Kapitel 27

 

27

 

Elton war nicht lange bei Stanford geblieben und hatte gerade begonnen, einen Brief zu schreiben, als seine Frau erschien. Er legte die Feder aus der Hand. »Dora, was hast du eigentlich getrieben, ehe wir uns kennenlernten?« fragte er unvermittelt.

 

»Ach, anfangs ging ich als Statistin mit Marsh und Bignall auf Reisen. Marsh machte Bankerott, und ich war dann in einer Schießbude und so weiter. Ich bin alles gewesen von der ersten Liebhaberin bis zur Garderobiere. – Von elektrischen Leitungen verstehe ich mehr als mancher Mechaniker. Aber warum fragst du danach?«

 

»Wo lerntest du Marshalt kennen?«

 

»Hier in London«, entgegnete sie nach kurzem Zögern. Ihre Hand, in der sie eine Zeitung hielt, zitterte leicht. »Ach, ich wollte, ich wäre vorher gestorben!«

 

»Dora – hast du ihn lieb?«

 

»Ich hasse ihn!« rief sie leidenschaftlich. »Ich habe ihn einmal geliebt – ja. Ich habe sogar an Scheidung gedacht. Aber ich war nicht schlecht genug. Ich fing an, ihn zu langweilen. In gewisser Weise bin ich vielleicht auch altmodisch.«

 

Er hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und beobachtete sie unter gesenkten Lidern.

 

»Glaubst du, daß er tot ist?«

 

Sie machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Ich empfinde ihn nicht als tot – aber es ist mir gleichgültig.«

 

Sie sprach aufrichtig, davon war er überzeugt.

 

»Hat er jemals Malpas erwähnt?«

 

»Ja, oft! Und dabei wurde er immer nervös. Malpas haßte ihn. Der Polizei gegenüber behauptete Lacy, nichts von ihm zu wissen, aber er wußte sehr viel. Er sagte, Malpas und er wären früher Partner gewesen, und er wäre mit Malpas‘ Frau durchgegangen.«

 

Er stand auf und legte die Hände auf ihre Schultern.

 

»Ich danke dir – für alles, was du gesagt hast. Ich glaube, wir beide werden jetzt fest zusammenhalten. Wie stehst du denn jetzt zu Audrey?«

 

»Ich weiß es selbst nicht. Meine Abneigung gegen sie ist sehr groß. Ich wurde ja dazu erzogen, sie zu hassen.«

 

»Das tut mir leid.« Martin klopfte sie sanft auf die Schulter und ging.

 

Als er nachmittags nach Hause kam, traf er Dora in der Halle. Sie war zum Ausgehen angekleidet, aber er bat sie, ins Wohnzimmer hinaufzukommen.

 

»Als Audrey das letztemal hier war, sagtest du ihr, sie hieße gar nicht Bedford, und ihr Vater säße wegen Diamantendiebstahls in einer Strafanstalt in Südafrika«, sagte er hastig. »War das wahr?«

 

»Ja«, erwiderte sie verwundert. »Weshalb – ?«

 

»Abends sagtest du mir, er wäre lahm – hätte bei der Verhaftung einen Schuß ins Bein bekommen. Wie hieß Audreys Vater?«

 

»Daniel Torrington.«

 

Martin pfiff leise durch die Zähne.

 

»Ich habe – jemand getroffen, der behauptet, Torrington wäre hier in London. Man hat ihn begnadigt, und es scheint, daß er sich schon längere Zeit hier aufhält. Wußte Marshalt wohl davon?« »Nein, wenn er das gewußt hätte, wäre er wohl nicht so vergnügt gewesen. Ach!« Sie preßte die Hand einen Augenblick auf den Mund. »Malpas!« flüsterte sie.

 

Er starrte sie an, denn ihm war derselbe Gedanke gekommen.

 

»Marshalt muß es gewußt oder geahnt haben«, fuhr sie leise fort. »Er hat die ganze Zeit nebenan gewohnt! Bunny, Malpas ist Torrington!«

 

»Das glaube ich nicht.« Martin schüttelte den Kopf. »Es klingt zu romanhaft! So rachsüchtig ist kein Mensch. Und nun gar Torrington, der nach seiner Tochter sucht!«

 

»Er hält Audrey sicher für tot. Er hing sehr an dem Kind, und auf Marshalts Rat hin hat ihm Mutter geschrieben, daß Audrey an Scharlach gestorben wäre. Torrington hat ihr sogar unten bei Kapstadt einen Gedenkstein errichten lassen. Das weiß ich von Marshalt. Ist Torrington sehr reich?«

 

»Er soll zwei Millionen Pfund wert sein. Was er wohl – für die Wahrheit zahlen würde?«

 

»Nie im Leben soll er sie von uns erfahren! Mag er sie selbst herausbringen!«

 

»Wie ist sie getauft?« fragte er langsam und nachdenklich.

 

»Dorothy Audrey Torrington. Aber er weiß nicht, daß wir sie Audrey nannten. In seinem Brief schrieb er von Dorothy.«

 

»Schreibe an Audrey und lade sie zum Tee ein«, sagte Martin langsam. Sie schaute ihn empört an.

 

»Ja, schreibe ihr, es täte dir leid, daß du so unfreundlich zu ihr gewesen wärst und ihr allerlei vorgelogen hättest – über ihren Vater. Und wenn sie kommt, sagst du ihr, Torrington wäre dein Vater. Wo kann ich mir Audreys Geburtsschein verschaffen?«

 

»Ich habe oben noch allerlei Papiere von Mutter. Es kann sein, daß er darunter ist. Hole sie doch herunter, Bunny! Sie liegen in meinem Schrank – in einem Blechkasten.«

 

Er brachte ihn und öffnete ihn geschickt, als kein Schlüssel zu finden war. Auf dem Boden des Kastens lag ein blauer Briefumschlag mit zwei Geburtsscheinen. Martin breitete sie auf dem Tisch aus, und seine Augen glänzten.

 

»Dorothy Audrey Torrington«, las er, »und du heißt Nina Dorothy Bedford. Aus dem Namen Audrey läßt sich etwas anderes machen. Dora, du mußt Audrey schreiben und ihr – mit oder ohne Tränen – sagen, sie wäre deine ältere Schwester –«

 

Es klopfte.

 

»Mr. Smith aus Chicago«, meldete das Mädchen.

 

Martin zögerte einen Augenblick.

 

»Du kennst den Menschen ja wohl, Dora«, sagte er schließlich. »Ich lasse bitten.«

 

Slick Smith war wie immer tadellos gekleidet und legte seinen glänzenden Zylinder fast zärtlich auf einen Stuhl.

 

»Ich störe doch nicht?« begann er mit strahlender Miene. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, daß 147 Ihre verehrte Schwägerin in den Polizeidienst eingetreten ist. Streng genommen kann man es vielleicht nicht als Polizeidienst bezeichnen, aber jedenfalls ist sie bei Stormers Agentur angestellt.«

 

»Soll das Scherz oder Ernst sein?« fragte Martin schroff.

 

»Voller Ernst. Ich sah zufällig, daß sie mit Willitt in einen Juwelierladen ging, wo er ihr das Stormersche Abzeichen kaufte: einen kleinen silbernen Stern mit Stormers Namen auf der Rückseite. Ich kenne es, und die junge Dame schien sich sehr darüber zu freuen. Und wissen Sie, was Willitt tat, nachdem er sich von ihr getrennt hatte?«

 

Martin zuckte ungeduldig die Schultern.

 

»Er ging zu dem nächsten Telephon und rief das Ritz-Carlton-Hotel an, um dort eine Zimmerflucht für die junge Dame zu bestellen.« Smith zog sein Taschentuch heraus, betupfte die Lippen und fuhr dann lächelnd fort: »Mr. Brown – oder Torrington – wohnt im Ritz-Carlton.«

 

Martin und Dora waren fassungslos.

 

»Ich dachte, ich müßte es Ihnen mitteilen«, meinte Smith. »Für Leute, die heute ein gewisser Wilfred auf die Spur von Torringtons Millionen gebracht hat, kann die Nachricht ja von Wert sein. – Ein reizendes Mädchen, Ihre jüngere Schwester, Mrs. Elton!«

 

Martin zuckte zusammen, aber Dora hatte ihre Fassung wiedergewonnen.

 

»Sie meinen Audrey?« erwiderte sie lachend. »Ich bin ein volles Jahr jünger als sie!«

 

Slick sah sie prüfend an.

 

»Man scheint sich allseitig sehr für Ihre Schwester zu interessieren«, bemerkte er nachdenklich. »Jetzt hat schon der dritte Mann versucht, sie im Palace-Hotel zu fangen, und auch diesem dritten ist es mißlungen. Ich habe eine Ahnung, als ob ich noch zur Beerdigung des vierten gehen würde!«

 

Kapitel 26

 

26

 

Willitt war höchst verwundert, als er morgens ins Büro kam und es heftig klingeln hörte. Er fand seinen Chef in jämmerlichem Zustand auf einem Sofa.

 

»Ich sterbe –« murmelte Stormer – »bringen Sie mir starken Kaffee und eine Kiste voll Phenacetin. O, mein Kopf! Ich habe eine Beule, so groß wie ein Hühnerei! Und bei Hühnern fällt mir ein: schaffen Sie mir die kleine Bedford her …«

 

»Ist Ihnen über Nacht etwas zugestoßen?«

 

»Sehen Sie mir das nicht an? Aber niemand außer Ihnen darf es wissen. Wenn jemand nach mir fragt, bin ich in Amerika …«

 

Willitt beeilte sich, alles Gewünschte herbeizuschaffen.

 

»Und nun telephonieren Sie nach einem Barbier, und holen Sie mir aus dem nächsten Laden einen Kragen!« Sein Gesicht verzog sich schmerzlich, als er sich aufrichtete und nach der Kaffeetasse griff.

 

»Sie brennen natürlich darauf, mich auszufragen«, fuhr er dann fort. »Nun, ich hatte einen Kampf mit einem Gespenst und zog den kürzeren.«

 

»Wer war es denn?«

 

»Das weiß ich nicht. Ich wachte von einem Schrei auf, ging hinaus, um zu sehen, was los wäre, und entdeckte zwei, drei oder auch sechs Leute, die den Flur entlangliefen. Von ebenso vielen wurde ich über den Kopf gehauen und kam erst wieder zu mir, als mir der Hoteldetektiv den Kragen aufmachte. Vergessen Sie ja nicht die kleine Bedford. Sie hat eine Anstellung bei dem Hühnerblatt, und ich glaube nicht, daß es ihr dort gefallen wird. Gehen Sie zu ihr und bieten Sie ihr einen guten Posten mit beliebig hohem Gehalt an. Verstehen Sie?«

 

»Jawohl.«

 

»Fassen Sie das Mädel ab, wenn sie zum Essen geht. Sie soll dann Torrington alias Brown beobachten. Und kommen Sie mir nicht unverrichteter Sache zurück, Willitt! Ich bin derartig kaputt, daß ich sehr grob werden würde.« –

 

Audrey begann ihre Arbeit in der Redaktion mit einer gewissen Befriedigung, die aber nicht lange vorhielt. Sie entzweite sich bald mit Mr. Hepps, als er darauf bestand, daß sie schriftlich ein Futtermittel für Hühner empfehlen sollte, das sie für absolut schädlich hielt. Und etwas später am Tag geriet er in Wut über einen von ihr verfaßten Artikel.

 

»Viel zu lang!« schrie er. »Und Ihre Handschrift mißfällt mir auch! Können Sie denn nicht mit Maschine schreiben? Sie werden sich ordentlich zusammennehmen müssen, wenn Sie hier – wo wollen Sie hin?« fragte er verblüfft, als sie aufstand und Hut und Mantel vom Haken nahm.

 

»Nach Hause, Mr. Hepps«, erwiderte sie gelassen. Die Grundsätze, die hier herrschen, gefallen mir nicht.«

 

»Dann scheren Sie sich zum Teufel!« brüllte er.

 

Gegen vier Uhr ging sie fort und trat ausgehungert in ein benachbartes, kleines Restaurant.

 

Gleich nach ihr kam ein Herr herein und nahm mit einer Verbeugung an demselben Marmortisch Platz. Als sie ihn flüchtig ansah, kam er ihr irgendwie bekannt vor; aber sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern vertiefte sich in einen Zeitungsbericht über »Sonderbare Vorfälle im Palace-Hotel«.

 

»Verzeihen Sie, Miß Bedford!«

 

Bestürzt blickte sie auf.

 

»Mein Name ist Willitt. Vielleicht entsinnen Sie sich – ich kam einmal nach Fontwell, um Erkundigungen einzuziehen –«

 

»Ach ja – gerade als ich nach London abreiste.«

 

»Ganz recht. Ich bin ein Vertreter der Stormerschen Detektiv-Agentur –«

 

Audrey nickte. Von dieser bekannten Firma hatte sie schon öfter gelesen.

 

»Mr. Stormer hat mich beauftragt, mit – mit einem Vorschlag an Sie heranzutreten, Miß Bedford. Wir sind nämlich in Verlegenheit. Eine Dame, die für uns arbeitete, hat sich verheiratet, und wir haben bis jetzt noch keinen Ersatz für sie gefunden. Nun meinte Mr. Stormer, ich sollte einmal anfragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, in unsere Agentur einzutreten?«

 

»Ich?! Sie meinen – als Detektivin?«

 

»Wir würden Ihnen keine unangenehme Arbeit übergeben. Sie kämen nur für Fälle aus der guten Gesellschaft in Frage.«

 

»Aber kennt Mr. Stormer denn – meine Vorgeschichte?«

 

»Sie meinen den Juwelenraub? Ach, darüber weiß er selbstverständlich Bescheid. Das macht ihm nichts aus. Er möchte Sie damit beauftragen, einen Herrn zu beobachten, einen gewissen Mr. Torrington.«

 

»Torrington? Wer ist das?«

 

»Ein steinreicher Südafrikaner. Interessieren Sie sich für Südafrika?«

 

Sie zuckte zusammen.

 

»Jawohl – wenn alle Geschichten, die ich gehört habe – wahr sind –« erwiderte sie langsam.

 

»Wir verlangen nicht, daß Sie hinter Torrington herlaufen«, fuhr Willitt fort. »Es wäre uns aber lieb, wenn Sie mit ihm bekannt würden.«

 

»Ist er – ein Verbrecher?«

 

»Gott behüte! Ein durchaus redlicher Mann. Wir möchten nur gern wissen, mit wem er verkehrt –«

 

»Kann ich Mr. Stormer vielleicht selbst sprechen?«

 

»Er ist schon wieder in Amerika«, flunkerte Willitt, »und vor seiner Abreise hat er mir ausdrücklich aufgetragen, Sie um jeden Preis als Mitarbeiterin zu gewinnen.«

 

Audrey lachte.

 

»Nun, versuchen kann ich es ja«, meinte sie vergnügt.

 

Willitt atmete erleichtert auf.

 

Als er ins Büro zurückkam, fand er John Stormer in milderer Stimmung und berichtete mit Genugtuung über den Erfolg seiner Sendung. Er hatte kaum das Zimmer verlassen, als Stormer sich ans Telephon begab.

 

»Hier Stormer. Sind Sie es selbst, Hepps? Besten Dank für Ihre Hilfe.«

 

»Es ging mir sehr gegen den Strich«, erwiderte der Redakteur in bedauerndem Ton. »Sie scheint ein nettes und begabtes Mädchen zu sein. Was wird sie nur von mir denken! Ich werde nicht so leicht wieder einem netten Mädel ins Gesicht sehen können – ich schäme mich wirklich!«

 

»Ach was, das ist vielleicht nur zu Ihrem Besten!« lachte Stormer und hängte an.

 

 

Torrington bewohnte eines der teuersten Appartements im Ritz-Carlton-Hotel. Er empfing nur sehr selten Besuch, und als ein schäbiger, kleiner Mann sich bei ihm melden lassen wollte und eine Verabredung vorschützte, dauerte es eine ganze Weile, bis er vorgelassen wurde.

 

»Mr. Brown« saß an seinem Schreibtisch und schob das Blatt, an dem er geschrieben hatte, zur Seite, um sich den Besucher genau anzusehen.

 

»Sie kommen aus Kimberley?« fragte er. »Ich erinnere mich nicht, Sie jemals gesehen zu haben. Sie wissen natürlich, welchen Namen ich damals führte?«

 

»Ich weiß«, erwiderte der kleine Mann, »aber ich werde ihn nicht aussprechen. Wenn ein Mann sich Brown nennt – so ist er für mich eben Mr. Brown. Offen gesagt – ich verbüßte zur selben Zeit wie Sie eine Strafe.«

 

Torrington fuhr mit der Hand in die Tasche.

 

»Ich besinne mich nicht auf Sie, aber ich habe mir auch große Mühe gegeben, alle Leute zu vergessen, mit denen ich am Wellenbrecher arbeitete.«

 

Auf dem Schreibtisch lag der Brief, den der alte Herr gerade beendigt hatte. Der Fremde sah die schwungvolle Unterschrift, aber der Bogen war zu weit entfernt, als daß er ihn hätte lesen können. Er suchte nach einem Vorwand, um hinter den Tisch zu kommen.

 

Torrington schob ihm eine Banknote zu.

 

»Ich hoffe, daß es Ihnen in Zukunft besser gehen wird.«

 

Der kleine Mann nahm den Geldschein, ballte ihn zusammen und schleuderte ihn zum Erstaunen seines Wohltäters an ihm vorüber in den leeren Kamin. Verwundert sah sich »Mr. Brown« um, und in dieser Sekunde wurde die Unterschrift gelesen.

 

»Behalten Sie Ihr Geld!« sagte der Fremde. »Denken Sie, daß ich deshalb hergekommen bin – Torrington?«

 

Daniel Torrington stand auf.

 

»Nehmen Sie das Geld, und machen Sie sich nicht lächerlich!«

 

Der Mann holte sich den zerknitterten Schein und ging. Torrington machte die Tür leise hinter ihm zu. Woher wußte dieser Mensch –?

 

Da fiel sein Blick auf den Brief, und er begriff.

 

Kapitel 21

 

21

 

Dora Elton hörte, wie Martin nach Hause kam, und riß sich zusammen. Sie fror, obwohl sie noch in ihren Pelzmantel gehüllt war und in einem behaglich warmen Raum saß.

 

Lacy Marshalt war tot. Auch wenn sie nicht hinter jener Menge auf dem Portman Square gestanden und es gehört hätte, wäre es ihr zum Bewußtsein gekommen, denn die wilde Besessenheit, die sie gepackt hatte, war plötzlich von ihr gewichen. Und nun war ihr zumute wie einem Mörder am Morgen des Hinrichtungstages.

 

Der Türgriff drehte sich, und Martin Elton trat ein. Bei seinem Anblick zuckte ihre Hand zum Mund empor, um einen Schrei zu unterdrücken. Sein Gesicht und seine Hände waren schmutzig, sein Frackhemd mit Staub und Flecken bedeckt. Von dem Beinkleid hing ein Tuchfetzen herab und enthüllte ein zerschrammtes Knie. Die blutlosen Lippen machten sein Gesicht plötzlich alt, und die Augen lagen tief in den Höhlen.

 

Eine Sekunde lang blieb er in der Tür stehen und starrte sie an. Es lag weder Vorwurf noch Zorn in seinem Blick.

 

»Hallo, die Polizei ist also doch gekommen?« fragte er.

 

»Die Polizei?«

 

»Du schicktest sie doch her, um nach dem Geld zu suchen. Ich sprach mit Gavon: er hatte offenbar Lust, eine Haussuchung vorzunehmen. Du hast das doch wohl nicht vergessen?«

 

Sie hatte es wirklich vergessen. Es war inzwischen so viel geschehen!

 

»Ich habe es verhindert. Gavon glaubt, daß ich hysterisch bin.«

 

Er spreizte die schmutzigen Finger über dem Feuer aus.

 

»Der Ansicht bin ich auch. Aber jetzt will ich baden und mich umkleiden.«

 

Plötzlich fuhr sie mit der Hand in seine Tasche, holte einen großen Browning heraus und untersuchte ihn. Die Pistole war erst kürzlich abgefeuert worden und roch noch nach Pulver.

 

»Haben sie dich gesehen?« fragte sie leise.

 

»Ich weiß es nicht – es kann sein. Was willst du tun?«

 

»Zieh dich nur um. Ich habe noch einen Gang zu machen – in einer Viertelstunde bin ich wieder hier.«

 

»Schön«, erwiderte er dumpf.

 

Sie kannte eine Terrasse am Regent-Kanal und fuhr in einer Autodroschke hin. Nachdem sie den Chauffeur bezahlt und entlassen hatte, ging sie mitten auf die Brücke und ließ die Pistole hinabfallen. Sie hörte deutlich, wie die Waffe das dünne Eis durchschlug. Dann ging sie zu dem anderen Kanalufer und fand sehr bald wieder ein Auto.

 

Martin saß in seinem Ankleidezimmer und trank heißen Kaffee, als sie zurückkehrte. Er erriet, wo sie gewesen war.

 

»Es tut mir leid, daß du dich so dumm benommen hast – wegen des Geldes«, sagte er. »Ich hatte es mir anders überlegt und es Stanford zurückgegeben. Gavon war hier, während wir aus waren.«

 

»Ja, Lucy sagte so etwas. Was hast du mit deinen Kleidern gemacht?«

 

»Im Zentralofen«, erwiderte er kurz.

 

»Ich gehe jetzt zu Bett«, murmelte sie und bot ihm die Lippen zum Kuß.

 

»Frauen sind doch wunderlich«, sagte er vor sich hin, als sie das Zimmer verlassen hatte.

 

Er selbst ging nicht zur Ruhe. Sein Anzug lag für die erwartete plötzliche Vorladung bereit. Die ganze Nacht hindurch saß er grübelnd am Kaminfeuer – aber er bereute nichts. Er war eingeschlafen, als er um sieben von dem Hausmädchen geweckt wurde.

 

»Ein Herr möchte Sie sprechen – Captain Shannon.«

 

Martin erhob sich fröstelnd.

 

»Ich lasse bitten«, entgegnete er.

 

Dick Shannon kam sofort herein.

 

»Morgen, Elton! Gehört das Ihnen?« Er hielt ihm das goldene Zigarettenetui hin.

 

»Ja.«

 

Dick steckte es wieder ein.

 

»Wollen Sie mir bitte erklären, wie es kommt, daß wir es dort fanden, wo Marshalt ermordet wurde?«

 

»Um welche Zeit wurde der Mord begangen?« erwiderte Elton höflich.

 

»Um acht.«

 

Martin nickte.

 

»Um acht befand ich mich auf der Polizeiwache in der Vine Street und setzte Inspektor Gavon auseinander, daß meine Frau zeitweise an Geistesverwirrung leidet. Wußten Sie das nicht?«

 

In diesem Augenblick trat Dora bleich und hohläugig ins Zimmer.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie.

 

»Shannon sagte mir eben, daß Lacy Marshalt tot ist. Das war mir ganz neu. Wußtest du es schon?«

 

»Ja – und warum ist Captain Shannon hier?«

 

»Weil mein Zigarettenetui wie durch Zauber sich auf das Dach des Malpas’schen Hauses verirrt hat«, entgegnete Martin lächelnd.

 

»Ich habe nicht gesagt, daß es dort gefunden wurde!« warf Dick ein.

 

»Dann muß ich es wohl geträumt haben«, antwortete Martin gelassen.

 

»Hören Sie, Elton, ich rate Ihnen, mir gegenüber so offen zu sein, als es mit Ihrer Sicherheit vereinbar ist«, warnte ihn Dick. »Wie kommt es, daß das Etui auf dem Dach von Portman Square 551 gefunden wurde?«

 

»Ich habe es dort verloren, als ich früher am Abend versuchte, in Marshalts Haus einzudringen, um – um eine kleine Abrechnung mit ihm zu halten. Aber es ist nicht möglich, das Dach zu erreichen. Auf das Haus nebenan kommt man ziemlich leicht hinauf, aber als ich von dort aus bei Marshalt eindringen wollte, stieß ich auf Schwierigkeiten. Und gestern abend wurde es noch schwieriger, weil sich ein Mann auf dem Dach befand – vermutlich ein Detektiv.«

 

»Wie kamen Sie denn wieder hinunter?«

 

»Das war das Erstaunliche. Jemand hatte glücklicherweise für einen Strick gesorgt, der am Schornstein angebunden und in regelmäßigen Abständen geknotet war – er war so bequem wie eine Leiter.«

 

Shannon überlegte einen Augenblick und ersuchte Martin dann, mit ihm nach der Vine Street zu kommen.

 

»Wir müssen Ihre Geschichte genau nachprüfen«, sagte er.

 

Zu seiner Verwunderung wurden Martins Aussagen auf der Polizeiwache vollauf bestätigt.

 

»Ja, Mr. Elton war um acht Uhr hier und sah aus, als ob er von einem Maskenball käme«, erwiderte der Beamte auf Dicks Frage. »Ganz zerlumpt und beschmutzt.«

 

»Und diese Uhr hier geht richtig?« erkundigte sich Dick.

 

»Ja, jetzt geht sie wieder«, entgegnete der Inspektor. »Nur gestern abend blieb sie einmal stehen – gerade um die Zeit, als Sie hier waren, Mr. Elton. Es muß wohl an der Kälte gelegen haben, denn wir brauchten sie fast gar nicht aufzuziehen, um sie wieder in Gang zu bringen.«

 

»Die dumme Uhr wird Sie wahrscheinlich vor dem Galgen bewahren«, sagte Dick, als sie wieder draußen waren. »Ich habe mir eine Vollmacht für eine Haussuchung bei Ihnen verschafft und werde jetzt damit beginnen.«

 

»Wenn Sie etwas finden, was für Sie von Wert ist, werde ich der erste sein, der Sie beglückwünscht«, erwiderte Elton kühl.

 

Kapitel 20

 

20

 

»Alle Zimmer durchsuchen!« befahl Shannon. »Der Mann muß noch im Haus sein. Er ist hier gewesen.« Er deutete auf die Papiere, die wirr und teilweise blutbefleckt auf dem Schreibtisch umherlagen. Dann begann er hinter den Samtvorhängen nach einem zweiten Ausgang zu suchen. »Großer Gott!« stieß er plötzlich hervor.

 

Hinter einer der Portieren thronte auf einem breiten Sockel ein großer, bronzener Götze, und hinter diesem war eine ungeheure goldene Sonne inkrustiert, deren tanzende Flammen mit Tausenden von kleinen Rubinen besetzt waren und wie Feuer zu lodern schienen. Rechts und links von dem Götzen standen zwei katzenartige Bronzetiere mit funkelnden, grünen Augen.

 

»Smaragde – echte Smaragde«, sagte Dick. »Sind wir denn in Ali Babas Höhle geraten? Den Götzen kann ich nicht unterbringen – ein Mittelding zwischen Pluto und den Medusen – sehen Sie doch nur die Schlangenhaare!«

 

Es war eine scheußliche Gestalt mit greulichem Mund und zackigen Elefantenzähnen, die sich zu bewegen schienen.

 

»Der alte Herr scheint ein Teufelsanbeter zu sein«, erklärte Dick und zeigte auf zwei rauchgeschwärzte Schalen.

 

»Das ist Blut«, murmelte Steel und beleuchtete einen schmierigen roten Fleck mit seiner Taschenlampe. »Und wonach riecht es hier so eigentümlich?«

 

»Der Teppich sengt«, bemerkte einer der Leute und nahm mit seiner behandschuhten Hand eine halbverglühte Kohle auf.

 

Schließlich wurde in einer Ecke eine kleine Tür entdeckt, die der Feuerwehraxt nicht widerstand. Eine Steintreppe führte von dort zu einem Vorderzimmer hinab. Hier waren allerlei seltsame Sachen aufgestapelt: Felle und Zulu-Assegais und eine große Sammlung greulicher Götzenbilder. Dazwischen ein in leuchtenden Farben bemalter ägyptischer Sarg, dessen Deckel aus einer geschnitzten Menschengestalt bestand. Shannon lüftete den Deckel – der Sarg war leer.

 

»Marshalts Leiche befindet sich noch im Haus«, erklärte Dick mit Bestimmtheit, als sie wieder nach oben zurückkehrten. »Ob es wohl eine Verbindung zwischen den beiden Häusern gibt?«

 

»Nein«, erwiderte Steel. »Die Wände sind massiv. Ich habe sie in allen Stockwerken geprüft.«

 

Ein Polizeiinspektor hatte sich am Schreibtisch niedergelassen und überreichte Dick jetzt einen halben Briefbogen, bei dessen Anblick Dick ein kalter Schauer über den Rücken lief. Das Blatt trug den Briefkopf des Palace-Hotels und war offenbar von Audreys Hand beschrieben.

 

 

»Wollen Sie mich heute abend um acht besuchen? Mr. M. wird Sie einlassen, wenn Sie klopfen.

 

A.«

 

 

Audrey! Aber er faßte sich gleich wieder, denn die Sache war ihm klar. Er nahm Steel beiseite und zeigte ihm den Brief.

 

»Dies ist einer von den Briefen, die Miß Bedford für den alten Herrn abzuschreiben pflegte«, sagte er. »Ich werde jetzt hinübergehen und Tonger benachrichtigen.«

 

Draußen hatten sich trotz der späten Stunde viele Neugierige angesammelt. Auch im Marshaltschen Haus brannte noch Licht, als Dick klingelte. Aber es meldete sich niemand.

 

Steel rief nach Shannon, und dieser kehrte zurück, um zu sehen, was sein Assistent wollte. Sein Fuß berührte schon den Gehsteig, als in dem Haus hinter ihm ein Schuß knallte, dem rasch zwei weitere folgten. Gleichzeitig ertönte unten im Keller gellendes Geschrei, und die Tür des Kellereingangs wurde aufgerissen.

 

»Mord!« kreischte eine Frauenstimme.

 

Sofort stürzte Dick hinunter, schob eine ohnmächtig umsinkende Frau beiseite und lief in die Halle hinauf, wo er drei vor Angst halb wahnsinnige Dienstmädchen und eine etwas gefaßtere Köchin vorfand.

 

»Oben, oben!« riefen sie. »Mr. Marshalts Arbeitszimmer!«

 

Shannon eilte in langen Sätzen die Treppe hinauf und bemerkte rechts eine offenstehende Tür. Quer über die Schwelle ausgestreckt lag Tonger.

 

Er war tot – aus nächster Nähe erschossen.

 

Nachdem die Leiche fortgeschafft worden war, fragte Dick die Mädchen, wer die Kellertür geöffnet hätte, aber sie wußten es nicht. Er kehrte dann nach Nr. 551 zurück, wo man inzwischen alle Zimmer bis auf eins im obersten Stock durchsucht hatte. Dieses eine ließ sich nicht öffnen.

 

»Holen Sie Brecheisen!« befahl Dick. »Ich gehe nicht aus dem Haus, bevor wir nicht jeden Winkel genau durchforscht haben.«

 

Gleich darauf stand er allein in dem schwarz drapierten Zimmer, als ein Mann hereinkam, in dem er zu seiner Verwunderung den lahmen »Mr. Brown« erkannte.

 

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte er. »Steht denn kein Polizist vor der Tür?«

 

»Wenn einer da war, habe ich ihn nicht gesehen«, erwiderte Brown gelassen. »Ich bin doch nicht etwa überflüssig hier?«

 

»Ich fürchte, ja«, entgegnete Dick kurz. »Aber ich werde Sie nicht wieder gehen lassen, bis ich weiß, wie Sie hereingekommen sind.«

 

Er begleitete ihn nach unten. Der Beamte an der Tür hatte ihn nicht hineingehen sehen.

 

»Was bedeutet das?« fragte Dick jetzt in offiziellem, amtlichem Ton.

 

»Der Polizist hat offenbar vergessen, daß er auf den Gehsteig hinunterging, um die Menge zurückzudrängen«, bemerkte Brown lächelnd.

 

Der Beamte gab das zu.

 

»Wo wohnen Sie?« fragte Dick unmutig.

 

»Immer noch im Ritz-Carlton.«

 

Da Dick festgestellt hatte, daß er tatsächlich in dem eleganten Hotel logierte, ließ er ihn gehen, obwohl ihm die Sache nicht gefiel. Er begab sich wieder nach oben, wo zwei Schutzleute die verschlossene Tür bewachten, an der weder ein Griff noch ein Schloß zu entdecken war.

 

»Sie muß von innen verschlossen sein«, meinte der eine Polizist. »Es ist jemand drinnen. Es klingt, als ob ein Tisch über den Fußboden gezogen würde.«

 

Dick lauschte und hörte nach einer Weile ein kaum vernehmliches Geräusch.

 

»Wir haben es mit einer Axt versucht, hatten aber nicht genügend Spielraum«, sagte Steel. »Jetzt kommen sie mit einer Brechstange.«

 

»Hören Sie?« sagte einer der Leute plötzlich.

 

Man hätte taub sein müssen, wenn man es nicht gehört hätte: erst klang es, als ob ein Stuhl umfiele, dann folgte ein dumpfer Ton.

 

Endlich begannen die Leute, mit der Brechstange zu arbeiten, und nach zwei Minuten gab die Tür nach.

 

Das Zimmer war bis auf einen Tisch und einen am Boden liegenden Stuhl völlig leer. Dick sprang rasch auf den Tisch und rüttelte an dem Oberlichtfenster, aber es war geschlossen. Er richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe nach oben und erblickte durch das schmutzige Fenster die Umrisse eines herabstarrenden Gesichts – aber nur eine Sekunde lang. Dann verschwand es.

 

Ein langes, spitzes Kinn, eine hohe, stark vorspringende Stirne, eine scheußliche, große Nase …

 

»Die Brechstange – schnell!« rief Dick und stieß mit der Faust gegen den schweren Fensterrahmen. Nach wenigen Minuten schwang er sich auf das flache, bleigedeckte Dach und ging vorsichtig um einen Schornstein herum, als eine Stimme »Hände hoch!« rief, und Dick sich daran erinnerte, daß Willitt einen Mann auf dem Dach postiert hatte.

 

»Gehören Sie zu Willitts Leuten?« fragte er.

 

»Ja.«

 

Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard. Haben Sie hier jemand vorbeigehen sehen?«

 

»Nein.«

 

»Bestimmt nicht?« fragte Dick betreten.

 

»Ganz bestimmt nicht. Einmal klang es, als ob hier jemand ginge, aber das war am anderen Ende des Daches.«

 

Dick ließ den Schein seiner Lampe spielen und entdeckte schließlich einen mit Knoten versehenen Strick, der an einem Schornstein festgebunden war und über den Dachrand hinabhing.

 

Mit Steels Hilfe wurden dann nach langem Suchen noch zwei Gegenstände auf dem Dach gefunden: eine Messinghülse aus einer automatischen Pistole und ein kleines, goldenes Zigarettenetui mit drei Zigaretten. Dick bemerkte mit Befriedigung ein Monogramm an einer Ecke des Etuis.

 

»Ich glaube, jetzt haben wir den Mann«, sagte er ernst.

 

Kapitel 3

 

3

 

»Von den Hühnern hat jedes vier Schillinge gebracht«, berichtete die alte Mrs. Graffit und zählte das Geld auf den Tisch.

 

Audrey Bedford rechnete rasch nach.

 

»Mit den Möbeln macht das siebenunddreißig Pfund und zehn Schillinge. Reicht also gerade für den Hühnerfuttermann, Ihren Lohn und meine Reise.«

 

»Eine Kleinigkeit könnten Sie doch noch für mich zulegen«, bat die Frau weinerlich. »Seit Ihre liebe Mutter starb, habe ich Sie betreut und alles für Sie besorgt –«

 

»Seien Sie ruhig!« unterbrach sie das junge Mädchen. »Sie haben Ihr Schäfchen bei der Geschichte wirklich ins trockene gebracht. Hühnerzucht lohnt sich nicht und wird sich niemals lohnen, wenn der Generalstabschef einen heimlichen Eierhandel betreibt.«

 

»Wohin wollen Sie denn?« fragte Mrs. Graffit, um das Gespräch auf ein weniger gefährliches Thema zu bringen.

 

»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nach London.«

 

»Eine fürchterliche Stadt! Nichts als Morde und Diebstähle –«

 

»Weil Sie gerade von Diebstählen sprechen – was ist denn aus den letzten vier Hühnern geworden?« erkundigte sich Audrey freundlich.

 

»Ach – habe ich Ihnen das Geld dafür nicht gegeben? Ich muß es tatsächlich verloren haben.«

 

»Nun, dann brauchen wir ja nur den Gendarm zu holen, der versteht sich aufs Suchen.«

 

Mrs. Graffit fand plötzlich das Geld sofort, legte es auf den Tisch und ging dann mürrisch hinaus.

 

Audrey sah sich in dem Zimmer um. Sie hatte den Sessel verbrannt, in dem ihre Mutter immer mit düsteren Blicken in den schwarzen Kamin gestarrt hatte. Ihren Vater hatte sie nie gesehen. Er mußte wohl ein schlechter Mensch gewesen sein. Wenn Audrey als Kind fragte: »Ist er tot, Mutter?«, so antwortete Mrs. Bedford stets: »Hoffentlich!«

 

Audreys Schwester Dora hatte niemals so unwillkommene Fragen gestellt; aber sie war auch älter und teilte die unbarmherzigen Anschauungen ihrer Mutter.

 

Nein, dieses Haus barg keine freundlichen Erinnerungen für Audrey, und der Abschied fiel ihr nicht schwer.

 

Sie war nicht betrübt und auch nicht besonders froh. Vor der Zukunft hatte sie keine Angst, denn sie hatte eine gute Erziehung genossen, viel gelesen, viel nachgedacht und sich an langen Winterabenden mit Stenographie beschäftigt.

 

»Noch viel Zeit!« brummte der Omnibuskutscher, als er ihren Koffer in den dunklen, muffigen Wagen warf. »Wenn die blödsinnigen Autos nicht wären, würde ich erst später losfahren. Aber so muß man vorsichtig sein.«

 

In diesem Augenblick erschien ein Fremder und zog den Hut vor Audrey.

 

»Verzeihung, Miß Bedford. Mein Name ist Willitt. Könnte ich Sie heute abend nach Ihrer Rückkehr einmal sprechen?«

 

»Ich komme nicht mehr zurück.«

 

»Nicht? Darf ich dann um Ihre Adresse bitten? Es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.«

 

»Eine Adresse kann ich Ihnen noch nicht geben. Aber wenn Sie mir die Ihre mitteilen, schreibe ich Ihnen.«

 

Er kritzelte sie auf einen Zettel. Sie nahm ihn, stieg ein und schlug die Wagentür zu. Gleich darauf setzte sich der Omnibus in Bewegung.

 

An der Ecke von Ledbury Lane ereignete sich ein Unfall. Dick Shannon nahm die Kurve zu knapp und schnitt das eine Omnibusrad glatt ab.

 

Audrey stand bereits auf der schmutzigen Landstraße, als Dick auf sie zueilte. Auf seinem hübschen Gesicht lag ein reumütiger Ausdruck.

 

»Es tut mir furchtbar leid! Sie sind doch nicht verletzt?«

 

Er schätzte sie auf siebzehn Jahre, obwohl sie schon neunzehn zählte. Sie trug billige Konfektionskleidung, war aber sehr schön. Dick fürchtete sich fast davor, ihre Stimme zu hören, denn vermutlich wurden seine Illusionen über dieses schöne Mädchen dann zerstört.

 

»Nein, ich bin nur etwas erschrocken. Aber nun werde ich meinen Zug nicht mehr erreichen.« Bekümmert schaute sie auf das abgefahrene Rad.

 

Mit Entzücken hatte er ihrer klaren, reinen Stimme gelauscht. Er hatte sich nicht getäuscht – diese Bettelprinzessin war wirklich eine Dame!

 

»Sie wollen zum Bahnhof von Barnham?« fragte er eifrig. »Ich komme durch den Ort – und ich muß dem armen Kutscher doch auch Hilfe schicken.«

 

»Warum passen Sie nicht auf?« schimpfte der Mann wütend. »Haben Sie vielleicht die Landstraße gepachtet?«

 

Dick knöpfte seinen Mantel auf und nahm eine Visitenkarte und eine Banknote aus seiner Brieftasche.

 

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er und reichte ihm beides. »Ich schicke Ihnen sofort Leute aus Barnham.« Er wandte sich wieder an Audrey. »Wollen Sie sich mir anvertrauen?«

 

Lächelnd stieg sie ein. Der Kutscher reichte den Koffer in den Wagen, und Dick nahm seinen Platz am Steuer ein.

 

»Darf ich Sie nicht ganz nach London bringen?« fragte er, als sich das Auto in Bewegung setzte.

 

»Danke, ich möchte lieber mit der Bahn fahren. Es ist möglich, daß mich meine Schwester abholt.«

 

»Sie wohnen hier in der Gegend?«

 

»Ich hatte eine Geflügelfarm in Fontwell. Aber von Hühnern kann man nicht leben, und ich habe das alte Haus verkauft – oder vielmehr, es hat sich alles in Hypotheken aufgelöst.«

 

»Wie schön, daß Sie dann eine Schwester haben, die Sie erwartet«, erwiderte er in fast väterlichem Ton, denn sie erschien ihm so jung und schutzbedürftig.

 

In Barnham stieg er mit ihr aus, brachte ihren kleinen Koffer auf den Bahnsteig und bestand darauf, die Ankunft des Zuges abzuwarten.

 

»Ihre Schwester wohnt natürlich in London?«

 

»Ja, in der Curzon Street.«

 

»Ist sie – ich meine – ist sie dort angestellt?«

 

»O nein. Sie ist verheiratet. Mrs. Martin Elton.«

 

Er sah sie bestürzt an. Aber in diesem Augenblick lief der Zug ein, und Dick eilte zu dem Zeitungsstand, um noch ein paar Magazine für sie zu kaufen.

 

»Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. –? Ich heiße Audrey Bedford.«

 

»Ich werde es nicht vergessen!« rief er ihr nach, als sich der Zug schon in Bewegung setzte.

 

Nachdenklich kehrte er zu seinem Wagen zurück. Mrs. Elton war ihre Schwester, die berüchtigte Verbrecherin, die er seit langem zu fassen suchte!

 

Kapitel 19

 

19

 

Inzwischen war Shannon zum Portman Square gefahren. Tonger machte ihm auf.

 

»Marshalt ist nicht zu Hause«, sagte er schroff.

 

Dick trat ohne weiteres in die Halle ein und machte die Tür zu.

 

»Ich komme nicht nur seinetwegen«, erklärte er ruhig. »Erinnern Sie sich an die Frau, die vor acht Tagen hierherkam, und die Sie hinauswarfen?«

 

Tonger nickte und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

 

»Kommen Sie herein, Captain«, erwiderte er und machte Licht. »Ich bin eben erst von einer Reise im Flugzeug zurückgekehrt, und ich fühle mich infolgedessen etwas angegriffen. Was soll denn mit der Frau sein?«

 

»Heute nachmittag wurde im Green Park eine Tote aufgefunden, und ich habe Grund zu der Annahme, daß es dieselbe Person ist, die hier den Spektakel machte.«

 

Tonger starrte ihn mit offenem Mund an.

 

»Das kann ich mir nicht denken. Im Park? Ich weiß nichts von ihr.«

 

»Sie sagten doch, es wäre eine Mrs. Sowieso aus Fourteen Streams.«

 

»Ja, den Namen gab sie an. Wünschen Sie, daß ich sie mir ansehe?«

 

»Da Sie sich nicht wohlfühlen, hat es ja Zeit bis morgen.«

 

»In ein Flugzeug kriegt mich Lacy nicht wieder«, bemerkte Tonger, als er Shannon wieder hinausbegleitete. »Übrigens – wie ist sie denn umgekommen?«

 

»Vermutlich durch Gift. Eine silberne Flasche lag neben ihr.«

 

Er stand schon auf der Schwelle, und während er noch sprach, schloß sich die Tür bereits leise.

 

»Unmanierlicher Bursche!« dachte Shannon.

 

Als er den Gehsteig erreichte, blieb er plötzlich stehen.

 

»Mrs. Elton?« rief er halblaut.

 

Sie wandte sich entsetzt um.

 

»Wer –« begann sie mit zitternder Stimme – »ach, Sie sind es, Captain Shannon! Haben Sie Mr. Marshalt gesehen?«

 

»Nein.«

 

»Ich wollte zu ihm, aber das Schloß an der Hintertür muß geändert worden sein … o Gott, was soll nur werden!«

 

»Wieso? Was haben Sie denn?« fragte er erstaunt.

 

»Martin ist doch nicht da? – Nein? – Ach, wie ich sie hasse, diese Heuchlerin! Sicher ist er wieder mit ihr zusammen – was Martin tut oder weiß, macht mir nichts aus, aber wenn mich Lacy betrügt –« sie schluchzte wild auf.

 

»Von wem sprechen Sie denn nur?«

 

»Ich meine Lacy und Audrey –«

 

Plötzlich eilte sie wie gehetzt davon.

 

Einen Augenblick starrte er ihr sprachlos nach, dann ging er weiter und traf Audrey an der verabredeten Stelle.

 

»Kommen Sie bitte nicht mit nach innen«, bat sie, als sie vor Nr.551 standen.

 

»Auf keinen Fall lasse ich Sie allein hineingehen!« erklärte er entschieden.

 

»Lieber ist es mir natürlich, wenn Sie mich begleiten, aber es kommt mir wie ein Unrecht gegen den alten Mann vor.«

 

Leise klopfte sie an die Tür.

 

»Wer ist da?« fragte die harte Stimme durch das Gitter.

 

»Miß Bedford.«

 

Sofort öffnete sich die Tür, und sie schlüpften hinein. In der Halle brannte ein schwaches Licht.

 

»Warten Sie hier«, flüsterte Audrey und schloß die Tür.

 

Er nickte, aber als sie oben stand und die Hand hob, um anzuklopfen, sah sie ihn lautlos die Treppe heraufkommen und schüttelte abwehrend den Kopf. Zweimal klopfte sie an und hob die Hand eben wieder, als im Zimmer in rascher Folge zwei Schüsse fielen.

 

Im Nu stand Dick neben ihr und stemmte die Schulter gegen die Tür, die sofort aufging. Er starrte in den dunklen Raum.

 

»Ist jemand da?« rief er laut und vernahm eine schwache Bewegung.

 

»Wer ist da?« rief er wieder.

 

Im gleichen Augenblick flammten zwei Lichter auf: die Schreibtischlampe und eine verhängte Birne über dem kleinen Tisch und Stuhl zu seiner Linken.

 

Und mitten im Zimmer, mit dem Gesicht nach unten, lag ein Mann.

 

Shannon stürzte hin. Mit Hilfe seiner Taschenlampe war es ihm möglich, die Drahthindernisse zu umgehen. In der nächsten Sekunde kniete er neben der reglosen Gestalt und drehte sie um.

 

Es war Lacy Marshalt. Über seinem Herzen war das Hemd von den Gasen einer aus nächster Nähe abgefeuerten Waffe geschwärzt.

 

»Tot!« sagte Dick atemlos.

 

»Was ist denn geschehen?« flüsterte Audrey, die von einer entsetzlichen Angst gepackt worden war.

 

»Bleiben Sie dort stehen!« befahl Dick leise. »Verlassen Sie das Zimmer nicht!«

 

Er ging um den Schreibtisch herum und entdeckte dahinter das kleine Schaltbrett für die Türen. Nacheinander legte er die Hebel um und kam dann zu Audrey zurück.

 

»Ich denke, daß sie jetzt offen sein werden«, sagte er, nahm ihren Arm und eilte mit ihr nach unten.

 

»Sagen Sie doch, was geschehen ist«, fragte sie wieder. »Wer war der – der Mann?«

 

»Später sage ich Ihnen alles.«

 

Die Haustür stand weit offen, und er lief auf die Straße hinaus. In der Ferne glühten die Lichter einer Autodroschke, die auf den schrillen Ton seiner Pfeife hin rasch herankam und vor dem Haus anhielt.

 

»Fahren Sie ins Hotel zurück«, sagte er, »und erwarten Sie mich dort.«

 

»Sie dürfen aber nicht wieder hineingehen!« bat sie entsetzt und packte seinen Arm mit beiden Händen. »Es stößt Ihnen etwas zu – ich fühle es!«

 

Er löste sich behutsam aus ihrem Griff.

 

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, beruhigte er sie. »Ich habe in den nächsten Sekunden eine Schar von Polizisten bei mir, und –«

 

Krach!

 

Er drehte sich um – die Haustür war zugeschlagen.

 

»Es ist noch jemand im Haus!« flüsterte sie. »Gehen Sie um Himmelswillen nicht wieder hinein! Captain Shannon – Dick, hören Sie auf mich!«

 

Er rannte die Stufen hinauf und warf sich gegen die Tür, aber sie gab nicht nach.

 

»Es sieht beinahe so aus, als ob man es mir unmöglich gemacht hätte«, entgegnete er resigniert. »Aber fahren Sie jetzt bitte nach Hause.«

 

Das Auto hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als er schon wieder mit beiden Fäusten gegen das Holz hämmerte.

 

Eine Antwort erwartete er nicht, und es überlief ihn eiskalt, als plötzlich dicht an seinem Ohr irrsinniges Gelächter ertönte.

 

»Ich hab ihn – hab ihn – hab ihn!« kreischte eine Stimme. Dann trat Totenstille ein.

 

»Machen Sie auf!« schrie Shannon heiser. »Öffnen Sie! Ich muß Sie sprechen!«

 

Keine Antwort.

 

Jetzt kam ein Polizist herbei, gleich darauf ein anderer Mann, in dem Dick sofort den Privatdetektiv Willitt erkannte.

 

»Stimmt etwas nicht, Captain?« fragte er.

 

»Was machen Sie denn hier?« entgegnete Dick.

 

»Ich beobachte das Haus im Auftrag von Mr. Marshalt.«

 

Shannon horchte auf.

 

»So? Haben Sie auch jemand hinter dem Haus?«

 

»Ja, und ein dritter Mann ist oben auf dem Dach des Marshaltschen Hauses placiert.«

 

»Dann gehen Sie nach hinten zu Ihrem Kollegen. Sind Sie bewaffnet?«

 

Der Detektiv zögerte mit der Antwort.

 

»Ach so, Sie haben eine Pistole und keinen Erlaubnisschein! Nun, lassen wir das! Gehen Sie nach hinten und bedenken Sie, daß wir es mit einem Mörder zu tun haben, der nicht davor zurückscheuen wird, Sie niederzuschießen, wie er Marshalt erschossen hat!«

 

»Marshalt!« stammelte Willitt. »Erschossen?«

 

»Er ist tot«, erwiderte Dick kurz.

 

Dann schickte er den Polizisten weg, um mehr Leute und einen Krankenwagen herbeizurufen, und ging in die Hinterstraße, wo die beiden Detektive Wache hielten. Dort war nichts zu sehen als eine hohe Mauer mit einer verschlossenen Tür. Mit Willitts Hilfe kletterte er hinauf und erblickte im Schein seiner Taschenlampe einen kleinen Hof und eine Tür, die sicher ebenso fest verwahrt war wie die vordere.

 

Als er nach dem Portman Square zurückkehrte, fand er eine Reihe von Beamten dort und sah auch Steel darunter. Einer trug eine schwere Feuerwehraxt und begann, die Tür damit zu bearbeiten.

 

»Sie ist mit Stahl verkleidet, wir müssen sie sprengen«, sagte Dick, nachdem der Mann den ersten Schlag geführt hatte.

 

Aber im selben Augenblick knackte es leise, und die Tür öffnete sich von selbst.

 

»Einen Keil dazwischen!« rief Dick und stürmte nach oben.

 

Das Zimmer war jezt hell erleuchtet, aber Dick blieb wie gebannt auf der Schwelle stehen und sah sich verwirrt um. Marshalts Leiche war verschwunden!

 

Kapitel 18

 

18

 

Martin Elton legte die Zeitung beiseite und schaute auf die Uhr. Dabei fiel sein Blick wohl zum zwanzigstenmal auf seine Frau, die reglos mit aufgestützten Ellbogen vor dem Kamin saß und düster ins Feuer starrte.

 

»Was hast du, Dora?«

 

»Ich fühle mich nicht wohl. Du wolltest doch noch ausgehen?«

 

»Ja, und ich komme spät zurück – erst gegen Mitternacht.«

 

»Stanford war hier – hat er das Geld gebracht?« fragte sie, ohne aufzusehen.

 

»Ja, drei Millionen Franken. Das Zeug ist gut gemacht und ungefährlich. Klein wird es absetzen.«

 

»Wo hast du es?«

 

»Unter der Matratze in meinem Bett. Mache dir deshalb keine Sorgen. Morgen lasse ich es fortschaffen. Gehst du noch aus?«

 

»Ich weiß noch nicht – es kann sein.«

 

Er nickte ihr zu und verließ das Zimmer. Sie hörte, wie er die Haustür zuschlug, und versank wieder in ihre Grübeleien. Martin war ihr unheimlich. Er beobachtete sie – er mißtraute ihr. Sie hatte Angst vor ihm, nicht für sich selbst, aber für den Mann, den sie liebte. Ja, allmählich hatte sie begonnen, Martin zu hassen! Sie vergaß, was er für sie getan hatte, aus welcher

 

Laufbahn er sie gerettet hatte, und wie gut und freigebig er stets gegen sie gewesen war.

 

Wenn Martin aus dem Weg wäre … sie mußte ihn abschütteln, sonst würde er Lacy noch umbringen! Es gab nur einen Ausweg, und seit vierundzwanzig Stunden bemühte sie sich, mit dem Gedanken an diese Schandtat sich auszusöhnen …

 

Eine halbe Stunde später plauderte der diensttuende Sergeant mit Inspektor Gavon auf der Polizeiwache in der Vine Street, als eine bleiche Frau hastig in das kahle Büro kam. Gavon kannte sie.

 

»Guten Abend, Mrs. Elton. Wollen Sie mich sprechen?«

 

Sie nickte. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und ihre Zunge schien den Dienst versagen zu wollen.

 

»Ja«, brachte sie schließlich hervor, aber ihre Stimme klang schrill und gequält. »In Italien lebt ein Mann – der französische Banknoten fälscht – es sind schon viele in Umlauf –«

 

»Das ist richtig. Kennen Sie vielleicht jemand, der solches Geld hat?«

 

»In unserem Haus finden Sie eine Menge. Mein Mann brachte es hin. Er hat es unter der Matratze in seinem Bett versteckt – Sie werden es finden –«

 

Gavon verlor beinahe die Fassung.

 

»Ihr Mann?« fragte er ungläubig. »Gehört es ihm denn?«

 

»Ja!« Sie packte ihn am Arm. »Was steht darauf? Nicht wahr, sieben Jahre bekommt er mindestens?«

 

Angewidert entzog sich der Inspektor ihrem Griff. Angebereien waren ihm nichts Neues – aber Dora Elton!

 

»Sie wissen es ganz bestimmt? Warten Sie hier!«

 

»Nein, nein, ich muß fort – das Mädchen wird Sie einlassen …«

 

In der nächsten Sekunde floh sie die Straße entlang, aber ein anderer war noch schneller als sie, und als sie in eine Seitenstraße einbog, war er neben ihr.

 

»Martin!« schrie sie auf.

 

Er sah sie mit wütenden Blicken an, und sie hob abwehrend die Hände.

 

»Du warst in der Vine Street?« flüsterte er.

 

»Ich – ich mußte –« stammelte sie, bleich wie der Tod.

 

Er nickte.

 

»Ich sah dich. Ich war darauf gefaßt, wenn ich es auch kaum für möglich hielt. Du kannst der Polizei viel Mühe sparen, wenn du wieder hingehst und sagst, daß kein Geld da ist. Seit acht Tagen trägst du dich mit dem Gedanken, mich festnehmen zu lassen.«

 

»Martin!« stöhnte sie.

 

»Du dachtest, du könntest dich besser mit Marshalt amüsieren, wenn ich aus dem Weg wäre«, fuhr er unerbittlich fort. »Aber darin irrst du dich, mein Kind! Mit Lacy rechne ich heute abend noch ab. Geh nur wieder hin und erzähle das auch deinen Freunden bei der Polizei!«

 

»Wohin willst du?« Sie klammerte sich an ihn, aber er stieß sie beiseite und ging rasch davon.

 

Als sie halb von Sinnen zur nächsten Telephonzelle wankte und Marshalts Nummer anrief, erhielt sie keine Antwort.

 

Kapitel 17

 

17

 

An dem Nachmittag desselben Tages machte Audrey einen Spaziergang im Green Park, wo es um diese Zeit immer sehr still und leer war. Es wehte jedoch ein so eisiger Nordwind, daß sie mitten auf der Brücke plötzlich umkehrte. Als sie an dem See entlangging, kam sie auch an einer Bank vorbei, auf der eine Frau weit zurückgelehnt saß und mit hintenübergebogenem Kopf zum Himmel starrte. Ihre Stellung war so unnatürlich und sonderbar, daß Audrey unwillkürlich anhielt, als auch ein anderer Spaziergänger stehenblieb.

 

»Was mag mit der Frau sein?« fragte sie ängstlich.

 

Der Mann trat rasch auf die Bank zu, und Audrey folgte ihm.

 

Die Frau schien zwischen dreißig und vierzig Jahren alt zu sein. Ihre Augen waren halb geschlossen, Gesicht und Hände blau vor Kälte. Neben ihr lag eine kleine, silberne Reiseflasche ohne Stöpsel, aus der eine Flüssigkeit auf die Bank tropfte. Sonderbarerweise kam Audrey das Gesicht bekannt vor, aber sie konnte sich nicht darauf besinnen, wo sie die Frau schon gesehen hatte.

 

Der Mann hatte seine Zigarre weggeworfen und hob den Kopf der Unglücklichen behutsam empor. Im selben Augenblick kam auch ein Schutzmann herbei.

 

»Ist sie krank?« fragte er.

 

»Sehr krank, fürchte ich«, erwiderte der Mann ruhig. »Miß Bedford, gehen Sie lieber fort.«

 

Sie sah ihn verwundert an. Woher kannte er ihren Namen?

 

»Gegenüber von der Horseguard-Wache steht noch ein Polizist«, sagte der Beamte zu Audrey. »Würden Sie so gut sein und ihm sagen, daß er die Unfallstation anrufen und dann herkommen soll?«

 

Sie eilte davon, und erst als sie verschwunden war, erinnerte sich der Polizist an seine Vorschriften.

 

»Ich habe ganz vergessen, nach ihrem Namen zu fragen! Kennen Sie die Dame vielleicht?«

 

»Ja, es ist Miß Bedford«, erwiderte Slick Smith. »Ich kenne sie dem Aussehen nach. Wir haben eine Zeitlang im selben Büro gearbeitet.« Er griff nach dem silbernen Fläschchen, hob den Stöpsel vom Boden auf und schloß es sorgfältig. Dann überreichte er es dem Beamten.

 

»Sie werden dies brauchen«, sagte er und setzte bedeutungsvoll hinzu: »An Ihrer Stelle würde ich niemand einen Schluck daraus tun lassen, mit dem Sie es gut meinen.«

 

»Sie glauben, daß es Gift ist?« fragte der Mann erschrocken.

 

»Riechen Sie es denn nicht? Wie bittere Mandeln – die Frau ist tot.«

 

»Selbstmord?«

 

»Wer weiß! Schreiben Sie sich lieber auch meinen Namen auf: Richard James Smith, der Polizei als Slick Smith bekannt. Ich stehe in den Registern von Scotland Yard. «

 

Der andere Schutzmann erschien, und gleich darauf kam auch der Krankenwagen mit einem Arzt. Der Doktor erklärte sofort, daß die Frau durch Zyankali vergiftet und tot sei …

 

Dick Shannon hörte durch Zufall von diesem Ereignis, interessierte sich aber weiter nicht dafür, bis der mit dem Fall betraute Beamte zu ihm kam, um sich nach Slick Smith zu erkundigen.

 

»Ja, ich kenne ihn: ein amerikanischer Schwindler und Dieb«, sagte er. »Hier hat er sich aber noch nichts zuschulden kommen lassen. Wer war die Frau?«

 

»Unbekannt. Es scheint Selbstmord vorzuliegen.«

 

Abends warf Audrey einen Blick in die Zeitung und bemerkte eine kurze Notiz:

 

 

»Die Leiche einer unbekannten Frau wurde heute im Green Park gefunden. Man nimmt an, daß Selbstmord durch Gift vorliegt.«

 

 

Sie war also tot! Audrey überlief ein Schauder. Wer konnte es nur sein? Sie wußte doch genau, daß sie die Frau schon gesehen hatte …

 

Plötzlich fiel es ihr ein. Es war die Betrunkene, die neulich vor Marshalts Haustür solchen Lärm gemacht hatte …

 

Audrey stand auf, ging ans Telephon und rief Shannon an. Der freudige Ton seiner Stimme weckte ein warmes Glücksgefühl in ihrem Herzen.

 

»Wo sind Sie gewesen? Ich wartete schon dauernd auf einen Anruf von Ihnen … es ist doch nichts geschehen?«

 

»Nein, aber ich las eben von der toten Frau im Green Park. Ich war dabei, als sie gefunden wurde, und ich glaube, daß ich sie kenne.«

 

»Ich komme sofort zu Ihnen«, erwiderte Dick.

 

Kurze Zeit später saß er bei ihr, und sie berichtete ihm, was sie wußte.

 

»Sie erinnern sich doch, daß ich Ihnen von einer Frau erzählte, die an Mr. Marshalts Tür klopfte?«

 

Dick pfiff leise durch die Zähne.

 

»Ich möchte nicht haben, daß Sie bei dieser Affäre als Zeugin auftreten«, meinte er nach kurzem Nachdenken. »Das kann Smith tun – und mit Tonger werde ich heute abend sprechen. Übrigens – wann besuchen Sie Malpas?«

 

»Morgen.«

 

»Sie flunkern, meine Liebe. Sie wollen heute abend hingehen.«

 

Audrey lachte.

 

»Ja, allerdings. Ich dachte nur, Sie würden Umstände machen –«

 

»Das stimmt vermutlich. Zu wann hat er Sie bestellt?«

 

»Um acht soll ich kommen.«

 

Er sah nach der Uhr.

 

»Ich werde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, entgegnete er. »Jetzt gehe ich zu Marshalt, und drei Minuten vor acht erwarte ich Sie an der Nordseite des Portman Square. Bitte, keine Einwendungen. Und geben Sie mir Ihr Wort, das Haus nicht zu betreten, bevor Sie mich gesprochen haben.«

 

Sie zögerte eine Sekunde, gab ihm aber dann das Versprechen und fühlte sich wesentlich erleichtert.

 

Kapitel 15

 

15

 

Lacy Marshalt war in schlimmster Laune. Shannons Knöchel hatten rote Flecke auf seinem Gesicht hinterlassen, und er hatte eine schlaflose Nacht verbracht. Er saß noch beim Frühstück, als Tonger hereinkam und Mr. Elton anmeldete.

 

»Guten Morgen, Elton!«

 

»Guten Morgen, Marshalt!«

 

Martin legte Zylinder und Stock beiseite und begann langsam, seine Handschuhe auszuziehen. Dann zog er einen Stuhl heran.

 

»Ich schrieb Ihnen kürzlich und ersuchte Sie, meine Frau nicht wieder zu Tisch einzuladen«, sagte er ruhig. »Seit dieser Warnung ist sie trotzdem zweimal bei Ihnen gewesen. Das darf nicht wieder vorkommen.«

 

»Ihre Frau war gestern mit ihrer Schwester hier. Audrey aß bei mir, und Dora kam her, um sie abzuholen …«

 

»Aber an jenem Konzertabend war Audrey doch wohl nicht hier?« fragte Elton mit einem bitteren Lächeln.

 

Marshalt antwortete nicht.

 

»Für die Gelegenheit wird sich schwer eine Ausrede finden lassen. Sie sind ein schlauer Kerl, Marshalt – ein dunkler Kunde allerdings auch, wenn ich nicht sehr irre. Ich denke, es ist nicht erforderlich, daß ich die üblichen heroischen Redensarten vorbringe und Sie zum Beispiel darauf hinweise, daß es besser ist, ein lebendiger Millionär zu sein als – sonst etwas. Die Geschworenen würden Ihren Anverwandten vermutlich ihr Beileid aussprechen – eine Auszeichnung, die mir nicht zuteil werden dürfte. Aber es ist viel angenehmer, einen Bericht über das Ableben anderer Leute zu lesen, als die Hauptrolle bei dem eigenen zu spielen.«

 

Er erhob sich wieder und griff nach Stock und Hut.

 

»Guten Morgen, Mr. Marshalt. Sie brauchen meine Frau nicht erst anzurufen. Ich habe unseren Apparat vorsichtshalber in Unordnung gebracht, bevor ich das Haus verließ.«

 

Er nickte ihm noch einmal zu und ging.

 

An einem strahlenden Wintertag seufzte Audrey erleichtert auf, als sie gegen Mittag ihre täglichen Schreibereien erledigt und das große, schwere Kuvert in den Hotelbriefkasten gesteckt hatte.

 

Wer war nur dieser Mr. Malpas, und welche Geschäfte betrieb er? Mit Unbehagen dachte sie an die bevorstehende Unterredung, die vielleicht ein enttäuschendes Ende für sie nehmen würde. Aber noch mehr beschäftigte sie die Freundschaft, die zwischen ihrer Schwester und Marshalt zu bestehen schien. Sie war entsetzt darüber und hätte trotz aller bösen Erfahrungen dieses Verhalten nicht von Dora erwartet.

 

Als sie zum Lunch hinunterging, überreichte ihr der Portier einen Brief, der eben für sie abgegeben worden war. Sie erkannte die Handschrift auf den ersten Blick und las die Mitteilung staunend:

 

 

»Ich verbiete Ihnen, Marshalt wiederzusehen. Der Antrag, den er Ihnen heute machen wird, muß abgelehnt werden.

 

Malpas.«

 

 

Ungehalten über diesen gebieterischen Ton steckte sie den Brief ein und ging zum Speisesaal. Sie war noch nicht mit ihrer Mahlzeit fertig, als ein Angestellter ihr auch schon das angekündigte Schreiben von Marshalt brachte. Der Mann begann mit demütigen Entschuldigungen, erklärte, daß er sich selbst sein rohes Benehmen niemals verzeihen könne, und schloß mit den Worten:

 

»Aber ich kenne Sie länger, als Sie ahnen, und ich liebe Sie heiß und aufrichtig. Wenn Sie einwilligen, meine Frau zu werden, machen Sie mich zum Glücklichsten aller Sterblichen.«

 

Ein Heiratsantrag! Empört stand sie auf, um ihre Antwort unverzüglich zu Papier zu bringen.

 

 

»Ich danke Ihnen für Ihre Zeilen, die wohl ein Kompliment für mich bedeuten sollen, aber ich bedaure, Ihren Antrag nicht in Erwägung ziehen zu können.

 

Audrey Bedford.«

 

 

»Senden Sie das durch Eilboten ab!« sagte sie zu dem Portier.

 

Sie hatte einen Entschluß gefaßt, und am Nachmittag fuhr sie zur Curzon Street. Das Dienstmädchen erkannte sie nicht wieder und meldete sie Mrs. Elton als »Miß Audrey«.

 

Wenige Minuten später standen sich die beiden Schwestern gegenüber. Dora sah die Besucherin zornglühend an.

 

»Nur ein paar Worte«, sagte Audrey.

 

»Jede Sekunde, die du in meinem Haus verbringst, ist zuviel! Was willst du?«

 

»Ich möchte dich bitten, Marshalt aufzugeben, Dora.«

 

»Um ihn dir zu überlassen?«

 

»O nein, ich verachte ihn. Ich will nicht predigen, Dora, aber Martin ist doch nun einmal dein Mann, nicht wahr?«

 

»Ja, er ist mein Mann.«

 

Das klang so verzweifelt, daß Audrey unwillkürlich Mitleid fühlte und sich ihrer Schwester näherte. Aber Dora wich mit haßerfüllten Blicken von ihr zurück.

 

»Rühr mich nicht an, du Gefängnisdirne! Du willst, daß ich Marshalt aufgebe, daß ich ihn dir überlasse? Ach, wie ich dich hasse! Von jeher hab‘ ich dich gehaßt! Marshalt aufgeben? Ich werde ihn heiraten, sobald ich Martin los – sobald es soweit ist. Hinaus mit dir, Audrey Torrington!«

 

»Torrington!« wiederholte Audrey tonlos. Dann wandte sie sich ab, ging zur Tür hinaus und die Treppe hinab.

 

Aber nun geriet Dora außer sich.

 

»Du hinterlistige Diebin!« schrie sie. »Dich will er heiraten! Aber das soll niemals geschehen – nie!« Im Nu hatte sie aus einer an der Wand befestigten Waffentrophäe einen langen Dolch herausgerissen und stieß zu. Audrey duckte sich instinktiv, und der Dolch fuhr in den Türpfosten. Dora zog ihn heraus und stieß wieder zu. In ihrer Todesangst strauchelte Audrey und fiel.

 

»Jetzt hab‘ ich dich!« kreischte Dora wie wahnsinnig und hob die Waffe.

 

Aber plötzlich packte jemand ihr Handgelenk. Sie fuhr herum und starrte in ein Paar belustigte Augen.

 

»Wenn ich eine Filmaufnahme unterbreche, tut es mir leid«, sagte Slick Smith. »Aber vor Stahl habe ich Angst – richtige Angst!«

 

 

Slick Smith führte die fassungslose junge Frau nach oben, brachte ihr ein Glas Wasser und sprach beschwichtigend auf sie ein.

 

»Daß sich die Frauen doch immer wieder über irgendeinen Mann bei den Haaren kriegen! Und dieses Mädchen scheint so nett zu sein. Sie ging doch ins Gefängnis, um Sie zu retten?«

 

Erst jetzt kam Dora zum Bewußtsein, daß er ein Fremder für sie war.

 

»Wer sind Sie?« fragte sie mit stockender Stimme.

 

»Ihr Mann kennt mich. Ich bin Smith – Slick Smith aus Boston. Verehrte Mrs. Elton – er ist es nicht wert!«

 

»Nicht wert? Von wem sprechen Sie denn?«

 

»Von Lacy Marshalt. Das ist ein ganz übler Bursche – das müssen Sie doch schon gemerkt haben. Martin mag ich leiden, und es würde mir verdammt leid tun, wenn er gerade in dem Augenblick gefaßt würde, in dem er den Revolver auf sich selbst richtete. So was kommt vor. Und vielleicht würden Sie im Gerichtssaal sitzen, und er würde Ihnen zulächeln, wenn der Richter die schwarze Kappe aufsetzte, bevor er Elton nach der Totenzelle schickte. Und Sie würden wie gelähmt sein und daran denken, welch ein elender Kerl Marshalt war, und daß Sie beide Männer ins Grab gebracht haben.«

 

»Hören Sie auf! Sie machen mich verrückt –«

 

»Sie wissen nicht, was für ein Hundsfott dieser Marshalt ist –«

 

Sie hob abwehrend die Hand.

 

»Ich weiß … bitte, gehen Sie jetzt!«

 

Als Slick Smith das Haus verließ, kam Elton gerade die Stufen herauf.

 

»Zum Teufel, was suchen Sie denn hier?« fragte er gereizt.

 

»Ich wollte Ihnen sagen, daß Sie sich in acht nehmen und nicht so leichtgläubig sein sollten. Das vortrefflich gemachte Geld, das Stanford Ihnen andrehen will, wurde auch mir angeboten. Giovanni Strepesi in Genua verfertigt es und hat schon eine Menge in Umlauf gesetzt, aber – als Nebengeschäft ist Einbruch weniger riskant, und Bakkarat eine wahre Sinekure.«

 

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden –« stammelte Martin.

 

»Und ich sage Ihnen, selbst der Schwindel von Malpas ist besser als Stanfords neue Liebhaberei!«

 

»Welchen Schwindel betreibt denn Malpas?«

 

Slick überlegte einen Augenblick.

 

»Ich weiß es nicht genau. Aber ich rate Ihnen, nie allein zu ihm ins Haus zu gehen! Ich sah ihn einmal – aber er bemerkte mich nicht. Deshalb bin ich noch am Leben, Elton.«

 

Kapitel 16

 

16

 

Am Sonnabendmorgen saß Marshalt in seinem Studierzimmer am Schreibtisch, als Tonger ihm ein Paket Briefe brachte. Der Millionär sah sie rasch durch.

 

»Wieder nichts dabei von unserem Freund aus Matjesfontein«, sagte er dann unmutig. »Seit vier Wochen hat der Kerl nichts von sich hören lassen!«

 

»Vielleicht ist er tot«, meinte Tonger.

 

»Es könnte ja auch sein, daß Torrington etwas zugestoßen wäre.«

 

»Sie sind ein Optimist, Lacy!« spottete Tonger, wurde dann aber nachdenklich. »Vielleicht kann er doch nicht schwimmen«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.

 

Lacy blickte rasch auf.

 

»Was soll denn das heißen?«

 

»Die Kinder eines königlichen Kommissars sollten eigentlich auch schwimmen können«, fuhr Tonger fort. »Oder wenn sie es nicht können –«

 

Lacy schwang sich auf seinem Stuhl herum.

 

»Jetzt hab‘ ich aber dein Gefasel satt!« rief er ungeduldig. »Sage jetzt gefälligst, was du meinst.«

 

»Na, vor ungefähr anderthalb Jahren nahmen die Kinder von Lord Gilbury ein Segelboot und fuhren in die Tafelbai hinaus. Hinter dem Wellenbrecher kenterte das Boot, und sie wären ertrunken, wenn nicht einer der Sträflinge, die dort arbeiteten, ins Wasser gesprungen und hingeschwommen wäre. Der hat sie gerettet.«

 

Lacys Mund stand weit offen.

 

»War das Torrington?« fragte er leise.

 

Tonger zuckte die Schultern.

 

»Ein Name wurde nicht genannt. In den Zeitungen stand nur, daß der Sträfling lahm war, und daß man von einer Begnadigung spräche.«

 

Wütend sprang Lacy auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.

 

»Natürlich! So muß es sein!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Er ist frei, und seine Rechtsanwälte halten es geheim. Und du hast es die ganze Zeit gewußt, du Hund!«

 

»Gewußt habe ich nichts«, erwiderte Tonger gekränkt. »Vermutet habe ich es allerdings. Aber glauben Sie, Dan Torrington würde Sie in Frieden lassen, wenn er ein freier Mann wäre? Und warum sollte ich Ihnen mit solchen Gerüchten Angst machen? Ich weiß, daß ich Ihnen viel Dank schuldig bin, Lacy, und ich kenne Ihre guten und Ihre schlechten Seiten. Und ich hab‘ wahrhaftig keinen Grund, Torrington zu lieben. Wollte er nicht gerade an dem Tag, an dem Sie ihn faßten, mit meiner kleinen Elsie auf und davongehen?« Er griff in die Tasche und holte einen zerlesenen Brief hervor. »Die ganzen Jahre hab‘ ich ihn mit mir herumgetragen. Es ist der erste Brief, den sie mir aus New York schrieb. Hören Sie zu:

 

 

›Liebes Väterchen, ich möchte Dir doch sagen, daß ich ganz zufrieden bin. Ich weiß, daß Torrington verhaftet ist, und in mancher Hinsicht bin ich froh darüber, daß ich auf seinen Wunsch hin hierher vorausreiste. Väterchen, willst Du mir verzeihen und mir glauben, daß ich zufrieden bin? Ich habe hier in der Riesenstadt neue Freunde gefunden, und mit dem Geld, das mir Torrington gab, habe ich ein ganz einträgliches, kleines Geschäft gegründet. Nach Jahren, wenn alles vergessen ist, werde ich zu dir zurückkehren.‹«

 

 

Vorsichtig legte er das dünne Blatt wieder zusammen und schob es in die Tasche.

 

»Nein, ich habe keinen Grund, Torrington zu lieben«, sagte er, »aber viel Grund, ihn zu hassen.«

 

»Haß ist Furcht«, murmelte Lacy. »Du fürchtest ihn auch.«

 

Unruhig ging er im Zimmer auf und ab.

 

»Mrs. Elton sagt, sie hätte einen hinkenden Mann gesehen –«

 

»Ach was! Solche Damen sind immer nervös und sehen alles mögliche –« Er unterbrach sich plötzlich, denn es klopfte dreimal gedämpft, aber deutlich an die Wand.

 

Lacy blieb stehen und wurde totenbleich.

 

»Was – was ist das?« flüsterte er mit zitternden Lippen.

 

»Ach, irgendein Gehämmer. Vielleicht hängt der alte Mann Bilder auf.«

 

Lacy feuchtete seine trockenen Lippen mit der Zunge an und riß sich zusammen.

 

»Du kannst gehen. Heute nachmittag mußt du aber nach Paris fahren.«

 

»Nach Paris? Was soll ich in Paris – ich kann doch kein Wort Französisch, und Seefahrten bekommen mir nicht. Schicken Sie doch jemand anders!«

 

»Es muß ein Mann sein, auf den ich mich verlassen kann. Ich werde Croydon anrufen, damit sie ein Flugzeug bereithalten. Dann kannst du noch vor Einbruch der Nacht zurück sein.«

 

»Flugzeuge sind auch nicht mein Geschmack! Wann komme ich denn zurück – wenn der Fall überhaupt eintritt?«

 

»Um zwölf fliegst du ab, um zwei bist du in Paris, gibst den Brief ab, und um drei bist du schon wieder auf der Rückreise.«

 

»Na, wenn es sein muß –« knurrte Tonger. »Wo haben Sie den Brief?«

 

»In einer Stunde kannst du ihn dir holen.«

 

Als Lacy allein war, meldete er erst ein Gespräch nach Paris an, ließ sich dann mit Stormers Detektivagentur verbinden und ersuchte, Mr. Willitt sofort zu ihm zu schicken. Darauf setzte er sich an den Schreibtisch und hatte seinen Brief gerade geschrieben und zugesiegelt, als Mr. Willitt auch schon gemeldet wurde.

 

»Wenn ich nicht irre, sind Sie der Chef der Agentur?« begann Lacy sofort und deutete auf einen Stuhl.

 

Willitt schüttelte den Kopf.

 

»Nur Stellvertreter. Mr. Stormer verbringt seine Zeit meistens bei unserer New Yorker Zweigagentur. In Amerika nehmen wir eine viel bedeutendere Stellung ein und werden oft mit Regierungsaufträgen betraut. Hier in England –«

 

»Ich habe einen Auftrag für Sie«, fiel ihm Lacy ins Wort. »Haben Sie schon einmal von einem gewissen Malpas gehört?«

 

»Von dem alten Mann, der nebenan wohnt? O ja! Wir wurden bereits ersucht, seine Persönlichkeit festzustellen – unsere Auftraggeber möchten eine Photographie von ihm haben.«

 

»Wer sind die Leute?«

 

»Das kann ich Ihnen leider nicht mitteilen.«

 

Lacy holte ein Bündel Banknoten heraus, wählte zwei aus und schob sie dem Detektiv hin.

 

»Hm.« Der Mann lächelte verlegen. »Vielleicht kann ich dieses eine Mal eine Ausnahme machen. Es handelt sich um einen gewissen Laker, der vor einiger Zeit verschwand.«

 

»Laker? Den kenne ich nicht. Sind Sie denn an den alten Mann herangekommen?«

 

»Nein, der lebt wie eine Auster.«

 

Lacy überlegte eine Weile.

 

»Ich wünsche, daß Sie ihn unausgesetzt bewachen. Beobachten Sie das Haus Tag und Nacht von allen Seiten. Stellen Sie auch einen Mann oben auf dem Dach meines Hauses auf.«

 

»Dazu würde ich sechs Leute brauchen«, meinte Willitt und zog sein Notizbuch hervor. »Und was sollen sie tun?«

 

»Ihm folgen und feststellen, wer er ist. Und wenn möglich, mir eine Photographie von ihm verschaffen.«

 

»Von wann ab?«

 

»Sofort. Ich werde veranlassen, daß der Mann, den Sie aufs Dach beordern, eingelassen wird. Mein Diener Tonger wird dafür sorgen, daß es ihm an nichts fehlt.«

 

Der Detektiv empfahl sich, als sich das Pariser Telephonamt meldete, und Lacy Marshalt gab in geläufigem Französisch eine Reihe von Anordnungen.