Kapitel 16

 

16

 

Eunice wachte am nächsten Morgen ein wenig unzufrieden auf. Aber erst als sie ganz munter war, sich im Bett aufrecht gesetzt hatte und den feinen Tee trank, den ihr das Mädchen gebracht hatte, kam ihr zum Bewußtsein, warum sie in dieser Gemütsverfassung war, und sie lachte über sich selbst.

 

›Eunice Weldon‹, sagte sie zu sich und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, ›du bist ein kühnes, junges Mädchen! Weil der beste, junge Mann, den es überhaupt in der Welt gibt, zu anständig, zu rücksichtsvoll oder zu furchtsam war, dich zu küssen, bist du böse und enttäuscht! Außerdem war es unverzeihlich, einem Mann so weit entgegenzukommen und ihm beinahe selbst einen Antrag zu machen! Das war nicht das Benehmen einer Dame. Du darfst dich in Zukunft nie wieder so wegwerfen. Du hättest dich damit zufriedengeben und warten müssen, bis er den schönen Teppich vor deinen Füßen entrollte und dich in sein Haus führte und hättest nichts von der kleinen Wohnung in der Nähe der Eisenbahnschienen sagen dürfen! Aber ich glaube nicht, daß er in Zimmern mit nacktem Fußboden wohnt, Eunice, er wird schon hübsche Teppiche haben. An den Wänden werden Erinnerungszeichen hängen, und sicherlich ist die Aussicht von der Wohnung sehr hübsch, wenn nicht gerade die Züge vorbeirasseln. Und das wäre ja auch gleichgültig. Du hättest nicht Zeit, aus dem Fenster zu schauen, du hättest immer etwas zu tun. Du könntest seine Wäsche ausbessern, seine Strümpfe stopfen und – aber nun ist es genug, Eunice Weldon. Jetzt mußt du aufstehen!‹

 

Und schnell schlüpfte sie aus dem Bett.

 

Als Digby Groat den Gang entlangschritt, hörte er ihre fröhliche, helle Singstimme im Bade. Er lächelte. Die reife Schönheit dieses herrlichen Mädchens hatte ihn ganz gefangengenommen, sie erschien ihm nicht nur begehrenswert, sie erschien ihm unentbehrlich! Er hatte sie zuerst zu seinem Spielzeug machen wollen, aber nun sollte sie die Zierde seines Hauses werden. Er lachte vergnügt bei diesem Gedanken. Ein Schmuck! Etwas, was ihn in den Augen seiner Mitmenschen in einem neuen Licht erscheinen ließ. Selbst der Umstand, daß er sie heiraten mußte, war nur ein kleines Opfer, wenn er dadurch dieses Juwel an sich fesseln konnte.

 

Jackson sah, wie er lächelnd die Treppe herunterkam.

 

»Es ist wieder ein Karton Schokolade abgegeben worden«, sagte er leise, als wüßte er, daß dies ein unliebsames Geheimnis sei.

 

»Werfen Sie die Schachtel in den Aschenkasten! Oder geben Sie das Ding meiner Mutter!« sagte Digby gleichgültig.

 

Jackson starrte ihn erstaunt an.

 

»Wollen Sie denn nicht –«, begann er.

 

»Sie müssen nicht so viele neugierige Fragen stellen, Jackson!« Digby schaute seinen Diener wütend an. »Sie kümmern sich zu sehr um meine Angelegenheiten, mein Freund. Da wir nun gerade einmal dabei sind, so möchte ich Ihnen eins sagen: lassen Sie Ihr verfluchtes Grinsen, wenn Sie Miss Weldon anreden, und benehmen Sie sich so, wie sich ein Diener einer Dame gegenüber zu benehmen hat! Haben Sie mich verstanden?«

 

»Ich bin kein Diener«, erwiderte der Mann düster.

 

»Diese Rolle haben Sie aber jetzt zu spielen – und zwar gut«, sagte Digby. »Fangen Sie nicht an, hier mit mir zu rechten, sonst –«

 

Er faßte nach einem Brett an der Wand, wo mehrere Jagdpeitschen hingen. Jackson schrak zurück.

 

»Ich habe ja gar nichts sagen wollen«, entgegnete er eingeschüchtert, aber sein Gesicht zuckte. »Ich habe die Dame immer respektvoll behandelt –«

 

»Bringen Sie mir dir Morgenpost ins Speisezimmer«, befahl Digby kurz.

 

Eunice kam gleich darauf.

 

»Guten Morgen, Miss Weldon«, sagte Digby und schob ihr einen Stuhl an den Tisch. »Haben Sie sich gestern abend gut amüsiert?«

 

»Oh, ganz ausgezeichnet«, erwiderte sie, sprach aber dann über etwas anderes. Sie war ängstlich, daß er noch mehr über den vergangenen Abend fragen konnte und war froh, als das Frühstück zu Ende war.

 

Digbys Haltung ihr gegenüber war sehr korrekt. Er sprach über allgemeine Dinge und berührte den gestrigen Abend nicht mehr. Als sie zu Mrs. Groats Zimmer ging, um ihre Arbeit aufzunehmen, folgte er ihr nicht, wie sie anfänglich gefürchtet hatte. Es war nur noch wenig zu tun, die schwere Arbeit hatte sie hinter sich.

 

Digby wartete, bis der Arzt von seiner Mutter herauskam. Er erfuhr, daß sie vollständig wiederhergestellt war. Der Doktor sagte allerdings, daß ein Rückfall eintreten könne, jedoch hielt er das im Augenblick für unwahrscheinlich. Digby wollte aber seine Mutter heute morgen unter allen Umständen sprechen.

 

Sie saß am Fenster in einem Fahrstuhl, eine zusammengekauerte, unansehnliche Gestalt. Ihre dunklen Augen betrachteten gleichgültig das Teppichmuster, dann schweifte ihr Blick nach draußen ins Grüne. Der Wechsel der Jahreszeit bedeutete für sie nicht mehr als ein Wechsel der Kleidung. Ihr wildes Herz, das früher im Frühling so überlaut jauchzte und so heftig schlug, war jetzt schwach geworden, und ihr einst so schöner Körper war durch häßliche Leidenschaften zerstört. Und doch hatten ihre jetzt so unschönen Hände einst beglückt und bezaubert, aber auch Unheil und Fluch verbreitet. Ihre Gedanken beschäftigten sich augenblicklich mit Eunice Weldon. Sie hatte gar kein Mitgefühl mit ihr. Wenn Digby sie haben wollte, mochte er sie nehmen. Ihr Schicksal interessierte die alte Frau nicht mehr als das Schicksal der Fliege, die eben an der Fensterscheibe summte, und die sie durch einen Schlag ihrer Hand vernichten konnte. Aber aus einem anderen wichtigen Grund wäre es besser gewesen, wenn das Mädchen nicht hier wäre. Sie runzelte die Stirn. Die Narbe am Handgelenk war doch bedeutend größer als ein Halbschillingstück. Alles war wahrscheinlich nur ein reiner Zufall. Sie hoffte, daß sich Digby jetzt mit ihr beschäftigen würde. Dann hatte sie Ruhe. Er hatte dann keine Zeit, zu ihr zu kommen und sich um sie zu kümmern. Sie fürchtete sich entsetzlich vor ihm. Sie wußte, daß sein Wille unbeugsam war und ihr eigenes Leben wie das Licht einer Kerze verlöschen würde, wenn Digby es für vorteilhaft hielte, sie aus dem Weg zu räumen. Als sie nach dem Zusammenbruch das Bewußtsein wiedererlangte und in das Gesicht der Krankenschwester schaute, die sich über sie neigte, wunderte sie sich, daß Digby sie hatte weiterleben lassen. Er wußte, wie sie glaubte, nichts von dem Testament, und ein spöttisches Lächeln huschte über ihr gerötetes Gesicht. Das würde eine böse Überraschung für ihn sein. Es war schade, daß sie nicht dabeisein konnte, um es zu sehen. Aber sie konnte sich schon vorher daran weiden, wenn sie daran dachte, wie er sich ärgern und in nutzloser Wut verzehren würde.

 

Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, jemand unterhielt sich mit der Krankenschwester im Flüsterton, und dann trat Digby ins Zimmer.

 

»Wie geht es dir heute, Mutter?« fragte er liebenswürdig.

 

Sie blickte ihn scheu und erregt an.

 

»Sehr gut, mein Junge, es geht mir wirklich vorzüglich«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Willst du nicht Platz nehmen?« Sie sah sich ängstlich nach der Krankenschwester um, aber sie hatte das Zimmer verlassen. »Würdest du nicht die Pflegerin rufen? Ich brauche sie, mein Junge.«

 

»Das kann warten«, erwiderte er kühl. »Ich möchte noch einiges mit dir besprechen, bevor sie zurückkommt. Zunächst möchte ich einmal wissen, warum du ein Testament zugunsten Estremedas gemacht und mich mit einer lumpigen Summe von zwanzigtausend Pfund abgefunden, hast?«

 

Sie wäre unter diesem Schlage beinahe zusammengebrochen.

 

»Ein Testament, mein Junge?« Sie sprach kläglich, fast winselnd. »Wovon sprichst du denn in aller Welt?«

 

»Von dem Testament, das du gemacht und in deinem Geheimfach versteckt hast. Aber sage mir jetzt bloß nicht, daß ich träume oder daß es ein Scherz von dir war oder daß du nicht bei Verstand warst, als du es tatest. Ich möchte die reine Wahrheit hören!«

 

»Ich habe das Testament schon vor langen Jahren gemacht«, sagte sie zitternd vor Furcht. »Damals dachte ich, daß mein ganzes Vermögen nicht mehr als zwanzigtausend Pfund betrüge.«

 

»Das lügst du«, entgegnete Digby ruhig. »Du hast das Testament gemacht, um dich an mir zu rächen, du alter, verfluchter Teufel!«

 

Sie sah ihn bleich vor Schrecken an.

 

Digby war am gefährlichsten, wenn er in diesem kühlen, gleichgültigen Ton zu ihr sprach.

 

»Ich habe das wertvolle Dokument verbrannt«, fuhr Digby fort. »Und wenn du Miss Weldon sehen solltest, die dabei war; als ich es vernichtete, würde ich wünschen, daß du ihr erzähltest, das Testament sei gemacht worden, als du nicht ganz richtig im Kopf warst.«

 

Mrs. Groat konnte nicht sprechen. Ihr Unterkiefer zitterte, und sie dachte nur daran, wie sie die Aufmerksamkeit der Krankenpflegerin auf sich lenken konnte.

 

»Stelle meinen Stuhl ans Bett, Digby«, bat sie schwach, »das Licht ist hier zu grell.«

 

Er zögerte zunächst, aber dann erfüllte er ihren Wunsch. Als sie nach der Klingel tastete, die neben dem Bett angebracht war, lachte er.

 

»Du brauchst nicht zu erschrecken, Mutter«, sagte er spöttisch. »Ich habe nicht die Absicht, dir etwas zu tun. Denke daran, daß deine verdammte Krankenpflegerin nicht ewig hier sein wird, und tu, was ich wünsche. Ich werde Miss Weldon in ein paar Minuten unter dem Vorwand zu dir heraufschicken, daß du ihr Aufträge geben willst und daß sie einige Briefe für dich zu beantworten hat, die heute mit der Morgenpost kamen. Hast du mich verstanden?«

 

Sie nickte.

 

Als Eunice in das Krankenzimmer trat, fand sie Mrs. Groat schlechter aussehend als früher. Gehässige Blicke trafen sie, als sie an den Krankenstuhl herantrat. Die alte Frau vermutete, daß Eunice das Testament gefunden hatte, und haßte sie deshalb. Aber die Furcht vor ihrem Sohn war doch größer. Nachdem ein paar Briefe beantwortet waren, hielt sie Eunice zurück, die das Zimmer wieder verlassen wollte.

 

»Nehmen Sie noch einmal Platz, Miss Weldon. Ich wollte noch ein paar Worte mit Ihnen über das Testament sprechen, das Sie gefunden haben. Ich freue mich sehr, daß Sie es entdeckten, denn ich hatte schon ganz vergessen, daß ich es aufsetzte.«

 

Es fiel Mrs. Groat schwer, zu sprechen.

 

»Sehen Sie, mein liebes, junges Fräulein, ich leide manchmal an einer merkwürdigen Gedächtnisschwäche. Und – und – das Testament habe ich aufgesetzt, als ich einen solchen Anfall hatte –«

 

Eunice hatte ihre zögernden und abgerissenen Worte gehört und glaubte, daß sie zu schwach sei, um fließend sprechen zu können.

 

»Ich verstehe Sie vollkommen, Mrs. Groat«, sagte sie mitleidig. »Ihr Sohn hat mir alles erklärt.«

 

»So, der hat Ihnen schon alles gesagt?« Sie schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. Eunice wartete darauf, daß sie das Zimmer verlassen konnte. Aber unvermutet fragte Mrs. Groat: »Sind Sie mit meinem Sohn sehr befreundet?«

 

Eunice lächelte: »Nicht besonders, Mrs. Groat.«

 

»Nun, das wird noch kommen, mehr als Sie es sich jetzt denken.« Es lag eine solche Niedertracht und Gemeinheit in ihren Worten und in ihrem Ton, daß Eunice zusammenfuhr.

 

Kapitel 17

 

17

 

Jim liebte London, er liebte auch New York, diese Stadt aus Stahl und Beton, wo sentimentale Menschen, leben, die sich das Ansehen von Tyrannen geben. Nichts in der Welt kann dem Leben in New York gleichen. Aber London blieb London, es war unvergleichlich schön. Es verkörperte ihm die Geschichte der Welt und war ihm das Symbol der Zivilisation. Er machte einen Umweg und ging durch Covent Garden.

 

Die farbenfreudige Umgebung stimmte ihn fröhlich. Er hätte den ganzen Morgen hier zubringen können, aber er mußte ins Büro, um Mr. Salter zu sprechen.

 

»Haben Sie Nachforschungen nach der Firma Selenger angestellt?« war die erste Frage, die er an Jim richtete.

 

Mr. Steele mußte zugeben, daß er vergessen hatte, dieses Geheimnis aufzuklären.

 

»Es wäre aber sehr wichtig, wenn Sie wüßten, wer die Leute sind. Sie werden unter Umständen entdecken, daß Digby Groat oder seine Mutter dahinterstecken. Ich komme darauf, weil diese Häuser doch früher das Eigentum von Jonathan Danton waren – aber auf Vermutungen können wir uns nicht verlassen!«

 

Jim stimmte ihm bei.

 

Es war in der letzten Zeit so viel passiert, daß er diese wichtige Sache vergessen hatte.

 

»Je länger ich über den Fall nachdenke, desto nutzloser kommen mir meine Nachforschungen vor, Mr. Salter, und selbst wenn ich Lady Mary gefunden habe, so sagen Sie ja selbst, daß ich meinem Ziel, den Groats das Vermögen abzujagen, nicht näher gekommen bin.«

 

Mr. Septimus Salter antwortete nicht sofort. Er hatte ja eigentlich schon viel zuviel darüber gesprochen, aber plötzlich besann er sich eines anderen. Theorien waren keine Tatsachen, und doch konnte er sich nicht verschweigen, daß man der endgültigen Lösung vieler Geheimnisse um ein gutes Stück näher kommen würde, wenn einmal das Verschwinden Lady Marys aufgeklärt wäre.

 

»Also kümmern Sie sich um die Firma Selenger«, sagte Salter schließlich. »Vielleicht finden Sie heraus, daß ihre Nachforschungen sowohl angestellt werden, um Lady Mary aufzufinden, als auch die Identität Ihrer jungen Freundin festzustellen. Auf jeden Fall können Sie nichts verderben, wenn Sie sich um die Sache bemühen.«

 

Kapitel 18

 

18

 

Eunice hörte abends um zwölf Uhr einen Wagen vor dem Hause halten. Sie hatte sich noch nicht zur Ruhe gelegt und trat auf den Balkon hinaus, um zu sehen, wer es war. Sie erkannte Digby Groat, der eben die Treppenstufen zur Haustür emporstieg.

 

Sie schloß die Tür wieder und zog die Vorhänge vor. Aber sie war noch nicht müde genug, zu Bett zu gehen, da sie unvorsichtigerweise der Versuchung nicht hatte widerstehen können, sich am Nachmittag etwas hinzulegen. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie das letzte Paket Rechnungen, das sie unten im Weinkeller in einer Kiste gefunden hatte, auf ihr Zimmer gebracht. Sie hatte die Rechnungen geordnet und eine Liste davon angefertigt.

 

Als sie eben das letzte Blatt aus der Hand legte und einen Gummi um die Papiere band, hörte sie draußen ein Geräusch. Verstohlen und heimlich schlich jemand über den Steinfußboden des Balkons, sie täuschte sich nicht. Schnell drehte sie das Licht aus, trat ans Fenster, zog die Vorhänge geräuschlos zurück und horchte. Wieder hörte sie Schritte. Sie fürchtete sich nicht im mindesten. Es erregte sie nur die Gewißheit, daß sie eine wichtige Entdeckung machen würde. Plötzlich riß sie die Fenstertür auf und trat hinaus. Zunächst konnte sie nichts erkennen; erst als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie eine Gestalt, die an der Wand lehnte.

 

»Wer ist da?« rief sie.

 

Erst nach einer Weile kam Antwort.

 

»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie erschreckt habe, Eunice.«

 

Es war Jim Steele.

 

»Jim!« sagte sie atemlos und ungläubig. Dann packten sie Ärger und Empörung. Es war also immer Jim gewesen und nicht die schwarze Frau! Jim, der seine Verdächtigungen durch diese gemeinen Tricks begründen wollte! Ihre Entrüstung entbehrte jeder Begründung, aber sie fühlte sie um so mehr, als sie aufs tiefste enttäuscht war. Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie günstig Jim den Eindringling beurteilt hatte, als sie ihm davon erzählte, und welches Erstaunen er ihr vorgeheuchelt hatte. Also hatte er sie die ganze Zeit zum besten gehalten!

 

»Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie sich jetzt entfernten«, sagte sie kühl.

 

»Lassen Sie mich Ihnen erklären, Eunice –«

 

»Es ist keine Erklärung notwendig«, entgegnete sie. »Jim, Sie spielen eine jämmerliche Rolle!«

 

Sie ging in ihr Zimmer zurück. Ihr Herz schlug wild, und sie hätte weinen können vor Verzweiflung. Jim! Er war der Mann mit der geheimnisvollen blauen Hand! Und er hatte sich über sie lustig gemacht. Wahrscheinlich hatte er auch die Briefe geschrieben und war damals nachts in ihr Zimmer eingedrungen. Sie stampfte vor Ärger mit dem Fuß auf. Sie haßte ihn, weil er sie hintergangen hatte, und sie haßte ihn noch mehr, weil er das Bild zerstört hatte, das sie in ihrem Herzen anbetete. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so elend gefühlt. Sie warf sich aufs Bett und weinte, bis sie vor Erschöpfung einschlief. –

 

*

 

»Verdammt!« sagte Jim zu sich selbst, als er das Haus verließ und in seinen kleinen, unansehnlichen Wagen stieg.

 

»Du verrückter Tölpel!« schimpfte er, als er im schnellsten und gefährlichsten Tempo eine Ecke nahm und beinahe in ein anderes Auto hineingeraten wäre, das zufällig auf der falschen Straßenseite fuhr. Aber er schimpfte nicht auf den anderen Fahrer. Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen, daß er so neugierig und wenig überlegt gleich den Schlüssel versuchen mußte, den er zu Hause auf dem Tisch gefunden hatte. Er war nur auf den Balkon gegangen, um die Verschlüsse der Fenster von Eunices Zimmer zu prüfen und zu sehen, ob sie auch sicher sei. Er fühlte sich äußerst unglücklich und hätte zu gern mit einem Menschen gesprochen und ihm sein Herz ausgeschüttet, aber es gab niemand, den er kannte, niemand, dem er genug vertraut hätte – außer Mrs. Fane. Er mußte über diesen Gedanken lächeln und überlegte, was sie von ihm gehalten hätte, wenn er sie um diese nächtliche Stunde in ihrem Schlaf gestört hätte, nur um ihr seinen Kummer anzuvertrauen. Diese schöne, traurige Frau hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und er war erstaunt, wie oft er an sie denken mußte.

 

Als er halbwegs zur Baker Street gekommen war, verlangsamte er die Geschwindigkeit und drehte wieder um, denn er hatte sich an die Firma Selenger erinnert. Um diese Zeit hatte er mit einem Besuch wahrscheinlich mehr Glück als am Tag.

 

Er besann sich darauf, daß der Portier ihm von einem Seiteneingang erzählt hatte, den nur die Inhaber der Firma benützten, und nach einigem Suchen fand er auch die Tür, die zu seiner Überraschung unverschlossen war. Er hörte den gleichmäßigen Schritt eines Polizisten, der die Straße entlang kam, und da er nicht dabei abgefaßt werden wollte, wie er fremde Türen zu nächtlicher Stunde zu öffnen versuchte, ging er schnell hinein und wartete, bis der Beamte vorüber war, bevor er seine Untersuchungen fortsetzte.

 

Er nahm seine Taschenlampe, und mit ihrer Hilfe fand er den Weg über den gepflasterten Hof und kam zu einer Tür, die in das Gebäude führte. Sie war verschlossen, wie er zu seinem Ärger erkannte. Aber es mußte noch eine andere Tür geben, und er begann danach zu suchen. Er sah eine Reihe Fenster, die sich nach dem Hof öffneten, aber sie waren alle sorgfältig mit Läden verschlossen.

 

Nachdem er an zwei weiteren Wänden entlanggegangen war, fand er auch die andere Tür. Er versuchte, sie zu öffnen, und zu seiner nicht geringen Freude gelang es ihm auch. Er befand sich nun in einem kurzen, mit Steinfliesen belegten Gang, an dessen hinterem Ende er eine vergitterte Tür entdeckte. Dicht daneben auf der rechten Seite lag eine grüne Tür. Er drückte den Türgriff herunter, und als er langsam öffnete, sah er, daß innen ein helles Licht brannte. Er öffnete weiter und trat ein. Er stand in einem Zimmer, in dem sich außer einem Tisch und einem Stuhl keine Möbel befanden. Aber es war nicht das sonderbare Aussehen des Raumes, das ihn in Erstaunen setzte. Gerade als er eintrat, ging eine Frau, die von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war, in einen zweiten Raum. Sie hörte die Tür gehen, wandte sich schnell um und zog einen Schleier über ihr Gesicht. Aber sie hatte etwas zu lange gezögert, und Jim erkannte zu seiner größten Verwunderung in ihr die unheilbar kranke Frau wieder – Mrs. Fane!

 

Kapitel 10

 

10

 

Eunice Weldon gewöhnte sich rasch an ihre neue Umgebung. Durch die Krankheit ihrer Herrin bekam sie mehr Arbeit, als sie erwartet hatte. Es war richtig, wie Digby Groat ihr gesagt hatte, daß sie noch viel zu tun bekäme. Er ließ sie auch die Haushaltungsbücher durchsehen und ordnen, und sie war erstaunt, wie sparsam, ja fast geizig die alte Frau war. Eines Nachmittags, als sie den alten Sekretär aufräumte, hielt sie plötzlich in ihrer Arbeit inne, um dieses alte, schöne Möbelstück zu bewundern.

 

Es war halb Schreibtisch, halb Bücherschrank. Das Schreibtischfach war mit Glastüren geschlossen, die an der Innenseite mit grünseidenen Vorhängen bedeckt waren.

 

Sie wunderte sich über die Dicke der beiden Seitenteile. Sie hatte etwas Ähnliches noch nicht gesehen. Sie strich mit der Hand bewundernd über die glatte, polierte Oberfläche des dunklen Mahagoniholzes, als sie fühlte, daß eine Stelle der Schrankwand unter dem Druck ihrer Finger nachgab. Zu ihrem Erstaunen fiel eine kleine Klappe aus der Seitenwand herunter, deren feine Scharniere so geschickt angebracht waren, daß man sie für gewöhnlich nicht sehen konnte. Eine Geheimschublade in einem alten Sekretär ist keine außergewöhnliche Entdeckung; aber sie war neugierig, was dieses Fach wohl enthalten könnte, das sie so zufällig gefunden hatte. Sie tastete mit ihrer Hand hinein und zog ein zusammengelegtes Aktenstück heraus, das den einzigen Inhalt der Schublade bildete.

 

Durfte sie es wohl lesen? Wenn es so sorgfältig und geheim aufgehoben wurde, hatte Mrs. Groat sicherlich nicht den Wunsch, daß es von fremden Augen gesehen wurde. Trotzdem glaubte sie, daß sie als Sekretärin die Pflicht hatte, zu wissen, um was es sich handelte, und so öffnete sie das Schreiben. Am Kopfende des Dokumentes war ein Stück Papier angeheftet, auf das Mrs. Groat geschrieben hatte:

 

»Dies ist mein letzter Wille, der gleichlautend ist mit den Instruktionen, die ich Mr. Salter in einem versiegelten Briefumschlag übergeben habe.«

 

Das Wort ›Salter‹ war ausgestrichen, und der Name einer anderen Rechtsanwaltsfirma war darübergeschrieben.

 

Das Testament war auf ein gewöhnliches, vorgedrucktes Formular geschrieben, wie man es überall kaufen kann. Der eigentliche Inhalt war sehr kurz:

 

›Ich hinterlasse meinem Sohne Digby Francis Groat ein Legat in Höhe von zwanzigtausend Pfund, außerdem mein Haus in London, 409, Grosvenor Square, mit der gesamten Einrichtung. Mein übriges Vermögen vermache ich Ramonez, Marquis von Estremeda, in Madrid.‹

 

Die Namen der Zeugen, die das Testament unterschrieben hatten, waren Eunice unbekannt, und da sie ihren Stand als Dienstboten angegeben hatten, war es möglich und höchstwahrscheinlich, daß sie schon seit langem ihre Stellung aufgegeben hatten. Denn Mrs. Groat behielt ihre Dienstboten gewöhnlich nicht sehr lange bei sich.

 

Was sollte sie mit diesem Dokument machen? Sie entschloß sich,. Digby zu fragen.

 

Als sie später die Schubladen ihres Schreibtisches durchsuchte, entdeckte sie eine kleine Miniatur, die eine schöne Frau darstellte. Nach der Kleidung und der Frisur mußte das Bild nach 1880 angefertigt worden sein. Die Gesichtszüge waren kühn, aber sehr schön, und die dunklen Augen sprühten vor Lebensfreude. Das Gesicht eines Mädchens, das seinen eigenen Weg ging, dachte Eunice, als sie das feste, runde Kinn betrachtete.

 

Sie hätte gern gewußt, wen das Bild darstellte und zeigte es Digby Groat bei Tisch.

 

»Ach, das ist ein Bild meiner Mutter«, sagte er gleichgültig. Eunice war erstaunt, und er mußte lachen.

 

»Wenn man sie jetzt sieht, würde man nicht glauben, daß sie früher so ausgesehen hat. Aber sie muß in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein – ein wenig zu schön«, fügte er hinzu.

 

Plötzlich nahm er die Miniatur aus der Hand und schaute auf die Rückseite des Bildes.

 

»Entschuldigen Sie«, sagte er, und sie sah, daß er blaß geworden war. »Meine Mutter schreibt manchmal sonderbare Dinge auf die Rückseite ihrer Bilder –«

 

Seine Gedanken mußten in der Ferne weilen, und er machte einen zerstreuten Eindruck. Das war ein ungewöhnlicher Zustand für ihn, denn er war meistens sehr konzentriert und gesammelt.

 

Er änderte das Thema des Gespräches und stellte eine Frage an sie, die er schon lange beabsichtigt hatte.

 

»Miss Weldon, wissen Sie, wie Sie zu dieser Narbe an Ihrem Handgelenk gekommen sind?«

 

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Es tut mir leid, daß ich sie Ihnen gezeigt habe; sie sieht häßlich aus.«

 

»Wissen Sie nichts darüber?«

 

»Nein, meine Mutter hat es mir nicht gesagt. Es sieht aber so aus, als ob es eine Brandwunde war.«

 

Er untersuchte den kleinen, roten, runden Fleck sehr genau.

 

»Es ist natürlich absurd, zu denken, daß Ihre Mutter einen Anfall bekam, weil sie die Narbe sah.«

 

»Ich nehme es aber doch an – es muß ein merkwürdiges Zusammentreffen sein.«

 

Er hatte sich große Mühe gegeben, seine Mutter darüber auszufragen, aber er hatte keinen Erfolg damit gehabt. Seit drei Tagen lag sie apathisch in ihrem Bett und hatte ihn wahrscheinlich weder gehört noch gesehen, als er seine Besuche im Krankenzimmer machte.

 

Sie erholte sich jetzt langsam, und bei der ersten Gelegenheit wollte er eine eingehende Erklärung von ihr fordern.

 

»Haben Sie sonst noch etwas gefunden?« fragte er argwöhnisch. Er fürchtete sich stets vor neuen, unbesonnenen Handlungen seiner Mutter. Ihre krankhafte Neigung zum Stehlen war katastrophal und konnte einmal bekannt werden.

 

Sie überlegte sich, ob sie ihm von ihrem Fund in dem Geheimfach erzählen sollte. Er las Zweifel und Sorge in ihrem Gesicht und wiederholte seine Frage.

 

»Ich fand das Testament Ihrer Mutter«, sagte sie schließlich.

 

Er hatte sein Frühstück beendet, den Stuhl vom Tisch zurückgeschoben und rauchte. Aber die Zigarre fiel auf den Teppich, als er das hörte, und sein Gesicht wurde dunkel.

 

»Ihr Testament!« sagte er. »Sind Sie dessen auch ganz gewiß? Ihr Testament ist doch beim Rechtsanwalt deponiert. Es wurde vor zwei Jahren aufgesetzt.«

 

»Das Testament, das ich gesehen habe, wurde erst vor zwei Monaten unterzeichnet«, erwiderte sie erschrocken. »Ich hoffe, daß ich nicht, irgendein Geheimnis Ihrer Mutter verraten habe.«

 

»Zeigen Sie mir doch einmal dieses wertvolle Dokument.« Digby erhob sich. Er sprach abgerissen und heiser, und sie wunderte sich, was, sein Betragen so plötzlich geändert haben mochte.

 

Sie gingen beide zu dem schlecht eingerichteten Wohnzimmer seiner Mutter, und sie holte das Schriftstück aus dem Geheimfach hervor. Er las es sorgfältig durch.

 

»Die Alte ist ganz verrückt geworden«, sagte er böse. »Haben Sie es gelesen?« Er sah sie scharf an.

 

»Ich habe etwas darin gelesen«, entgegnete Eunice. Sie war betroffen von seiner Schroffheit.

 

Er las das Schriftstück noch einmal durch und sprach leise dabei.

 

»Wie kamen Sie darauf?«

 

»Ich habe es zufällig entdeckt.« Sie zeigte ihm, wie sie das Geheimfach gefunden hatte.

 

»Ich verstehe«, sagte Digby Groat langsam und faltete das Papier zusammen.

 

»Miss Weldon, vielleicht erzählen Sie mir jetzt, wieviel Sie von dem Dokument gelesen haben?«

 

Sie wußte nicht, was sie antworten sollte. Sie war doch eigentlich die Angestellte von Mrs. Groat und fühlte, daß es unrecht gegen die alte Frau war, deren Privatangelegenheiten mit ihrem Sohn zu besprechen.

 

»Ich habe etwas über ein Legat gelesen, das Ihre Mutter Ihnen ausstellte«, gab sie zu, »aber ich habe nicht genau hingesehen.«

 

»Sie wissen also, daß meine Mutter mir zwanzigtausend Pfund vermacht hat und den Rest einem andern?«

 

Sie nickte.

 

»Wissen Sie auch, wie dieser andere heißt?«

 

»Ja, es ist der Marquis von Estremeda.«

 

Sein Gesicht sah aschgrau aus, und seine Stimme zitterte vor Wut, die er nicht verbergen konnte.

 

»Wissen Sie, wie groß das Vermögen meiner Mutter ist?« fragte er.

 

»Nein, Mr. Groat. Ich glaube auch, daß es nicht nötig ist, mir das zu sagen; das gehört nicht zu meinen Kompetenzen.«

 

»Sie besitzt eineinviertel Millionen Pfund«, stieß er haßerfüllt hervor, »und mir hat sie zwanzigtausend und diesen verdammten Kasten vermacht!«

 

Er drehte sich plötzlich um und ging zur Tür. Eunice vermutete, was er vorhatte, lief ihm nach und packte ihn am Arm.

 

»Mr. Groat«, sagte sie ernst. »Sie dürfen jetzt nicht zu Ihrer Mutter gehen, das dürfen Sie nicht tun!«

 

Ihr Dazwischentreten ernüchterte ihn. Er trat langsam an den Kamin, steckte ein Streichholz an und entzündete vor den erstaunten Augen des Mädchens das Testament.

 

Als es ganz verbrannt war, zertrat er es mit den Füßen.

 

»Diese Sache wäre geregelt! Sie glauben, daß ich ein Unrecht getan habe?« sagte er lächelnd zu Eunice. Er war plötzlich wieder der alte. »Wie Sie schon gemerkt haben werden, ist meine Mutter nicht ganz normal. Es wäre zuviel gesagt, wenn ich sie für vollkommen verrückt erklärte. Ein Marquis von Estremeda existiert nämlich überhaupt nicht, soviel ich weiß. Es ist eine fixe Idee meiner Mutter, daß sie früher einmal mit einem spanischen Adligen befreundet war. Das ist das traurige Geheimnis unserer Familie, Miss Weldon.«

 

Er lachte; aber sie wußte, daß er log.

 

Kapitel 11

 

11

 

Die Tür zu Digby Groats Arbeitszimmer stand auf, und er konnte sehen, wie Eunice nach ihrem Zimmer ging, das im Obergeschoß lag. Er hatte fast den ganzen Nachmittag an sie denken müssen und hatte sich selbst verwünscht, daß er sich ihr von einer so schlechten Seite gezeigt hatte, denn er wollte ihr doch vor allen Dingen imponieren und gefallen. Aber vor allem ärgerte er sich darüber, daß er in seiner Wut in ihrer Gegenwart ein Dokument zerstört hatte und dadurch nun in ihrer Hand war. Wenn seine Mutter starb und man nach einem Testament forschte, wenn nun Estremeda durch irgendeinen Zufall mit Eunice bekannt wurde und sie vor Gericht als Zeugin auftrat, konnte durch ihre Aussage das frühere Testament seiner Mutter annulliert und er auf die Anklagebank gebracht werden.

 

Er war stets der Meinung, daß die großen Verbrecher durch Kleinigkeiten zu Fall gebracht werden. Der Verschwender, der Hunderttausende von Pfunden vergeudet, wird schließlich durch eine kleine Summe von hundert Pfund bankerott, die er nicht bezahlen kann. Und er, das Haupt der Bande der Dreizehn, der alle Spuren seiner Vergehen so meisterhaft verwischt hatte, daß die tüchtigste Polizeibehörde der Welt und die schlauesten Detektive nicht imstande waren, ihm etwas nachzuweisen, lief Gefahr, durch irgendeine Dummheit gefaßt zu werden, die er aus plötzlicher Wut oder Eitelkeit beging.

 

Er war jetzt noch mehr als früher entschlossen, Eunice Weldon unter seinen Einfluß zu bringen, so daß sie ihre Kenntnisse niemals gegen ihn ausnützte.

 

Es war eine schwere Aufgabe, die er sich stellte, denn Eunice hatte ihn selbst durch ihre Schönheit sehr fasziniert. Ihre herrliche Erscheinung und ihre ungewöhnliche Intelligenz waren Anziehungskräfte und Reize, denen er sich nicht verschließen konnte. Er wußte genau, daß sie Jim Steele öfter traf, den Mann, den er haßte, und der sein Todfeind war. Jackson hatte sie schon zweimal bei ihren Ausgängen in die Stadt verfolgt und hatte ihm berichtet, daß sie Jim im Park getroffen hatte. Und die Möglichkeit, daß Jim sie liebte, war der größte Ansporn zu all seinen niederträchtigen Plänen.

 

Er konnte sich durch dieses Mädchen an Jim rächen, er konnte die Frau für sich gewinnen, die Jim Steele am meisten auf der Welt liebte. Das würde eine herrliche Rache sein, dachte er, als er vor seinem Schreibtisch saß und sie behend die Treppe hinaufgehen hörte. Aber er wußte, daß er geduldig warten und vorsichtig zu Werke gehen mußte. Vor allen Dingen mußte er ihr Vertrauen erwerben. Und wenn er sein Ziel erreichen wollte, durfte er nichts davon erwähnen; daß sie Jim Steele traf. In keiner Weise durfte er sie hindern, diesen Mann zu sehen, und ebenso mußte er alles vermeiden, was ihr den Eindruck geben konnte, daß er sich für sie interessierte.

 

Er hatte nicht mehr versucht, seine Mutter zu sprechen. Wie ihm die Krankenschwester erzählt hatte, schlief sie schon den ganzen Nachmittag. Er fühlte, daß er auch in diesem Falle nur mit Geduld weiterkommen würde. Beim Abendbrot erwähnte er Eunice gegenüber noch einmal die Szene im Wohnzimmer seiner Mutter.

 

»Sie müssen denken, ich sei ein rücksichtsloser Mensch, Miss Weldon«, sagte er; »aber Sie wissen nicht, wie ich durch die vielen Dummheiten meiner Mutter mit der Zeit verärgert und nervös geworden bin. Sie glauben, daß meine Handlungsweise ihr gegenüber nicht richtig ist?« fragte er lächelnd.

 

»Wir tun in unserer Aufregung manchmal Dinge, über die wir uns hinterher schämen«, erwiderte Eunice, die seinen Wutausbruch entschuldigen wollte. Am liebsten hätte sie über die ganze Sache nicht mehr gesprochen, denn sie hatte ein böses Gewissen, weil sie Digby Groat diese Sache mitgeteilt hatte. Aber sie wurde noch unruhiger bei der Fortsetzung der Unterhaltung.

 

»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, Miss Weldon, daß alles, was innerhalb dieses Hauses passiert, vertraulich ist, und daß Sie nicht zu Fremden darüber sprechen dürfen.«

 

Er bemerkte, daß sie rot wurde. Sie senkte den Blick auf das Tischtuch und spielte nervös mit ihrer Gabel, so daß er sofort wußte, daß sie über das Testament gesprochen hatte. Er verwünschte sich selbst aufs neue, daß sie Zeugin seines Ärgers und seiner Wut gewesen war.

 

Aber zu ihrer größten Beruhigung ging er dann auf ein anderes Thema über. Er erzählte ihr, daß er Änderungen in seinem Laboratorium vornehmen wolle und sprach begeistert von neuen elektrischen Geräten, die er ausprobieren werde.

 

»Darf ich Ihnen nicht einmal meinen Arbeitsraum zeigen, Miss Weldon?«

 

»Ich würde mich sehr freuen«, antwortete sie.

 

Sie wußte genau, daß sie unaufrichtig war. Sie wollte sein Laboratorium überhaupt nicht sehen. Nachdem Jim ihr neulich beschrieben hatte, wie er den armen kleinen Hund auf dem Operationstisch durch Klammern und Schrauben befestigt hatte, war es für sie eine Stätte des Schreckens und des Abscheus. Aber sie war froh, mit Digby Groat irgend etwas anderes besprechen zu können.

 

Als sie zusammen in den Raum traten, entdeckte sie nichts Schreckliches. Das Laboratorium war weiß und sauber, alle Geräte und Gegenstände waren ordentlich aufgestellt. Bewundernd gingen ihre Blicke über die langen Reihen von Medizinflaschen und Medikamenten auf den Wandbrettern. Er zeigte ihr die kleinen Glasröhren, die geheimnisvollen Instrumente und Apparate.

 

Er hütete sich aber wohl, den einen Schrank zu öffnen, der in der hintersten Ecke des Raumes stand, und so blieben ihr die Zeugen der schrecklichen und grausamen Operationen verborgen, die er hier schon ausgeführt hatte. Sie freute sich nun, daß sie das Laboratorium gesehen hatte, aber trotzdem fühlte sie sich erleichtert, als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehren konnte.

 

Digby ging um neun Uhr aus. Sie blieb allein und konnte lesen oder sonstwie den Abend vertreiben. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer sprach sie im Krankenzimmer von Mrs. Groat vor und erfuhr, daß die alte Frau auf dem Wege der Besserung sei.

 

»Ich hoffe, daß sie morgen oder übermorgen wieder ganz hergestellt ist.«

 

Auch das war eine Erleichterung für Eunice. Die Krankheit von Mrs. Groat hatte sie bedrückt. Es war so traurig zu sehen, wie die einst so schöne Frau nun verfallen, alt und krank aussah, eine hilflose Greisin, die nicht mehr Herrin ihres Körpers und ihrer Gedanken war. Sie hatte ihr Zimmer, das schon so schön war, als sie hierherkam, noch hübscher gemacht, indem sie einige Kleinigkeiten änderte und ein paar Möbel umstellte. Sie hatte einige der Bücher gelesen, die Digby Groat zu ihrer Unterhaltung ausgewählt hatte; manche hatte sie auch nur durchgeblättert und war dann zu einem ablehnenden Urteil gekommen.

 

Heute las sie den Roman ›Der Mann aus Virginien‹. In diesem Buche lernte sie eine der entzückendsten Schöpfungen menschlicher Phantasie kennen. ›Der Mann aus Virginien‹ war ebenso schön und tugendhaft wie Jim. Überhaupt ähnelten alle Helden in Büchern, die ihr gefielen, Jim.

 

Als sie ihr Taschentuch aus ihrer Handtasche nahm, berührten ihre Finger die kleine, graue Karte, die sie damals auf ihrem Nachttisch gefunden hatte. Sie nahm sie wieder heraus und zerbrach sich aufs neue den Kopf darüber, wer sie ihr wohl zugesandt hatte, und welchen Zweck er damit verfolgte. Noch mehr wunderte sie sich über das Zeichen der blauen Hand. Sie hätte gar zu gern gewußt, was sie bedeutete. Irgendeine geheimnisvolle Geschichte mußte hinter der ganzen Sache stecken.

 

Sie legte ihr Buch einen Augenblick fort, erhob sich, drehte die Schreibtischlampe an und besah sich noch einmal genau die Handschrift und das blaue Zeichen. Es mußte wohl mit einem Gummistempel aufgedrückt sein. Das Bild einer offenen Hand war schön und klar gezeichnet. Wer mochte wohl ihr geheimnisvoller Freund oder ihre Freundin sein? Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Jim konnte es nicht sein, und doch – es war ihr unangenehm, in diesem Zusammenhang an Jim zu denken. Aber wer es auch immer gewesen sein mochte, der sie warnte, er hatte unrecht gehabt. Sie hatte das Haus nicht verlassen, und doch war ihr nichts passiert. Sie fühlte sich sicher und stolz bei dem Gedanken, daß der geheimnisvolle Bote nichts von Jim wissen konnte, der sie so treu beschützte.

 

Sie hörte Schritte auf dem Gang, und gleich darauf klopfte Digby Groat an ihre Tür, der gerade nach Hause, gekommen war.

 

»Ich sah, daß Sie noch Licht hatten, und wollte Ihnen noch etwas geben, das ich vom Ambassador-Club mitgebracht habe.«

 

Er überreichte ihr eine große, viereckige Schachtel, die mit einer fliederfarbenen Seidenschleife zugebunden war.

 

»Dies ist für mich?« fragte sie erstaunt.

 

»Das wurde unter die Gäste verteilt«, sagte er, »und ich dachte mir, daß Sie vielleicht Pralinen gern essen. Es sind die besten, die in England hergestellt werden.«

 

Sie dankte ihm lachend. Er machte keinen Versuch, die Unterhaltung fortzusetzen, sondern verabschiedete sich durch ein höfliches Kopfnicken und verließ ihr Zimmer. Sie hörte, wie sich seine eigene Zimmertür öffnete und schloß. Fünf Minuten später kam er wieder auf den Gang hinaus, aber seine Schritte entfernten sich immer mehr.

 

Er geht jetzt in sein Laboratorium, dachte sie für sich. Es überlief sie ein Schauer, als ihr der Gedanke kam, daß er zu dieser späten Nachtzeit vielleicht Experimente vornehmen würde.

 

Sie hatte die Schachtel auf den Tisch gestellt und sie bei ihrer Lektüre ganz vergessen. Erst als sie wieder zu Bett ging, erinnerte sie sich daran, zog die Schleife auf und öffnete den Karton, so daß sie den schön geordneten Inhalt sehen konnte.

 

»Wirklich hübsch arrangiert«, sagte sie und nahm ein Stück in die Hand.

 

Bum!

 

Sie drehte sich schnell um, und das Stückchen Schokolade entfiel ihr.

 

Sie hörte irgendeinen Laut vom Fenster her. Es klang, als ob jemand mit der Faust dagegengeschlagen hätte. Sie eilte hin, zog die seidenen Vorhänge zurück, zögerte nervös einen Augenblick, bevor sie hinausschaute. Zuerst sah sie nichts und glaubte schon, daß jemand von der Straße aus etwas gegen das Fenster geworfen hätte. Der Balkon war leer. Sie öffnete das Fenster, trat hinaus und suchte den Boden ab, um den Gegenstand zu finden, der gegen das Fenster geschleudert worden war; aber sie konnte nichts entdecken.

 

Langsam ging sie in ihr Zimmer zurück und schloß die Fenstertür wieder, als plötzlich ihre Blicke auf die Scheibe fielen. Sie war atemlos vor Schrecken, denn sie sah auf dem Glas den lebensgroßen Abdruck einer menschlichen Hand in blauer Farbe!

 

Kapitel 12

 

12

 

Eunice starrte auf das Zeichen; aber ihre Neugierde war doch größer als ihre Angst. Sie öffnete das Fenster wieder und betastete den Abdruck. Die Farbe war noch frisch. Sie trat auf den Balkon hinaus und ging an der Fassade außen entlang, bis sie zu der Balkontür kam, die sich über dem Haustor befand. Sie versuchte sie zu öffnen, aber sie war verschlossen. Sie lehnte sich über das Geländer und überschaute den Platz. Sie sah einen Herrn und eine Dame zusammen vorübergehen, die miteinander sprachen. An der Ecke des Platzes ging eben ein Polizist an einer Straßenlaterne vorbei. Sie überlegte, daß er gerade am Haus gewesen sein mußte, als der blaue Abdruck auf die Fensterscheibe gemacht wurde.

 

Eben wollte sie sich wieder zurückziehen, als sie eine Frau die Treppe des Hauses hinuntersteigen sah. Wer mochte sie sein? Eunice kannte bereits alle Dienstboten und wußte bestimmt, daß sie eine Fremde war. Vielleicht war es eine Bekannte Digby Groats, vielleicht auch eine Freundin der Krankenschwester. Aber ihre Bewegungen waren so ungewöhnlich, daß Eunice bestimmt wußte, daß sie die geheimnisvolle Persönlichkeit sein mußte, die den Handabdruck auf der Fensterscheibe gemacht hatte. Die fremde Dame ging auf eine große Limousine zu, die auf der anderen Seite des Platzes anscheinend auf sie wartete.

 

Ohne dem Fahrer einen Auftrag zu geben, stieg sie ein, und der Wagen fuhr sofort davon.

 

Eunice ging in ihr Zimmer zurück, setzte sich und versuchte, ihrer Aufregung Herr zu werden. Dieser Abdruck der blauen Hand sollte eine Warnung sein, dessen war sie ganz sicher. Sie wußte nun auch, welchen Weg die Fremde genommen hatte. Sie mußte durch die vordere Tür ins Haus gekommen sein, und nachdem sie die Treppe emporgestiegen war, mußte sie die Tür benutzt haben, die von dem Treppenpodest auf den Balkon führte. Auf ihrem Rückweg hatte sie diese Tür wieder abgeschlossen. Eunice war eher aufgeregt als erschrocken. Aber es lag eine gewisse Beruhigung in dem Gefühl, daß sich jemand um sie sorgte. Rein gefühlsmäßig wußte sie, daß die Frau, die die blaue Hand auf die Fensterscheibe gedrückt hatte, ihr wohlwollte und ihre Freundin war. Sollte sie nach unten gehen und Digby Groat alles erzählen? Nein, sie wollte dieses Geheimnis für Jim aufsparen. Mit einem Staubtuch wischte sie die blaue Farbe von der Fensterscheibe, setzte sich dann auf die Bettkante und dachte über ihr merkwürdiges Erlebnis nach.

 

Warum hatte die Frau diese Art und Weise gewählt, sie zu warnen? Warum hatte sie ihr nicht, wie es sonst üblich war, einen Brief geschrieben? Zweimal hatte sie nun schon eine große Gefahr auf sich genommen, um Eunice zu warnen, und sie hätte doch denselben Zweck erreicht, wenn sie es durch die Post getan hätte.

 

Eunice runzelte die Stirn. Sie überlegte sich, daß ein anonymer Brief kaum Eindruck auf sie gemacht hätte. Wahrscheinlich hätte sie ihn zerrissen und in den Papierkorb geworfen. Diese mitternächtlichen Besuche sollten bei ihr den Eindruck hervorrufen, daß sie in Gefahr schwebte und daß die unbekannte Warnerin sich um sie sorgte.

 

Trotzdem war es noch nicht ganz sicher, daß die Frau, die sie eben aus dem Hause hatte herauskommen sehen, ihre geheimnisvolle Freundin war. Eunice hatte sich nicht die Mühe gemacht, Digby Groats Charakter zu erforschen, sie kannte auch keinen seiner Freunde. Möglicherweise war die Dame in Schwarz eine seiner Bekannten, und wenn sie ihm von ihren Beobachtungen erzählte, hätte es leicht zu Unstimmigkeiten kommen können.

 

Sie legte sich zu Bett; es dauerte lange, bis sie einschlafen konnte. Sie verfiel in einen leichten Halbschlummer und wachte dann wieder auf. Das wiederholte sich mehrere Male, bis sie sich schließlich entschied; aufzustehen. Sie zog die Vorhänge zurück, und das graue Morgenlicht flutete ins Zimmer. Der Verkehr auf der Straße setzte schon ein. Die frische, kühle Morgenluft kam herein, und Eunice zitterte bei dem offenen Fenster. Sie war hungrig, so hungrig, wie nur ein gesundes, junges Mädchen in frischer Morgenluft sein kann. Sie besann sich auf die Pralinen, die Digby ihr gestern abend gebracht hatte. Sie packte ein Stück aus der Stanniolhülle und hatte es schon zwischen den Zähnen, als sie sich plötzlich an die Warnung erinnerte, die sie gestern abend in dem Augenblick erhielt, als sie eine Praline essen wollte. Sie legte die Schokolade nachdenklich wieder auf den Tisch und suchte noch einmal das Bett auf. Sie wollte lieber warten, bis die Dienstboten im Hause aufgestanden waren und ihr etwas zu essen bringen konnten.

 

*

 

Jim Steele war an demselben Morgen eben im Begriff, seine kleine Wohnung zu verlassen, als ihm ein Eilbote ein großes Paket und einen Brief brachte. Er erkannte sofort die Handschrift von Eunice und trug das Paket in sein Arbeitszimmer. Der Brief war in aller Eile geschrieben, und berichtete ihm von den Ereignissen der letzten Nacht.

 

›Ich kann mir nicht denken, daß die Warnung etwas mit dem Konfekt zu tun hatte; aber irgendwie geht Ihr Vorurteil gegen Digby auf mich über. Ich hatte bis jetzt keinen Grund, ihn zu verdächtigen oder anzunehmen, daß er mir gegenüber schlechte Absichten haben könnte. Wenn ich Ihnen diese Bonbonniere schicke, erfülle ich damit nur Ihren Wunsch, Sie von allen außergewöhnlichen Dingen zu benachrichtigen, die hier vorgehen. Ich bin doch sicher ein gehorsames Mädchen. Würden Sie so lieb sein, Jim, mich heute abend zum Essen abzuholen? Es ist mein freier Abend, und ich möchte Sie gern sprechen. Ich brenne darauf, Ihnen von der blauen Hand zu erzählen. Ist die ganze Sache nicht schrecklich geheimnisvoll? Ich werde heute nachmittag den versäumten Schlaf nachholen, damit ich abends frisch und munter bin.‹ (Sie hatte in ihrem Übermut noch die Worte ›und schön‹ geschrieben, sie aber wieder ausgestrichen.)

 

Jim Steele pfiff vor sich hin. Bis jetzt hatte er die blaue Hand als etwas rein Zufälliges angesehen, die diese unbekannte Persönlichkeit an Stelle einer Unterschrift gebrauchte. Durch die letzten Ereignisse erhielt sie aber eine neue Bedeutung. Dies Zeichen war mit Vorbedacht und aus einem bestimmten Grunde gewählt, den einer der Betroffenen kennen mußte. Ob Digby Groat etwas wußte? Jim schüttelte den Kopf. Digby Groat war die blaue Hand sicher ebenso geheimnisvoll wie Eunice und ihm selbst. Er hatte zwar keinen besonderen Grund für diese Annahme, es war nur ein Gedanke. Aber auf wen konnte sich dieses Zeichen sonst noch beziehen? Er wollte Mr. Salter heute morgen fragen, ob er vielleicht wüßte, welche Bedeutung die blaue Hand haben könnte.

 

Dann erinnerte er sich an die Bonbonniere und untersuchte sie sorgfältig. Die Pralinen waren sehr schön verpackt, der Name einer bekannten Firma im Westen Londons stand auf der Rückseite des Kartons. Er nahm einige Stücke heraus, legte sie sorgfältig in einen Brief Umschlag und steckte ihn in die Tasche.

 

Schließlich machte er sich auf den Weg ins Büro. Als er seine Wohnung abschloß, schaute er auf die gegenüberliegende Tür, wo Mrs. Fane und die geheimnisvolle Madge Benson wohnten. Die Tür war angelehnt, und er glaubte die Stimme der Frau unten zu hören, während sie mit dem Portier sprach.

 

Als er einige Stufen hinuntergestiegen war, hörte er plötzlich einen lauten Hilferuf aus der Wohnung.

 

Ohne zu zögern, stieß er die Tür auf und eilte den Gang entlang. Auf beiden Seiten waren verschiedene Türen, doch nur die letzte auf der rechten Seite stand offen. Dünne Rauchschwaden drangen aus dem Zimmer. Er trat ein, als sich die Frau, die im Bett lag, eben auf die Ellenbogen stützte, als ob sie aufstehen wollte. Er sah, daß die Gardinen brannten, riß sie schnell herunter und trat die Flammen aus. Nach einigen Sekunden war alle Gefahr vorüber.

 

Als er den letzten Funken gelöscht hatte, blickte er von den schwarzverkohlten Gardinenresten auf dem Boden zu der Frau auf, die ihn mit großen Augen anschaute.

 

Sie mochte zwischen vierzig und fünfundvierzig sein. Ihre schönen, sanften Gesichtszüge machten großen Eindruck auf ihn, und er hatte das Gefühl, daß er sie schon irgendwo gesehen haben mußte. Es wurde ihm aber auch klar, daß es ein Irrtum war. Die großen, grauen, leuchtenden Augen, das dunkelbraune, ein wenig mit Grau untermischte Haar, die schönen Hände, die auf der Bettdecke lagen – alles hatte er mit einem Blick gesehen.

 

»Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, Mr. Steele«, sagte die Dame leise. »Das ist schon der zweite Unglücksfall, den wir hier haben. Ein Funke von einer vorbeifahrenden Lokomotive muß durchs Fenster geflogen sein.«

 

»Ich muß mich entschuldigen, daß ich hier so unvermittelt eingebrochen bin«, erwiderte er lächelnd, »aber ich hörte Ihren Hilferuf. Sicher sind Sie Mrs. Fane.«

 

Sie nickte und sah mit einer gewissen Bewunderung auf seine schlanke, sehnige Gestalt.

 

»Ich möchte nicht länger hier verweilen und unter diesen etwas merkwürdigen Umständen eine lange Unterhaltung anfangen«, meinte er lachend. »Aber ich möchte doch wenigstens zum Ausdruck bringen, wie leid es mir tut, daß Sie so krank sind, Mrs. Fane. Kann ich Ihnen vielleicht noch ein paar Bücher schicken?«

 

»Ich danke Ihnen sehr; Sie haben schon so viel für mich getan.«

 

Er hörte, wie die Krankenschwester die Tür schloß. Sie war erst von unten heraufgekommen und wußte nichts von dem Vorfall. Sie erschrak sehr, als ihr der Brandgeruch entgegenschlug.

 

Jim trat auf den Korridor und begegnete Madge Benson.

 

Mit ein paar Worten erklärte er ihr, warum er in die Wohnung gekommen war, und sie brachte ihn in merkwürdiger Eile und etwas unhöflich zur Tür.

 

»Mrs. Fane darf keine Besuche empfangen – sie regt sich zu sehr darüber auf.«

 

»Was fehlt ihr denn?« fragte Jim, der sich darüber amüsierte, daß er hinausgeworfen wurde.

 

»Sie hat Paralyse in beiden Beinen.«

 

Jim drückte sein Bedauern aus.

 

»Sie müssen nicht denken, daß ich unliebenswürdig sein will, Mr. Steele«, sagte die Frau ernst.

 

Er merkte, daß sie sich nicht länger mit ihm unterhalten wollte und machte deshalb auch keinen weiteren Versuch, etwas Näheres von ihr zu erfahren.

 

Das war also Mrs. Fane. Sie war eine außerordentlich schöne Frau, und es war zu schade, daß sie in den Jahren, in denen andere Frauen auf der Höhe ihrer Kraft stehen, mit einem so schrecklichen Leiden daniederlag.

 

Als er schon halb auf dem Weg zum Büro war, erinnerte er sich plötzlich daran, daß Mrs. Fane sofort gewußt hatte, wer er war und ihn bei Namen genannt hatte. Wie war es möglich, daß sie ihn kannte, da sie doch niemals ihr Krankenzimmer verließ?

 

Kapitel 13

 

13

 

»Mr. Groat wird nicht zum Frühstück herunterkommen, er hat noch sehr spät gearbeitet.«

 

Eunice nickte. Ihr war es immer noch lieber, sich mit Digby Groat zu unterhalten als mit seinem schlauen Diener, obwohl es ihr schwergefallen wäre, genau zu sagen, was sie an Jacksons Auftreten beleidigte. Äußerlich war er sehr respektvoll ihr gegenüber, und sie konnte kein Wort oder keinen Ausdruck nennen, durch den sie sich hätte verletzt fühlen können. Aber sein unausgesprochenes Selbstbewußtsein, seine anmaßende Haltung machten sie nervös. Sein Auftreten erinnerte sie an den Besitzer einer Pension, in der sie einmal gewohnt hatte. Der Besitzer war zugleich als Hausmeister tätig, aber er versuchte vergeblich, die Zuvorkommenheit eines Dieners mit der Autorität zu verbinden, die ein Hausherr haben muß.

 

»Sie sind heute morgen sehr früh fortgegangen, Miss«, sägte Jackson mit schlauem Lächeln, als er einen neuen Teller vor sie hinsetzte.

 

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich vor dem Frühstück ausgehe?« fragte sie ärgerlich.

 

»Durchaus nicht, Miss«, erwiderte er höflich. »Ich hoffe, daß ich Sie durch meine Frage nicht gekränkt habe. Ich sah Sie nur zurückkommen.«

 

Sie hatte das Paket und den Brief an Jim zur nächsten Post gebracht. Beinahe hätte sie Jackson alles erklärt, aber es war ja kein Grund vorhanden, warum sie sich vor einem Dienstboten entschuldigen sollte. Jackson ließ sich indessen nicht so leicht abweisen, außerdem hatte er ihr noch eine wichtige Neuigkeit mitzuteilen.

 

»Sind Sie gestern abend nicht gestört worden, Miss?«

 

»Was meinen Sie denn?« fragte Eunice und schaute auf.

 

Er sah sie durchdringend an, und sie fühlte sich plötzlich beklommen.

 

»Gestern abend hat sich jemand einen Scherz erlaubt; Mr. Groat war sehr böse.«

 

Sie legte Messer und Gabel hin und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.

 

»Ich verstehe Sie nicht, Jackson«, erwiderte sie kühl. »Was für ein Scherz war es denn? Was ist passiert?«

 

»Es war jemand im Hause. Es ist merkwürdig, daß Mr. Groat es nicht gehört hat. Aber wahrscheinlich war er zu sehr in seine Arbeiten im Laboratorium vertieft. Ich dachte, Sie hätten gehört, wie er später das ganze Haus durchsuchte.«

 

Sie schüttelte den Kopf. Ob die blaue Hand entdeckt worden war?

 

»Woher weiß man denn, daß ein Fremder im Hause war?« fragte sie.

 

»Weil er sein Zeichen zurückgelassen hat«, sagte Jackson grimmig. »Sic kennen doch die weiße Tür, die in das Laboratorium führt?«

 

Sie nickte.

 

»Als Mr. Groat um halb drei heute morgen herauskam, drehte er das Licht in der Halle an und sah einen Farbflecken auf der Tür. Er ging zurück und erkannte, daß es der Abdruck einer blauen Hand war. Ich habe schon den ganzen Morgen versucht, ihn abzuwischen, aber er hat sich in das Flechtwerk eingefressen, und ich kann ihn nicht wegbringen.«

 

»Der Abdruck einer blauen Hand?« wiederholte sie langsam und fühlte, daß sie blaß wurde. »Was hat das zu bedeuten?«

 

»Wenn ich das nur selbst wüßte! Auch Mr. Groat hat keine Ahnung. Aber die Zeichnung der Hand war genau und scharf abgezirkelt. Zuerst dachte ich, daß es eins der Dienstmädchen getan hätte, dem einen ist nämlich gekündigt worden, und es wäre ja möglich gewesen, daß das Mädchen es aus Rache gemacht hätte. Aber es konnte es nicht gewesen sein. Außerdem liegen die Dienstbotenschlafräume im Hinterhaus, und die Verbindungstür wird geschlossen gehalten.«

 

Diese geheimnisvolle Fremde hatte also nicht nur sie gewarnt, sondern auch Digby Groat!

 

Eunice war beinahe mit dem Frühstück fertig, als Digby im Speisezimmer erschien. Er sah müde und abgespannt aus. In den Morgenstunden bot er niemals ein vorteilhaftes Bild. Er sah Eunice argwöhnisch von der Seite an, als er am Tisch Platz nahm.

 

»Es tut mir leid, daß Sie schon fertig sind, Miss Weldon«, sagte er nur kurz. »Hat Jackson Ihnen gesagt, was in der Nacht passiert ist?«

 

»Ja«, erwiderte Eunice ruhig. »Haben Sie eine Ahnung, was das bedeuten könnte?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Das bedeutet Unannehmlichkeiten für den Täter, wenn ich ihn erwische.« Dann erkundigte er sich, wie es seiner Mutter heute morgen ginge.

 

Eunice fragte immer morgens, wenn sie herunterkam, nach dem Befinden von Mrs. Groat, und so konnte sie ihm mitteilen, daß es ihr besser ginge und sie eine sehr gute Nacht gehabt hätte.

 

»Man kann nicht erwarten, daß sie sich sehr schnell wieder erholt«, sagte er. »Wie haben Sie geschlafen, Miss Weldon?«

 

»Ausgezeichnet«, log sie.

 

»Haben Sie meine Pralinen einmal versucht?« fragte er lächelnd.

 

Sie nickte. »Sie sind ausgezeichnet.«

 

»Essen Sie nur nicht zuviel auf einmal.« Von dem nächtlichen Besuch erwähnte er nichts mehr.

 

Als Eunice später an ihre Arbeit ging, sah sie Handwerker damit beschäftigt, den blauen Flecken zu entfernen. Da sie ihn aber nicht ganz wegbringen konnten, ließ Digby das Flechtwerk der Tür ganz mit dunkelblauer Farbe übermalen. Sie wußte, daß Digby beunruhigter war als gewöhnlich. Als sie ihn zufällig an diesem Morgen noch einmal traf, sah sie, daß er sehr nervös war. Sie brachte ihm eine Rechnung, die sie noch zwischen anderen Papieren gefunden hatte und war überrascht, als er mit sich selbst sprach.

 

*

 

Am Nachmittag war ein Empfang bei Lord Waltham zu Ehren eines hohen Diplomaten, der England einen Besuch abstattete. Digby Groat hielt es für ratsam und vorteilhaft, die Bekanntschaft mit dem feinsinnigen Lord Waltham zu pflegen, der einer der fünf großen Finanzleute der City war. Digby hatte in sehr geschickter Weise ein Syndikat gebildet, das die großen Güter der Dantons aufkaufen sollte, über die er in kurzer Zeit verfügen würde.

 

In dieser glänzenden Gesellschaft befanden sich viele Damen, die gern seine Bekanntschaft gemacht hätten. Man wußte, daß er der Erbe eines großen Vermögens war. Aber Digby war schwer zufriedenzustellen, und man sprach viel darüber, daß er Damengesellschaft direkt aus dem Wege ging. Er hätte eine glänzende Partie machen können, wenn er gewollt hätte. Aber offensichtlich hatten die Mädchen seines eigenen Kreises keine Anziehungskraft für ihn. Seine Freunde erzählten von ihm nach Tisch bei einer guten Zigarre, wenn sie unter sich waren, Geschichten, die ihm gerade nicht zur Ehre gereichten. Digby hatte allerhand Abenteuer hinter sich, meistens schmutzige Affären. Seine Opfer hatte er hinterlistig verraten und im Stich gelassen.

 

Er war, wie er sagte, nur auf einen Sprung gekommen. Er hatte viel zu Hause zu tun und deutete an, daß er neuartige Untersuchungen und Operationen an Tieren vornehmen wollte, die ihn heute den ganzen Abend beschäftigen würden.

 

»Wie geht es Ihrer Frau Mutter, Groat?« fragte Lord Waltham.

 

»Ich danke für Ihre gütige Nachfrage, sie befindet sich bereits auf dem Wege der Besserung.«

 

Es war ihm nicht recht, daß die Unterhaltung auf seine Mutter kam.

 

»Ich kann eigentlich gar nicht verstehen, daß sie sich in den letzten Jahren so verändert hat«, meinte Lord Waltham mit Stirnrunzeln. »Sie sah doch so schön und jugendlich aus und war eine der lebhaftesten Frauen, denen ich jemals begegnet bin. Aber plötzlich schienen all ihr Lebensmut und ihre Lebensfreude verschwunden zu sein, und – verzeihen Sie, wenn ich diesen Ausdruck gebrauche – sie alterte mit einemmal schnell, fast zusehends.«

 

»Auch mir ist das nicht entgangen«, erwiderte Digby, »aber Frauen ihres Alters fallen gewöhnlich schnell ab.«

 

»Ich dachte, es sei noch ein besonderer Grund hierfür vorhanden. Aber ich vergesse immer, daß Sie ja Arzt sind.«

 

Digby verabschiedete sich und lachte in sich hinein, als er wieder in seinen Wagen stieg. Was hätte wohl Lord Waltham gesagt, wenn er ihm die geheimen Gründe auseinandergesetzt hätte, warum seine Mutter plötzlich ihr schönes Aussehen verloren hatte. Auch er selbst war ja nur zufällig dahintergekommen. Sie war dem Morphium verfallen.

 

Nach dieser Entdeckung hatte er selbst mit aller Energie eine Entziehungskurs bei ihr durchgeführt, nicht weil er sie liebte, sondern weil er als Wissenschaftler gern Experimente machte. Er hatte herausbekommen, woher sie das Gift bezog, und hatte mit der Zeit immer mehr von der narkotischen Droge aus den Pillen entfernt, bis er diese schließlich ganz durch andere unschädliche Stoffe ersetzte.

 

Für die alte Frau war das Resultat schrecklich. Sie welkte plötzlich dahin, und Digby, den sie bis dahin vollkommen beherrscht hatte, wurde zu seinem Erstaunen Herr über sie. Er zog auch sofort Vorteile aus der neuen Lage, Tag und Nacht ließ er sie beobachten, damit sie sich nicht von anderer Seite Morphium beschaffte, denn seitdem es ihr ferngehalten wurde, war ihre Energie zerstört, und sie fügte sich sklavisch dem Willen ihres Sohnes.

 

*

 

Mr. Septimus Salter war noch nicht da, als Jim in sein Büro trat. Mr. Steele wartete ungeduldig, denn er hatte seinem Chef, den er fast eine ganze Woche lang nicht gesehen hatte, viel zu berichten.

 

Der Rechtsanwalt hatte wieder einen seiner Gichtanfälle gehabt und war deswegen reizbar und verstimmt. In dieser Verfassung war er nicht geneigt, der blauen Hand irgendeine besondere Bedeutung beizulegen.

 

»Wer nun auch immer die Person sein mag, ob es eine Frau oder ein Mann ist, sie mußte doch den Stempel stets mit sich führen. Sie sagten ja selbst, daß die Abdrücke mit einer Gummiplatte hergestellt sind. Ich kann mich nicht darauf besinnen, daß eine blaue Hand irgendwann einmal eine Rolle gespielt hätte. An Ihrer Stelle würde ich der ganzen Sache keine Bedeutung beilegen.«

 

Obgleich Jim nicht der Meinung seines Chefs war, hütete er sich doch wohl, es ihm zu sagen.

 

»Sie haben mir auch erzählt, daß Mrs. Groat ein neues Testament gemacht hat. Was wissen Sie denn davon? Sie hat doch ihr erstes Testament hier in diesen Räumen bei mir unterzeichnet?«

 

Jim nickte.

 

»Und in diesem zweiten Testament soll sie ihren Sohn enterbt haben?« fragte der alte Salter nachdenklich. »Merkwürdig! Ich hatte doch immer eine Ahnung, daß zwischen den beiden keine große Zuneigung besteht. Wem hat sie denn jetzt ihr Vermögen vermacht?«

 

»Dem Marquis von Estremeda.«

 

»Der Name ist mir bekannt. Er ist ein reicher spanischer Grande, der einige Jahre bei der spanischen Gesandtschaft in London Attaché war. Vielleicht hat er bei den Dantons verkehrt, ich kann mich aber nicht darauf besinnen. Meiner Meinung nach hat sie jedoch keine Veranlassung, ihr Vermögen einem Manne zu vermachen, dem beinahe eine halbe Provinz gehört, und der drei oder vier große Schlösser in Spanien besitzt. Die Sache kommt mir nun wirklich geheimnisvoll vor.«

 

Jim hatte ihm noch mehr zu erzählen.

 

»Ich lasse die Schokolade von einem Chemiker untersuchen.«

 

Mr. Salter lächelte. »Erwarten Sie etwa, daß sie vergiftet ist? Wir leben jetzt nicht mehr in den Tagen Cesare Borgias. Und obwohl Digby einen gemeinen Charakter hat, glaube ich doch nicht, daß er ein Mörder ist.«

 

»Trotzdem überlasse ich nichts dem Zufall. Meiner Ansicht nach ist mit diesen unschuldig aussehenden Pralinen etwas nicht in Ordnung Und diese geheimnisvolle Person mit der blauen Hand wußte darum und warnte deshalb Miss Weldon.«

 

»Ach, das ist doch Unsinn«, brummte der Rechtsanwalt. »Nun gehen Sie aber, ich habe schon wieder viel zuviel Zeit mit dieser niederträchtigen Angelegenheit versäumt.«

 

Jim ging zuerst zum chemischen Laboratorium in der Wigmore Street, und nachdem er seinem Freund dort alles erzählt hatte, war dieser an dem Fall sehr interessiert.

 

»Was könnte denn mit der Schokolade geschehen sein?« fragte er und wog zwei Pralinen in seiner flachen Hand.

 

»Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, aber ich wäre sehr überrascht, wenn Sie nicht irgend etwas fänden.«

 

»Kommen Sie heute nachmittag um drei oder vier Uhr wieder, dann werde ich Ihnen alle Resultate, die ich herausgebracht habe, geben.«

 

Als Jim zu der bestimmten Zeit zurückkehrte, sah er drei Reagenzgläser in einem Ständer auf dem Labortisch.

 

»Nehmen Sie Platz, Steele«, sagte der Chemiker. »Die Analyse ist mir sehr schwergefallen, aber wie Sie richtig vermuteten, fanden sich Beimengungen in der Schokolade, die nicht darin sein sollten.«

 

»Doch nicht etwa Gift?« fragte Jim erschrocken.

 

»Ja, vom rein chemischen Standpunkt aus. Wenn Sie so wollen, ist fast in jeder Sache Gift enthalten. Aber Sie können tausend solcher Pralinen essen, ohne daran zu sterben. Ich fand Spuren von Hyacin und einer anderen Droge, die aus indischem Hanf destilliert wird.«

 

»Sie meinen Haschisch?«

 

»Ja, wenn es geraucht wird, nennt man es Haschisch. Wenn man aber einen Extrakt aus der Pflanze zieht, so haben wir dafür einen anderen Namen. Diese beiden Drogen gehören natürlich zu den Giften. Wenn sie zusammen in großen Mengen genommen werden, verursachen sie Bewußtlosigkeit und schließlich den Tod. Aber in diesen Pralinen ist kein genügend großes Quantum enthalten, um solche Folgen zu zeitigen.«

 

»Welche Wirkungen haben denn kleinere Mengen?«

 

»Neuere Forschungen haben bewiesen, daß durch den dauernden Genuß kleiner Mengen Energie und Willenskraft zerstört werden; um es genauer zu sagen: es werden gewisse Hemmungen beseitigt. Sie wissen wahrscheinlich, daß in England vor der Hinrichtung nervöser und erregbarer Menschen diese Drogen in kleinen Quantitäten in das Essen gemischt werden, um ihren Willen derartig zu schwächen, daß selbst die Aussicht auf den nahen Tod keinen großen Eindruck mehr auf sie macht.«

 

Jim war blaß geworden, als er den gemeinen Plan Digbys durchschaute: »Welchen Einfluß würde diese Droge auf ein energisches junges Mädchen haben, die, sagen wir einmal, von einem Mann, den sie nicht leiden mag, mit Liebesanträgen verfolgt wird?«

 

»Vermutlich wird sich ihre Abneigung in Apathie verwandeln. Sie wird zunächst ihren Widerstand gegen ihn nicht vollständig aufgeben, aber mit der Zeit wird er vollkommen verschwinden. Durch den Genuß dieser Droge wird schließlich auch ein starker Charakter allmählich schwach.«

 

»Ich habe Sie sehr gut verstanden«, entgegnete Jim ruhig. »Sagen Sie mir bitte, ob es möglich ist, eine Person, die einem jungen Mädchen solche Süßigkeiten schenkt, vor Gericht zu stellen und zur Verurteilung zu bringen?«

 

»Das glaube ich nicht. Wie ich schon sagte, sind die Mengen verschwindend klein, ich habe bei meiner Untersuchungsmethode nur Spuren davon gefunden. Aber ich vermute, daß bei Wiederholungen dieses Geschenkes die Beimengungen von Woche zu Woche gesteigert werden. Wenn Sie mir nach drei Wochen andere Pralinen bringen oder Speisen, die hiermit versehen sind, so werde ich in der Lage sein, Ihnen auch mengenmäßige Angaben zu machen.«

 

»Waren alle Pralinen, die ich Ihnen gab, gleichmäßig behandelt?«

 

»Ja, die Beimengung der Drogen ist sehr gut vorgenommen. Die Pralinen sind in keiner Weise verfärbt. Ich nehme daher an, daß die Schokolade, aus der sie hergestellt sind, im ganzen mit den Fremdstoffen gemischt wurde. Und dazu ist nur ein Chemiker oder ein Arzt, der hierin besondere Erfahrung hat, imstande.«

 

Jim antwortete nichts. Digby Groat war sowohl ein tüchtiger Chemiker als auch ein Arzt, der sich mit diesem Spezialgebiet beschäftigte.

 

Nachdem er das Laboratorium verlassen hatte, ging Jim im Hyde Park spazieren. Er wollte allein sein, um über alles nachzudenken. Es hatte wenig Zweck, Eunice auf so geringe Anzeichen hin zu warnen, er mußte warten, bis Groat größere Dosen unter die Schokolade mischte. Der Gedanke, daß sie noch länger in Digby Groats Hause weilen mußte, quälte ihn, aber er war fest entschlossen, ihr noch nichts zu sagen.

 

An diesem Abend hatten sich die beiden zum Essen verabredet, und er freute sich schon auf ein Zusammensein mit ihr.

 

Seine Gedanken beschäftigten sich nur noch ausschließlich mit Eunice, selbst die Nachforschungen nach Lady Mary waren in den Hintergrund getreten. Er hätte sich vielleicht überhaupt nicht mehr um sie gekümmert, wenn nicht sein Feind Digby Groat zu sehr mit dieser geheimen Angelegenheit verknüpft gewesen wäre. Solange Eunice Weldon in seinem Hause wohnte, konnte die Angelegenheit Danton bei ihm nicht in Vergessenheit geraten.

 

Kapitel 14

 

14

 

Jim hatte Eunice noch nie im Abendkleid gesehen und war erstaunt von ihrer fast überirdischen Schönheit. Sie trug ein verhältnismäßig einfaches Kleid aus hellfarbiger Seide, das nur in der Mitte durch golddurchwirkte Spitzen betont war. Sie erschien Jim größer und schlanker, und das Gewand hob die Grazie ihrer Erscheinung und ihre feinen Gesichtszüge noch mehr hervor.

 

»Nun«, sagte sie, als sie neben ihm im Wagen saß und sie Piccadilly entlangfuhren, »wie gefalle ich Ihnen?«

 

Jim konnte sich nicht satt an ihr sehen:

 

»Sie sind wunderbar schön«, sagte er hingerissen.

 

Er saß steif neben ihr im Wagen und wagte nicht, sich zu bewegen. Sie war für ihn der Inbegriff allen Glückes, die Erfüllung seiner letzten Träume.

 

»Ich habe fast Angst vor Ihnen, Eunice.«

 

Sie lachte silberhell.

 

»Aber Jim, sprechen Sie doch nicht so«, entgegnete sie und legte ihren Arm in den seinen.

 

Sie empfand eine gewisse Genugtuung, daß sie einen so großen Eindruck auf ihn machte.

 

»Ich muß Sie sehr viel fragen«, sagte sie, als sie in einer Ecke des großen Speisesaals im Ritz-Carlton-Hotel Platz genommen hatten. »Haben Sie meinen Brief bekommen? Es war eigentlich nicht richtig von mir, und ich glaube, ich war etwas verrückt, daß ich Ihnen die Schokolade geschickt habe. Sicherlich war es Mr. Groat gegenüber unrecht, aber Ihr Verdacht hat mich angesteckt, Jim. Ich werde bald eine nervöse alte Jungfer werden!«

 

Er lachte liebenswürdig.

 

»Ich habe mich sehr über Ihren Brief gefreut. Die Schokolade –« Er zögerte.

 

»Nun?«

 

»Ich würde Mr. Groat an Ihrer Stelle sagen, daß sie ganz vorzüglich ist«, meinte er lächelnd.

 

»Das habe ich schon getan. Aber Lügen sind mir verhaßt, selbst wenn es sich um nebensächliche Dinge handelt.«

 

»Wenn er Ihnen die nächste Bonbonniere schenkt, müssen Sie mir drei oder vier Stück Schokolade schicken.«

 

Sie war bestürzt und sah ihn schnell an. »Ist doch etwas drin entdeckt worden?«

 

Ihre Frage war ihm sehr unangenehm. Er wollte und konnte ihr nicht sagen, was der Chemiker ihm mitgeteilt hatte. Auf der anderen Seite wollte er sie auch nicht unnötig einer Gefahr aussetzen. Er mußte also irgend etwas erfinden, wurde verlegen und brachte nur lahme Entschuldigungen hervor, die sie nicht überzeugten.

 

Sie erkannte genau, daß er ihr nicht alles sagen wollte, aber sie war verständig genug, nicht in ihn zu dringen. Außerdem brannte sie zu sehr darauf, ihm von ihren Erlebnissen zu erzählen und ihn nach seiner Meinung über das Zeichen der blauen Hand zu fragen.

 

»Das klingt ja ganz geheimnisvoll«, meinte Jim, als sie ihm alles erzählt hatte. Aber sein Ton war ernst. »Es ist schwer, derartige Dinge in unserer nüchternen Zeit zu erklären. Aber eins ist sicher. Diese merkwürdige Frau verbindet irgendeine Absicht damit. Auch daß der Abdruck der Hand blau ist, hat eine besondere Bedeutung. Aber anscheinend hat Digby Groat das noch nicht erkannt. Und jetzt wollen wir einmal von uns selbst sprechen«, sagte er lächelnd und legte seine Hand einen Augenblick auf die ihre.

 

Sie machte keinen Versuch, sie fortzuziehen, bis der Kellner erschien. Und dann entfernte sie sie nur langsam, und er merkte, daß sie es nur widerwillig tat.

 

»Ich werde noch einen weiteren Monat bei Mrs. Groat bleiben, und wenn es dann keine weitere Arbeit dort für mich gibt, gehe ich zum fotografischen Geschäft zurück – wenn man mich dort wiederhaben will.«

 

»Ich weiß jemand, der Sie noch viel dringlicher haben möchte als der Fotograf, jemand, dessen Herz schmerzt, wenn er Sie fortgehen sieht.«

 

Sie fühlte, wie ihr Herz heftig schlug. Ihre Hände zitterten.

 

»Wer ist denn dieser Jemand?« fragte sie leise.

 

»Jemand, der Sie nicht eher um Ihre Hand bitten will, bis er Ihnen eine gesicherte Stellung im Leben anbieten kann. Jemand, der den Boden verehrt, auf dem Sie wandeln, jemand, der überall Teppiche vor Ihnen ausbreiten und Ihnen ein schöneres Heim geben möchte, als die kleine, dürftige Wohnung, die neben dem Eisenbahngeleise liegt.«

 

Er schwieg. Er hatte, von ihrer Gegenwart und dem Augenblick überwältigt, mehr gesagt, als er je zu sagen gewagt haben würde, und er hatte Worte gewählt, die ihm viel zu leer und schal schienen für seine Empfindungen.

 

Lange Zeit sprach sie nichts, und er glaubte, er hätte sie beleidigt. Sie wurde blaß und wieder rot, und ihr zarter Busen hob und senkte sich schneller als gewöhnlich.

 

»Jim«, sagte sie nach einer Weile, ohne ihn anzusehen, »ich würde mich selbst in einer ganz schlichten, einfachen Wohnung wohl fühlen, und ich würde gerne auch die Eisenbahnschienen in Kauf nehmen!« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, und er sah, daß Tränen in ihren Augen schimmerten. »Wenn Sie sich nicht mehr in acht nehmen, Jim Steele«, sagte sie mit einem leisen Anflug von Spott, »dann mache ich Ihnen noch einen Heiratsantrag!«

 

»Gestatten Sie, daß ich mir eine Zigarette anzünde?« entgegnete Jim heiser nach einer Pause. Sie nickte.

 

Sie wunderte sich, warum er so ruhig wurde und kaum noch sprach. Sie konnte nicht wissen, daß das große Glück, das ihm so plötzlich widerfuhr, sein Herz ganz erfüllte und ihn beinahe betäubte.

 

Auf der Heimfahrt wünschte sie, daß er sie im Dunkel des Wagens in seine Arme geschlossen hätte. Wie gerne hätte sie an seiner Brust geruht! Sie sehnte sich danach, seine Küsse auf ihren Lippen und Augen zu fühlen. Wenn er sie jetzt gebeten hätte, mit ihm davonzulaufen oder die größte Torheit zu begehen, hätte sie ihm freudig ihre Zustimmung gegeben, denn ihre Liebe zu ihm wuchs immer mehr, wie ein großer, reißender Strom, und die innere Glut mußte zum Ausbruch kommen. Es gab keine Vernunft, keine Schranken und keine Grenzen mehr für sie.

 

Aber er saß ruhig an ihrer Seite, hielt nur ihre Hand in der seinen und träumte von einer goldenen Zukunft.

 

»Gute Nacht, Jim.« Ihre Stimme klang kühl und ein wenig, enttäuscht, als sie ihre Handschuhe anzog und ihm dann die Hand gab. Sie standen vor der großen, breiten Treppe von Mr. Groats Haus.

 

»Gute Nacht«, sagte er leise mit zitternder Stimme und küßte ihr die Hand.

 

Sie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als sie in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich schloß. Lange schaute sie forschend in den Spiegel, dann schüttelte sie den Kopf.

 

»Ich wünschte, er wäre nicht so gut – oder in mancher Beziehung ein größerer Held.«

 

Kapitel 1

 

1

 

Mr. Septimus Salter drückte schon zum dritten Male die Klingel auf seinem Tisch und brummte unzufrieden.

 

Er war ein gesetzter, älterer Herr mit großem, rotem Gesicht und weißen Koteletten und glich mehr einem wohlhabenden Landwirt als einem erfolgreichen Rechtsanwalt. Es gab keinen gescheiteren und tüchtigeren Rechtsanwalt in London, aber in seiner Kleidung und seinem Äußeren blieb er der Zeit treu, in der er jung gewesen war.

 

Er drückte ungeduldig noch einmal auf den Knopf.

 

»Verdammter Kerl«, murmelte er vor sich hin, erhob sich und ging in den kleinen Raum seines Sekretärs.

 

Er hatte eigentlich erwartet, das Zimmer leer zu finden, aber er irrte sich. Seitwärts von dem alten, tintenbeklecksten Tisch stand ein Stuhl, auf dem ein junger Mann kniete. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und war in das Studium eines Schriftstückes vertieft.

 

»Steele«, sagte Mr. Salter scharf. Der junge Mann schnellte auf und sprang auf die Füße.

 

Er war groß und hatte breite Schultern, aber trotzdem waren seine Bewegungen geschmeidig und biegsam. Sein gebräuntes Gesicht erzählte von Tagen, die er draußen im Freien verbracht hatte. Eine gerade Nase, ein fester Mund und ein hartes Kinn gaben ihm das charakteristische Aussehen eines früheren Offiziers.

 

Nun war er etwas verwirrt und erinnerte eher an einen bei einer Unaufmerksamkeit ertappten Schüler als an einen schneidigen Offizier, der das Viktoriakreuz erhalten und in hartem Luftkampf zwanzig feindliche Flugzeuge heruntergeholt hatte.

 

»Sie sind wirklich zu unaufmerksam, Steele. Ich habe nun viermal vergeblich nach Ihnen geklingelt«, sagte Mr. Salter vorwurfsvoll.

 

»Es tut mir furchtbar leid«, entschuldigte sich Jim Steele und sah Mr. Salter mit dem Lächeln an, dem er nicht widerstehen konnte.

 

»«Was machen Sie denn hier?« brummte der Rechtsanwalt und besah sich die Dokumente, die auf dem Tisch lagen. »Haben Sie immer noch nicht genug von dem Fall Danton?« fragte er seufzend.

 

»Nein, noch nicht«, war die gelassene Antwort. »Ich habe das Gefühl, daß Lady Mary Danton gefunden werden kann. Und wenn man sie erst gefunden hat, wird sich auch ihr damaliges plötzliches Verschwinden befriedigend aufklären lassen. Dann würde jemand sehr außer Fassung geraten –« Er hielt plötzlich inne, aus Furcht, eine Indiskretion zu begehen.

 

Mr. Salter sah ihn scharf an.

 

»Sie mögen Mr. Groat nicht?« fragte er.

 

Jim lachte. »Es ist ja nicht meine Sache, ihn sympathisch oder unsympathisch zu finden. Persönlich kann ich solche Leute nicht leiden. Als einzige Entschuldigung für einen Mann von dreißig Jahren, der nicht im Felde war, kann ich nur gelten lassen, daß er zu der Zeit tot war.«

 

»Er hatte doch ein schwaches Herz«, meinte Mr. Salter, aber er sprach ohne große Überzeugung.

 

»Das wird schon stimmen«, entgegnete Jim ironisch.

 

Mr. Salter sah wieder auf die Papiere, die auf dem Tisch umherlagen.

 

»Legen Sie das ruhig weg, Steele. Sie. werden doch keinen Erfolg damit haben, wenn Sie eine Frau suchen wollen, die verschwand, als Sie noch ein Junge von fünf Jahren waren.«

 

»Ich möchte –«, begann Steele, zögerte dann aber. »Sie haben recht, es ist nicht meine Sache«, sagte er lächelnd. »Ich habe kein Recht, Sie zu fragen, aber ich möchte gern mehr Einzelheiten über das Verschwinden jener Frau hören – wenn Sie einmal freie Zeit hätten und dazu aufgelegt wären. Ich hatte früher niemals den Mut, Sie direkt zu fragen – wie verschwand sie denn eigentlich?«

 

Mr. Salter runzelte erst die Stirn, dann hellten sich seine Gesichtszüge wieder auf.

 

»Steele, Sie sind der schlechteste Sekretär, den ich jemals hatte«, sagte er. »Und wenn ich nicht Ihr Patenonkel wäre und mich moralisch verpflichtet fühlte, Ihnen zu helfen, würde ich Ihnen einen kleinen, höflichen Brief schreiben, daß Ihre Dienste ab Ende dieser Woche nicht mehr benötigt werden.«

 

Jim Steele lachte.

 

»Das habe ich schon immer erwartet!«

 

Der alte Rechtsanwalt zwinkerte freundlich mit den Augen. Er hatte Jim Steele außerordentlich gern, obwohl er es nach außen hin nicht eingestehen wollte. Der junge, hübsche Mensch war ihm viel mehr ans Herz gewachsen, als er selbst ahnte. Aber nicht allein aus Freundschaft und einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl heraus behielt der alte Salter Jim in seinen Diensten, der junge Mann war ihm auch sehr nützlich. Und obgleich er die traurige Veranlagung hatte, Klingelzeichen zu überhören, wenn er sich mit seinem Lieblingsstudium beschäftigte, war er doch sehr vertrauenswürdig.

 

»Schließen Sie die Tür«, sagte Salter etwas schroff. »Wenn ich Ihnen diese Geschichte erzähle« – er hob warnend den Zeigefinger –, »so tue ich es nicht, um Ihre Neugierde zu befriedigen, sondern weil ich hoffe, daß ich Ihr Interesse an dem geheimnisvollen Fall Danton damit für immer beseitige!

 

Lady Mary Danton war die einzige Tochter des Lord Plimstock – ein Adelsprädikat, das jetzt erloschen ist. Sie heiratete als junges Mädchen Jonathan Danton, einen Reeder, der ein Millionenvermögen besaß. Aber die Ehe war nicht glücklich. Der alte Danton war ein harter, unangenehmer und auch kranker Mann. Wir sprachen eben davon, daß Digby Groat herzkrank sei. Jonathan hatte aber wirklich kein gesundes Herz. Seine Krankheit war wohl auch teilweise dafür verantwortlich, daß er seine Frau so schlecht behandelte. Auch das kleine Mädchen, das ihnen geboren wurde, brachte sie einander nicht näher; sie wurden sich immer fremder. Danton mußte eine Geschäftsreise nach Amerika antreten. Vor seiner Abreise kam er in mein Büro, und an diesem Tisch hier unterzeichnete er ein Testament, das eins der seltsamsten und merkwürdigsten war, die ich jemals aufgesetzt habe. Er hinterließ sein ganzes Vermögen seiner kleinen Tochter Dorothy, die damals drei oder vier Monate alt war. Im Falle ihres Todes sollte das Geld an seine Schwester, Mrs. Groat, fallen, aber erst zwanzig Jahre nach dem Tode des Kindes. In der Zwischenzeit sollte Mrs. Groat nur die Einnahmen aus seinem Landgut erhalten.«

 

»Warum hat er denn diese merkwürdige Bestimmung getroffen?« fragte Jim verwundert.

 

»Das ist doch leicht zu verstehen. Er wollte vor allen Dingen, verhindern, daß das Kind in früher Jugend beiseite geschafft wurde. Auf der anderen Seite sah er voraus, daß das Testament von Lady Mary angefochten werden würde. So, wie das Testament aufgesetzt war – ich habe nicht alle Details erwähnt –, konnte es während zwanzig Jahren nicht angefochten werden. Und es ist auch kein Einspruch dagegen erhoben worden. Während Danton in Amerika war, verschwand Lady Mary mit ihrer Tochter Dorothy.

 

Niemand wußte, wohin sie gegangen war, aber die Spur der kleinen Dorothy und ihres Kindermädchens führte nach Margate. Vielleicht war Lady Mary auch dort. Es steht jedenfalls fest, daß das Kindermädchen, die Tochter eines dortigen Fischers, die sehr gut rudern konnte, an einem schönen Sommertage das Kind in einem Boot mit aufs Meer nahm. Dort wurde sie vom Nebel überrascht. Allem Anschein nach wurden sie von einem Passagierdampfer überrannt. Die Überreste des zertrümmerten Bootes wurden aufgefischt, und eine Woche später wurde die Leiche des Kindermädchens ans Ufer gespült. Man hat aber niemals erfahren, was aus Lady Mary wurde. Danton kam zwei Tage nach, dem Unglücksfall zurück, und seine Schwester, Mrs. Groat, brachte ihm die Nachricht von dem Unglücksfall. Das gab ihm den Rest. Er starb.«

 

»Und Lady Mary hat man nie wieder gesehen?«

 

Salter schüttelte den Kopf.

 

»Sie sehen also, mein lieber Junge, selbst wenn Sie durch ein Wunder Lady Mary fänden, könnte das doch nicht den geringsten Einfluß auf die Position der Mrs. Groat oder ihres Sohnes haben. Nur Dantons Tochter könnte die Erbschaft antreten – und die liegt wahrscheinlich auf dem Meeresgrund«, schloß er leise und traurig.

 

»Ich verstehe jetzt die Zusammenhänge«, sagte Jim Steele ruhig, »nur –«

 

»Was haben Sie noch?«

 

»Ich habe den starken Eindruck, daß an der ganzen Sache etwas nicht stimmt, und ich bin fest davon überzeugt, daß das Geheimnis gelöst werden könnte, wenn ich meine ganze Zeit dieser Aufgabe widmen dürfte.«

 

Mr. Salter sah seinen Sekretär scharf an, aber Jim Steele hielt seinem Blick stand.

 

»Sie sollten eigentlich Detektiv werden«, meinte der Rechtsanwalt ironisch.

 

»Ich wünschte nur, ich wäre einer«, erwiderte Jim. »Vor zwei Jahren habe ich Scotland Yard meine Dienste angeboten, als die Bande der Dreizehn die Banken beraubte, ohne daß man einen dieser verwegenen Verbrecher fassen konnte.«

 

»Sehen Sie einmal an«, sagte Salter ein wenig spöttisch und öffnete die Tür, um zu gehen. Aber plötzlich wandte er sich wieder um. »Warum habe ich Ihnen denn eigentlich geklingelt? Ach so, ich brauche alle Pachtverträge, die sich auf den Grundbesitz des alten Danton in Cumberland beziehen.«

 

»Will Mrs. Groat die Ländereien verkaufen?«

 

»Sie kann sie jetzt noch nicht verkaufen. Erst am dreißigsten Mai erhält sie die Verfügung über das Millionenvermögen Jonathan Dantons, vorausgesetzt, daß kein Einspruch dagegen erhoben wird.«

 

»Oder ihr Sohn erhält das große Vermögen«, meinte Jim bedeutungsvoll. Er war seinem Chef in dessen Zimmer gefolgt. An den Wänden standen viele Aktenregale. Abgenutzte Möbel und ein schon etwas fadenscheiniger Teppich bildeten die weitere Ausstattung des Raumes, in dem es nach staubigen Akten roch.

 

»Detektiv möchten Sie werden?« fragte Mr. Salter unwirsch, als er sich an seinem Schreibtisch niederließ. »Und welche Ausrüstung bringen Sie denn für diesen neuen Beruf mit?«

 

Jim lächelte, aber in seinem Blick lag Begeisterung.

 

»Glauben«, sagte er ruhig.

 

»Was nützt Ihnen als Detektiv Glaube?«

 

»Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht.«

 

Jim zitierte diesen Bibelspruch feierlich, und Mr. Salter schwieg eine Weile. Dann nahm er ein Stück Papier, auf das er einige Notizen geschrieben hatte, und reichte es Jim.

 

»Sehen Sie einmal, ob Sie mit dem Spürsinn eines Detektivs diese Aktenstücke auffinden können, sie liegen unten in der Stahlkammer.« Aber obwohl er scherzte, hatten Jims Worte doch Eindruck auf ihn gemacht.

 

Jim nahm den Zettel, las ihn durch und wollte eben eine Frage an Mr. Salter stellen, als ein Schreiber hereinkam.

 

»Wollen Sie Mr. Digby Groat empfangen, Sir?«