Kapitel 24

 

24

 

»Jim!«

 

Eunice lief mit ausgestreckten Armen quer über den grünen Rasen, obwohl sie wußte, daß die Spaziergänger im Park sie beobachteten.

 

Jim nahm ihre beiden Hände, und sie fühlte sich glücklich. Dann sprachen sie zugleich, entschuldigten sich beide, und einer unterbrach den anderen mit dem Bekenntnis eigener Reue und Zerknirschung.

 

»Jim, ich werde Mrs. Groats Haus verlassen«, sagte sie, als sie sich etwas beruhigt hatte.

 

»Gott sei Dank!«

 

»Sie sagen das ja so feierlich?« fragte sie lachend. »Glauben Sie denn wirklich, daß ich irgendwie in Gefahr war?«

 

»Ich weiß, daß Sie es noch sind.«

 

Sie hatte ihm so viel zu erzählen, daß sie nicht wußte, wo sie anfangen sollte.

 

»Waren Sie sehr traurig, daß wir uns nicht gesehen haben?«

 

»Die Tage sind tot und auf dem Kalender ausgestrichen. Aber bevor ich es vergesse – Mrs. Weatherwale ist schon wieder fort!«

 

»Mrs. Weatherwale?« fragte er erstaunt.

 

»Ach so, ich habe Ihnen die Geschichte ja noch gar nicht erzählt; ich habe Sie ja gestern nicht gesehen. Mrs. Groat hatte mir den Auftrag gegeben, an diese Frau zu schreiben. Sie ist eine alte Freundin von ihr und bat sie, zu ihr zu kommen und bei ihr zu bleiben. Ich glaube, Mrs. Groat hat große Angst vor Digby.«

 

»Und sie ist gekommen?«

 

»Ja, aber sie ist nur eine Stunde geblieben. Mr. Groat setzte sie ohne Umschweife wieder auf die Straße. In dem Hause geht es wirklich nicht sehr liebenswürdig zu. Die liebe alte Mrs. Weatherwale haßt Digby furchtbar. Sie war reizend zu mir und nannte mich ›Liebling‹.«

 

»Wer könnte Digby Groat lieben? Erzählen Sie bitte weiter. Hat sie denn irgend etwas über ihn gesagt?«

 

»Sie ist in alles eingeweiht, sie kennt auch die Geschichte von Estremeda, dadurch ändert sich übrigens doch auch die ganze Sache mit dem Testament?«

 

»Nein, Digby bleibt immer ihr Sohn. Wenn sie das Geld erst einmal besitzt, ist das ganz gleich. In dem Testament ist nicht ausdrücklich gesagt, daß er der Sohn von John Groat ist, und die Tatsache, daß er vor ihrer Ehe geboren wurde, berührt die Sache nicht.«

 

»Wann werden denn die Groats in den Besitz des großen Vermögens kommen?«

 

»Am nächsten Donnerstag«, sagte Jim mit einem schweren Seufzer. »Und ich habe noch nicht die geringste gesetzliche Handhabe, um es zu verhindern.«

 

Er hatte ihr noch nichts davon erzählt, daß er Lady Mary Danton getroffen hatte, denn das war nicht sein alleiniges Geheimnis. Auch konnte er ihr nicht mitteilen, daß Lady Mary die Dame war, die sie gewarnt hatte.

 

Als sie weiter durch den Park gingen, erkannte Eunice, daß er sich noch immer mit dem alten Problem beschäftigte.

 

»Ich habe ein ganz bestimmtes Gefühl, daß Sie selbst irgendwie mit der Dantonschen Erbschaft verknüpft sind, Eunice.«

 

Sie lachte und hängte sich an seinen Arm.

 

»Jim, wenn Sie könnten, würden Sie mich zur Königin von England machen. Und das können Sie ebensowenig, wie nachweisen, daß ich das Kind anderer Eltern bin. Ich möchte auch wirklich niemand anders sein, als die ich bin. Ich habe meine Mutter sehr lieb gehabt und habe sehr um sie getrauert, als sie starb. Auch mit meinem Vater stand ich sehr gut.«

 

»Ja, es ist eine phantastische Idee, und angesichts der Tatsachen kann ich meine Vermutung nicht aufrechterhalten. Ich habe einen Freund in Kapstadt, der auf meine Bitte hin Nachforschungen angestellt hat.«

 

»Eunice May Weldon«, sagte sie lachend. »So können Sie also Ihren schönen Traum aufgeben!« Sie wollten auf die andere Seite der Straße hinüberwechseln und warteten, bis ein Wagen vorbeigefahren war. Der Herr, der darin saß, grüßte.

 

»Wer war das?« fragte Jim.

 

»Digby Groat«, sagte sie lächelnd, »mein beinahe früherer Vorgesetzter! Aber Jim, wir wollen nicht in ein Lokal gehen, um Tee zu trinken. Könnten wir nicht in Ihre Wohnung gehen? Ich würde sie so gern einmal sehen.«

 

Er war unschlüssig.

 

»Es gehört nicht zum guten Ton, daß Junggesellen eine junge Dame zum Tee in ihre Wohnung einladen.«

 

»Ach, darüber brauchen Sie sich keine Kopfschmerzen zu machen. Das kommt jeden Tag vor, nur spricht man nicht darüber.«

 

Seine Wohnung gefiel ihr außerordentlich. Sie legte ihren Mantel ab und machte sich in der kleinen Küche zu schaffen.

 

»Sie haben mir doch erzählt, daß es eine ganz kleine Wohnung ist mit blankem Fußboden«, sagte sie vorwurfsvoll, als sie das Tischtuch auflegte. »Alles ist hier so sauber. Das haben Sie doch aber nicht alles selbst gereinigt und geputzt, all das Messinggeschirr und das Porzellan?«

 

»Eine ältere Frau kommt jeden Morgen um halb acht und bringt alles in Ordnung.«

 

»Dort fährt ein Zug!« Sie sprang auf und trat an das Fenster, als ein D-Zug am Haus vorbeifuhr. »Aber, Jim, sehen Sie doch einmal die Jungen da drüben.«

 

Quer über die Eisenbahnschienen, nur von zwei starken Masten getragen, liefen Telefondrähte, und einer der kleinen, nichtsnutzigen Kerle schwang sich Hand über Hand an den Drähten über die Eisenbahnlinie hinweg, zur größten Freude seiner Kameraden, die drüben auf der anderen Seite auf einer Mauer saßen.

 

»Dieser kleine Teufel«, sagte Jim bewundernd.

 

Ein anderer Zug kam in entgegengesetzter Richtung ebenfalls in großer Geschwindigkeit vorbei. Die Telegrafendrähte hatten unter dem Gewicht des Knaben so weit nachgegeben, daß er die Beine hochziehen mußte, um nicht die Dächer der Wagen zu berühren.

 

»Wenn die Polizei ihn erwischt«, sagte Jim, »bekommt er eine Geldstrafe von zwanzig Schilling und eine Tracht Prügel.«

 

Sie mußte lachen.

 

»Sie sind ein sonderbarer Mann«, meinte sie. Dann schauten sie beide wieder hinaus und beobachteten den Jungen, der glücklich die jenseitige Mauer erreicht hatte.

 

»Nun wollen wir aber auch unseren Tee trinken, ich muß ja wieder nach Hause.«

 

Sie hatte gerade die Tasse an ihre Lippen gesetzt, als sich die Tür öffnete und eine Frau hereintrat. Eunice hatte sie nicht kommen hören und merkte ihre Anwesenheit erst, als sie »Jim« sagte. Die Frau an der Tür war sehr schön, das sah Eunice sofort. Ihr Alter konnte man nicht erkennen, denn die Zeit hatte keine Runzeln in ihr schönes Gesicht gegraben, und die wenigen grauen Haare ließen sie nur um so interessanter erscheinen. Einen Augenblick sahen sich die beiden Frauen in die Augen.

 

»Ich komme nachher wieder. Es tut mir leid, daß ich Sie jetzt gestört habe.« Mit diesen Worten verließ die Dame das Zimmer.

 

Ein peinliches Schweigen folgte. Jim versuchte dreimal zu, sprechen und sich zu entschuldigen, aber jedesmal brach er wieder ab, da er die Unmöglichkeit einsah, Eunice alles zu erklären. Er konnte ihr doch nicht sagen, daß die Dame, die sie eben gesehen hatte, Lady Mary Danton war.

 

»Sie hat Sie Jim genannt«, sagte Eunice langsam. »Ist Sie vielleicht eine Freundin von Ihnen?«

 

»Hm, ja«, sagte er verlegen, »es ist meine Nachbarin, Mrs. Fane.«

 

»Aber Sie haben mir doch erzählt, Mrs. Fane leide an Paralyse und könnte nicht aufstehen und habe seit Jahren ihre Wohnung nicht verlassen?«

 

Jim war ratlos.

 

»Sie hat Sie Jim genannt – sind Sie sehr eng mit ihr befreundet?«

 

»O ja, wir sind gute Freunde«, erwiderte Jim heiser. »Ich möchte Ihnen erklären, Eunice –«

 

»Wie ist sie in die Wohnung gekommen?« fragte das Mädchen und runzelte die Stirn. »Sie muß doch selbst aufgeschlossen haben? Hat sie denn einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«

 

Jim wußte nicht, was er sagen sollte.

 

»Ich möchte wissen, ob sie einen Schlüssel hat, Jim!«

 

»Ja, sie hat einen Schlüssel! Ich kann Ihnen im Augenblick keine nähere Erklärung geben, Eunice, aber Sie müssen –«

 

»So, ich verstehe. Sie ist sehr schön.«

 

»Ja, sie ist wirklich schön«, erwiderte Jim, der sich immer elender fühlte. »Sehen Sie, wir haben miteinander geschäftliche Dinge zu besprechen. Und ich bin doch so häufig nicht in meiner Wohnung, und dann spricht sie von meinem Telefon aus. Sie hat nämlich kein eigenes Telefon. Verstehen Sie jetzt, Eunice?

 

»Ja, ich verstehe – und dabei nennt sie Sie Jim.«

 

»Wir sind doch gute Freunde«, rief er verzweifelt. »Eunice, Sie werden doch dieser Sache nicht eine andere Bedeutung beimessen wollen?«

 

»Teil nehme an, daß alles in Ordnung ist, Jim«, sagte sie schließlich und schob ihren Teller zurück. »Ich glaube, ich kann nicht länger bleiben. Bitte, begleiten Sie mich nicht nach Flause, ich möchte lieber allein sein. Ich kann ja einen Wagen nehmen.«

 

Jim fluchte, daß Lady Mary ausgerechnet in diesem Augenblick kommen mußte. Und er fluchte auf sich selbst, daß er nicht die ganze Sache einfach aufgeklärt hatte, selbst auf die Gefahr hin, Lady Mary zu verraten.

 

Durch seine Versuche, alles anders darzustellen, hatte er sich nur immer verdächtiger gemacht. Jetzt schwieg er ganz, als er ihr in den Mantel half.

 

»Soll ich Sie nicht doch nach Hause begleiten?« fragte er schwach.

 

Sie schüttelte nur schweigend den Kopf.

 

Als sie aus der Wohnung traten, stand die Wohnungstür von Lady Mary auf und man hörte, wie ein Telefon klingelte.

 

Eunice sah Jim ernst und traurig an.

 

»Ihre Freundin hat doch den Schlüssel zu Ihrer Wohnung, weil sie kein eigenes Telefon hat? Haben Sie das nicht vorhin gesagt?« Er antwortete nichts mehr.

 

»Ich habe niemals gedacht, daß Sie mich belügen könnten.« Er stand oben auf dem Podest und schaute ihr verzweifelt nach. Kaum war er wieder in seinem Zimmer und hatte sich in den großen Sessel geworfen, als Lady Mary eintrat.

 

»Es tut mir so leid«, sagte sie, »ich hatte keine Ahnung, daß sie hier sein würde.«

 

»Das macht nichts«, erwiderte Jim mit einem schwachen Lächeln. »Ich bin nur in furchtbare Verlegenheit gekommen, denn ich mußte ihr etwas vorlügen, und sie merkte es. Ihr scheußliches Telefon hat mich verraten, Lady Mary.«

 

»Sie haben sich sehr unklug benommen.«

 

»Warum sind Sie denn nicht geblieben? Durch Ihr Verschwinden bekam die Sache ein so sonderbares Gesicht …«

 

»Aus verschiedenen Gründen konnte ich nicht bleiben. Erinnern Sie sich, Jim, daß ich Nachforschungen nach Eunice Weldon anstellte, ganz ähnlich wie Sie?«

 

Im Augenblick interessierte sich Jim aber durchaus nicht dafür, wer Eunices Eltern waren.

 

»Sie soll doch in Rondebosch geboren sein?«

 

»Jawohl«, sagte er gleichgültig. »Sie hat mir das auch selbst gesagt.«

 

Lady Mary reichte ihm ein Telegramm über den Tisch. Er nahm es auf und las:

 

›Eunice May Weldon starb in Kapstadt im Alter von zwölf Monaten und drei Tagen und liegt auf dem Kirchhof in Rondebosch begraben, Grab Nr. 7963.‹

 

Kapitel 25

 

25

 

Jim las das Telegramm noch einmal durch. Er konnte kaum seinen Augen trauen oder den Sinn erfassen.

 

»Sie ist im Alter von zwölf Monaten begraben worden?« sagte er ungläubig. »Das ist doch unmöglich, sie ist doch hier und lebt! Außerdem habe ich neulich jemand kennengelernt, der die Weldons unten in Südafrika getroffen hat und sich noch sehr gut an. Eunice erinnern, kann, die damals noch ein Kind war. Ein Fall von Kindesunterschiebung kann hier doch nicht vorliegen.«

 

»Die Sache ist ganz rätselhaft«, erwiderte Lady Mary sanft, als sie das Telegramm wieder in ihre Handtasche steckte.

 

»Aber ich weiß, daß der Mann, der mir dieses Telegramm sandte, einer der vertrauenswürdigsten Detektive in Südafrika ist.«

 

Jims Gedanken wirbelten durcheinander.

 

Eunice Weldon wurde geboren, Eunice Weldon starb, und doch lebte Eunice Weldon im Augenblick und war frisch und munter, obgleich sie gerade jetzt wünschte, lieber tot zu sein. Jim stützte den Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hand.

 

»Ich muß gestehen, daß ich vollkommen verwirrt bin. Dann muß man wohl annehmen, daß die Eltern nach dem Tod ihrer eigenen Tochter ein anderes Kind angenommen haben, und zwar Eunice. Die Frage ist nur, woher sie kam. Ihr selbst ist nichts von einer Adoption bekannt.«

 

»Ich habe bereits an meinen Agenten in diesem Sinne gekabelt und ihm den Auftrag gegeben, über eine eventuelle Adoption zu berichten. Durch die letzten Ereignisse gewinnt die alte Annahme wieder an Glaubwürdigkeit.«

 

Er sah sie an. »Sie meinen, daß Eunice Ihre Tochter sein könnte?«

 

Sie nickte langsam.

 

»Aber von der Narbe an ihrer Hand wissen Sie nichts?«

 

»Das kann ja später passiert sein – nachdem ich sie aus den Augen verlor.«

 

»Wollen Sie mir nicht erklären, Lady Mary, wann Sie sich von Ihrer Tochter trennten?«

 

»Nein, noch nicht.«

 

»Aber vielleicht können Sie mir ein andere Frage beantworten. Kennen Sie Mrs. Groat?«

 

»Ja.«

 

»Kennen Sie auch eine Mrs. Weatherwale?«

 

Lady Mary sah ihn mit großen Augen an.

 

»Ja, ich kenne sie. Sie war eine Farmerstochter, die Jane sehr zugetan war, eine liebenswürdige und nette Frau; ich habe mich oft darüber gewundert, wie Jane zu dieser Freundschaft kam.«

 

Jim erzählte ihr, was er von den letzten Vorgängen in der Familie Groat erfahren hatte.

 

»Wir wollen unsere Karten soweit wie möglich aufdecken«, sagte sie schließlich. »Glauben Sie, daß Jane Groat irgendwie an dem Verschwinden meiner Tochter mitverantwortlich ist?«

 

»Offen gestanden, ja«, erwiderte Jim, »Und wie denken Sie darüber, Lady Mary?«

 

»Ich war früher auch dieser Ansicht. Aber nach den Nachforschungen, die ich anstellte, hat sie nichts damit zu tun. Sie hat zwar einen sehr bösen Charakter und ist niederträchtiger und gemeiner als irgendeine Frau, die ich sonst kennenlernte, aber sie war doch nicht so schlecht, daß sie an dem Geschick meiner kleinen Tochter Dorothy schuld wäre.«

 

»Können Sie mir nicht noch mehr über sie erzählen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Aber vielleicht könnten Sie mir doch eine Aufklärung geben, die meine Nachforschungen erleichtert?«

 

»Bis jetzt kann ich nichts weiter sagen«, entgegnete sie leise, erhob sich und verließ das Zimmer, ohne sich zu verabschieden.

 

Jim war wieder ganz bei der Sache. Das neue Telegramm aus Südafrika zeigte ihm die ganze Frage in einem anderen Licht, und das Zerwürfnis mit Eunice war im Vergleich damit vollständig bedeutungslos. Wenn sie nun doch Lady Marys Tochter wäre! Er atmete schwer bei dem Gedanken an die Konsequenzen dieser Möglichkeit, obwohl er sie schon früher überlegt hatte.

 

Sicher hätte Mrs. Groat das ganze Geheimnis aufklären können, aber jeder Versuch, den er gemacht hatte, Einzelheiten über ihr Vorleben zu erfahren, war vergeblich gewesen. Entweder wußten die Leute, die sie früher gekannt hatten, nichts davon, oder sie wollten nichts darüber aussagen.

 

*

 

Es war wenig Aussicht vorhanden, Mr. Septimus Salter noch im Büro zu treffen, und so ging Jim in seine Garage, wo er seinen kleinen Wagen untergestellt hatte, und fuhr nach Chislehurst, wo Mr. Salter wohnte.

 

Der alte Herr war allein zu Haus, und Jim wurde liebenswürdiger empfangen, als er erwartet hatte.

 

»Sie bleiben natürlich zum Dinner bei mir«, sagte der Rechtsanwalt.

 

»Nein, ich danke Ihnen. Ich bin in großer Eile. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie Mrs. Weatherwale kennen?«

 

Der Rechtsanwalt runzelte die Stirn.

 

»Weatherwale – Weatherwale? Ja, ich kann mich auf den Namen besinnen; sie wird in dem Testament von Mrs. Groat erwähnt. Ich glaube, sie hat ihr ein Legat von mehreren hundert Pfund vermacht. Der Vater war ein alter Pächter der Dantons.«

 

»Ja, das ist die Frau«, sagte Jim und erzählte seinem Chef alles, was er von dem Besuch Mrs. Weatherwales erfahren hatte.

 

»Das zeigt nur«, sagte Mr. Salter, »daß die schrecklichsten Geheimnisse, die wir Rechtsanwälte in den tiefsten Tiefen der Aktenschränke und in Stahlkammern gesichert glauben, allgemein bekannt sind. Also nun hören Sie, Jim. Estremeda ist natürlich der spanische Gesandtschaftsattaché, der im Hause Dantons ein und aus ging, als Jane noch ein schönes Mädchen war. Er ist der Vater Digby Groats, seine Mutter war leidenschaftlich in den Spanier verliebt. Ich wußte schon längst, daß sie in irgendeinen Skandal verwickelt war, aber jetzt sehe ich ganz genau, warum ihr Vater niemals mehr mit ihr gesprochen hat und warum er sie enterbte. Trotzdem bin ich sicher, daß ihr Bruder Jonathan Danton nichts von ihren Fehltritten wußte, sonst hätte er ihr keinen Pfennig hinterlassen. Er war in diesem Punkt ebenso unbeugsam wie die anderen Dantons. Sein Vater hat ihm offenbar nichts davon mitgeteilt. Eine merkwürdige Sache, wirklich sehr merkwürdig! Was wollen Sie denn nun weiter tun?«

 

»Ich werde Mrs. Weatherwale in Somerset aufsuchen; vielleicht kann ich durch eine Unterhaltung mit ihr neue Tatsachen herausbekommen.«

 

Kapitel 26

 

26

 

Jim war noch schläfrig und wenig zuversichtlich, als der Wecker am nächsten Morgen um sechs Uhr rasselte. Aber, als er aufgestanden war und daran dachte, welch neue Überraschungen und Enthüllungen der Tag bringen konnte, freute er sich auf seine kleine Reise.

 

Er nahm den Personenzug, der um sieben Uhr von Paddington abfuhr, und erreichte die nächste Station, in deren Nähe Mrs. Weatherwales Wohnung lag.

 

Er hatte noch nicht gefrühstückt und ging deshalb in das Gasthaus des Ortes; wo ihm die Wirtin Schinken und Eier bereitete, ohne die ein Engländer nicht leben kann.

 

Hill Farm war ein kleines Bauerngut, auf dem hauptsächlich Gemüse gezogen wurde. Als Jim sich erkundigte, erfuhr er, daß Mr. Weatherwale schon vor zwölf Jahren gestorben war. Aber die Frau hatte einen Sohn, der ihr bei der Bewirtschaftung des Gütchens half. Alles das hörte Jim in dem kleinen Gasthaus des Ortes.

 

Jim fand Mrs. Weatherwale beim Buttern.

 

»Ich möchte nicht über Jane Groat sprechen«, sagte sie entschieden, als er den Zweck seines Besuches erwähnte. »Ich werde ihrem Sohn niemals die Beleidigung vergeben, die er mir zugefügt hat. Es ist doch keine Kleinigkeit für mich – ich habe alles liegen und stehen lassen und extra eine Frau angenommen, die meine Arbeit tun und meinem Sohn während meiner Abwesenheit die Wirtschaft hier führen sollte. Und schließlich hat doch die Fahrt nach London auch etwas gekostet.«

 

»Das kann doch aber alles wieder in Ordnung gebracht werden«, sagte Jim lachend. »Mr. Digby Groat wird Ihnen das sicher alles ersetzen.«

 

»Sind Sie ein Freund von ihm?« fragte sie. »Wenn Sie das sind –«

 

»Nein, ich bin nicht sein Freund«, erklärte Jim. »Im Gegenteil, ich kann ihn ebensowenig leiden wie Sie.«

 

»Das ist nicht recht möglich, denn ich würde lieber noch dem Teufel begegnen als diesem gelbgesichtigen Affen.«

 

Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab und führte ihn in das kleine, sonnige Wohnzimmer. »Nehmen Sie bitte hier Platz«, sagte sie in etwas rauhem Ton und zeigte auf einen Sitz am Fenster, der mit hellgrünem Kattun überzogen war. »Nun erzählen Sie mir, was Sie eigentlich wollen.«

 

»Ich möchte etwas von Jane Groats Jugendjahren erfahren. Mit wem war sie befreundet, und was wissen Sie von Digby Groat?«

 

»Darüber kann ich Ihnen nicht viel sagen. Ihr Vater, der alte Danton, war der Eigentümer von Kennett Hall. Sie können es von hier aus sehen.« Sie zeigte über die Felder hinweg zu alten, grauen Gebäuden, die oben auf dem Hügel lagen. »Jane kam sehr häufig zu uns. Mein Vater hatte damals ein größeres Gut. Ganz Holyblok Hill gehörte ihm. Aber er hat viel Geld bei den verdammten Rennwetten verloren …! Wir beide freundeten uns sehr an. Ich gebe zu, daß das ganz ungewöhnlich war, denn sie war ein Mädchen aus vornehmem, reichem Hause, und ich war nur ein armes Farmerkind. Aber wir verstanden uns ganz gut, und ich habe später noch viele Briefe von ihr erhalten. Aber heute morgen habe ich sie verbrannt.«

 

»Sie haben sie verbrannt?« fragte Jim enttäuscht. »Ich hoffte gerade, daß ich verschiedenes darin fände, was ich dringend wissen wollte!«

 

»Ich glaube nicht, daß Sie darin irgend etwas finden konnten. Es standen nur viele, verrückte Dinge über einen Spanier darin, in den sie sich restlos verliebt hatte.«

 

»Meinen Sie den Marquis von Estremeda?«

 

»Mag sein – mag auch nicht sein. Ich will in meinen alten Tagen nicht mehr klatschen, besonders nicht über meine Freundin. Wir haben alle unsere Streiche hinter uns. Auch Sie werden sie noch machen, wenn ich so sagen darf. Nun, Mr. – ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt.«

 

»Steele«, antwortete Jim geduldig.

 

»Nun, da fällt mir ein, es war doch ein so nettes Mädchen in dem Haus. Wie kann Jane nur gestatten, daß ein so liebes Ding mit diesem Scheusal von Digby in Berührung kommt? Aber das wollte ich nur nebenbei erwähnen. Die Briefe habe ich alle verbrannt, nur ein paar habe ich zurückbehalten. Ich hob sie auf zum Beweis, daß ein Junge seinen Charakter nicht ändert, wenn er aufwächst. Es ist ja möglich«, sagte sie halb scherzend, »daß die Zeitungsreporter die Briefe noch brauchen können und mir etwas Geld dafür geben, wenn Digby an den Galgen kommt.«

 

Jim lachte. Ihre gute Stimmung steckte ihn an. Sie ließ ihn kurze Zeit allein und kam dann mit einem kleinen Kasten zurück.

 

»Wissen Sie denn nichts von Digby Groats früherem Leben?«

 

»Ich kannte ihn nur als Jungen. Er war ein schlechter, gemeiner, kleiner Teufel. Er hat früher immer zum Vergnügen den Fliegen die Beine ausgerissen. Ich glaubte, daß das nur in Geschichtsbüchern vorkomme, aber ich habe selbst gesehen, wie er es tat. Wissen Sie, was sein Hauptvergnügen war?«

 

»Nein«, erwiderte Jim lächelnd. »Aber es ist sicher etwas recht Niederträchtiges!«

 

»Er kam jeden Freitag nachmittag zu Johnsons Farm und sah zu, wie die Schweine für den Markt geschlachtet wurden. Einen so gemeinen Charakter hatte er!« Sie nahm ein Bündel verblaßter Briefe aus dem Kasten heraus, setzte ihre große, alte Stahlbrille auf und las darin.

 

»Hier ist so einer, aus dem Sie ganz deutlich sehen können, was für ein Junge er war: … ›Ich habe Digby heute schlagen müssen, denn er hat dem kleinen Kätzchen eine Schnur von Feuerwerksfröschen um den Hals gebunden und sie dann angesteckt. Das arme, kleine Ding war so schwer verbrannt, daß ich es töten lassen mußte.‹ Das war charakteristisch für Digby«, sagte Mrs. Weatherwale und schaute über das Glas. »Ich habe keinen Brief von ihr bekommen, in dem sie nicht aus dem einen oder anderen Grund über Digby klagen mußte.« Sie las leise für sich weiter und sprach nur halblaut einige Worte vor sich hin. Aber Jim hörte plötzlich das Wort ›Baby‹ fallen.

 

»Was für ein Baby war denn das?«

 

Sie schaute zu ihm auf.

 

»Das war nicht ihr Kind«, sagte sie.

 

»Wem gehörte es denn?«

 

»Das war ein Kind, das ihrer Pflege anvertraut war.«

 

»War es vielleicht das Kind ihrer Schwägerin?«

 

Die alte Frau nickte.

 

»Ja, es gehörte Lady Mary Danton. Das arme, kleine Ding – er hat ihr etwas Schreckliches angetan.«

 

Jim wagte nichts zu sagen, und ohne daß er sie aufforderte, sprach Mrs. Weatherwale weiter.

 

»Ich will Ihnen noch eine Stelle vorlesen, aus der Sie deutlich sehen können, wie schlecht der kleine Digby war: … ›Auch heute mußte ich Digby wieder bestrafen. Der nichtsnutzige Schlingel ist furchtbar grausam. Denke dir doch, er hat ein Halbschillingstück in der Flamme erhitzt und es dem armen Kind auf das Handgelenk gedrückt.‹«

 

»Großer Gott«, rief Jim. Er war bleich geworden.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Warum sind Sie denn so aufgeregt?«

 

Also daher stammte diese Narbe, und das Dantonsche Millionenvermögen erbte nicht Digby Groat oder seine Mutter, sondern das Mädchen, das die Welt jetzt unter dem Namen Eunice Weldon kannte, das aber in Wirklichkeit Dorothy Danton hieß!

 

Kapitel 22

 

22

 

In dem dunklen Gang lauschte ein Mann gespannt vor der Tür. Er hatte Digby Groat den ganzen Abend verfolgt und war auch in das Haus gekommen. Als er im Zimmer Tritte hörte, schlüpfte er in einen Seitengang und wartete. Eunice kam heraus und ging den Gang entlang. Jim Steele dachte, daß es jetzt an der Zeit sei, sich, aus dem Staub zu machen, denn in den nächsten Minuten würde das ganze Haus alarmiert sein, weil die alte Frau zusammengebrochen war. Es war ein verzweifelter Schritt, zu so früher Stunde in dieses Haus einzudringen. Aber er hatte einen besonderen Grund hierfür. Er mußte unter allen Umständen den Inhalt eines Briefes erfahren, den Digby am Abend bekommen hatte. Jim war ihm überall hin gefolgt, ohne eine besondere Beobachtung machen zu können. Schließlich war Digby Groat am Piccadilly Circus ausgestiegen, um sich anscheinend eine Zeitung zu kaufen. Plötzlich war ein Fremder an ihn herangetreten und hatte ihm schnell einen Brief überreicht. Und diesen Brief mußte er sehen.

 

Jim kam ungesehen in das Erdgeschoß und zögerte. Sollte er in das Laboratorium gehen? Oder sollte er –? Hastige Schritte von oben machten ihn schlüssig, und er schlüpfte schnell durch die Tür, die zu Digbys Arbeitsraum führte. Verstecken konnte er sich dort nicht, er hatte sich in dem Zimmer alles genau gemerkt, als er es vor ein paar Tagen besichtigt hatte. Solange niemand hereinkam und Licht machte, war er hier sicher, Schritte kamen vorbei, und Jim drückte seinen Filzhut tiefer ins Gesicht. Den unteren Teil seines Gesichtes hatte er schon mit einem schwarzseidenen Taschentuch bedeckt. Wenn es zum Äußersten kam, mußte er sich seinen Weg nach draußen mit Gewalt bahnen und sein Heil in der Flucht suchen. Niemand würde ihn in dem alten, grauen Anzug und in dem weichen Hemd ohne Kragen erkennen. Das wäre allerdings kein gutes Ende für das ganze Abenteuer, aber weniger schlimm, als von neuem der Verachtung Eunices ausgesetzt zu sein.

 

Plötzlich schlug sein Herz schneller, denn es kam jemand herein. Er sah, wie der Unbekannte die Tür öffnete, und er bückte sich unter den Tisch, der dort stand, so daß er wenigstens im ersten Augenblick nicht entdeckt werden konnte. Gleich darauf war der Raum von hellem Licht durchflutet. Obgleich Jim nur die Beine des Mannes sehen konnte, wußte er doch, daß es Digby Groat war. Digby trat näher an den Tisch heran und schnitt einen Briefumschlag auf. Dann stieß er einen ärgerlichen Ausruf aus.

 

»Mr. Groat, bitte kommen Sie schnell!«

 

Eunice rief es aufgeregt von oben herunter, und Digby eilte hinaus. Die Tür blieb offenstehen. Jim erhob sich rasch und blickte auf den Tisch. Der Brief lag noch so dort, wie ihn Digby hatte liegenlassen. Schnell steckte ihn Jim in die Tasche. Im nächsten Augenblick schlüpfte er durch die Tür und war im Gang. Hinten am Fuß der großen Treppe stand Jackson und schaute nach oben. Zuerst sah er Jim noch nicht, aber dann entdeckte er die unheimliche Gestalt und wollte einen Warnungsruf ausstoßen, aber Jims Fäuste trafen hin, und er fiel zu Boden.

 

»Was ist los?« fragte Digby. Aber Jim war schon längst aus dem Hause, bevor Digby Groat erfuhr, was geschehen war.

 

Jim verlangsamte seine Schritte allmählich und blieb schließlich unter einer Straßenlaterne stehen, um den Brief zu lesen. Der größte Teil hatte keine Bedeutung für ihn, nur eine Zeile war interessant. »Steele verfolgte sie, wir wollen ihn heute abend noch stellen.«

 

Er las diese Zeile immer wieder und lächelte, als er langsam weiterging.

 

Mehrmals schaute er sich um, weil er glaubte, er würde verfolgt, aber er konnte niemand sehen. Als er über den Portland Place ging, wurde sein Verdacht bestärkt. Zwei Männer gingen hintereinander her, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt.

 

›Na, ihr beide sollt noch für euer Geld laufen‹, sagte Jim zu sich selbst. Er überquerte die Marylebone Road und befand sich im einsamsten Teil Londons. Und nun begann er zu laufen, und er war ein guter Läufer. Er hatte sowohl für kurze Strecken als auch für den Zweimeilenlauf trainiert. Sie kamen hinter ihm her, und er grinste vergnügt. Plötzlich hörte er, wie die Tür eines Autos zugeworfen wurde – sie hatten sich also einen Wagen genommen, der gerade an ihnen vorbeikam.

 

»Das ist sehr wenig sportlich«, sagte Jim, drehte sich kurz um und eilte in der entgegengesetzten Richtung davon. Blitzschnell war er hinter dem Wagen nach der anderen Seite gelaufen. Der Wagen hielt an, und die beiden riefen dem Fahrer zu, daß er umkehren sollte. Jim ging nun ganz langsam. Er hatte sich einen Plan überlegt, der so einfach und so verwirrend für Digby Groat und seine Helfershelfer war, daß der Bluff sich lohnte. Er ging langsam, weil er einen Polizisten auf sich zukommen sah, und als das Auto neben ihm anhielt, sprang er schnell zur Tür und riß sie auf.

 

In dem Licht der Wagenbeleuchtung sah er einen alten Bekannten mit verbundenem Gesicht.

 

»Kommen Sie heraus, Jackson, und erklären Sie mir, warum Sie mich hier in den Straßen dieser friedlichen Stadt verfolgen.«

 

Der Mann folgte der Aufforderung nicht, aber Jim packte ihn an der Weste und zog ihn heraus. Erstaunt sah der Fahrer ihm zu.

 

Der andere war offensichtlich ein Fremder, ein kleiner, dunkler Mann mit schmalem, braunem Gesicht. Beide standen verdutzt da.

 

»Morgen können Sie zu Digby Groat zurückgehen und ihm sagen, daß ich mit genügendem Beweismaterial gegen ihn vorgehe und ihn ins Gefängnis und an den Galgen bringen werde, wenn er das nächste Mal Mitglieder der Bande der Dreizehn hinter mir herschickt. Haben Sie mich verstanden?«

 

»Ich weiß nicht, was Sie da reden«, erwiderte Jackson vorwurfsvoll. »Wir werden Sie zur Anzeige bringen, weil Sie uns aus dem Wagen herausgeholt haben.«

 

»Bitte, tun Sie das. Hier kommt gerade ein Polizist«, sagte Jim. Er packte Jackson am Kragen und schleppte ihn zu dem Polizisten, der schon auf ihn aufmerksam geworden war. »Ich glaube, der Mann will eine Anzeige gegen mich erstatten.«

 

»Nein, das will ich nicht tun«, schrie Jackson. Er war entsetzt, was sein Herr wohl zu diesem kläglichen Ende der Verfolgung Jims sagen würde.

 

»Nun gut, dann bringe ich diesen Mann zur Anzeige.« Diesen Bluff hatte Jim geplant. »Ich zeige ihn an, weil er im Besitz von Waffen ist, um mich zu überfallen. Außerdem zeige ich ihn an, weil er unerlaubt Feuerwaffen trägt. Er hat keinen Erlaubnisschein.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Polizeistationen sind sehr unromantisch und langweilig. Digby Groat, der in höchster Wut dorthin kam, um seine Leute zu befreien, war so aufgeregt, daß er nicht einmal die humorvolle Seite der Sache entdeckte.

 

Vor dem Gebäude entließ er Antonio Fuentes mit einem schrecklichen Fluch und überhäufte den unglücklichen Jackson mit Vorwürfen.

 

»Sie verrückter, dummer Tölpel, ich habe Ihnen doch nur den Befehl gegeben, den Mann nicht außer Sicht zu lassen. Bronson hätte meinen Auftrag ausgeführt, ohne daß Steele auch nur das Geringste davon merkte. Warum haben Sie einen Revolver mitgenommen?«

 

»Wie konnte ich wissen, daß er einen so gemeinen Trick gegen mich ausführen würde?« brummte Jackson. »Nebenbei bemerkt, habe ich noch nicht gewußt, daß das verboten ist.«

 

Digby wußte, daß er in einer unangenehmen, sogar gefährlichen Lage war, als er in seiner Bibliothek saß und darüber nachdachte. Es war seine alte Theorie, daß große Pläne durch Kleinigkeiten über den Haufen geworfen wurden, und großzügig angelegte Verbrechen durch kleine, erbärmliche Versehen zu Fall kommen. Es war Jim gelungen, auf die einfachste und leichteste Art die Polizei gegen die Bande der Dreizehn in Bewegung zu bringen. Auf zwei Mitglieder war die Polizei nun aufmerksam geworden. Aber das schlimmste war, daß er selbst in die ganze Sache verwickelt war. Jackson war sein Hausmeister, und es konnte nicht weiter auffallen, daß er ein berechtigtes Interesse an ihm hatte. Fuentes zu kennen hatte er entschieden in Abrede gestellt, und nur weil der Spanier ein Freund seines Dieners war, hatte er auch für ihn Bürgschaft geleistet.

 

Wenn die Bande der Dreizehn einen großen Schlag führte, waren ihre Spuren so sorgsam verborgen und ihre Vorbereitungen so sorgfältig getroffen, daß niemand etwas entdecken konnte. Und hier waren nun durch eine kleine Gesetzesübertretung zwei Mitglieder der Bande unter polizeiliche Aufsicht geraten!

 

Digby Groat verbrachte eine schlaflose Nacht. Er konnte nicht einmal drei Stunden ruhen, und das war das Minimum, das er brauchte. Der Arzt, der zu Mrs. Groat gerufen wurde, blieb bis drei Uhr morgens.

 

»Sie hat keinen Schlaganfall erlitten, der Zusammenbruch ist durch einen plötzlichen Schrecken veranlaßt worden.«

 

»Da mögen Sie recht haben«, antwortete Digby. »Glauben Sie, daß sie sich wieder erholen wird?«

 

»Ach ja, es wird ihr schon morgen früh wieder besser gehen.« Digby nickte. Er hörte zu, ohne gerade besonders davon erfreut zu sein.

 

Anscheinend wuchsen die Schwierigkeiten täglich. Neue Hindernisse türmten sich ihm entgegen. Und wenn er über die Einzelheiten nachdachte, kam er immer wieder auf Jim zurück – er war an allem schuld!

 

Nachdem er am nächsten Morgen einen Winkeladvokaten angerufen und ihm die Verteidigung der beiden Leute übergeben hatte, ließ er Eunice Weldon holen.

 

»Miss Weldon«, begann er, »ich muß verschiedene Änderungen hier im Haushalt vornehmen. Ich möchte meine Mutter nächste Woche aufs Land mitnehmen. Die Luft hier in der Stadt scheint ihr nicht zu bekommen. Ich glaube nicht, daß sie sich erholen kann, wenn sie nicht eine ganz andere Umgebung bekommt.«

 

Sie nickte ernst.

 

»Ich glaube, daß ich sie nicht dorthin begleiten kann.«

 

Er sah sie scharf an.

 

»Wie meinen Sie das, Miss Weldon?«

 

»Ich habe hier nicht genügend Arbeit und mich deshalb entschlossen, wieder in meine alte Stelle zurückzugehen.«

 

»Es tut mir leid, das zu hören, Miss Weldon«, sagte er ruhig, »ich will Ihnen natürlich nichts in den Weg legen. In der letzten Zeit sind hier viel unangenehme Dinge vorgekommen, und Sie haben gerade nicht die besten Erfahrungen gemacht. Ich verstehe es vollkommen, wenn Sie Ihre Stellung bei uns aufgeben wollen. Ich hätte allerdings gern gesehen, wenn Sie noch bei meiner Mutter geblieben wären, bis sie sich auf dem Land heimisch fühlt. Aber selbst in dieser Beziehung will ich keinen Druck auf Sie ausüben.«

 

Sie hatte erwartet, daß er ärgerlich sein würde, und seine Höflichkeit machte deshalb größeren Eindruck auf sie.

 

»Ich werde Sie natürlich nicht eher verlassen, als bis ich alles getan habe, was in meinen Kräften steht«, sagte sie darum, wie er es erwartet hatte. »Und ich habe mich wirklich hier ganz wohl gefühlt, Mr. Groat.«

 

»Mr. Steele ist mir nicht sehr wohlgesinnt, nicht wahr?« fragte er lächelnd.

 

Sie machte ein abweisendes Gesicht: »Mr. Steele weiß nichts von meinen Plänen. Ich habe ihn in den letzten Tagen überhaupt nicht gesehen.«

 

Die beiden haben sich also entzweit, dachte Digby. Darüber müßte er Genaueres erfahren. Er war zu hinterhältig, um sie offen zu fragen, aber er wußte schon, daß die beiden sich am vergangenen Tage nicht getroffen hatten.

 

Eunice war froh, als die Unterredung zu Ende war und sie in Mrs. Groats Zimmer gehen konnte, die heute etwas früher nach ihr geschickt hatte.

 

Die alte Frau lag im Bett. Rücken und Arme waren durch Kissen gestützt; sie schien sich wieder gut erholt zu haben.

 

»Sie sind ziemlich lange ausgeblieben«, sagte sie vorwurfsvoll.

 

»Ihr Sohn hat mich sprechen wollen, Mrs. Groat.« Die alte Frau brummte etwas, das Eunice nicht verstehen konnte. »Machen Sie die Tür zu, und drehen Sie den Schlüssel um. Haben Sie Ihren Notizblock dabei?«

 

Eunice stellte einen Stuhl neben das Bett und war gespannt, welchen wichtigen Brief Mrs. Groat ihr diktieren würde. Sie wußte, daß die alte Frau ihre Briefe am liebsten mit der Hand schrieb und war um so mehr erstaunt.

 

»Ich möchte, daß Sie in meinem Namen einen Brief an Mary Weatherwale schreiben. Notieren Sie sich den Namen.« Die alte Frau buchstabierte. »Sie wohnt in Somerset Hill Farm, Retherley. Schreiben Sie ihr, daß ich sehr krank bin, daß sie unseren alten Streit vergessen möchte und daß ich sie bitte, hierherzukommen und mich zu besuchen. Unterstreichen Sie bitte, daß ich sehr krank bin«, sagte Jane Groat nachdrücklich. »Schreiben Sie ihr, daß ich ihr für ihre Bemühungen fünf Pfund wöchentlich geben will. Ist das zu viel?« fragte sie. »Nein, schreiben Sie lieber nichts von dem Gehalt. Dann bin ich daran gebunden, wenn sie kommt. Den Weatherwales geht es gerade nicht sehr gut. Schreiben Sie ihr, sie soll gleich kommen, unterstreichen Sie das auch, bitte.«

 

Eunice schrieb alles genau auf.

 

»Also hören Sie, Miss Weldon«, sagte Jane Groat leise. »Sie müssen den Brief schreiben, aber Sie dürfen meinem Sohn nichts davon sagen. Haben Sie mich verstanden? Bringen Sie den Brief selbst zur Post, und überlassen Sie ihn nicht diesem schrecklichen Jackson. Aber denken Sie vor allem daran, mein Sohn darf nichts davon erfahren.«

 

Eunice wunderte sich darüber, daß die alte Frau so geheimnisvoll war, aber sie führte den Auftrag gewissenhaft aus.

 

Von Jim hatte sie nichts mehr erfahren, obwohl sie vermutete, daß er der geheimnisvolle Fremde war, der Jackson in der Halle niedergeschlagen hatte. Die lange Wartezeit fiel ihr auf die Nerven. Sie achtete auf jedes Geräusch, und diese Nervosität hatte sie schließlich zu dem Entschluß veranlaßt, das Haus am Grosvenor Square zu verlassen und die weniger aufregende Tätigkeit in dem fotografischen Atelier wieder aufzunehmen.

 

Warum schrieb Jim nicht? Mit unerbittlicher Logik fragte sie sich indessen gleich darauf, warum sie denn nicht an Jim schrieb.

 

Am Nachmittag machte sie einen kleinen Spaziergang im Park und hoffte, ihn dort zu treffen. Aber obwohl sie eine ganze Stunde lang unter seinem Lieblingsbaum saß, tauchte er nicht auf, und sie kehrte niedergeschlagen und ärgerlich nach Hause zurück.

 

Eine kleine Postkarte hätte genügt, ihn hierherzubringen, aber sie konnte sich nicht überwinden, diese Postkarte zu schreiben.

 

Am nächsten Tag kam Mrs. Weatherwale, eine untersetzte, gutmütige, frisch aussehende Frau von etwa sechzig Jahren. Sie stellte ihr Gepäck unten in der Halle ab und begrüßte Eunice wie eine alte Freundin.

 

»Wie geht es dir denn, mein Liebling? Die arme, alte Jane! Ich habe sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Früher waren wir gute Freundinnen, aber sie – nun ja, wir wollen Vergangenes vergessen sein lassen. Führen Sie mich bitte in ihr Zimmer.«

 

Mrs. Weatherwale mußte sich sehr zusammennehmen, um den Schrecken zu verbergen, den sie bei dem Anblick ihrer früheren Freundin empfand.

 

»Aber, Jane, was ist denn mit dir los?«

 

»Nimm Platz, Mary. Es ist schon gut, Miss Weldon, Sie brauchen nicht zu warten.«

 

Eunice war froh, daß ihre Gegenwart nicht benötigt wurde. Als Digby Groat später am Nachmittag zurückkehrte, ging sie gerade durch die Eingangshalle. Er schaute auf das Gepäck, das noch nicht entfernt worden war, und wandte sich stirnrunzelnd an Eunice.

 

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er. »Wem gehört denn das?«

 

»Eine Freundin von Mrs. Groat ist gekommen.«

 

»Eine Freundin meiner Mutter?« fragte er schnell. »Wissen Sie vielleicht ihren Namen?«

 

»Mrs. Weatherwale.«

 

Seine Gesichtszüge veränderten sich.

 

»Meine Mutter hat sie wahrscheinlich eingeladen«, sagte er ärgerlich, zog seine Handschuhe aus und legte sie auf den Tisch in der Halle. Dann eilte er die Treppe hinauf.

 

Was sich in dem Krankenzimmer ereignete, konnte Eunice nur vermuten. Als sie sah, daß Mrs. Weatherwale gekränkt die Treppe herunterkam, wußte sie, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Der zerdrückte Hut der Frau zitterte. Sie sah Eunice und rief sie zu sich heran.

 

»Lassen Sie mir, bitte, durch die Dienerschaft einen Wagen holen, mein Liebling. Ich gehe nach Somerset zurück. Es ist doch unerhört, daß man mich aus meinem Geschäft herausholt! Was denken Sie davon – eine Frau meines Alters und von meinem Ansehen! Hat mich doch dieser verrückte kleine Teufel von einem Jungen hinausgewiesen, den ich nicht einmal in meinem Viehhof duldete!« Sie war äußerst aufgebracht, und ihre Stimme zitterte vor berechtigtem Ärger. »Ich spreche von Ihnen«, rief sie mit lauter Stimme und schien damit jemand anzureden, den Eunice nicht sehen konnte. Anscheinend war es Digby. »Sie sind immer so eine kleine grausame Kanaille gewesen, und wenn Ihrer Mutter etwas passiert, gehe ich zur Polizei und zeige Sie an!«

 

»Es wäre besser, Sie gingen fort, bevor ich einen Polizisten hole«, schrie Digby wütend.

 

»Ich kenne Sie!« Sie drohte mit der Faust nach oben. »Ich habe Sie schon vor dreiundzwanzig Jahren gekannt, mein Junge! Ein gemeinerer und niederträchtigerer Bengel hat noch nie gelebt!«

 

Digby kam langsam die Treppe herunter. Er lächelte spöttisch. »Wirklich, Mrs. Weatherwale, Sie benehmen sich einmal wieder recht unvernünftig. Ich kann nicht dulden, daß meine Mutter sich mit Leuten Ihres Schlages abgibt. Ich bin nicht für ihren Geschmack verantwortlich, aber wohl für alles das, was hier in meinem Hause passiert.«

 

Das rosige Gesicht der Frau war dunkelrot geworden.

 

»Gewöhnlich! Sie gemeiner Ausländer! Sehen Sie, das sitzt! Ich kenne Ihr Geheimnis, Mr. Groat!«

 

Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie in diesem Augenblick leblos umgefallen. Digby machte am Fuß der Treppe kehrt, ging in sein Laboratorium und schmetterte die Tür hinter sich zu.

 

»Wenn Sie irgend etwas wissen wollen, was darin vorgeht –«, Mrs. Weatherwale zeigte auf die Tür seines Studierzimmers, »dann fragen Sie mich nur. Ich habe Briefe von seiner Mutter, als er noch ein Kind war. Die Kröte war erst so hoch, aber wenn Sie die Briefe lesen, stehen Ihnen die Haare zu Berge, mein Liebling!«

 

Als schließlich ihr Wagen kam und sie wieder abfuhr, atmete Eunice erleichtert auf.

 

Da habe ich also ein weiteres Familiengeheimnis kennengelernt, dachte sie, aber sie hatte auch schon die Knochen und schrecklichen Präparate gesehen, die Digby im Schrank aufbewahrte. Sie wäre gern fortgegangen wie Mrs. Weatherwale; doch Digby Groat hatte andere Pläne, von denen sie nichts wußte.

 

Diese Pläne reiften, und er dachte gerade wieder darüber nach, als laut an die Haustür geklopft wurde. Er ging in die Halle hinaus.

 

»War das ein Telegramm an mich?« fragte er.

 

»Nein, für mich«, sagte Eunice. Er brauchte nicht zu fragen, von wem sie eine Botschaft erhalten hatte, denn ihre leuchtenden Augen und ihr Erröten verrieten alles.

 

Kapitel 19

 

19

 

»Wer sind Sie, und was wünschen Sie?« fragte sie.

 

Er sah, wie sie ihre Hand senkte.

 

»Ach, Mr. Steele«, sagte sie, als sie ihn erkannt hatte.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe«, erwiderte Jim und schloß die Tür hinter sich, »aber ich möchte Sie dringend sprechen.«

 

»Nehmen Sie bitte Platz. Haben Sie mein« – sie zögerte – »mein Gesicht gesehen?«

 

Er nickte ernst.

 

»Jawohl, ich kenne Sie – Sie sind Mrs. Fane«, sagte er ruhig.

 

Langsam hob sie ihre Hand und nahm den Schleier ab. »Ja, ich bin Mrs. Fane. Sie denken vielleicht, daß ich Sie in hinterhältiger Weise täuschen wollte; aber, ich habe meine Gründe – schwerwiegende Gründe –, warum ich mich tagsüber nicht sehen lasse. Ich wünsche nicht erkannt zu werden als die Frau, die nachts ausgeht.«

 

»Dann waren Sie es, die den Schlüssel in meinem Buch zurückließen.«

 

Sie nickte und sah ihn an.

 

»Ich fürchte, daß ich Ihnen nicht viel sagen kann, weil ich in diesem Augenblick noch nicht darauf vorbereitet bin, weitere Auskünfte zu geben. Es ist überhaupt nicht viel, was ich Ihnen sagen könnte.«

 

Vor wenigen Minuten hatte er noch daran gedacht, wie schön es wäre, ihr seinen ganzen Kummer anvertrauen zu dürfen. Es kam ihm so unwirklich vor, daß er um diese mitternächtliche Stunde nun mit ihr in einem so prosaischen Büro zusammentraf und mit ihr sprach. Er sah auf ihre zarten, weißen Hände und lächelte. Sie hatte schnell seinen Gedankengang erraten.

 

»Sie dachten eben an die ›Blaue Hand‹?«

 

»Ja, ich dachte daran.«

 

»Vielleicht glauben Sie, daß es reine Schikane ist und daß diese Hand keine Bedeutung hat?«

 

»Merkwürdigerweise denke ich das nicht. Ich vermute hinter diesem Symbol eine sehr interessante Geschichte. Aber erzählen Sie sie mir nur, wenn Sie es an der Zeit halten, Mrs. Fane.«

 

Sie ging im Raum auf und ab, tief in Gedanken versunken. Er wartete gespannt, wie sich dieses Abenteuer weiterentwickeln würde.

 

»Sie sind hierhergekommen, weil Sie aus Südafrika die Nachricht erhielten, daß ich Nachforschungen nach dem Mädchen angestellt habe. – Befindet sie sich denn nicht in Gefahr?«

 

»Nein, im Augenblick bin nur ich in Gefahr, weil ich sie über alle Maßen beleidigt habe.«

 

Sie sah ihn scharf an, aber sie fragte nicht nach einer weiteren Erklärung.

 

»Wenn sie meine Warnungen für bedeutungslos hält, könnte ich sie nicht tadeln«, sagte sie nach einer Pause. »Aber ich mußte sie in einer Weise verständigen, die Eindruck auf sie macht.«

 

»Ich kann bei der ganzen Angelegenheit eines nicht verstehen, Mrs. Fane. Wenn nun Eunice diesem Digby Groat etwas von dieser Warnung gesagt hätte –«

 

»Er weiß davon«, erwiderte sie ruhig. Jim erinnerte sich an das Zeichen der blauen Hand an der Tür des Laboratoriums. »Aber er kann die tiefere Bedeutung nicht verstehen. Ich wollte nicht, daß Eunice ein Unglück zustößt.«

 

»Haben Sie einen Grund, daß Sie sie beschützen möchten?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Vor einem Monat glaubte ich es noch. Ich vermutete, daß sie jemand sei, den ich seit langer Zeit suche. Ein Zufall und eine flüchtige Ähnlichkeit führten mich auf ihre Spur. Aber sie war nur ein Schatten, wie alle die anderen, denen ich nachjagte«, sagte sie mit bitterem Lächeln. »Sie interessierte mich. Ihre Schönheit, ihre Unbefangenheit, ihr kindliches Gemüt und ihr guter Charakter haben tiefen Eindruck auf mich gemacht, obgleich ich jetzt weiß, daß sie nicht die ist, die ich suche. Sie scheinen sich ja auch sehr für sie zu interessieren, Mr. Steele?« Sie sah ihn forschend an.

 

»O ja, ich interessiere mich stark für sie.«

 

»Lieben Sie Eunice?«

 

Die Frage kam ihm so unerwartet, daß es ihm unmöglich war, gleich zu antworten. Er war ein schweigsamer und zurückhaltender Mann, der nicht über seine Gefühle sprechen konnte.

 

»Wenn Sie Eunice nicht wahr und aufrichtig lieben, so kränken Sie sie nicht, Mr. Steele. Sie ist noch sehr jung, und sie ist zu schade dazu, einem Mann ein vorübergehendes Abenteuer zu sein, wie Mr. Groat das beabsichtigt.«

 

»Wie? Das will er tun?« fragte Jim empört.

 

Sie nickte.

 

»Es liegt noch eine große Zukunft vor Ihnen, und ich hoffe, daß Sie Ihre Karriere nicht ruinieren, nur weil Sie im Moment einem Phantom nacheilen, das Ihnen die wahre Liebe zu sein scheint.«

 

Er schaute auf und sah in ihr Gesicht. Sie hatte eindringlich gesprochen, und ein feines Rot lag auf ihrem Gesicht. Er dachte, daß er außer Eunice noch niemals eine so schöne Frau gesehen hätte.

 

»Ich bin jetzt am Ende meiner vielen Nachforschungen angekommen«, fuhr sie fort. »Und wenn wir erst Digby Groat und seine Mutter zur Verantwortung gezogen haben, ist meine Aufgabe gelöst.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe weiter keine Hoffnung im Leben, nichts, wofür ich leben könnte.«

 

»Worauf hatten Sie denn gehofft?«

 

»Zu finden, was ich suchte. Aber ich war töricht genug, etwas zu suchen, daß außer jeder Reichweite ist. Und ich muß für die Jahre, die mir noch zu leben übrigbleiben, mit dem zufrieden sein, was mir Gott schenkt. Dreiundvierzig Jahre umsonst gelebt!« Sie streckte die Arme mit einer leidenschaftlichen Bewegung aus. »Dreiundvierzig Jahre habe ich gelitten. Meine Kindheit war arm an Liebe, meine Ehe war trostlos und eine bittere Enttäuschung. Ich habe alles verloren, Mr. Steele, alles! Meinen Mann, mein Kind und meine Hoffnung.«

 

»Großer Gott«, sagte er plötzlich, »dann sind Sie –«

 

»Ich bin Lady Mary Danton.« Sie sah ihn fest an. »Ich dachte, Sie hätten es schon längst vermutet.«

 

Jim erschrak. »Lady Mary Danton!«

 

»Dann war sie also gefunden, dachte Jim enttäuscht. Das war ein sonderbares Ende seiner Untersuchungen, das ihm keine Belohnung und kein Avancement brachte, und beides brauchte er doch so bitter.

 

»Sie sehen enttäuscht aus«, sagte sie. »Sie hatten sich doch als Ziel gesetzt, Lady Mary zu finden?«

 

Er nickte.

 

»Nun haben Sie sie gefunden; erscheint sie Ihnen weniger anziehend, als Sie sich eingebildet haben?«

 

Er antwortete nicht. Er konnte ihr doch nicht sagen, daß er eigentlich nach ihrem toten Kind gesucht hatte.

 

»Wissen Sie auch, daß ich Sie monatelang jeden Tag gesehen habe, Mr. Steele? Ich habe in Eisenbahnzügen an Ihrer Seite gesessen, in der Untergrundbahn, ich habe im Lift neben Ihnen gestanden«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. »Ich habe Sie überwacht, und ich habe Ihren Charakter studiert. Und ich habe Sie liebgewonnen.« Das letzte betonte sie besonders, und ihre schöne Hand ruhte einen Augenblick auf seiner Schulter. »Prüfen Sie sich wegen Eunice, und wenn Sie finden, daß Ihre Gefühle nicht ernst sind, dann erinnern Sie sich daran, daß diese Welt groß ist und daß Sie Ihr Glück auch sonst noch finden können und werden.«

 

»Ich liebe Eunice«, erwiderte Jim ruhig. Sie nahm ihre Hand wieder von seiner Schulter. »Ich liebe sie, wie ich nie wieder eine andere Frau lieben werde. Sie ist der Anfang und das Ende aller meiner Träume.« Er schaute nicht auf, aber er konnte hören, daß sie schneller atmete.

 

»Ich dachte mir, daß es so ist«, sagte sie dann leise.

 

Jim richtete sich plötzlich auf und sah sie offen an.

 

»Lady Mary, haben Sie die Hoffnung ganz aufgegeben, Ihre Tochter jemals wiederzufinden?«

 

Sie nickte. »Wenn nun Eunice Ihre Tochter wäre – würden Sie sie mir geben?«

 

Sie hob den Blick zu ihm.

 

»Ich würde dankbar sein, wenn ich sie Ihnen anvertrauen könnte. Sie sind der einzige Mann in der Welt, dem ich gern ein Mädchen anvertrauen würde, das ich liebe. Aber auch Sie jagen hinter einem Schatten her. Eunice ist nicht mein Kind. Ich habe mich nach ihren Eltern erkundigt, und es besteht kein Zweifel in dieser Frage. Sie ist die Tochter eines Musikers in Südafrika.«

 

»Haben Sie die Narbe an ihrem Handgelenk gesehen?« fragte er langsam. Es war seine letzte Hoffnung, daß sie sie daran erkennen würde, und als sie traurig den Kopf schüttelte, verlor er den Mut.

 

»Es ist mir ganz unbekannt, daß sie eine Narbe am Handgelenk hatte. Wie sieht sie denn aus?«

 

»Es ist ein kreisrundes, kleines Brandmal, so groß wie ein Halbschillingstück.«

 

»Dorothy hatte keine solche Narbe, sie war fleckenlos am ganzen Körper. Glauben Sie mir, Mr. Steele, Ihre Nachforschungen sind vergeblich, sie sind ebenso sinn- und zwecklos wie die meinen. Nun will ich Ihnen noch etwas von mir selbst erzählen«, sagte sie. »Aber ich werde Ihnen noch nicht das Geheimnis entschleiern, wie ich verschwand – das hat noch Zeit. Dieser Gebäudeblock gehört mir. Mein Mann kaufte ihn und schenkte ihn mir in einer großmütigen Anwandlung einen Tag später. Er gehörte schon damals mir, als alle Leute glaubten, daß er sein Eigentum sei. Im allgemeinen war er nicht großzügig und edelmütig, aber ich will Ihnen nichts davon erzählen, wie er mich behandelte. Von den Einkünften dieses Besitzes hatte ich genügend zu leben, und außerdem besitze ich ein Vermögen, das ich von meinem Vater erbte. Meine Familie war sehr arm, als ich Mr. Danton heiratete; aber kurze Zeit darauf starb ein Vetter meines Vaters, Lord Pethingham, und mein Vater erbte dessen großes Vermögen. Der größte Teil fiel später an mich.«

 

»Wer ist denn Madge Benson?«

 

»Müssen Sie das wissen? Sie bedient mich.«

 

»Warum war sie denn im Gefängnis?«

 

Lady Mary preßte die Lippen zusammen.

 

»Sie müssen mir versprechen, mich nicht über die Vergangenheit auszufragen, bis ich Ihnen selbst davon erzähle, Mr. Steele. Und jetzt können Sie mich nach Hause begleiten.« Sie sah sich im Zimmer um. »Gewöhnlich erhalte ich hier ein Dutzend Telegramme, die ich beantworten muß. Ein vertrauenswürdiger Sekretär kommt jeden Morgen und bringt die Telegramme zur Post, die ich hier zurücklasse. Ich habt alle Behörden von Buenos Aires bis Schanghai in Bewegung gesetzt und ich bin so müde – so furchtbar müde! – Aber noch ist meine Arbeit nicht zu Ende«, fuhr Lady Mary fort, und ihre Stimme wurde plötzlich hart und entschlossen. »Noch haben wir eine harte Arbeit vor uns, Jim –« sie gebrauchte seinen Vornamen schüchtern und lächelte wie ein Kind, als sie sah, daß er rot wurde. »Selbst Eunice wird nichts dagegen haben, wenn ich Jim sage – es ist doch ein so hübscher Name!«

 

Er wollte sie gerade fragen, warum sie denn in einer so unansehnlichen Wohnung lebte, die obendrein noch an der Eisenbahn lag, wenn sie ein so großes Vermögen besaß; aber er ahnte, daß sie ihm doch nur eine unbefriedigende Antwort geben würde.

 

Er verabschiedete sich von ihr an ihrer Wohnungstür.

 

»Gute Nacht, Frau Nachbarin«, sagte er lächelnd.

 

»Gute Nacht, Jim«, erwiderte sie leise.

 

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen, saß Jim immer noch in seinem großen Sessel und dachte über alles nach, was er in dieser Nacht erlebt hatte.

 

Kapitel 2

 

2

 

Mr. Salter schaute mit einem humorvollen Lächeln in den Augen auf.

 

»Ja«, sagte er nur kurz und wandte sich zu Jim, der schnell das Büro verlassen wollte. »Sie können ruhig hierbleiben, Steele. Mr. Groat schrieb mir, daß er die Akten durchsehen will, und wahrscheinlich müssen Sie ihn zur Stahlkammer führen.«

 

Jim sagte nichts.

 

Der Schreiber öffnete die Tür für einen elegant gekleideten jungen Herrn.

 

Jim kannte ihn schon von früher, aber je öfter er ihn sah, desto weniger konnte er ihn leiden. Er hätte mit geschlossenen Augen das schmale, wenig freundliche Gesicht mit dem kurzen, schwarzen Schnurrbart, die müden Augen, die blasierten Züge, das große, vorstehende Kinn und die etwas abstehenden Ohren malen können, wenn er Zeichner gewesen wäre. Und doch machte Digby Groat in mancher Beziehung einen guten Eindruck, das konnte selbst Jim nicht bestreiten. Er mußte einen erstklassigen Kammerdiener haben, denn von seiner tadellos glänzenden Frisur bis zu den blitzblanken Schuhen war nichts an seiner Erscheinung auszusetzen. Sein Anzug war nach dem modernsten Schnitt gearbeitet und stand ihm außerordentlich gut. Als er ins Zimmer trat, verbreitete sich ein leiser Duft von Quelques Fleurs. Jim verzog die Nase. Er haßte Männer, die sich parfümierten, so dezent sie es auch tun mochten.

 

Digby Groat schaute von dem Rechtsanwalt zu Steele, und in seinen dunklen Augen lag jener nachlässige und doch so unverschämte Ausdruck, den weder der Rechtsanwalt noch sein Sekretär vertrugen.

 

»Guten Morgen, Salter«, sagte er.

 

Er zog ein seidenes Taschentuch hervor, staubte einen Stuhl damit ab und nahm Platz, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Seine Hände, die in zitronengelben Handschuhen steckten, ruhten auf dem goldenen Knopf eines Ebenholzspazierstockes.

 

»Sie kennen Mr. Stelle, meinen Sekretär?«

 

Der andere nickte.

 

»Ach ja, er war doch früher Offizier und hat das Viktoriakreuz erhalten?« fragte Digby müde. »Vermutlich finden Sie es jetzt sehr öde hier, Steele? Eine solche Stelle würde mich zu Tode langweilen.«

 

»Das glaube ich auch. Aber wenn Sie sich an der Front den Wind hätten um die Nase wehen lassen, gefiele Ihnen die himmlische Ruhe dieses Büros sehr.«

 

»Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Digby kurz. Er fühlte sich peinlich dadurch berührt, daß Jim erwähnte, daß er nicht im Felde gewesen war.

 

»Nun. Dr. Groat –«, begann der Anwalt, aber der elegante junge Mann unterbrach Salter durch eine Geste.

 

»Nennen Sie mich bitte nicht Doktor«, sagte er mit einem schmerzlichen Ausdruck. »Vergessen Sie, daß ich ein medizinisches Studium durchgemacht habe und mein Examen als Chirurg bestand. Ich tat das nur zu meiner eigenen Befriedigung, und es wäre mir sehr unangenehm, eine Praxis ausüben zu müssen. Ich würde es nicht aushalten, zu jeder Tages- und Nachtzeit von Patienten gestört zu werden.«

 

Für Jim war es eine Neuigkeit, daß dieser Stutzer einen medizinischen Grad erworben hatte.

 

»Ich bin hierhergekommen, um die Pachtverträge der Besitzungen in Cumberland einzusehen, Salter«, fuhr Groat fort. »Es ist mir ein Angebot gemacht worden – ich sollte eigentlich sagen, es ist meiner Mutter ein Angebot gemacht worden, und zwar von einem Syndikat, das ein großes Hotel dort errichten will. Soviel ich weiß, ist eine Klausel in den Verträgen, die einen solchen Bau verhindert. Wenn es so ist, war es niederträchtig gedankenlos von dem alten Danton, solche Ländereien zu erwerben.«

 

»Mr. Danton tat nichts Gedankenloses und nichts Niederträchtiges«, entgegnete Salter ruhig. »Wenn Sie diese Frage in Ihrem Brief erwähnt hätten, würde ich Ihnen telefonisch darüber Auskunft gegeben haben, und Sie hätten sich nicht hierher bemühen müssen. Aber da Sie nun einmal hier sind, wird Sie Steele zur Stahlkammer führen. Dort können Sie die Pachtverträge einsehen.«

 

Groat sah argwöhnisch zu Jim hinüber.

 

»Versteht er denn etwas von Pachtverträgen?« fragte er. »Und muß ich denn tatsächlich in Ihren schrecklichen Keller hinuntersteigen, um mich auf den Tod zu erkälten? Können die Akten denn nicht für mich heraufgebracht werden?«

 

»Wenn Sie so liebenswürdig sind, in Steeles Zimmer zu gehen, kann er sie Ihnen ja dorthin bringen«, entgegnete Salter, der Mr. Groat ebensowenig liebte wie sein Sekretär. Außerdem hatte er den nicht unbegründeten Verdacht, daß sich die Groats in dem Augenblick, in dem sie in den Besitz des Dantonschen Vermögens kämen, einen anderen Rechtsanwalt zur Verwaltung ihres Eigentums wählen würden.

 

Jim nahm die Schlüssel und kehrte bald mit einem Paket Akten wieder zu seinem Chef zurück.

 

Mr. Groat hatte das Büro Mr. Salters verlassen und saß schon in Jims eigenem kleinen Zimmer.

 

»Erklären Sie Mr. Groat alles, was er über die Pachtbriefe wissen will. Wenn Sie mich dazu brauchen, dann rufen Sie mich.«

 

Jim fand Digby in seinem Raum. Er blätterte in einem Buch, das er sich genommen hatte.

 

»Was bedeutet denn Daktyloskopie?« fragte er und sah zu Jim auf, als er eintrat. »Das Buch handelt von diesem Gegenstand.«

 

»Das ist die Lehre von den Fingerabdrücken«, sagte Jim kurz. Er haßte diese anmaßende Art und war sehr ärgerlich, daß Mr. Groat eines seiner Privatbücher genommen hatte.

 

»Interessieren Sie sich denn für dergleichen?« fragte Groat und stellte den Band wieder an seinen Platz zurück.

 

»Ein wenig. Hier sind die gewünschten Pachtbriefe. Ich habe sie eben oberflächlich durchgesehen. Es gibt keine Klausel darin, die die Errichtung eines Hotels ausschließen könnte.«

 

Groat nahm die Dokumente in die Hand und sah sie Seite für Seite durch.

 

»Nein«, sagte er schließlich, »es steht nichts davon da – Sie haben recht.« Bei diesen Worten legte er das Aktenstück auf den Tisch zurück. »Sie interessieren sich also für Fingerabdrücke? Ich wußte noch nicht, daß sich der alte Salter auch mit Strafprozessen abgibt. – Was ist denn das?«

 

Neben Jims Schreibtisch stand ein Bücherbrett, das mit schwarzen Heften gefüllt war.

 

»Das sind meine Privatnotizen«, erklärte Jim.

 

Digby wandte sich mit einem maliziösen Lächeln um.

 

»Worüber machen Sie sich denn Notizen?« fragte er, und bevor ihn Jim daran hindern könnte, hatte er eins der Hefte in der Hand.

 

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie doch bitten, mein Privateigentum in Ruhe zu lassen«, sagte Jim entschieden.

 

»Tut mir leid – ich dachte, alle Dinge in Salters Kanzlei hätten mit seinen Klienten zu tun.«

 

»Sie sind eben nicht der einzige Klient«, entgegnete Jim. Er konnte sich im allgemeinen gut beherrschen, aber dieser anmaßende Mensch fiel ihm auf die Nerven.

 

»Wozu machen Sie denn das alles?« fragte Groat, als er Seite für Seite umblätterte.

 

Jim stand Mr. Groat am Schreibtisch gegenüber und beobachtete ihn scharf. Plötzlich sah er, daß das gelbe Gesicht des anderen einen Schein dunkler und der Blick der schwarzen Augen hart wurde.

 

»Was bedeutet das?« fragte Groat scharf. »Was, zum Teufel, haben Sie –« Er hielt inne, nahm sich zusammen und lachte. Aber Jim hörte wohl, wie gekünstelt und gequält es klang. »Sie sind ein prächtiger Kerl, Steele«, sagte er in seinem alten, nachlässigen Ton. »Sie sind töricht, sich über diese Dinge den Kopf zu zerbrechen.«

 

Er stellte das Schreibheft an den Platz zurück, von dem er es genommen hatte, nahm einen anderen Pachtbrief und gab sich den Anschein, eifrig darin zu lesen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er schließlich, legte das Aktenstück beiseite und griff zu seinem Hut. »Vielleicht besuchen Sie mich einmal und essen mit mir zu Abend, Steele. Ich habe ein ganz interessantes Laboratorium, das ich mir an der Rückseite meines Hauses am Grosvenor Square erbaut habe. Der alte Salter nannte mich eben Doktor!« Er lachte, als ob das ein guter Scherz sei. »Nun gut, wenn Sie zu mir kommen, kann ich Ihnen verschiedenes zeigen, was zum mindesten meinen Titel rechtfertigt.«

 

Seine großen, dunkelbraunen Augen waren auf ihn gerichtet, als er in der Tür stand.

 

»Nebenbei bemerkt, Mr. Steele – Ihre Privatstudien führen Sie auf ein gefährliches Gebiet, für das Sie selbst ein zweites Viktoriakreuz kaum genügend entschädigen könnte.«

 

Er schloß die Tür behutsam hinter sich. Jim sah ihm stirnrunzelnd nach.

 

›Was meint er nur damit?‹ überlegte er. Dann erinnerte er sich daran, daß Mr. Groat sein Notizbuch in der Hand gehabt hatte. Wahrscheinlich hatte ihm das zu denken gegeben. Er nahm das Heft von dem Brett herunter, schlug die erste Seite auf und las: ›Einige Bemerkungen über die Bande der Dreizehn.‹

 

Kapitel 20

 

20

 

Am nächsten Morgen kam ein Bote mit einem Brief von Eunice in seine Wohnung, und er seufzte, bevor er ihn öffnete. Sie hatte ihn verärgert geschrieben, und er war traurig, als er ihre Zeilen las.

 

»Ich hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, daß Sie es sein könnten, nachdem Sie der Überzeugung Ausdruck gaben, daß eine Frau hinter allem stehe. Das war nicht schön von Ihnen, Jim. Nur um diese Sensation hervorzurufen, haben Sie mich zu Tode erschreckt, als ich die erste Nacht hier verbrachte, damit ich in Ihre offenen Arme fallen sollte. Mir ist jetzt alles klar: Sie können Mr. Groat nicht leiden, und Sie wollten, daß ich sein Haus wieder verlasse. Deshalb haben Sie das alles getan. Es ist sehr schwer, Ihnen zu verzeihen, und es wäre besser, wenn Sie nicht wiederkämen, es sei denn, daß ich Ihnen ausdrücklich schreibe.«

 

»Verdammt«, sagte Jim. Das hatte er nun schon so oft gesagt, seit er sie verlassen hatte.

 

Was konnte er tun? Er hatte schon den sechsten Brief begonnen, aber er zerriß sie alle wieder in kleine Fetzen. Es war so schwierig, ihr zu erklären, wie der Schlüssel in seinen Besitz gekommen war, ohne Lady Mary Dantons Geheimnis zu verraten. Und nun würde sie sich noch weniger als je davon überzeugen lassen, daß Digby Groat ein gewissenloser Schuft war. Die Lage war zum Verzweifeln, und er seufzte aufs neue. Aber plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er ging zu der anderen Wohnung hinüber.

 

Madge Benson öffnete die Tür, und diesmal sah sie ihn etwas liebenswürdiger an.

 

»Die gnädige Frau schläft noch.« Sie wußte, daß Jim erfahren hatte, wer Mrs. Fane war.

 

»Glauben Sie, daß man sie aufwecken darf? Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges.«

 

»Ich will einmal sehen.« Madge Benson verschwand im Schlafzimmer. Nach ein paar Augenblicken kam sie wieder zurück. »Die gnädige Frau ist wach, wollen Sie hereinkommen?«

 

Lady Mary lag vollständig angekleidet auf dem Bett. Sie nahm den Brief aus Jims Hand, den er ihr wortlos übergab.

 

»Haben Sie Geduld«, sagte sie, nachdem sie ihn gelesen hatte. »Sie wird mit der Zeit alles verstehen.«

 

»Aber in der Zwischenzeit kann sich so viel ereignen! Das war das letzte, was hätte geschehen dürfen!«

 

»Kümmern Sie sich nicht darum, und seien Sie auch nicht traurig. Und nun lassen Sie mich bitte schlafen, Mr. Steele. Ich habe in den letzten vierundzwanzig Stunden kein Auge schließen können.«

 

Kaum hatte Eunice den Boten mit dem Brief fortgeschickt, als sie auch schon ihre impulsive Handlungsweise bereute. Sie hatte ihm bittere Dinge gesagt, die sie eigentlich in Wirklichkeit nicht fühlte. Sie hätte ihm verzeihen müssen, denn sie war überzeugt, daß er nur aus Liebe zu ihr so gehandelt hatte. Und sie hatte auch noch einen weiteren Grund, ihren Irrtum einzusehen. Als sie in Digby Groats Bibliotheksraum trat, fand sie ihn dabei, eine große Fotografie zu studieren.

 

»Die Aufnahme ist glänzend gelungen, wenn man bedenkt, daß sie bei künstlichem Licht gemacht worden ist.« Es war eine vergrößerte Fotografie seiner Laboratoriumstür mit dem Aufdruck der blauen Hand. Der Fotograf hatte seine Aufgabe so gut gelöst, daß jede Linie und jede Krümmung der Fingerabdrucke genau zu sehen war.

 

»Das ist die Hand einer Frau«, sagte Digby.

 

»Sind Sie dessen ganz sicher?«

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Natürlich! Betrachten Sie doch die Größe – diese Hand ist doch viel zu klein für einen Mann.«

 

Sie hatte also Jim furchtbar unrecht getan. Aber was hatte er denn in dem Haus zu suchen, und wie war er hereingekommen? Die ganze Sache erschien ihr so unerklärlich, daß sie es aufgab, das Rätsel zu entwirren. Nur eins stand bei ihr fest, sie mußte Jim um Verzeihung bitten.

 

Sobald sie frei war, ging sie zum Telefon, aber Jim war nicht im Büro.

 

»Wer ist denn am Apparat?« fragte der Schreiber.

 

»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte sie und hängte ein.

 

Den ganzen Tag verfolgte sie der Gedanke, daß sie den Mann, den sie liebte, gekränkt hatte. Aber er würde ihr schon wieder schreiben, dachte sie, oder er würde sie anrufen. Wenn das Telefon läutete, war sie jedesmal enttäuscht, wenn sie die Stimme eines Fremden hörte.

 

Der Tag schien ihr endlos lang. Sie hatte fast gar nichts zu tun, und selbst die Unterhaltung mit Digby Groat blieb ihr heute versagt. Er war früh am Morgen ausgegangen, spät am Nachmittag wiedergekommen, hatte nur die Kleider gewechselt und war wieder verschwunden.

 

Sie aß allein zu Abend.

 

Der Gedanke, daß sie diese Stelle bald aufgeben würde, tröstete sie. Sie hatte an ihren alten Chef geschrieben, und er hatte ihr postwendend geantwortet, daß er sich freute, wenn sie wiederkommen wollte. Dann konnte sie Jim jeden Nachmittag beim Tee sehen, und er würde wieder der alte sein.

 

Die Krankenpflegerin ging am Abend aus, und Mrs. Groat schickte nach Eunice. Sie haßte sie zwar, aber noch schlimmer als die Gesellschaft dieses Mädchens war die Einsamkeit.

 

»Bleiben Sie bei mir, bis die Pflegerin wieder zurückkommt. Sie können sich ja ein Buch nehmen und lesen.«

 

Eunice lächelte vor sich hin und suchte sich etwas zum Lesen. Als sie in Mrs. Groats Zimmer zurückkam, sah sie, daß die alte Frau etwas unter ihrem Kissen verbarg. Sie saßen schweigend eine Stunde zusammen. Die alte Frau spielte mit ihren Händen; ihr Kopf war nach vorn gesunken, und sie schien in ihre Gedanken vertieft zu sein. Eunice fiel es schwer weiterzulesen. Jims liebes Gesicht schaute aus jeder Seite hervor, und sie wäre froh gewesen, wenn sie eine Entschuldigung gehabt hätte, das Buch niederzulegen.

 

Aber plötzlich fing Mrs. Groat an zu sprechen.

 

»Woher haben Sie eigentlich diese Narbe am Handgelenk?« fragte sie und schaute auf.

 

»Das weiß ich nicht. Ich hatte sie schon, als ich ein ganz kleines Kind war. Wahrscheinlich habe ich mich an der Stelle verbrannt.«

 

Eine lange Pause folgte.

 

»Wo sind Sie geboren?«

 

»In Südafrika.«

 

Wieder entstand ein längeres Schweigen.

 

»Ich fand eine alte Miniatur von Ihnen, Mrs. Groat«, sagte Eunice endlich aus reiner Verzweiflung.

 

Die alte Frau sah sie von der Seite an.

 

»Von mir? Ach ja, ich besinne mich. Konnten Sie mich denn darauf wiedererkennen?« fragte sie mißvergnügt.

 

»Ja, so müssen Sie vor vielen Jahren ausgesehen haben. Ich konnte eine gewisse Ähnlichkeit feststellen«, erwiderte Eunice diplomatisch. »Ja, früher habe ich so ausgesehen. Halten Sie das Bild für schön? Und glauben Sie, daß ich einmal so ausgesehen habe?«

 

»Ja, Sie müssen sehr schön gewesen sein«, sagte Eunice warm und herzlich, und sie meinte es auch so.

 

»Ja, ich war sehr schön«, sagte die alte Frau mehr zu sich selbst. »Mein Vater wollte mich in einem todeinsamen Dorf lebendig begraben. Er glaubte, daß ich für die Stadt zu schön und dort zu vielen Versuchungen ausgesetzt sei. Er war ein böser, herzloser, alter Mann.«

 

Eunice war betroffen, als sie Mrs. Groat so von ihrem Vater sprechen hörte. Anscheinend wurde das Gebot, die Eltern zu ehren, in dieser Familie nicht sehr geachtet.

 

»Als ich noch ein junges Mädchen war«, fuhr Mrs. Groat fort, »war das Oberhaupt der Familie ein böser Tyrann, der nur zu leben schien, um seine Gewalt seinen Kindern gegenüber zu zeigen. Mein Vater haßte mich von meiner Geburt an, und ich haßte ihn, als ich anfing zu denken.«

 

Eunice erwiderte nichts. Sie hatte nichts dazu getan, sich das Vertrauen dieser alten Frau zu erwerben, und doch interessierte es sie, als Mrs. Groat den Schleier von der Vergangenheit lüftete. Welche Tragödie mochte sich abgespielt haben, um aus diesem früher blühendschönen Mädchen die alte, gebrechliche Frau mit den runzligen Zügen zu machen, die sie vor sich sah?

 

»Männer waren hinter mir her, Miss Weldon«, sagte sie mit merkwürdiger Befriedigung, »Männer, deren Namen in der ganzen Welt bekannt und berühmt waren.«

 

Eunice erinnerte sich an den Marquis von Estremeda und hätte zu gern gewußt, ob ihre Freigebigkeit ihm gegenüber auf ein Liebesverhältnis zurückzuführen war, das früher zwischen den beiden bestanden hatte.

 

»Es gab einen Mann, der mich liebte«, fuhr die alte Frau nachdenklich fort, »aber seine Liebe zu mir war nicht groß genug. Ich muß wohl bei ihm verleumdet worden sein, denn er wollte mich heiraten und brach dann plötzlich die Beziehungen zu mir ab. Er nahm ein einfältiges, hübsches Mädchen aus Malaga zur Frau.«

 

Sie lachte leise vor sich hin. Sie hatte ursprünglich nicht die Absicht gehabt, Eunice Weldon etwas aus ihrem Leben zu erzählen; aber die Erinnerung an frühere Zeiten war irgendwie in ihr wachgerufen worden. Außerdem betrachtete sie Eunice bereits, als ein offizielles Mitglied der Familie. Digby würde ihr das alles früher oder später auch sagen, und so konnte sie es ihr ja mitteilen.

 

»Er war Marquis, ein harter Mann, und er war nicht sehr liebenswürdig zu mir. Mein Vater hat mir niemals verziehen. Und als ich nach Hause zurückkam, hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen, obwohl er noch zwanzig Jahre lebte.«

 

›Nachdem sie nach Hause zurückgekommen war!‹ dachte Eunice. Dann war sie also mit dem Marquis durchgebrannt! Und er hatte sie später im Stich gelassen und das ›einfältige, hübsche Mädchen aus Malaga‹ geheiratet. Allmählich wurden ihr die Zusammenhänge klarer.

 

»Was ist denn aus dem Mädchen geworden?« fragte sie liebenswürdig. Sie erschrak selbst über ihre eigene Frage.

 

»Sie starb«, sagte Mrs. Groat mit einem merkwürdigen Lächeln. »Er behauptete, ich hätte sie getötet. Aber ich habe ihr nur die Wahrheit gesagt.« Sie runzelte die Stirn. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan«, flüsterte sie. »Manchmal kommt ihr Geist in dieses Zimmer und schaut mich mit den tiefen, schwarzen Augen an und sagt mir, daß ich sie getötet habe.«

 

Sie murmelte wieder etwas, und wieder lag Genugtuung in ihrer Stimme. »Als sie hörte, daß mein Kind der Sohn von –« Plötzlich hielt sie inne und schaute sich um. »Wovon habe ich denn gesprochen?« fragte sie verstört.

 

Eunice hatte atemlos zugehört.

 

Nun kannte sie das Geheimnis dieser merkwürdigen Familie. Jim hatte ihr schon manches erzählt. Er hatte ihr von dem kleinen, unbedeutenden Schreiber gesprochen, der Mrs. Groat geheiratet, und den sie so tief verachtet hatte. Er war ein Angestellter ihres eigenen Vaters, den dieser bezahlt hatte, um das Mädchen zu heiraten, damit ihre Schande nicht offenbar wurde.

 

Digby Groat war also der Sohn – des Marquis von Estremeda! Und vor dem Gesetz war er nicht einmal der Erbe der Dantonschen Millionen!

 

Kapitel 21

 

21

 

Eunice konnte die alte Frau nur anstarren.

 

»Lesen Sie doch weiter«, brummte Mrs. Groat vorwurfsvoll.

 

Eunice sah später vorsichtig zu ihr hinüber und begegnete ihrem argwöhnischen Blick.

 

Das mußte sie Jim erzählen. Obgleich sie den Groats verpflichtet war, erschien ihr das unbedingt nötig. Jim war so interessiert an der Verfügung über das Dantonsche Erbe; er mußte es unter allen Umständen wissen.

 

Plötzlich begann die alte Frau wieder zu sprechen.

 

»Was habe ich Ihnen eben gesagt?«

 

»Sie haben von Ihrer Jugend gesprochen.«

 

»Habe ich irgend etwas von einem Mann erzählt?« fragte die Alte argwöhnisch. Sie hatte schon wieder alles vergessen.

 

»Nein«, log Eunice. Aber sie sprach so laut, daß jeder andere sofort gewußt hätte, daß sie nicht die Wahrheit sprach.

 

»Seien Sie vorsichtig mit meinem Sohn«, sagte Mrs. Groat nach einiger Zeit, »widersprechen Sie ihm nicht, er ist kein schlechter Bursche –« Sie schüttelte den Kopf und sah scheu zu dem Mädchen hinüber. »In vielen Beziehungen gleicht er genau seinem Vater.«

 

»Mr. Groat?« fragte Eunice. Sie kam sich selbst schlecht vor, daß sie aus der Geistesgestörtheit der alten Frau Vorteile zog. Aber sie beruhigte ihr Gewissen durch den Gedanken, daß Jim ihre Entdeckungen wissen mußte.

 

»Groat!« brummte die alte Frau verächtlich. »Dieser elende Wurm, nein – ja, natürlich war es Groat. Wer denn sonst?« sagte sie.

 

Von draußen kam ein Geräusch, die alte Frau wandte den Kopf nach der Tür und horchte.

 

»Sie werden mich doch nicht allein lassen, Miss Weldon, bis die Krankenpflegerin zurückkommt?« flüsterte sie. »Wollen Sie es mir versprechen?«

 

»Aber gern«, erwiderte Eunice lächelnd. »Ich bin ja hier, um Ihnen Gesellschaft zu leisten.«

 

Die Tür öffnete sich, und Eunice hörte, wie Mrs. Groat tief aufseufzte, als Digby eintrat. Er war im Gesellschaftsanzug und rauchte eine Zigarette.

 

Einen Augenblick lang schien er von der Anwesenheit des jungen Mädchens überrascht zu sein, aber dann lächelte er.

 

»Die Schwester ist wohl ausgegangen? Wie fühlst du dich heute, Mutter?«

 

»Sehr gut, mein Junge«, sagte sie zitternd. »Wirklich sehr gut. Miss Weldon leistet mir Gesellschaft.«

 

»Das ist ja glänzend. Hoffentlich hat dich Miss Weldon nicht zu sehr erschreckt.«

 

»Aber nein«, sagte Eunice ärgerlich. »Wie können Sie denn annehmen, daß ich Ihre Mutter erschreckte?«

 

»Ich dachte, Sie hätten ihr vielleicht etwas von unserem geheimnisvollen Besucher erzählt«, sagte er lachend und nahm sich einen gepolsterten Stuhl. »Du hast doch nichts dagegen, daß ich rauche, Mutter?«

 

Eunice dachte, daß auch der Einspruch Jane Groats nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht hätte.

 

Aber die alte Frau schüttelte den Kopf und sah Eunice flehend an.

 

»Ich möchte nur die Frau fangen«, sagte Digby und sah dem Rauch seiner Zigarette nach, der zur Decke emporstieg. Mrs. Groat senkte den Blick; sie schien nachzudenken.

 

»Von welcher Frau sprichst du denn, mein Junge?«

 

»Von der Frau, die nachts um das Haus streicht und ihr Zeichen auf der Tür zu meinem Laboratorium zurückgelassen hat.«

 

»Das war sicher ein Einbrecher«, sagte Mrs. Groat wenig besorgt.

 

»Eine Frau und gleichzeitig eine Verbrecherin. Sie ließ deutliche Fingerabdrücke zurück. Ich habe die Fotografie nach Scotland Yard eingesandt, und man hat sie dort mit den Fingerabdrücken einer Frau identifiziert, die eine Gefängnisstrafe in Holloway abgesessen hat.«

 

Eunice wurde durch ein Geräusch aufmerksam und wandte sich nach Mrs. Groat um. Sie hatte sich aufgerichtet und starrte Digby mit ihren dunklen Augen aufgeregt an. Ihr Gesicht zuckte.

 

»Was war das für eine Frau?« fragte sie heiser. »Von wem sprichst du?«

 

Digby schien ebenso erstaunt zu sein wie Eunice, als er den Eindruck wahrnahm, den diese Mitteilung auf seine Mutter machte.

 

»Ich spreche von der Frau, die ins Haus kam und uns hier alle beunruhigte, indem sie ihr Zeichen zurückließ.«

 

»Was meinst du damit?« fragte Mrs. Groat gequält.

 

»Sie hat auf meiner Tür den Abdruck einer blauen Hand –« Bevor er den Satz beenden konnte, war seine Mutter aus dem Bett gesprungen und schaute ihn entsetzt an.

 

»Eine blaue Hand – eine blaue Hand!« rief sie wild. »Wie hieß die Frau?«

 

»Die Polizei hat mir mitgeteilt, daß es Madge Benson ist«, sagte Digby.

 

Eine Sekunde stand Mrs. Groat hochaufgerichtet da.

 

»Eine blaue Hand – blaue Hand«, murmelte sie und wäre zusammengebrochen, wenn Eunice nicht gesehen hätte, daß sie ohnmächtig wurde. Schnell eilte sie auf sie zu und fing sie in ihren Armen auf.

 

Kapitel 15

 

15

 

Jim fuhr zu seiner Wohnung und war so in rosige Träume versunken, daß er jenseits von Zeit und Raum war. Es schien ihm, als ob er eben erst eingestiegen sei, als der Wagen plötzlich mit einem Ruck vor seiner Haustür hielt. Er würde selbst dann noch weitergeträumt haben, wenn ihn der Fahrer nicht etwas unwirsch daran erinnert hätte, daß er noch nicht bezahlt hatte. Das brachte ihn wieder auf die Erde zurück.

 

Als er gerade aufschließen wollte, öffnete sich die Tür, und eine Dame, die von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war, ging an ihm vorüber. Sie eilte zu einem Auto, das einige Schritte von der Haustür entfernt hielt. Wer mochte sie nur sein? Verwundert schaute er hinter ihr her.

 

Aber er hatte sie bald wieder vergessen, denn der Zauber der Erinnerung an all das, was er soeben durchlebt hatte, war noch zu mächtig. Eine Stunde lang saß er in seinem großen Armsessel, schaute träumend ins Leere und rief sich jede Kleinigkeit des Abends ins Gedächtnis zurück. Er war selig und konnte kaum glauben, daß dieses halbgöttliche Wesen wirklich ihm gehören sollte. Mit einem tiefen Seufzer erhob er sich. Er hatte nur ein kleines Einkommen und mußte sehen, es bedeutend zu steigern, bevor er diese schöne Frau bitten durfte, sein Los zu teilen.

 

Er schaute gleichgültig auf den Tisch. Am Nachmittag hatte er alles notiert, was sich auf den Fall bezog. Das Buch lag auch noch dort, aber –

 

Er hätte darauf schwören können, daß er es offen hatte liegenlassen, denn er hatte ein gutes Gedächtnis für kleine Nebenumstände. Er erkannte jetzt auch, daß das Buch nicht nur geschlossen war, sondern auch an einer anderen Stelle lag.

 

Jeden Morgen kam eine Aufwartefrau zu ihm, die sein Bett machte und die Wohnung reinigte. Sie hatte keinen Schlüssel, und er ließ sie selbst herein. Gewöhnlich kam sie, wenn er dabei war, sich selbst das Frühstück zu bereiten, was eine besondere Liebhaberei von ihm war.

 

Er öffnete das Buch und wäre fast aufgesprungen. Zwischen den Seiten an der Stelle, wo er aufgehört hatte, zu schreiben, lag ein merkwürdiger Schlüssel. Es war ein kleiner Zettel mit der Aufschrift ›D. G.’s Hauptschlüssel‹ daran gebunden.

 

Es war kein Zeichen einer blauen Hand hinzugefügt, aber er erkannte die Handschrift wieder; es war dieselbe wie auf der grauen Karte, die Eunice damals gefunden hatte.

 

Die Dame in Schwarz war in seiner Wohnung gewesen und hatte ihm die Möglichkeit beschert, Digby Groats Haus zu betreten: den Schlüssel …

 

Jim stand starr vor Staunen!