Kapitel 3

 

3

 

Abends ging Jack in seine Wohnung und traf alle Vorbereitungen für die Fahrt nach Shropshire; danach aß er allein in einem Restaurant. Auf dem Heimweg ließ er sich Zeit, denn er wollte noch etwas frische Luft haben, um gut schlafen zu können.

 

So kam er auch über den Piccadilly Circus. Seine Gedanken beschäftigten sich ausschließlich mit Barbara May, die solch eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausübte. Teils ärgerte er sich darüber, teils aber machte es ihm doch Freude, sich mit dem Gedanken an sie zu beschäftigen. Er war nicht gerade leicht zu beeindrucken, das wußte er, und deshalb fragte er sich, welche von Barbaras Eigenschaften ihn so stark fesselte, daß dieses Mädchen sein ganzes Denken beherrschte.

 

Eine große Limousine fuhr an ihm vorüber und hielt in einiger Entfernung vor ihm am Bordstein. Als der Wagen dann mit ihm auf gleicher Höhe war, warf Danton einen raschen Blick hinein. Einen Augenblick drohte sein Herzschlag auszusetzen, denn er hatte im Licht der Straßenlaterne eine der beiden Personen erkennen können, die im Wagen saßen. Er hatte sich nicht getäuscht: Es war Barbara May. Er würde sie überall wiedererkennen.

 

Sie sprach eifrig mit jemandem, Jack hätte aber nicht sehen können, wer es war.

 

Er setzte seinen Weg fort. Allem Anschein nach hatte sie ihn nicht erkannt. Eine seltsame Unruhe überkam ihn bei dem Gedanken, daß dort ein anderer Mann neben ihr im Auto saß, und er empfand brennende Eifersucht.

 

Welche Schlußfolgerung konnte er daraus ziehen, wenn nicht die, daß Barbara einen Freund hatte? Reich mußte er auch sein – das verriet der teure Wagen. Sie hätte sich solch einen Luxus nie leisten können.

 

Fünfzig Schritte ging Danton weiter, dann blieb er stehen. Er befand sich jetzt im Schatten einer Hausecke. Jack machte sich bittere Vorwürfe, daß er ihr so nachspionierte, aber schließlich war er kein Heiliger, und er wollte jetzt unbedingt erfahren, wer der Mann war, dem Barbara zu dieser nächtlichen Stunde ihre Zeit widmete.

 

Die Tür des Autos wurde jetzt geöffnet, und der Mann trat auf die Straße hinaus. Er war in mittleren Jahren und von untersetztem Wuchs. Nach den Worten, die Danton auffing, schienen keine besonders freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden zu bestehen.

 

»Das wäre also alles, Miss May. Morgen mache ich Ihnen dann weitere Mitteilungen.«

 

Gleich darauf fuhr der Wagen weiter. Der Fremde lüftete noch den Hut und blieb ein paar Sekunden stehen, dann drehte er sich um und überquerte die Straße. Nach einiger Zeit hatte er die Umfassungsmauer des Buckingham-Palastes erreicht und ging an ihr entlang.

 

Jack folgte ihm, denn der Mann hatte sein Interesse erregt. Er trug Schuhe mit Gummisohlen, die kein Geräusch machten, aber trotzdem sah sich der Verfolgte einmal unruhig um, als ob er fühlte, daß jemand hinter ihm herkam. Er setzte jedoch seinen Weg in der eingeschlagenen Richtung fort.

 

In der Nähe des Denkmals der Königin Viktoria zog er plötzlich die Hand aus der Tasche. Dabei fielen sein Taschentuch und ein anderer Gegenstand auf die Straße. Jack eilte hin und hob beides auf. Der Fremde hatte seinen Verlust aber auch bemerkt und fluchte leise, als er umkehrte und auf Jack zukam.

 

Jack betrachtete das viereckige Lederetui, das er in der Hand hielt. Durch den Fall hatte sich der Verschluß geöffnet, so daß der Deckel aufklappte.

 

Der Fremde stand jetzt dicht vor Jack.

 

»Das Etui gehört mir«, sagte er unfreundlich und wollte ihm das Kästchen aus der Hand reißen.

 

Aber Jack hatte inzwischen gesehen, daß eine herrliche Brillantnadel darin lag, deren Mittelstück von drei prachtvollen Smaragden umrahmt war. Dies mußte das Schmuckstück sein, das Mrs. Crewe-Sanders gestohlen worden war! Er wollte es nicht für möglich halten, aber sah es nicht so aus, als sei Barbara die Diebin und dieser Fremde der Hehler, dem sie die Nadel verkauft hatte?

 

»Geben Sie mir jetzt endlich mein Etui zurück!« Der Mann versuchte aufs neue, Jack den Schmuck abzunehmen, aber dieser hatte blitzschnell das Kästchen in seine Tasche geschoben.

 

»Sie müssen mir erklären, woher Sie diese Brillantnadel haben!«

 

»Das fällt mir ja nicht im Traum ein! Wenn Sie mir den Schmuck nicht sofort zurückgeben, rufe ich die Polizei!«

 

»Das ist nicht nötig – Sie können sich ruhig an mich wenden«, erwiderte Jack spöttisch.

 

»Was soll denn das heißen?«

 

Jack wies sich aus und fügte hinzu: »Sie werden wohl begreifen, daß Sie mir erst einmal erklären müssen, wie Sie in den Besitz dieses von der Polizei gesuchten Schmuckstückes gekommen sind. Also, begleiten Sie mich freiwillig, oder muß ich Sie festnehmen? Ich möchte Sie bitten, mit mir zur nächsten Polizeiwache zu kommen.«

 

Der Mann zögerte eine Weile.

 

»Nun gut«, sagte er schließlich. »In dem Fall will ich mitkommen.«

 

Schweigend gingen die beiden Männer durch die nächtlichen Straßen. Jack fragte sich, ob der Fremde wohl ahnte, in welch schwierige Lage er ihn gebracht hatte. Sollte es nun zu einer Verhandlung kommen, so würde darin unweigerlich Barbaras Name fallen, und dann war er – Jack – es gewesen, der sie hineingezogen hatte. Erst jetzt fühlte er,« wie nahe sie ihm stand. Aber nun war kein Zurück mehr möglich. Er riß sich zusammen. Sie waren an der Polizeiwache Westminster angelangt.

 

Als der Fremde nach seinem Namen gefragt wurde, nannte er sich John Smith. Er verweigerte jede Auskunft darüber, wie er zu dem Schmuckstück gekommen war, und schwieg, während Jack und der Sergeant vom Dienst das Schmuckstück betrachteten und sich darüber unterhielten.

 

»Es besteht nicht der geringste Zweifel«, sagte der Sergeant, nahm eine Liste aus einem Schubfach und zeigte mit dem Finger auf einen dort aufgeführten Gegenstand. »Sehen Sie, hier ist die genaue Beschreibung. Es ist die Brillantnadel, die Mrs. Crewe-Sanders entwendet wurde. Wollen Sie ihn verhaften lassen?«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete Jack, aber es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken. Er durfte im Augenblick diesen Mann nicht einmal ausfragen und feststellen, wie er in den Besitz der gestohlenen Brillantnadel gekommen war. Vor allem mußte er Zeit gewinnen, um seine Gedanken zu sammeln.

 

»Ich gehe jetzt zum Chefinspektor. Er wird wohl noch in seinem Klub sein«, sagte er zu dem Sergeanten. »Behalten Sie den Mann hier, bis ich zurückkomme, und schließen Sie das Etui mit dem Schmuck ein.«

 

Langsam wanderte er die Straße entlang, denn er hatte keine Eile, seinen Vorgesetzten zu erreichen. Er hoffte, daß ihm noch irgendein Ausweg einfallen würde, um Barbara nicht direkt durch diese Entdeckung zu belasten.

 

Aber als er die Treppe zum ›Carlton-Club‹ hinaufstieg, war er noch auf keine Lösung gekommen.

 

Zu seinem größten Erstaunen wartete der Chefinspektor bereits in der Eingangshalle auf ihn.

 

»Kommen Sie mit mir in den Rauchsalon«, sagte er zu Jack.

 

Danton folgte der Aufforderung und wunderte sich, woher der Chefinspektor etwas von seinem bevorstehenden Besuch wissen konnte.

 

Aber die Frage klärte sich bald.

 

»Ich bin von der Polizeiwache Westminster angerufen worden, und man hat mir die Festnahme dieses sonderbaren John Smith mitgeteilt. Nachdem Sie die Wache verlassen hatten, kam ein Freund dieses Mannes und klärte die Sache auf. Ich bin davon überzeugt, daß ihm das Schmuckstück, das man bei ihm fand, rechtmäßig gehört. Er ist ein Juwelier und war unterwegs, um die Brillantnadel einem Freund zu zeigen.«

 

Diese dürftige Erklärung setzte Jack in größtes Erstaunen. Er atmete trotzdem erleichtert auf, denn dadurch war Barbara im Augenblick außer Gefahr.

 

»Das Schmuckstück entsprach doch aber genau der Beschreibung«, widersprach er schwach.

 

Sein Vorgesetzter jedoch wollte nicht noch länger bei diesem Gegenstand verweilen und unterbrach ihn. »Das weiß ich auch. Es ist völlig gleich – ein Duplikat der Brillantnadel, die Mrs. Crewe-Sanders bei dem Juwelier Streetley gekauft hat. Der Mann, den Sie mitbrachten, ist der Geschäftsführer dieser berühmten und Ihnen sicher bekannten Firma.«

 

Darauf wußte Jack nichts zu sagen. Er war auch viel zu erleichtert, daß sich der Verdacht gegen Barbara als unbegründet herausstellte, um sich noch viele Gedanken wegen seines Irrtums zu machen.

 

»Und noch eins, Danton«, fuhr der Chefinspektor fort, während er nachdenklich auf die Asche seiner Zigarre schaute, »ich habe heute im Scherz gesagt, Sie sollten die Augen offenhalten, ob Sie vielleicht den Juwelendieb im Hause von Lord Widdicombe fänden. – Keine Widerrede, mein Lieber – es war ein Scherz. Wenn Sie sich jetzt in die Ermittlungen einmischen würden, könnten Sie höchstens stören.«

 

»Ich verstehe«, murmelte Jack, obwohl er nichts verstanden hatte.

 

Kapitel 3

 

3

 

Vier Wochen später saß das junge Mädchen in dem Büro des Rechtsanwalts Parsons. In einem entzückenden Kostüm und mit leuchtenden Augen hörte sie seine Erklärungen an. Für sie bedeutete das alles eine völlig neue Welt.

 

»Meiner Meinung nach ist es nötig, daß Sie das Eigentum Ihres Großvaters einmal selbst ansehen. Es ist sowieso besser, wenn Sie gleich an Ort und Stelle sind, wenn die Verträge und Urkunden unterzeichnet werden müssen.«

 

»Wer will denn die Ländereien in Kanada kaufen?«

 

»Sir John Storey. Er besitzt bereits den größten Teil der anliegenden Grundstücke. Ich weiß allerdings nicht, wozu er diese dann auch noch braucht. Er soll sowieso sehr reich sein und hätte sie eigentlich nicht nötig.«

 

»Daß sich ein englischer Baron in eine solche Einsamkeit zurückzieht und auf alle Annehmlichkeiten und allen Komfort verzichtet, kann ich nicht recht verstehen«, meinte Dorothy.

 

»Nun, er ist schon sechs Jahre dort, und es scheint ihm ausgezeichnet zu bekommen. Im übrigen kann uns das ja gleichgültig sein.«

 

Dorothy dachte einen Augenblick nach.

 

»Ich würde zu gern nach Kanada fahren, aber allein wird das nicht gut gehen.«

 

Mr. Parsons lächelte.

 

»Wenn es Ihnen recht ist, könnten mein Sohn und ich Sie ja begleiten. Sie haben meinen Sohn übrigens schon gesehen, als Sie durch das vordere Büro kamen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich glaube nicht. Dort saßen nur der Bürovorsteher und zwei Schreiber.«

 

Mr. Parsons war unangenehm berührt.

 

»Einer der beiden ist mein Sohn Reginald – Sie haben ihn wohl nicht so genau angesehen.«

 

Dorothy entschuldigte sich kurz. Mr. Parsons war auch von der Wichtigkeit seines Vorhabens zu sehr überzeugt, als daß ihn solche Kleinigkeiten hätten verletzen können.

 

»Also, wir werden Sie begleiten, damit Sie sicher zu Sir John Storey kommen.«

 

»Wieso denn zu Sir John Storey? Ich kann doch auch in der nächsten Stadt bleiben.«

 

»Leider ist keine Stadt in der Nähe, wo Sie bleiben könnten – im Gegenteil, wir werden etwa drei Tage reiten müssen, ehe wir den Landsitz des Barons erreichen. Außerdem habe ich gerade heute einen Brief von Sir John erhalten, in dem er Sie und mich sowie meinen Sohn herzlich zu sich einlädt, bis die Formalitäten zur Abtretung der Ländereien erledigt sind.«

 

»Ach, das ist ja herrlich!« rief Dorothy begeistert. »Schon immer habe ich mir gewünscht, reisen und etwas von der Welt sehen zu können.«

 

So kam es, daß Dorothy, Mr. Parsons und sein Sohn an einem kühlen Oktobermorgen mit dem Dampfer ›Nelson‹ in Little Beach eintrafen.

 

Der Ort war ziemlich klein: Er bestand nur aus wenigen Häusern.

 

Dorothy war begeistert von der herrlichen Gebirgslandschaft. Von weitem sah sie den riesigen Gipfel des Mount Mac Gregor, und es erschien ihr alles zauberhaft schön. Die hohen, schneebedeckten Bergriesen machten einen überwältigenden Eindruck auf sie. Schon auf der Fahrt hatten sich immer neue Wunder der großartigen kanadischen Landschaft vor ihr aufgetan. Tief atmete sie die köstlich frische Bergluft ein.

 

»Es ist verdammt kalt hier«, sagte Mr. Parsons ärgerlich, »und ich fürchte, daß wir auch kaum etwas Ordentliches zu essen bekommen.«

 

Er sah sich nach allen Seiten um und bemerkte an der Tür eines Hauses eine Anzahl von Männern. Einer von ihnen, in einem langen Mantel und schweren Stiefeln, kam auf sie zu. Der Rechtsanwalt ging ihm entgegen.

 

»Ihr Vater hat doch wohl dafür gesorgt, daß wir hier abgeholt werden, Mr. Parsons?« fragte Dorothy den jungen Mann.

 

»Sagen Sie doch bitte Reggie zu mir. Warum sollen wir uns nicht beim Vornamen nennen, Dorothy?« bat er.

 

»Weil ich nicht möchte, daß Sie mich mit Dorothy anreden«, entgegnete sie kurz.

 

*

 

Die Reise war herrlich, aber die ständige Gegenwart des jungen Parsons fiel ihr allmählich auf die Nerven. Die Anwesenheit des Rechtsanwalts machte ihr nicht viel aus, aber dieser vorlaute junge Mann, der ihr bei jeder Gelegenheit den Hof machte, war ihr lästig.

 

»Ich wünschte, Sie wären nicht so unliebenswürdig zu mir«, erwiderte er vorwurfsvoll. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie mir so gut gefallen würden, als ich meinem Vater versprach, diese Reise mitzumachen. Am liebsten würde ich dauernd mit Ihnen zusammen sein.«

 

»Sagen Sie, ist das der Mann, der uns durch die Berge begleiten soll?«

 

»Ja, ich nehme an. Mein Vater sagte, er wäre der Sheriff oder so etwas Ähnliches.«

 

»Reiten wir gleich ab?« fragte sie interessiert weiter.

 

»Ich hoffe«, brummte Reginald und starrte ärgerlich auf den Mann in dem groben Mantel und den Reitstiefeln. »Je eher wir aus diesem schrecklichen Nest fortkommen, desto besser ist es.«

 

Mr. Parsons kam mit dem Mann auf die beiden zu.

 

»Ich möchte Ihnen Sheriff Henesey vorstellen«, sagte er. »Er wird uns bis zu Sir John Storeys Landsitz begleiten.«

 

Der Fremde war ein gutaussehender stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren. Er schüttelte Dorothy und Reginald kräftig die Hand.

 

»Ihre Pferde und der Wagen stehen bereit – Sie wissen doch, daß wir etwa drei Tage unterwegs sein werden?«

 

»Kommen wir durch eine schöne Gegend?« erkundigte sich Dorothy. »Aber diese Frage ist wohl überflüssig, denn hier scheint es überall wunderbar zu sein«, fügte sie begeistert hinzu.

 

»Ich kenne Ihren Geschmack nicht«, entgegnete der Sheriff vorsichtig. »Interessant ist die Gegend sicher. Jedenfalls ist es nicht leicht, den Weg zu Sir John Storeys Landsitz zu finden, wenn man ihn nicht genau kennt. Keiner der Leute hier im Ort ist je dort gewesen, auch ich nicht – Sie hatten doch hoffentlich damit gerechnet, daß wir einen Führer brauchen?«

 

Die letzte Frage war an Mr. Parsons gerichtet, und der Anwalt nickte.

 

»Ja, ich glaube, das wollte ein gewisser Harvey übernehmen.«

 

Der Sheriff runzelte die Stirn.

 

»Joe Harvey? Ich fürchte, da muß ich Sie enttäuschen – er hat sich vor einer Woche ein Bein gebrochen und ist mit dem Dampfer nach Norden geschickt worden. Aber ich werde schon jemand auftreiben, wenn auch die Einheimischen sich nicht leicht überreden lassen werden und die Strecke leider auch nicht richtig oder nur teilweise kennen.« Henesey ging zu dem Haus zurück, von dem er gekommen war. Die Gruppe der Neugierigen bestand nur aus etwa sechs bis acht Männern. Der Sheriff verhandelte mit ihnen. Nach einer Weile kam er wieder.

 

*

 

»Also, von denen dort will es keiner tun, aber gestern abend ist ein Mann hierhergekommen, der es eventuell übernehmen würde, hieß es. Er kennt die Gegend gut, aber ich weiß nicht, ob Sie ihn zum Führer nehmen wollen.«

 

»Wer ist es denn?« fragte Mr. Parsons.

 

»Wir nennen ihn hier ›Harry mit den Handschuhen‹. Er muß Jäger sein, aber viel Mühe scheint er sich wohl nicht damit zu geben, denn bis jetzt hat er noch keine Felle zum Verkauf hergebracht. Regelmäßig alle sechs Wochen taucht er hier auf. Manche halten ihn für einen zweifelhaften Charakter, aber ich habe nie feststellen können, daß er sich etwas hätte zuschulden kommen lassen.«

 

Der Anwalt zögerte.

 

»Warum heißt er denn ›Harry mit den Handschuhen‹?«

 

»Weil er immer Lederhandschuhe trägt«, erwiderte der Sheriff ungeduldig. »Er sieht zwar nicht besonders vertrauenswürdig aus, aber man könnte ja mal mit ihm sprechen.«

 

Henesey pfiff und rief der Gruppe von Männern etwas zu. Einer von ihnen verschwand im Haus – offensichtlich der Gasthof – und kam nach einer Weile mit einem Mann wieder heraus, der wohl drinnen bei einem Bier gesessen hatte.

 

Henesey hatte nicht zuviel behauptet, wenn er meinte, ›Harry mit den Handschuhen‹ sähe nicht besonders vertrauenswürdig aus. Der Mann hatte einen struppigen Bart, und auch sein Haar hätte einen Friseur vertragen können. Sein linkes Auge war durch eine schmutzige Binde verdeckt. Sein Anzug war staubig und die Stiefel grau von Schmutzspritzern. Den Rucksack hatte er mit einem Strick über die Schulter gehängt. Der finstere Eindruck wurde noch verstärkt durch eine doppelläufige Büchse, die er in der Hand hielt, und einen Revolver, der in einem Futteral an seinem Gürtel hing. Er sagte kein Wort. Ruhig stand er vor den Ankömmlingen und musterte sie auf eine Weise, die dem Rechtsanwalt nicht besonders angenehm war.

 

»Kennt er den Weg auch wirklich?« fragte Mr. Parsons zweifelnd. Er hatte keine große Lust, mit diesem Individuum in eine so einsame Gegend zu gehen.

 

Der Fremde nickte.

 

Dorothy betrachtete ihn interessiert. Er paßte jedenfalls besser in diese wilde Gegend als ihre anderen Begleiter. Neugierig sah sie auf seine Hände, und tatsächlich trug er Handschuhe, die früher einmal eine helle Farbe gehabt haben mußten. Noch jetzt konnte man erkennen, daß das Leder außergewöhnlich fein und weich war.

 

»Also Sie sind unser Führer, Harry«, sagte der Rechtsanwalt.

 

Ohne ein Wort zu verlieren, wandte Harry der Gesellschaft den Rücken und ging fort.

 

»Unter keinen Umständen wird es Ihnen gelingen, ihn zum Sprechen zu bringen. In manchen Holzfällerlagern nennt man ihn deshalb den ›Stummen‹. Er hält sich immer abseits von den andern und sagt nur das Notwendigste.«

 

»Allem Anschein nach rasiert er sich auch nicht. Könnten wir ihn vom Friseur nicht ein wenig in Ordnung bringen lassen?«

 

Der Sheriff biß das Ende seiner Zigarre ab und steckte sie an.

 

»Der einzige Friseur in Little Pine Beach hat vor einer Woche das Delirium tremens bekommen.«

 

»Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Mann so zu nehmen, wie er ist«, meinte der Rechtsanwalt resignierend.

 

Dorothy konnte den Führer nicht so abstoßend finden. Irgendwie empfand sie einen gewissen Respekt vor seiner Wortkargheit und ruhigen Bestimmtheit. Als sich die Gesellschaft in Bewegung setzte, ritt sie darum auch hinter ihm, und sie grübelte die ganze Zeit darüber nach, was für ein Leben dieser Mann wohl führte. Für sie war es, als ob eine Gestalt aus einem Abenteuerroman lebendig geworden wäre. Fast ehrfürchtig betrachtete sie den Revolver – ob Harry damit wohl schon einen Menschen niedergeschossen hatte? Sicher kam man in einem solchen Leben nicht ohne Gewalt und Kampf aus.

 

Wahrscheinlich hatte er sich auf ähnliche Weise auch die Verletzung an seinem Auge zugezogen.

 

Je höher sie kamen, desto herrlicher wurde die Aussicht, die sie von Berghängen oder über Schluchten hinweg hatten. Sie ritten zunächst zum Dead-Horse-Paß. Gegen Abend sattelten sie ab, und man schlug Zelte für die Nacht auf. Henesey verhandelte eine Weile mit dem Führer, dann kam er zu den anderen zurück und schüttelte den Kopf.

 

»Wir müssen selbst unser Essen machen«, berichtete er. »Er will nur für die junge Dame etwas kochen – für niemand sonst.«

 

»Sagen Sie ihm doch, daß wir auch allein für die junge Dame sorgen können«, fuhr Parsons auf.

 

»Bestellen Sie ihm bitte, Mr. Henesey, daß ich sehr gerne probieren möchte, was er gekocht hat«, warf Dorothy ruhig ein.

 

Der Rechtsanwalt machte keinen Einwand«, warf aber seinem Sohn einen schnellen Blick zu.

 

Harry mochte der schlimmste Landstreicher in ganz Kanada sein – aber er konnte kochen. Er bot Dorothy eine ausgezeichnete dicke Gemüsesuppe mit Fleischeinlage an und hinterher eine Tasse Kaffee, wie sie ihn überhaupt noch nie geschmeckt hatte.

 

Mr. Parsons, der viel für gutes Essen übrig hatte, betrachtete melancholisch seine eigene Mahlzeit.

 

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Der Weg war jetzt breiter, so daß Dorothy neben dem schweigsamen Mann reiten konnte, der ihre Gedanken immer stärker beschäftigte.

 

»Was macht denn Ihr Auge? Ist es sehr schlimm?«

 

»Nein«, entgegnete er brummig.

 

Sie hätte ihn zu gerne gefragt, wie er zu der Verletzung gekommen wäre, aber sie traute sich nicht, ihn nochmals anzureden.

 

Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, sagte er plötzlich: »Es kam durch einen Jagdunfall – als ich einen Luchs schoß.«

 

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her. Dann wandte sich Dorothy wieder an ihn.

 

»Diese Gegend ist herrlich. Es ist für mich Stadtkind wie eine Offenbarung. Aber Sie leben ja hier; für Sie ist das natürlich nichts Neues.«

 

Er antwortete nicht darauf.

 

»Warum reiten Sie eigentlich zu Storey?« fragte er nach einer Weile.

 

Sie erzählte ihm alles ganz offen, und er hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Während sie sprach, fiel ihr auf, daß in seinem Haar und Bart schon einzelne graue Haare zu sehen waren. Trotzdem hätte sie sein Alter nicht schätzen können, denn die braune Hautfarbe ließ ihn jünger aussehen, als er war.

 

Plötzlich sah er sie an.

 

»Sie hätten doch nicht in diese rauhe Gegend zu kommen brauchen«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Die Anwälte hätten die Verträge allein fertigmachen können.«

 

»Mr. Parsons sagte aber, es wäre nötig, daß ich käme.«

 

Auf einmal kam ihr ein Gedanke, und sie war so erstaunt, daß sie ihn laut aussprach.

 

»Morgen ist mein Geburtstag – ich werde dreiundzwanzig. Es wäre sehr schlimm für mich, wenn es schon der vierundzwanzigste wäre.«

 

Er kümmerte sich nicht um ihre Worte, und das ärgerte sie. Wieder ritten sie eine Weile schweigend nebeneinander her. »Warum wollen Sie denn nicht vierundzwanzig werden?« fragte er dann unerwartet.

 

»Ach, es ist nicht wichtig«, entgegnete sie kühl.

 

Er drang auch nicht weiter in sie, und das ärgerte sie noch mehr.

 

*

 

An diesem Abend war Reginald besonders aufmerksam zu ihr. Sein Vater schien ihn auch absichtlich mit ihr allein zu lassen. Schlimm wurde es aber, als Mr. Parsons den Sheriff mitnahm, um ihm vom Abhang einen wunderbaren Ausblick zu zeigen.

 

Dorothy hatte ihre Abendmahlzeit beendet und wollte gerade aufstehen, als Reggie auf sie zukam und sie am Arm festhielt.

 

»Gehen Sie bitte nicht weg, ich muß Ihnen was sagen, Dorothy«, sagte er und räusperte sich.

 

Sein Ton war so sonderbar, daß sie ihn erstaunt anblickte.

 

»Dorothy, ich liebe Sie«, erklärte er heiser. »Ich liebe Sie – ich habe Sie wirklich verdammt gern!«

 

»Ich will aber nicht, daß man mich ›verdammt‹ gern hat«, sagte sie kühl, obwohl sie innerlich vor Ärger über seine Hartnäckigkeit kochte.

 

Reginald wußte nicht, was er nun tun sollte. »Nimm die Festung im Sturm«, hatte ihm sein Vater am Nachmittag geraten.

 

»Dorothy«, begann Reginald wieder und ergriff ihre Hand, »ich bin Ihrer nicht wert.«

 

»Gott sei Dank, daß wir wenigstens einmal in unseren Ansichten übereinstimmen«, entgegnete sie. Aber bevor sie wußte, was geschah, hatte er sie in die Arme geschlossen und drückte seine Lippen auf die ihren.

 

Sie versuchte verzweifelt, sich frei zu machen, aber plötzlich packte jemand Reggie am Kragen und zog ihn zurück. Der junge Mann ließ sie los und schaute sich wütend um.

 

»Verdammt, was fällt Ihnen ein?« rief er außer sich. Er wollte sich losreißen, aber Harry hielt ihn eisern fest.

 

Schließlich ließ er los, gab ihm aber dabei einen solchen Stoß, daß er fast gefallen wäre. Fluchend zog Reginald seinen Revolver.

 

»Stecken Sie das Schießeisen ruhig wieder weg«, sagte Harry, und widerwillig gehorchte der junge Mann. Harry sah ihn so verächtlich an, daß ihm das Blut zu Kopf stieg.

 

»Was ist denn hier los?« fragte der Anwalt, der aufmerksam geworden war und eilig herbeikam.

 

Dorothy, die ein paar Schritte weitergegangen war, hörte, was Reginald seinem Vater erzählte. Zu ihrem größten Erstaunen wurde der Anwalt nicht ärgerlich über die Frechheit seines Sohnes, sondern wandte sich mit einem verbindlichen Lächeln an das junge Mädchen.

 

»Das ist allerdings sehr unangenehm, Miss Trent, besonders, weil ich am Tag der Abreise das Testament noch einmal genau durchgelesen habe. Dabei mußte ich leider feststellen, daß ich das Testament nicht genau genug geprüft habe. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß Sie vor Ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag heiraten müssen nicht vor Ihrem vierundzwanzigsten.«

 

Sie sah ihn erschrocken an.

 

»Was – bevor ich dreiundzwanzig werde?« Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Sicher irren Sie sich.«

 

»Ich bedaure den Irrtum außerordentlich, aber in dem Testament steht ausdrücklich der dreiundzwanzigste Geburtstag, Es tut mir leid, daß ich Ihnen das Testament nicht gezeigt habe.«

 

Dorothy überlegte blitzschnell.

 

»Das heißt, daß ich neun Zehntel des Vermögens verliere, wenn ich nicht heute abend noch heirate?«

 

Parsons nickte zustimmend.

 

Harry, der noch immer dabeistand, sah, daß ihr das Blut in die Wangen stieg.

 

»Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel!« rief Dorothy mit zitternder Stimme. »Deshalb also wollten Sie so dringend, daß ich in diese einsame Gegend reiste. Es wäre überhaupt nicht nötig gewesen, daß ich herkam. Sie haben es aber extra so eingerichtet, daß ich am Vorabend meines dreiundzwanzigsten Geburtstags hier von aller Welt verlassen und auf Sie angewiesen bin, weil Sie mich mit Reginald verkuppeln wollten!«

 

Wer konnte ihr nur hier helfen? Sie überlegte fieberhaft, ob es nicht noch einen Ausweg gäbe. Dann fiel ihr ein: »Sie sind natürlich der Beamte«, sagte sie zu Henesey, »der mich mit Reginald trauen sollte, nicht wahr?«

 

»Ja, deshalb habe ich die Gesellschaft begleitet – das war der Sinn meines Mitkommens«, erklärte der Sheriff, wandte sich ab und spuckte aus. »Mir wurde gesagt, Sie seien romantisch und hätten die Absicht, hier in den Bergen zu heiraten.«

 

Dorothy wußte plötzlich, was sie tun mußte. Sie trat zu Harry, der ihr trotz seines verbundenen Auges, seines wilden Bartes, seines abgerissenen Aussehens von Anfang an Vertrauen eingeflößt hatte.

 

»Kann ich Sie einen Augenblick allein sprechen?« fragte sie. Sie war rot geworden, sprach aber entschlossen weiter, nachdem sie sich von den anderen entfernt hatten.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte sie schnell.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich gebe Ihnen zehntausend – nein, hunderttausend Dollar, wenn Sie mich jetzt heiraten. Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie mich verlassen, sobald wir wieder in Little Pine Beach sind.«

 

Er überlegte eine Weile.

 

»Ja«, erwiderte er dann. »Ich werde Sie verlassen, wenn Sie wieder in Little Pine Beach sind und es wünschen, daß ich Sie verlassen soll.«

 

Sie sah ihn prüfend an, aber er zuckte mit keiner Wimper.

 

»Also, wollen Sie mich heiraten?«

 

Er nickte.

 

»Ich sehe nicht ein, warum ich es nicht tun sollte. Ich habe heute abend sowieso nichts Besonderes vor.«

 

Dorothy ging zum Lagerfeuer zurück.

 

»Sheriff Henesey, können Sie mich jetzt trauen?«

 

»Selbstverständlich!«

 

»Mit oder ohne Papiere?«

 

»Eine Heiratsbewilligung brauchen wir hier draußen nicht.«

 

»Das ist ja wunderbar.« Sie nahm Harrys Hand. »Trauen Sie uns.«

 

Rechtsanwalt Parsons sprang auf.

 

»Nein! Das dürfen Sie nicht tun!« rief er laut.

 

»Sie können nichts daran ändern, seien Sie also still!« sagte Harry ruhig. »Mr. Henesey, fangen Sie doch bitte mit der Trauung an.«

 

In der Nacht schlief Dorothy im Zelt ihres Mannes. Er selbst wickelte sich in seine Decken und übernachtete draußen vor dem Zelt.

 

Am nächsten Morgen setzten sie den Ritt fort. Keiner von ihnen sagte ein Wort, und es herrschte allgemein eine gedrückte Stimmung.

 

Nur einmal brach Mr. Parsons das Schweigen.

 

»Wie heißt denn der Kerl eigentlich?« fragte er den Sheriff.

 

»Ich glaube Torker – oder Morley oder so ähnlich. Ich habe den Namen nicht genau verstanden. Aber er muß ihn mir ja sagen, wenn ich den endgültigen Trauschein ausstelle.«

 

Dorothy ritt mit ihrem Mann voraus, aber auch die beiden waren verhältnismäßig schweigsam.

 

Schließlich kamen sie am Nachmittag auf dem Gut Sir John Storeys an.

 

»Sind Sie dem Baron schon einmal begegnet?« fragte Dorothy ihren Mann.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

Sie stellte noch ein paar Fragen, und er nickte nur, ohne etwas zu sagen.

 

»Gesprächiger sind Sie ja nicht geworden!« rief sie ärgerlich aus.

 

»Nein, ich sage selten, was ich denke.«

 

Bestürzt sah sie ihn an.

 

Er fuhr fort: »Vermutlich wollen Sie mich nicht mehr sehen, wenn wir zum Haus kommen. Es wird Ihnen nicht passen, in meiner Gesellschaft gesehen zu werden.«

 

»Sie haben versprochen, mich nach Little Pine Beach zurückzubringen. Außerdem müssen Sie mir doch noch Ihre Adresse sagen, damit ich Ihnen das Geld schicken kann.«

 

»Ich will kein Geld.«

 

»Aber Sie haben es doch versprochen!« rief sie ganz verzweifelt über solchen Starrsinn aus.

 

Er antwortete nicht darauf.

 

Das Haus des Barons war eine große Überraschung für Dorothy. Sie hatte in dieser Umgebung eigentlich Blockhäuser oder ähnliches erwartet. Was sie aber vorfanden, war ein wahrhaft fürstlicher Landsitz. Diener in Livree kamen aus dem Gebäude, halfen ihr beim Absteigen und brachten sie in die große Eingangshalle, die mit Geweihen und anderen Jagdtrophäen geschmückt war.

 

Auch ein Butler erschien, der ebensogut auf ein englisches Schloß hätte gehören können.

 

Dorothy sah sich nach ihrem Mann um, aber er war inzwischen verschwunden.

 

Reginald hatte sie beobachtet.

 

»Nun, wo ist denn der Herr Gemahl geblieben, Mrs …, den Namen habe ich nicht verstanden?« erkundigte er sich spöttisch.

 

Dorothy wurde rot und wandte sich an den Butler.

 

»Ach, würden Sie Mr. – Mr. – sehen Sie doch bitte nach, ob mein Mann draußen ist«, führ sie dann energisch fort. Sie ärgerte sich nicht nur über die Taktlosigkeit des jungen Mannes, sondern schämte sich auch, daß sie ihren eigenen Namen nicht wußte.

 

Der Butler kam gleich darauf zurück.

 

»Er läßt sich entschuldigen – er käme später«, sagte er höflich.

 

»Ist denn Sir John zu Hause?« fragte der Rechtsanwalt.

 

»Nein, er ist augenblicklich nicht anwesend, aber ich werde ihm Ihre Ankunft melden, wenn er zurückkommt. – Ich habe Ihr Gepäck auf die Zimmer bringen lassen, meine Herren. Wollen Sie sich zum Abendessen umkleiden? Sir John tut es immer.«

 

Rechtsanwalt Parsons und sein Sohn hatten selbstverständlich Abendanzüge mitgenommen. Sheriff Henesey war schon wieder fortgeritten. Er hatte die Trauungsurkunde ausgefertigt und befand sich bereits auf dem Weg nach Little Pine Beach.

 

Dorothy sah ihren Mann an diesem Nachmittag nicht mehr. Nur einmal entdeckte sie ihn von weitem, Er hatte den Sheriff ein Stück begleitet und betrat das Haus von der Rückseite durch den Eingang für das Personal.

 

*

 

Mit größter Sorgfalt zog sich Dorothy zum Abendessen an. Es war das erstemal, daß sie in dieser Gegend ein richtiges Abendkleid anlegen konnte. Wie mochte wohl der Baron aussehen, schoß es ihr durch den Kopf. Ob sie ihm gefallen würde? Aber sie verscheuchte diesen Gedanken sofort. Was würde Harry sagen, wenn er sie in diesem Kleid sehen, könnte? Wahrscheinlich dachte er doch an nichts anderes, als möglichst bald in die nächste Stadt zu kommen und das Geld zu vertrinken, das er von ihr erhalten würde und das er bis jetzt so großspurig zurückgewiesen hatte. Trotzdem war sie gespannt, wann sie ihn wiedersehen würde – ihren Mann!

 

Strahlend trat sie ins Speisezimmer, das von vielen Lampen erleuchtet wurde, denn der Baron hatte einen nahegelegenen Wasserfall zu einem Kraftwerk ausbauen lassen.

 

Reggie betrachtete sie spöttisch.

 

»Nun, wissen Sie jetzt, wo Ihr Mann ist?« fragte er.

 

Dorothy ging auf den Butler zu, der respektvoll am Ende des Tisches stand.

 

»Würden Sie so freundlich sein und meinem Mann sagen, daß das Essen angerichtet ist?« bat sie ein wenig verlegen.

 

Sie wollte diese Rolle zu Ende spielen und sich vor allem in Gegenwart der beiden Parsons keine Blöße geben.

 

»Sie meint ›Harry mit den Handschuhen‹«, erklärte Reginald bereitwillig.

 

Der Butler verbeugte sich und verließ das Zimmer. Ein paar Minuten später erschien er wieder, öffnete die Tür weit und trat dann zur Seite.

 

»›Harry mit den Handschuhen‹«, sagte er dann laut.

 

Als der Rechtsanwalt erkannte, wer da hereinkam, fuhr er sich mit der Hand an den Kopf und wurde blaß vor Schreck. Dorothy aber hatte sich voller Staunen erhoben, sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen.

 

Harry hatte sich rasiert und den Verband abgenommen. Seine beiden Augen waren gesund und leuchteten zum erstenmal, seit sie ihn kannte, gutgelaunt und fast belustigt. Der Frack stand ihm tadellos, und das weiße Frackhemd unterstrich sehr vorteilhaft seine braune Hautfarbe.

 

Lächelnd verbeugte er sich, dann ging er zum Platz des Hausherrn. Er kümmerte sich überhaupt nicht um die beiden Parsons, sondern wandte sich lächelnd an Dorothy.

 

»Hoffentlich habe ich Sie nicht zu sehr überrascht«, erklärte er liebenswürdig, »aber Sie müssen bedenken, daß ich sechs Monate lang auf der Jagd war und während der Zeit keine Gelegenheit zum Haarschneiden oder Rasieren hatte.«

 

Er sah zum Butler hinüber.

 

»Tibbins, fangen Sie bitte mit dem Servieren bei Mylady an.«

 

Inzwischen war auch Mr. Parsons zu sich gekommen.

 

»Sie sind also Sir John Storey?« fragte er verlegen.

 

»Ja, das ist mein Name.«

 

»Aber in Little Pine Beach kannte Sie doch niemand?«

 

»Wenn ich dort hingehe, bin ich niemals anders angezogen«, sagte Sir John. »Ich bin leidenschaftlicher Jäger und jage hauptsächlich in jener Gegend. Am Tag vor Ihrer Ankunft traf ich ziemlich abgerissen dort ein. – Zu Ihrer Information, Lady Storey, ich bin in Little Pine Beach als ›Harry mit den Handschuhen‹ bekannt.

 

»Weil Sie immer Handschuhe tragen«, bemerkte Reginald sehr treffend.

 

»Ja, das tue ich, um meine Hände zu schonen.«

 

*

 

Als sich die Parsons zurückgezogen hatten, ging Sir John mit Dorothy auf die weite Terrasse, die einen überwältigenden Ausblick auf die von Mondlicht übergossenen Berge und Wälder bot.

 

»Es ist einzigartig schön hier«, sagte sie ergriffen. »Ich wundere mich jetzt nicht mehr, daß Sie sich hierher zurückgezogen haben. Aber ist es Ihnen manchmal nicht doch etwas einsam?«

 

Er streifte die Asche seiner Zigarette ab, bevor er mit seiner tiefen Stimme antwortete.

 

»Sie haben recht, manchmal ist es ziemlich einsam hier.«

 

Sie schwiegen beide verlegen.

 

»Und es wird noch viel einsamer werden, wenn Sie wieder nach Hause zurückkehren.«

 

Sie lachte und lehnte sich über das Geländer.

 

»Sie sind wirklich ein seltsamer Mann. Aber wenn Sie mich nach Little Pine Beach bringen…«

 

»Ja, was dann?«

 

Sie antwortete nicht gleich.

 

»Ich habe Ihnen versprochen, Sie dorthin zurückzubringen«, erklärte er, »und ich muß mein Wort halten.«

 

»Sie haben aber hinzugefügt, falls ich es wünschte«, erwiderte sie leise.

 

»Und – wünschen Sie es?«

 

Sie spielte mit einer Ranke, die sich um einen Pfeiler wand, und als sie sprach, war es so leise, daß er ihre Worte kaum verstehen konnte. Da nahm er sie einfach in die Arme und küßte sie, und sie wehrte sich durchaus nicht dagegen.

 

Ende

 

Zehn Minuten bevor Snub Reilly seinen Ankleideraum verließ, um in den Ring zu klettern, wurde ihm ein Brief überbracht. Sein Trainer und sein Manager wollten nicht zulassen, daß er ihn öffnete und las. Sie befürchteten einen nachteiligen Einfluß auf den Boxer, in diesem Augenblick, vor dem großen Titelkampf. Snub Reilly sollte gegen Curly Boyd antreten, einen gefährlichen Gegner, der jetzt den Weltmeisterschaftstitel im Mittelgewicht erobern wollte. Vier Boxer hatte Boyd schon k.o. geschlagen, und nun hatte er Snub Reilly herausgefordert. Der Kampf stand unmittelbar bevor.

 

»Geben Sie mir das Schreiben – ich will es lesen!« sagte Snub energisch. Er war ein Mann, der keinen Widerspruch duldete. Rasch überflog er den Brief, der mit der Schreibmaschine geschrieben und von zwei in der Sportwelt bekannten Leuten unterzeichnet war.

 

»Eine Herausforderung«, sagte er kurz. »Einsatz zehntausend Pfund.«

 

»Was ist denn das für ein Kerl?« fragte der Manager.

 

»Hier wird er der ›Unbekannte‹ genannt. Er fordert den Gewinner des heutigen Kampfes heraus. Schicken Sie ihm sofort eine telegrafische Zusage – ich werde gegen den ›Unbekannten‹ kämpfen.«

 

»Wir wollen lieber bis nach dem Kampf warten«, meinte der Manager, den die Zuversicht seines Schützlings beunruhigte.

 

»Nein, schicken Sie das Telegramm sofort ab«, erklärte Snub, zog seinen Frottiermantel an und verließ gleich darauf den Ankleideraum.

 

Der Manager gab das Telegramm auf, aber es war ihm selbst nicht ganz geheuer dabei. Die vierte Runde brachte jedoch schon die Entscheidung zugunsten Snub Reillys.

 

Für Snub war dies ein ungeheurer Erfolg, denn die ganze Welt hatte den Ausgang dieses Kampfes mit Ungeduld und Spannung erwartet. Noch bevor Snub seinen Umkleideraum wieder erreicht hatte, war die Nachricht von seinem Sieg schon in alle Teile der Welt gefunkt worden.

 

Er legte den Frottiermantel ab, ließ die Prozedur des Massierens über sich ergehen, und bereits zehn Minuten nach Beendigung des Kampfes verließ er das Gebäude durch eine Seitentür.

 

Snub Reilly war ein bescheidener Mann.

 

Das Echo dieses großen Erfolges hallte noch tagelang in der Presse wider. Snub wurde wie ein Nationalheld gefeiert. Doch umgab ihn ein Geheimnis. Niemals ließ er sich von Sportreportern oder anderen Zeitungsleuten interviewen und war überhaupt schweigsam und zurückhaltend. Aber gerade diese Eigenschaft ließ ihn dem Publikum als einen außergewöhnlichen Mann erscheinen und schuf ihm einen Nimbus, wie ihn kein anderer Weltmeister vor ihm besessen hatte.

 

*

 

Selbst in dem kleinen und verschlafenen Rindle hallte die Begeisterung für Snub Reilly nach. Der Ort war bekannt für sein gutes Internat, in dem die Söhne der besten Familien der Gegend erzogen wurden.

 

Beim Frühstück las der Direktor des Gymnasiums den Bericht über den Kampf. Er selbst war ein Bewunderer Snub Reillys, und mit Staunen las er von dem blitzschnellen Schlag, der Curly Boyd den Rest gegeben hatte.

 

Seine hübsche neunzehnjährige Tochter Vera saß ihm gegenüber. Auch sie hatte eine Zeitung auf den Knien und las heimlich den Sportbericht.

 

Draußen im Hof stand eine Gruppe von Schülern, die sich auf dem Weg zur Morgenandacht in der Aula befanden. Sie drängten sich um einen ihrer Kameraden, der entgegen aller Schulvorschriften so kühn gewesen war, sich eine Zeitung zu besorgen. Alle hörten zu, wie er ihnen von dem Sieg des angeschwärmten Snub Reilly vorlas.

 

Der Mathematiklehrer Barry Tearle saß inzwischen im Lehrerzimmer und korrigierte die Aufgabenhefte der Schüler. Aber plötzlich lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und dachte an den Boxkampf. Ihn, der gleichzeitig Turnlehrer des Internats war, interessierten natürlich alle Ereignisse des Sportlebens ganz besonders.

 

Da läutete es: Die Morgenandacht sollte beginnen. Tearle erhob sich. Er eilte die Treppe hinunter und über den großen Schulhof. Als er durch den Torbogen kam, dachte er wie immer daran, daß Vera eines der Zimmer darüber bewohnte. Plötzlich hörte er seinen Namen und drehte sich um.

 

Vera Shaw, an die er soeben noch gedacht hatte, stand vor ihm.

 

»Ich habe Sie gesehen, als Sie heute früh heimkamen«, sagte sie und lachte verschmitzt.

 

Barry Tearle wurde verlegen.

 

»Ach – haben Sie mich gesehen? – Ich hatte in der Nähe von Northwood eine Panne. Hoffentlich habe ich Sie nicht gestört.«

 

Vera lachte über sein schuldbewußtes Gesicht. In diesem Augenblick sah sie so bezaubernd aus, daß Tearle sie hingerissen anstarrte.

 

»Nein, Sie haben mich nicht gestört. Ich konnte nicht schlafen, saß am Fenster und schaute in die schöne Mondlandschaft hinaus, als Sie über den Schulhof schlichen wie der Dieb in der Nacht. Anders kann man es nicht nennen. – Haben Sie übrigens den Boxkampf gesehen?« fragte sie plötzlich.

 

»Nein«, entgegnete er schnell, »ich habe ihn nicht gesehen, und ich bin erstaunt, daß Snub Reilly…«

 

»Ach, tun Sie doch nicht so!« unterbrach sie ihn. »Sagen Sie mir lieber, wer dieser Unbekannte ist, von dem es heißt, daß er Snub Reilly herausgefordert hat! – Aber jetzt müssen Sie gehen, sonst kommen Sie zu spät zur Morgenandacht.«

 

*

 

Als Barry Tearle nach der Andacht wieder auf den Schulhof kam, stand Vera noch an derselben Stelle, aber diesmal war Mr. Selby bei ihr, und Tearle vergaß bei diesem Anblick sofort alle frommen Gedanken.

 

John Selby wohnte auch in Rindle. Seine Vorfahren hatten die berühmte Schule gegründet, und er tat nun so, als ob er der Schutzheilige des Internats sei. Er war schlank und mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Barry. Man sah ihm auch an, daß er reich war. Er machte Vera Shaw in aller Form den Hof und ließ keinen Zweifel darüber, daß er hoffte, sie eines Tages heiraten zu können.

 

»Guten Morgen, Mr. Tearle«, sagte er zu dem Mathematiklehrer. »Haben Sie gestern den Boxkampf gesehen?«

 

»Nein«, erwiderte Barry ärgerlich. »Sie meinen wohl, ich hätte nichts Besseres zu tun? – Aber waren Sie dort?« fragte er plötzlich.

 

»Ja. Ich habe eben Vera genau geschildert, wie der Kampf verlief. Dieser Reilly ist wirklich toll! Er ist nicht größer als – ich möchte fast sagen, er ist noch kleiner als Sie.«

 

»Nicht möglich!« erwiderte Barry und tat erstaunt. »Haben Sie ihn denn nicht genau angesehen?«

 

»Werden Sie nur nicht ironisch. Natürlich habe ich ihn genau gesehen – aber ich saß nicht gerade in der ersten Reihe. – Das kann ich Ihnen jedoch sagen: Dieser Reilly ist wirklich großartig!«

 

»Das behaupten die Zeitungen auch«, meinte Barry gelangweilt.

 

»Und dieser Idiot von einem Unbekannten, der ihn herausforderte –«

 

»Sie entschuldigen mich wohl«, sagte Barry, lüftete den Hut und ging davon.

 

»Na, dieser Tearle ist aber eine komische Marke!« Mr. Selby schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was in den gefahren ist, Vera.«

 

»Mr. Selby«, sagte das Mädchen ruhig, »bitte nennen Sie mich nicht beim Vornamen.«

 

Er war erstaunt und verletzt.

 

»Aber mein liebes Kind –«

 

»Ich bin auch nicht Ihr ›liebes Kind‹«, sagte sie kühl. »Ich bin überhaupt kein Kind mehr.«

 

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Schließlich war er ein Selby aus Rindle, und die Selbys aus Rindle richteten sich immer zu ihrer vollen Größe auf, wenn ihnen etwas nicht paßte.

 

»Natürlich – wenn Sie es wünschen, Miss Shaw. Es tut mir leid, daß ich Ihnen zu nahegetreten bin.«

 

Selbstverständlich war das nur eine Redensart, denn es tat ihm durchaus nicht leid. Aber es war eine Antwort, wie man es von einem Vertreter einer der ältesten Familien des Landes erwarten konnte.

 

»Zu nahegetreten sind Sie mir nicht. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich manche Dinge nicht hören mag. – Warum halten Sie übrigens Mr. Tearle für so merkwürdig?«

 

»Nun, ein junger Lehrer hat gerade kein hohes Gehalt, und doch lebt dieser Tearle auf großem Fuß, hat ein Auto und ist immer erstklassig angezogen.«

 

Sie sah ihn ruhig und ein wenig mitleidig an – etwas, das ihn aus der Fassung bringen konnte.

 

»Nun, daran ist doch nichts merkwürdiges! Oder halten Sie es für merkwürdig, daß Sie nicht alles Geld auf der Welt haben?«

 

Er sagte spöttisch: »Es sieht Ihnen ähnlich, daß Sie ihn verteidigen. – Ich wünschte nur …«

 

»Ja, was wünschten Sie?«

 

»Daß andere Verfügungen getroffen würden in bezug auf … Es ist eine große Summe gesammelt worden für den Erweiterungsbau der Schule. Und es ist doch eigentlich gefährlich, daß ein schlechtbezahlter Lehrer, soviel Geld verwaltet.«

 

Schon bevor er zu Ende gesprochen hatte, wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte, denn Veras Gesicht war erst dunkelrot und dann blaß geworden.

 

»Wollen Sie damit sagen –« fragte sie atemlos, und ihre Stimme klang ihr selbst fremd –, »wollen Sie damit sagen daß – Mr. Tearle das Geld – zum Kauf seines Autos … Ach nein, der Gedanke ist ja absurd! Wie können Sie etwas Ähnliches nur andeuten!«

 

Er sah sie überrascht an. Früher hatte er sie immer für ein liebenswürdiges, zartes junges Mädchen gehalten. Aber jetzt sah er eine Vera, die er noch nie erlebt hatte. Ihre graublauen Augen blitzten.

 

»Aber liebe Vera …«, begann er verlegen.

 

»Sie müssen selbst einen ganz gemeinen Charakter haben, wenn Sie sich so etwas ausdenken können«, rief sie erregt. »Ich hasse Sie!«

 

Er stand noch verblüfft an derselben Stelle, als sie schon im Haus verschwunden war. Dann zuckte er die Achseln, schlug den Mantelkragen hoch und trat durch den Torbogen hinaus auf die Straße.

 

»Sehr vorteilhaft sah sie gerade nicht aus«, sagte er halblaut vor sich hin. »Sie benimmt sich eigentlich nicht wie eine Dame. Wie kann man sich nur über Kleinigkeiten so aufregen!«

 

*

 

Veras Vater kam zehn Minuten früher zum Essen, als sie erwartet hatte, und brachte Selby mit. Darüber ärgerte sie sich im stillen.

 

Wenn Selby nur ein bißchen Feingefühl besessen hätte, wäre er nicht mitgekommen! Aber er hatte ein dickes Fell und lächelte Vera verbindlich zu – wie ein Mann von Welt, der nichts nachträgt.

 

Vera war froh, daß sie bei Tisch nicht viel zu sagen brauchte, denn die Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um die am Nachmittag stattfindende Sitzung des Schulausschusses, dessen Vorsitzender Mr. Selby war. Der Erweiterungsbau war ein unerschöpfliches Thema. Vera wartete nur darauf, daß Mr. Selby etwas Abfälliges über Barry Tearle sagen würde, aber er war gewarnt und vermied klugerweise das Thema. Dafür, erwähnte der Direktor Tearles Namen.

 

»Heute morgen gab es einen unangenehmen Zwischenfall in der Stadt«, sagte er. Die Lehrer und der Direktor bezeichneten mit ›Stadt‹ alles, was nicht zur Schule und zum Internat gehörte. »Ich weiß nicht, wie die Sache anfing, aber ich bin fest davon überzeugt, daß unser Schüler im Recht war. – Du erinnerst dich doch sicher noch an diesen Crickley, Vera«, wandte er sich an seine Tochter.

 

»Ja, dieser stadtbekannte Grobian, der voriges Jahr wegen Trunkenheit am Steuer im Gefängnis gesessen hat. Aber gebessert hat er sich nicht.«

 

»Heute morgen muß er wieder betrunken gewesen sein, denn als er mit seiner Frau durch die Stadt ging, stritt er sich mit ihr. Er hob den Stock und schlug auf sie ein. Er kann sie nicht schwer getroffen haben, aber einer unserer Schüler aus der Untersekunda – du weißt schon, der junge Tilling –, der zufällig vorbeikam, mischte sich ein. Dieser Crickley wollte ihn daraufhin auch verprügeln, da kam aber gerade Tearle dazu. Soviel ich hörte, hat er den Mann höflich aufgefordert, den Jungen loszulassen. Das tat Crickley auch, wandte sich aber jetzt gegen Tearle.«

 

»Hat er ihn geschlagen? Ist Tearle verletzt?« fragte Vera schnell.

 

»Nein, ich glaube nicht.« Der Direktor lachte leise und wandte sich an Selby. »Sie kennen doch Tearle? Er ist unser Turnlehrer und ein vorzüglicher Boxer.«

 

»Hat Tearle denn den Mann niedergeschlagen? Gab es einen Auftritt auf offener Straße?« fragte Selby, bereit, sich darüber zu entrüsten. »Ich weiß nicht, ob das den guten Ruf der Schule von Rindle fördert«, meinte er und fühlte sich wieder ganz als Schutzpatron.

 

»Ach, das ist doch Unsinn!« entgegnete der Direktor, und Vera warf ihrem Vater einen dankbaren Blick zu. »Dem Grobian tut das mal ganz gut, und für unsere Schüler gab Tearle ein gutes Beispiel.«

 

Der Direktor schwieg eine Weile. Dann sagte er nachdenklich: »Ich weiß nicht, Vera, ich hatte so ein komisches Gefühl, als ich danach mit ihm sprach. Heute morgen stand in der Zeitung eine Notiz, die du nicht gelesen haben wirst – im Sportteil nämlich –, daß ein Unbekannter Snub Reilly herausgefordert hat.«

 

»Aber Vater, du meinst doch nicht etwa, daß Tearle der Unbekannte ist?« fragte sie verblüfft.

 

»Ja. Unwillkürlich hatte ich den Eindruck, daß es kein anderer sein kann. Ich sprach mit ihm über den glänzenden Kampf gestern und erwähnte auch die Herausforderung. Es war ein harmloses Gespräch, aber er wurde rot wie ein Krebs.«

 

Selby lachte laut.

 

»Das ist doch unmöglich!« sagte er verächtlich. »Ich gebe ja zu, daß er ein ganz guter Boxer sein mag, aber vergessen Sie nicht, Snub Reilly ist Weltmeister seiner Klasse.«

 

Der Direktor zuckte die Achseln.

 

»Mir ist ja selbst klar, daß es lächerlich klingt.«

 

»Außerdem muß der Herausforderer zehntausend Pfund einzahlen, bevor der Kampf ausgetragen werden kann, und zehntausend Pfund sind eine ganz schöne Stange Geld.«

 

Vera schaute zu Selby hinüber. Sie wußte wohl, was er mit diesen Worten sagen wollte. Auch er sah sie an.

 

Als Selby für kurze Zeit das Zimmer verließ, um zu telefonieren, fragte sie ihren Vater: »Wie stehst du eigentlich zu Mr. Selby?«

 

Er sah sie über seine Brille hinweg an.

 

»Ich kann ihn nicht ausstehen. Wenn ich offen sein soll – halte ich ihn für einen dummen, eingebildeten Trottel. Aber er ist nun einmal Vorsitzender des Komitees, und so muß ich eben mit ihm verkehren.«

 

Vera atmete erleichtert auf.

 

»Jetzt sollst du aber etwas zu hören bekommen, was dieser Kerl heute morgen zu mir gesagt hat. Stell dir vor, er machte eine Andeutung, daß Mr. Tearle Geld aus dem Baufonds entwendet haben müßte.«

 

Mr. Shaw sprang auf.

 

»Unerhört! Das ist eine unglaubliche Beleidigung! Ich werde ihn sofort deswegen zur Rede stellen!«

 

»Nein, Vater, das wirst du nicht tun«, fiel Vera ihm ins Wort. »Welchen Zweck hat es denn, wenn ich dir etwas im Vertrauen sage, und du posaunst es sofort aus? Ich habe dir das nur erzählt, damit du Bescheid weißt.«

 

Mr. Shaw setzte sich wieder.

 

»Da hört sich aber doch alles auf!« schimpfte er. »Wie kann dieser Selby nur so dummes Zeug reden! Natürlich hat Tearle die Verwaltung des Geldes, er ist ja Schatzmeister.«

 

»Liegt der Baufonds in barem Geld in einer Stahlkassette? Ich meine, könnte Tearle hingehen und sich soundsoviel Geld in die Tasche stecken?«

 

Der Direktor mußte lachen.

 

»Nein, so werden die Gelder nicht verwaltet. Wir haben sie in Wertpapieren und Aktien angelegt. Tearle kennt sich darin aus. – Aber daß dieser Idiot zu behaupten wagt …«

 

*

 

Mr. Selby war tief in Gedanken versunken, als er an dem Abend nach Hause fuhr. Bis zwei Uhr in der Nacht saß er in seinem Arbeitszimmer und schrieb Briefe an seine Freunde. Darunter befand sich auch der Herausgeber einer Sportzeitung. Von ihm erfuhr Selby Einzelheiten über die Herausforderung. Die zehntausend Pfund mußten bis zum 5. des nächsten Monats eingezahlt werden.

 

Woher mochte Tearle nur diese zehntausend Pfund haben? Wie konnte er eine solche Summe aufbringen?

 

Selby war fest davon überzeugt, daß kein anderer als Tearle der unbekannte Herausforderer war. Eine Bestätigung dafür erhielt er, als er eines Tages in einer Komiteesitzung sah, wie der Mathematiklehrer einige Papiere aus der Tasche holte. Darunter erkannte Selby auch ein grünes Blatt, das, wie er wußte, das Programm des Kampfes Reilly gegen Boyd war. Tearle hatte sich also doch den Boxkampf angesehen, obwohl er es so heftig abgestritten hatte. Außerdem trainierte Tearle hart. Als Selby eines Morgens in aller Frühe zufällig aus dem Fenster seines Schlafzimmers sah, bemerkte er einen Mann im Trainingsanzug, der am Gartenzaun seines Landhauses entlanglief. Als er näher hinsah, erkannte er Barry Tearle.

 

In den folgenden Wochen stellte Selby eingehende Nachforschungen an. Bei einer Sitzung des Schulausschusses frage er nach einer Liste der Wertpapiere, in denen der Baufonds angelegt worden war. Tearle gab sie ihm sofort, und nun hatte Selby, was er brauchte.

 

Um diese Zeit besuchte ihn auch ein Detektiv, der sich in letzter Zeit ständig im Dorf herumtrieb, sich nach allem möglichen erkundigte, mit allen Leuten Bekanntschaft schloß und seine Nase in alles steckte.

 

»Mr. Selby«, sagte der Mann zufrieden, »ich habe ein paar Nachrichten für Sie, die Sie interessieren werden.«

 

Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin.

 

»Gestern nachmittag hat Tearle einen eingeschriebenen Brief abgeschickt. Fragen Sie mich nicht, wie ich es herausbekommen habe, aber ich kann Ihnen sagen, daß darin Aktien der Rochester-Eisenbahn-Gesellschaft, des Landsyndikats und der Newport-Dock-Gesellschaft waren.«

 

»Einen Augenblick«, sagte Selby und ging schnell zu seinem Schreibtisch, wo er eine Schublade aufzog und eine Liste herausnahm.

 

»Lesen Sie mir die Namen der Aktien noch einmal vor, aber langsam.«

 

Der Detektiv tat es.

 

»Ja, es stimmt«, rief Selby befriedigt. »Tearle hat das Geld der Baukommission in diesen Aktien angelegt.«

 

Der Detektiv sah ihn gespannt an.

 

»Was werden Sie mit ihm machen? Wollen Sie ihn verhaften lassen?«

 

Aber Mr. Selby lächelte nur.

 

»Nein«, entgegnete er, »das werde ich nicht tun. Im Gegenteil, es ist besser, wenn er noch einige Zeit in Freiheit bleibt.«

 

Er wanderte im Zimmer auf und ab.

 

»Ich will Ihnen sagen, was ich tun werde: Ich werde alle Lehrer der Schule morgen zum Abendessen einladen. Das ist eine Gepflogenheit der Selbys seit Gründung der Schule. Sie wissen doch, daß das Internat von den Selbys gegründet wurde?«

 

Der Detektiv wußte es nicht, aber er lächelte höflich.

 

»Tearle wohnt bei der alten Mrs. Gold in der High Street«, fuhr Selby fort. »Die ist stocktaub, und soviel ich weiß, geht sie jeden Abend um neun ins Bett. Sie wird nichts merken, wenn Sie in Tearles Zimmer einsteigen.«

 

»Was meinen Sie damit?«

 

»Während ich die Lehrer und auch Mr. Tearle hier bei mir zu Gast habe, werden Sie Tearles Wohnung durchsuchen, vor allem seine Papiere.«

 

Der Detektiv nickte.

 

»Ich verstehe. Aber wie soll ich denn ins Haus kommen?«

 

»Die Haustür ist nicht abgeschlossen, wenn Tearle ausgeht. Er hat dem Direktor neulich in meiner Gegenwart gesagt, daß er niemals einen Hausschlüssel mitnimmt. Es gibt keine Verbrechen in Rindle. Wir leben hier in paradiesischen Verhältnissen.«

 

»Dann sind höchstens wir die Bösewichter«, meinte der Detektiv und lachte.

 

Mr. Selby verzog keine Miene.

 

»Nein, das dürfen Sie nicht sagen. Ich begehe kein Verbrechen, sondern handle im Interesse des Baukomitees, dessen Vorsitzender ich bin.«

 

*

 

Das große Essen, zu dem Selby die Lehrer eingeladen hatte, war für mindestens zwei der Gäste furchtbar langweilig. Der Gastgeber hatte es extra so eingerichtet, daß Vera Shaw an der einen Seite des Tisches neben ihm saß, während Tearle an die andere Seite rechts von Direktor Shaw placiert worden war.

 

Selby wollte an diesem Abend ungestört mit Vera sprechen. Er beabsichtigte, ihr einen Vorschlag zu machen, den er reiflich überlegt hatte.

 

Das Essen war halb vorüber, als er davon anfing.

 

»Miss Vera«, sagte er, »ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen: Wie wäre es, wenn Sie sich den Boxkampf ansehen würden?«

 

»Meinen Sie, ich sollte selbst hingehen – zu dem Kampf zwischen Snub Reilly und dem unbekannten Herausforderer?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube nicht, daß ich ihn ansehen möchte.«

 

»Auch nicht, wenn der große Unbekannte ein Freund von Ihnen ist?«

 

Sie errötete.

 

»Aber wie sollte das möglich sein? Sie denken doch nicht, daß Mr. Tearle –«

 

»Ich weiß es! Aber versprechen Sie mir, daß Sie es Tearle nicht weitersagen. Er würde sich nur darüber aufregen, daß Sie es wissen, und dadurch könnte die Sache vor der Zeit bekanntwerden.«

 

»Aber das ist doch ausgeschlossen«, sagte Vera ratlos. »Wie könnte denn Mr. Tearle die zehntausend Pfund –« Sie biß sich auf die Lippen.

 

»Vielleicht hat er gute Freunde, die das Geld für ihn auslegen«, bemerkte Mr. Selby anzüglich.

 

Eine Weile schwiegen beide.

 

»Warum möchten Sie eigentlich, daß ich mir den Kampf ansehe?« fragte sie plötzlich.

 

»Weil ich davon überzeugt bin, daß Tearle gewinnt. Außerdem habe ich das Gefühl, daß er Sie verehrt.«

 

Es kostete Mr. Selby einige Anstrengung, das herauszubringen, aber er wollte Vera unter allen Umständen überreden, sich den Kampf anzusehen.

 

»Ich will Ihre Einladung unter einer Bedingung annehmen«, sagte sie langsam. »Ich glaube, daß ich es einrichten kann. Ich muß sowieso in die Stadt, und meine Tante hat mich schon lange eingeladen, die Nacht über bei ihr zu wohnen. Ich kann ihr sagen, daß ich ins Theater gehe. Aber mit wem soll ich denn zu dem Boxkampf gehen?«

 

»Natürlich werde ich Sie begleiten«, erklärte Mr. Selby höflich. »Und welche Bedingung stellen Sie?«

 

»Wenn Sie herausfinden, daß Ihre Vermutung nicht stimmt und daß der Herausforderer nicht Mr. Tearle ist, bringen Sie mich sofort wieder nach Hause.«

 

»Aber selbstverständlich! Das verspreche ich Ihnen sehr gern. Bitte erzählen Sie aber auf keinen Fall Mr. Tearle, daß Sie sich den Kampf ansehen werden. Es soll doch eine große Überraschung werden.«

 

Auf dem Heimweg zerbrach sich Barry Tearle verzweifelt den Kopf, warum Vera nicht mit ihm gesprochen hatte und was sie so intensiv mit Mr. Selby verhandelt haben mochte. Ob die beiden sein Geheimnis kannten? Er bekam Herzklopfen bei dem bloßen Gedanken daran.

 

Als die letzten Gäste das Haus verlassen hatten, kam der Detektiv in Selbys Bibliothek, und der Hausherr sah auf den ersten Blick, daß er Erfolg gehabt hatte.

 

»Jetzt haben wir ihn!« sagte der Detektiv triumphierend. »Sehen Sie, was ich gefunden habe.« Er legte ein Blatt Papier auf den Tisch. »Ich habe das von einem Brief abgeschrieben, den ich bei Mr. Tearle fand.«

 

Mr. Selby nahm das Papier in die Hand und las. Es war eine Quittung der Stadtbank über den Empfang von zehntausend Pfund, die auf Barry Tearles Konto eingezahlt worden waren. Aus einer zweiten Mitteilung ging hervor, daß die zehntausend Pfund dem Komitee überwiesen worden waren, das den Kampf arrangierte.

 

Mr. Selby lächelte zufrieden.

 

»Das haben Sie glänzend gemacht, mein Lieber^ Was wollen wir jetzt unternehmen?«

 

Aber er wartete die Antwort des Detektivs gar nicht ab, denn er hatte schon einen Plan, wie er Tearle und Vera am wirkungsvollsten treffen konnte. Vor allem wollte er sehen und es Vera auch zeigen, wie Tearle bei dem Kampf geschlagen wurde. Erst wenn alles vorüber war, wollte er eingreifen. Falls dann das Geld verloren war, beziehungsweise das Komitee es nicht mehr herausrücken wollte, so war er ja in der glücklichen Lage, dem Baufonds die Summe zu ersetzen, die Tearle gestohlen hatte.

 

*

 

Vera fuhr an dem Tag, an dem der Kampf stattfinden sollte, nach London, und als Tearle hörte, daß sie fortgefahren war, ohne mit ihm zu sprechen, war er tief enttäuscht.

 

Eine Stunde vor seiner Abfahrt nach London ließ ihn der Direktor zu sich kommen. Tearle war das nicht ganz geheuer, aber er ging doch sofort zu ihm.

 

»Sie wollten mich sprechen?« fragte er, als er dem Direktor gegenüberstand.

 

Der Direktor hob den Kopf.

 

»Ja, Mr. Tearle«, entgegnete er. Ihm war auch nicht wohl in seiner Haut. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich Ihnen Glück wünsche.« Er reichte dem Mathematiklehrer die Hand. »Mr. Tearle, ich bin ein bißchen nervös wegen dieser Angelegenheit«, fuhr er dann fort, »und mir scheint, daß Sie wenig Aussichten haben.«

 

»Was wollen Sie damit sagen?«

 

»Nun, ich glaube, daß Sie der Unbekannte sind, der den Weltmeister Snub Reilly herausgefordert hat, und das ist mir eigentlich nicht ganz recht. Es könnte bei der Schulbehörde Schwierigkeiten geben, wenn das herauskommt. Aber das werden wir schließlich wieder einrenken können. Ich fürchte nur, daß Sie Ihr eigenes Vermögen dabei aufs Spiel setzen …« Shaw zögerte eine Sekunde, »… wenn natürlich nicht Ihre Freunde für Sie eingesprungen« sind und Ihnen geholfen haben.«

 

»Das braucht Sie nicht zu beunruhigen«, erwiderte Tearle und blickte den Direktor offen an. »Es ist mein eigenes Geld.«

 

»Dann kann ich nur wünschen, daß. Sie gewinnen.« Direktor Shaw drückte ihm noch einmal herzlich die Hand. »Ich habe Sie immer gern gehabt, Mr. Tearle, und ich hoffe aufrichtig, daß es Ihnen gelingen wird. Ich bin sicher, daß sich meine Tochter, wenn sie etwas davon wüßte, meinen Wünschen anschließen würde. Aber sie, hat ja keine Ahnung, daß Sie an dem Kampf teilnehmen.«

 

Barry Tearle machte schweigend eine Verbeugung und verließ das Zimmer.

 

Es war ein großes Erlebnis für Vera. Den ganzen Tag dachte sie an nichts anderes. Sie schwankte zwischen Furcht und Hoffnung, und manchmal wünschte sie, daß sie gar nicht hinzugehen brauchte.

 

Mr. Selby holte sie pünktlich um neun Uhr abends ab. Er war in der besten Stimmung, und er hatte auch allen Grund dazu. Kurz zuvor hatte er sich nämlich von zwei Kriminalbeamten getrennt, nachdem er ihnen ein paar Hinweise gegeben hatte.

 

Er hatte es so eingerichtet, daß er mit Vera den Sportpalast erst kurz vor dem Kampf betrat. Im letzten Augenblick Wurde er jedoch von einem Freund angesprochen, und er entschuldigte sich für einen Augenblick bei Vera.

 

Kaum hatte Vera Zeit zum Überlegen, als ihr auch schon Zweifel kamen: Würde ihre Gegenwart Tearle nicht verwirren? Hätte sie überhaupt kommen sollen? Sie wünschte doch so dringend seinen Sieg!

 

»Sie können später noch mit mir sprechen, Johnson«, hörte, sie Selby sagen. »Ich gehe jetzt hinein.«

 

Gleich darauf nahm er Veras Arm und führte sie in die große Halle.

 

Sie sah sich erschreckt um. Noch, nie hatte sie so viele Menschen auf einmal gesehen. Was würden all diese Leute tun, wenn Barry unterlag? Würden sie pfeifen? Das konnte sie nicht ertragen. Sie blieb stehen.

 

»Ich möchte nicht hierbleiben«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich halte es nicht aus.«

 

»Kommen Sie nur«, beruhigte er sie und brachte sie zu einem der vordersten Plätze.

 

Das war ihr besonders unangenehm! Am liebsten hätte sie den Kampf von weiter hinten angesehen, so daß sie die beiden Kämpfer nicht genau unterscheiden konnte. Aber sie mußte bleiben.

 

Dann wurde durch Lautsprecher bekanntgegeben, daß Snub Reilly noch nicht angekommen war. Aber er hatte angerufen, daß er sich auf dem Weg in den Sportpalast befände. Wäre diese Wartezeit nicht gewesen, so hätte Selby bis zum Ende geschwiegen. Nun aber konnte er es sich nicht verkneifen, ihr von seinen Nachforschungen zu erzählen. Sie hörte starr vor Entsetzen zu, fand aber nicht die Kraft, zu widersprechen.

 

Dann kam das Schlimmste. Vera klammerte sich krampfhaft an die Lehnen ihres Sessels, denn ihr wurde plötzlich schlecht.

 

Der Mann, mit dem Selby im Vestibül gesprochen hatte, stand auf einmal neben Selby und sagte ihm, daß Snub Reilly angekommen sei.

 

»Ist der Unbekannte auch da?« fragte Selby und lächelte in der Vorfreude auf seinen Sieg. »Es warten ein paar Kriminalbeamte, die ihn festnehmen werden.«

 

»Ach, tun Sie das nicht – nein, das dürfen Sie nicht tun«, bat Vera verzweifelt.

 

»Sie haben also schon die Kriminalpolizei verständigt?« erkundigte sich der Mann. »Das finde ich aber nicht fair von Ihnen, Mr. Selby. Der Mann saß doch schon einmal im Gefängnis. Warum wollen Sie so hart gegen ihn vorgehen? Kennen Sie ihn denn persönlich?«

 

»Ich kenne ihn sehr gut«, antwortete Selby, »aber ich wußte nicht, daß er schon eine Vorstrafe hat.«

 

»Er ist zwei Jahre im Gefängnis gewesen, und zwar in Australien – wegen Betrugs. Früher war er einer der besten Mittelgewichtler, die wir hier in England hatten. Ich habe, dem Komitee von Anfang an gesagt, daß man seinen Namen nicht verheimlichen sollte. Es hätte gleich eine Sensation gegeben, wenn bekannt geworden wäre, daß Kid Mackey der Herausforderer ist. Aber die Leute, die den Kampf veranstalten, bestanden darauf, ihn als den großen Unbekannten einzuführen.«

 

Vera wurde plötzlich wieder besser.

 

»Wie heißt er?« fragte sie leise.

 

»Kid Mackey«, antwortete Selbys Bekannter. »Einer der besten Boxer, die wir vor drei Jahren hier hatten.«

 

»Dann ist es also nicht Tearle?« fragte Selby entsetzt.

 

Vera hätte am liebsten laut gelacht, als sie seine Enttäuschung sah. Dann fiel ihr plötzlich ein, unter welcher Bedingung sie mitgekommen war.

 

»Jetzt müssen Sie mich nach Hause bringen – das haben Sie versprochen …«

 

Plötzlich erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm.

 

Ein Mann in einem feuerroten Frottiermantel kam den Gang entlang, erschien auf der Plattform und winkte dem Publikum zu. Viele erkannten in ihm den früheren Meister im Mittelgewicht.

 

Aber gleich darauf brach noch ein größerer Begeisterungssturm los.

 

»Snub Reilly – Snub Reilly!« rief man von allen Seiten.

 

»Snub Reilly!« stieß Mr. Selby hervor.

 

Reilly drehte sich um, und Vera erhob sich von ihrem Sitz, denn der Weltmeister, der jetzt auf dem Podium stand und zu ihr niedersah – war Barry Tearle!

 

Mr. Selby saß wie versteinert. Vera kam sich wie im Traum vor. Sie sah die letzten Vorbereitungen zum Kampf, dann begann die erste Runde. Unverwandt schaute sie auf Barry, der vorwärts und rückwärts sprang, sich deckte und angriff.

 

Bei Beginn der zweiten Runde legte sich Kid Mackey stärker ins Zeug, obgleich ihm seine Trainer geraten hatten, er solle bis zur letzten Runde in der Verteidigung bleiben. Snub Reillys Linke schoß vor – der Unbekannte schien schwer getroffen zu sein und taumelte. Ein zweiter Haken von Snub Reilly …

 

Der Kampf war vorüber. Für Vera war die Aufregung zu groß gewesen. Wenn Barry Tearle, der plötzlich neben ihr auftauchte, sie nicht aufgefangen hätte, sie wäre bewußtlos umgesunken …

 

*

 

Am nächsten Morgen saß Barry Tearle im Zimmer des Direktors und berichtete. Von den Anstrengungen des vergangenen Abends war ihm nichts anzumerken.

 

»Mein Vater war Berufsboxer. Er reiste überall im Land umher und veranstaltete Schaukämpfe; jeden Schilling, den er verdiente, steckte er in meine Erziehung. Aber nicht nur das. Er gab mir auch Unterricht im Boxen, und von ihm lernte ich Tricks, die kaum ein anderer kennt. Er starb, während ich noch auf der Universität war, und es sah so aus, als ob ich mein Studium nicht fortsetzen könnte. Ich liebte meinen zukünftigen Beruf und wollte durchaus mein Examen machen, aber ich hatte kein Geld. Einflußreiche Freunde besaß ich nicht.

 

Da las ich eines Morgens in der Sportzeitung die Herausforderung eines Boxers, den ich schon öfters bei Kämpfen gesehen hatte. Ich war davon überzeugt, daß ich ihn schlagen konnte und machte alles zu Geld, was ich besaß, um die notwendige Summe zu. hinterlegen. Unter dem Namen Snub Reilly trat ich auf und gewann gleich diesen ersten öffentlichen Kampf. Ich habe dann in allen Ferien drei Jahre lang geboxt, auch nachdem ich die Anstellung hier erhalten hatte. – Aber dies ist mein letzter Kampf gewesen«, setzte er abschließend hinzu und warf einen liebevollen Blick auf Vera.

 

Der Direktor räusperte sich.

 

»Vera hat mir erzählt, daß Selby Sie verdächtigt hat, Aktien verkauft zu haben.«

 

Barry nickte.

 

»Ja, meine eigenen Papiere. Ich mußte zehntausend Pfund hinterlegen. Die Aktien waren von derselben Sorte, in der ich großenteils die Gelder des Baufonds angelegt habe.«

 

»Ich verstehe.« Direktor Shaw nickte. »Sie haben natürlich nur die besten und sichersten Papiere angeschafft, sowohl für sich als auch für die Schule.«

 

Nachdenklich sah er auf die Schreibunterlage, die vor ihm auf dem Tisch lag.

 

»Und nun sagen Sie, es wäre Ihr letzter Kampf gewesen?«

 

Barry nickte. »Ja, von jetzt ab wird Snub Reilly nicht mehr auftreten. Ich habe ein schönes Vermögen zusammengebracht. Das genügt mir.«

 

»Und hier im Internat und in Rindle weiß auch niemand, daß Sie Snub Reilly sind?«

 

»Nur Mr. Selby«, erwiderte Vera.

 

»Ich glaube nicht, daß er darüber sprechen wird«, meinte ihr Vater. »Er hatte eine sehr klägliche Rolle bei der ganzen Sache gespielt.«

 

Dann reichte er Barry die Hand.

 

»Ich wünschte, ich hätte den Kampf selbst auch gesehen. Du nicht auch, Vera?«

 

Sie schüttelte sich und verneinte heftig.

 

»Natürlich. Wie konnte ich nur eine solche Frage stellen!« sagte ihr Vater beruhigend und legte ihr die Hand auf die Schulter.

 

Mr. Tearle und Vera Shaw verließen das alte Schulhaus schweigend.

 

»Jetzt muß ich aber wieder ins Haus gehen, Barry«, sagte sie nach einiger Zeit. »Ach, ich war ja so glücklich, als du gewannst!« Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. »Und ich habe dir auch die kleine Lüge verziehen.«

 

»Welche Lüge?« fragte er erstaunt.

 

»Du sagtest doch damals, daß du den Boxkampf nicht gesehen hättest.«

 

Er lächelte.

 

»Ich habe ihn auch nicht gesehen – ich konnte es ja gar nicht, weil ich selbst daran teilgenommen habe.«

 

Ende

 

Kapitel 4

 

4

 

»In unsern Kreisen wird man noch eher den Diebstahl der Schmuckstücke verzeihen als diese gemeinen Verleumdungen«, sagte Lady Widdicombe ernst.

 

Diana mußte über diese Worte lachen.

 

»Daran sieht man wieder einmal, wie inkonsequent und unmoralisch die Gesellschaft im Grunde ist«, entgegnete sie leichthin. Sie stütze den Kopf auf die Hand und schaute auf das Parkett, wo zahlreiche Paare tanzten.

 

Die Tanzabende von Lady Widdicombe während der Kricketwoche waren bekannt und beliebt, und wer zu den oberen Zehntausend gehörte, war dort zu finden. Eine lange Reihe von Autos hielt dann vor dem großen Parktor.

 

»Ich habe eben mit Mrs. Crewe-Sanders gesprochen«, erklärte Diana, während sie die tanzenden Paare weiter beobachtete. »Sie ist der Meinung, daß niemand in Schloß Morply eindringen kann, der nicht mit der Lage der Räume genau vertraut ist.«

 

»Sie hat natürlich den größten Verlust erlitten«, meinte Lady Widdicombe.

 

Wieder lachte Diana.

 

»Die arme Frau steckt sich aber auch all ihren Schmuck an. Ich wundere mich nur, daß sie den Verlust überhaupt gemerkt hat. Sonderbar ist nur, daß ausgerechnet ihr die Nadel gestohlen wurde, da doch so viele andere Gäste im Haus waren, die ebenfalls eine Menge Schmuck besaßen. – Hallo, Barbara«, erwiderte sie den Gruß einer jungen Dame, die die Galerie entlangkam. »Tanzen Sie denn nicht?«

 

Barbara sah in ihrem cremefarbenen Abendkleid noch schöner aus als sonst. Mit strahlenden Augen blickte sie Diana an. Plötzlich trat ein fragender Ausdruck in ihr Gesicht.

 

»Nanu – haben Sie keine Angst, Ihren kostbaren Schmuck zu tragen?« fragte sie, ohne auf Dianas Worte einzugehen, und deutete auf die glänzende Brillantnadel, die Diana an ihrem weißseidenen Kleid trug.

 

»Wie Sie sehen – nein. Ich glaube nicht, daß der berüchtigte Dieb hierherkommen wird.«

 

»Wollten Sie mich sprechen?« wandte sich Lady Widdicombe an Barbara.

 

»Ja, ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich mein Zimmer gewechselt habe.«

 

»Ach, das ist aber sehr freundlich von Ihnen«,.erwiderte die Dame des Hauses dankbar. »Macht es Ihnen auch wirklich nichts aus?«

 

»Nicht im mindesten«, antwortete Barbara lachend.

 

»Eine der vielen Kusinen meines Mannes ist nämlich krank geworden«, erklärte Lady Widdicombe, »und Barbara war so liebenswürdig, mir sofort anzubieten, daß sie das Zimmer mit ihr tauschen würde.« Sie sah Barbara bewundernd nach, als das Mädchen weiterging. »Übrigens hat Barbara mir gesagt«, fuhr sie dann fort, »daß dieser anonyme Briefschreiber einem ihrer Verwandten etwas Abscheuliches über sie geschrieben hat.«

 

»Sie scheint sich aber nicht viel daraus zu machen«, meinte Diana kühl.

 

»Die Geschichte mit den Verleumdungen ist wirklich zu schlimm!« rief Lady Widdicombe aus, die sich nicht so leicht damit abfand.

 

Auch unten in der weiträumigen Bibliothek, die an diesem Abend als Rauchzimmer für die Herren diente, sprach man über den Juwelendiebstahl auf Schloß Morply und über die anonymen Briefe des ›aufrichtigen Freundes‹.

 

Der Hausherr stand im Kreis seiner Gäste am Kamin. Er war groß und stattlich, und trotz eines chronischen Magenleidens hatte er viel Sinn für Humor. Aber auch er verurteilte das verantwortungslose Tun des anonymen Briefschreibers, der bereits drei Familientragödien auf dem Gewissen hatte – man sprach sogar schon von einer vierten, die sich auf einem benachbarten Schloß anbahnte.

 

Lord Widdicombe konnte sehr interessant erzählen, und als sich das Gespräch den Juwelendiebstählen zuwandte, kam er auf Erfahrungen zu sprechen, die er in Indien gesammelt hatte.

 

»Meiner Meinung nach hat sich dieser Einbrecher deswegen auf Brillantnadeln spezialisiert, weil man sie verhältnismäßig leicht zu Geld machen kann. Als ich seinerzeit Gouverneur von Bombay war, kam man einer Bande auf die Spur, die einen umfangreichen Diamantendiebstahl geplant hatte. Wäre er ihr gelungen, so hätte die englische Regierung dadurch in eine verteufelte Lage kommen können. – Haben Sie schon einmal von dem Diamanten der Göttin Kali gehört? – Ich glaube nicht«, fuhr er lächelnd fort. »In Indien ist das ein sehr bekannter Stein. Er ist nicht besonders groß, und sein Wert wird noch nicht einmal auf tausend Pfund geschätzt, aber der Stein ist so berühmt, daß man ihn nicht für eine Million Pfund kaufen könnte. In einer Beziehung ist er auch wirklich einzig in seiner Art, denn auf einer seiner Flächen ist ein ganzer Vers der heiligen Schriften eingraviert. Nur die Inder mit ihrer unendlichen Geduld sind zu derartigen Dingen fähig. Sie können sich vorstellen, daß die Buchstaben winzig klein sind und daß man schon ein starkes Vergrößerungsglas nehmen muß, um sie überhaupt lesen zu können. Die Inder glauben nun, daß diese Worte nicht von Menschen eingraviert, sondern durch das Wunder einer Gottheit entstanden sind.

 

Es waren früher schon Versuche gemacht worden, den Stein zu stehlen, und schließlich hatte sich die englische Regierung darum gekümmert, denn man wußte wohl, daß es Unruhen geben würde, wenn diese Kostbarkeit abhanden käme. Die Regierung nahm den Diamanten daher in Verwahrung. Bei einem bestimmten heiligen Fest wird er öffentlich ausgestellt – übrigens findet es gerade in diesem Monat wieder statt. Selbstverständlich wurde dieser einzigartige Stein mit der größten Sorgfalt gehütet. Trotzdem gelang es einer Bande indischer Diebe, in das Gewölbe einzubrechen, wo der Stein aufbewahrt wurde, und ihn zu rauben. Das geschah zwei Wochen vor dem großen Fest, und alle Regierungsbeamten waren entsetzt über den Diebstahl. Zum Glück konnten wir uns mit den Räubern in Verbindung setzen, aber wir mußten immerhin hunderttausend Pfund Lösegeld zahlen.«

 

»Dazu mußten Sie wohl überall bekanntmachen, daß der Stein gestohlen worden war?«

 

»Um Himmels willen, das wäre ausgeschlossen gewesen«, erwiderte der Lord, entsetzt über eine derartige Zumutung. »Was meinen Sie, was das Volk getan hätte, wenn es erfahren hätte, daß der heilige Stein Räubern in die Hände gefallen ist? – Nein, wir haben die Sache so geheim wie möglich gehalten. Es durfte kein Wort darüber gesagt werden, denn solche Nachrichten verbreiten sich in Indien mit Windeseile.«

 

Inzwischen war Barbara May in die Bibliothek gekommen. Nun trat sie hinter einen jungen Mann und berührte ihn mit der Hand an der Schulter.

 

Danton erschrak und drehte sich schnell um.

 

»Es tut mir sehr leid«, entschuldigte er sich, »aber ich hörte gerade eine interessante Geschichte.«

 

Er führte sie in den Ballsaal, und ein paar Augenblicke‘ später tanzten sie.

 

Kapitel 5

 

5

 

»Mr. Danton, ich hab viel über Sie nachgedacht«, sagte Barbara May, als die Kapelle eine Pause machte.

 

Sie trat mit Jack auf die Terrasse hinaus.

 

»Es tut mir leid, daß ich die Ursache so angestrengten Nachdenkens war.«

 

»Ich habe mir überlegt, welchen Beruf Sie haben könnten. Alle Leute wissen, daß Sie irgend etwas Geheimnisvolles tun. – Nun, ich habe es herausbekommen.«

 

»Na, da bin ich aber sehr gespannt«, erwiderte er kühl und ließ sich neben ihr nieder. »Welchen Beruf habe ich also?«

 

»Sie sind Kriminalbeamter.«

 

Er sah sie so bestürzt an, daß sie laut lachen mußte.

 

»Sehe ich denn tatsächlich so aus, als ob ich zur Polizei gehörte?«

 

»Nein, Sie machen nicht den Eindruck eines gewöhnlichen Polizisten, aber in den letzten Jahren sind doch viele tüchtige höhere Offiziere bei Scotland Yard eingetreten.«

 

»Wenn ich wirklich Kriminalbeamter wäre«, sagte er, um Zeit zu gewinnen, »dann hätte ich mich aber sehr schlecht bewährt.«

 

»Aber Sie sind doch von der Polizei – habe ich denn nicht recht?« fragte sie beharrlich.

 

»Eigentlich sollte ich mich darüber ärgern, daß man es herausgebracht hat, aber Ihnen kann ich ja doch nicht böse sein, Miss May.«

 

»Die Frage ist nur«, erwiderte sie und hob die Augenbrauen, wobei sie ihn prüfend ansah, »wollen Sie den anonymen Briefschreiber zur Strecke bringen, oder sind Sie hinter dem Juwelendieb her?«

 

»Meinen Sie, Scotland Yard würde etwas in der Sache der anonymen Briefe unternehmen, ohne daß ordnungsgemäß Anzeige erstattet worden wäre?«

 

»Sie haben recht. Dann sind Sie also hinter dem Juwelendieb her, der kürzlich auch Schloß Morply beehrte?«

 

»Das kann ich nicht behaupten.«

 

»Ich wünschte eher, daß Sie den anonymen Briefschreiber suchten. Wer mag diese Frau nur sein?«

 

»Sie sind also überzeugt, daß es sich um eine Frau handelt?«

 

»Was bleibt einem denn anderes übrig?« Barbara May raffte die weichen Falten ihres Abendkleides zusammen und trat an die Balustrade. Ohne Jack Danton anzusehen, fuhr sie fort: »So gehässig kann nur eine Frau sein. Die Briefe sind ja von einer ausgesuchten Gemeinheit. Sie wissen doch, daß die Flatterleys sich schon getrennt haben? Tom Fowler hat die Scheidungsklage gegen seine Frau eingereicht, und Mrs. Slee ist jetzt nach Übersee gegangen. Ihre Muter grämt sich darüber zu Tode.«

 

Er nickte ernst.

 

»Diese Art von Verbrechen ist entsetzlich. Ich kann schließlich einem Dieb verzeihen, aber solche Menschen kann ich nicht verstehen.«

 

*

 

Als Barbara May an dem Abend auf ihr Zimmer ging, sah sie, daß Jack in ein Gespräch mit Lord Widdicombe vertieft war, und sie lächelte vor sich hin.

 

»Was belustigt Sie denn so sehr, Barbara?« fragte Diana, die hinter ihr die Treppe hinaufging.

 

»Ach, ich dachte nur an Verschiedenes«, entgegnete Barbara May ausweichend.

 

»Sie haben es gut, daß Sie noch lachen können. Mich langweilt so ein Tanzabend furchtbar.«

 

Barbara wandte sich um und sah ihr voll ins Gesicht.

 

»Warum kommen Sie dann überhaupt zu solchen Veranstaltungen?«

 

Diana zuckte die Schultern. »Man muß doch irgend etwas tun, um die Zeit totzuschlagen.«

 

»Aber warum arbeiten Sie denn nicht?«

 

Diana starrte Barbara an. Wie hätte sie, die Erbin eines der größten Vermögen in England, arbeiten können? Das mußte Barbara doch berücksichtigen!

 

Hätte Lady Widdicombe die Mädchen in diesem Augenblick auf der Treppe gesehen, so hätte sie festgestellt, daß die Abneigung der beiden auf Gegenseitigkeit beruhte.

 

»Was meinen Sie denn mit ›arbeiten‹?« erwiderte Diana von oben herab. »Soll ich etwa als Säuglingsschwester tätig sein oder Stenotypistin im Außenministerium werden oder etwas Ähnliches unternehmen?«

 

»Ja. – Ich habe so etwas getan«, entgegnete Barbara. »Das ist eine gute Ablenkung. Wenn man tagsüber nichts tut, kann man nur nachts nicht schlafen.«

 

»Aber Barbara!« Diana lachte gezwungen. »Ich habe das Gefühl, daß Sie das eigentlich nichts angeht. Sie betonen anscheinend gerne Ihre Tüchtigkeit.«

 

»Lassen Sie ruhig meine Tüchtigkeit aus dem Spiel«, antwortete Barbara kühl und ging in ihr Zimmer.

 

Selbst wenn Jack Danton diese Szene belauscht hätte, wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, daß Barbara sich dieses Gespräch vorher genau überlegt hatte. Sie hatte extra auf Diana gewartet und war kurz vor ihr die Treppe hinaufgegangen. Sie wollte sie ärgern, um sich nachher bei ihr entschuldigen zu können.

 

Während sich Diana von ihrer Kammerzofe beim Auskleiden helfen ließ, klopfte es an die Tür des Schlafzimmers, und Barbara kam herein.

 

»Verzeihen Sie, Diana, ich war vorhin gereizt; ich wollte Sie nicht kränken«, begann sie liebenswürdig.

 

»Ach, das hat weiter nichts zu sagen«, entgegnete Diana und lächelte. »Es war ja schließlich auch meine Schuld. Wenn man so lange aufbleiben muß, wird man leicht müde und überempfindlich.«

 

»Was haben Sie aber für ein hübsches Zimmer!« rief Barbara begeistert. »Und dann diese prachtvollen Bürsten!« Sie bewunderte die Toilettengegenstände, die auf der Glasplatte des Frisiertisches lagen. »Nur die Decke ist etwas niedrig«, fuhr sie fort.

 

»Ich schlafe immer bei offenem Fenster, also macht mir das weiter nichts aus«, erwiderte Diana, der es sonderbar vorkam, daß Barbara sich für so nebensächliche Dinge interessierte.

 

»Was, Sie schlafen bei offenem Fenster, obwohl in letzter Zeit so viele Diebstähle verübt wurden?«

 

»Aber Sie glauben doch selbst nicht, daß hier die geringste Gefahr besteht.«

 

Barbara trat ans Fenster und schaute hinaus.

 

»Der Sims ist allerdings so schmal, daß kaum ein Mann darauf entlangklettern könnte. Und das Fenster liegt auch reichlich zehn Meter über dem Garten.«

 

Sie sagte Diana gute Nacht und wollte das Zimmer verlassen. Aber an der Tür drehte sie sich noch einmal um.

 

»Würden Sie gern noch eine Tasse Schokolade trinken?« fragte sie unvermittelt. Sie wußte, daß Diana Schokolade über alles liebte. »Ich koche gerade welche in meinem Zimmer – ich habe einen elektrischen Kocher bei mir.«

 

Diana hatte sie zuerst erstaunt angesehen, als sie aber nichts Außergewöhnliches an diesem Vorschlag feststellen konnte, nahm sie gerne an.

 

»In drei Minuten ist sie fertig«, versicherte Barbara. »Aber haben Sie mir auch wirklich verziehen?«

 

»Wenn ich die Sache nicht schon vorher vergessen hätte, würde ich Ihnen noch dazu vor Dankbarkeit um den Hals fallen.« Diana wandte sich an ihre Zofe. »Eileen, Sie werden dann gleich die Schokolade für mich aus Miss Mays Zimmer holen.«

 

Das warme Getränk schmeckte ausgezeichnet. Diana saß in ihrem Bett, als sie es zu sich nahm. Sie war Barbara wirklich dankbar, soweit das bei ihrem Charakter möglich war. Als sie fertig getrunken hatte, reichte sie sie der Zofe.

 

»Sie können jetzt gehen, Eileen. Ich mache das Licht später selber aus und schließe ab. Gute Nacht. Ich glaube, ich werde gut schlafen.«

 

*

 

Auch Barbara May hoffte, daß Diana tief und fest schlafen würde. Sie verkorkte die kleine Flasche, die noch halb mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war, und steckte sie in ein Geheimfach ihres Koffers. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr.

 

Mehrmals ging sie im Zimmer auf und ab, trat schließlich ans Fenster und öffnete es. Ihr Zimmer befand sich im selben Stockwerk wie der Raum, in dem Diana schlief, und war von ihm nur durch ein leeres Zimmer getrennt. Sie zog die Vorhänge zu und entkleidete sich. Aus dem Schrank nahm sie ein Paar Reithosen und zog sie an, ebenso ein Paar dicke, wollene Strümpfe. Ein Sportjackett aus grobem Tweed vervollständigte ihre eigenartige Verkleidung. Als sie fertig war, drehte sie das Licht aus, legte sich aufs Sofa und wartete.

 

Von der Kirchturmuhr schlug es zwei. Nun erhob sie sich leise und zog geräuschlos die Vorhänge zurück. Vorsichtig stieg sie aus dem Fenster und stand nun auf dem äußeren vorspringenden Sims, der kaum dreißig Zentimeter breit war. Aber sie hatte gute Nerven und tastete sich ruhig und sicher auf dem schmalen Vorsprung entlang.

 

Ein Fehltritt – und sie mußte abstürzen, ein Schwanken – und sie würde zerschmettert dort unten liegen. Aber sie zögerte nicht eine Sekunde. Bald darauf hatte sie Dianas Fenster erreicht und kletterte ins Zimmer.

 

Diana schlief tief und ruhig, trotzdem wartete Barbara und lauschte. Doch Diana atmete tief und gleichmäßig und rührte sich auch nicht, als Barbara ihr die Hand leise auf die Schulter legte. Das Schlafmittel in der Schokolade hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Barbara hätte auch ohne Gefahr das Licht andrehen können. Aber dadurch hätte sie vielleicht die Aufmerksamkeit anderer Leute auf sich gezogen, die zufällig den Gang entlangkamen und den Lichtschein im Innern des Zimmers bemerkten.

 

Sie nahm also eine Taschenlampe und einen kleinen Schlüsselbund aus der Tasche. Natürlich hatte sie sich gut gemerkt, wo Dianas Schmuckkasten stand.

 

Schon beim dritten Versuch gelang es ihr, die Stahlkassette zu öffnen. Sie nahm die Brillantnadel heraus, die Diana noch kurz zuvor auf dem Ball getragen hatte.

 

Aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie suchte noch weiter und fand schließlich auch das Gewünschte. Als sie fertig war, zögerte sie noch einen Augenblick. Behutsam schloß sie die Tür auf und warf einen Blick auf den Gang. Nur am hinteren Ende brannte ein schwaches Licht.

 

Dürfte sie es wagen? Lord Widdicombe hatte einen Nachtwächter im Haus, aber sie hörte, daß sich dieser unten in der Halle räusperte.

 

Sie schloß Dianas Tür hinter sich und ging mit schnellen Schritten den Gang entlang, bis sie zu ihrem eigenen Zimmer kam. Aber als sie gerade die Hand auf den Griff legen wollte, hörte sie unten auf der mit Teppich belegten Treppe leise Schritte. Rasch drückte sie die Klinke herunter, erschrak aber heftig, denn sie hatte die Tür abgeschlossen, bevor sie aus dem Fenster gestiegen war. Wie hatte sie nur einen so schweren Fehler machen können! Jetzt blieb ihr nur noch ein Ausweg – sie mußte in das leere Zimmer flüchten. Hoffentlich war die Tür nicht verschlossen! Sie huschte darauf zu, obwohl diese Tür der Treppe näher lag.

 

Erleichtert atmete sie auf, als die Klinke nachgab – es war aber auch höchste Zeit. Als sie noch einen Blick den Gang hinunterwarf, sah sie den Kopf eines Mannes. Er kam die Treppe herauf. Jetzt hatte er den vorletzten Absatz erreicht. Sie fuhr zusammen: Es war niemand anders als Jack Danton.

 

Leise schloß sie die Tür und schlich zu dem Fenster, das glücklicherweise offenstand. Sie war reichlich nervös. Das merkte sie, als sie jetzt den gefährlichen Weg über das Sims zurücklegte. Jedoch erreichte sie ihr Fenster ohne Unfall und kletterte erleichtert ins Zimmer.

 

Aus ihrem Koffer holte sie eine viereckige schwarze Kassette und legte sie auf den Tisch. Dann trug sie noch verschiedene andere Gegenstände herbei. Die Kassette besaß eine Schnur, an deren Ende sich ein Stecker befand. Sie verband ihn mit der Lichtleitung, schaltete ein und arbeitete zwei Stunden angestrengt. Als der Himmel im Osten langsam blasser wurde, kletterte Barbara wieder aus dem Fenster. Entschlossen tastete sie sich zu Dianas Fenster und stieg wieder ein.

 

Fünf Minuten später kehrte sie in ihr Zimmer zurück, schloß ihre verschiedenen Gerätschaften weg und packte die Brillantnadel in einen kleinen Pappkarton, den sie unter ihr Kissen legte.

 

Kapitel 6

 

6

 

Barbara war eine der ersten, die am nächsten Morgen erschienen. Trotz der anstrengenden Nacht sah sie wohl und ausgeruht aus; das hellgrüne Kleid, das sie trug, vertiefte sehr vorteilhaft das leichte Braun ihrer Haut.

 

Jack hatte bereits einen Spaziergang im Park gemacht und kam eben zurück. Die beiden waren die einzigen Gäste, die zu so früher Stunde aufgestanden waren.

 

»Guten Morgen, Miss May! Sie sind ja schon auf«, begrüßte er sie. »Es kann ein Vorteil, aber auch ein Nachteil sein, wenn man früh aufsteht. Der Käfer, der schon früh am Baum entlangkriecht, wird vom hungrigen Vogel geschnappt. Hätte er länger geschlafen, so wäre er mit dem Leben davongekommen.«

 

Sie gingen bis ans Ende des Parkes und genossen die herrliche Aussicht über die Wiesen, die sich bis zum Fluß hinzogen, und über die dunklen Eichenwälder, die die sanftgeschwungenen Höhenzüge bedeckten.

 

»Ist es nicht wunderbar hier?« rief Barbara.

 

»Ich fürchte, ich muß zur Post gehen.«

 

»Nun, ich würde Sie gerne begleiten. Warten Sie nur, bis ich meinen Hut geholt habe.«

 

Zusammen gingen sie den Fahrweg entlang, kamen an das Parktor und schlenderten dann die ruhige Dorfstraße hinunter. Jack trug das Päckchen, das er fortschicken wollte.

 

Wahrscheinlich ein Bericht an seinen Vorgesetzten, dachte Barbara.

 

Als sie später wieder auf der Straße standen, machte Barbara plötzlich halt.

 

»Eben fällt mir ein, daß ich noch Briefmarken haben muß«, sagte sie und drehte sich um. »Nein, Sie brauchen nicht mitzukommen, ich bin im Augenblick wieder da.«

 

Sie ging zurück ins Postamt und zog hastig einen Doppelbrief aus der Tasche ihres Kleides.

 

»Ein Eilbrief«, sagte sie. »Ich habe ihn bereits gewogen und richtig frankiert.«

 

Der Beamte betrachtete die Adresse, dann warf er ihn in den Postsack.

 

»Ich habe es mir doch anders überlegt«, erklärte Barbara, als sie wieder bei Jack war. »Ich fürchtete, Sie würden lang warten müssen, denn der Beamte ist sehr umständlich. Bis der die Mappe mit den Marken herausgeholt hat, vergeht eine kleine Ewigkeit. Und da wir noch nicht gefrühstückt haben, wollen wir schnell zum Schloß zurückgehen.«

 

»Wann fahren Sie wieder nach London?« fragte er nach einer Weile.

 

»Ich denke, heute nachmittag. Ich wäre schon heute morgen abgereist, aber es würde doch zu verdächtig aussehen, wenn ich jetzt in aller Eile das Schloß verließe. Es könnte zum Beispiel in der vergangenen Nacht ein Einbrecher im Haus gewesen sein … Das kann man natürlich erst feststellen, wenn all diese faulen Leute aufgestanden sind und einen Blick in ihre Schmuckschatullen geworfen haben.«

 

Er lächelte. »Ich glaube nicht, daß in der letzten Nacht ein Einbrecher im Haus war«, erklärte er vergnügt.

 

Als sie ins Frühstückszimmer traten, fanden sie dort Lord Widdicombe und seine Frau vor, die bereits aufgestanden waren. Kurz darauf erschienen auch noch drei andere Gäste.

 

»Was macht denn Diana?« fragte der Lord und nahm sich von dem Rührei.

 

»Wir werden sie wohl kaum vor zwölf Uhr zu Gesicht bekommen«, meinte Lady Widdicombe. »Du weißt doch, daß sie gern lange schläft.«

 

»Ich wünschte nur, daß sie ein wenig munterer wäre«, seufzte der Lord. Er konnte das junge Mädchen nicht recht leiden, obwohl sie seine Nichte und er ihr Vormund war.

 

Diana wachte auch tatsächlich erst um ein Uhr auf. Sie fühlte sich außerordentlich wohl und stellte fest, daß sie selten so ruhig und tief geschlafen hatte.

 

Ich muß doch Barbara bitten, mir das Rezept für die Schokolade zu geben, dachte sie, als sie ihren Morgentee trank.

 

»Ist Post gekommen, Eileen?« fragte sie ihre Zofe, die gerade das Bad vorbereitete. Das Mädchen brachte ihr mehrere Briefe, und Diana sah sie rasch durch.

 

Eine halbe Stunde später war sie angezogen. Als Schmuck wollte sie eine Perlenkette und einen Ring tragen. Sie schloß die Stahlkassette auf, um beides herauszunehmen. Aber sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie hineinblickte.

 

»Eileen, kommen Sie schnell!« rief sie. »Wo ist meine Brillantnadel?«

 

»Sie haben sie gestern abend hineingelegt – ich habe es selbst gesehen.«

 

»Täuschen Sie sich auch nicht?«

 

»Nein, bestimmt nicht«, sagte die Zofe aufgeregt.

 

Diana sah schnell den Inhalt der Kassette durch. Außer der Nadel fehlte nichts, obwohl ein Smaragdring darin lag, der allein ein Vermögen wert war. Nur die Brillantnadel war gestohlen worden.

 

Diana klingelte, aber dann fiel ihr ein, daß sie bereits angekleidet war. Sie stürzte die Treppe hinunter und traf Lord Widdicombe in der Eingangshalle.

 

»Onkel Willie«, rief sie ihm zu, »jemand hat meine Brillantnadel gestohlen!«

 

»Verdammt«, stieß er hervor und winkte Danton heran, der sich eifrig mit Barbara May unterhielt.

 

Der Inspektor kam sofort und erkundigte sich, was es gäbe.

 

»Diana vermißt ihre Brillantnadel«, erklärte der Lord leise. »Bitte sprechen Sie mit ihr, und durchsuchen Sie unauffällig alle Räume.«

 

Aber Jack hatte keinen Erfolg. So sehr er sich auch bemühte, die Brillantnadel war und blieb verschwunden. Äußerst beunruhigt kam er in die Bibliothek, um Lord Widdicombe das Ergebnis seiner Nachforschungen mitzuteilen. »Ich kann die Geschichte nicht verstehen«, sagte er. »Miss Wold äußerte mir gegenüber, daß sie abends immer die Tür ihres Zimmers abschließt und den Schlüssel an der Innenseite steckenläßt. Heute morgen war aber die Tür nicht verschlossen.«

 

»Wäre es möglich, daß sie mit Gewalt von außen geöffnet wurde?«

 

»Das habe ich auch schon vermutet, aber es sind keinerlei Spuren zu erkennen.«

 

»Zum Teufel, wie kann denn das nur geschehen sein?« rief der Lord verärgert. »Hat denn Diana nichts gehört? Man sollte doch annehmen, daß sie aufwacht, wenn jemand im Zimmer ist.«

 

»Sie hat nicht das mindeste gemerkt. Übrigens wäre es auch möglich, daß einer der Gäste, der auf demselben Flur schläft, auf dem Sims an der Mauer entlanggegangen ist.«

 

»Das ist nicht anzunehmen – dazu gehörte wirklich außergewöhnlicher Mut. Der Dieb mußte geradezu die Nerven eines Seiltänzers haben.«

 

»Nun, der Mann, der dieses Schmuckstück gestohlen hat, besitzt sicher eiserne Nerven«, erwiderte Jack. »Rufen Sie Ihre Gäste zusammen und erklären Sie ihnen, was vorgefallen ist. Es ist schließlich möglich, daß jemand von dem mitgebrachten Personal die Nadel entwendet und in dem Zimmer seiner Herrschaft versteckt hat. Unter diesen Umständen wird man nichts dagegen haben, wenn die Gästezimmer durchsucht werden.«

 

»Das ist ein guter Gedanke.« Der Lord nickte erleichtert und befolgte Dantons Vorschlag. Auch die Gäste hatten nichts dagegen einzuwenden.

 

Nach außen hin hatte es den Anschein, als ob Lord Widdicombe die Untersuchung vornähme, aber in Wirklichkeit war es Jack, der sich dazu erboten hatte. Man fand jedoch nichts, und alle hatten Mitleid mit Diana.

 

Sie empfand es als wohltuend, so im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, tat aber so, als ob sie der Diebstahl wenig kümmere.

 

»Der Verlust der Nadel ist weiter nicht gefährlich«, meinte sie gleichgültig, »denn sie ist versichert. Es war allerdings ein schönes Stück, und zuerst war ich begreiflicherweise aufgeregt. Ich hatte es erst vor einem Monat bei Streetley gekauft.«

 

»Das ist aber merkwürdig«, bemerkte ihr Onkel stirnrunzelnd.

 

Seine Frau sah ihn erstaunt an.

 

»Wie meinst du denn das?«

 

»Nun, Mrs. Crewe-Sanders, der ebenfalls eine Brillantnadel gestohlen wurde, hatte sie doch auch erst vor einem Monat in demselben Geschäft erstanden.«

 

»Aber daran ist doch nichts Besonderes«, warf einer der Gäste ein.

 

Die Gesellschaft saß am Nachmittag im großen Wohnzimmer zusammen, und man unterhielt sich natürlich über den neuen Diebstahl.

 

»Streetley ist das größte und modernste Juweliergeschäft, das wir in London haben. Viele Damen kaufen dort mit Vorliebe ihren Schmuck.«

 

»Es ist mir nur unangenehm«, erklärte Diana, »daß dieser Einbrecher in mein Zimmer eingedrungen ist, während ich schlief.«

 

»Ja, ich wundere mich auch, daß er das gewagt hat«, erwiderte der Lord ironisch, aber dann fuhr er ernst fort: »Es tut mir entsetzlich leid, daß das geschehen ist. Ich hoffte, die Kricketwoche würde vorübergehen, ohne daß wir auf diese Art belästigt würden.«

 

Kapitel 7

 

7

 

Jack untersuchte die Umgebung des Hauses eingehend, besonders die Stelle, an der Dianas Zimmer lag. Unter ihrem Fenster sah er sich nach Spuren um, aber er konnte nicht das mindeste finden.

 

Er war auch davon überzeugt, daß dieser Diebstahl vom Innern des Hauses begangen worden war. Aber auf wen konnte er als Täter tippen?

 

Merkwürdigerweise hatte er bereits die Möglichkeit ausgeschlossen, daß jemand vom Personal dafür in Frage kam. Die meisten Damen hatten ihre eigenen Zofen mitgebracht, aber diese wohnten in einem anderen Flügel des Schlosses, und es war fast unmöglich, daß sie mitten in der Nacht zu Dianas Zimmer kommen konnten.

 

Nachdenklich und bedrückt suchte er den Lord wieder auf. Widdicombe ging in der Bibliothek auf und ab, als Danton eintrat.

 

»Nun, haben Sie etwas entdeckt?«

 

Jack schüttelte den Kopf. »Nichts – gar nichts.«

 

»Ich wünschte nur, daß das nicht in meinem Haus geschehen wäre. Diana macht es zwar nicht viel aus, offensichtlich. Selbst wenn sie nicht versichert wäre, könnte sie den Verlust leicht tragen, denn sie ist sehr reich. Nur ist mir der Gedanke unerträglich, daß jemand in diesem Haus, womöglich einer der Gäste, den Diebstahl begangen haben könnte. – Wann fahren Sie übrigens wieder in die Stadt zurück?«

 

»Heute. Ich will den gleichen Zug benützen, den auch Miss May nimmt.«

 

Der Lord runzelte die Stirn. »So? Wollen Sie mit Barbara May zusammen fahren? Sie ist wirklich ein sehr nettes junges Mädchen, aber sie hat leider auch außerordentliches Pech«, fügte er mit besonderer Betonung hinzu.

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Jack, der sofort bereit war, sie zu verteidigen, obwohl gar kein Grund dafür vorlag.

 

»Unglücklicherweise war sie jedesmal in dem Haus zu Gast, wo einer dieser Juwelendiebstähle verübt wurde mit anderen Worten, Danton: Sooft der geheimnisvolle Dieb auf der Bildfläche erschien, war auch Barbara May anwesend. – Warten Sie einen Augenblick«, fügte er hinzu, als er sah, daß Jack Danton etwas erwidern wollte, und hob abwehrend die Hand. »Ich will damit durchaus nicht behaupten, daß sie etwas mit diesen Verbrechen zu tun hat. Das wäre eine zu gewagte Vermutung. Aber die Tatsache an sich bleibt bestehen. Diana hat mir das schon mehrmals gesagt, und auch Sie sollten es nicht übersehen.«

 

Jack zuckte die Schultern.

 

»Demgegenüber könnte man geltend machen, daß Miss Wold ebenfalls jedesmal zugegen war, wenn ein Schmuckstück entwendet wurde.«

 

»Das ist allerdings merkwürdig«, räumte der Lord ein und schwieg einen Augenblick nachdenklich. »Es stimmt. Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber wir wollen uns nicht länger darüber den Kopf zerbrechen, denn weder Diana noch Barbara kommen als Täterinnen in Frage. Aber mir fällt bei der Sache eines auf – und ich betone, ich bin kein Detektiv oder Kriminalbeamter –: Wenn der Dieb ein Gast dieses Hauses sein sollte, dann muß doch die Nadel noch hier sein. Höchstens …«

 

»Ja, was wollten Sie sagen?« fragte Jack, als der Lord zögerte.

 

»Es wäre möglich, daß es ihm gelungen ist, das Schmuckstück bereits fortzuschaffen.«

 

»Das setzt aber einen Komplicen voraus, und ich bin eigentlich eher der Meinung, daß der Dieb allein arbeitet.«

 

»Es muß nicht unbedingt ein Komplice sein. Vielleicht wurde die Nadel mit der Post weggeschickt.«

 

Jack lachte. »Dann muß der Betreffende aber sehr früh aufgestanden sein! Der einzige Ihrer Gäste, der heute morgen zur Post ging, war ich.«

 

Plötzlich kam ihm ein unangenehmer Gedanke. Barbara hatte ihn doch zur Post begleitet …

 

»Ist sonst niemand ins Dorf gegangen, um Briefe aufzugeben?« fragte der Lord neugierig.

 

»Nein, niemand«, log Jack.

 

So bald wie möglich zog er sich zurück. Er mußte sich über diesen schrecklichen Verdacht klarwerden, der ihn seit langem beunruhigte. Vor allem mußte die Sache mit dem Postamt überprüft werden.

 

Noch einmal ging er ins Dorf. Der Postbeamte machte gerade Eintragungen in ein Buch.

 

»Mr. Villers, Sie sind Beamter, und Sie werden verstehen, daß das, was ich Ihnen jetzt sage, unter uns bleiben muß. Sie dürfen nicht über das sprechen, was Sie jetzt von mir hören.«

 

Er legte seinen Dienstausweis auf den Tisch, und der alte Mann rückte seine Brille zurecht. Als er gelesen hatte, sah er erstaunt auf.

 

»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie von der Polizei sind. Ich habe nämlich einen Neffen …«

 

Jack unterbrach ihn sofort.

 

»Mr. Villers, sagen Sie mir bitte, wie viele Eilbriefe heute von hier abgegangen sind.«

 

»Einer«, erklärte der Beamte sofort.

 

»Wer hat ihn denn abgeschickt?« fragte Jack schnell.

 

»Eine junge Dame – Miss May heißt sie, soviel ich weiß.«

 

Jack war verzweifelt.

 

»Stimmt das auch wirklich?«

 

»Aber sicher! Sie war doch heute früh mit Ihnen zusammen hier. Später kam sie noch einmal herein und sagte, sie wolle den Brief aufgeben.«

 

Jack erinnerte sich nun auch daran, daß Barbara noch einmal zurückgegangen war, um einige Briefmarken zu kaufen.

 

»Was für ein Brief war es denn?« fragte er niedergeschlagen.

 

»Er war ziemlich dick und nicht leicht – ein Doppelbrief.«

 

»An wen war er adressiert? Wissen Sie das vielleicht auch noch?«

 

»Ja, ich habe es mir gemerkt, denn es kommt nur selten vor, daß von hier aus ein Eilbrief abgesandt wird. Die Adresse war: Mr. Shing, Bird-in-Bush Road Nr. 903, Peckam, London. Mir fiel der Name der Straße auf. Ich hatte keine Ahnung, daß es derartig merkwürdige Straßennamen in London gibt.«

 

Mechanisch notierte Jack, was er soeben gehört hatte. Shing! Ein indischer Name! Jack runzelte die Stirn, denn ihm kam das sonderbar vor. Hatte er nicht erst kürzlich etwas von Indien gehört? Auf jeden Fall mußte er die Sache untersuchen. Diesen Entschluß faßte er, als er langsam zum Schloß zurückging. Sowohl um Barbaras als um seinetwillen mußte er es tun.

 

Jetzt kam ihm deutlich zum Bewußtsein, was sie ihm bedeutete. Welche Hoffnungen hatte sie in ihm geweckt! Er konnte auch jetzt noch nicht glauben, daß sie eine Diebin sein sollte, obwohl mehr als ein Umstand darauf hinwies. Zuerst hatte er sie mit diesem merkwürdigen Mr. Smith gesehen, der eine Brillantnadel bei sich trug, die große Ähnlichkeit mit dem von Mrs. Crewe-Sanders vermißten Schmuckstück besaß. Und nun waren auf der Post seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden.

 

*

 

Diana nahm den Verlust ihrer Brillantnadel ziemlich leicht. Sie ging in Barbaras Zimmer und sah zu, wie diese ihre Koffer packte.

 

»Alle Leute haben Mitleid mit mir und sorgen sich um mich«, erklärte sie. »Dieses Mitgefühl ist allein schon soviel wert wie die Nadel.«

 

»Das glaube ich nicht recht«, meinte Barbara und lächelte.

 

»Aber ich bin erstaunt, daß Sie soviel Gepäck haben«, sagte Diana interessiert. »Diesen Schrankkoffer und noch zwei Ledertaschen! Es sieht fast so aus, als wollten Sie eine Reise um die Welt machen.«

 

»Ja, ich habe nun einmal die schlechte Angewohnheit, viel Gepäck mit mir herumzuschleppen«, antwortete Barbara und lachte verschmitzt.

 

Diana schwieg, denn sie hatte plötzlich einen sonderbaren Geruch in Barbaras Zimmer bemerkt. Er war nicht sehr stark, sie erkannte aber, daß er von einem besonderen Parfüm herrührte – von einer Duftmischung, die Diana ausschließlich für sich herstellen ließ, die also sonst niemand besitzen konnte.

 

»Was ist denn das hier für ein Geruch, Barbara?«

 

»Ein Geruch?« wiederholte Barbara erstaunt. »Ach ja, ich habe ihn auch schon bemerkt. Von mir kann er nicht stammen, ich benütze nur Lavendelwasser.«

 

Diana wechselte das Thema. Kurz darauf verabschiedete sie sich, ging in ihr Zimmer und klingelte ihrer Zofe.

 

»Eileen, wo ist mein Parfüm?«

 

»Sie haben es doch in Ihre Schmuckschatulle gelegt.«

 

Diana schloß die Stahlkassette auf und nahm einen viereckig geschliffenen Flakon heraus. Sie sah, daß der Verschluß aufgegangen war, und als sie den Boden der Kassette abtastete, war dieser feucht.

 

»Ja, jetzt besinne ich mich«, sagte sie nachdenklich. »Ich habe die Flasche gestern sehr eilig weggestellt, und dabei muß etwas ausgelaufen sein. Es ist gut, Eileen. Sie können wieder gehen.«

 

Diana setzte sich auf die Bettkante und dachte nach. Barbara May hatte also in die Kassette gefaßt. Barbara May hatte … Plötzlich überlief es Diana heiß und. kalt. Hastig schloß sie die Kassette wieder auf, nahm einige Papiere heraus und betrachtete sie genau. Es fehlte nichts davon.

 

Erleichtert atmete sie auf. Sie rochen stark nach dem Parfüm, in dem sie gelegen hatten. Sie nahm sie auf, warf sie in den Kamin und zündete sie mit einem Streichholz an. Lange stand sie davor und beobachtete, wie sich die Blätter in den Flammen rollten. Im ganzen Zimmer verbreitete sich nun der Duft des Parfüms. Barbara May war also eine Diebin!

 

Kapitel 8

 

8

 

Lord Widdicombe, seine Gatten und Jack Danton fanden, daß Diana an dem Nachmittag ungewöhnlich still und zurückhaltend war.

 

Nachdem Barbara in ihr Zimmer gegangen war, um sich für die Reise fertigzumachen, richtete Jack eine Frage an Diana Wold.

 

Die beiden saßen allein in dem großen Wohnzimmer, von dem man einen herrlichen Ausblick in den Park hatte.

 

»Eins kann ich nicht verstehen, Miss Wold«, begann er. »Wie ist es nur möglich, daß der Dieb in Ihr Zimmer eindringen und die Tür aufschließen konnte, ohne daß Sie aufwachten? Schlafen Sie immer so fest?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Im Gegenteil, ziemlich leicht. Aber vielleicht lag es an der Tasse Schokolade, die mir Barbara May vor dem Schlafengehen brachte. Sie hatte eine außerordentlich beruhigende Wirkung.«

 

»Was sagen Sie da?« fragte Jack schnell.

 

»Barbara hat mir eine Tasse Schokolade gebracht, bevor ich einschlief«, entgegnete Diana gleichgültig. »Wir hatten vorher eine kleine Auseinandersetzung gehabt, und. das sollte wohl eine versöhnliche Geste von ihrer Seite sein.«

 

»Und was geschah später?«

 

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Gleich darauf muß ich eingeschlafen sein, und ich schlief tief und traumlos. Ich bin während der Nacht kein einziges Mal aufgewacht und habe natürlich nicht gehört, daß jemand in mein Zimmer kam und wieder fortging.«

 

*

 

Jack Danton sprach ziemlich wenig während der Fahrt nach London. Barbara May dagegen war außerordentlich lebhaft und vergnügt.

 

Nachdem er ihr am Bahnhof noch ein Taxi besorgt hatte – die schöne Limousine, in der er sie neulich abends beobachtet hatte, schien für andere Gelegenheiten reserviert zu sein –, verabschiedete er sich und ging zu seiner Wohnung.

 

Dort zog er sich um, und schon eine halbe Stunde später saß er in einem Bus, der nach Süden fuhr. Jack war gespannt, was er dort herausbringen würde. Als der Schaffner erschien, bat er ihn um Auskunft.

 

»Ach, Sie wollen zur Bird-in-Bush Road? Ja, da sind Sie richtig eingestiegen. Sie liegt in der Nähe der Kanalbrücke und zweigt von der Old Kent Road ab. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn wir soweit sind.«

 

Die Straße war äußerst lang und machte verschiedene Biegungen. Zu beiden Seiten standen hübsche kleine Villen. Nr. 903 lag an einer Ecke und hatte eine einfache gelbverputzte Fassade, die nicht so überladen war wie die der Nachbarhäuser.

 

Jack klingelte nicht gleich, sondern ging erst auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab. Das Haus lag ruhig und verlassen da, und nichts deutete darauf hin, daß es bewohnt war. Im Garten wuchs Unkraut auf den Wegen, und auch sonst machte das Grundstück einen ziemlich vernachlässigten Eindruck. Die Fenster schienen monatelang nicht geputzt worden zu sein.

 

Allmählich wurde es dunkel. Nach einiger Zeit kam ein Taxi die Straße entlang, hielt aber ein ganzes Stück vor dem Haus. Ein junges Mädchen stieg aus dem Wagen, und Jack erkannte entsetzt, daß es Barbara war.

 

Sie bezahlte den Fahrer und kam näher. Ohne Zögern ging sie durch die Tür des Vorgartens, und Jack sah, daß sie die Treppe hinaufstieg, die zur Haustür führte. Kaum hatte sie geklingelt, als auch schon von innen geöffnet wurde.

 

Der unbekannte Bewohner des Hauses mußte also auf sie gewartet haben! Was mochte sich nun im Haus abspielen?

 

Jack ging in die Seitenstraße, die an dem Garten vorbeiführte. Von hier aus konnte er auch die andere Seite des Hauses unauffällig beobachten. Er entdeckte aber nichts Besonderes, und schließlich kehrte er wieder in die Bird-in-Bush Road zurück. Gerade rechtzeitig – denn Barbara trat eben aus der Tür. Schnell ging sie in Richtung auf die Old Kent Road davon.

 

Sollte er ihr folgen? Nach einiger Überlegung entschied er sich aber dafür, zu bleiben und sich genauer mit dem Haus und der Umgebung vertraut zu machen.

 

Zunächst wollte er feststellen, wer das Haus bewohnte. Er wartete, bis Barbara außer Sicht war, dann ging er quer über die Straße und trat in den ungepflegten Vorgarten.

 

Als er geklingelt hatte, kam niemand, so daß er aufs neue auf den Knopf drückte. Nach einiger Zeit hörte er leise Schritte im Gang. Eine Kette rasselte, die Tür wurde vorsichtig eine Handbreit geöffnet, und in dem Spalt zeigte sich ein dunkles, ziemlich unfreundliches Gesicht.

 

»Wohnt hier ein Mr. Shing?«

 

»Ja«, antwortete der Inder in fließendem Englisch. »Aber er ist augenblicklich beschäftigt.«

 

»Ich möchte ihn sprechen«, erklärte Jack ungeduldig.

 

»Ich werde es ihm ausrichten.«

 

Der Mann wollte die Tür wieder schließen, aber Jack hatte bereits den Fuß in den Spalt geschoben, so daß sie offenblieb.

 

»Sie können nicht hereinkommen«, sagte der Inder aufgebracht. »Ich werde Mr. Shing sagen, daß Sie ihn zu sprechen wünschen, aber Sie müssen draußen warten.«

 

»Ich kann auch drinnen warten«, entgegnete Jack, drückte mit der Schulter gegen die Tür und schob sie auf.

 

In dem Augenblick öffnete sich eine Tür am anderen Ende des Flurs, und ein Mann trat heraus.

 

Es war nicht, wie Jack vermutete, ein Inder, sondern ein Europäer, gut gekleidet und außergewöhnlich sympathisch.

 

»Was wünschen Sie?«

 

»Ich möchte Mr. Shing sprechen.«

 

»Das geht jetzt nicht«, erwiderte der andere abweisend.

 

»Ich möchte ihn nicht nur sprechen, sondern ich werde ihn auch sprechen«, erklärte Jack heftig.

 

Zu seinem größten Erstaunen lachte der andere laut auf.

 

»An Ihrer Stelle würde ich diesen Versuch nicht machen, Mr. Danton.«

 

Jack starrte ihn an.

 

»Woher kennen Sie mich denn?«

 

»Ich weiß, daß Sie Inspektor Danton von Scotland Yard sind«, erklärte der Mann und lächelte über die Bestürzung, die seine Worte bei Jack hervorgerufen hatten. »Und ich versichere Ihnen, daß Mr. Shing wirklich nicht in der Lage ist, Sie zu empfangen. Er ist sehr krank. Das englische Klima bekommt ihm nicht, und ich habe strenge Anweisung, aufzupassen, daß er nicht gestört wird. Außerdem haben Sie kein Recht, in dies Haus einzudringen, Mr. Danton, wenn Sie nicht ausdrücklich dazu ermächtigt worden sind.«

 

Das stimmte. Jack lenkte ein: »Ich wollte ja nur ein paar Fragen an Mr. Shing richten.«

 

»Damit müssen Sie warten bis« – der Mann überlegte »kurz –, »bis Mr. Shing wieder so weit hergestellt ist, daß er sich mit Ihnen unterhalten kann.«

 

So endete dies Abenteuer ziemlich erfolglos.

 

Jack war nicht mit sich zufrieden, als er die Straße hinunterging und später an der Bushaltestelle wartete, um in die Stadt zurückzufahren.

 

Als er vor seiner Wohnung stand und die Tür aufschließen wollte, erinnerte er sich plötzlich an die Geschichte, die Lord Widdicombe von Indien erzählt hatte. Ihm fiel der Diamant der Göttin Kali ein, und plötzlich wußte er, warum es ihn nicht erstaunt hatte, daß ihm ein Inder die Tür öffnete.

 

Aber dann sagte er sich, daß die Geschichte des Lords doch keinen Zusammenhang mit diesem Erlebnis haben könnte. Wäre der Diamant der Göttin Kali in England, so könnte er Barbaras Benehmen vielleicht verstehen. Vor allem, daß sie mit diesem Mr. Shing zusammenarbeitete.

 

Fast die ganze Nacht lag er schlaflos im Bett und grübelte darüber nach, wie er eine Erklärung für diese seltsamen Dinge finden könnte, die Barbara entlasten würden. Er bekam Kopfschmerzen, ohne eine richtige Lösung zu finden. Unruhig schlief er doch ein.

 

Kapitel 9

 

9

 

»Lesen Sie das«, sagte der Chefinspektor am nächsten Morgen, als sich Jack bei ihm zum Bericht meldete.

 

Jack nahm den Brief und warf einen Blick darauf. Das graue Papier kam ihm merkwürdig bekannt vor.

 

›Sehr geehrter Herr,

 

ich halte es für wichtig, Ihnen folgendes über Inspektor Jack Danton mitzuteilen: Er arbeitet mit einer Juwelendiebin zusammen, die vor kurzer Zeit die Brillantnadel von Miss Diana Wold gestohlen hat. Er unterstützt sie nicht nur, er ist auch in sie verliebt. Die Dame heißt Barbara May und war als Gast bei Lord Widdicombe, und zwar in derselben Nacht, wo die Brillantnadel entwendet wurde.

 

Wenn Sie sich die Mühe machen wollen, weiter nachzuforschen, werden Sie feststellen können, daß die Dame sich jedesmal dann als. Gast in einem Haus befand, wenn dort Schmuckstücke mit Brillanten abhanden kamen.

 

Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung

 

Ein aufrichtiger Freund‹

 

»Der Brief ist in London aufgegeben worden«, erklärte der Chefinspektor. »Nun, was haben Sie dazu zu sagen, Danton?«

 

Jack wurde erst rot, dann blaß. »Das ist eine ganz abscheuliche Geschichte!« rief er erregt.

 

»Sehr liebenswürdig ist das Schreiben nicht abgefaßt«, meinte der Chefinspektor trocken. »Kennen Sie übrigens Miss May?«

 

»Ja, ich kenne sie sehr gut«, entgegnete Jack offen. »Aber diese Verdächtigung ist unerhört!«

 

»Warum ärgern Sie sich darüber? Was finden Sie daran denn so besonders niederträchtig? Etwa die Behauptung, daß Sie sich in Miss May verliebt haben?« fragte der Chefinspektor grinsend.

 

»Das ganze Schreiben ist eine abscheuliche Verleumdung«, murmelte Jack aufgebracht.

 

Der Chefinspektor nickte.

 

»Davon bin ich überzeugt. Sie haben ja den Auftrag, den anonymen Brief Schreiber zu entlarven. Übrigens hat Diana Wold auch ein anonymes Schreiben erhalten. Sie hat mich vor kurzem angerufen und es mir mitgeteilt.«

 

Jack betrachtete den Brief genauer. Die Handschrift war natürlich verstellt, aber zweifellos hatte ein gebildeter Mensch den Brief verfaßt.

 

»Sie waren doch auf dem Landsitz von Lord Widdicombe, als die Brillantnadel gestohlen wurde«, fuhr der Chef Inspektor fort. »Haben Sie dort irgendeinen Anhaltspunkt gefunden, der uns weiterhelfen könnte?«

 

Jack schüttelte den Kopf.

 

»Nein«, log er und versuchte seinen Vorgesetzten ruhig anzusehen.

 

»Hm. Nun, wenigstens haben Sie mit dem Diebstahl nichts zu tun. Und dann noch eins: Auf keinen Fall dürfen diese Diebstähle in der Öffentlichkeit bekannt werden. Sie dürfen nicht über die Sache sprechen.«

 

Obwohl« Jack nicht mit der Aufklärung der Juwelendiebstähle beauftragt war, interessierte er sich doch für den Fall mehr als für die Sache mit den anonymen Briefen, und als er Scotland Yard verließ, ging er zu der bekannten Juwelierfirma Streetley. Sofort wurde er in das Büro des Besitzers geführt und sah sich einem älteren, düster aussehenden Herrn gegenüber, der ihn ziemlich kühl empfing.

 

»Ich muß zugeben, Mr. Streetley«, begann Jack, »daß ich offiziell nichts mit der Sache zu tun habe. Aber ich interessiere mich persönlich dafür, da Lord Widdicombe ein Freund von mir ist. Ich kenne auch Miss Diana Wold, der vor kurzer Zeit ihre Brillantnadel gestohlen wurde. – Was mich zu Ihnen führt: Es ist allgemein bekannt, daß die in letzter Zeit gestohlenen Schmuckstücke sämtlich während der vergangenen Monate in Ihrem Geschäft gekauft wurden.«

 

Mr. Streetley nickte.

 

»Das stimmt. Wir sind das größte Juweliergeschäft in London, und wir verkaufen und kaufen geschliffene Diamanten. Wir haben die wertvollste Sammlung von kostbaren Steinen in ganz Europa.«

 

»Haben Sie eine Erklärung dafür, daß all diese Brillantnadeln in letzter Zeit gestohlen wurden? Kennen Sie jemand, der etwas gegen Sie hat?«

 

Der alte Streetley lächelte.

 

»Selbst wenn das der Fall wäre, könnte ich nicht einsehen, warum die Leute Schmuckstücke stehlen, die wir längst verkauft haben. Das wäre eine etwas sonderbare Rache.«

 

»Dann können Sie mir also keine Erklärung dafür geben?«

 

»Nein, leider nicht.«

 

Mr. Streetley war offensichtlich sehr erleichtert, daß sich sein Besucher mit dieser Antwort zufriedengab und sich kurz danach verabschiedete.

 

Ais Jack durch die Verkaufsräume ging, sah er sich nach dem Geschäftsführer um, den er vor kurzem festgenommen und zur Polizeiwache gebracht hatte. Aber er konnte ihn nicht entdecken.

 

*

 

Jack war mit seinem Besuch nicht zufrieden. Er erinnerte sich, daß ihm einer seiner Freunde, ein reicher Börsenmakler, vor ein oder zwei Monaten erzählt hatte, er hätte seiner Frau bei Streetley eine Brillantnadel gekauft. Wahrscheinlich würde sie die nächste sein, zu der dieser geheimnisvolle Juwelendieb käme.

 

Er rief seinen Bekannten an, mußte aber zu seinem Bedauern feststellen, daß sich der Mann nicht in seinem Büro aufhielt. Ein zweiter Anruf hatte mehr Erfolg. Mr. Bordle war in seinem Haus in der Park Lane, und Jack machte sich auf den Weg, ihn aufzusuchen.

 

»Kommen Sie ruhig herein, Danton«, begrüßte ihn der Makler herzlich. »Meine Frau ist beim Friseur. Ich spüre wieder einmal meinen Rheumatismus und muß zu Hause bleiben. Sie können sich denken, daß ich mich hier zu Tode langweile.«

 

»Und ich fürchte, daß Ihnen das, was ich Ihnen sagen muß, auch nicht gerade angenehm sein wird«, erwiderte Jack lächelnd. »Vor einiger Zeit haben Sie mir doch erzählt, daß Sie Ihrer Frau eine Brillantnadel geschenkt haben, die Sie bei Streetley besorgten. Können Sie sich noch daran erinnern?«

 

Mr. Bordle nickte.

 

»Das stimmt. Ich habe sogar zwei gekauft: eine für meine Frau, eine für meine Schwester zur Hochzeit. Aber wenn ich das nächstemal wieder ein Schmuckstück kaufe«, fügte er hinzu, »gehe ich nicht wieder zu Streetley. Darauf können Sie Gift nehmen.«

 

»Aber warum denn nicht?« fragte Jack gespannt.

 

»Weil die Leute mir zu neugierig sind«, erwiderte Bordle. »Stellen Sie sich vor: Kaum hatten wir die Brillantnadel einen Monat, als auch schon ein Mann von der Firma kam und uns bat, sie ihm noch einmal mitzugeben, da allem Anschein nach ein Irrtum beim Fassen der Steine unterlaufen sein müßte. Die Firma wollte die Reparatur kostenlos übernehmen. Soweit ich entdecken konnte, war aber die Fassung vollkommen in Ordnung. Meine Frau wollte zuerst nichts davon wissen, die Brillantnadel wieder herzugeben. Und meine Schwester weigerte sich anfangs auch, es zu tun.«

 

»Hat Streetley denn von ihr auch die Rückgabe des Schmuckes verlangt?« erkundigte sich Jack erstaunt.

 

»Ja. Und schließlich haben wir auch nachgegeben und die Sachen zurückgeschickt. Sie haben die Brillantnadeln verdammt lange behalten. Es dauerte einen Monat, bevor wir sie wiederbekamen, und soweit ich es beurteilen kann, ist nichts daran geändert worden. – Übrigens haben sie einem Bekannten von mir dasselbe zugemutet.«

 

»Ach, sollte er auch seine Nadel zurückgeben?« wollte Jack wissen. »Wie viele solcher Nadeln mag Streetley wohl im Laufe eines Jahres verkaufen?«

 

»Sicher hunderte. Es ist das beste Juweliergeschäft Londons! Deshalb haben sie auch einen großen Kundenkreis. Aber warum interessieren Sie sich so lebhaft für die Geschichte?«

 

»Ich werde Ihnen den Zusammenhang erklären, aber Sie dürfen nicht darüber sprechen«, erwiderte Jack. »Bisher ist in der Öffentlichkeit noch nichts davon bekannt.«

 

Nun erzählte er, daß mehrere der Brillantnadeln, die bei Streetley gekauft worden waren, gestohlen wurden.

 

»Meine Nadel bekommt der Dieb bestimmt nicht«, sagte Bordle und lachte schallend. »Sie befindet sich in einem Safe meiner Bank, aber meine Schwester werde ich sicherheitshalber warnen.«

 

Kapitel 10

 

10

 

Am nächsten Tag stand ein interessanter Artikel im ›Daily Telephone‹, den viele Leute aufmerksam/lasen.

 

›Es ist ein offenes Geheimnis, daß die vornehme Gesellschaft durch einen anonymen Briefschreiber beunruhigt wird, der mit ›Ein aufrichtiger Freund‹ unterschreibt. Diese anonymen Briefe werden schon seit einem ganzen Jahr geschrieben, und niemand ist vor der Unverschämtheit dieses Verbrechers sicher. Die frechen Anspielungen sind bereits der Anlaß zu ein paar Scheidungen gewesen; auch einen Selbstmord kann man darauf zurückführen. Es macht die Angelegenheit nicht besser, daß der Briefschreiber selbst zur Gesellschaft zu gehören scheint, mit seinen Opfern offensichtlich gut bekannt und über ihre Verhältnisse ausgezeichnet informiert ist. Die Polizei macht die größten Anstrengungen, den Verbrecher zu entlarven.‹

 

*

 

Am Nachmittag trat Mason, ein Berichterstatter des ›Daily Telephone‹ ins Büro seines Chefs und schloß die Tür sorgfältig hinter sich.

 

Der Redakteur sah von seiner Arbeit auf.

 

»Ich habe eine tolle Sache entdeckt«, kündigte Mason an. »Durch reinen Zufall bin ich dahintergekommen. Wußten Sie, daß seit einiger Zeit – es mögen etwa drei Monate sein – eine ganze Reihe von Juwelendiebstählen verübt worden ist? Der Wert der Beute beläuft sich mittlerweile auf achtzigtausend Pfund. Auf den verschiedensten Landsitzen ist der Einbrecher bisher gewesen.«

 

Der Redakteur zog die Augenbrauen hoch.

 

»Nein, davon habe ich noch nichts gehört. In den Polizeiberichten habe ich auch nichts darüber gelesen –«

 

»Das war auch nicht möglich, denn aus einem bestimmten Grund würden diese Diebstähle bisher geheimgehalten. Meiner Meinung nach vermuten die Bestohlenen, daß der Täter ihren eigenen Kreisen angehört.«

 

»Hat denn die Polizei die Beschreibung der gestohlenen Gegenstände noch nicht freigegeben?«

 

Mason schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe es von einem Mann gehört, der Nachforschungen im Landhaus von Lord Widdicombe anstellte. Es handelt sich dabei aber um eine ganz andere Sache. Jemand vom Personal erzählte ihm etwas von der Geschichte, bat ihn aber zugleich, nicht darüber zu sprechen. Allem Anschein nach darf das Personal nichts ausplaudern.«

 

»Das klingt allerdings merkwürdig«, meinte der Redakteur und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Das gäbe einen guten Bericht. Haben Sie schon Einzelheiten von anderen Diebstählen erfahren?«

 

»In drei Fällen ist es mir gelungen, etwas herauszubekommen«, gab Mason zur Antwort. »Ich habe drei unserer Leute losgeschickt, um anderweitig Nachforschungen anzustellen, und wenn wir dann auch noch eine amtliche Bestätigung erhalten, könnte das wirklich einen ausgezeichneten Artikel geben.«

 

Im Laufe des Nachmittags erhielt Mason wie erwartet noch weitere Meldungen und schrieb daraufhin einen Artikel, von dem er glaubte, daß er großes Aufsehen bei seinen Lesern erregen würde. Nur von Scotland Yard konnte er keine näheren Informationen bekommen. Offensichtlich hatten die Beamten dort keine Lust, Einzelheiten über einen Fall freizugeben, der gerade bearbeitet wurde.

 

Um sechs Uhr meldete sich Mason mit dem fertigen Artikel bei seinem Vorgesetzten.

 

»Es wird ein durchschlagender Erfolg werden!« verkündete er überzeugt. »Schon allein die Tatsache, daß gewisse Leute in Schutz genommen werden und daß Scotland Yard die gestohlenen Schmuckstücke nicht veröffentlicht und die Juweliere vor dem Ankauf von Brillantnadeln gewarnt hat, beweist, daß viel mehr dahintersteckt, als ich anfänglich annahm.«

 

*

 

Am Abend sah der Redakteur, als er in seinem Klub speiste, Jack Danton, der zerstreut und mißmutig im Rauchsalon auf und ab schlenderte. Er sprach ihn an, in der Hoffnung, doch noch etwas von amtlicher Seite herauszubekommen.

 

»Danton, auf Sie habe ich gerade gewartet. Ihretwegen bin ich extra hergekommen.«

 

»Um Himmels willen«, entgegnete Jack schlecht gelaunt. »Wollen Sie etwa von mir wissen, wer der anonyme Briefschreiber ist?«

 

»Nein, es handelt sich um etwas Wichtigeres. Wir haben eine fabelhafte Geschichte, die wir in unserer Zeitung veröffentlichen wollen, und ich möchte von Ihnen nur eine Bestätigung erhalten, bevor wir sie in Satz geben.«

 

Natürlich stimmte das nur teilweise. Der Artikel würde im ›Daily Telephone‹ erscheinen, ob Scotland Yard die Sache nun bestätigte oder nicht. Das Geheimnis, das diese Diebstähle umgab, war an sich schon Grund genug, sie für die Leser interessant zu machen.

 

»Wie steht es eigentlich mit diesen Juwelendiebstählen?« erkundigte sich der Redakteur so nebenbei und beobachtete den Inspektor scharf.

 

Jack machte ein harmloses Gesicht. Er roch den Braten und würde nichts Wesentliches verraten, zumal der Chefinspektor ihm eingeschärft hatte, ja nichts über die Sache zu sagen.

 

»Was für Diebstähle sollen das sein?« fragte er scheinbar erstaunt. »Meinen Sie den Einbruch bei dem Juweliergeschäft Carter and Smith in der Regent Street?«

 

»Mein lieber Freund, mir machen Sie nichts vor. Sie wissen ganz genau, daß ich etwas anderes meine – ich spreche von den merkwürdigen Diebstählen in verschiedenen Landhäusern, Schlössern und so weiter. In der letzten Zeit sind eine Reihe von Brillantnadeln gestohlen worden – wahrscheinlich jedesmal von jemand, der zur Zeit des Diebstahls Gast in dem betreffenden Haus war.«

 

»Davon habe ich wirklich nichts gehört«, erwiderte Jack kopfschüttelnd. »Ihr seid doch tüchtige Leute bei der Zeitung – grabt Geschichten aus, von denen Scotland Yard noch gar nichts weiß. Offen gestanden glaube ich, daß ihr selbst von Zeit zu Zeit einen kleinen Einbruch inszeniert, nur damit ihr später als erste einen aufsehenerregenden Artikel darüber liefern könnt.« Der Redakteur, ein alter Freund von Jack, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

 

»Erzählen Sie doch keine Märchen«, brummte er. »Indirekt haben Sie mir jetzt doch die Bestätigung gegeben, die ich von Ihnen wollte. Der Artikel kommt morgen in die Frühausgabe.«

 

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, meinte Jack müde. »Ich kann Sie nicht daran hindern. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß ich den Quatsch lese.«

 

Der Redakteur lachte, trank seine Tasse aus und kehrte zufrieden in sein Büro zurück.

 

Dort angekommen, ließ er Mason rufen.

 

»Haben Sie noch irgend etwas über die Diebstähle herausbekommen?« fragte er.

 

»Ich habe noch genug Material für einen zweiten Artikel. Mrs. Crewe-Sanders wurde vor einer Woche bestohlen und Diana Wold in den letzten Tagen.«

 

Der Redakteur stimmte mit Mason darin überein, daß jetzt vor allem einmal der erste Artikel in Satz gehen müsse. Nichts schien mehr dem Erscheinen dieses sensationellen Berichts im Wege zu stehen, als plötzlich zwei Beamte von Scotland Yard gemeldet wurden. Einer davon war der Chefinspektor persönlich. Sie wurden sofort in die Redaktion geführt.

 

»Wir haben erfahren, daß Sie noch heute abend einen Artikel drucken wollen, an dem wir besonders interessiert sind. Es soll sich dabei um einen Bericht über gestohlenen Brillantschmuck handeln.«

 

»Sie haben ganz recht«, gab der Redakteur zu. »Wollen Sie uns nicht noch einiges darüber erzählen?«

 

»Nein, um Himmels willen, nein«, erwiderte der Chefinspektor. »Im Gegenteil, ich möchte Sie bitten, den Artikel auf keinen Fall zu bringen.«

 

»Warum denn nicht?«

 

»Aus verschiedenen Gründen. Vor allem ist es im Interesse der Aufklärung dieser Fälle von höchster Bedeutung, daß nichts darüber in die Öffentlichkeit dringt. Sie werden also einsehen, daß ich auf meiner Forderung bestehen muß.«

 

So kam es, daß der Artikel, zum verständlichen Ärger des Redakteurs, vorerst doch nicht im ›Daily Telephone‹ erschien.

 

*

 

Noch ein weiterer Umstand steigerte das allgemeine Rätselraten um die ganze Angelegenheit. Diana hatte nämlich am Tag nach dem Diebstahl versucht, in einem Telegramm ihre Freundin in Cannes von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen. Zwei Stunden, nachdem sie es aufgegeben hatte, kam das Formular zurück mit dem amtlichen Vermerk: ›Von der Beförderung ausgeschlossen.‹

 

Empört hängte sie sich ans Telefon, um herauszubekommen, wer dies veranlaßt hatte. Schließlich erfuhr sie von einem Beamten des Londoner Telegrafenamtes, daß hier leider eine Anordnung der Polizei zugrunde läge, die darum ersucht hätte, keine Telegramme zu befördern, in denen von bestimmten Diebstählen die Rede sei.

 

»Die Polizei ist dem Täter auf der Spur«, erklärte der Beamte ihr, »und je weniger über die Sache gesprochen und geschrieben wird, desto besser.«

 

Diana legte auf und zerbrach sich den Kopf, was das alles zu bedeuten hatte.

 

Kapitel 17

 

17

 

»Ich weiß nicht, wie ich dir das alles erklären soll, Jack«, begann Barbara, während sie sich erschöpft auf das Sofa fallen ließ und ihn an ihre Seite zog. »Es hängt alles mit dem Diamanten der Göttin Kali zusammen.«

 

»Wie kommt denn der hierher?« erkundigte er sich erstaunt. »Ist das nicht der Diamant, von dem Lord Widdicombe neulich sprach?«

 

Sie nickte ernst.

 

»Der Stein ist aufs neue entwendet worden. Du kannst dir ja vorstellen, welche Anziehungskraft er für viele Leute hat. Einige Zeit wurde der Diebstahl nicht entdeckt, aber schließlich kam ein Oberpriester des Heiligtums dahinter und setzte sich sofort mit der Kriminalpolizei in Verbindung. Er wußte, welche Unruhen es geben würde, wenn der Stein an dem Feiertag nicht ausgestellt werden konnte. Als man den Dieb endlich faßte, hatte er den Stein schon verkauft. Mit verschiedenen anderen Brillanten hatte ihn ein Zwischenhändler nach Europa verschachert.

 

Wir bekamen schließlich heraus, daß der Diamant in London gelandet war. Nun bekam ich den Auftrag, ihn dort zu suchen, denn ich bin seit drei Jahren beim Geheimdienst des Auswärtigen Amtes beschäftigt.«

 

Sie lächelte belustigt, als sie sah, welche Überraschung diese Worte für Jack bedeuteten.

 

»Was, beim Geheimdienst bist du? Dann bist du …«

 

»Etwas Ähnliches wie du. Aber erst laß mich dir schnell fertig erzählen«, unterbrach sie ihn und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Alle Steine wurden an die Juwelierfirma Streetley verkauft. Niemand hatte hier eine Ahnung, daß sich der berühmte Diamant der Göttin Kali darunter befand, denn die seltsame Inschrift war ja kaum zu erkennen. Nun wurde von Indien ein Beamter der Kriminalpolizei hergeschickt, der diesen Mr. Shing mitbrachte. Der ist nicht nur Anhänger der Kali-Sekte, der der Stein gehört, sondern auch ein hervorragender Juwelier. Er weiß genau, wie der Diamant aussieht.«

 

»Dann hatte also dieser Inder das Haus in der Birdin-Bush Road gemietet?« warf Jack ein.

 

»Ja, er wohnte dort, und ihm wurden alle gestohlenen Brillantnadeln gebracht.«

 

»Aber warum wurden denn die Nadeln gestohlen?«

 

»Wir haben sie nicht alle gestohlen«, setzte ihm Barbara auseinander. »Streetley hatte die Brillanten, die er von einem Inder kaufte, dazu benützt, die herrlichsten Brillantnadeln anzufertigen. Die Steine waren groß und schön und paßten vorzüglich in die von ihm entworfenen Fassungen. Als nun die Polizei bei ihm nach dem Verbleib der Steine forschte, stellte es sich heraus, daß wohl auch der Diamant der Göttin Kali in solch eine Nadel gearbeitet worden war. Die Firma wandte sich daher an alle Kunden, denen sie eine solche Nadel verkauft hatte, und versuchte, unter irgendeinem Vorwand die Nadeln zurückzubekommen. Meistens erklärten sich die Kunden einverstanden, aber in einigen Fällen weigerten sich die Eigentümer. Manche glaubten, daß man ihnen irrtümlicherweise einen teureren Stein verkauft hätte, den man ihnen nun wieder abnehmen wollte.

 

In solchen Fällen gab es nur einen Weg, die Brillantnadeln wiederzubekommen – man mußte sie stehlen, und ich erhielt diesen ehrenvollen aber wenig angenehmen Auftrag. Leider hatte ich Pech und mußte bis zur letzten Möglichkeit weitersuchen; erst seit dem Fest bei Lord Widdicombe wußte ich, daß er nur noch in Dianas zweiter Brillantnadel stecken konnte.«

 

»Also hatte Diana doch recht, als sie behauptete, die gestohlenen Schmuckstücke unter deinem Kopfkissen gefunden zu haben?«

 

Barbara nickte vergnügt.

 

»Der Chefinspektor wußte natürlich Bescheid! Als er hörte, daß Diana hinter meine Schliche gekommen war, setzte er sich sofort mit Mr. Smith in Verbindung. Der fuhr gleich in meine Wohnung, nahm die Juwelen an sich und hinterließ den Zettel mit dem schadenfrohen Gruß.«

 

Jack begriff nun, warum ihm sein Vorgesetzter nicht den Auftrag gegeben hatte, auch den Juwelendiebstahl zu klären.

 

Er zog Barbara an sich.