23
Slick Smith wohnte in einem altertümlichen Haus in Bloomsbury. Er hatte dort das erste Stockwerk gemietet und nahm an der unmodernen Einrichtung keinen Anstoß. Im Gegenteil, die ewig gurgelnde Zisterne unter seinem Schlafzimmerfenster hatte etwas Beruhigendes und war eine bequeme Stufe für ihn, um über die Hofmauer zu gelangen. Auf diese Weise konnte er die Nebenstraße leichter erreichen, als wenn er die Treppe hinunter und durch die Haustür gegangen wäre. Welches Geschäft er eigentlich betrieb, wußte niemand im Haus. Nachts war er meistens außerhalb, und den größten Teil des Tages schlief er hinter verschlossenen Türen. Wenn ein Besucher kam, klingelte er nicht, sondern pfiff leise auf der Straße, worauf Slick selbst herunterkam und öffnete. Abends ging er im Frack aus und sprach in einer Bar oder einem eleganten Nachtklub vor, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nacht für Nacht verfolgten ihn erfahrene Leute von Scotland Yard, aber stets verloren sie ihn an derselben Stelle aus den Augen, und zwar an der Ecke von Piccadilly Circus und der Shaftesbury Avenue, dem am strahlendsten beleuchteten Platz Londons.
An dem Abend, an dem Audrey nach St. Dunstan fuhr, saß Slick Smith in einem Nachtklub. Er lauschte der Musik des Tanzorchesters, als sich ihm ein kleiner Mann näherte und zaghaft einen Stuhl heranzog.
»Slick, im Astoria ist eine Dame mit enorm viel Ware abgestiegen –«
»Sie heißt Levellier und trägt das Zeug auf dem Leib, und jeder Mensch in London weiß es«, fiel ihm Smith ins Wort. »Interessiert mich nicht.«
»Aber im Hotel Imperial wohnt ein steinreicher Mann, der heute eine Diamanten-Tiara –«
»Tiara – ja, für seine Frau. Zwölfhundert Pfund. Er heißt Mollins, trägt einen Revolver und hat eine Bulldogge, die am Fußende seines Bettes schläft.«
Der Zuträger seufzte.
»Das ist alles, was ich weiß. Aber in den nächsten Tagen kommt ein Kerl aus Südafrika mit einem großen Vermögen –«
»Erzählen Sie mir alles, was Sie über den Kunden wissen!« sagte Slick plötzlich in verändertem Ton, legte die Hand auf den Tisch und bewegte sie scheinbar zufällig zu dem Mann hin. Dieser nahm die Banknote, die darunter lag, dankbar an sich.
Bald darauf ging Slick fort. Überall, wohin er kam, wiederholte sich dasselbe Spiel. Als er sich schließlich den Bücken der Leute von Scotland Yard entzog, hatte er nicht viel erfahren. Erst später sollte er neue Nachrichten hören.
Um zwei Uhr nachts schlich sich ein Vagabund zu den Hintergebäuden des Portman Square, und eine halbe Stunde später wurde Dick Shannon durch die Telephonklingel aus dem Schlaf geweckt.
»Hier Steel, Captain … ich spreche von Nr. 551 aus, bitte, kommen Sie doch her. Hier ereignen sich die sonderbarsten Dinge.«
Eine Viertelstunde später stieg Dick vor Nr. 551 aus dem Auto. Steel und ein anderer Beamter erwarteten ihn in der offenen Haustür.
»Was ist denn geschehen?« fragte er, als sie in der Halle standen und die Tür geschlossen war.
»Um Mitternacht fing es an«, erwiderte Steel leise. »Es klang so, als ob jemand die Treppe hinaufginge. Wir saßen in Malpas‘ Zimmer und kamen heraus, konnten aber niemand entdecken. Beide können wir uns doch nicht getäuscht haben.«
»Sie haben es auch gehört?« fragte Dick den hünenhaften Polizisten.
»Ja – es lief mir ganz kalt über den Rücken –«
Er fuhr herum und starrte die Treppe hinauf. Auch Dick hörte es und schauderte leicht zusammen.
Es war ein Geräusch, als ob Pantoffeln über Steinfliesen schlürften. Gleich darauf ertönte unterdrücktes Gelächter.
Shannon schlich auf die Treppe zu. Oben brannte ein verdecktes Licht, und der Schatten eines ungeheuerlichen Kopfes glitt über die Wand hin. Im Nu stand Dick oben – aber es war nichts zu sehen!
»Sonderbar!« murmelte er. »Das würde Tante Gertrud bange machen.«
Steel fing die Worte »Tante Gertrud« auf. Das war das verabredete Stichwort. Vor dem Hause stand ein Polizist, der sofort herbeieilte, als er eine Taschenlampe aufblitzen sah.
»Telephonieren Sie, daß der Chef alle Abteilungsreserven braucht«, befahl Steel. »Und eine Schutzmannskette. Er wird es verstehen, wenn Sie ›Gertrud‹ sagen!« Als er zurückkehrte, fand er Shannon oben in Malpas‘ Zimmer, dessen Samtdraperien bis auf die Fenster und Alkovenvorhänge entfernt worden waren.
»Hier war jemand«, sagte er. »Ich spielte mit dem Polizisten Karten und wollte gerade geben, als wir Schritte hörten. Ich legte die Karten gehäufelt auf den Tisch – und jetzt liegen sie auf dem Boden …« Steel unterbrach sich, denn wieder ertönten die leise raschelnden Schritte, und diesmal wurden sie lauter, bis sie draußen auf dem Vorplatz anhielten. Die angelehnte Tür begann sich ganz langsam zu öffnen. Shannon griff in die Tasche und richtete den Revolver auf die Türritze. Aber es ereignete sich nichts weiter, und als er leise durch das Zimmer schlich und auf den Vorplatz hinaushuschte, war nichts zu sehen.
Der Polizist nahm den Helm ab und wischte sich die Stirne.
»Mit Menschen aus Fleisch und Blut nehme ich es jederzeit auf«, sagte er heiser, »aber das ist doch zu unheimlich!«
»Durchsuchen Sie die Zimmer da oben!« befahl Dick. »Und scheuen Sie sich nicht, Ihren Knüppel anzuwenden.«
Er hörte, wie der Mann langsam und schwerfällig die Treppe hinaufstieg, und als die Schritte verstummten, rief er nach oben, ob alles in Ordnung sei.
Ein dumpfes Geräusch war die Antwort, und im nächsten Augenblick rollte der Helm des Polizisten die Stufen herab und flog Dick vor die Füße. Shannon und Steel stürzten die Stufen hinauf und sahen den Schutzmann mit einer Schlinge um den Hals unter der Decke baumeln und mit den Armen und Beinen strampeln. Er war schon fast erstickt, als Steel den Strick durchschnitt und ihn mit Dicks Hilfe nach unten trug. In Malpas‘ Zimmer legten sie ihn auf dem Teppich nieder und gossen ihm etwas Kognak zwischen die krampfhaft zusammengebissenen Zähne.
»Da kommt der Inspektor!« rief Dick. »Stellen Sie die Türsperre ab und lassen Sie ihn herein.«
Steel tat, wie ihm geheißen war, zog aber die Hand mit einem Schrei zurück. Der lähmende Schlag von zweihundertfünfzig Volt war ihm durch und durch gegangen.
Unten wurde heftig an die Tür geklopft, und plötzlich erlosch das elektrische Licht.
»Stellen Sie sich an die Wand und hüten Sie sich, Ihre Lampe zu benützen«, sagte Shannon leise.
Aber Steel hatte sie schon angedreht. Sofort blitzte es neben ihm auf, und eine Kugel pfiff an seinem Kopf vorüber.
Dick warf sich zu Boden und riß seinen Untergebenen mit sich. Das donnernde Gehämmer gegen die Haustür dröhnte durch das ganze Gebäude. Shannon schob sich vorwärts, indem er in einer Hand seine Lampe, in der anderen den Revolver hielt. Steel folgte seinem Beispiel. Die Dunkelheit im Zimmer war undurchdringlich. Shannon hielt inne, um zu lauschen.
»Er ist in der Ecke neben dem Fenster«, flüsterte er.
»Ich glaube, er steht drüben an der Wand«, erwiderte Steel ebenso leise. »Großer Gott!« Ein unheimlich grüner Lichtkegel blitzte plötzlich auf der getäfelten Wand neben einem Büfett auf, und in diesem Schein sahen sie eine Gestalt liegen. Das Licht wurde immer greller, so daß jede schauerliche Einzelheit sichtbar wurde.
Es war ein Mann im Frackanzug mit einer pulvergeschwärzten Hemdbrust. Das Gesicht war wachsbleich, die Hände waren auf der Brust gekreuzt. Eine Sekunde lang packte selbst Shannon panische Furcht bei diesem grauenerregenden Anblick.
»Es ist ein Toter!« stöhnte Steel. »Großer Gott! Es ist Marshalt! Shannon – sehen Sie doch, Shannon – es ist Marshalts Leiche!«
Die Gestalt lag starr und steif, bis das grüne Licht trüber wurde und erlosch, während ein hohl rollendes Geräusch entstand.
Dick sprang auf und tastete an der Täfelung der Wand herum. Im gleichen Moment ertönten von unten hastige Rufe und Schritte wurden laut.
»Hier herauf! Lampen andrehen, das Licht ist aus!« schrie Dick.
Aber im selben Augenblick flammten wie auf Kommando die Glühbirnen wieder auf.
»Wer hat die Tür geöffnet?« fragte Shannon.
»Wir wissen es nicht. Mit einemmal ging sie auf.«
Shannon ließ sich eine Axt bringen und bearbeitete damit die Wandtäfelung. In wenigen Minuten hatte er sie an der Stelle zerschlagen, wo er Marshalts Leiche hatte liegen sehen. »Ein Speisenaufzug«, sagte er und atmete auf. »Das erklärt alles.«
Aber von der Leiche war nichts zu sehen. Shannon ging durch den Keller und durch die offenstehende Tür nach dem ebenfalls offenen Hoftor.
»Wo ist Ihre Schutzmannskette, Inspektor?« fragte er scharf, als er in die stille Hintergasse hinausblickte.
Die zweite Hälfte der Absperrungsmannschaften schien sich verspätet zu haben, denn sie erschien erst, als Shannon wieder oben in Malpas‘ Zimmer war. Er war der festen Überzeugung, daß es dort eine Treppe geben müsse, die zur Küche hinabführte, und nach längerem Suchen entdeckte er wirklich eine verborgene Drehtür an der Stelle, wo die große Treppe den Vorplatz erreichte.
»Hier ist der Kerl herumgeschlichen«, sagte er befriedigt und stieg ein paar Stufen hinunter, »und von oben hat er dann den Polizisten überfallen. Nun ist er natürlich über alle Berge. Verteufelt, daß die Leute nicht rechtzeitig da waren!«
Er stieg aufs Dach hinauf, wo er zu seiner Verwunderung noch einen von Willitts Posten fand. Erstaunt fragte er ihn, was er noch hier zu suchen hätte.
»Ich führe nur meinen Auftrag aus«, erwiderte der Mann.
»Haben Sie etwas gesehen?«
»Vor kurzem kam jemand auf den Hof heraus. Ich dachte, Sie wären es. Seit einer Stunde hielt auch ein großes Auto vor dem Tor. Der Mann schleppte etwas Schweres hinter sich her. Ich hörte ein Stöhnen, als er es ins Auto hob. Wer es war, konnte ich nicht sehen, nahm aber an, daß es einer von Ihren Leuten wäre.«
Als Shannon wieder nach unten kam, überreichte ihm Steel einen auf dem Hof gefundenen Gegenstand: eine flache Ledertasche mit einigen winzigen Phiolen, einer Spritze und zwei Nadeln. Die Spritze war offenbar rasch weggepackt worden, denn sie war noch bis zur Hälfte mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt, und das Samtfutter der Tasche war durchnäßt.
»Senden Sie den Inhalt der Spritze sofort zum Analysieren ein«, sagte Shannon ernst. »Ich fange allmählich an, klarzusehen.«