacht aufgeblieben war und sich seinen Studien gewidmet hatte.
»Ich habe im Speisezimmer gesessen und eine Friedenspfeife geraucht.«
»Aber doch nicht die ganze Nacht? Ich wachte einmal auf und sah kein Licht.«
»Ich saß im Dunkeln, ich wollte ja auch nur verschiedenes hören.«
Manfred rührte nachdenklich seinen Tee um.
»Steht es schon so schlimm? Hast du etwa erwartet …?«
Leon lächelte.
»Ich habe allerdings nicht das erwartet, was eintrat. Willst du mir einen sehr großen Gefallen tun, mein lieber George?«
»Was soll es sein?«
»Sprich bitte heute nicht über Mr. Prothero. Wir wollen uns lieber über rein wissenschaftliche, am besten landwirtschaftliche Dinge unterhalten, wie es sich für ehrbar andalusische Farmer ziemt. Außerdem wollen wir spanisch sprechen.« Leon war sehr ernst geworden.
Manfred runzelte die Stirn.
»Warum das alles? Du bist etwas geheimnisvoll. Aber wenn du es willst, werde ich nur in Spanisch über Landwirtschaft sprechen und Prothero in keiner Weise erwähnen.« Er nickte seinem Freund zu und erhob sich. »Darf ich wenigstens darüber sprechen, daß ich ein Bad nehmen will?« fragte er ein wenig ironisch.
An diesem Tag ereignete sich nichts Besonderes. Einmal war Manfred nahe daran, doch von Mr. Prothero zu sprechen, aber Leon, der seine Gedanken erriet, hob warnend den Finger.
Gonsalez selbst sprach über Verbrechen, er beleuchtete das Thema allerdings mehr von der wissenschaftlichen Seite und ging besonders auf seine Entdeckung ein, daß es farbenblinde Verbrecher gäbe. Aber von Mr. Prothero sagte er kein Wort.
Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, entfernte sich Leon aus der Wohnung, kam aber gleich wieder zurück.
»Gott sei Dank, nun können wir wieder frei und ohne Bedenken miteinander reden.«
Er stellte einen Stuhl an die Wand und kletterte hinauf. Direkt über ihnen befand sich ein kleiner Ventilator, der mit Schrauben an der Wand befestigt war. Leon summte eine kleine Melodie, als er den Schraubenzieher ansetzte und geschickt das Deckgitter löste. Manfred sah ihm interessiert zu.
»Sieh einmal hierher, George. Nimm dir auch einen Stuhl.«
Manfred sah einen kleinen, flachen, braunen Kasten, der etwa 5 X 5 cm groß war. In der Mitte befand sich eine schwarze, etwas vertiefte Scheibe aus Hartgummi.
»Weißt du, was das ist?« fragte Leon. »Das ist ein Mikrophon!«
»Dann hat wohl jemand unsere ganzen Gespräche belauscht?«
Leon nickte.
»Der Herr über uns muß einen recht traurigen und öden Tag gehabt haben. Selbst wenn er spanisch sprechen kann, muß er sich da oben schrecklich gelangweilt haben.«
»Aber …«, begann Manfred.
»Du brauchst dir keine Sorge zu machen. Er ist fortgegangen. Um aber ganz sicher zu sein –«
Geschickt löste er einen der Drähte, mit denen der Apparat in dem Lüftungsschacht aufgehängt war.
»Mr. Prothero kam gestern abend«, erklärte Leon. »Er mietete das Zimmer über uns. Er hat direkt danach gefragt, das hörte ich von dem Oberkellner. Der Mann ist mir treu ergeben, weil ich ihm dreimal so viel und dreimal so oft Trinkgeld gebe, als er es von den anderen Bewohnern der Pension gewöhnt ist. Ich wußte nicht genau, was Prothero im Schilde führte, bis ich hörte, daß er das Mikrophon den Schacht herunterließ.«
Leon befestigte das Gitter wieder über der Öffnung und sprang dann von dem Stuhl herunter.
»Du mußt mir versprechen, morgen mit nach Lambeth zu kommen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir Mr. Prothero dort treffen. Aber wir werden seine Frau sehen, die regelmäßig um elf Uhr ihre Einkäufe in der London Road macht. Sie ist sehr ordnungsliebend.«
»Warum soll ich sie denn sehen?«
Gewöhnlich deckte Leon seine Pläne nicht eher auf, als bis der dramatische Abschluß dicht bevorstand.
»Ich brauche dein Urteil, deine große Menschenkenntnis. Du sollst mir sagen, ob diese Frau solche Eigenschaften besitzt, daß ein kahlköpfiger Mann ihretwegen einen Mord begeht.«
Manfred sah ihn bestürzt an.
»Wer soll denn das Opfer sein?«
»Ich«, entgegnete Gonsalez und krümmte sich vor Lachen, als Manfred ihn verständnislos anschaute. –
Einige Minuten vor elf sahen sie Mrs. Prothero. Leon drückte Manfreds Arm und gab ihm ein Zeichen mit den Augen.
»Dort geht sie.«
Eine junge Frau ging quer über die Straße. Sie war hübsch und viel besser gekleidet, als man es bei ihrem Stand erwarten konnte. Sie hatte Handschuhe an und trug einen Einkaufsbeutel in der einen, eine kleine Handtasche in der anderen Hand.
»Sie ist wirklich reizend«, sagte Manfred.
Mrs. Prothero war vor dem Schaufenster eines Juweliers stehengeblieben, und Manfred hatte Gelegenheit, sie zu beobachten.
»Nun, was hältst du von ihr?«
»Sie ist tatsächlich eine außerordentlich schöne junge Frau.«
»Komm, ich will dich mit ihr bekannt machen.« Leon zog ihn mit sich fort.
Mrs. Prothero sah sich erstaunt um, lächelte dann aber, als sie Leon erkannte. Manfred sah eine Reihe blitzender weißer Zähne und volle, rote Lippen. Sie sprach zwar nicht wie eine Dame, aber sie besaß eine ruhige und klangvolle Stimme.
»Guten Morgen, Herr Doktor«, begrüßte sie Leon. »Was tun Sie denn schon so früh morgens hier?«
Manfred fiel es auf, daß sie seinen Freund mit »Doktor« anredete, aber er wußte ja, daß Gonsalez in den verschiedensten Berufen auftrat, um sich die gewünschten Nachrichten für seine Zwecke zu verschaffen.
»Wir kommen gerade vom Guy-Hospital. Dies ist Dr. Seibert«, stellte er Manfred vor. »Sie sind beim Einkaufen?«
Sie nickte.
»Eigentlich hätte ich es nicht nötig gehabt, heute auszugehen. Mein Mann ist für drei Tage unten bei den Docks.«
»Haben Sie Ihren Bruder heute morgen schon gesehen?« fragte Leon.
Ein Schatten glitt über ihr Gesicht.
»Nein«, erwiderte sie kurz.
Offensichtlich war sie nicht sehr stolz auf diesen Verwandten. Vielleicht ahnte sie sein dunkles Gewerbe, jedenfalls hatte sie nicht den Wunsch, weiter darüber zu sprechen, denn sie änderte das Thema schnell.
Sie plauderten noch eine Weile miteinander, dann verabschiedete sie sich mit einer Entschuldigung von ihnen. Die beiden sahen ihr nach, bis sie in einem Lebensmittelgeschäft verschwand.
»Glaubst du, daß ihr Mann ihretwegen einen Mord begehen könnte?« fragte Leon.
»Es wäre nicht ausgeschlossen. Aber warum sollte er denn dich umbringen?«
»Das werden wir ja sehen.«
Als sie am Nachmittag wieder nach Hause kamen, fanden sie mehrere Briefe vor. Ein Kuvert, das ein großes Wappen trug, zog Manfreds Aufmerksamkeit auf sich.
»Lord Pertham«, sagte er, als er nach der Unterschrift sah. »Wer ist denn eigentlich Lord Pertham?«
»Ich habe gerade kein Nachschlagebuch zur Hand, aber mir kommt der Name bekannt vor. Was will denn Lord Pertham von uns?«
›Sehr geehrter Herr, unser gemeinsamer Freund, Mr. Fare von Scotland Yard, wird heute bei uns in Connaught Gardens zu Abend speisen. Dürften wir auch Sie bitten, zu kommen? Mr. Fare erzählte mir, daß Sie einer der tüchtigsten Kriminologen unserer Zeit sind, und da ich mich auch für diesen Zweig der Wissenschaft ganz besonders interessiere, würde ich mich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.‹
Unter der Unterschrift stand noch ein Nachsatz:
›Natürlich schließt diese Einladung auch Ihren geschätzten Freund ein.‹
Manfred rieb sich das Kinn. »Ich möchte wirklich heute abend nicht in vornehmer Gesellschaft speisen.«
»Aber ich«, erwiderte Leon entschieden. »Ich habe eine Vorliebe für gute englische Küche, und ich erinnere mich, daß Lord Pertham in dem Ruf steht, eine Art Epikuräer zu sein.«
Pünktlich um acht erschienen sie in dem großen Haus von Lord Pertham, das an der Ecke von Connaught Gardens stand. Sie wurden sofort von einem Diener eingelassen, der ihre Hüte und Mäntel abnahm und sie in einen geräumigen, etwas düsteren Empfangssalon führte.
Ein großer, schlanker Mann mit vollem, grauem Haar lehnte am Kamin. Er mochte etwa fünfzig Jahre sein. Schnell kam er auf die beiden zu, als sie eintraten.
»Wer von Ihnen ist Mr. Fuentes?«
»Das ist mein Name«, erwiderte Manfred lächelnd, »aber mein Freund ist der große Kriminologe.«
»Ich freue mich sehr, Sie beide kennenzulernen, aber ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Durch einen unglücklichen Umstand ist der Brief, den ich an Mr. Fare geschrieben habe, nicht rechtzeitig aufgegeben worden. Ich habe es leider erst vor einer halben Stunde erfahren. Hoffentlich macht es Ihnen nicht zuviel aus.«
Manfred murmelte eine konventionelle Höflichkeitsphrase, als sich die Tür öffnete und eine Dame hereinkam.
»Darf ich Sie Mylady vorstellen?«
Die Dame war schmal und hager. Ihre blauen, ausdruckslosen Augen und ihre dünnen Lippen entbehrten jedes Reizes. Sie machte einen verdrießlichen Eindruck und runzelte häufig die Stirn, was sie noch mehr entstellte.
Leon Gonsalez, der unwillkürlich jedes Gesicht analysierte, das er sah, kam zu dem Urteil: Groll, Argwohn, Undankbarkeit, Hartherzigkeit, Eitelkeit.
Als sie Gonsalez und Manfred nachlässig die Hand gab, vertieften sich die Falten auf ihrer Stirn noch mehr.
»Das Essen ist fertig, Pertham«, wandte sie sich an den Lord und machte nicht den geringsten Versuch, ihren Gästen gegenüber freundlich zu sein.
Bei Tisch war es sehr peinlich. Lord Pertham war nervös, aber obwohl eine denkbar schlechte Stimmung herrschte, ließen sich die beiden Freunde nicht beeinflussen. Dieser große, stattliche Mann schien sich vor seiner Frau zu fürchten, er war sehr rücksichtsvoll, fast unterwürfig in ihrer Gegenwart. Als die unliebenswürdige Gastgeberin schließlich das Zimmer verließ, machte er kein Hehl daraus, daß er sich erleichtert fühlte.
»Ich fürchte, daß Sie sich bei Tisch nicht gut unterhalten haben. Mylady hatte eine kleine Auseinandersetzung mit dem Koch.«
Offensichtlich hatte Mylady die Angewohnheit, sich stets mit ihren Dienstboten zu überwerfen, denn der Lord erwähnte in der Unterhaltung einige Leute, die sie entlassen hatte. Er sprach des langen und breiten über die Physiognomie von Dienstboten. Aber Manfred, der wie sein Freund eifrig zuhörte, schien es, daß der Lord keine große Autorität auf diesem Gebiet war. Er sprach sehr stockend und machte viele Fehler, aber Leon verbesserte ihn nicht. Gelegentlich erwähnte er auch, daß sein Interesse an Verbrechen noch gestiegen sei, da sein eigenes Leben bedroht würde.
»Wir wollen jetzt nach oben gehen und Mylady Gesellschaft leisten«, sagte er nach einer Weile. Manfred hätte darauf wetten können, daß Lord Pertham alles, was er über Kriminologie gesagt hatte, besonders für diesen Abend einstudiert hatte.
Sie gingen die breite Treppe zur ersten Etage hinauf und traten in einen kleinen Salon ein. Der Lord schien überrascht zu sein, daß niemand anwesend war.
»Ich bin sehr erstaunt«, begann er, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Lady Pertham hereinstürzte. Sie war totenbleich, und ihre dünnen Lippen zitterten.
»Pertham«, rief sie atemlos, »es ist ein Mann in meinem Ankleidezimmer!«
»Was, ein Einbrecher?« Der Lord eilte aus dem Zimmer.
Die beiden Freunde wollten ihm folgen, aber er blieb halbwegs auf der Treppe stehen und wehrte sie mit einer Handbewegung ab.
»Es ist besser, Sie bleiben unten bei Mylady. Läute doch bitte nach Thomas, Liebling!«
Leon und George standen am Fuß der Treppe, als er oben eine Tür aufstieß. Gleich darauf hörten sie einen Schrei und Geräusche, als ob jemand handgemein geworden wäre. Manfred eilte die Treppe hinauf; oben wurde eine Tür heftig zugeworfen. Man hörte erregte Stimmen, dann krachte ein Schuß, und etwas fiel schwer zu Boden.
Manfred stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Tür des Zimmers, aus dem der Lärm kam.
»Es ist alles in Ordnung«, hörten sie Lord Perthams Stimme.
Einen Augenblick später schloß er die Tür auf.
»Ich fürchte, ich habe diesen Menschen umgebracht.«
Er hatte die rauchende Pistole noch in der Hand. Mitten im Zimmer lag ein ärmlich gekleideter Mann, sein Blut färbte den perlgrauen Teppich.
Gonsalez ging schnell zu dem reglos Daliegenden und drehte, ihn um. Auf den ersten Blick sah er, daß der Mann tot war. Lange und ernst blickte er in das Gesicht des Einbrechers.
»Kennen Sie ihn?« fragte Lord Pertham.
»Ich glaube, ja«, erwiderte Gonsalez ruhig. »Es ist mein farbenblinder Verbrecher.« Er erkannte den Bruder von Mrs. Prothero.
Die beiden Freunde gingen nach Hause und ließen Lord Pertham mit einem Detektiv von Scotland Yard zurück. Seine Frau war ganz aufgelöst vor Aufregung und hatte einen Weinkrampf bekommen.
Keiner der beiden sprach, bis sie ihre Wohnung erreicht hatten. Leon setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung in den großen Armsessel und rauchte zufrieden.
»Leon!«
Gonsalez rührte sich nicht.
»Leon!«
Gonsalez drehte sich langsam um und sah George an.
»Ist dir heute abend bei der Schießerei nichts aufgefallen?«
»O doch, verschiedenes.«
»Was denn?«
»Vor allem dieses seltsame Zusammentreffen, daß ausgerechnet der Bruder von Mrs. Prothero in Lord Perthams Haus einbrechen muß. Hast du eigentlich die Hand des Toten betrachtet?«
»Nein.« Manfred sah Leon erstaunt an.
»Das ist schade – die Sache wäre dir dann wohl noch viel merkwürdiger vorgekommen. Was hast du denn beobachtet?«
»Ich wunderte mich, daß Lord Pertham eine Pistole bei sich trug. Er muß sie schon während des Essens bei sich gehabt haben.«
»Das kann ich dir leicht erklären. Erinnerst du dich, daß er uns erzählte, er sei in anonymen Briefen bedroht worden?«
»Das hatte ich ganz vergessen. Wer hat denn die Tür oben abgeschlossen?«
»Natürlich der Einbrecher.« Leon lächelte, und dieses Lächeln verriet Manfred, daß sein Freund nicht seine wahre Meinung sagte.
»Da wir nun gerade von verschlossenen Türen sprechen –«
Leon erhob sich, ging in sein Zimmer und kehrte mit zwei kleinen Instrumenten zurück, die wie Glocken von elektrischen Klingeln aussahen. Feine Metallspitzen schauten daraus hervor.
Leon schloß die Tür des Wohnzimmers und legte eine der Alarmglocken auf den Fußboden. Dann befestigte er die Metallspitze an dem Türflügel, so daß es unmöglich war, die Tür zu öffnen, ohne einen Druck auf die Klingel auszuüben. Er versuchte es, und sofort ertönte ein schrilles Klingelzeichen.
»Das wäre in Ordnung«, sagte er und wandte sich zu den Fenstern.
»Erwartest du denn Einbrecher?«
»Allerdings, und ich möchte wirklich nicht deshalb meinen Schlaf opfern.«
Leon schien mit dem Verschluß der Fenster nicht zufrieden zu sein und schob noch einen Keil hinein.
Eine andere Tür, die von Manfreds Zimmer direkt auf den Gang führte, sicherte er in derselben Weise wie die erste.
Mitten in der Nacht schlug die eine Alarmklingel schrill an. Manfred sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Seine eigene Tür war intakt, und er eilte in das Wohnzimmer, aber Gonsalez war ihm schon zuvorgekommen und betrachtete die Sicherung. Die Tür war nicht zugeschlossen. Mit dem Pantoffel schob er die Alarmglocke beiseite.
»Kommen Sie herein, Lord Pertham«, sagte er dann. »Wir wollen die Sache in aller Ruhe besprechen.«
Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann hörten sie Schritte, und ein Mann trat in das Zimmer. Er war in Gesellschaftskleidung, trug aber keinen Hut. Manfred sah erstaunt auf den kahlen Kopf.
»Nehmen Sie Platz und machen Sie es sich bequem. Ich darf Ihnen wohl die Waffe abnehmen, die Sie in der Tasche haben? Vielleicht können wir dann die Angelegenheit auf freundschaftliche Weise erledigen.«
Zweifellos war es Lord Pertham, obwohl man nichts mehr von seinem üppigen Haarwuchs sehen konnte. Manfred war aufs höchste überrascht, als Leon mit seiner linken Hand in die Rocktasche des Besuchers griff und eine Pistole hervorzog, die er sorgfältig auf den Kaminsims legte.
Lord Pertham sank in einen Stuhl und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Eine Weile herrschte tiefe Stille in dem Zimmer.
»Erinnerst du dich des ehrenwerten George Fearnside?« begann Leon.
»Fearnside – ja, er war doch damals auf der Jacht des Herzogs«, sagte Manfred verblüfft.
»Ganz recht. Wir dachten seinerzeit, daß er uns nicht mit entkommenen Übeltätern identifizieren würde, aber offensichtlich wußte er doch, daß wir die Vier Gerechten waren. Sie erbten Ihren Titel doch etwa vor sechs Jahren, Lord Pertham?«
Der zusammengesunkene Mann nickte, aber plötzlich richtete er sich auf. Sein Gesicht war kreidebleich, und tiefe, schwere Schatten lagen unter seinen Augen.
»Nun, meine Herren, es scheint, daß Sie mich fingen, anstatt daß ich Sie faßte. Was wollen Sie nun unternehmen?«
Gonsalez lachte leise.
»Ich habe nicht die geringste Neigung, vor Gericht als Zeuge aufzutreten und zu bekunden, daß Lord Pertham ein Bigamist ist und schon seit vielen Jahren ein Doppelleben führt. Denn das würde bedeuten, daß ich auch gewisse unangenehme Details über mich selbst geben müßte.«
Lord Pertham räusperte sich.
»Ich kam hierher, um Sie zu töten«, sagte er heiser.
»Das haben wir vermutet«, erwiderte Manfred. »Was steckt denn eigentlich hinter dieser ganzen Geschichte, Leon?«
»Es wäre wohl das beste, wenn Lord Pertham uns alles erzählte«, entgegnete Gonsalez.
Der Lord sah sich im Zimmer um.
»Würden Sie mir bitte ein Glas Wasser geben?«
Leon erfüllte seine Bitte.
»Es ist richtig«, begann er nach einer Weile, »daß ich Sie als zwei Mitglieder der Vier Gerechten erkannte. Ich war mit dem Herzog eng befreundet und befand mich zufällig an Bord seiner Jacht, als Sie dorthin kamen. Mein Freund erzählte mir zwar eine lange Geschichte von einer Flucht, die Ihre Anwesenheit auf der Jacht erklären sollte, aber als ich in Spanien an Land ging und die Berichte in den Zeitungen las, wußte ich, wer Sie waren. Wahrscheinlich wissen Sie auch aus meinem früheren Leben, daß ich als gewöhnlicher Matrose in der Handelsmarine diente und um die ganze Welt reiste. Diese Art Leben sagte mir mehr als alles andere zu. Auf diese Weise konnte ich Land und Leute kennenlernen, und zwar von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus, als ich es als Mitglied der großen Gesellschaft jemals hätte tun können. Wenn man die Welt wirklich kennenlernen will, muß man als Matrose reisen!
Ich traf Martha Grey eines Abends in einem Theater im Osten Londons. Als ich noch zur See fuhr, handelte ich auch wie ein richtiger Matrose. Zwischen mir und meinem Vater herrschten nicht gerade die besten Beziehungen, und ich hatte deshalb auch nie das Verlangen, nach Hause zu gehen. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, aber als das Mädchen an meiner Seite im dunklen Theater saß, verliebte ich mich in sie.«
»Und Sie haben dann Miss Grey geheiratet?« fragte Leon.
»Nein«, erwiderte der Lord schnell. »Ich ließ mich törichterweise überreden, mich drei Monate später mit Mylady trauen zu lassen, nachdem mir das Abenteurerleben zur See über geworden war und ich wieder in der Gesellschaft verkehrte. Sie war die Erbin eines großen Vermögens und war aus diesem Grund eine gute Partie. Dies spielte sich ab, bevor mein Vater den Titel und das Vermögen seines Vetters geerbt hatte. Das Eheleben, das ich mit Mylady führte, war entsetzlich, es war die Hölle auf Erden. Sie haben sie ja heute abend selbst gesehen und ihre Art kennengelernt. Ich habe eine zu große Achtung vor Frauen und stand zu sehr unter ihrem Einfluß, als daß ich das giftige Temperament meiner Frau hätte zügeln können. Und dieses schreckliche Leben, das ich zu Hause führen mußte, trieb mich zu Martha.
Sie hat einen guten Charakter.« Seine Augen leuchteten auf. »Sie ist die reinste, selbstloseste und liebevollste Frau, die jemals lebte. Als ich sie wieder traf, wurde mir erst bewußt, wie sehr ich sie liebte. Bei einem Mädchen ihrer Art blieb kein anderer Weg – ich heiratete sie. Auf einer Reise nach Australien bekam ich ein schweres Fieber und verlor mein ganzes Haar. Das war aber schon lange, bevor ich Martha traf. Es mag Eitelkeit gewesen sein, daß ich mir eine Perücke machen ließ, als ich wieder zu meinen Verwandten und zur Gesellschaft zurückkehrte. Aber es hatte einen doppelten Vorteil für mich: Einmal verbarg sie meinen kahlen Kopf und außerdem schützte sie mich vor der Gefahr, von meinen früheren Kameraden erkannt zu werden.
Als ich allmählich grau wurde, ließ ich auch die Farbe meiner Perücke meinem Alter entsprechend ändern. Martha fand nichts dabei, daß ich keine Haare hatte. Das Leben, das ich mit ihr führe, ist sehr glücklich. Ich muß sie von Zeit zu Zeit verlassen, um mich um die Verwaltung meines Besitzes zu kümmern. Dann gebe ich vor, daß ich eine längere Seereise mache. Mylady muß ich auf der anderen Seite erzählen, daß ich in Geschäftsangelegenheiten nach Amerika fahre, um ihr meine Abwesenheit zu erklären.«
»Der Mann, den Sie erschossen haben, war natürlich Marthas Halbbruder«, sagte Gonsalez.
Lord Pertham nickte.
»Es war einer der unglücklichsten Zufälle, daß er ausgerechnet in mein Haus einbrechen mußte. Bei dem Handgemenge riß er mir die Perücke ab und erkannte mich. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu erschießen«, sagte der Lord ruhig. »Ich tat es mit vollem Bewußtsein, weil mein Lebensglück durch ihn vernichtet worden wäre und weil er schon seit Jahren seine Schwester tyrannisiert und von ihrem geringen Einkommen lebt.«
Gonsalez nickte.
»Ich sah ein Büschel grauer Haare in seiner Hand und vermutete, was sich zugetragen hatte.«
»Was werden Sie nun tun?« fragte Lord Pertham.
»Was haben Sie denn vor?« fragte Leon dagegen. »Vielleicht ist es Ihnen lieb, wenn ich es Ihnen sage?«
»Das ist wohl das beste«, erwiderte Lord Pertham ernst.
»Sie nehmen Mylady mit sich auf eine Reise, sobald die Leichenschau vorüber ist, warten eine genügende Zeit und überreden sie dann, sich von Ihnen scheiden zu lassen. Wenn das geschehen ist, heiraten Sie Mrs. Prothero unter Ihrem wirklichen Namen.«
Manfred wandte sich an Leon, nachdem Lord Pertham in das obere Zimmer gegangen war.
»Du bist doch eigentlich ein ganz unmoralischer Mensch, Leon. Nimm doch einmal an, Lady Pertham läßt sich nicht von ihm scheiden –«
Leon lachte.
»Es ist gar nicht nötig, daß sie sich von Lord Pertham scheiden läßt, denn er hat uns ein wenig belogen. Er hat Martha erst geheiratet, verließ sie dann und kehrte wieder zu ihr zurück. Ich weiß das zufällig, weil ich die ganzen Heiratsregister durchgesehen habe. Es gab eine Mrs. Prothero, ehe es eine Lady Pertham gab.«
»Du bist wirklich ein Prachtkerl, mein lieber Leon«, sagte Manfred bewundernd.
»Ja, da hast du recht«, gab Gonsalez bescheiden zu.