Kapitel 46

 

46

 

Eunice starrte auf die Tür. Sie irrte sich nicht. Der Riegel war erst kürzlich entfernt worden.

 

Der ›Pealigo‹ schaukelte jetzt stärker, und sie konnte nur schwer ihr Gleichgewicht behalten. Dennoch ging sie in der Kabine umher, nahm alle Stühle, Tische und alles bewegliche Mobiliar und türmte es gegen die Tür auf. Sie durchsuchte alle Schubladen nach irgendeinem Instrument oder einer Waffe, die der frühere Besitzer vielleicht zurückgelassen hatte. Aber sie konnte nichts anderes finden als eine mit Gold überzogene Haarbürste, die der reiche Maxilla übersehen hatte. Auch in den anderen Räumen war nichts zu entdecken.

 

Stunde um Stunde verging. Sie saß in einem Sessel und beobachtete die Tür. Es wurde kein Versuch gemacht, ihre Kabine zu betreten. An Deck schlug in Zwischenräumen eine Glocke. Sie zählte acht Schläge. Es war Mitternacht. Wie lange würde es noch dauern, bis Digby Groat kam?

 

Der saß in diesem Augenblick bleich und zitternd in der Funkkabine und las eine Botschaft, die eben aufgefangen worden war. Ein Teil war in Code abgefaßt und anscheinend an die Kriegsschiffe gerichtet, aber der größere Teil war in offener Sprache und lautete:

 

›An die Kapitäne und ersten Offiziere aller Schiffe, an die Kommandanten aller Schiffe Seiner Majestät, an alle Friedensrichter und alle Polizeibeamten von Großbritannien und Irland. Verhaften Sie Digby Groat, und setzen Sie ihn gefangen. Größe 1,70 Meter, kräftige Gestalt, dunkle Gesichtsfarbe. Kleiner, dunkler Schnurrbart, der vielleicht abrasiert ist. Spricht Spanisch, Französisch, Portugiesisch, hat Arztexamen bestanden. Ist wahrscheinlich an Bord der Jacht ›Pealigo‹. Dieser Mann wird steckbrieflich verfolgt wegen Mordes und Bandenverbrechens. Auf seine Ergreifung ist von Rechtsanwalt Mr. Salter in London eine Belohnung von fünftausend Pfund ausgesetzt. Es wird vermutet, daß in seiner Gesellschaft Dorothy Danton reist, die von ihm gefangengehalten wird. Alter zweiundzwanzig. Groat ist gefährlich und trägt Feuerwaffen.‹

 

Der kleine Kapitän des ›Pealigo‹ nahm die dünne Zigarre aus dem Munde und betrachtete aufmerksam die graue Asche. Dann schaute er wieder auf das bleiche Gesicht des Mannes.

 

»Sie verstehen, Sir«, sagte er höflich, »ich bin in einer sehr schwierigen Lage.«

 

»Ich dachte, Sie könnten nicht Englisch sprechen«, erwiderte Digby, der endlich seine Sprache wiederfand.

 

Der kleine Kapitän lächelte. »Ich kann genug Englisch lesen, um zu verstehen, was eine Belohnung von fünftausend Pfund bedeutet, Sir. Und wenn ich es nicht verstände, so spricht doch mein Funker verschiedene Sprachen, einschließlich Englisch. Der würde mir das schon erklärt haben, wenn ich es nicht selbst verstanden hätte …«

 

Digby sah ihn frostig an. »Was wollen Sie tun?«

 

»Das hängt ganz davon ab, was Sie zu tun für richtig halten. Ich bin kein Verräter, und ich möchte Ihnen gern zu Diensten sein. Aber Sie begreifen doch, daß es eine böse Sache für mich ist, wenn ich Sie bei Ihrer Flucht unterstütze, obwohl ich weiß, daß Sie von der englischen Polizei gesucht werden. Ich bin nicht engherzig«, meinte er achselzuckend. »Señor Maxilla hat auch allerhand gemacht, worüber ich ein Auge zugedrückt habe. Es wären aber meistens Weibergeschichten, niemals Mord.«

 

»Ich bin kein Mörder, das sage ich Ihnen doch«, rief Digby wild und heftig. »Sie sind unter meinem Befehl. Haben Sie mich verstanden?«

 

Er sprang auf und stand drohend vor dem Brasilianer, der sich jedoch nicht aus der Fassung bringen ließ. Plötzlich blitzte eine Waffe in Digbys Hand auf.

 

»Sie werden meine Befehle sorgfältig bis zum letzten Buchstaben ausführen oder bei Gott –«

 

Aber der Kapitän des ›Pealigo‹ betrachtete nur die Asche seiner Zigarre. »Es ist nicht das erstemal, daß man mich mit einem Revolver bedroht«, sagte er kühl. »Vor Jahren, als ich sehr jung war, hat mir das einmal Furcht eingejagt. Heute bin ich nicht mehr jung. Ich habe eine Familie in Brasilien, die mich viel Geld kostet. Mein Gehalt ist klein, sonst würde ich nicht mein Leben auf der See zubringen und mich soweit erniedrigen, alle Wünsche und Launen meiner Herren zu erfüllen. Wenn ich hunderttausend Pfund hätte, würde ich mir eine Plantage kaufen, mich dort niederlassen und glücklich, zufrieden und schweigsam den Rest meines Lebens zubringen.«

 

Er betonte das Wort ›schweigsam‹, und Digby verstand sehr wohl, was er damit sagen wollte. »Könnten Sie das nicht für etwas weniger als ausgerechnet hunderttausend Pfund tun?«

 

»Ich habe mir die Sache wohl überlegt. Wir Seeleute haben viel Zeit zum Nachdenken. Hunderttausend Pfund sind nun einmal für mich die Summe, die es mir ermöglichen würde, ein ruhiges Leben zu führen.« Er schwieg einen Augenblick, fuhr dann aber fort: »Deshalb habe ich auch wegen der ausgesetzten Belohnung gezögert. Hätte die Radiobotschaft hunderttausend Pfund angegeben, dann wäre mein Entschluß schon gefaßt.«

 

Digby wandte sich wütend nach ihm um. »Sprechen Sie aufrichtig und offen! Ich soll Ihnen also hunderttausend Pfund zahlen. Das ist der Preis, um den Sie mich sicher ans Ziel bringen werden? Sonst wollen Sie zum nächsten Hafen zurückkehren und mich den Behörden übergeben?«

 

Der Kapitän zuckte die Schultern. »Ich habe nichts Derartiges gesagt, Sir. Ich habe nur eine kleine, private Angelegenheit erwähnt und wäre froh gewesen, wenn Sie sich dafür interessiert hätten. Der gnädige Herr wünscht ja auch, in Brasilien glücklich zu leben, und zwar mit der schönen Dame, die er mitgebracht hat. Der gnädige Herr ist kein armer Mann, und wenn es wahr ist, daß die hübsche Dame ein großes Vermögen erbt, wird er ja noch reicher werden.«

 

Der Funker schaute zur Tür herein. Er wäre gern wieder in seine eigene Kabine gegangen, aber der Kapitän schickte ihn mit einer seitlichen Kopfbewegung wieder hinaus. Er sprach jetzt ganz leise. »Wäre es denn nicht möglich, daß ich zu der jungen Dame ginge und sagte: ›Mein Fräulein, Sie sind in großer Gefahr; auch ich muß mich in acht nehmen, daß ich nicht ins Gefängnis komme. Was würden Sie mir dafür zahlen, daß ich eine Schildwache vor Ihre Tür stellen, Señor Digby Groat in Eisen schließen und in einen sicheren Raum einsperren lasse?‹ Glauben Sie nicht, daß sie mir dafür hunderttausend Pfund geben würde, eventuell sogar die Hälfte ihres Vermögens?«

 

Digby schwieg. Der Verrat, den dieser Mann an ihm beging, war offenbar. Er gab sich nicht mehr die Mühe, ihn mit schönen Phrasen zu verbrämen, er hatte ihm die Wahrheit brutal und offen ins Gesicht gesagt. »Also gut.« Er erhob sich mit niedergeschlagenen Augen von der Tischkante, auf der er gesessen hatte. »Ich werde Ihnen die Summe zahlen.«

 

»Warten Sie noch. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die ich Ihnen nicht verschweigen will. Nehmen Sie einmal an; ich sei ihr Freund, oder ich gebe wenigstens vor, es zu sein, und würde ihr anbieten, sie zu beschützen, bis wir einen Hafen erreichen, wo ich sie an Land setzen kann. Könnten wir uns dann nicht beide in die Belohnung teilen?«

 

»Ich denke gar nicht daran, sie aufzugeben«, sagte Digby wütend. »Diesen Plan können Sie ruhig vergessen, und ebenso die Bemerkung, daß Sie mich in Eisen legen wollen. Bei Gott, wenn Sie das meinten, dann –« Er schaute düster auf den kleinen Mann, der nur lächelte.

 

»Wer hat überhaupt eine richtige Meinung in diesem schrecklichen Klima?« fragte er nachlässig. »Sie werden mir das Geld morgen in meine Kabine bringen. Aber nein – besser heute abend«, fügte er nachdenklich hinzu.

 

»Ich werde es Ihnen morgen bringen.«

 

Der Kapitän zuckte die Schultern. Er bestand nicht auf seiner Forderung, und Digby blieb mit seinen Gedanken allein. Er hatte noch eine, sogar zwei Hoffnungen. Man konnte ihm nicht beweisen, daß er Fuentes erschossen hatte, und es war schwierig, die Jacht aufzugreifen, wenn sie den Kurs verfolgte, den der Kapitän ausgearbeitet hatte. Und in der Zwischenzeit war ja Eunice da. Seine Lippen kräuselten sich, und seine Wangen röteten sich wieder. Er ging das Deck entlang und trat in den Gang. Aber es stand ein breitschultriger, brauner Mann vor der Tür des Mädchens, der zwar zum Gruß die Hand an die Mütze legte, als der Besitzer der Jacht erschien, im übrigen aber nicht von der Stelle wich.

 

»Gehen Sie aus dem Weg«, sagte Digby ungeduldig. »Ich will in die Kabine.«

 

»Das ist nicht erlaubt«, erwiderte der Matrose.

 

Digby trat einen Schritt zurück, dunkelrot vor Ärger. »Wer gab Ihnen den Befehl, hier zu stehen?«

 

»Der Kapitän.«

 

Digby eilte die Treppe hinauf und fand den Kapitän auf der Brücke. »Was soll das bedeuten?«

 

Der Kapitän richtete einige Worte in Portugiesisch an ihn.

 

Digby schaute auf und gewahrte einen dünnen, weißen Lichtkegel, der das Meer absuchte.

 

»Es ist ein Kriegsschiff. Möglich, daß es nur eine Übung abhält«, sagte der Kapitän, »aber es kann auch nach uns Ausschau halten.«

 

Er gab einen kurzen Befehl, und plötzlich wurden alle Lichter an Bord gelöscht. Der ›Pealigo‹ drehte in einem Halbkreis um und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. »Wir müssen einen Umweg machen, um hier vorbeizukommen«, erklärte er. Digby vergaß im Augenblick die Schildwache vor der Kabinentür.

 

Links und rechts schwankte der Lichtkegel über die Wasserfläche, aber der Strahl berührte den ›Pealigo‹ nicht. Jetzt wurde er nach der Stelle gerichtet, wo die Jacht gewendet hatte, und nur um wenige Meter ging der helle Schein am Schiff vorbei.

 

»Wohin fahren wir jetzt?« fragte Digby mürrisch.

 

»Zunächst zehn Meilen zurück, dann werden wir versuchen, zwischen dem Schiff und der irischen Küste durchzukommen. Irland liegt dort.« Er zeigte auf den Horizont, wo sich der Lichtschein eines Leuchtturmes zeigte und dann wieder verschwand.

 

»Wir verlieren aber wertvolle Zeit«, sagte Digby vorwurfsvoll.

 

»Es ist besser, Zeit zu verlieren als die eigene Freiheit«, meinte der Kapitän philosophisch.

 

Digby mußte sich an der Reling festhalten. Sein Mut sank, als das Licht des Scheinwerfers in der Nähe weitersuchte. Aber sie hatten Glück.

 

Sie waren eben der Gefahr entkommen, als sich Digby wieder daran erinnerte, warum er auf die Kommandobrücke gekommen war. »Was soll das heißen, daß Sie einen Wachtposten vor die Kabine der Dame gestellt haben?«

 

Der Kapitän war in das Deckhaus gegangen und beugte sich über eine Seekarte der britischen Admiralität. Er antwortete nicht, und Digby mußte seine Frage wiederholen. Dann richtete er sich steif auf. »Die Zukunft der Dame hängt ganz davon ab, wie Sie Ihr Versprechen halten, Sir«, erwiderte er höflich in seiner Muttersprache.

 

»Aber ich habe Ihnen doch versprochen –«

 

»Sie haben aber das Versprechen noch nicht eingelöst.«

 

»Sie werden doch nicht an meinen Worten zweifeln?«

 

»Ich zweifle nicht daran. Wenn Sie mir das Geld in meine Kabine bringen, kann ich diese Angelegenheit ja regeln.«

 

Digby dachte einen Augenblick nach. Sein Interesse an Eunice hatte stark nachgelassen, als diese neuen Gefahren auf ihn einstürmten. Es war eigentlich kein Grund vorhanden, warum er schon heute abend bezahlen sollte. Wenn er gefangen werden sollte, hatte er das Geld umsonst ausgegeben. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß es dann erst recht für ihn verloren sei.

 

Er ging in seine Kabine, die kleiner und weniger luxuriös ausgestattet war als die von Eunice. Er schob einen Armsessel an den kleinen Schreibtisch, setzte sich nieder und überdachte die Lage. Im Laufe der Stunden änderte er seine Meinung. Die Gefahr schien doch sehr weit ab zu liegen, aber Eunice war in nächster Nähe. Und wenn er in wirkliche Bedrängnis kam, konnte er ja mit allem Schluß machen, auch mit ihr. Das Geld hatte dann ebensoviel Wert für ihn wie der Schaum der Wellen, der gegen seine Fenster spritzte.

 

Hinter dem Schreibtisch war ein kleiner Geldschrank eingebaut. Er schloß ihn auf, nahm den großen Geldgürtel heraus, leerte eine der großen Taschen und legte die Banknoten auf das Pult. Es waren große Scheine, von denen jeder zehntausend Dollar Wert hatte. Er zählte vierzig ab, steckte die anderen zurück und verschloß sie wieder im Geldschrank. Es war jetzt halb sechs, und der Horizont im Osten färbte sich heller.

 

Digby steckte das Geld in die Tasche, um mit dem Kapitän zu reden. Ihn fror im kalten Morgenwind, als er aufs Deck trat. Der kleine Brasilianer hatte einen Mantel angezogen und den Kragen hochgeschlagen. Er stand oben auf der Kommandobrücke und starrte über die graue Wasserwüste. Ohne ein Wort zu verlieren, trat Digby an ihn heran und gab ihm das Paket Banknoten in die Hand. Der Brasilianer schaute auf das Geld, zählte es mechanisch durch und ließ es dann in seine Tasche gleiten.

 

»Euer Exzellenz sind sehr freigebig.«

 

»Nehmen Sie jetzt die Schildwache von der Tür zurück!«

 

»Warten Sie hier«, sagte der Kapitän und ging nach unten.

 

Einige Minuten später kam er zurück.

 

Kapitel 47

 

47

 

Während Digby Groat in seiner Kabine saß und alle Möglichkeiten überlegte, hörte Eunice, wie sich Schritte ihrer Tür näherten. Es war ein Uhr nachts.

 

Sie war davon überzeugt, daß es Digby sei. Sie sah, daß die Türklinke langsam heruntergedrückt wurde, und die Türflügel sich einen Spalt öffneten. Weiter ging es nicht, ohne die Tische und Stühle, die Eunice dahinter aufgebaut hatte, umzustoßen. Sie war vor Schrecken ganz starr, als die Tür noch etwas weiter aufgedrückt wurde.

 

»Fürchten Sie sich nicht«, sagte dann jemand.

 

Es war nicht Digby. Schnell sprang sie auf.

 

»Wer ist dort?« fragte sie.

 

»Ich bin der Kapitän.«

 

»Was wollen Sie?«

 

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Miss. Aber Sie müssen erst die Dinge wegstellen, die Sie hinter der Tür aufgebaut haben, sonst muß ich zwei Matrosen rufen, für die es eine Kleinigkeit ist, den Kram beiseite zu schieben.«

 

Er hatte die Tür nur. so weit geöffnet, daß er durchschauen konnte. Mit einem Seufzer erkannte Eunice die Nutzlosigkeit ihrer Barrikade und zog die Möbel zur Seite. Der kleine Kapitän ging lächelnd hinein und schloß die Tür hinter sich. Er hatte seine Mütze in der Hand.

 

»Gestatten Sie, Miss«, sagte er höflich und stellte alles wieder an seinen Platz. Dann öffnete er die Tür und schaute hinaus. Eunice sah, daß ein großer Matrose dort stand, der ihr den Rücken zukehrte. Offenbar war er ein Wachtposten. Sie war gespannt, was das bedeuten sollte, aber der Kapitän erklärte es ihr bald.

 

»Meine Dame«, sagte er mit fremdem Akzent, »ich bin ein armer Seemann, der seinen gefährlichen Beruf für zweihundert elende Milreis monatlich ausübt. Aber wenn ich auch arm und von niederer Herkunft bin, so habe ich doch ein Herz.« Er schlug sich auf die Brust. »Es widerstrebt mir, daß einer Frau etwas zuleide getan wird!«

 

Sie war gespannt, was er jetzt sagen würde und glaubte schon, daß er ihr gegen Zahlung einer Geldsumme anbieten würde, seinen Herrn zu verraten. Wenn das der Fall war, würde sie freudig einstimmen, aber diese Hoffnung wurde durch seine nächsten Worte wieder zerstört.

 

»Mein Freund Groat ist mein Herr, ich muß seinen Befehlen gehorchen, und wenn er sagt: ›Fahren Sie nach Callao oder nach Rio de Janeiro‹, dann muß ich es tun.«

 

Ihr Mut sank, aber anscheinend hatte er noch mehr zu sagen.

 

»Als Kapitän muß ich seinen Anordnungen folgen, aber ich kann nicht dulden, daß eine Frau hier an Bord zu Schaden kommt. Verstehen Sie mich?«

 

Sie nickte. Ein neuer Hoffnungsschimmer tauchte in ihrem Herzen auf.

 

»Ich selbst kann nicht die ganze Zeit hier sein, und auch meine starken Matrosen können nicht immer Wache stehen, daß Ihnen nichts geschieht. Aber es würde mir nicht zur Ehre gereichen, wenn Sie irgendwie beleidigt würden!«

 

Offenbar war dieser weitblickende Kapitän sehr vorsichtig und wollte allen Teilen gerecht werden. Er suchte nach einem Kompromiß, der ihn wenigstens von seiner Verantwortlichkeit seinem Herrn gegenüber entlastete.

 

»Würde die junge Dame vielleicht so gut sein, diese Waffe zu nehmen?«

 

Sie nahm die Pistole mit einem halb unterdrückten Freudenschrei.

 

»Und wenn Sie sich später daran erinnern werden, daß José Montigano Ihnen gegenüber als ein guter Freund gehandelt hat, werde ich mich glücklich schätzen.«

 

»Oh, ich danke Ihnen, Kapitän, ich danke Ihnen vielmals.« Sie drückte ihm die Hand.

 

»Also erinnern Sie sich.« Er hob warnend den Finger. »Mehr kann ich nicht tun. Ich spreche jetzt als Herr zu einer Dame. Aber nachher bin ich wieder der Kapitän, der einen Herrn über sich hat. Sie verstehen, daß das ein großer Unterschied ist?«

 

Er hatte sie ein wenig verwirrt, aber sie ahnte wenigstens, was er sagen wollte.

 

Er machte eine kleine Verbeugung und ging hinaus.

 

Aber gleich darauf kam er zurück.

 

»Es hat keinen Zweck, Tische und Stühle gegen die Tür zu stellen. Das ist besser.« Er zeigte bedeutungsvoll auf den Revolver. Dann entfernte er sich lächelnd.

 

Kapitel 4

 

4

 

»Du langweilst mich zu Tode, Mutter«, sagte Digby Groat, »wenn du mir immer wieder dieselben Geschichten erzählst.« Er goß sich ein Glas Portwein ein. »Es kann dir doch genügen, wenn ich dir sage, daß ich die junge Dame als Sekretärin herhaben will. Ob du etwas für sie zu tun hast oder nicht, ist mir gleichgültig. Aber eins mußt du dir merken: Sie darf niemals den Eindruck bekommen, daß sie aus einem anderen Grund engagiert ist, als deine Briefe zu schreiben oder deine Korrespondenz zu erledigen.«

 

Die Frau, die ihm auf dem Sofa gegenübersaß, sah älter aus, als sie in Wirklichkeit war. Jane Groat war über sechzig, aber manche hielten sie für zwanzig Jahre älter. Ihr gelbliches Gesicht war von vielen Runzeln und Falten durchzogen, und auf ihren blassen Händen traten die blauen Adern hervor. Nur ihre dunkelbraunen Augen machten noch einen lebendigen Eindruck, und in ihrem Blick lag Neugierde, beinahe Furcht. Ihre Gestalt war gebeugt. Ihr Benehmen ihrem Sohn gegenüber war fast kriechend, Sie sah ihm nicht in die Augen – sie sah überhaupt selten jemand an.

 

»Die wird hier herumspionieren, sie wird stehlen!« sagte sie mit weinerlicher Stimme.

 

»Nun sei aber ruhig von dem Mädchen«, sagte er böse. »Und da wir uns nun einmal allein sprechen, möchte ich dir etwas sagen.«

 

Ihre unsteten Blicke schweiften nach rechts und links, aber sie vermied es ängstlich, seinen Augen zu begegnen. Es lag eine Drohung in seinen Worten, die sie nur allzu gut kannte.

 

»Sieh einmal hierher!«

 

Er hatte einen Gegenstand aus seiner Tasche gezogen, der im Licht der Tischlampe blitzte und glänzte.

 

»Was ist es denn?« fragte sie kläglich, ohne aufzuschauen.

 

»Ein Diamantenarmband!« rief er vorwurfsvoll. »Es gehört Lady Waltham. Wir waren das Wochenende auf ihrem Gut. Sieh her!«

 

Seine Stimme war rauh und schrill, und sie senkte den Kopf und begann zu weinen.

 

»Ich habe es in deinem Zimmer gefunden, du alte Diebin!« zischte er sie an. »Kannst du dir diese entsetzliche Sache nicht abgewöhnen?«

 

»Es sah doch so schön aus«, schluchz je sie, und die Tränen rannen ihr über die hageren Wangen. »Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, wenn ich schöne Dinge sehe.«

 

»Du weißt doch, daß das Dienstmädchen von Lady Waltham verhaftet wurde, weil sie in dem Verdacht steht, das Armband gestohlen zu haben. Wenn nichts geschieht, wird sie zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.«

 

»Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen«, wiederholte sie mit tränenerstickter Stimme.

 

Er warf das Armband mit einem Fluch auf den Tisch.

 

»Jetzt kann ich es der Dame wieder zurückschicken und muß ihr in einem Brief etwas vorlügen, daß es aus Versehen in deinen Koffer gekommen ist! Ich tue es nicht, um dem Dienstmädchen zu helfen, sondern um meines guten Rufes willen.«

 

»Jetzt weiß ich, warum du das Mädchen ins Haus nimmst – sie soll mich nur ausspionieren!«

 

Seine Lippen kräuselten sich verächtlich.

 

»Da hätte sie wohl eine schwere Aufgabe«, erwiderte er ironisch und lachte heiser, als er sich erhob.

 

Mit harter Stimme sagte er: »Du mußt mit dieser üblen Angewohnheit, alle Dinge zu stehlen, die dir gefallen, unter allen Umständen brechen. Ich habe die Absicht, bei den nächsten Wahlen ins Parlament zu kommen, und ich will meine gesellschaftliche Stellung nicht durch eine alte, verrückte Diebin erschüttert sehen. Wenn in deinem Kopf etwas nicht ganz in Ordnung ist«, fügte er drohend hinzu, »so weißt du, daß ich ein kleines Laboratorium habe, wo wir den Schaden reparieren können.«

 

Sie zuckte erschreckt zusammen. Entsetzen und Furcht zeigten sich in ihren Zügen.

 

»Du – das wirst du doch nicht tun – mein eigener Sohn!« stammelte sie. »Ich bin vollkommen gesund – es ist nur –«

 

»Vielleicht kommt es doch daher, daß du irgendeinen Druck im Gehirn hast«, sagte er kalt. »Dergleichen muß durch Operation entfernt werden –«

 

Sie hatte ihren Stuhl zurückgeschoben und das Zimmer fluchtartig verlassen, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Er nahm das Armband, sah verächtlich darauf und steckte es wieder in die Tasche. Ihre krankhafte Neigung kannte er nun schon seit langer Zeit. Er hatte alles versucht, sie davon abzubringen und glaubte auch, daß es ihm gelungen wäre. Um so mehr war er durch dieses letzte Vorkommnis verbittert. Er ging in die Bibliothek, wo kostbare Bücherschränke aus Rosenholz standen. Ein silbernes Gitter war vor dem Kamin befestigt, und die ganze Ausstattung zeigte den größten Luxus. Er setzte sich nieder und schrieb einen Brief an Lady Waltham. Er packte das Armband und den Brief sorgfältig in einen kleinen Kasten und klingelte dann. Ein Mann in mittleren Jahren mit einem dunklen, abstoßenden Gesicht kam herein.

 

»Jackson, bringen Sie das sofort zu Lady Waltham. Meine Mutter geht heute abend in ein Konzert – wenn sie fort ist, durchsuchen Sie ihre Räume genau.«

 

»Das habe ich schon getan, Mr. Groat, aber ich konnte nichts finden.« Er war im Begriff zu gehen, als Digby ihn zurückrief.

 

»Haben Sie der Haushälterin – gesagt, daß sie sich um das Zimmer für Miss Weldon kümmert?«

 

»Jawohl, Sir. Sie wollte ihr zuerst ein Zimmer im obersten Stock geben, wo das Personal schläft, aber das habe ich nicht zugelassen.«

 

»Sie soll das beste Zimmer im ganzen Haus bekommen. Sorgen Sie dafür, daß der ganze Raum mit Blumen geschmückt ist. Stellen Sie auch noch den Bücherschrank und den chinesischen Tisch in ihr Zimmer, die jetzt bei mir stehen.«

 

Der Mann nickte.

 

»Und wie soll das mit dem Schlüssel werden, Sir?« fragte er zögernd.

 

»Meinen Sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer?« fragte Digby und schaute auf.

 

Der Mann nickte. »Wünschen Sie, daß man die Tür von innen abschließen kann?« fragte er bedeutungsvoll.

 

Mr. Groats Lippen zogen sich böse zusammen.

 

»Sie sind verrückt!« sagte er. »Natürlich will ich, daß man die Tür von innen verschließen kann. Bringen Sie auch einen Riegel an, wenn keiner vorhanden sein sollte.«

 

Jackson schaute erstaunt auf.

 

Zwischen den beiden schien ein engeres Verhältnis zu bestehen als gewöhnlich zwischen Herr und Diener.

 

»Ist Ihnen schon jemals ein Mann namens Steele begegnet?« fragte Digby plötzlich.

 

Jackson schüttelte den Kopf. »Wer ist das?« fragte er.

 

»Der Sekretär eines Rechtsanwaltes. Tun Sie sich nach ihm um, und beobachten Sie ihn gelegentlich, wenn Sie einmal freie Zeit haben – aber nein, lassen Sie die Sache lieber Bronson machen. Er wohnt ja in Featherdale Mansions.«

 

*

 

Eunice Weldon hatte ihre wenigen Habseligkeiten gepackt, der Wagen wartete vor der Tür. Es tat ihr nicht leid, daß sie die dumpfe, unordentliche Wohnung aufgeben mußte, in der sie nun die beiden letzten Jahre gewohnt hatte. Der Abschied von der etwas nachlässigen Wirtin fiel ihr nicht schwer, und sie konnte Jim Steeles Ansicht nicht teilen, der mit ihrer neuen Stellung so unzufrieden war.

 

Sie war noch zu jung, um einen neuen Posten nicht als den Beginn eines geheimnisvollen Abenteuers anzusehen, der alle möglichen, wunderbaren Ereignisse in sich barg. Sie seufzte, als sie daran dachte, daß diese kleinen Gespräche beim Tee, die eine so angenehme Unterbrechung ihres alltäglichen Lebens waren, nun aufhören mußten. Und doch war sie davon überzeugt, daß Jim alle Anstrengungen machen würde, sie wiederzusehen.

 

Sie würde Stunden, ja vielleicht sogar halbe Tage für sich haben. Plötzlich erinnerte sie sich daran, daß sie nicht einmal seine Adresse hatte! Aber er kannte ja ihren Aufenthaltsort. Dieser Gedanke beruhigte sie, denn sie hätte ihn gar zu gern wiedergesehen. Sie sehnte sich mehr nach ihm, als sie es jemals geglaubt hatte. Wenn sie die Augen schloß, erschien ihr sein schönes Gesicht, und seine lachenden, blauen Augen sahen sie treuherzig an. Die Bewegung seiner Schultern, wenn er ging, der Klang seiner Stimme beim Sprechen, alle seine charakteristischen Eigentümlichkeiten standen klar vor ihr.

 

Und der Gedanke, daß sie ihn nicht wiedersehen sollte –

 

›Aber ich will ihn sehen, ich muß ihn sehen‹, sagte sie zu sich selbst, als das Auto vor dem imposanten Portal ihrer neuen Wohnung am Grosvenor Square hielt.

 

Sie war bestürzt, als sie die große Schar der Diener sah, die herauskam, um ihr behilflich zu sein. Aber es tat ihr doch gut.

 

»Mrs. Groat möchte Sie sehen, Miss«, sagte ein finster dreinschauender Mann.

 

Sie wurde in einen kleinen Raum auf der Rückseite des Hauses gebracht, der ihr dürftig möbliert erschien, obwohl ihn Mrs. Groat schon für luxuriös ausgestattet hielt.

 

Die alte Frau lehnte jede Ausgabe für Dekorationen oder schöne Möbel ab. Nur die Furcht vor ihrem Sohn hielt sie davon ab, sich über jeden kleinen Betrag aufzuregen, der für sie ausgegeben wurde. Eunice war enttäuscht über ihre Unterhaltung mit der Frau. Sie hatte Mrs. Groat nur in dem fotografischen Atelier in vornehmer Kleidung gesehen, und nun saß eine alte, dürftig gekleidete Frau mit wachsgelbem Gesicht vor ihr und musterte sie mit feindseligen Blicken.

 

»Sie sind also die junge Dame, die meine Sekretärin werden soll?« fragte sie vorwurfsvoll. »Haben Sie schon Ihr Zimmer gesehen?«

 

»Noch nicht, Mrs. Groat.«

 

»Ich hoffe, daß es Ihnen hier gefallen wird«, sagte Mrs. Groat mit einer Stimme, die vermuten ließ, daß sie am liebsten das Gegenteil gesagt hätte.

 

»Wann kann ich mit meiner Tätigkeit beginnen?« fragte Eunice, die sich in dieser Umgebung durchaus nicht wohl fühlte.

 

»Sie können jederzeit beginnen«, erwiderte die alte Frau schnell und sah sie argwöhnisch von der Seite an. »Sie sind sehr schön«, sagte sie mürrisch, und Eunice errötete, denn das Kompliment erschien ihr fast wie eine Beleidigung. »Das wird wohl auch der Grund sein«, sagte Mrs. Groat abwesend.

 

»Wofür denn?« fragte Eunice liebenswürdig.

 

Sie hatte den Eindruck, daß diese Frau geistesschwach war, und hatte schon alle Lust an der neuen Stellung verloren.

 

»Das hat nichts hiermit zu tun«, sagte die alte Frau und entließ sie mit einem Kopfnicken.

 

Das Zimmer, in das sie jetzt geführt wurde, erschien ihr über alle Maßen schön, und sie war zuerst sprachlos über all diesen Luxus.

 

»Sind Sie auch sicher, daß ich hier wohnen soll?« fragte sie ungläubig.

 

»Jawohl, Miss«, sagte die Haushälterin und sah das Mädchen sonderbar an.

 

»Aber das ist doch eigentlich zu prächtig und schön für mich!«

 

Der Raum wäre selbst in einem Schloß aufgefallen. Die Wände waren mit Brokatseide überzogen, und die Möbel waren sehr kostbar. Ein französisches Bett, das in der reichsten Weise geschnitzt und vergoldet war, lud zur Ruhe ein. Ein großer Baldachin aus prächtiger Seide war darüber angebracht. Draußen sah sie einen Balkon, der mit farbenprächtigen Blumen geziert war. Sie stand auf einem dicken, dunkelblauen Teppich, mit dem der ganze Raum ausgeschlagen war, und schaute staunend auf diese Pracht.

 

Der reichgeschnitzte Toilettentisch war im Stil Louis XV. gehalten und hatte eine goldeingelegte Platte. Der dazugehörige Kleiderschrank mußte allein ein Vermögen gekostet haben. In der Nähe des Fensters stand ein hübscher Schreibtisch, und ein prachtvoller Bücherschrank mit wunderbaren Ganzlederbänden war vom Bett aus zu erreichen.

 

»Aber das ist doch gar nicht möglich, daß ich hier wohnen soll«, sagte sie wieder.

 

»Doch, Miss. Sehen Sie, das ist Ihr Badezimmer. Wir haben hier bei jedem Schlafzimmer ein besonderes Bad. Mr. Groat hat das ganze Haus umgebaut, als er es kaufte.«

 

Eunice öffnete eins der bis auf den Boden gehenden Fenster und trat auf den kleinen Balkon hinaus, der sich bis zu einer viereckigen Veranda hinzog, die über der Eingangshalle des Hauses errichtet war. Man konnte sie von dem Podest der Treppe aus erreichen.

 

Eunice sah Mrs. Groat an diesem Tage nicht wieder. Als sie nach ihr fragte, erfuhr sie, daß die alte Dame sich mit bösen Kopfschmerzen zurückgezogen hatte. Auch Digby Groat begegnete sie nicht und aß ihre erste Mahlzeit ganz allein.

 

»Mr. Groat ist noch nicht vom Lande zurückgekehrt«, erklärte Jackson, der sie bei Tisch bediente. »Ist alles nach Ihrem Wunsch, Miss?«

 

»Jawohl, ich danke.«

 

Sie empfand wenig Sympathie für diesen Mann. Nicht, daß er es an Respekt ihr gegenüber hätte fehlen lassen oder daß er plump vertraulich gewesen wäre – aber es lag etwas Anmaßendes in seinem Benehmen. Sie war froh, als sie ihre Mahlzeit beendet hatte und ging enttäuscht in ihr Zimmer. Sie hätte Mrs. Groat gern noch so vieles gefragt, vor allem, wann sie ausgehen konnte.

 

Sie schaltete das Licht aus, öffnete das große Fenster und trat hinaus, um den kühlen, duftenden Abend zu genießen. Die letzten Schimmer des Abendrotes färbten die Wolkenränder. Der Platz unten war schon erleuchtet, und ein endloser Strom von Autos fuhr unter ihrem Fenster vorbei, denn Grosvenor Square war die Hauptverbindung zwischen Oxford Street und Piccadilly.

 

Die Nacht brach allmählich herein, und der gestirnte Himmel wölbte sich über ihr. Die Dächer und Türme der großen Stadt hoben sich wundervoll von dem magischen Licht des Firmaments ab. Die majestätische Einsamkeit und Schönheit der Nacht bezauberten Eunice so, daß ihr fast der Atem verging. Aber nicht das märchenhafte Licht der Sterne, nicht das melodiöse Rauschen der Bäume ließ ihr Blut aufwallen, sondern das Bewußtsein, daß es noch einen Menschen in der Welt gab, der zu ihr gehörte. Irgendwo in dieser großen, dunklen Stadt lebte ein Mann, der jetzt vielleicht an sie dachte. Sie sah sein Gesicht ganz deutlich vor sich, seine lieben Augen, sie glaubte den festen Druck seiner starken Hand zu spüren …

 

Mit einem Seufzer schloß sie das Fenster wieder und zog die schweren, seidenen Vorhänge zu. Fünf Minuten später lag sie in tiefem Schlummer.

 

Wie lange sie geschlafen haben mochte, wußte sie nicht, aber ihrer Meinung nach mußten es Stunden gewesen sein. Der lebhafte Verkehr auf der Straße war allmählich verstummt, und das summende Geräusch der Großstadt war verklungen, nur hin und wieder hörte sie eine Hupe. Der Raum lag im Dunkeln, dennoch war sie davon überzeugt, daß jemand im Zimmer war!

 

Sie setzte sich aufrecht, ein kalter Schauer überlief sie. Es war jemand hier! Sie tastete mit der Hand nach der Stehlampe und hätte beinahe einen Schreckensschrei ausgestoßen, denn sie berührte eine Hand, eine kalte, kleine Hand, die auf dem Nachttisch lag. Einen Augenblick war sie vor Entsetzen gelähmt. Dann wurde die Hand plötzlich zurückgezogen, sie hörte das Rauschen des Vorhangs und sah einen Augenblick lang den Schatten einer Gestalt am Fenster. Sie zitterte am ganzen Körper; dann raffte sie sich zusammen, sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Das Zimmer war leer, und das große Fenster war nur angelehnt.

 

Und dann entdeckte sie auf dem kleinen Tisch am Bett eine graue Karte. Mit zitternden Fingern hob sie sie auf und las: ›Jemand, der Sie liebt, bittet Sie, um Ihrer Sicherheit und Ihres Rufes willen dringend, dieses Haus sobald als möglich zu verlassen.‹

 

Eine kleine, blaue Hand bildete die Unterschrift.

 

Sie ließ die Karte auf die Bettdecke fallen, starrte eine Weile darauf, dann schlüpfte sie in ihren Morgenrock, schloß ihre Tür auf und trat in den Gang hinaus. Ein schwaches Licht brannte am Anfang der Treppe. Sie war vollständig außer sich vor Schrecken und wußte kaum, was sie tat, als sie die Treppe hinuntereilte. Sie mußte jemand finden, irgendein lebendes Wesen, etwas Wirkliches, an das sie sich halten konnte. Aber das Haus lag in tiefem Schweigen. Die große Lampe in der Halle brannte, und Eunice sah eine altmodische Uhr stehen. Das kam ihr schwach zum Bewußtsein, als sie das feierliche Ticken hörte. Es war drei Uhr. Aber vielleicht war doch noch jemand im Hause wach. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und sie eilte den Gang hinunter, bis sie zu einer Tür kam, die sie für den Zugang zu den Dienstbotenräumen hielt. Sie öffnete sie und kam in einen einsamen Korridor, der nur durch ein Licht am äußersten Ende schwach erhellt war. Eine weiße Tür schloß ihn ab. Sie versuchte, sie zu öffnen, aber sie fand keinen Griff oder Drücker.

 

Es war überhaupt eine merkwürdige Tür, denn sie war nicht aus Holz, sondern aus geflochtenem Rohr.

 

Sie stand entsetzt still, denn sie hörte einen langgezogenen Schmerzensschrei aus dem Raum hinter der Tür. Er war so fürchterlich, so gräßlich, daß ihr Blut zu Eis erstarrte.

 

Sie wandte sich um und floh zurück durch die Gänge, die Halle, zur Haustür. Mit zitternden Händen drehte sie den Schlüssel um, das Schloß schnappte, und die Tür flog auf. Sie schwankte auf die breite Treppe hinaus. Auf der obersten Stufe saß ein Mann.

 

Er dreht sich um, als sich die Tür öffnete, und in dem Licht, das aus der Halle drang, erkannte sie ihn. Es war Jim Steele!

 

Kapitel 40

 

40

 

Unter Jims drohender Pistole entkleidete sich Bronson und schüttelte sich vor Frost, denn der Morgen war kalt, und die Kleider, die Jim ihm reichte, waren noch nicht ganz trocken geworden. Er murrte darüber, aber Jim kümmerte sich nicht darum, sondern band ihm die Hände hinten auf dem Rücken zusammen.

 

»So macht man es auch, wenn man Sie einmal hängen wird. Dieses Taschentuch wird als Knebel dienen, damit Sie nicht brüllen können. Jetzt muß ich Sie nur an eine trockene Stelle unter eine Hecke legen. Dann sind Sie für den Rest der Nacht versorgt.«

 

»Sie sind niederträchtig!« rief Bronson aufsässig, »aber warten Sie nur –«

 

»Hören Sie auf zu quaken, alter Laubfrosch, oder ich spreche etwas energischer mit Ihnen.«

 

Er ging mit seinem Gefangenen weiter vom Hause fort und suchte einen trockenen Platz für ihn, an dem er nicht gesehen werden konnte. Hier bewachte er ihn, bis der Himmel heller wurde und er Villa wecken mußte.

 

Mit einem Fluch erhob sich Villa.

 

»Kommen Sie herein und trinken Sie Kakao.«

 

»Bringen Sie ihn mir heraus«, sagte Jim.

 

Er hörte, wie der Mann drinnen die Tür aufschloß, und hob die Pistole. Aber irgendeine Eingebung bestimmte ihn, die Waffe wieder zu verstecken.

 

Leute, die in der Luft kämpfen und den Sieg in den großen Himmelsräumen davontragen, haben gewöhnlich ganz besondere Instinkte, die anderen Sterblichen versagt sind. Jim hatte gerade noch Zeit, die Pistole in die Tasche zu stecken und die Schutzbrille über die Augen zu ziehen, als Villa die Tür öffnete und ihn schläfrig in der Dämmerung betrachtete.

 

»Hallo, Sie sind ja schon fertig zum Start«, meinte er gähnend.

 

»Nun, ich werde Sie nicht lange warten lassen.«

 

Jim ging vor dem Hause auf und ab, wie Bronson es gestern abend getan hatte.

 

Er nahm die Pistole wieder aus dem Lederetui heraus und betrachtete sie verstohlen. Sie war nicht geladen!

 

Villa rief ihn.

 

»Stellen Sie die Tasse nur ruhig hin«, sagte er, als er sah, daß er ihm Kakao brachte. Mit einem Zug leerte er sie, ging quer über die Felder zu dem Flugzeug und nahm die wasserdichte Decke von dem Motor. Er untersuchte die Maschine und warf den Motor an.

 

Eunice hatte auch Kakao getrunken und wartete, bis Villa hereinkam. Sie konnte nur vermuten, was der neue Tag bringen würde. Anscheinend wartete Digby Groat nicht hier auf sie. Er war wohl allein fortgefahren, um die Verfolger von ihrer Spur abzulenken. Sie fühlte sich jetzt wohler. Die Folgen der Spritzen waren ganz verschwunden, Sie fühlte sich nur noch sehr müde, und das Gehen fiel ihr schwer. Ihre Gedanken waren wieder klar, und sie fühlte sich erlöst, daß sie Digby nicht sehen mußte.

 

»Sind Sie fertig, Miss?« fragte Villa. Er trug einen schweren Mantel, hatte einen pelzgefütterten Fliegerhelm auf und sah mit seinem Bart wie ein Russe im Winterpelz aus. Sie wunderte sich, daß er sich an einem so warmen Morgen so dick anzog, aber er half auch ihr in einen ebenso schweren Mantel.

 

»Beeilen Sie sich jetzt, wir können nicht den ganzen Tag auf Sie warten!«

 

»Ich bin fertig«, sagte sie kühl.

 

Er ging in schnellen Schritten mit ihr zu dem Flugzeug.

 

Jim, der seinen Platz auf dem Fliegersitz schon eingenommen hatte, hörte Villas tiefe Stimme, wandte sich nach der Seite und sah Eunice.

 

Neben diesem bärtigen, kleinen, dicken Mann sah sie sehr vorteilhaft aus. Villa führte sie am Arm.

 

»Nun steigen Sie ein.«

 

Er half ihr auf einen der beiden Sitze hinter dem Piloten. Jim durfte sich nicht umsehen.

 

»Ich werde den Propeller für Sie anwerfen«, sagte Villa und ging nach vorn.

 

Jim, dessen Gesicht von der großen Schutzbrille fast ganz verdeckt war, nickte.

 

Der Motor setzte mit großem Geräusch ein. Jim ließ ihn langsamer laufen.

 

»Schnallen Sie die Dame fest«, rief er trotz des Spektakels, den die Maschine machte.

 

Villa nickte und kletterte mit außerordentlicher Beweglichkeit auf seinen Sitz.

 

Jim wartete, bis der große Lederriemen um Eunice befestigt war, dann brachte er den Motor auf Touren. Es war eine ideale Abflugstelle. Die Maschine rollte sanft über die Wiesen und steigerte von Sekunde zu Sekunde ihre Geschwindigkeit. Jim zog das Höhensteuer an, und Eunice merkte plötzlich, daß das Stoßen aufhörte. Das Flugzeug hatte sich in die Luft erhoben.

 

Eunice war noch niemals in ihrem Leben geflogen, und einen Augenblick lang vergaß sie in dem erhebenden Gefühl, das sie durchdrang, ihre gefährliche Lage. Es war ihr, als ob das Flugzeug sich nicht von der Erde erhöbe, sondern als ob die Erde plötzlich unter der Maschine versänke. Sie empfand eine wunderbare Erleichterung, als sich die kräftige Maschine mit einer Geschwindigkeit von dreihundertfünfzig Kilometern in der Stunde durch die Luft bewegte. Immer höher und höher hoben sie sich. Villa war erstaunt über dieses Manöver. Bronson kannte doch den Weg nach Kennett Hall, er mußte sich doch nicht erst aus der Höhe orientieren.

 

Aber Bronson lag in dem Augenblick mit gebundenen Händen und Füßen unter einem großen Haselstrauch in den Feldern. Hätte Villa sorgfältig durch sein Fernglas hinuntergeschaut, so hätte er wahrscheinlich den Mann erkennen können, der in Jims schmutzigen Kleidern dort auf der Erde lag.

 

»Herrlich!« rief Eunice wieder; aber der Mann an ihrer Seite hatte kein Auge für die Schönheit der Gegend. Die Passagiere konnten sich mit dem Führer nur durch ein kleines Telefon verständigen. Jim hatte den Hörer um den Kopf geschnallt. Nach einiger Zeit hörte er plötzlich Villa fragen: »Worauf warten Sie denn noch – Sie kennen doch den Weg?«

 

Jim nickte.

 

Er kannte den Weg nach London, sobald er die Eisenbahnlinie gesichtet hatte.

 

Eunice schaute verwundert auf die große, weite Erdoberfläche, die sich wie ein Schachbrett zu ihren Füßen ausdehnte. Weiße und blaue Linien und Bänder zogen sich darüber hin.

 

Es mußten Wege und Kanäle sein, und diese kleinen, grünen und braunen Flecke waren Felder und Weiden. Wie prächtig war es doch, an diesem frühen Sommermorgen durch die Lüfte zu fliegen, über die kleinen Wolken hinweg, die wie Schleier zwischen ihr und der Erde lagen. Und wie beruhigend war doch diese Einsamkeit hier oben! Sie fühlte sich befreit von der Welt und all ihrer Schrecklichkeit. Digby Groat war nicht größer als dieser kleine, dunkle Punkt, den sie dort unten sehen konnte, und der sich auf der hellen Straße nicht zu bewegen schien. Sie wußte, daß es ein Mensch war, der vorwärts wanderte.

 

Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit Villa zu. Er war rot im Gesicht und brüllte etwas in das Telefon. Sie konnte es aber bei dem ohrenbetäubenden Lärm des Motors nicht verstehen.

 

Sie sah nur, daß der Führer nickte und die Maschine dann nach rechts wandte. Villa schien zufrieden zu sein, denn er ließ sich in seinen Sitz zurücksinken.

 

Ganz langsam wandte sich die Spitze des Flugzeuges wieder nach Süden zurück. Lange Zeit bemerkte Villa es nicht. Erst als er die große Stadt vor sich sah, schrie er wieder in das Telefon.

 

»Fliegen Sie nach rechts, Bronson! Sind Sie denn verrückt? Haben Sie ganz und gar den Verstand verloren?«

 

Jim nickte, und das Manöver begann von neuem. Aber nun war Villa auf dem Posten.

 

»Was ist denn mit Ihnen los, Bronson?« Jim hörte den drohenden Ton in seiner Stimme.

 

»Nichts; ich fliege nur einer gefährlichen Luftströmung aus dem Wege«, schrie er durch das Telefon.

 

Auch jetzt noch glaubte Villa, daß Bronson am Steuer säße.

 

Jim flog jetzt dauernd nach Westen und war neugierig, welches das Ziel sein sollte. Er war wirklich wahnsinnig, daß er Bronson nicht gefragt hatte, wohin die Fahrt gehen sollte. Es war ihm bisher nicht der Gedanke gekommen, daß aus seiner Unkenntnis des Ziels irgendwelche Schwierigkeiten entstehen konnten. Er wollte nach London fliegen, das hatte er sich von Anfang an vorgenommen. Jetzt drehte er wieder nach links und brachte den Motor auf höchste Tourenzahlen. Das kleine Flugzeug sauste mit größter Geschwindigkeit.

 

»Sind Sie denn verrückt?« brüllte Villa ihm ins Ohr. Aber er antwortete nicht.

 

»Gehorchen Sie mir jetzt, oder Sie haben es mit mir zu tun!«

 

Jim fühlte, wie Villa ihm seine Pistole auf die Schulter setzte. Er sah sich um, und in diesem Augenblick erkannte ihn Eunice und stieß einen Schrei aus.

 

Villa sprang auf und zog Jims Kopf herum.

 

»Steele!« schrie er und hielt ihm den Revolver hinters Ohr.

 

»Sie werden meinen Befehlen folgen!«

 

Jim nickte.

 

»Fliegen Sie nach rechts in der Richtung nach Oxford. Lassen Sie es zur Linken liegen, bis ich Ihnen sage, daß Sie landen sollen!«

 

Jim konnte nichts anderes tun als gehorchen, aber er fürchtete sich nicht. Hätte der Mann ihm erlaubt, nach London zu fliegen, so wäre es wohl für alle Teile das beste gewesen. Da Villa aber aggressiv gegen ihn vorging, konnte dieses Abenteuer nur auf eine Weise enden. Es ging hart auf hart. Er wandte sich halb in seinem engen Sitz um, schaute Eunice an und lächelte ihr ermutigend zu. Der Blick, mit dem sie ihn wieder ansah, entschädigte ihn für all das Mißgeschick, das er für sie schon erduldet hatte.

 

Aber er hatte sich nicht nur umgesehen, um ihr in die Augen zu blicken. Er betrachtete die Lederriemen, mit denen sie angeschnallt war und sah dann auf Villa. Im nächsten Augenblick wußte er alles, was er wissen wollte. Er mußte warten, bis der Mann die Pistole fortsteckte, denn bis jetzt hielt er immer noch die Waffe in der Hand. Sie flogen über Oxford hin, das sich mit seinen grauen Häusermassen gut von der grünen Umgebung abzeichnete. Ober der Stadt lag ein feiner Dunstschleier.

 

Jims Aufmerksamkeit wurde jetzt durch etwas anderes abgelenkt. Einer der Motoren setzte aus. Er vermutete, daß Wasser in den Zylindern war, aber er konnte die Maschine noch einige Zeit in Gang halten. Villa brüllte ihm einen neuen Kurs zu, und er bog etwas nach Westen ab Der Motor setzte wieder ein. Die Schwierigkeit schien behoben zu sein, und das Flugzeug lag gut in der Luft. Wieder schaute er sich um. Villa hatte die Pistole zwischen die Knöpfe seiner Lederjacke gesteckt. Dort würde sie wahrscheinlich bis zum Ende der Reise bleiben. Er konnte nicht länger warten.

 

Eunice, die die Gegend unter sich beobachtete, fühlte plötzlich, daß sich die Spitze des Flugzeuges senkte, als ob sie zur Erde niedergingen. Sie fühlte keine Furcht; sie wunderte sich nur, daß die Maschine plötzlich wieder stieg, und. zwar so schnell, daß der Himmel nach unten zu sinken schien. Sie fühlte, daß sich die Lederriemen um ihren Körper anspannten, und als sie nach unten schaute, sah sie, daß ihr Blick in die Wolken gerichtet war. Plötzlich merkte sie eine Bewegung an ihrer rechten Seite und schloß instinktiv die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war Villa verschwunden. Jim hatte einen Sturzflug in senkrechter Schleife gemacht, und Villa, der an der Maschine nicht festgemacht war, verlor den Halt und sauste hinab in die Tiefe.

 

Jim wandte sich ganz zu Eunice. Sie sah, daß er in das Telefon sprach. Seine Augen glänzten.

 

Sie nahm das Mundstück mit zitternden Händen auf; irgend etwas Schreckliches hatte sich ereignet. Sie durfte nicht mehr nach unten schauen; denn sie fürchtete, ohnmächtig zu werden bei dem Versuch.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie.

 

»Villa ist im Fallschirm abgesprungen!« log Jim zu ihrer Beruhigung. »Kümmern Sie sich nicht um ihn, er ist nicht in Gefahr.« ›Jedenfalls auf dieser Welt‹, fügte er für sich hinzu.

 

»Aber Jim, wie sind Sie denn hierhergekommen?«

 

»Das werde ich Ihnen später erklären«, rief er zurück.

 

Der Motor lief schon wieder nicht mehr richtig. Diesmal war die Störung ernster Natur, und er wußte, daß der Flug nach London zu gefährlich war. Er war nicht mehr in genügender Höhe, um sich die Landungsstelle aussuchen zu können, und schaute sich um, wo er niedergehen konnte. Gerade vor ihm, etwa zwanzig Kilometer entfernt, dehnte sich eine große, breite, grüne Fläche aus. Es könnte ein Flugplatz sein, dachte er. Er mußte die Stelle erreichen. Wäre er allein gewesen, so hätte er nicht gezögert, auf einem der kleinen Felder dicht unter ihm niederzugehen.

 

Als er immer näher zu der großen, grünen Fläche kam, sah er, daß er sich geirrt hatte. Aber er stellte die Motoren ab und ging im Gleitflug nieder. Die Räder berührten die Erde so leicht, daß Eunice nicht merkte, daß der Flug zu Ende war.

 

»O Jim«, rief sie, »es war so wundervoll. Aber was ist denn mit dem armen Mann geschehen? Haben Sie …«

 

Jim wollte schon eine sarkastische Bemerkung machen, aber als er in ihr todblasses Gesicht und ihre tief traurigen Augen sah, schwieg er. Er hatte im Krieg viel bessere Männer als Villa in Ausübung ihrer Pflicht sterben sehen, und er war nicht traurig, daß dieser Verbrecher ums Leben gekommen war, der, ohne mit der Wimper zu zucken, das Mädchen getötet hätte.

 

Er hob Eunice aus dem Flugzeug und fühlte, wie sie trotz des dicken Mantels zitterte. Unter so merkwürdigen Umständen mußten sie sich also wieder begegnen! Sie sprachen kein Wort miteinander; er küßte sie nicht, und sie begehrte dieses Liebeszeichen auch nicht von ihm. Seine bloße Gegenwart, der Druck seiner Hand, genügte ihr.

 

»Hier steht ein Haus«, sagte Jim. »Ich werde Sie dorthin bringen, dann in den nächsten Ort gehen und dem guten Salter ein Telegramm senden.«

 

Er legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen langsam durch das hohe Gras, in dem viel bunte Blumen blühten. Knietief versanken sie in dem wunderbaren Weidegrund und atmeten den Duft der Blumen ein.

 

»Das Haus scheint nicht bewohnt zu sein«, meinte Jim, »und es ist doch so groß.«

 

Er führte sie über die breite Terrasse, und sie kamen zur Front des Gebäudes. Die Haustür stand offen, und Jim schaute in die große, traurige, halbverfallene Halle.

 

»Ich möchte wohl wissen, was das für Landsitz ist«, rief Jim verwundert.

 

Er öffnete eine Tür, die von der Halle nach links führte. Der Raum, in den er eintrat, war nicht möbliert und zeigte alle Spuren des Verfalls, die er schon in der Halle wahrgenommen hatte. Er ging wieder über den Flur und trat in einen zweiten Raum, der dem vorigen ähnlich sah.

 

»Ist jemand hier?« rief er laut und wandte sich um, denn es war ihm, als ob er einen Schrei von Eunice gehört hätte, die draußen auf der Terrasse geblieben war.

 

»Haben Sie eben gerufen, Eunice?« fragte er, und seine Stimme hallte durch das stille Haus.

 

Es kam keine Antwort, und er ging schnell auf dem Weg zurück, den er gekommen war. Als er auf die Terrasse trat, war Eunice verschwunden. Er eilte bis zum Ende des Platzes, weil er dachte, sie sei vielleicht zu dem Flugzeug zurückgegangen. Aber auch dort konnte er keine Spur von ihr entdecken. Wieder rief er ihren Namen, so laut er nur konnte, aber nur das Echo seiner Stimme anwortete ihm. Er öffnete die Haustür wieder und ging hinein.

 

In demselben Augenblick schlich sich Xavier Silva aus dem Raum zur Linken und schlug mit einem schweren Stock nach ihm. Jim hörte das Sausen in der Luft, wandte sich halb um, und der Schlag traf seine Schulter. Eine Sekunde taumelte er, dann stürzte er auf den Mann zu und schlug ihm rechts und links mit der Faust ins Gesicht, daß er zu Boden stürzte.

 

Doch bevor er sich wieder umkehren konnte, fühlte er, wie eine Schlinge über seinen Kopf geworfen wurde. Er fiel, zu Boden und rang nach Atem.

 

Kapitel 41

 

41

 

Während Jim das verlassene Haus durchsuchte, ging Eunice bis zum Ende der Terrasse und lehnte sich auf die zerbrochene Balustrade, versunken in den Anblick der schönen Landschaft. Dünne Dunstwolken lagen noch über der Gegend, in der Ferne zeigten sich die violetten Schatten der Wälder. In der stillen Luft stieg der blaugraue Dampf aus den Schornsteinen der Landhäuser über die Wipfel der breitästigen Bäume empor, und die Sonnenstrahlen spiegelten sich in den unruhigen Wellen eines dahineilenden Wasserlaufes, der sich wie ein goldenes Band durch die smaragdgrüne Landschaft zog.

 

Jemand berührte sie leicht an der Schulter, und sie dachte, es sei Jim.

 

»Ist dieser Anblick nicht herrlich?« fragte sie.

 

»Wirklich, wunderschön, aber nicht halb so lieblich wie Sie selbst, mein Kind.«

 

Sie hätte bei dem Ton der Stimme umsinken mögen. Als sie sich schnell wandte, sah sie in das Gesicht Digby Groats und stieß einen Schrei aus.

 

»Wenn Sie Steeles Leben retten wollen«, sagte Digby leise, aber drängend, »dann werden Sie nicht schreien. Haben Sie mich verstanden?«

 

Sie nickte.

 

Er legte seinen Arm um sie; das sollte keine Liebkosung sein. Er führte sie schnell ins Haus, schob sie in einen Raum und folgte ihr. In dem Zimmer stand ein großer, kräftiger Mann, der ein Tau in der Hand hielt.

 

»Warten Sie, Masters, wir werden ihn schon kriegen, wenn er zurückkommt«; flüsterte Digby. Er hatte die Schritte Jims in der Halle gehört. Plötzlich gab es einen Tumult.

 

Eunice öffnete ihre Lippen, um einen Warnungsschrei auszustoßen, aber Digbys Hand legte sich auf ihren Mund.

 

»Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen gesagt habe«, flüsterte er.

 

Sie hörten den Schrei Xavier Silvas. Masters eilte in die Halle, Digby folgte ihm. Jim stand mit dem Rücken nach der offenen Tür, und Digby gab Masters ein Zeichen. Im selben Augenblick sauste der Strick durch die Luft und schlang sich um Jims Hals, so daß er mit einem Ruck atemlos zu Boden gerissen wurde. Sein Gesicht wurde dunkelrot, und er zerrte aufgeregt mit den Händen an der grausamen Schlinge. Wäre Eunice nicht dazugekommen, hätten sie ihn vielleicht sofort umgebracht. Sie stand einen Augenblick starr vor Schrecken, eilte dann aus dem Raum, stieß Masters zur Seite, kniete nieder und löste mit ihren eigenen, zitternden Händen die Schlinge von dem Hals des geliebten Mannes.

 

»Sie gemeiner Schuft«, schrie sie, und ihre Augen blitzten vor Haß.

 

Einen Augenblick später war Digby an ihrer Seite und hob sie auf.

 

»Binden Sie ihn«, sagte er lakonisch und wandte seine Aufmerksamkeit dem sich wehrenden Mädchen zu, denn sie war jetzt nicht länger ruhig. Sie kämpfte mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft, schlug ihm mit den Händen ins Gesicht und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu lösen.

 

»Sie kleiner Teufel«, keuchte er, als er sie an den Handgelenken gepackt hatte und gegen die Mauer stieß. In seinem Gesicht war eine wunde, blutige Stelle zu sehen, an der sie ihn gekratzt hatte. Aber in seinen Augen lag Bewunderung. Gerade im Zorn bewies sie ihr ganze ursprüngliche Furchtlosigkeit.

 

»So gefallen Sie mir am besten! Ich habe niemals meine Wahl bereut, mein Liebling, am allerwenigsten in diesem Augenblick!«

 

»Lassen Sie meine Hände los!« rief sie wild. Ihr Herz schlug heftig, aber sie erkannte schließlich, daß sie Digby Groat nicht gewachsen war, und wurde ruhiger.

 

»Wohin haben Sie Jim gebracht – was haben Sie mit ihm gemacht?«

 

Sie fürchtete sich nicht mehr; eine wilde Energie war in ihr erwacht.

 

»Wir haben Ihren jungen Freund in Sicherheit gebracht. Was ist denn heute morgen passiert, Eunice?«

 

Sie antwortete nicht.

 

»Wo ist Villa?«

 

Aber sie öffnete den Mund nicht.

 

»Nun gut, wenn Sie nicht sprechen wollen, so werde ich schon einen Weg finden, daß der junge Mann, der mit Ihnen hierhergekommen ist, sagt, was vorgefallen ist.«

 

»Wie, Sie wollen ihn zum Geständnis zwingen?« fragte sie zornig. »Da kennen Sie den Mann schlecht! Wenn Sie glauben, daß Sie Jim Steele zum Sprechen bringen können, so gehen Sie nur hin, und versuchen Sie es!«

 

»Sie wissen nicht, was Sie reden«, entgegnete er; aber er war weiß bis in die Lippen, denn ihre Beleidigungen hatten ihn im Innersten getroffen. »Ich werde ihn so foltern, daß er um Gnade winseln soll!«

 

»Sie beurteilen alle Männer nach sich selbst«, sagte sie verächtlich, »und alle Frauen nach dem armen kleinen Ladenmädchen, dessen Lebensglück Sie vernichtet haben, um sich zu amüsieren.«

 

»Wissen Sie auch, was Sie da sagen?« fuhr er sie wütend an. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich –«

 

»Ich habe gar nicht vergessen, was Sie sind«, sagte sie wegwerfend. Ihre Blicke sprühten Haß. »Sie sind ein Mann, der kein Vaterland hat, der zu keiner Gesellschaftsklasse gehört! Sie sind ein Verräter an Frauen, ein Meuchelmörder, ein Dieb, der andere Diebe und Verbrecher anstellt, die die Gefahr auf sich nehmen; aber Sie selbst stecken den Löwenanteil in die Tasche. Sie sind ein niederträchtiger Mann, der Experimente macht und genug von Medizin und Chirurgie versteht, um wehrlose Frauen zu betäuben und Tiere zu quälen. Ich habe Sie durchschaut!«

 

Eine ganze Weile konnte er nicht sprechen. Sie hatte ihn so tödlich beleidigt, daß er ihr nie vergeben konnte. Mit unfehlbarem Instinkt hatte sie gerade die Dinge gesagt, die ihn am tiefsten trafen.

 

»Strecken Sie die Hände aus!« schrie er sie an.

 

Sie sah ihn verächtlich an, als er ihre Hände mit der Krawatte zusammenband, die er sich vom Halse riß.

 

Dann packte er sie an den Schultern, und durch einen kurzen Ruck brachte er sie zu Fall, so daß sie in eine Ecke taumelte.

 

»Ich werde später wiederkommen und mich mit Ihnen beschäftigen«, rief er drohend.

 

*

 

In der Halle wartete Masters auf ihn, und der große, starke Mann war anscheinend in Sorge.

 

»Wo haben Sie ihn hingebracht?«

 

»In den Ostflügel, in den Raum des früheren Hausmeisters«, sagte er unsicher. »Mr. Groat, sind denn das nicht schlechte Dinge, die wir hier tun?«

 

»Was soll das heißen?« fuhr ihn Digby an.

 

»Ich habe mich früher nie mit dergleichen befaßt«, erwiderte Masters. »Kann man uns denn nicht deswegen belangen?«

 

»Kümmern Sie sich nicht darum; Sie werden gut dafür bezahlt werden«, sagte Groat. Er wollte fortgehen, aber Masters hielt ihn zurück.

 

»Wenn ich auch gut bezahlt werde, kann mich das doch nicht vor dem Gefängnis retten. Ich bin aus einer guten Familie und bin mit dem Gesetz noch nie in Konflikt gekommen. Ich bin hier auf dem Lande wohlbekannt, und niemand kann auf mich zeigen und mir nachsagen, daß ich etwas getan hätte, worauf Gefängnis steht.«

 

»Sie sind verrückt.« Digby war froh, daß er jemand gefunden hatte, an dem er seine Wut auslassen konnte. »Habe ich Ihnen denn nicht erzählt, daß dieser Mann versuchte, mit meiner Frau durchzubrennen?«

 

»Sie haben mir noch nie etwas davon gesagt, daß sie Ihre Frau ist«, entgegnete Masters kopfschüttelnd und sah ihn argwöhnisch an. »Sie trägt auch keinen Trauring, das habe ich gleich gesehen. Und der fremde Mann hatte auch gar kein Recht, mit dem schweren Spazierstock nach ihm zu schlagen – beinahe hätte er ihn getötet.«

 

»Nun gehen Sie aber, Masters«, erwiderte Digby, der wieder die Herrschaft über sich gewonnen hatte.

 

»Kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nicht verstehen. Ich sage Ihnen doch, daß dieser Steele ein Schurke ist, der mit meiner Frau durchbrannte und mir mein Geld gestohlen hat. Meine Frau ist nicht ganz normal; ich will sie mit auf eine Reise nehmen …« Plötzlich hielt er an. »Auf jeden Fall ist Steele einer der größten Schufte.«

 

»Warum liefern Sie ihn dann nicht der Polizei aus?« fragte Masters, der der ganzen Sache mißtraute. »Warum bringen Sie ihn denn nicht vors Gericht? Das scheint mir doch in diesem Falle das Richtige zu sein, Mr. Groat. Sie werden sich einen schlechten Namen machen, wenn es herauskommt, daß Sie ihn so böse behandelt haben.«

 

»Ich habe ihn nicht böse behandelt«, erwiderte Digby kühl. »Sie waren es doch, der ihm den Strick ums Genick warf.«

 

»Ich versuchte, ihn über seine Schulter zu werfen«, erklärte Masters eilig. »Außerdem haben Sie mir doch den Auftrag dazu gegeben.«

 

»Solche Aussagen müssen Sie aber vor Gericht erst beweisen!« Digby wußte wohl, daß er Masters auf diese Weise einschüchtern konnte. »Nun hören Sie einmal zu, Masters. Der einzige, der bisher hier ein Verbrechen begangen hat, sind Sie.«

 

»Ich?« rief der Mann entsetzt. »Ich habe doch nur nach Ihren Befehlen gehandelt!«

 

»Das glaubt Ihnen kein Richter!« Digby klopfte dem Mann auf die Schulter; und dieses vertrauliche Benehmen kam Masters ganz fremd vor. Er hätte seinen Herrn noch nie von dieser Seite kennengelernt. »Gehen Sie, und bringen Sie der jungen Dame etwas zu essen, und wenn irgend etwas schiefgeht, werde ich schon dafür sorgen, daß Sie davonkommen. Hier, nehmen Sie das.« Er zog ein Paket Banknoten aus der Tasche, nahm zwei davon und drückte sie ihm in die Hand. »Das sind Fünfundzwanzigpfundnoten, mein Freund. Vergessen Sie nicht, sie möglichst bald in kleines Geld umzuwechseln. Und machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen, und lassen Sie ein paar Erfrischungen für die junge Dame zubereiten.«

 

»Ich weiß nicht, was meine Frau von alledem halten wird«, brummte Masters. »Wenn ich ihr sage –«

 

»Sie sind ein Dummkopf, wenn Sie ihr überhaupt etwas sagen«, entgegnete Digby scharf. »Verdammt noch einmal: Verstehen Sie denn nicht, wenn ich mit Ihnen rede?«

 

*

 

Um drei Uhr nachmittags kamen zwei Herren in einer Taxe vor dem schöngeschmiedeten Tor von Kennett Hall an. Als man ihnen nicht öffnete, stiegen sie über die hohe Mauer und gingen auf das Haus zu.

 

Digby sah sie schon von weitem, ging ihnen entgegen und begrüßte Bronson und den dunklen Spanier, der in seiner Begleitung war. Am Ende der Zufahrtsstraße trafen sie einander und sowohl Bronson wie sein Herr fragten wie aus einem Munde: »Wo ist Villa?«

 

Kapitel 42

 

42

 

Der Raum, in den Jim gebracht wurde, unterschied sich wenig von den Zimmern, die er vorher gesehen hatte, er war nur kleiner. Die Planken des Fußbodens waren zerbrochen, hier und dort zeigten sich große Löcher, und er sah gleich, daß hier Ratten hausten.

 

Seine Hände waren so eng verschnürt, daß er sie nicht bewegen konnte, und seine Fußgelenke waren so zusammengebunden, daß es ihm unmöglich war, sich auf seine Füße zu erheben.

 

»Was für ein Leben ist das doch«, sagte er mit philosophischer Ruhe und bereitete sich auf eine lange Wartezeit vor.

 

Er zweifelte nicht daran, daß Digby möglichst bald aufbrechen würde, und rechnete mit der Möglichkeit, daß man ihn hier allein zurückließ. Entweder mußte er sich dann selbst befreien oder verhungern. Aber er war fest entschlossen, am Leben zu bleiben. Auch hatte er sich schon einen Plan ausgedacht, den er sofort ausführen wollte, wenn er sicher war, daß man ihn nicht mehr beobachtete.

 

Aber Digby blieb im Hause, wie er erfahren sollte.

 

Eine Stunde verging, dann wurde die Tür zu seinem Raum aufgerissen, und Digby trat ein. Hinter ihm kam ein Mann herein, der bei Jims Anblick grinste. Es war Bronson, der in Jims Kleidern geradezu lächerlich aussah; denn Rock und Hose waren ihm zu groß.

 

»Man hat Sie also doch entdeckt, Bronson«, sagte Jim lachend.

 

»Nun, jetzt bin ich in derselben Verfassung wie Sie, als ich Sie zurückgelassen habe. Man wird mich ja hier entdecken, und ich werde Sie dann in Dartmoor besuchen und nachsehen können, wie es Ihnen dort geht. In Dartmoor ist es ganz schön; der hübscheste Platz dort ist Block B – da haben Sie Zentralheizung, Gas, Warmwasser – jeden modernen Komfort mit Ausnahme von Tennis.«

 

»Wo ist Villa?« fragte Digby.

 

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen«, erklärte Jim gemütlich. »Aber ich vermute, wo er geblieben ist.«

 

»Wo ist er geblieben?« fuhr ihn Bronson an.

 

Jim lächelte, und im nächsten Augenblick schlug ihm Bronson mit der Hand ins Gesicht. Aber Jim lächelte weiter, obwohl ein Ausdruck in seinem Blick lag, der Bronson ängstigte.

 

»Steele, es hat keinen Zweck, daß Sie die Aussage verweigern«, sagte Digby. »Wir wollen unter allen Umständen wissen, was Sie mit Villa gemacht haben. Wo ist er geblieben?«

 

»Meiner Meinung nach schmort er jetzt in der Hölle«, erwiderte Jim ruhig.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß er tot ist?« fragte Digby aufgeregt.

 

»Das nehme ich sehr stark an«, entgegnete Jim vorsichtig. »Wir waren ungefähr fünftausend Fuß hoch, als ich vor lauter Freude, daß ich wieder einmal ein Flugzeug in der Hand hatte, einen Sturzflug mit senkrechter Schleife machte. Ich glaube, unser Freund Villa hatte nicht die nötigen Vorsichtsmaßregeln ergriffen – jedenfalls war er nicht mehr da, als ich mich wieder umschaute. Er flog selbständig durch die Luft, Groat, und ich habe die Erfahrung gemacht, daß es fast unmöglich ist, eine gute Landung zu machen, wenn die Leute anfangen, ohne Flugzeug durch die Luft zu fliegen.«

 

»Sie haben ihn umgebracht!« zischte Bronson zwischen den Zähnen. »Sie verdammter Schuft!«

 

»Halten Sie den Mund!« fuhr ihn Digby an. »Wir wissen, was wir wissen wollen. Wo haben Sie ihn hinuntergeworfen?«

 

»Hier irgendwo in der Gegend. Ich habe eine verlassene Stelle gewählt. Es hätte mir zu leid getan, wenn er beim Fall noch einem anderen weh getan hätte.«

 

Digby verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen, und schloß die Tür hinter sich. Er sprach auch nicht, bis er wieder im Raum war, wo er sich vor weniger als einer Woche von Villa verabschiedet hatte. Er schauderte bei dem Gedanken an den schrecklichen Tod dieses Mannes. Die beiden Spanier waren hier, und sie hatten ein Geschäft vor, das nicht aufgeschoben werden konnte. Digby hatte ursprünglich gehofft, daß sie seinem Versprechen trauen und warten würden, bis man einen sicheren Platz erreicht hätte, bevor sie sich ihre Anteile auszahlen ließen. Aber sie legten den Versprechen und Worten ihres Anführers gerade keinen zu großen Wert bei. Sie hatten große Summen zu bekommen, und Digby war es sehr unangenehm, daß er sie auszahlen mußte. Aber er konnte sich jetzt nicht mehr davor drücken. Es blieb ihm ja trotzdem noch ein ungeheures Vermögen. Die anderen Mitglieder der Bande hatten ihre Anteile noch nicht erhalten, und er hatte auch nicht die Absicht, sie ihnen zu geben.

 

»Was haben Sie für Pläne«, fragte Xavier Silva.

 

»Ich gehe nach Kanada«, antwortete Digby. »Lesen Sie die Zeitungen, und suchen Sie unter den ›Privaten Anzeigen‹. Dort werde ich Ihnen meine Adresse bekanntgeben.«

 

Der Spanier grinste.

 

»Wir werden auf andere interessante Dinge aufpassen. Mein Freund und ich werden nach Spanien gehen. Wird Bronson bei Ihnen bleiben?«

 

Digby nickte.

 

Da Villa tot war, mußte er nun den Flieger ins Vertrauen ziehen. Er wollte ihn am Ende doch noch betrügen, aber Bronson konnte das nicht vermuten. Er schickte die beiden aus, um das Flugzeug zu prüfen. Jim hörte in seinem Raum das Summen der Propeller und mühte sich vergeblich ab, seine Hände freizubekommen.

 

Plötzlich hörte das Summen des Propellers auf. Xavier Silva war ein tüchtiger Mechaniker. Er hatte entdeckt, was an dem einen Zylinder defekt war.

 

»Sie bringen den Motor wieder in Ordnung«, murmelte Jim.

 

Er hatte also mehr Zeit, als er ursprünglich gehofft hatte. Er hörte draußen Schritte auf der steinernen Terrasse, und durch einen Spalt im Fensterladen konnte er sehen, daß Bronson vorbeiging. Digby hatte ins Dorf geschickt, um vorsichtige Nachforschungen nach Villas Schicksal anzustellen.

 

Merkwürdigerweise war den drei Männern, die das Herannahen des Flugzeugs von der Terrasse von Kennett Hall aus beobachtet hatten, Villas Schicksal entgangen. Sie hatten zwar gesehen, wie das Flugzeug die senkrechte Schleife beschrieb, aber Digby dachte nichts anderes, als daß Bronson dem jungen Mädchen seine Kunststücke zeigen wollte. Villas Leiche mußte hier irgendwo in der Nachbarschaft liegen; und wie nahe sie war, erfuhr Bronson im Gasthaus des Dorfes.

 

Als Bronson fortgegangen war, begab sich Digby zu seiner Gefangenen. Eunice schritt im Raum auf und ab.

 

»Wie hat Ihnen der Flug gefallen?« fragte er. »Es war wohl aufregend und nervenkitzelnd? Haben Sie auch beobachtet, wie mein Freund Villa ermordet wurde?«

 

Sie schaute ihn an: »Ich habe nicht gesehen, daß der Mann ermordet wurde.« Sie war bereit, Jim gegen jede Anschuldigung zu verteidigen.

 

Er las ihre Gedanken.

 

»Sorgen Sie sich nicht um Mr. Steele. Ich werde ihn nicht wegen Mordes anklagen, dazu habe ich keine Zeit; ich werde morgen abend bei Einbruch der Dunkelheit das Land verlassen, und Sie werden mich im Flugzeug begleiten.«

 

Sie erwiderte nichts.

 

»Ich hoffe, daß Ihnen ein kleines Eintauchen ins Wasser nichts ausmacht. Ich kann Ihnen nämlich nicht garantieren, daß wir gerade auf meiner Jacht landen werden.«

 

Sie wandte sich zu ihm. Auf seiner Jacht? Sie sollte auf einer Jacht entführt werden. Wohin wollte er sie bringen?

 

Draußen hörte er eilige Schritte und öffnete die Tür. Ein Blick auf Bronsons Gesicht sagte ihm, daß er wichtige Neuigkeiten brachte.

 

»Nun?« fragte er scharf.

 

»Sie haben Villas Leiche gefunden. Ich habe einen Zeitungsreporter im Gasthaus gesehen«, sagte er atemlos.

 

»Weiß man, wer er ist?« fragte Digby.

 

Bronson nickte.

 

»Was?« fragte Digby verwundert. »Woher kennt man denn Villas Namen?«

 

»Man hat ein Papier in seiner Tasche gefunden – eine Quittung über die Kaufsumme einer Jacht.«

 

Eunice sah durch, die offene Tür, wie Digby zusammenzuckte.

 

»Dann weiß man auch von der Jacht?«

 

Diese Nachricht verwirrte ihn vollkommen und regte ihn maßlos auf. Wenn die Polizei von der Jacht erfahren würde, türmten sich unüberwindliche Schwierigkeiten auf, und die Gefahr, die ihn bedrohte, schien ihm wie ein gigantisches Ungeheuer den Weg zu versperren. Digby Groat brach unter diesem Schock zusammen.

 

Eunice sah es. Er hatte sich vollständig verändert und war nicht mehr der kühle, selbstbeherrschte Mann, der alle Gefahren verachtete. Er war jetzt ein hilfloses, furchtsames Kind, das schimpfte und die Hände rang. Er gab zusammenhanglose Befehle und nahm sie schon wieder zurück, bevor sein Bote den Raum verlassen hatte.

 

»Drehen Sie Steele das Genick um!« brüllte er. »Töten Sie ihn, Bronson! Dieser verdammte Kerl! Nein, nein, bleiben Sie hier, machen Sie das Flugzeug fertig … wir wollen heute abend abfliegen …«

 

Er wandte sich zu Eunice und starrte sie an.

 

»Noch heute abend geht es fort, Eunice! Dann will ich mit Ihnen abrechnen!«

 

Kapitel 35

 

35

 

Eunice erwachte und versuchte sich klarzumachen, was geschehen war. Ihre letzte, klare Erinnerung knüpfte sich an ihr Zimmer in Mrs. Groats Haus. Digby Groat – sie zitterte bei dem Gedanken – war auf sie zugekommen. – Sie setzte sich aufrecht im Bett hin, sank aber mit furchtbaren Kopfschmerzen wieder zurück. Wo war sie? Sie schaute sich um. Der Raum war einfach möbliert, ein schwerer, grüner Vorhang war vor das kleine Fenster gezogen, aber es war genug Licht im Zimmer, daß sie den großen Kleiderschrank, die eiserne Bettstelle, den Waschständer und den Teppich erkennen konnte.

 

Sie war vollständig angezogen und fühlte sich entsetzlich elend. Sie wünschte sich in diesem Augenblick wieder nach Grosvenor Square zurück, zu ihrem luxuriösen Baderaum. Wie gerne hätte sie jetzt ein erfrischendes Brausebad genommen!

 

Wo mochte sie nur sein? Sie stand auf, schwankte durch das Zimmer und zog den Vorhang zur Seite. Ihr Blick fiel auf die grauen Hinterwände hoher Gebäude. Sie war also in London. Nur in London konnte man derartig hohe und langweilige Häuser sehen. Als sie die Tür zu öffnen suchte, fand sie, daß sie verschlossen war. Gleich darauf hörte sie draußen Schritte.

 

»Guten Morgen«, sagte Digby Groat, als er aufschloß und eintrat.

 

Zuerst erkannte sie ihn in seiner Chauffeurkleidung und ohne Schnurrbart nicht.

 

»Sie?« fragte sie in wildem Schrecken. »Wo bin ich? Warum haben Sie mich hierhergebracht?«

 

»Wenn ich Ihnen auch sagte, wo Sie sind, so würde Ihnen das doch nichts nützen«, erwiderte Digby kühl. »Und warum Sie bei mir sind, ist doch wohl klar. Seien Sie vernünftig und frühstücken Sie etwas.«

 

Er schaute sie als Arzt an. Die Wirkung des Betäubungsmittels hatte noch nicht aufgehört, und sie setzte ihm noch keinen großen Widerstand entgegen.

 

Ihre Kehle war verdorrt, und sie fühlte furchtbaren Hunger. Sie nippte an dem Kaffee, den er zubereitet hatte, und sah ihn dauernd an.

 

»Ich will Ihnen einmal etwas erklären«, sagte er plötzlich. »Ich bin in schwere Bedrängnis gekommen, und es ist notwendig, daß ich fortgehe.«

 

»Sie wollen Grosvenor Square verlassen? Gehen Sie nicht dorthin zurück?«

 

Er lächelte. »Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht«, sagte er ironisch. »Ihr Freund Steele –«

 

»Ist er dort?« rief sie begierig und schlug die Hände zusammen. »Erzählen Sie mir doch, bitte.«

 

»Wenn Sie glauben, daß ich das Lob Ihres Liebhabers singe, dann irren Sie sich gewaltig«, sagte Digby kühl. »Nun essen Sie etwas, und seien Sie ruhig!« Er sprach ohne Erregung, aber es lag etwas Drohendes in seinem Ton, so daß sie ihn nicht reizen wollte.

 

Allmählich begriff sie ihre Lage. Digby war auf der Flucht und nahm sie mit. Warum war sie nur mitgegangen? Er mußte sie irgendwie betäubt haben! Und plötzlich besann sie sich auf die Spritze, die er ihr gegeben hatte, und rieb instinktiv ihren Arm.

 

Digby sah diese Bewegung und erriet ihre Gedanken. Wie reizend sie wieder aussah! Trotz all der für sie schrecklichen Erlebnisse waren ihre Augen doch klar, und er freute sich, als er sie betrachtete. Weibliche Schönheit machte sonst selten Eindruck auf ihn, aber von ihrem Anblick war er stets aufs neue hingerissen.

 

»Eunice, ich werde Sie heiraten!«

 

»Mich heiraten?« fragte sie erstaunt. »Das werden Sie nicht tun, Mr. Groat. Ich will Sie nicht heiraten.«

 

»Darauf kommt es gar nicht an.« Digby lehnte sich über den Tisch. »Eunice«, sagte er leise, »wissen Sie, was ich Ihnen biete, und was geschieht, wenn Sie mein Angebot abweisen?«

 

»Ich werde Sie nicht heiraten!« erwiderte sie entschieden. »Und Sie können durch keine Drohung meine Entschlüsse ändern.«

 

Er sah sie unentwegt an. »Wissen Sie auch, daß ich es in der Hand habe, Sie dahin zu bringen, daß Sie froh sind, mich heiraten zu dürfen?« Er wählte seine Worte mit großer Überlegung und sprach nachdrücklich. »Und daß ich vor nichts – aber auch vor gar nichts zurückschrecke?«

 

Sie antwortete nicht, aber sie erblaßte.

 

»Verstehen Sie mich endlich, mein Liebling? Es ist absolut notwendig, daß ich Sie heirate! Entweder nehmen Sie meinen Antrag an, oder Sie haben die Folgen zu tragen. Und Sie können sich denken, welche Folgen das sein werden.«

 

Sie hatte sich erhoben und schaute verächtlich auf ihn herunter. »Ich bin in Ihrer Gewalt«, sagte sie ruhig. »Tun Sie, was Sie wollen. Aber bei klarem Bewußtsein werde ich Sie niemals heiraten. Sie haben mich gestern betäubt, so daß ich mich nicht darauf besinnen kann, was in der Zeit passierte, nachdem ich Ihr Haus verließ und hier ankam. Möglicherweise können Sie mich wieder in dieselbe Lage versetzen, aber früher oder später, Digby Groat, werden Sie für all das Böse, das Sie getan haben, zur Rechenschaft gezogen werden.«

 

Sie wandte sich, um den Raum zu verlassen, aber er war vor ihr an der Tür und zog sie heftig zu sich. »Wenn Sie schreien, schlage ich Sie tot!«

 

Sie schaute ihn mit eisigen Blicken an. »Ich werde nicht schreien!«

 

Und sie war auch ganz ruhig, als die spitze Nadel der Spritze wieder in ihren Arm drang.

 

»Wenn mir irgend etwas passiert«, sagte sie kaum hörbar, »werde ich mir vor Ihren Augen das Leben nehmen, mit einer Ihrer Waffen.« Ihre Stimme wurde schwächer, und er beobachtete sie scharf.

 

Zum erstenmal erschrak er. Sie hatte ihn an einem empfindlichen Punkt getroffen – seiner eigenen, persönlichen Sicherheit! Sie wußte es. Wie war ihr nur dieser Gedanke gekommen? Er beobachtete sie und sah, wie sie unter dem Einfluß der Spritze erst erblaßte und dann wieder rot wurde. Sie würde ihre Drohung ausführen, so weit kannte er sie. Angstschweiß trat auf seine Stirn. Sie hätte es ja hier tun können, und er hätte seine Unschuld an ihrem Tod nicht beweisen können.

 

Er ließ ihre Hand fallen und führte sie zu einem Stuhl. Wieder strich sie über ihren Arm.

 

»Stehen Sie auf«, sagte Digby Groat dann. Sie gehorchte. »Gehen Sie jetzt in Ihr Zimmer, und bleiben Sie solange dort, bis ich Sie brauche.«

 

Kapitel 36

 

36

 

Am Nachmittag bekam Digby Besuch. Offenbar wollte der Mann eine Garage mieten, denn er erkundigte sich mehrere Male in der Nebenstraße, bevor er in Digby Groats vorübergehender Wohnung vorsprach. Es war Villa, der auf ein dringendes Telegramm hin gekommen war. – »Nun«, fragte Digby, »ist alles in Ordnung?«

 

»Alles ist aufs beste vorbereitet, mein lieber Freund. Ich habe die drei Leute, die Sie brauchen, Bronson, Fuentes und Silva – Sie kennen sie ja alle von früher her.«

 

Digby nickte. Bronson war ein Armeeflieger, der den Dienst unter merkwürdigen Umständen quittiert hatte. Digby hatte schon früher einmal seine Dienste in Anspruch genommen. Die anderen kannte er als Freunde Villas – und Villa hatte sonderbare Freunde.

 

»Bronson wird auf einem Feld in der Nähe von Rugby sein. Ich sagte ihm, daß er eine Notlandung vorschützen soll.«

 

»Gut. Nun hören Sie zu. Ich werde in der Verkleidung einer alten Frau zunächst nach Norden fahren, um die Leute irrezuführen. Ein Wagen muß eine Meile vor der Station warten, und Fuentes muß mit einer roten Signallampe den Zug zum Stehen bringen. Wenn ihm das gelungen ist, soll er sich aus dem Staube machen. Inzwischen habe ich auch den Zug verlassen. Ich kenne Rugby und seine Umgebung sehr gut, und aus dieser Karte können Sie alles Nähere ersehen.« Er reichte Villa ein Blatt Papier. »Der Wagen muß am Ende der Straße halten, die ich mit einem großen D markiert habe. Ist das Haus in guter Verfassung?«

 

»Es ist zwar ein Haus auf dem Grundstück, aber es ist ziemlich verfallen.«

 

»Es kann nicht schlechter sein als Kennett Hall. Für unsere Zwecke genügt es. Sie können das Mädchen dort die ganze Nacht über versteckt halten und sie am Morgen nach Kennett Hall bringen. Ich werde dann dort sein, um sie zu empfangen. Morgen nachmittag, kurz vor Sonnenuntergang, werden wir zur See fliegen.«

 

»Und was soll Bronson machen?«

 

»Bronson muß abgefunden werden, überlassen Sie das nur mir.«

 

Er wollte im Augenblick nicht darüber sprechen.

 

»Wie kommen Sie denn nach Kennett Hall?«

 

»Das können Sie auch mir überlassen«, sagte Digby stirnrunzelnd. »Warum sind Sie denn plötzlich so neugierig? Ich werde in der Nacht mit dem Wagen hinfahren.«

 

»Und warum nehmen Sie das Mädchen nicht mit sich?« fragte Villa hartnäckig.

 

»Weil ich will, daß sie auf dem einzig sicheren Weg in Kennett Hall ankommt. Wenn es beobachtet werden sollte, dann können wir ebenso schnell wieder fort, bevor sie uns festhalten. Ich werde vor Tagesanbruch dort sein und alles selbst erkunden. Ich kann niemand anders als mir selbst vertrauen. Und was noch wichtiger ist: ich kenne die Leute, die mich überwachen. Haben Sie mich nun verstanden?«

 

»Vollkommen, mein Freund«, sagte Villa liebenswürdig. »Und wie steht es mit der Auszahlung?«

 

»Ich habe das Geld hier«, erwiderte Digby und klopfte auf seine Brusttasche. Sie werden keinen Grund haben, sich zu beklagen. Wir werden noch viel erleben – wir sind noch nicht über den Berg.«

 

*

 

Die fürchterlichen Kopfschmerzen erschienen Eunice Weldon unerträglich. Sie konnte den Kopf kaum vom Kissen heben. Sie mußte den ganzen Tag über in einem Dämmerzustand gelegen haben. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was vorgefallen war und wo sie sich befand. Aber das Nachdenken schmerzte sie so sehr, daß sie zufrieden war, ruhig liegen zu können. Mehrere Male erinnerte sie sich an Digby Groat, aber sie war so verwirrt, daß sie ihn mit Jim Steele verwechselte und die beiden nicht voneinander unterscheiden konnte.

 

Sie wußte nicht, wo sie war, und kümmerte sich im Augenblick auch nicht darum. Sie wußte nur, daß sie lag, und daß sie Ruhe hatte – und das genügte ihr. Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß sie in den rechten Arm gestochen würde, dann schlief sie ein. Als sie aufwachte, empfand sie wieder die entsetzlichen Kopfschmerzen. Es war, als ob jemand ihr glühende Nägel in das Gehirn triebe.

 

Schließlich war es nicht mehr zu ertragen, und sie stöhnte laut auf. Eine Stimme in ihrer Nähe fragte ängstlich:

 

»Haben Sie Schmerzen?«

 

»Mein Kopf«, murmelte sie. »Es ist schrecklich.«

 

Gleich darauf fühlte sie, daß jemand sie um den Nacken faßte, sie stützte und ihr ein Glas an den Mund hielt.

 

»Trinken Sie das!«

 

Sie schluckte etwas Bitteres und verzog das Gesicht.

 

»Das hat schlecht geschmeckt«, sagte sie.

 

»Sprechen Sie nicht.« Digby war sehr erschrocken über den Zustand, in dem er sie fand, als er von seiner Erkundungsfahrt zurückkehrte. Sie sah furchtbar blaß aus, ihr Atem ging schwer, und ihr Puls war so schwach, daß er ihn kaum wahrnehmen konnte. Er hatte diesen Zusammenbruch gefürchtet, aber er mußte seine ›Behandlung‹ fortsetzen.

 

Er schaute stirnrunzelnd auf sie nieder, fühlte sich aber beruhigt, als er sah, daß allmählich wieder etwas Farbe in ihr wachsbleiches Gesicht kam. Auch der Puls wurde wieder stärker.

 

Gleich nachdem Eunice die Medizin genommen hatte, fühlte sie sich von den Schmerzen befreit. Der Wechsel kam so plötzlich, und sie fühlte sich so wohl, daß sie dem Mann auf den Knien hätte danken können, der dieses Wunder vollbrachte. Dann fiel sie in Schlaf.

 

Digby seufzte erleichtert auf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er hatte eine angenehme Beschäftigung, denn die ganze Tischplatte war mit Päckchen von Fünftausenddollarnoten bedeckt. Es war ihm gelungen, die ganzen Guthaben der Dreizehn von der Bank abzuheben und sie in amerikanische Dollars umzuwechseln. Es wäre verfänglich für ihn gewesen, wenn er in Brasilien mit englischen Banknoten angekommen wäre, die er nicht umtauschen konnte, ohne daß die Nummern bekannt wurden.

 

Als er das Geld durchgezählt hatte, steckte er es in einen Gürtel mit vielen Taschen, schnallte ihn um und machte sich fertig für die Reise. Eine graue Perücke machte ihn vollständig unkenntlich, aber er traute dieser Verkleidung doch nicht ganz. Er schloß die Tür ab und begann sich sorgfältig umzukleiden.

 

Kurz vor acht Uhr kam Eunice wieder zum Bewußtsein. Außer einem peinigenden Durst fühlte sie kein weiteres Mißbehagen. Der Raum war nur schwach durch eine kleine Lampe erhellt, die auf dem Waschtisch stand. Sie trank lange und gierig aus dem großen Glas, das sie auf einem Tisch an der Seite des Bettes fand. Das erste, was ihre Aufmerksamkeit erregte, war ein schönes Gesellschaftskleid mit silbernen Spitzen, das über der Stuhllehne hing. Dann entdeckte sie eine Karte, die an ihr Kopfkissen geheftet war. Sie war grau, aber sie hatte nicht die Tönung jener Karte, die sie in der ersten Nacht in Digbys Haus erhalten hatte. Digby hatte die Farbe nicht richtig getroffen, immerhin hatte er sorgfältig die blaue Hand nachgemacht. Eunice las zuerst die Botschaft, ohne sie zu verstehen, aber plötzlich begann ihr Herz wild zu schlagen.

 

»Ziehen Sie die Kleider an, die Sie hier finden. Wenn Sie der Aufforderung ohne Widerrede nachkommen, werde ich Sie vor einem schrecklichen Schicksal bewahren. Ich werde zu Ihnen kommen, aber Sie dürfen nichts zu mir sagen. Wir werden nach Norden fahren, um Digby Groat zu entkommen.« Neben diesen Zeilen stand der Abdruck einer dunkelblauen Hand.

 

Eunice zitterte an allen Gliedern, und allmählich kamen die Ereignisse der letzten Tage wieder in ihr Gedächtnis zurück. Sie befand sich in der Gewalt Digby Groats, und die geheimnisvolle Frau in Schwarz wollte sie befreien. Es schien fast unmöglich. Sie erhob sich vom Lager und wäre beinahe wieder zurückgesunken, denn ihre Füße waren unfähig, ihren Körper zu tragen. Sie klammerte sich an den Pfosten ihres Bettes, bevor sie begann, sich anzukleiden.

 

Sie vergaß ihren furchtbaren Durst und vergaß auch ihre Schwäche. Mit zitternden Händen legte sie das schöne Kleid an und schlüpfte in die seidenen Strümpfe und Schuhe. Warum mochte wohl die geheimnisvolle, schwarze Frau dieses auffallende Kleid gewählt haben, wenn sie doch fürchtete, daß Digby Groat sie bewachte? Aber sie konnte nicht zusammenhängend denken und nahm sich vor, ihrer Befreierin blindlings zu folgen. Sie ordnete ihr Haar vor dem kleinen Spiegel und sah erschrocken ihr Gesicht. Tiefe, schwarze Ringe lagen um ihre Augen; sie sah aus, als ob sie schwer krank sei.

 

›Ich bin froh, daß Jim dich nicht sehen kann, Eunice Weldon‹, sagte sie zu sich selbst. Die Erinnerung an Jim belebte sie wieder. Er hatte alles für sie getan, und sie hatte ihn so sehr beleidigt, Sie dachte an ihre letzte Begegnung mit ihm. Er hatte ihr doch gesagt, daß sie die Tochter der Lady Mary sei. Das war nicht möglich! Und doch hatte Jim es gesagt, und deshalb mußte es stimmen. Sie wollte über alles nachdenken, aber es fiel ihr zu schwer.

 

»Ich darf nicht überlegen«, flüsterte sie. Und dabei wirbelten Erinnerungen, Gedanken, Zweifel, Fragen und Vermutungen in ihrem Kopf durcheinander. Lady Mary Danton war ihre Mutter. Dann war sie auch die Frau, die damals in Jims Wohnung gekommen war.

 

Plötzlich hörte sie ein Klopfen an der Tür und erhob sich. War es Digby Groat?

 

»Treten Sie näher«, sagte sie mit schwacher Stimme.

 

Die Tür öffnete sich, aber der Besucher trat nicht ein. Sie sah, daß eine verschleierte Frau in schwarzen Kleidern auf dem Treppenpodest stand und ihr winkte. Unsicher erhob sich Eunice und ging auf sie zu.

 

»Wo wollen wir hingehen?« fragte sie. »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen tausendmal für alles, was Sie an mir tun!«

 

Die Frau antwortete nicht, sondern ging die Treppe hinunter, Eunice folgte ihr. Draußen war dunkle Nacht. Es regnete, und die Nebenstraße lag verlassen da, nur eine Taxe stand vor der Tür. Die Frau öffnete den Wagen und stieg nach Eunice ein.

 

»Sie müssen nicht fragen«, flüsterte sie ihr zu. »Hier ist ein Cape für Sie. Nehmen Sie es um.«

 

Wo würde diese Fahrt hingehen?

 

Eunice fühlte sich« sicher – aber warum gingen sie denn von London fort? Vielleicht erwartete sie Jim am Ende dieser Fahrt und vielleicht war die Gefahr größer, als sie ahnte. Wohin mochte Digby Groat gegangen sein, und wie war es dieser geheimnisvollen Frau gelungen, ihn aus dem Wege zu schaffen? Sie legte die Hände an die Schläfen. Sie mußte warten und Geduld haben. Sie würde alles noch erfahren zu seiner Zeit – und sie würde Jim wiedersehen!

 

Die beiden Herren, die sich für die Abfahrt des Abendzuges interessierten, der nach dem Norden ging, fanden nichts Ungewöhnliches an einer jungen Dame im Gesellschaftskleid, die von einer älteren Frau in Trauerkleidung begleitet wurde. Eunice und ihre Begleiterin nahmen in einem reservierten Abteil Platz. Dieser Zug wurde häufig von Leuten benützt, die nach London fuhren, um sich die Theatervorstellungen anzusehen. Der Detektiv, der auf dem Bahnsteig stand, sah jeden Herrn, der eine Dame begleitete, argwöhnisch an, aber dem jungen Mädchen im Abendkleid und ihrer Mutter schenkte er keine Beachtung.

 

Auch Lady Mary war in ihrer Unruhe nach Euston gekommen, um den Detektiven bei der Überwachung des Bahnhofs zu helfen. Sie hatte, kurz bevor Eunice ihren Platz einnahm, alle Wagen und alle Passagiere genau beobachtet. –

 

»Setzen Sie sich in die Ecke, und schauen Sie nicht nach draußen«, flüsterte ihr die Frau zu. »Ich fürchte, daß Groat uns nachstellt und sich auch auf dem Bahnsteig aufhält.«

 

Das Mädchen gehorchte, und Lady Mary, die wieder an den Wagen entlangging, sah das junge Mädchen im Gesellschaftskleid. Aber sie konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Der Detektiv von Scotland Yard ging mit ihr den ganzen Bahnsteig entlang bis zum Ausgang.

 

»Heute abend gehen keine weiteren Züge ab«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er in einem Auto aus der Stadt entkommen.«

 

»Aber es werden doch alle Straßen kontrolliert«, erwiderte Lady Mary ruhig. »Und es ist unmöglich, daß sie London auf diese Weise verlassen haben.«

 

In diesem Augenblick hörten sie den schrillen Pfiff der Lokomotive, und der Zug fuhr langsam aus der Halle.

 

»Kann ich jetzt einmal hinausschauen?« fragte Eunice.

 

Die schwarze Dame nickte nur.

 

Kaum hatte Eunice auf den Bahnsteig gesehen, als sie mit einem Schrei aufsprang.

 

»Dort!« schrie sie wild. »Dort steht Mrs. Fane – nein, meine Mutter, Lady Mary!«

 

Im nächsten Augenblick wurde sie zurückgerissen.

 

»Wollen Sie sich wohl setzen!« rief ihr eine haßerfüllte Stimme zu.

 

Die Dame in Schwarz zog den Vorhang vor das Wagenfenster und hob den Schleier. Eunice wußte, daß es Digby Groat war, bevor sie sein gelbes Gesicht gesehen hatte.

 

Kapitel 37

 

37

 

Das Erkennen war gegenseitig gewesen. Lady Mary hatte das weiße Gesicht und die weitaufgerissenen Augen nur eine Sekunde lang sehen können, dann war der Zug schnell an ihr vorbeigefahren. Im ersten Augenblick war sie wie gelähmt.

 

»Sehen Sie – dort!« rief sie außer sich. »Halten Sie den Zug an!«

 

Der Detektiv sah sich um, aber es war keiner der Beamten in der Nähe. Schnell eilte er zu der Sperre, Lady Mary war dicht hinter ihm. Er konnte aber niemand finden, der genügend Autorität hatte, entscheidende Schritte zu unternehmen.

 

»Ich will den Stationsvorsteher suchen«, rief er. »Können Sie inzwischen telefonieren?«

 

An der Sperre befand sich eine Telefonzelle.

 

Lady Marys erster Gedanke galt Jim.

 

Er saß in seinem Zimmer und hatte den Kopf in den Händen vergraben, als das Telefon läutete. Er hob den Hörer müde ab. Lady Mary war am Apparat.

 

»Eunice befindet sich in dem Zug nach Norden, der eben den Bahnhof verlassen hat«, sagte sie schnell. »Wir machen den Versuch, den Zug in Willesden aufzuhalten, aber ich fürchte, es wird uns nicht gelingen. Um Gottes willen, Jim, unternehmen Sie etwas zu ihrer Rettung!«

 

»Wie lange ist der Zug schon fort?«

 

»Es ist kaum eine Minute her …«

 

Er hängte den Hörer sofort ein, riß die Tür auf und eilte die Treppe hinunter. Im nächsten Augenblick hatte er seine Entscheidung getroffen. Blitzartig kam ihm die Erinnerung an den sonnigen Nachmittag, an dem er an der Seite Eunices den kleinen Jungen beobachtet hatte, der an den Telegrafendrähten über die Eisenbahnschienen geklettert war. Er stürzte in den Hof, und als er die Mauer erstiegen hatte; hörte er auch schon das Geräusch eines Zuges im Tunnel.

 

Die Züge fuhren wegen der großen Steigung hier nur langsam. Aus welcher der beiden Öffnungen des Tunnels würde der Zug kommen? Aber es blieb ihm keine Zeit zu überlegen. Schnell griff er nach den Telegrafendrähten und schwang sich ins Freie. Die Drähte waren stark genug, einen Knaben zu tragen, würden sie auch sein Gewicht aushalten? Er fühlte, wie sie unter seiner Last nachgaben und sich senkten. Der Pfosten ächzte, aber er mußte das Risiko auf sich nehmen. Hand über Hand arbeitete er sich vorwärts, und gleich darauf sah er zu seiner größten Bestürzung die Lichter der Lokomotive aus dem entfernteren Tunnel hervorkommen. In größter Eile hangelte er vorwärts. Die Maschine keuchte schwer und war schon vorübergefahren, bevor er den Schienenstrang erreicht hatte. In den nächsten Sekunden war er über dem Zug angelangt und zog die Beine hoch, um nicht gegen die Wagendecken zu schlagen. Dann ließ er sich mit kurzem Entschluß los. Durch die Bewegung des Zuges fiel er um und war in Gefahr, von dem gewölbten Dach herunterzurollen, aber er packte einen Ventilator und konnte sich wenigstens auf seine Knie erheben.

 

Aber schon drohte neue Gefahr, denn der Zug lief in einen zweiten Tunnel ein. Er konnte sich gerade noch flach auf die Decke des Wagens werfen. Qualm und Rauch machten ihm das Atmen schwer. Er hatte den richtigen Zug erreicht, davon war er überzeugt. Keuchend lag er oben auf dem Dach, und es bedurfte all seiner Kraft, sich festzuhalten, als der Lokomotivführer die Geschwindigkeit steigerte.

 

Als sie aus dem Tunnel kamen, fühlte er, daß es anfing zu regnen, und gleich darauf setzte ein starker Platzregen ein, so daß er in kürzester Zeit bis auf die Haut durchnäßt war. Aber er mußte aushalten. Würde Lady Mary Erfolg haben und den Zug in Willesden zum Stehen bringen? Doch der Zug fuhr nicht langsamer, als sie sich der Station näherten, sondern vergrößerte seine Geschwindigkeit noch.

 

Die Wagen bewegten sich unruhig über die Schienen, und Jim bekam bald einen Stoß von rechts, bald von links. Das Dach war durch den Regen ganz glatt geworden. Er mußte seine Beine um einen Ventilator schlingen, an dem anderen hielt er sich fest, und so gelang es ihm, sich oben zu halten. Wenn er müde werden und sich loslassen wollte, bestärkte ihn immer wieder der Gedanke, daß er alles für Eunice tat.

 

Es schien eine unendlich lange Zeit verflossen zu sein, als er in einiger Entfernung viele grüne und rote Lichter auftauchen sah. Sie näherten sich Rugby, und die Geschwindigkeit des Zuges verlangsamte sich allmählich. Plötzlich hielt der Zug mit einem Ruck an, Jim verlor das Gleichgewicht, wurde vom Dach geschleudert und fiel in ein Wasserloch.

 

*

 

Für Eunice Weldon war die Fahrt eine entsetzliche Qual gewesen. Sie verstand jetzt alles. Digby Groat war sich darüber klar gewesen, daß sie niemals freiwillig mit ihm gegangen wäre, aber er hatte nicht gewagt, sie noch einmal zu betäuben, nachdem er ihren Zustand erkannt hatte. Er hatte zu dieser List gegriffen, weil er wußte, daß sie der Frau in Schwarz sofort folgen würde. Nun begriff sie auch, warum er das Gesellschaftskleid für sie ausgesucht hatte. Er hatte die Vorhänge vor die Fenster gezogen und rauchte eine Zigarette.

 

»Wohin bringen Sie mich?« fragte sie.

 

»Wenn ich gewußt hätte, daß Sie mich das fragen würden«, erwiderte er ironisch, »hätte ich Reiselektüre für Sie vorgesehen. Sie müssen sich in Geduld fassen, bis wir ankommen.«

 

Es war nur ein Wagen im Zug, der keinen durchgehenden Seitengang hatte, und Digby hatte ein Abteil darin für sich reservieren lassen. Dieser Wagen verkehrte nur auf kurzen Strecken und sollte in Rugby abgehängt werden. Digby brauchte also nicht zu fürchten, daß sie während der Fahrt gestört wurden. Einige Male hatte er zur Decke gesehen, auch Eunice hatte ein Geräusch über sich gehört, als ob jemand auf dem Dach des Wagens sei. Sie beobachtete ihn scharf, als er das Fenster öffnete und sich hinauslehnte. Aber gleich darauf zog er. sich wieder zurück, naß vom Regen.

 

»Das ist eine schauderhafte Nacht«, sagte er, als er die Vorhänge wieder schloß. »Eunice, nun seien Sie vernünftig, es gibt Dinge, die schlimmer sind, als mich zu heiraten.«

 

»Ich möchte nur wissen, was das sein sollte«, erwiderte Eunice ruhig. Sie hatte die Folgen der Injektion allmählich überwunden und war beinahe wieder normal.

 

Er warf die Zigarette plötzlich auf den Boden und setzte sich neben sie.

 

»Eunice, ich muß Sie besitzen!« Sie hörte das leise Zittern in seiner Stimme und sah seine begehrlichen Blicke. »Verstehen Sie nicht, daß ich Sie liebe, daß ich Sie haben muß? Ich könnte ohne Sie nicht mehr leben. Ich würde lieber Sie und mich tot wissen, als Sie Jim Steele oder einem anderen Mann überlassen.« Er legte seinen Arm um sie, und sein Gesicht war dem ihren so nahe, daß sie seinen schnellen Atem auf ihrer Wange fühlte. »Verstehen Sie mich?« fragte er leise. »Ich würde Sie eher umbringen! Denken Sie einmal darüber nach.«

 

»Es gibt schlimmere Dinge als den Tod.«

 

»Ich freue mich, daß Sie das einsehen.« Er lachte plötzlich auf und fand seine Selbstbeherrschung wieder. Er sagte sich, daß es falsch sei, sie in diesen gefährlichen Augenblicken zu erschrecken. Die eigentlichen Schwierigkeiten standen ja noch bevor.

 

Eunice dachte schnell. Der Zug würde bald anhalten, und wenn er sie töten sollte, würde sie um Hilfe schreien. Sie haßte ihn jetzt über alle Maßen und sah in ihm alles Böse, Häßliche und Schlechte verkörpert. Sie schauderte vor der Zukunft, die er ihr eben gezeigt hatte. Sie wußte nun, was seine Drohung zu bedeuten hatte. Der Tod war demgegenüber ein erlösendes und gnädiges Schicksal. Er wollte sie so erniedrigen, daß sie nicht mehr wagen würde, den Kopf zu erheben und Jim in die Augen zu sehen. Aus Verzweiflung sollte sie ihn heiraten, um ihren Namen und den ihres Kindes vor Schande zu bewahren.

 

Sie fürchtete ihn noch mehr in seiner grotesken Verkleidung. Was mochte er jetzt vorhaben? Wie wollte er von Rugby entkommen? Auf dem Bahnsteig würden die Beamten doch nach ihm suchen.

 

Lady Mary hatte sie gesehen und erkannt. Sie hatte sicher telegrafiert, damit der Zug nach ihr durchsucht würde. Der Gedanke an Lady Mary beruhigte sie. Sie war ihre Mutter, diese schöne Frau, auf die sie sogar eifersüchtig gewesen war! Sie mußte lächeln, und Digby Groat, der sie beobachtete, wunderte sich über dieses Zeichen glücklicher Freude.

 

Sie gab ihm mehr Rätsel auf als er ihr.

 

»Worüber lächeln Sie?« fragte er neugierig. Aber als sie ihn wieder ansah, verschwand der frohe Zug aus ihrem Gesicht, und sie wurde wieder ernst. »Sie denken wohl, daß man Sie in Rugby befreien wird?«

 

»Rugby«, sagte sie schnell. »Hält der Zug dort?«

 

»Sie sind ein merkwürdiges Mädchen«, erwiderte er grinsend. »Sie bringen es doch dauernd fertig, Informationen aus mir herauszuholen. Ja, der Zug hält in Rugby.« Er sah nach seiner Uhr. »Wir sind gleich dort«, sagte er dann und öffnete die kleine, seidene Handtasche, die zu dem Kostüm der älteren Dame gehörte. Er nahm einen kleinen, schwarzen Kasten heraus, und Eunice erschrak, als sie ihn sah.

 

»Nein, das nicht«, bat sie. »Bitte, tun Sie das nicht!«

 

»Wollen Sie mir schwören, daß Sie keinen Versuch machen, zu schreien oder die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken?«

 

»Ja«, entgegnete sie bestimmt. »Ich verspreche es Ihnen.«

 

Sie hoffte ja noch immer, daß die Beamten vorbereitet seien und sie erkennen würden; sonst blieb ihr wirklich keine Hoffnung mehr.

 

»Ich will das Risiko auf mich nehmen. Es ist eigentlich töricht von mir, daß ich Ihnen traue. Aber wenn Sie mich betrügen oder hintergehen, werden Sie nicht weiterleben, meine Liebe!«

 

Kapitel 38

 

38

 

Sie atmete freier, als sie sah, daß er den kleinen, schwarzen Kasten in die Tasche zurücksteckte. Plötzlich verlangsamte sich die Fahrt des Zuges, und er hielt mit einem so heftigen Ruck an, daß sie beinahe von ihrem Sitz geschleudert wurde. »Ist ein Unglück passiert?«

 

»Ich glaube nicht«, sagte Digby und zeigte lachend seine Zähne. Er hatte seine Kleider und auch den schwarzen Hut in Ordnung gebracht, ließ jetzt das Fenster hinunter und schaute in die Nacht hinaus. Er hörte, wie die Beamten einander zuriefen und sah Signallampen. Schnell öffnete er die Tür und wandte sich nach Eunice um.

 

»Kommen Sie heraus«, befahl er scharf.

 

Sie stand erschrocken auf.

 

»Wir sind doch noch nicht auf dem Bahnsteig?«

 

»Kommen Sie schnell heraus und erinnern Sie sich an Ihr Versprechen!«

 

Mühsam trat sie hinaus in die Dunkelheit. Er half ihr von dem Trittbrett herunter, faßte sie am Arm, und sie stolperten die Böschung hinab, bis sie auf ein Feld kamen, das mit hohem Gras bestanden war. Ihre Schuhe und Strümpfe wurden naß vom Regen, der mit ungewöhnlicher Heftigkeit niederging, und sie konnte sich kaum auf den Füßen halten. Aber Digby umspannte fest ihren Arm und schritt schnell vorwärts. Er schien den Weg zu kennen, obwohl sie kaum einige Meter weit sehen konnte. Bevor sie die Wiese überquert hatten, war sie vollständig durchnäßt. Sie hörte Digby fluchen, als er sich in seinem Kleid verfing. Sonst hätte sie sicher über sein Aussehen gelacht, aber jetzt war sie zu bestürzt, um sich über irgend etwas belustigen zu können. Dafür waren ihr Mut und ihre Entschlußkraft gewachsen.

 

Digby hielt einen Augenblick an und horchte, aber er hörte nichts als den Regen. Als Eunice zurückschaute, sah sie, daß der Zug weiterfuhr, und sie wunderte sich, warum er gerade an dieser Stelle gehalten hatte.

 

»Ich hätte beinahe darauf geschworen, daß ich jemand hier durch den Morast gehen hörte«, sagte Digby. »Kommen Sie mit, dort steht der Wagen.«

 

Sie entdeckte einen schwachen Lichtschimmer. Gleich darauf traten sie aus den sumpfigen Feldern heraus und erreichten einen festen Weg, auf dem sie besser gehen konnte.

 

Sie hatte einen Schuh verloren und schleuderte nun auch den anderen fort. Sie konnte leichter in Strümpfen gehen, da die dünnen Sohlen vollständig durchnäßt waren.

 

Sie hatten nicht mehr lange zu gehen. Aus dem Seitenweg kamen sie auf die Hauptstraße, wo ein geschlossener Wagen wartete. Digby schob Eunice hinein, sprach ein paar leise Worte zum Fahrer und stieg dann hinter ihr ein.

 

»Dieser verfluchte Regen! Aber ich will mich nicht darüber beschweren, er hat unsere Flucht sehr begünstigt.«

 

Plötzlich wurde es hell im Wagen. Er hatte seine kleine Taschenlampe angemacht.

 

»Wo haben Sie Ihre Schuhe?«

 

»Ich habe sie auf dem Felde verloren.«

 

»Verdammt, warum haben Sie das getan?« fragte er ärgerlich. »Sie wollten wohl ein Zeichen für Jim Steele zurücklassen?«

 

»Seien Sie nicht unvernünftig, Mr. Groat. Es waren doch nicht meine Schuhe, also kann man auch nicht daran erkennen, daß ich hier war.«

 

Er antwortete ihr nicht, sondern saß zusammengekauert in einer Ecke, während der Wagen durch die Dunkelheit fuhr. Es dauerte etwa eine Viertelstunde, dann hielt der Wagen vor einem kleinen Hause, und Digby sprang hinaus.

 

»Ich werde Sie tragen«, sagte er zu ihr.

 

»Das ist nicht notwendig«, erwiderte Eunice kühl.

 

»Doch, ich will es«, forderte er. »Ich wünsche nicht, daß man Ihre Fußspuren hier auf der Straße sieht.«

 

Er hob sie auf. Es wäre töricht gewesen, ihm Widerstand zu leisten. Sie mußte seine Berührung dulden, bis er sie auf einen mit Steinplatten belegten Hausflur niedersetzte. Ein dumpfer Geruch schlug ihr entgegen.

 

»Ist ein Feuer angesteckt?« fragte er den Fahrer über die Schulter.

 

»Jawohl, im hinteren Zimmer. Ich dachte mir schon, daß Sie es bei dem Regen brauchen …«

 

»Machen Sie auch im anderen Kamin Feuer«, befahl Digby. Er stieß die Tür auf. Der Schein des Kaminfeuers war das einzige Licht im Raum.

 

Gleich darauf brachte der Fahrer eine Lampe. Digby bot einen traurigen, ja lächerlichen Anblick. Seine graue Perücke war durchnäßt und hing ihm tief ins Gesicht, sein Kleid war über und über mit Schlamm und Schmutz bedeckt, und seine leichten Schuhe waren vollständig verdorben.

 

Sie selbst befand sich in keinem besseren Zustand, aber sie dachte jetzt nicht an ihr Aussehen. Sie fror und zitterte, trat näher an das Feuer und streckte ihre eiskalten Hände nach der Flamme aus.

 

Digby ging aus dem Zimmer, und sie hörte ihn draußen leise sprechen. Aber der Mann, mit dem er sich unterhielt, war anscheinend nicht der Fahrer.

 

Sie überlegte sich, wo sie diese Stimme schon gehört hatte, und nach einer Weile konnte sie sich darauf besinnen. Es war der Mann, den sie und Jim damals aus Digbys Haus hatten heraustreten sehen, als sie auf den Stufen vor der Haustür standen. Plötzlich kam Digby mit einem Handkoffer zurück. »Sie müssen sich jetzt umziehen, hier finden Sie alles, was Sie nötig haben.« Er stellte die Ledertasche hin, dann zeigte er auf ein Bett, das in der Ecke des Zimmers stand.

 

»Wir haben keine Handtücher hier, aber vielleicht können Sie eins der Bettücher verwenden, um sich abzutrocknen.«

 

»Ihre Sorge um mich ist geradezu rührend«, sagte sie verächtlich, und er lachte.

 

»Ich habe es gern, wenn Sie so sind«, erwiderte er bewundernd. »Es ist Ihr Verstand, Ihre Energie, die ich liebe. Wenn Sie eins von diesen jammernden und winselnden Geschöpfen wären, eins von diesen furchtsamen Mädchen, die keinen Mut haben, wäre ich schon längst mit Ihnen fertig. Aber ich will Ihren teuflischen Stolz schon noch bändigen. Sie glauben wohl, Sie könnten mich verachten? Und Sie wären besser als alle anderen Frauen?«

 

Sie antwortete nicht und wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte. Die Tür war nicht verschließbar, sie konnte nur einen Stuhl unter die Türklinke stellen. Schnell entkleidete sie sich und benutzte das Bettuch, um sich trocken zu reiben.

 

Die Fenster waren mit Gittern versehen. Die Einrichtung des Zimmers bestand nur aus einer Bettstelle und einem Stuhl. Die Tapete hing in Fetzen von den feuchten Wänden, der Kamin war mit Asche gefüllt, und ein stickiger Geruch verursachte Eunice beinahe Übelkeit.

 

Sie untersuchte schnell, ob sie irgendwie von hier entkommen konnte. Aber die Gitter des Fensters waren so stark und so eng, daß es unmöglich war, sich durchzuzwängen. Sie glaubte bestimmt, daß der Eingang zu ihrem Zimmer bewacht wurde, trotzdem mußte sie wenigstens den Versuch machen, sobald das Haus ganz ruhig dalag.

 

Als sie aber auf den dunklen Flur hinausging, trat sie auf Villas Hand, der dort schlief. Er war sofort wach.

 

»Brauchen Sie etwas, Miss?« fragte er.

 

»Nein, nichts«, antwortete sie und ging in ihr Zimmer zurück.

 

Es ist hoffnungslos! dachte sie bitter. Sie mußte warten, was ihr der Morgen bringen würde.

 

Sie hoffte auf ihre – Mutter. Wie schwer sie sich an dieses Wort gewöhnen konnte!

 

Sie legte sich nieder und hatte nicht die Absicht, einzuschlafen. Aber die Wärme im Zimmer und ihre Müdigkeit übermannten sie. Sie glaubte, kaum einige Minuten geschlafen zu haben, als sie aufwachte und Villa mit einer großen Tasse Kakao vor dem Bett stehen sah.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie jetzt schon stören muß und daß ich Ihnen keinen Tee geben kann, Miss.«

 

»Wieviel Uhr ist es denn?« fragte sie erstaunt.

 

»Fünf Uhr. Es hat aufgehört zu regnen, und wir haben gutes Flugwetter.«

 

»Flugwetter?«

 

»Wir werden einen kleinen Flug machen«, sagte Villa und freute sich über den Eindruck, den seine Worte auf sie machten.