2. Kapitel. Das Ende des Herrn Fouquet

Der Oberintendant traf am Abend in Nantes ein, und noch an demselben Abend, gegen zehn Uhr, ließ d’Artagnan sich bei ihm melden. Obwohl Fouquet bei der gegenwärtigen Lage der Dinge in dem Kapitän der königlichen Musketiere seinen schlimmsten Feind hatte erkennen sollen, hatte sich doch zwischen beiden eine Art Freundschaft begründet, die auf gegenseitiger Achtung beruhte. Fouquet hatte in der Tat die Absicht gehabt, nach Belle-Ile zu entfliehen. Er war auf einem jener Fahrzeuge, die auf dem Loire-Flusse der Binnenschiffahrt dienen, nach Nantes gekommen, und auf der ganzen Strecke war ihm ein zweiter solcher Kahn gefolgt, und zwar so hartnäckig, daß man ihn nicht für ein zufällig die gleiche Fahrt machendes Schiff halten konnte. Fouquet, auf diese Begleitschaft aufmerksam gemacht, sich durch ein Fernrohr und erkannte an Bord jener Gabarre Herrn Colbert. Nun war für ihn die Lösung des Rätsels gefunden. Sein Todfeind verfolgte ihn zu Wasser, wie d’Artagnan ihn zu Lande verfolgt haben würde. Das Herz dieses edeln und stolzen Mannes lehnte sich nun dagegen auf, vor einem Colbert zu entfliehen, er ließ den Entschluß, sich nach Belle-Ile einzuschiffen, fallen und blieb in Nantes, um der Stände-Versammlung beizuwohnen und aufs neue den furchtbaren Kampf mit dem Zorne Ludwigs XIV. aufzunehmen.

Als nun d’Artagnan sich bei ihm melden ließ, empfing er ihn, obwohl er von der Reise erschöpft war. – »Monseigneur, ich habe die Ehre, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen?« sprach der Gaskogner höflich. – »Schlecht, schlecht,« antwortete der Minister, »ich trinke nur noch Gerstenwasser mit Süßholz.« – »Sie sollten vor allen Dingen schlafen,« meinte der Chevalier. – »Schlafen? Wo Sie hier sind? Denn Sie kommen doch hier ebenso im Namen des Königs wie in Paris?« – »Lassen Sie doch den König aus dem Spiele, Monseigneur,« erwiderte der Musketier. »Wenn ich im Namen der Majestät komme, werden Sie mich eintreten sehen, mit der Hand am Degen, und ich werde in zeremoniösem Tone rufen: »Im Namen des Königs, Sie sind verhaftet!«

Fouquet fuhr zusammen, so natürlich und erschütternd klangen die Worte des Gaskogners. – »Wir sind noch nicht soweit,« fuhr d’Artagnan fort, »und ich habe auch noch nichts davon reden hören. Der König sollte Sie von Herzen gern haben.« – »Jedenfalls hätte ich Sie gern haben sollen,« entgegnete Fouquet. »Zehn Jahre lang haben wir am Hofe gelebt, ohne uns kennen zu lernen. Ich habe jährlich Millionen ausgegeben, aber Sie haben nichts davon empfangen, und erst jetzt, wo ich vorm Ruin stehe, werde ich auf Sie aufmerksam. Ich hätte mich Ihres Dienstes versichern und Sie reich machen sollen.«

»Sie sprechen von Ihrem Ruin,« antwortete d’Artagnan. »Ich kann nur sagen, der König hat kein böses Wort über Sie gesprochen. Er hat mich nur beauftragt, nach Nantes zu gehen und eine Brigade Musketiere mitzunehmen, was mir überflüssig zu sein scheint, da die Stadt völlig ruhig ist.« – »Eine Brigade?« rief Fouquet. »Also 96 Reiter. Das wird ja wohl genügen, um mich zu verhaften. Und welche Befehle haben Sie in bezug auf meine Person?« – »Gar keine, Monseigneur.« »Herr d’Artagnan, es handelt sich für mich darum,« sprach Fouquet ernst, »Ehre und Leben zu retten. Sie hintergehen mich doch nicht?« – »Keineswegs,« antwortete der Gaskogner, »es gibt da wohl einen allgemeinen Befehl, keinen Wagen und kein Schiff ohne einen vom König unterzeichneten Patz aus Nantes herauszulassen, aber das ist einfache Polizeimaßregel, mit der Sie nichts zu tun haben. Auch tritt dieser Befehl erst in Kraft, sobald der König selbst in Nantes angelangt ist. Sie sehen also –?«

Fouquet dachte nach. D’Artagnan sprach in gleichgültigem Tone weiter: »Sie sehen also, Sie sind ganz Ihr eigener Herr. Ich habe wohl das Schloß hier sorgsam zu bewachen, aber das ist eine Order, die stets erteilt wird. Ich habe auch die Stadttore und den Fluß absperren zu lassen, aber erst wenn der König hier ist. Wenn hier jemand wäre, der das Weite suchen wollte, so könnte er sich keine günstigere Gelegenheit wünschen. Keine Polizei, keine Wache, keine Befehle, freie Land- und Wasserstraßen. Was wollen Sie mehr? Und ich will Ihnen jeden Gefallen tun, Herr Fouquet, den Sie von mir verlangen können, während ich nur einen kleinen Gegendienst beanspruche, nämlich den, einen Gruß an meine Freunde Aramis und Porthos auszurichten, falls Sie nach Belle-Ile fahren sollten, wie Sie zu tun berechtigt sind, ohne noch die Hauskleidung zu wechseln, die Sie anhaben.«

Nach diesen Worten verneigte sich d’Artagnan und ging hinaus. Er war noch auf der Treppe, als Fouquet klingelte und seinem Diener zurief: »Meine Pferde! Mein Schiff!« – Darauf kleidete er sich in aller Eile selbst an und ließ Herrn Gourville, seinen Sekretär, kommen. »Wir reisen auf der Stelle!« befahl er. – »Es ist zu spät,« antwortete Gourville. »Hören Sie?« – Von draußen scholl Trompetenklang und Trommelwirbel. – »Was bedeutet das, Gourville?« – »Der König kommt an.« – »Der König!« – »Er ist im Fluge gereist und hat sein Pferd totgeritten, um acht Stunden eher hier zu sein, als wir gerechnet haben.«

»Dann sind wir verloren!« stöhnte Fouquet. »Wackrer d’Artagnan, dein Rat kommt zu spät.« Und der Minister ließ sich festlich kleiden, um den König willkommen zu heißen.

Ludwig XIV. wurde in großem Pomp zum Schlosse geleitet. Vorm Portal sah man ihn leise mit d’Artagnan sprechen, der ihm den Steigbügel hielt. Dieser trat dann den Weg zu Fouquets Wohnung an, aber er ging so langsam, als wenn er seine Schritte zählen wollte. – »Hm!« brummte d’Artagnan, als er den Minister erblickte, »Sie sind noch hier?« – Fouquet konnte nur mit einem Seufzer antworten. – »Der König ist eben angekommen,« sagte d’Artagnan. – »Ich habe es gesehen, und diesmal kommen Sie wohl in seinem Namen?«

»Um zu fragen, wie Sie sich befinden und zu melden, daß Sie, wenn es Ihre Gesundheit irgend erlaubt, sich alsbald ins Schloß begeben möchten,« antwortete der Kapitän. »Ja, Herr Fouquet, nun ist Majestät da, nun gibt es keine offenen Land- und Wasserstraßen mehr. Die Parole beherrscht jetzt mich wie Sie!«

Fouquet seufzte noch einmal, dann stieg er mit d’Artagnan in die Kutsche und fuhr zum Schloß. Als er ausstieg, trat aus der Menge, die die Freitreppe umringte, um all die vornehmen Herren zu sehen, die zum König befohlen waren, ein Mann hervor und überreichte dem Minister einen Brief. Fouquet las das Schreiben, schien zu erschrecken, steckte das Kuvert in die Tasche und begab sich in die Gemächer des Königs. Man ließ ihn zehn Minuten warten, was allein schon eine empfindliche Kränkung für den Oberintendanten war.

Der Minister las das Briefchen inzwischen noch einmal. – »Es ist etwas gegen Sie im Werke,« hieß es darin, »im Schlosse wird man nichts wagen, aber vielleicht bei Ihrer Rückkehr. Ihr Haus ist schon von Musketieren umstellt. Wenn Sie noch als freier Mann das Schloß verlassen, so kehren Sie gar nicht mehr in Ihre Wohnung zurück, sondern gehen Sie zur Esplanade, wo ein Pferd für Sie bereitsteht.«

Fouquet erkannte die Schrift seines Sekretärs Gourville und dankte ihm im stillen für seinen Eifer. Er zerriß das Papier in kleine Stücke und warf sie von der Terrasse hinab, wo der Wind sie zerstreute. D’Artagnan kam hinzu, als die letzten Fetzen zur Erde flatterten. – »Mein Herr,« sagte der Musketier, »der König erwartet Sie.« –

Der Oberintendant schritt durch den Korridor, wo die Herren von Brienne, von Rose und von Saint-Aignan, auf Befehle des Königs wartend, herumstanden. Es fiel Herrn Fouquet auf, daß sie ihn kaum beachteten; sie grüßten ihn nicht einmal. Er erkannte an dem Benehmen dieser Höflinge die Stimmung, die beim König selbst gegen ihn herrschte. Aber er richtete den Kopf stolz empor und trat mit ruhiger Entschlossenheit vor Ludwig XIV., der am Schreibtische saß und, ohne aufzublicken, nach Herrn Fouquets Befinden fragte.

»Ich habe Fieber,« antwortete der Minister, »aber ich stehe Eurer Majestät zu Dienst.« – »Die Stände versammeln sich morgen,« sprach Ludwig. »Haben Sie eine Ansprache vorbereitet?« – »Nein, doch kann ich aus dem Stegreif reden, denn ich kenne die Staatsgeschäfte so gut, daß ich nicht in Verlegenheit kommen kann. Aber warum haben Majestät Ihrem ersten Minister das nicht in Paris gesagt?« – »Sie sind krank, ich will Sie nicht mehr anstrengen.« – »Mich strengt keine Arbeit an,« erwiderte Fouquet. »Und da hiermit der Augenblick gekommen ist, Eure Majestät um eine Erklärung zu bitten –« – »Um was für eine Erklärung, Herr Fouquet?« – »Ueber die Gesinnung Eurer Majestät gegen meine Person. Sire, ich bin verleumdet worden und muß Sie bitten, eine gerichtliche Untersuchung gegen mich in die Wege zu leiten. Ich selbst werde dabei als Kläger gegen einen Mann auftreten, der mich bei Eurer Majestät immer wieder in Mißkredit bringt.« – »Herr Fouquet, ich habe das Anklagen nicht gern.« – »Doch wenn man beschuldigt wird, Sire, soll man sich da nicht rechtfertigen dürfen?« – »Ich erkläre Ihnen, ich beschuldige Sie nicht.«

Fouquet trat zurück. – »Er hat seinen Entschluß gefaßt,« dachte er. »So halsstarrig ist nur jemand, der nicht mehr zurück will. In diesem Augenblick die Gefahr nicht sehen, hieße blind sein, und nur ein Tor würde wehrlos abwarten.« – Und laut fragte er: »Haben Majestät mich zu einer Arbeit befohlen?« – »Nein, Herr Fouquet, ich habe Ihnen nur den einen Rat zu erteilen, ruhen Sie sich aus. Die Ständeversammlung wird bald vorüber sein, und dann gedenke ich Ihnen volle Ruhe zu vergönnen.« – »Haben Sie mir in betreff dieser Ständeversammlung irgend etwas zu sagen?« – »Nein, Herr Fouquet.« – »Mir, dem Finanzminister, gar nichts?« – »Ruhen Sie aus, das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie sind krank, Sie müssen sich pflegen.«

»Sire, dann darf ich vielleicht auch darum bitten, der Ständeversammlung fernbleiben zu dürfen, da Eure Majestät so sehr besorgt um meine Gesundheit sind?« antwortete er. »Ich werde den morgigen Tag im Bett zubringen und mir etwas gegen mein Fieber verschreiben lassen.« – »Ich gestatte Ihnen das gern, Herr Fouquet. Sie haben Urlaub, und ich werde Ihnen meinen Leibarzt schicken.« – »Ich danke,« antwortete Fouquet mit einer tiefen Verbeugung. »Und da Majestät in Nantes sind, so werden Sie mir vielleicht das Glück gewähren, nun von Belle-Ile Besitz zu ergreifen, das Sie von mir anzunehmen geruht haben?« – Er sah bei diesen Worten dem König fest ins Gesicht. Ludwig errötete und antwortete: »O, ich habe nicht etwa deswegen meine Musketiere mitgebracht.«

»Sire,« erwiderte der Minister lächelnd, »das kann ich mir denken. Brauchen doch Majestät auch nur mit einem Spazierstock in der Hand Belle-Ile zu betreten, um alle Befestigungen fallen zu machen.« – »Pst!« rief Ludwig. »Diese schönen Festungswerke sollen ja gar nicht fallen; sie können mir noch gute Dienste gegen England und Holland leisten. Nun ja, ich werde nach Belle-Ile fahren. Haben Sie Fahrgelegenheiten in Bereitschaft?« – Fouquet durchschaute diesen Schachzug, der ja eigentlich auch eine ziemlich plumpe Finte war. – »Nein, Sire,« antwortete er, »ich wußte ja nicht, daß Majestät so sehr schnell hierher kommen würden. Es ist für nichts gesorgt. Ich habe fünf Schiffe, aber sie liegen alle hier und dort im Hafen, und bis man sie hier haben kann, vergehen mindestens 24 Stunden. Soll ich durch einen Kurier eins herbestellen?«

»Warten Sie bis morgen,« versetzte der König. »Lassen Sie erst das Fieber vorübergehen.« – »Es ist wahr,« sagte Fouquet, der nunmehr des Königs Absicht klar durchschaute. »Wer weiß, ob wir nicht bis morgen tausend andere Ideen haben?«

»Herr Fouquet, Sie sind ernstlich krank,« sprach der König. »Ihre Zähne klappern vor Fieber. Gehen Sie! Es soll Sie jemand in Ihre Wohnung begleiten.« – »Majestät sind sehr gütig,« antwortete Fouquet. »Ich würde mich jetzt allerdings gern eines Armes bedienen.«

»Herr d’Artagnan!« rief Ludwig XIV. – »O, Sire,« unterbrach Fouquet ihn mit traurigem Lächeln, »der Kapitän der Musketiere soll mich in meine Wohnung bringen? Eine zweideutige Ehre! Man wird überall sagen, Sie hätten mich verhaften lassen.« – »Verhaften?« rief Ludwig und erblaßte. Als d’Artagnan eintrat, gab er ihm nun den Befehl, Herrn Fouquet einen seiner Musketiere zum Begleiter zu überlassen. – »Es ist nicht nötig,« sprach der Minister, »mein Sekretär Gourville genügt mir.« – Er verbeugte sich und ging langsam hinaus, wie jemand, der einen Spaziergang antritt. – »Ich bin gerettet!« dachte er, als er unangefochten aus dem Schlosse gelangte. »Ja, treuloser König, du sollst Belle-IIe sehen, aber erst, wenn ich nicht mehr dort bin!«

D’Artagnan war beim König geblieben. – »Folgen Sie Herrn Fouquet auf hundert Schritt,« rief Ludwig ihm zu. »Wenn er in seine Wohnung zurückgekehrt ist, so verhaften Sie ihn in meinem Namen, stecken ihn in eine Kutsche und sorgen dafür, daß er unterwegs mit niemand reden, noch auch Zettelchen hinauswerfen kann.« – »Das ist sehr schwer, Sire,« entgegnete der Musketier. »Herr Fouquet muß Luft haben, ich kann also weder das Fenster immer geschlossen halten, noch ihm einen Mantel übers Gesicht ziehen.« – »Sie nehmen eine vergitterte Kutsche,« antwortete der König. – »Sehr wohl, aber die hat man nicht im Handumdrehen.«

»Sie ist schon fertig und steht bespannt unten,« sprach der König. – D’Artagnan zog die Brauen hoch, verbeugte sich und antwortete: »Das ist etwas anderes, Sire. Und wohin ist Herr Fouquet zu schaffen?« – »Zunächst nach Schloß Angers,« antwortete der König. »Das Weitere findet sich.« – »Ich bitte um den schriftlichen Befehl,« sagte der Musketier. – »Auch er liegt schon fertig hier,« sprach Ludwig XIV. und reichte dem Kapitän die Urkunde.

D’Artagnan ging hinaus. Von der Terrasse herab sah er Herrn Gourville, der über den Hof schritt und eine weit heitre Miene zur Schau trug, als die Umstände es eigentlich zu erlauben schienen. Das fiel dem scharfsinnigen Gaskogner sofort auf. Er erinnerte sich des Briefes, den man dem Oberintendanten in die Hand gedrückt; er erinnerte sich, daß Fouquet ihn zerrissen. Und er ging in den Hof hinab und hob aufs Geratewohl eins von den Papierstückchen auf. Er las darauf das eine Wort: »Pferd«, schob den Hut ein wenig von der Stirn und stieg gedankenvoll die große Freitreppe hinab. Da flog sein Blick über die Ebene, die man von dem hochgelegenen Schloß weithin überschauen konnte, und er sah auf der Heerstraße, die sich wie ein weißes Band durch die Felder hinzog, einen Punkt, der sich rasch entfernte. Sein scharfes Auge erkannte ein Pferd und einen Reiter im Sattel. Seine raschen Gedanken verknüpften diese Erscheinung sofort mit dem heitern Gesicht Gourvilles und mit dem Worte »Pferd« und den Papierstückchen. – »Das ist Fouquet – und er entflieht mir,« sprach er vor sich hin, und mit gewaltigen Sätzen kehrte er in den Schloßhof zurück, riß ein Pferd aus dem Stalle, befahl, die vergitterte Kutsche in ein Wäldchen außerhalb der Stadt zu bringen, und verließ das Palais durch das Ausfahrttor. Dann sprengte er auf der Landstraße dahin; aber er nahm nicht denselben Weg, den Herr Fouquet genommen, sondern folgte nach wenigen Minuten schon dem Ufer der Loire, wodurch er etwa zehn Minuten an Zeit zu gewinnen hoffte. Da Fouquet auf der allerdings etwas ebeneren Landstraße zuletzt auch zum Flusse gelangen mußte, so glaubte d’Artagnan, er würde ihn dort einholen. Er rechnete auch damit, daß Herr Fouquet, wenn er sich nicht verfolgt sah, dem Pferde etwas Ruhe gönnen würde.

Der Kapitän ritt lange Zeit am Ufer hin, ohne den Flüchtling sehen zu können. Er hatte den Wind im Gesicht, und seine Augen tränten. Er galoppierte so scharf, daß der Sattel unter ihm zu glühen schien. Er drückte dem Tiere so oft und so wütend die Sporen in den Leib, daß es vor Schmerz laut wieherte. Hinter den Hufen prasselte ein Regen von Sand und Steinen auf. Aber immer wieder, wenn d’Artagnan sich im Steigbügel aufrichtete, sah er noch nichts als Baumwipfel und Luft. Wie rasend jagte er weiter.

»Ich! Ich!« stieß er keuchend zwischen den Zähnen hervor, »ich soll von einem Gourville übertölpelt worden sein! Man wird sagen, ich sei altersschwach geworden, und der König wird denken, ich hätte mir von Fouquet eine Million zahlen lassen und ihm dafür zur Flucht verhelfen.« – Und wieder bohrte er die Sporen in die Weichen des Pferdes, das mit gewaltigen Sprüngen vorwärtsschoß.

Da sah er vor sich zwischen den Bäumen etwas Weißes: Fouquets Schimmel! – D’Artagnan atmete auf. Wenn er ihn sah, so war er auch sein, so sollte er ihm auch nicht mehr entkommen. Er ließ das Tier ein wenig langsamer laufen, damit es erst einmal wieder zu Atem kam, und folgte dem Schimmel. Fouquet hatte sein Pferd noch nicht übermäßig angestrengt, da er bisher auf der glatten Heerstraße geritten war. D’Artagnan lenkte jetzt auch schnurgerade auf die Straße zu, auf welcher nun die eigentliche Jagd erst beginnen sollte.

Der harte Boden erdröhnte unter den Hufschlägen, und Fouquet sah sich um. Hundert Schritte hinter sich erblickte er seinen Feind, der sich tief auf den Hals seines Renners beugte. Der Minister zog den Zügel straff und schoß im Nu seinem Verfolger um weitere hundert Schritt voraus. Daran erkannte nun d’Artagnan, wie schwierig es sein würde, ihn einzuholen. Ein noch kräftiges Pferd und ein abgehetztes, das nach wenigen Schritten vielleicht zusammenbrach. Und in der Tat vermochte er dem Minister nicht um eines Fußes Breite näherzukommen, so wild er sein Tier auch antrieb. »Mag es krepieren,« knirschte er, »aber kriegen muß ich ihn!«

Er fing an, das Maul des armen Tieres mit der Kandare zu zerreißen, während er mit den Sporen in der blutigen Haut wühlte. Nun näherte sich das todesmatte Pferd dem andern auf Pistolenschußweite. – »Halten Sie an!« schrie d’Artagnan, »Sie sind verhaftet im Namen des Königs!« – »Dazu müssen Sie mich erst haben,« antwortete Fouquet lakonisch und jagte weiter. – »Halten Sie an!« schrie d’Artagnan abermals, »oder ich schieße!« – »So schießen Sie!« rief Fouquet zurück. – »Soll ich Sie meuchlings morden, zum Teufel?« brüllte der Musketier. »Soll ich Sie hinterrücks niederknallen? Ergeben Sie sich!« – »Lieber sterbe ich,« versetzte Fouquet.

»Nein,« keuchte d’Artagnan, »ich bin kein Meuchelmörder!« und schleuderte die Pistole von sich. Mit einem gewaltigen Ruck trieb er sein Pferd bis auf zehn Schritte an den Flüchtling heran, aber es schwankte alsbald wieder, und Fouquet gewann einen neuen Vorsprung. Der Musketier schien sein Pferd fast zwischen den Knien zu tragen, aber er sah, daß er unterliegen müsse. Da riß er die zweite Pistole aus dem Halfter, zielte und schoß. Das Pferd Fouquets, ins Kreuz getroffen, stürzte mit wildem Gebrüll weiter. D’Artagnans Pferd sank im selben Augenblick tot zu Boden.

»Ich bin entehrt!« schrie d’Artagnan. »Herr Fouquet, Sie haben auch Pistolen, steigen Sie ab und schießen Sie sich mit mir!« – Herr Fouquet antwortete nicht und sprengte weiter. – Nun fing d’Artagnan an, hinter seinem Feinde herzulaufen, er warf Hut, Rock und Wehrgehenk von sich, um nicht behindert zu sein. Der Schimmel röchelte und rannte nur noch in einzelnen Sätzen weiter; der Musketier kam ihm näher. Nun ging das Pferd nur noch im Schritt, eine Blutspur hinter sich lassend. D’Artagnan, dem die Brust zu springen drohte, lief mit seiner letzten Kraft, packte Fouquet am Bein und schrie: »Ich verhafte Sie im Namen des Königs! Zerschmettern Sie mir den Schädel, wir haben beide unsere Pflicht getan.«

Allerdings hätte wohl in diesem Augenblick der noch nicht entkräftete Fouquet den halb ohnmächtigen Kapitän niederschlagen können; doch nein! Er sprang aus dem Sattel, ließ das Pferd weiterwanken, das nach wenigen Schritten röchelnd zusammenbrach, und erfaßte d’Artagnans Arm. »Ich bin Ihr Gefangener,« sagte er. »Gestatten Sie, daß ich Sie stütze, Sie fallen um.« – »Dank!« stöhnte der Musketier, dem wirklich der Boden unter den Füßen zu schwinden schien. Der Minister brachte ihn zu einer nahen Böschung, dort sank d’Artagnan zu Boden. Der andere schöpfte aus dem Graben ein wenig Wasser in seinem Hute und besprengte die Schläfen des Kapitäns.

D’Artagnan kam zu sich; er sah Fouquet vor sich knien. – »Was?« knurrte er. »Sie sind nicht entflohen? Sie haben sich meine Schwäche nicht zunutze gemacht? O, Herr Fouquet, der wahre König, wenn man nach dem Edelsinn urteilt, ist nicht Ludwig im Louvre, nicht Philipp auf der Margareteninsel, sondern Sie, der Verdammte!« – »Wir müssen zu Fuß nach Nantes zurück,« antwortete der Ober-Intendant mit melancholischem Lächeln, »unsere Pferde sind beide tot.« – »Den Teufel auch!« seufzte d’Artagnan, »das ist ein elender Tag!« – Sie gingen langsam, Arm in Arm, bis sie ein Gehölz erreichten. – »Ich habe einen Wagen hier für Sie,« sagte der Kapitän, die Augen niederschlagend. »Der König schickt ihn.«

Als der Minister den vergitterten Kasten sah, rief er aus: »Das ist ein Gedanke, der von keinem Biedermanne ausgegangen ist. So etwas hätte ich dem König denn doch nicht zugetraut. Und wozu dieses Gitter?« – »Damit Sie keine Briefchen hinauswerfen können,« antwortete d’Artagnan, in einem Tone, als schäme er sich seines Königs. – »Sehr sinnreich!« antwortete der Oberintendant. »Und wohin bringen Sie mich?« – »Nach Schloß Angers,« antwortete der Kapitän traurig.

*

Es war zwei Uhr nachmittags. Ludwig XIV. wartete ungeduldig auf d’Artagnans Rückkehr. Seine Höflinge hatten unter dieser Stimmung viel zu leiden. – »Ist Herr d’Artagnan noch nicht zurück?« fuhr er Herrn Colbert an. »Sie besonders sollten wissen, wo er so lange bleibt?« – »Majestät haben mir nicht gesagt, wohin Sie ihn schicken,« antwortete Colbert. – »Herr,« versetzte Ludwig, »es gibt Dinge, die einem niemand zu sagen braucht. Man muß sie erraten. Sie besonders.« – Er hatte diese Worte kaum gesprochen, als im Vorzimmer die heisere Stimme des Kapitäns erklang. Blaß und erregt trat er herein.

»Majestät,« sprach er, »haben Sie meinen Musketieren Befehle erteilt?« – »Ich? Nicht einen,« antwortete Ludwig. – »Dann ist es also dieser Herr dort,« sagte der Musketier, auf Herrn Colbert zeigend, »auf dessen Geheiß das ganze Haus Fouquets umgedreht, seine Dienerschaft mißhandelt, seine friedliche Wohnung verwüstet wird! Alle Wetter! das ist ein schändlicher Befehl!« – »Mein Herr!« unterbrach ihn Colbert. – »Mein Herr«! rief d’Artagnan. »Der König allein hat meinen Musketieren zu befehlen, verstehen Sie! Ich verbiete es Ihnen, und in Gegenwart des Königs lassen Sie es sich gesagt sein: Edelleute, die den Degen tragen, sind keine Federfuchser.«

»D’Artagnan! D’Artagnan!« murmelte der König.

»Das ist erniedrigend, Sire!« rief der Kapitän. »Meine Soldaten sind entehrt. Ich kommandiere nicht über Zahlenschinder und Intendanzsekretäre! Meine Musketiere haben seit heute morgen das Haus des Herrn Fouquet umstellt, und nachdem nun dieser Herr für seinen Vorgesetzten von gestern einen eisernen Käfig hat machen lassen, hat er auch noch seinen Schergen die Weisung erteilt, die Papiere des Oberintendanten in Beschlag zu nehmen. Warum zwang man meine Musketiere, an dieser Plünderung teilzunehmen und zu Mitschuldigen an dieser Gemeinheit zu werden? Den Teufel auch, wir dienen dem König, nicht aber Herrn Colbert!«

»Ich habe im Interesse meines Königs gehandelt,« sprach Colbert mit bewegter Stimme. »Es tut mir weh, von einem Offizier des Königs so behandelt zu werden, obendrein an einem Orte, wo die Ehrfurcht vor dem König mir verbietet, mich zu rächen.« – »Die Ehrfurcht vor dem König,« rief d’Artagnan mit flammenden Augen, »betätigt man zuvörderst darin, daß man seine Autorität achtet und seine Person liebt. Jeder, der von ihm mit einer Machtbefugnis belehnt wird und diese Befugnis mißbraucht, stellt den König bloß und trägt dazu bei, daß die Völker die Hand verfluchen, die sie segnen sollen. Muß Ihnen ein Soldat, dessen Herz in vierzigjährigen Ungewittern hart geworden ist, diese Lehre erteilen? Muß das Erbarmen von mir, die Wildheit von Ihnen ausgehen? Sie haben die Freunde des Herrn Fouquet verhaften lassen – Sie haben sich an Unschuldigen vergriffen.«

»Ich bin nur gegen die Mitschuldigen des Herrn Fouquet vorgegangen,« versetzte der Intendant. – »Wer sagt Ihnen, Herr Fouquet habe Mitschuldige? Wer sagt Ihnen, er sei selbst schuldig?« rief d’Artagnan. »Das weiß der König allein: seine Gerechtigkeit ist nicht blind. Sie greifen dieser Gerechtigkeit vor, und das nennen Sie Ehrfurcht vor Ihrem König?« Er kehrte dem Intendanten den Rücken und trat ins Vorzimmer. Aber Ludwig XIV., der noch nicht recht wußte, welche Partei er ergreifen sollte, und dem gleichwohl diese Zurechtweisung Colberts nicht unlieb war, rief ihn zurück. »Entledigen Sie sich zuvörderst Ihres Auftrages, Kapitän,« sprach er, »ehe Sie gehen, sich auszuruhen.« Gleichzeitig gab er Colbert einen Wink, auf einige Augenblicke ins Vorzimmer zu treten, und der gedemütigte Intendant schritt mit finsterm Gesicht, zu Tode beleidigt, an der stolz emporgerichteten Gestalt des Musketiers vorbei.

»Sire,« sprach d’Artagnan ruhig, »Sie sind ein junger König. An der Morgenröte erkennt der Mensch, ob der Tag schön oder unangenehm werde. Wie sollen aber die Völker, über die Gott Sie gesetzt hat, Ihre Regierung beurteilen, wenn Sie zwischen sich und Ihrem Minister Haß und Gewalttat herrschen lassen? Doch genug von Vorstellungen, die nutzlos sind, die Ihnen vielleicht ungebührlich erscheinen. Ich habe Herrn Fouquet verhaftet.« – »Ich finde, Sie haben sehr viel Zeit dazu gebraucht.« – D’Artagnan sah den König finster an und antwortete: »Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Ich hätte vielmehr sagen sollen: ich bin von Herrn Fouquet gefangengenommen worden.« – Ludwig sah erstaunt auf, aber d’Artagnan ließ ihm keine Zeit zu fragen. Er erzählte ihm mit malerischer Offenherzigkeit das Abenteuer mit dem Ober-Intendanten. Ludwig fühlte sich gedemütigt durch den Edelsinn dieses Verfolgten, der zehnmal hätte entfliehen können und dennoch das Gefängnis vorzog, weil er genau wußte, daß er mit diesem Opfer seinem königlichen Feinde ein gut Teil seines Ruhmes entzog.

»Daraus geht, für mich wenigstens, hervor, ein solcher Mann kann nicht der Feind des Königs sein. Das erkläre ich freimütig. Majestät. Ich weiß, was Sie mir antworten werden, und verneige mich ehrerbietig: Staatsgründe! Wohl, diese sind sehr beachtenswert. Und deshalb habe ich auch den mir erteilten Befehl vollzogen, obgleich ich tausendmal lieber Herrn Fouquet zur Freiheit verholfen hätte.«

»Wo ist er in diesem Augenblick?« – »Auf der Straße nach Angers – in seinem vergitterten Wagen.«

»Warum haben Sie ihn auf der Straße verlassen?«

»Weil Majestät mir nicht befohlen haben, nach Angers zu gehen. Der beste Beweis dafür, daß ich hier gebraucht werde, liegt ja wohl auch darin, daß Sie mich eben suchen ließen. Und dann hatte ich noch einen andern Grund. Ich habe nämlich Herrn Fouquet in der Obhut eines meiner Musketiere zurückgelassen, weil er gewiß keinen Fluchtversuch machen würde, wenn ich bei ihm geblieben wäre. Und es ist mein lebhafter Wunsch, er möchte die Gelegenheit benützen.«

»Sind Sie verrückt, Herr d’Artagnan?« rief Ludwig XIV., die Arme über der Brust kreuzend. »Selbst wenn man das Unglück hat, solche Ueberspanntheiten zu denken, man spricht sie doch nicht aus.« – »Frei und offen, Sire! Denken Sie etwa, ich sei nach allem, was Herr Fouquet für mich und für Sie getan hat, sein Feind? Nein, Sire, geben Sie ihn nie in meine Obhut, wenn Sie wollen, daß er hinter Schloß und Riegel bleibe! So gut versichert der Käfig auch sei, der Vogel würde schließlich doch ausfliegen.«

»Ich bin erstaunt,« sprach der König finster, »daß Sie sich nicht dem Dienste dessen gewidmet haben, den Herr Fouquet auf meinen Thron setzen wollte. Dort würden Sie finden, was Sie suchen: Zuneigung und Erkenntlichkeit. In meinem Dienst, Herr, findet man nur einen Gebieter.« – »Hätte Herr Fouquet Sie nicht aus der Bastille geholt,« antwortete d’Artagnan fest, »so wäre nur ein einziger Mann hingegangen, Sie zu befreien, nämlich ich. Das wissen Sie recht gut, Sire.«

Der König hielt inne. Gegen diese freimütige, wahre Sprache seines Kapitäns ließ sich nichts einwenden. Er erinnerte sich jenes Abends, wo dieser selbe d’Artagnan sich hinter den Vorhängen seines Bettes versteckt hielt, als das Volk von Paris unter der Führung des Kardinals von Retz sich davon überzeugen wollte, ob der König sich im Palais Royal befände; er erinnerte sich jenes Tages, an dem er diesem selben d’Artagnan mit der Hand zuwinkte, als er bei seiner Rückkehr nach Paris in die Notre-Dame-Kirche fuhr. Er erinnerte sich jenes Tages, wo der Wackere ihm in Blois den Dienst aufkündigte, und der Zeit, da Mazarin starb und er ihn wieder zu sich rief. Und er fand, daß dieser Mann stets bieder, tapfer und treu gewesen sei.

Ludwig XIV. ging zur Tür und rief Herrn Colbert herein. – »Sie haben bei Herrn Fouquet Haussuchung halten lassen?« redete er ihn an. »Was ist dabei herausgekommen?« – »Die Papiere sind mir überbracht worden,« antwortete Colbert. – »Ich will sie sehen. Geben Sie mir Ihre Hand!« sprach der König. – »Meine Hand, Majestät?« – »Ja, daß ich sie in die des Herrn d’Artagnan lege. Sie kennen diesen Mann hier nicht, Herr Kapitän,« wandte er sich an den Gaskogner. »Lernen Sie ihn schätzen.« – »Majestät!« stammelte Colbert. Und er sah d’Artagnan an, mit einem Gesicht, das völlig verschieden von dem war, welches man bisher an ihm gesehen; er sah freundlich, heiter, strahlend drein, seine Augen unter den dichten Brauen nahmen einen edlen, lichtvollen Ausdruck an. Colbert wußte, daß er von diesem Moment an keinen Fouquet mehr über sich hatte, und aus dem Intrigant wurde der weitsichtige, das Wohl des Volkes fördernde Staatsmann, der sein eigenes System zum Siege über ein anderes, von ihm verworfenes, geführt hatte.

»Majestät hat mit diesen Worten bewiesen, welch feiner Menschenkenner Sie sind,« sprach er. »Die schroffe Opposition,« setzte er hinzu, sich an d’Artagnan wendend, »die ich bisher gegen gewisse Mißbräuche und infolgedessen auch gegen gewisse Persönlichkeiten durchgeführt habe, beweist nichts weiter, als daß es mein Streben ist, meinem König ein großes Reich zu schaffen, meinem Lande eine große Wohltat zu bereiten. O, Herr d’Artagnan, ich habe sehr viele Pläne und Ideen. Sie werden die Sonne finanzieller Wohlfahrt aufgehen sehen, und ich hoffe, wenn auch nicht die Freundschaft, so doch die Achtung meiner Gegner zu erringen.«

Der Musketier verneigte sich höflich vor Colbert. Der König entließ sie, als er sie versöhnt sah, und sie gingen zusammen fort. – »Herr d’Artagnan,« sprach Colbert draußen, »Sie irren, wenn Sie meinen, ich verfolge Herrn Fouquet. Ich wollte ihm nur die Finanzen entreißen, das ist alles. Und das ist nun gelungen. Nun soll es anders werden in Frankreich. Alles Gold des Landes wird unter meiner Verwaltung sein, und es soll sich vervielfältigen, statt zu zerrinnen. In meinem Besitz wird auch nach dreißig Jahren noch nicht ein Pfennig sein, dafür aber wird es neue Gebäude, neue Häfen, ja neue Städte geben. Ich werde eine Seemacht gründen und Handelsschiffe schaffen, die Frankreichs Namen nach den fernsten Erdteilen tragen sollen: ich will Bibliotheken und Akademien gründen, die Frankreich zur größten geistigen Macht der Welt erheben sollen. Sehen Sie, das sind die Gründe, weshalb ich so gegen Herrn Fouquet gekämpft habe. Und wenn Frankreich groß und stark ist, dann werde ich zu ihm gehen und sprechen: Verzeihen Sie mir!«

Der König rief d’Artagnan zurück und befahl ihm, zwanzig Musketiere nach Angers zu schicken, welche Herrn Fouquet nach Paris und in die Bastille transportieren sollten. – D’Artagnan wollte schon fragen, ob der König ihm mißtraue, weil er nicht ihm den Befehl erteilte, da setzte Ludwig hinzu: »Und Sie, Herr Kapitän, nehmen auf der Stelle Besitz von Belle-Ile. Setzen Sie sofort mit zahlreicher Mannschaft in See! Ich selbst mag die Insel nicht sehen. Sie haben mir nur die Schlüssel der Festung zu bringen. Und wenn Sie diesen Auftrag gut ausführen, so wird Ihnen der Marschallstab zuteil werden.«

»Weshalb sagen Sie: wenn ich ihn gut ausführe?« fragte d’Artagnan. – »Weil es sehr schwierig ist.« – »Inwiefern, Majestät?« – »Sie haben Freunde auf Belle-Ile, und für Männer wie Sie ist es keine Kleinigkeit, über den Leichnam eines Freundes zu schreiten.« – D’Artagnan antwortete nicht; er verneigte sich und ging hinaus. Eine Viertelstunde später brachte Colbert ihm den schriftlichen Befehl, Belle-Ile zu erobern, im Falle des Widerstandes in die Luft zu sprengen und keinen einzigen der Besatzung – das war besonders hervorgehoben – entschlüpfen zu lassen.

»Ein Marschallstab gegen das Leben zweier Freunde!« murmelte der Gaskogner. »Ei, meine Freunde sind nicht so dumm wie Gimpel und werden nicht auf die Leimrute des Vogelstellers warten. Ich will ihnen Zeit lassen davonzufliegen. Armer Porthos, armer Aramis! nein! mein Glück soll euch keine Feder aus den Flügeln kosten.« – Darauf rief d’Artagnan die königliche Armee zusammen und ging in Paimboeuf zu Schiffe. Ohne Zeitverlust wurden die Segel gehißt, und man nahm Kurs auf Belle-Ile.

7. Kapitel. Philipp von Frankreich

Inzwischen hatte der falsche König in Vaux seine Rolle weitergespielt. Er gab Befehl, zu dem Morgenempfange die Herrschaften hereinzulassen, die im Vorzimmer warteten. Er entschloß sich, diesen Befehl zu erteilen, obwohl d’Herblay nicht da war. Da der Prinz nichts davon wußte, daß d’Herblay überhaupt nicht wiederkommen würde, so wollte er ohne seinen Schutz und Rat kühn den Anfang machen. Er ließ daher die Türflügel öffnen, und mehrere Personen traten ein. Er hatte ja seit einigen Tagen das Benehmen seines Bruders sorgfältig studiert und ahmte nun den König so trefflich nach, daß niemand Verdacht schöpfen konnte. Nun sah er Anna von Oesterreich, seine Mutter, zugleich mit Monsieur und Madame, näherkommen. Hinter ihnen zeigte sich Saint-Aignan.

Philipp betrachtete seine Mutter. Er fand sie schön und glaubte in den Furchen ihres Antlitzes noch jetzt Spuren des Schmerzes zu entdecken, den ihr das Opfer eines Sohnes bereitet hatte. Er gelobte sich, sie zu lieben und seine Qualen nicht entgelten zu lassen. Mit Rührung musterte er seinen Bruder. Von ihm hatte er ja nichts zu fürchten. Man konnte ihn als Nebenzweig am Stamme wachsen lassen; denn ihm war es genug, Geld zu haben und dem Vergnügen zu leben; er kannte keine ehrgeizigen Pläne.

Mit leichtem Beben reichte er Lady Henriette die Hand. Ihre Schönheit entzückte ihn, aber in dem kalten Blick ihrer Augen las er etwas, das ihn warnte, vor ihr auf der Hut zu sein. – Er fürchtete, die Königin würde kommen, doch ließ sie sich glücklicherweise entschuldigen.

Anna von Oesterreich begann zu sprechen. Sie ließ sich über den Empfang aus, den Herr Fouquet dem Hause Frankreich bereitet hätte, ohne dabei aus ihrer Feindseligkeit gegen ihn ein Hehl zu machen. Dann erkundigte sie sich unter allerlei kleinen mütterlichen Schmeicheleien nach dem Befinden des Königs. Zum Schlusse fragte sie, ob er sich noch weiter mit jenen Rechnungen und Quittungen Mazarins befaßt habe.

»Saint-Aignan,« sprach Philipp, »erkundigen Sie sich nach dem Befinden der Königin.« Es waren seine ersten Worte, und das Ohr der Mutter hörte der Stimme eine leichte Verschiedenheit gegen die Stimme ihres andern Sohnes an. Sie faßte Philipp scharf und fest ins Auge. Er hielt dem Blicke stand und fuhr fort: »Hoheit, ich höre nicht gern Schlechtes über Herrn Fouquet. Sie wissen das recht wohl.« – »Ich habe ja auch nur gefragt, wie Sie über ihn denken,« antwortete Anna.

»Sire,« ließ sich Henriette vernehmen, »ich habe Herrn Fouquet immer gern gehabt. Er ist ein wackerer Mann und hat auch einen sehr guten Geschmack.« – »Ich habe auch gar nichts gegen ihn,« setzte Monsieur hinzu. »Er ist kein Geizhals. Alle Anweisungen werden bar ausgezahlt, und man bekommt von ihm soviel Geld, wie man haben will.« – »Es rechnet eben hier jeder zuviel für sich,« warf die alte Königin ein, »niemand denkt dabei an den Staat. Und Herr Fouquet, das wird niemand leugnen, richtet den Staat zugrunde.« – »O, Mutter!« rief Philipp dazwischen, »legen auch Sie eine Lanze für Herrn Colbert ein? Es ist ja, als hörte man Ihre alte Freundin, die Frau von Chevreuse, reden.«

Anna von Oesterreich erblaßte und biß sich auf die Lippe. »Was sagen Sie da von Frau von Chevreuse?« versetzte sie. »Und wie sind Sie nur heute gegen mich gelaunt?« – »Frau von Chevreuse hatte immer gegen irgendwen zu intrigieren, Mutter,« erwiderte Philipp. »Und hat Sie Ihnen nicht letztens einen Besuch gemacht?« – »Sie sprechen zu mir in einer Weise, daß ich Ihren Vater zu hören glaube,« sagte Anna gekränkt. – »Mein Vater haßte Frau von Chevreuse, und mit Recht,« antwortete Philipp. »Ich kann sie auch nicht leiden, und sollte sie sich sehen lassen, um, wie ehemals, Zwietracht zu säen, unter dem Vorwande, Geld zu erbetteln, so würde ich –« – »Nun, was denn?« fuhr Anna von Oesterreich stolz auf. – »So würde ich sie aus dem Lande jagen, und mit ihr alle Geheimniskrämerei!«

Er hatte die Tragweite dieses furchtbaren Wortes nicht ermessen oder wollte vielleicht dessen Wirkung prüfen. Anna von Oesterreich schien einer Ohnmacht nahe; sie starrte ihn fassungslos an und streckte die Arme aus, als suche sie einen Halt. Ihr Sohn eilte zu ihr und drückte sie an die Brust.– »O, wie grausam Sie heute gegen mich sind!« stammelte sie. – »Ich spreche ja nur von Frau von Chevreuse, weil ich weiß, daß Sie Geldes wegen zu Ihnen gekommen ist und Ihnen ein gewisses Geheimnis verkaufen wollte.« – »Ein gewisses Geheimnis –?« stieß Anna hervor, von neuem schreckensbleich.

»Ja, ein Geheimnis, das Herrn Fouquet betrifft,« fuhr Philipp fort. »Es soll sich dabei um eine Unterschlagung handeln, aber das ist alles falsch. Frau von Chevreuse kam erst zu Herrn Fouquet selbst und ging dann zu Herrn Colbert. Nicht zufrieden damit, daß sie von ihm für das angebliche Geheimnis 200 000 Livres erhalten, ging sie noch zu Ihnen und versuchte auch an dieser Stelle etwas zu erpressen. Ich habe also wohl recht, wenn ich dieser Furie zürne. Wenn Gott gewisse Verbrechen begehen ließ, welche bis jetzt unbestraft blieben, und wenn Gott sie in den Schatten seiner Nachsicht hüllte, so werde ich es nicht dulden, daß Frau von Chevreuse sich anmaßt, die Absichten Gottes zu durchkreuzen.«

Die letzten Worte erschütterten die Königin-Mutter tief. Ihr Sohn fühlte Mitleid mit ihr und küßte ihre Hand; doch sie ahnte nicht, daß er ihr mit diesem Kusse die entsetzlichen Leiden verzieh, die er durch ihre Schuld acht Jahre lang hatte ertragen müssen.

Rings herrschte Schweigen, dann sprach Philipp in heiterem Tone: »Wir reisen heute noch nicht ab. Ich habe es mir anders überlegt. Sie, liebe Mutter, sollen erst mit Herrn Fouquet Frieden schließen.« – »Ich bin ihm ja gar nicht böse,« antwortete sie. »Ich fürchte nur seine Verschwendungssucht.« – Der Pseudokönig sah sich um, er suchte d’Herblay, auf den er mit lebhafter Ungeduld wartete. Lady Henriette glaubte, die Blicke beträfen die Lavallière, die vermißt würde, und um den König zu peinigen, fragte sie spitz: »Wen suchen denn Majestät?«

»Liebe Schwester,« antwortete er, »ich warte auf einen ausgezeichneten Mann, einen sehr geschickten Ratgeber, den ich Ihnen allen vorstellen möchte. Ah, d’Artagnan, treten Sie näher!«

Der Musketier kam herein. – »Wo ist denn Ihr Freund, der Bischof von Vannes?« fragte Philipp. »Ich warte auf ihn, man soll ihn holen.« – D’Artagnan war verblüfft, denn man hatte ihm gesagt, Herr d’Herblay sei in geheimer Mission weggeschickt worden. Er vermutete nun, der König wünsche, daß niemand etwas davon erfahre, und antwortete: »Sire, wünschen Sie dringend Herrn d’Herblay –?« – »Dringend ist nicht das rechte Wort,« unterbrach ihn der König. »Es wäre mir lieb, ihn zu sehen, aber es hat keine Eile. Ich wünsche auch mit Herrn Fouquet zu sprechen.«

Herr von Saint-Aignan kehrte mit befriedigenden Nachrichten von der Königin zurück, die, abgesehen von einer leichten Unpäßlichkeit, sich durchaus wohl fühlte. Es war Philipp sehr lieb, daß sie nicht kam – aber es war ihm nicht lieb, daß Aramis noch immer nicht erschien. Die Unterredung kam ins Stocken. Mit seinen Gedanken und Besorgnissen beschäftigt, vergaß Philipp, die königliche Familie zu verabschieden, und die Herrschaften wurden ungeduldig. Anna von Oesterreich wandte sich gegen ihren Sohn und flüsterte ihm ein paar Worte auf spanisch zu. – Philipp erschrak und wurde blaß; denn diese Sprache verstand er gar nicht.

In diesem kritischen Augenblick geschah etwas völlig Unerwartetes. Das Zimmer war von Halbdunkel erfüllt, da die dicht zugezogenen Vorhänge das Licht nicht hereinließen. Die Königin-Mutter hielt Philipp bei der Hand und wartete auf eine Antwort. Madame lehnte gähnend in ihrem Stuhl. Monsieur zupfte gelangweilt an seinen Manschetten. Da erschien auf der Türschwelle Herr Fouquet, sah herein, ohne daß man ihn bemerkte, lüftete die Portiere und ließ Ludwig XIV. eintreten.

Philipp, dessen Blick auf die Tür geheftet war, da er auf Aramis wartete, erblickte sein Ebenbild und stieß einen Schrei aus. Alle Anwesenden sahen nach der Tür. Inzwischen war Herr Fouquet blitzschnell zu den Fenstern gelaufen und hatte die Vorhänge zurückgerissen, so daß mit einem Male das volle Tageslicht jäh den Saal durchflutete. Ludwig XIV. war bis in die Mitte vorgeschritten und maß mit brennendem Blicke seinen Zwillingsbruder.

Anna von Oesterreich sah von einem zum andern. Die Aehnlichkeit zwischen diesen beiden Männern war so vollständig, daß man glauben konnte, der eine sei nur ein Spiegelbild, nur ein zauberischer Reflex des andern. Daher las man auch auf allen Gesichtern maßlose Verwunderung und Verwirrung, und in diesem Moment mag wohl keiner der Anwesenden gewußt haben, welcher von den beiden eigentlich der König sei.

Fouquet teilte dieses Erstaunen, sah er doch den Usurpator zum ersten Male. Aramis hatte recht gehabt! Der Minister erkannte auf den ersten Blick, daß der falsche König ebenso reinen Blutes sei, wie Ludwig XIV., und daß er, Fouquet, ein Narr gewesen, den genial angelegten Staatsstreich des Jesuitengenerals zu vereiteln. In diesem Augenblick, wo alle, die an dieser Szene teilnahmen, von verworrenen Gedanken und Vorstellungen ergriffen wurden, sagte sich Fouquet, daß Ludwig XIV., der Undankbare, die edelmütige Tat nicht verdiene, durch die er ihm das Leben rettete und sich selbst, da er gerettet war, aufs neue ins Verderben stürzte. Je vollendeter die Aehnlichkeit sei, um so größer sei ja in den Augen Ludwigs die Schuld und das Verbrechen der Täter und aller, die irgendwie daran beteiligt gewesen.

Ludwig XIV. unterbrach plötzlich das todesbange Schweigen, das auf jenen allgemeinen Schrei der Verblüffung gefolgt war. Er trat vor Anna von Oesterreich hin, die nun die ganze Wahrheit begriff, und rief: »Mutter, erkennen Sie Ihren Sohn nicht, da hier keiner den König zu erkennen scheint?« – Darauf wandte sich auch Philipp, an allen Gliedern bebend, zu der Königin-Witwe und rief, die Arme ausbreitend: »Mutter, erkennen Sie Ihren Sohn nicht?« – So standen beide vor der unglücklichen Frau, die nur einen neuen Schrei ausstoßen konnte und dann ohnmächtig wurde. Ludwig vermochte diese Szene, die er als tödlichen Schimpf empfand, nicht länger zu ertragen. Er stürzte auf d’Artagnan zu, der wie traumverloren an der Wand lehnte und sich das ganz tolle Unternehmen, das Aramis da ausgeführt hatte, klarzumachen versuchte.

»Musketier! Her zu mir!« schrie Ludwig. »Sehen Sie uns beiden ins Gesicht! Wer ist bleicher, er oder ich?« – D’Artagnan fuhr auf. Er bewegte den Kopf, als wenn er etwas Schweres von sich schüttelte. Dann trat er an Philipp heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: »Monsieur! Sie sind verhaftet.«

Philipp rührte sich nicht vom Fleck. Er sah starr seinen Bruder an und warf ihm in einem erhabenen Schweigen all das Unglück, all das Elend vor, das er schon erduldet hatte, das er in Zukunft noch erdulden sollte. Gegenüber dieser stummen Sprache verließ den König die Kraft. Er zog seinen andern Bruder, den Herzog von Orléans, und Henriette mit sich fort und vergaß seine Mutter, die in ihrem Stuhle lag und ihren bedauernswerten Sohn zum zweiten Male verdammen ließ.

Der Unglückliche trat zu ihr hin und sprach: »Wenn ich nicht Ihr Sohn wäre, würde ich Ihnen fluchen, daß Sie mich solches Elend erleiden lassen!« – D’Artagnan hörte diese Worte, und ein Schauer rieselte ihm durchs Gebein. Er verneigte sich vor dem jungen Prinzen und sprach tiefergriffen: »Monseigneur, halten zu Gnaden – ich bin Soldat, nichts weiter. Ich habe dem, der eben hinausging, den Treueid geleistet.« – »Dank, Herr d’Artagnan! Doch was ist mit Herrn d’Herblay geschehen?« – »Er ist in Sicherheit,« antwortete eine Stimme. »Und solange ich lebe, wird niemand ihm ein Leid tun.«

»Herr Fouquet!« rief der Prinz und lächelte traurig. – »Monseigneur!« sprach der Minister, sich auf ein Knie niederlassend. »Verzeihen Sie mir, aber jener, der eben hinausgegangen ist, war mein Gast.« – »Wackere Freunde und edle Herzen!« murmelte der Prinz. »Ach, eine Welt, wo es das gibt, muß doch schön sein. Vorwärts, d’Artagnan, ich gehöre Ihnen.« – Colbert trat herein und überreichte d’Artagnan einen Befehl. Der Musketier las das Papier und zerknitterte es. – »Was ist es?« fragte der Prinz. – Da reichte der Kapitän es ihm, und Philipp las: »Herr d’Artagnan hat den Gefangenen nach der Insel Santa-Margareta zu bringen und ihm eine eiserne Maske vors Gesicht zu legen, welche festgelötet werden soll, so daß der Gefangene sie zeit seines Lebens nicht abnehmen kann.«

»Ich bin bereit,« sprach Philipp resigniert.

»Aramis hatte recht,« flüsterte Herr Fouquet dem Musketier ins Ohr. »Dieser hat ebensoviel von einem König wie der andere.« – »Mehr noch,« versetzte d’Artagnan. »Nur fehlen ihm Leute wie ich und Sie.«

8. Kapitel. Die eiserne Maske

Rudolfs Verlangen, Frankreich zu verlassen und in fremdem Lande in den Kampf zu ziehen, fand rasch Erfüllung. Der Herzog von Beaufort 14 – auch ein alter Bekannter der vier Musketiere – rüstete für Ludwig eine Flotte und ein Heer aus, um einen Eroberungszug in Nordafrika zu unternehmen. Bei ihm war nun Athos Fürsprecher für seinen Sohn, und Beaufort ernannte Rudolf, von dem er durch den Prinzen von Condé schon viel Gutes gehört hatte, zu seinem Adjutanten. Er sandte ihn nach Toulon, um dort Mannschaft anzuwerben und die Schiffe segelfertig zu machen. Rudolf trat ohne Säumen die Reise an, und Athos begleitete ihn, um den Abschied noch so lange wie möglich hinauszuschieben.

Ehe Vater und Sohn Blois verließen, sahen sie Aramis und Porthos wieder, die auf der Flucht nach Belle-Ile waren. Der Bischof konnte in Blois keine Pferde auftreiben. Da der Herzog von Beaufort gerade in dieser Gegend Mannschaften anwarb, so hatte man ihm alle brauchbaren Pferde zugeführt. Die Flüchtlinge waren in größter Verlegenheit, als sich d’Herblay des Grafen de la Fère erinnerte, dessen Schloß nur ein kurzes Stück von Blois entfernt war. Ihr Besuch konnte freilich nur von kurzer Dauer sein, da sie es eilig hatten. Dennoch fand Aramis Zeit, Athos alles, was geschehen war, zu erzählen. Athos war sprachlos, aber er zauderte nicht, seinen Freunden die besten Gäule zu geben, die er besaß, und schied mit herzlichem Händedruck, namentlich von Porthos, der sich in seinen Mantel wickelte mit den Worten: »Nicht wahr, ich bin ein Glückskind? Der König wird mich zum Herzog machen.« – Denn Aramis hatte ihn noch immer nicht dem Wahne entrissen, daß alles, was sie täten, im Dienste Ludwigs XIV. geschähe.

Rudolfs Wunde war noch nicht vernarbt, obwohl Athos alle Ueberredungskünste aufbot, ihm begreiflich zu machen, daß der Schmerz über eine erste Untreue kaum jemals einem Liebenden erspart bleibe. Bragelonne konnte es nicht fassen. – »Ich werde mich nie,« sagte er immer wieder, »an den Gedanken gewöhnen, Luise, die reinste, offenherzigste der Frauen, habe einen so ehrbaren und aufrichtig liebenden Mann, wie ich bin, in so niedriger Weise betrügen können. Luise soll eine schamlose Mätresse sein? Ach, mein Vater, das ist ein Gedanke, der mir das Herz zerreißt, der mich noch töten wird.«

Da wandte Athos ein verzweifeltes Mittel an. Er verteidigte Luisens Verrat. – »Hätte sie sich in den König verliebt, nur weil er der König ist, dann würde sie verdienen, eine schändliche Dirne genannt zu werden. Aber sie liebt ihn, weil er jung und schön ist. Sie hat ihre Schwüre, er seinen Rang vergessen. Die Liebe entschuldigt alles, Rudolf.«

Solche Gespräche führten sie auf ihrer Reise nach Toulon. Sie machten 50 Meilen und mehr am Tage. In vierzehn Tagen waren sie am Ziel. Unterwegs erfuhren sie von einem königlichen Offizier, der mit einem geheimnisvollen Gefangenen nach Toulon gekommen sei. Verschiedene Einzelheiten ließen Athos vermuten, daß es sich hier nur um d’Artagnan handeln könne; und da er von Aramis die Geschichte des mißlungenen Staatsstreichs kannte, so lag der Schluß nahe, daß der Gefangene eben jener mysteriöse Zwillingsbruder Ludwigs XIV. sei, der auf Befehl des Königs von dem Kapitän der Musketiere ins Exil gebracht würde. Er hütete sich indessen die Spur mit auffälligem Eifer zu verfolgen, da er d’Artagnan dadurch zu schaden fürchtete. In Antibes verloren sie die Spur, um sie auf ganz überraschende Weise wiederzufinden. Der Graf de la Fère beschloß einen Abstecher nach der Insel Santa Margareta zu machen, in der Hoffnung, dort mit seinem alten Freunde zusammenzutreffen, dem auch Rudolf vor seiner Reise nach Afrika noch einmal die Hand schütteln wollte.

Santa Margareta ist unbewohnt, und als Athos und Rudolf den Fuß an den Strand setzten, glaubten sie, ein kleines Paradies zu betreten, beim Anblick des breiten Gürtels von früchteschweren Orangen- und Feigenbäumen, der das Gestade säumte. Bei jedem Schritt, den sie landeinwärts machten, stoben Rebhühner oder wilde Kaninchen auf. Die einzigen Menschen, die dort lebten, waren der Gouverneur und eine acht Mann zählende Besatzung, die das kleine Fort mit den acht verrosteten Kanonen innehatten. Dieser Gouverneur war also ein glücklicher Pflanzer, der Weintrauben, Feigen, Oliven und Apfelsinen erntete, ohne daß sein Garten ihm Mühe gemacht hätte. Einen guten Nebenverdienst bezog er aus seinen Beziehungen zu den Schmugglern, denen er in den Buchten des Eilands insgeheim Unterschlupf gewährte.

Athos und Rudolf schritten ein Weilchen längs des Zaunes hin, der den Garten umschloß, doch trafen sie niemand, der sie zum Gouverneur hätte führen können. In einiger Entfernung – zwischen dem zweiten und dem dritten Hofe – sah Athos einen Soldaten gehen, der einen Korb auf dem Kopfe trug und im Schatten des Schilderhauses verschwand. Der Graf glaubte, der Mann habe jemand etwas zu essen gebracht, und hoffte, er werde zurückkommen, so daß man ihn rufen könnte. Da hörte er selbst ein Geschrei und sah im Rahmen eines Fensters etwas Weißes, wie eine Hand, sich bewegen und im selben Augenblick etwas Blendendes, einer Waffe gleich, aufzucken und durch die Luft fliegen. Eine silberne Platte fiel zu ihren Füßen in den Sand, und Rudolf hob sie rasch auf. Sein Auge fiel sogleich auf eine am Boden der Schüssel eingekratzte Schrift, und er las folgende Worte in französischer Sprache:

»Ich bin der Bruder des Königs von Frankreich – heute gefangen, morgen wahnsinnig. Französische Edelleute und Christen, betet zu Gott für die Seele und den Verstand des unglücklichen Sohnes Ludwig XIII.«

Rudolf ließ die Schüssel fallen. Gleichzeitig erklang ein Schrei vom Turme der kleinen Festung herüber. Bragelonne bückte sich blitzschnell und zwang seinen Vater dasselbe zu tun. Ein Musketenrohr zeigte sich über der Brüstung, ein Schuß fiel, und eine Kugel schlug dicht neben den beiden Reisenden in den Sand. Nach einigen Minuten erklang ein Trommelwirbel, und dann marschierten aus dem Tor die acht Musketiere der Festung, rückten vor, machten sich schußfertig und legten auf Befehl eines Offiziers auf die fremden Männer an.

»Donnerwetter!« schrie Athos. »Werden hier französische Kavaliere meuchlings niedergeknallt?« – Als der Offizier diese Stimme hörte, hob er rasch die Hand, befahl den Soldaten die Waffen zu senken und eilte mit dem Rufe: »Athos! Rudolf!« heran. Es war d’Artagnan, der sie im nächsten Augenblick an die Brust drückte. »Was bedeutet das?« fragte Athos erstaunt. »Potzblitz, ich wollte euch erschießen lassen, Freunde,« antwortete d’Artagnan. »Eine Sekunde noch, und ihr wart geliefert. Ein Glück, daß ich euch erkannt habe!«

»Aber warum schoß man überhaupt auf uns?« – »Wetter noch einmal, Sie haben zur Hand genommen, was der Gefangene Ihnen zuwarf,« erwiderte d’Artagnan. »Und er hatte etwas darauf geschrieben!« Mit diesen Worten bückte sich der Kapitän nach der Schüssel und las die Inschrift. »O, mein Gott!« rief er. »Sie sind verloren, wenn der Gouverneur ahnt, daß Sie das hier haben lesen können, daß Sie es verstanden haben. Ich werde Sie für Spanier ausgeben, die kein Wort Französisch können. Das ist das einzige Mittel, Sie vorm Tode oder im besten Falle vor ewiger Gefangenschaft zu retten.«

»So ist es wahr, was man über diesen Gefangenen spricht?« murmelte Athos. Doch d’Artagnan unterbrach ihn unruhig. »Still, um Gotteswillen!« rief er. »Dort kommt der Gouverneur. Mein Herr,« wandte er sich an diesen, »ich stelle Ihnen hier zwei spanische Kapitäne vor, die ich neulich in Ypern kennen gelernt habe.« – »Sehr wohl,« sagte der Gouverneur mit einer Verbeugung, nahm die Schüssel und wollte selbst die Schrift lesen, als d’Artagnan ihm die Platte rasch entriß und die Buchstaben mit der Spitze seines Degens zerkratzte. – »Was tun Sie da?« rief der Gouverneur. »Darf ich das nicht lesen?«

»Es ist Staatsgeheimnis,« erwiderte der Musketier. »Sie wissen, laut Befehl des Königs ist jeder, der in dieses Geheimnis eindringt, mit dem Tode zu bestrafen. Wenn Sie wollen, lasse ich Sie gern lesen, aber gleich darauf erschießen.« – Athos und Rudolf standen schweigend daneben und gaben sich den Anschein, als verständen sie nichts, so sehr erstaunt sie auch waren über das, was sie gehört hatten. – »Und sollten die Herren kein Wort verstanden haben?« meinte der Gouverneur. – »Wenn Sie auch Brocken von dem, was wir sprechen, verstehen, so ist alles Geschriebene ihnen doch ein Rätsel,« antwortete der Gaskogner schlagfertig. »Es ist Ihnen ja wohl auch bekannt, ein adeliger Spanier darf nicht lesen lernen.«

Der Gouverneur mußte sich damit zufrieden geben. Allein er war zähe. »Die Herren werden mir die Ehre geben, mit mir im Fort zu dinieren,« sagte er. – »Ich wollte sie eben selbst dazu auffordern,« sagte d’Artagnan, der in Wahrheit seine Freunde so rasch wie möglich von der Insel wegbringen wollte. – Im Fort angelangt, traf der Gouverneur einige Anordnungen zur Bewirtung seiner Gäste, und Athos benutzte diesen Augenblick des Alleinseins, um d’Artagnan um Aufklärung zu bitten.

»Da ist nicht viel zu erklären,« sagte der Chevalier. »Ich habe einen Gefangenen hierher gebracht, den niemand sehen und sprechen darf. Er hat sich nun mit Ihnen in Verbindung zu setzen gewußt, und infolgedessen –. Aber Sie glauben natürlich nicht an den Unsinn, den dieser Mensch geschrieben hat?« – »Ich glaube doch daran,« antwortete Athos. »Umsonst haben doch Sie nicht den strengen Befehl erhalten, jedermann zu töten, der in dieses Geheimnis eindringt. Warum solche Maßregeln, wenn nichts dahinter steckt? Der König will nicht, daß das Volk erfahre, auf wie schändliche Weise er und seine Familie diesen unglücklichen Sohn Ludwigs XIII. aus dem Wege geräumt haben.«

»Ah, Freund, glauben Sie doch nicht solche Ammenmärchen, sonst widerrufe ich, daß ich Sie für einen verständigen Mann halte,« sagte d’Artagnan. »Weshalb sollte ein Sohn Ludwigs XIII. nach der Insel Santa Margareta geschafft werden?« – »Danach fragen Sie Aramis,« antwortete Athos. – »Aramis?« rief der Musketier verblüfft. »Haben Sie mit Aramis gesprochen?« – »Ja, ich sah ihn und Porthos auf ihrer Flucht nach Belle-Ile, und Aramis hat mir alles erzählt.«

»Nun, da sehen Sie wieder, wie erbärmlich es mit der menschlichen Weisheit beschaffen ist,« brummte der Gaskogner. »Ein nettes Geheimnis, das schon etwa zwanzig Menschen bekannt ist. Mag kommen, was Gott gefällt! Ich habe die dunkle Ahnung, als müßten alle, die mit diesem Geheimnis verknüpft sind, eines elenden Todes sterben! Aber was hat Sie überhaupt hierhergeführt?«

»Wir kamen, um Ihnen Lebewohl zu sagen,« antwortete der Graf. – »Wie das? Geht Rudolf fort?« – »Ja, mit Herrn von Beaufort nach Afrika.« – »Er ist noch immer traurig?« – »Zu Tode betrübt,« sprach Athos, »und er wird daran sterben.« – D’Artagnan schwieg und kaute an seinem Schnurrbart. »Warum lassen Sie ihn reisen?« fragte er. – »Weil er will.« – »Und warum gehen Sie nicht mit ihm?« – »Ich will ihn nicht sterben sehen. Sie wissen, Freund, es gibt wenig, wovor ich mich fürchte, aber wenn ich daran denke, ich müßte eines Tages die Leiche meines Sohnes sehen, so packt mich eine namenlose Angst.«

»Wie? Sie, der Mann, der alles gesehen hat, was der Mensch auf dieser Welt überhaupt sehen kann, Sie fürchten sich davor, Ihren Sohn tot zu sehen? Freund, der Mensch muß hienieden auf alles gefaßt sein, alles hinnehmen, allem kühn entgegentreten.« – »Ich bin alt und lebensmüde geworden, Freund,« erwiderte Athos »Ich mache mir nichts daraus, selbst zu sterben; aber ich sehe nicht gern die, die ich liebe, dahingehen. Wer stirbt, gewinnt, wer sterben sieht, verliert. Und ganz genau zu wissen, man wird denjenigen, den man über alles liebt, niemals wiedersehen – ach ja, ich bin eben alt, es fehlt mir an Mut. Doch ich will Gott nicht lästern, es ist schon genug, einem König geflucht zu haben.«

»Hm!« brummte d’Artagnan, überrascht über die Tiefe dieses Schmerzes, denn er hatte nicht geglaubt, daß »die Geschichte mit der kleinen Lavallière« ein so tragisches Ende nehmen sollte. – »Sehen Sie ihn nur an,« fuhr Athos fort. »Wie traurig er dreinschaut. Wie finster, wie furchtbar entschlossen. Er hat seine Rechnung gemacht, und es ist nichts mehr daran zu ändern. Er flieht den Hof, Paris, Frankreich, um nichts mehr zu sehen, weil er nicht will, daß seine Liebe in ihm sterbe. Er will das Mädchen, das die Gottheit seiner Jugend gewesen, in Ewigkeit liebbehalten, und deshalb geht er allem aus dem Wege, was etwa angetan sein könnte, sie vom Altar seines Herzens herabzustoßen.«

Sie schwiegen, denn Rudolf trat zu ihnen. Er hatte abseits gesessen und, in Gedanken versunken, zum Fenster hinausgeblickt. – »Herr d’Artagnan,« sprach er leise, »Sie kehren nach Paris zurück. Darf ich Sie um einen Dienst bitten? Wollen Sie Fräulein von Lavallière meinen letzten Gruß bringen?« – D’Artagnan nickte. »Was soll ich ihr sagen?« – »Die letzten Worte, die ich ihr sende,« antwortete Rudolf, »sind diese: Statt Ihnen zu fluchen, liebe ich Sie noch immer und sterbe.« – D’Artagnan sah auf. Er wollte Einspruch erheben, doch Rudolf ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Sie werden ihr das sagen, nicht wahr?« drang er in ihn. – »Gewiß, gewiß, doch wann?« – »An dem Tage,« erwiderte Rudolf, »an welchem Sie ihr auch das Datum meines Todes angeben können.« – Darauf trat er rasch wieder zur Seite.

Der Gouverneur ging vorüber, und d’Artagnan zog seine Freunde in eine dunkle Ecke. – »Was gibt es wieder?« fragte Athos. – »Sie werden den Gefangenen sehen,« flüsterte d’Artagnan, »er kommt eben aus der Kapelle zurück.« –

Und im Scheine eines Wetterleuchtens, das den Himmel purpurrot färbte, sah man sechs Schritte hinter dem Gouverneur, ernst und langsam, einen jungen Mann schreiten, der schwarz gekleidet war und vor dem Gesicht eine Maske aus braunem Stahl trug, die mit einer den ganzen Kopf umschließenden, fest angelöteten Kappe aus dem gleichen Metall zusammenhing. Das Feuer des Himmels zeichnete matte Reflexe auf der blanken Oberfläche ab, und dieses Funkeln schien die grimmigen Blicke darzustellen, die der Unglückliche statt der Flüche schleuderte.

Der Jüngling blieb stehen und sah nach dem Horizont, atmete die laue Regenluft ein und stieß einen Seufzer aus, der wie ein tiefes Stöhnen klang. »Kommen Sie!« rief der Gouverneur ungeduldig. »Kommen Sie, Monsieur!« – »Sagen Sie Monseigneur!« rief Athos aus der Ecke hervor, in so feierlichem Tone, daß der Gouverneur heftig erschrak. Athos forderte Ehrfurcht vor der gefallenen Majestät. – »Wer hat gesprochen?« rief der Gouverneur. – »Ich,« sagte d’Artagnan und trat rasch vor. »Sie wissen, so lautet der Befehl.«

»Nennen Sie mich weder Monsieur noch Monseigneur,« sprach der Gefangene mit einer Stimme, die Rudolf im Innersten erschütterte und rührte; »nennen Sie mich Verfluchter!« – Und er ging weiter; die eiserne Pforte schloß sich hinter ihm. – »Dieser Mensch,« murmelte Rudolf, ihm nachschauend, »ist noch hundertmal unglücklicher als ich!«

  1. Siehe den Roman: Zwanzig Jahre nachher (von Dumas, übersetzt von Dr. Herman Eiler), S. 135 ff.

1. Kapitel. Letzte Grüße

Ein Befehl Ludwigs XIV. rief d’Artagnan nach Paris zurück. Er brachte seine Freunde nach Toulon und nahm hier Abschied von ihnen. Lange hielt er sie umfangen, ohne ein Wort zu sprechen. Dann gab er dem Pferde die Sporen und jagte davon, ohne sich noch einmal umzuschauen. – »Ich hab’s nicht über’s Herz gebracht, ihnen zuzulächeln,« sprach er vor sich hin. »Das ist ein schlimmes Vorzeichen! Ich werde beide nicht wiedersehen.«

Die Straßen von Toulon waren von Soldaten und Pferden angefüllt. Herr von Beaufort betrieb die Einschiffung mit dem Eifer und der Geschicklichkeit eines geübten Truppenführers. Er prüfte selbst die Ausrüstung eines jeden Mannes, untersuchte jedes einzelne Pferd, guckte in jedes Flinten- und Kanonenrohr und überzeugte sich von der Beschaffenheit jedes Munitionskastens. Rudolf hatte soviel zu tun, daß ihm keine Zeit zu trüben Gedanken blieb. Die Schiffe waren fertig zur Ausfahrt.

An dem letzten Abend, den sie für sich genießen durften, gingen Vater und Sohn auf die hohen Berge, die die Stadt Toulon überragen. Ein herrliches Schauspiel bot von hier aus die Stadt, das weite Meer, die Schiffe im Hafen, welches alles der Mond mit zauberhaftem Schimmer übergoß.

»Mein Sohn,« sprach der Vater, »jetzt, wo wir scheiden sollen, kommt mir der Gedanke, ich hätte nicht recht getan, dich in so einseitiger Weise zu erziehen, dich nur in ernstem, strengem Sinne denken und handeln zu lehren. Ich hätte dich an ein Leben der Freude, der Gesellschaft, des Geräusches gewöhnen sollen.« – »Ich weiß, weshalb Sie das sagen, mein Vater,« antwortete Bragelonne. »Doch Sie irren sich. Was ich jetzt bin, das haben nicht Sie aus mir gemacht, die Liebe hat es getan, und diese Liebe hat mich schon ergriffen, als ich fast ein Kind noch war. Die Beharrlichkeit aber, mit der ich nun daran hänge, ist der Grundzug meines Charakters. Was die Vergangenheit jetzt noch an Glück für mich enthält, was die Zukunft noch an Hoffnung für mich bietet – das liegt in Ihrer Person, mein Vater. Nein, ich habe nichts an dem Leben auszusetzen, das Sie mir zu führen gestattet haben. Ich segne Sie, Vater, und liebe Sie innig.«

»Deine Worte tun mir wohl, Rudolf. Aber künftig soll es anders sein. Wir werden, wenn du zurückkommst, nicht mehr so einsam leben; ich werde dir das Geld überlasten, das mein Landbesitz abwirft, und du wirst damit das Leben eines Kavaliers von Welt führen können, abwechslungsreich, geräuschvoll und vielseitig. Und du wirst mir dann, ehe ich ins Grab sinke, noch den Trost bescheren, daß unser Stamm nicht verlöscht.« – »Ich werde tun, was Sie, mein Vater, mir befehlen.« – »Du bist in diesem Feldzug Flügeladjutant, Rudolf, wirst dich also nicht ernsten Gefahren auszusetzen brauchen.« fuhr Athos fort. »Du hast in andern Kriegen oft genug bewiesen, wie wacker du im Feuer stehen kannst. Schone dich hier; denn es geht gegen Barbaren, gegen Meuchelmörder, und es bringt wenig Ruhm, in einem Hinterhalt sein Leben zu lassen.«

»Ich bin klug und habe immer Glück gehabt,« sagte Rudolf mit einem Lächeln, das dem armen Vater ins Herz schnitt. »Ich habe zwanzig Schlachten mitgemacht und nur eine Schramme davongetragen.« – »Und dann mußt du dich noch vorm Fieber hüten,« sagte Athos. »Das ist ein böses Leiden. Der König Ludwig der Heilige bat Gott, ihm lieber einen Pfeil vom Bogen eines Mohren als das Fieber zu schicken. Herr von Beaufort hat mir schon gesagt, daß Nachrichten von dir mit seinen persönlichen Depeschen mitgehen können, die alle vierzehn Tage nach Frankreich abgesandt werden. Tu wirst mich dann nicht vergessen.« – »Nein, Vater!« rief Rudolf mit erstickter Stimme.

»Und wirst du bisweilen an mich denken?« – »O, in jeder Nacht, Vater! In meiner Kindheit sah ich Sie oft im Traume lächelnd eine Hand über mein Haupt halten – und deshalb habe ich auch immer so sanft und ruhig schlafen können – ehemals.« – »Wir lieben uns zu sehr,« sagte Athos, »als daß nicht, nun wir uns trennen, ein Teil unserer beiden Seelen, der meinen mit dir, der deinen mit mir ziehe und dort weile, wo wir weilen werden. Wenn du traurig bist, Rudolf; so wird auch mich Traurigkeit beschleichen, und wenn du mit Lächeln an mich denkst, so kannst du dir immer sagen, du sendest mir von dort einen Strahl Freude herüber.« – »Froh zu sein, verspreche ich Ihnen nicht,« antwortete Rudolf. »Aber ich versichere Ihnen, es wird keine Stunde vergehen, ohne daß ich an Sie denke, keine Stunde, solange ich lebe.«

Athos umarmte seinen Sohn und hielt ihn fest umschlungen. Ein Geräusch trennte sie. Grimaud, der seinem Herrn von weitem gefolgt war, trat herzu. – »Ah, guter Alter!« rief Rudolf. »Du willst uns sagen, daß es Zeit sei abzureisen.« – »Allein?« fragte Grimaud mit einem Blick auf Athos. – »Du hast recht,« rief Athos. »Nein, Rudolf soll nicht allein in das fremde Land ziehen. Er soll einen Freund mitnehmen, der ihn tröstet und an alles Liebe erinnert, das er hier zurückläßt.« – »Mich?« fragte Grimaud. – »O, wie gern!« rief Rudolf. »Aber du siehst, man geht schon zu Schiffe, und du bist nicht vorbereitet.« – »Doch,« antwortete Grimaud und wies den Schlüssel seines Reisekoffers vor. – »Du kannst aber doch den Herrn Grafen nicht allein lassen,« sagte Bragelonne noch, »bist du doch dein Lebtag noch nie von ihm gegangen.« – Grimaud sah Athos an und murmelte: »Ihm wird es so lieber sein.« – Und Athos nickte stumm.

In der Stadt wirbelten die Trommeln, schmetterten die Trompeten. Man sah die Regimenter durch die Straßen zum Hafen ziehen.

Eine halbe Stunde später waren Rudolf und Grimaud an Bord, und Athos stand allein am Gestade. Die Schiffe verließen langsam eins nach dem andern die Reede und steuerten dem Meere zu. Athos verlor das Fahrzeug, das seinen Sohn trug, nicht aus den Augen. Er sah ihn an der Strickleiter hängen, die er erklommen hatte, um seinem Vater noch recht lange sichtbar zu bleiben. Die Gestalt ward kleiner und kleiner, glich nur noch einem Punkt, einem Nebelfleck und verschwand. Dann verlor sich auch die Spitze des Mastbaums am Horizont, und Athos kehrte, matt wie ein Kranker, in seine Herberge zurück.

Inzwischen war d’Artagnan auf schnellen Pferden nach Paris geeilt, um sich dem König zur Verfügung zu stellen. Er erhielt den Befehl, mit seinen Musketieren nach Nantes zu reiten, wo die Versammlung der Generalstände stattfinden sollte, und vor allem Herrn Fouquet im Auge zu behalten. Ludwig fürchtete, der Oberintendant könne von Nantes aus nach Belle-Ile entschlüpfen, und da er entschlossen war, ihn nicht fliehen zu lassen, sondern seine Rechnung sofort nach der Stände-Versammlung mit ihm abzuschließen, so legte er seinem Kapitän betreffs der Person Fouquets ganz besondere Wachsamkeit ans Herz. Beruhigt verließ der Musketier den König. Er hatte schon während der ganzen Reise mit Schrecken daran gedacht, daß Ludwig XIV. ihn nun wohl nach Belle-Ile schicken würde, um Aramis und Porthos zu verhaften und seiner Rache zu überliefern. Indem er sich der Trauer de la Fères und Bragelonnes erinnerte, gestand er sich mit Unwillen, daß diesem jungen, rücksichtslosen König nun doch noch alle seine alten Freunde zum Opfer fallen würden. Und ihn, d’Artagnan, bestimmte das Los zum Vollstrecker. Hatte doch wahrlich nicht viel gefehlt, so hätte er auf der Insel Santa Margareta Athos und Rudolf niederschießen lassen. Dann kehrten seine Gedanken zu dem armen Zwillingsbruder zurück, der so grausam verurteilt worden war. Beklommenen Herzens betrat er daher den Palast, stellte er sich dem König vor – aber die Person dieses Monarchen übte ihren alten Zauber auf ihn aus. Nachdem er mit ihm gesprochen, schien dem Kapitän nichts selbstverständlicher, nichts richtiger, als seine Befehle pünktlich zu vollziehen.

Ehe d’Artagnan den Louvre verließ, sprach er auch mit Luise von Lavallière. Er traf sie in einer Galerie, wo sie mit mehreren Hofdamen spazieren ging. Sie empfing nämlich in ihrer Eigenschaft als anerkannte erste und einzige Mätresse des Königs jetzt von allen Seiten die schwärmerischsten Huldigungen und hatte sozusagen ihren kleinen Hofstaat für sich. Obwohl d’Artagnan nie ein Freund von Weibern gewesen war, so mochten die Damen ihn doch gern leiden, denn er wußte sich ebenso gebildet zu unterhalten wie tapfer zu schlagen, und der Ruf seiner Tapferkeit und ritterlichen Gesinnung erwarb ihm neben der Freundschaft der Männer die Bewunderung der Frauen.

Die Ehrenfräulein riefen ihn nun gleich herbei, denn man wußte, daß er eine Zeitlang fern von Paris gewesen war, und hoffte allerlei Interessantes von ihm zu hören. Man bestürmte ihn mit Fragen: wohin die Reise ihn geführt hätte – warum man ihn so lange nicht gesehen – was er Neues zu erzählen habe.

Er antwortete, er komme aus dem Lande der Orangen. Es war damals noch eine Zeit, wo eine Reise von hundert Meilen schon ein Problem war, dessen Lösung oftmals der Tod bildete. – »Aus dem Lande der Orangen?« rief Fräulein von Tonnay-Charente. »Also aus Spanien?« – »Bewahre!« – »Dann vielleicht von Malta?« – »Da sind Sie schon näher, Fräulein,« entgegnete d’Artagnan, »ich will Sie nicht in Ungewißheit lassen. Ich komme aus dem Hafen, wo Herr von Beaufort eben die Fahrt nach Afrika antritt.« – »Haben Sie die Armee, die Flotte gesehen?« – »Alles.« – »Haben wir Freunde dabei?« fragte die Tonnay-Charente gleichgültig, aber doch in einem Tone, der die Absichtlichkeit dieser Frage erkennen ließ.

»Ja,« antwortete d’Artagnan, »die Herren von Guillotière, von Mouchy und von Bragelonne sind dabei.« – Die Lavallière erbleichte. – »Ei was?« rief die boshafte Athenais, »Herr von Bragelonne ist in den Krieg gezogen? Wissen Sie, was ich davon halte? Alle Männer, die diesen Feldzug mitmachen, tun es aus Verzweiflung, aus unglücklicher Liebe und in der Erwartung, die Mohrinnen weniger grausam zu finden als die weißen Schönen.« – Einige Damen lachten; die Lavallière wußte nicht, was sie tun sollte; die Montalais hustete energisch.

Ein Weilchen herrschte tiefes Schweigen, dann wandte Athenais von Tonnay-Charente sich an Luise von Lavallière und sagte: »Wissen Sie, Luise, daß Sie da eine schwere Sünde auf dem Gewissen haben? Der junge Mann war Ihr Bräutigam. Er hat Sie geliebt, und Sie haben ihn von sich gestoßen.« – »Ein ehrbares Mädchen,« sprach die Montalais dazwischen, »darf einem jungen Manne den Abschied geben, wenn sie ihn nicht liebt. Es ist besser, als ihn dennoch zu heiraten.«

»Darin besteht auch nicht die Sünde Luisens,« erwiderte Athenais, »sondern darin, daß dieser Mann nun ihretwegen in den Krieg zieht und den Tod sucht. Wenn er stirbt, so haben Sie ihn getötet, das ist die Sünde.« – Luise preßte die eisige Hand auf die Stirn. Sie griff nach dem Arm des Kapitäns. »Sie wollten mir doch etwas sagen, Herr d’Artagnan?« fragte sie. – »Was ich Ihnen zu sagen hatte, Fräulein,« antwortete der Chevalier, »hat Ihnen eben Fräulein von Tonnay-Charente gesagt, zwar etwas grob, aber doch so, daß ich nichts hinzuzufügen habe.«

Luise seufzte tief und verließ ihn und die Damen, um in die Einsamkeit ihres Zimmers zu flüchten.

2. Kapitel. Und zeigte ihm die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit

Es schlug sieben an der großen Uhr der Bastille, und es war die Stunde der Mahlzeit für die armen Gefangenen und auch für den Herrn Gouverneur. Baisemeaux hatte abermals Herrn d’Herblay zu Gaste. Sie ließen sich diesmal die Leckerbissen trefflich munden, und Aramis war gesprächiger, zwangloser als sonst, so daß Baisemeaux sich fast ein wenig darüber wunderte. Als sie beim Dessert angelangt waren und der Gouverneur sich schon der trügerischen Hoffnung hingab, der Bischof werde an diesem Tage, da er dem Weine sehr brav zugesprochen hatte, einmal keine Geheimnisse haben, wurde ein Kurier in den Hof gelassen, und gleich darauf überbrachte man Herrn Baisemeaux eine Order des Königs.

»Ah, das ist verdrießlich,« brummte er. »Muß das auch gerade beim schönsten Trinken kommen!« – »Baisemeaux, Baisemeaux!« lachte Aramis, »ein Befehl des Königs ist heilig! – »Ja doch,« antwortete der Gouverneur, »aber die Gemütlichkeit und die Gastfreundschaft sind mir auch heilig, und nun muß ich Sie vernachlässigen, um zu tun, was der König will. Also erlauben Sie!« – Mit diesen Worten öffnete er den Befehl. – »Es ist eine Freilassung,« sagte er verdrießlich. »Wieder einer weniger! Und es kommt kaum noch alle Wochen ein neuer herzu. Erst letztens – Sie waren ja dabei – mußte ich den Grafen de la Fère ziehen lassen, wo ich mich schon drauf gefreut hatte, wieder mal einen vornehmen Herrn hereinzubekommen. Eine schlechte Zeit, Herr Bischof, Gott sei’s geklagt!«

»Aber Sie sind doch Christ, lieber Baisemeaux, und sollten sich freuen, wenn ein armer Mann die Freiheit wiedererlangt,« sagte Aramis. »Wer soll denn entlassen werden?« – »Ah, Seldon, jener Pamphletist, der den Spottvers auf die Jesuiten gemacht hat. Und jetzt um acht Uhr abends!« – »Gleichviel!« meinte Aramis, »königliche Befehle müssen vollzogen werden.« – »Dieser muß sogar ohne weiteres vollzogen werden, denn er trägt den Vermerk eilig,« sprach der Gouverneur, »in jedem andern Falle würde ich bis morgen früh gewartet haben.«

»Ei, ei, und denken Sie gar nicht daran, daß Sie die Leiden eines Gefangenen abkürzen, wenn Sie ihn so rasch wie möglich losgeben? Ist es doch etwas Schönes um den Augenblick, wo man nach Jahren der Kerkerhaft die Luft der Freiheit atmet! Jede Minute, die Sie so einem armen Gefangenen schenken, wird Ihnen Gott im Paradiese durch Jahre der Glückseligkeit vergelten.«

»Wenn nur nicht das Essen drüber kalt würde!« seufzte der Gouverneur. Darauf wandte er sich nach der Tür, um mit dem Boten zu sprechen. Der Befehl war auf dem Tische liegen geblieben. Aramis benutzte diesen Augenblick, um ihn gegen einen, den er aus dem Rock zog, zu vertauschen. Es war ein ebensolches Papier, dem echten Befehl täuschend nachgeahmt. Nur ein andrer Name stand darauf.

»Eigentlich ist’s eine Grausamkeit, einen Gefangnen um diese Stunde an die Luft zu setzen,« brummte Baisemeaux. »Wohin soll er gehen? Nach so vielen Jahren der Haft wird er sich nicht mehr zurechtfinden.« – »Ich werde ihn führen,« sagte Aramis, »das ist Pflicht eines Mannes der Kirche.« – »Sie wissen auf alles eine Antwort,« sprach der Gouverneur, und seinem Diener rief er zu: »Man soll die Zelle Seldons aufschließen. Nordturm Nummer 3.« – »Wie sagten Sie?« rief Aramis. »Seldon? Sie meinen doch wohl Marchiali?« – »Der Befehl lautet auf Seldon,« sagte Baisemeaux. – »Aber Sie irren sich, Gouverneur,« rief d’Herblay und neigte sich über das auf dem Tische liegende Dokument. »Hier steht groß und deutlich: Marchiali.« – »Was?« versetzte Baisemeaux, »ich las doch eben Seldon. Das ist merkwürdig,« sagte er mit großer Unruhe, als er nun den Namen Marchiali las. »Ich weiß ganz genau, daß es Seldon geheißen hat. Unter dem Namen war ein Tintenfleck – hier ist jetzt keiner.« – »Wie es auch gewesen sein mag, lieber Baisemeaux,« erwiderte Aramis. »Der vom König unterzeichnete Befehl betrifft Marchiali. ›Marchiali ist in Freiheit zu setzen,‹ steht hier klar und deutlich. Also müssen Sie Marchiali loslassen.«

»Hm,« murmelte der Gouverneur, »Marchiali erhielt den Besuch des Beichtvaters vom Jesuitenorden –« und er sah Aramis mit unverhohlenem Mißtrauen an.

»Das weiß ich nicht,« antwortete dieser. – »Und doch ist es noch gar nicht so lange her,« meinte Baisemeaux. – »Das ist möglich, lieber Gouverneur, indessen ist es bei uns gut, daß der Mann von heute nicht wisse, was der Mann von gestern getan hat. – »Jedenfalls hat der Besuch des Beichtvaters diesem Menschen Glück gebracht,« sprach Baisemeaux. »Wohl, ich werde ihn loslassen; aber ich werde erst einen Eilboten ans Ministerium senden und fragen lassen, ob die Sache auch ihre Richtigkeit hat, ob wirklich Marchiali und nicht Seldon gemeint war.«

»Wozu das?« fragte Aramis kalt. – »Um mich vor einem Irrtum, vor einem Versehen zu schützen, das ich vielleicht schwer büßen müßte. Wohl sehe ich die Unterschrift des Königs und die Gegenzeichnung des Polizeiministers Lyonne unter dem Befehl, aber beide Schriftzüge können gefälscht sein, Herr d’Herblay. Das alles ist schon dagewesen.« – »Sie haben recht, Baisemeaux. Sie wollen Ihr Gewissen erleichtern,« sagte Aramis. »Sie würden aber vollständig beruhigt sein, wenn ein Vorgesetzter Sie autorisierte, den Ihnen vorliegenden Befehl ohne weitere Umstände auszuführen?« – »Allerdings,« nickte der Gouverneur.

»So geben Sie mir Schreibzeug,« sagte Aramis kurz. Darauf ergriff er, während Baisemeaux erstaunt zusah, eine Feder und schrieb. Der von Schrecken ergriffene Gouverneur las über seine Schulter hinweg. – »A.M.D.G.,« 13 schrieb der Bischof und zeichnete ein Kreuz dahinter. Dann folgten die Worte: »Herr Baisemeaux von Montlezun, Gouverneur der Bastille, hat den ihm überbrachten Befehl für echt und gültig zu halten und auf der Stelle zu vollziehen. D’Herblay, durch die Gnade Gottes General des Ordens.« Dabei drehte er den Ring an seinem Finger und ließ Baisemeaux das Abzeichen des Obersten der Jesuiten schauen. Der Gouverneur war starr vor Entsetzen und stand unbeweglich, wie am Boden fest gewurzelt. Man hörte in dem Gemach nichts als das Summen einer Fliege, die um die Lichter schwirrte. Aramis würdigte den Mann, den er in so klägliche Verblüffung gebracht hatte, keines Blickes, zog das Petschaft hervor, das er unter dem Wams trug, siegelte das Geschriebene und übergab es schweigend Herrn Baisemeaux, der es mit zitternden Händen entgegennahm, um wie niedergeschmettert auf einen Stuhl zu sinken.

»Auf, lieber Baisemeaux!« rief Aramis nach langem Schweigen. »Die Gegenwart des Ordens-Generals ist doch nichts so Schreckliches, daß man sterben müßte. Reichen Sie mir die Hand und folgen Sie mir.« – Baisemeaux küßte dem General die Hand und rief: »Ich kann es nicht fassen – ich werde mich von diesem Schlage nie wieder erholen. Ich habe mit Ihnen gescherzt und gelacht – ich habe es gewagt, mich auf gleichen Fuß mit Ihnen zu stellen.« – »Schweig, alter Kamerad,« entgegnete d’Herblay. »Gehen wir ein jeder seinen Lebensweg: Dir sei mein Schutz, meine Freundschaft, mir dein Gehorsam geweiht! Und nun, holen Sie Marchiali!«

Baisemeaux ging, um die Formalitäten zu erledigen, unter denen nach der Vorschrift die Freilassung eines Eingekerkerten zu erfolgen hatte. Dazu gehörte vor allem die Eidesleistung, nie etwas von dem kundzugeben, was man in der Bastille gesehen oder gehört hatte. Als der Gefangene diesen Schwur getan, trat Aramis aus dem Schatten hervor, in dem er gestanden. Marchiali errötete leicht und legte seinen Arm in den des Bischofs. Sie gingen in den Hof, wo eine Kutsche bereitstand. Die Räder rollten über das holperige Pflaster, rasselten von Hof zu Hof und dann zur Tür hinaus. Selbst Aramis atmete nicht, solange sie noch im Bannkreis der Bastille waren, man hätte das stürmische Klopfen seines Herzens hören können. Auch der Gefangene, in eine Ecke des Wagens gedrückt, gab kein Lebenszeichen von sich. Endlich war man über den letzten Wassergraben hinüber und durch die letzte Barriere hindurch. Das letzte Tor hatte sich hinter dem Wagen geschlossen; die Pferde griffen schneller aus und trugen den Wagen durch die Vorstadt Saint-Antoine und dann ohne Aufenthalt bis nach Melun, wo Aramis im Walde von Senart haltmachen ließ.

»Was gibt es?« rief der Gefangene und fuhr aus einem dumpfen Traume auf. – »Königliche Hoheit,« antwortete Aramis, »ehe wir weiterfahren, müssen wir uns besprechen.« – »Darauf warte ich schon,« antwortete der Prinz. – »Wir sind in einem Walde, wo niemand uns hörnen kann,« sagte Aramis. »Der Postillon ist taubstumm. Geruhen Sie auszusteigen und mit mir in die düstere Seitenallee einzutreten, die vor uns liegt.«

»Ich bin bereit, doch was machen Sie da?« antwortete der Prinz. – »Ich setze die Pistolen in Ruh, da wir sie nicht mehr brauchen, Königliche Hoheit,« erwiderte Aramis. »Ob ich auch nur,« fuhr er dann fort, während beide auf dem einsamen, von feuchtem Moos überwucherten Fußwege dahinschritten, »ein unbedeutender Mann, ein untergeordnetes Glied in der langen Reihe denkender Menschen bin, so ist es doch, wenn ich mit jemand spreche, stets mein Bestreben, in seine Gedanken einzudringen mitten durch die lebende Maske hindurch, die der Verständige dem Fremden gegenüber annimmt. Ich werde bei der Dunkelheit, die uns umgibt, und bei der Zurückhaltung, die Sie schon im Gefängnis gegen mich gezeigt haben, nichts in Ihren Zügen lesen können. Ich glaube daher, es wird mir Mühe kosten, Ihnen aufrichtige Worte zu entwinden. Ich bitte Sie inständig, jedes meiner Worte nicht aus Rücksicht auf mich, sondern aus Liebe zu sich selbst, ernsthaft zu erwägen, denn was wir zu besprechen haben, wird so wichtig sein, wie nur irgend etwas, das jemals auf dieser Welt zwischen zwei Menschen verhandelt worden ist.«

»Ich höre,« antwortete Prinz Philipp in festem Tone. – Schwarze, dichte Dunkelheit lag unter den Wipfeln der Bäume ausgebreitet; die tiefe Stille der Nacht herrschte ringsum. Das Fünklein der Kutschenlaterne schimmerte durch den weißen Dunst, der vom feuchten Boden empordampfte.

»Königliche Hoheit,« fuhr Aramis fort, »Sie kennen die Geschichte der Regierung, die heute Frankreichs Geschicke leitet. Des Königs Kindheit glich einer Gefangenschaft, die kaum unbarmherziger war als die Ihrige, nur daß er seine Martern nicht in der Finsternis und Einsamkeit eines Kerkers, sondern an hellem lichtem Tage, mitten in der geräuschvollen Welt des Hofs erdulden mußte. Er hat darunter viel gelitten, sein Herz ist verbittert, und der Durst nach Rache muß in ihm wohnen. Er wird ein böser König werden. Da er von einem geizigen Minister geknechtet worden ist, wird er in Verschwendungssucht ausarten. Ich kann ihn mit gutem Gewissen verurteilen. Gott macht alles recht, was er tut. Um dieses schwere Geheimnis, das ich Ihnen entdecken half, zu bewahren und zunutze zu machen, dazu bedurfte er eines zuverlässigen, ausharrenden Werkzeugs, und er erwählte mich. Ich besitze Schärfe des Urteils, unermüdliche Geduld, Unerschrockenheit und Klugheit. Dieses Werkzeug Gottes haben Sie an Ihrer Seite, Hoheit, dieser Mann hat Sie in einer großen Absicht aus der Nacht des Kerkers befreit, und zu einem erhabenen Zweck will er Sie zu einem Herrn der Erde erheben.«

»Sie sprechen da,« antwortete der Prinz, »von dem geistlichen Orden, dessen Oberhaupt Sie sind. Ich entnehme Ihren Worten, daß Sie eines Tages denjenigen, den Sie erhoben haben, ebenso stürzen werden, daß ich nur eine Kreatur Ihres Geistes sein soll.« – »Sie irren sich, Hoheit,« versetzte Aramis. »Wenn ich Sie einmal erhoben habe, werde ich Sie nie stürzen können. Vielmehr werden Sie beim Emporsteigen den Schemel weit wegrollen sehen, auf den Sie den Fuß gesetzt haben. Sie werden sich dann vielleicht nicht einmal mehr an sein Recht auf Erkenntlichkeit erinnern. Doch fürchten Sie nichts; um mich gegen diese Gefahr zu schützen, spreche ich jetzt mit Ihnen; denn es ist selbstverständlich, daß ich ein Interesse verfolge, indem ich mein Leben für das Ihrige aufs Spiel setze. Auf dem Gipfel angelangt, werden Sie mich für würdig halten, Ihr Freund, Ihr erster Minister zu werden, und gemeinsam werden wir dann so große Dinge tun, daß man Jahrhunderte lang von uns sprechen wird.«

»Sagen Sie mir, mein Herr, was ich jetzt bin und was ich nach Ihrer Meinung morgen sein werde,« sprach Prinz Philipp.

»Hoheit, Sie sind der Sohn Ludwigs XIII., der Bruder Ludwigs XIV., der natürliche, legitime Erbe des französischen Throns. Die Aerzte oder Gott allein könnten in diesem Punkte die Wahrheit ermitteln. Die Aerzte nun stimmen stets für den König, der gerade auf dem Thron sitzt; Gott aber ist unparteiisch und duldet nicht, daß ein rechtmäßig geborener Prinz Unrecht leidet; Sie haben göttliches Blut in sich, weil Ihre Verfolger bei aller Grausamkeit es nicht gewagt haben, dieses Blut zu vergießen, wie sie das Ihrer Diener vergossen haben. Und nun hat Gott, den Sie oft angeklagt haben, für Sie gehandelt. Erwägen Sie, was alles er für Sie getan hat: er gab Ihnen den Wuchs, das Antlitz, die Stimme, die Manieren Ihres Zwillingsbruders, und alle Ursachen Ihrer Verfolgung werden nun zur Grundlage Ihres Triumphes. Morgen, sobald der Tag anbricht, werden Sie sich auf den Thron Ludwigs XIV. setzen, während ihn der göttliche Wille durch mich, das göttliche Werkzeug, für immer vom Throne herabstürzen wird.«

»Ich meine, das Blut meines Bruders darf nicht vergossen werden,« sprach der Prinz. – »Sie allein werden über sein Schicksal zu entscheiden haben,« antwortete Aramis, »Sie werden das Geheimnis, mit dem man gegen Sie Mißbrauch getrieben hat, nun gegen ihn nützen, und Ihr Interesse wird es ebenso gebieterisch erheischen, ihn zu verbergen, wie man Sie verborgen hat. Er wird als Gefangener Ihnen ja doch ebenso gleichen, wie Sie ihm, als er noch König war, geglichen haben.« – »Ist das Geheimnis noch andern Personen bekannt?« fragte Philipp.

»Nur noch der Königin-Mutter und Frau von Chevreuse.« – »Was werden diese beiden tun?« – »Nichts, wenn Sie nur wollen. Denn wenn Sie handeln, daß man Sie nicht erkennen kann, so werden die beiden Sie nicht erkennen.« – »Das wohl, allein es gibt noch größere Schwierigkeiten. Mein Bruder ist verheiratet. Ich kann nicht die Frau meines Bruders nehmen.« – »Ich werde dafür sorgen, daß Spanien die Ehe zurückgehen läßt im Interesse der neuen Politik. Jeder derartige große Plan wächst sich aus, ergänzt sich von selbst. Der beiseitegeschaffte König wird übrigens die Kerkerhaft nicht lange ertragen, denn er ist nicht daran gewöhnt, wie Sie es waren. Ein Leben des Genusses hat seinen Leib verweichlicht – und die übergroßen Ehren, die fast göttliche Gewalt, die ihm bisher beschert gewesen, machen ihn ganz untauglich zu einem Dasein in Unglück und Nacht. Gott wird seine Seele bald zurücknehmen.«

Bei diesen düstern Worten des Jesuitengenerals stieß im Walde ein Nachtvogel einen unheimlichen Schrei aus; der Prinz erschrak und murmelte: »Ich werde den gestürzten König ins Ausland schicken; das wird menschlicher sein.« – »Sie werden diese Frage nach Ihrem Belieben entscheiden,« antwortete Aramis. »Und nun habe ich das Problem nach allen Seiten hin erschöpfend erörtert. Meinen Sie nicht auch?« – »Jawohl,« antwortete Philipp. »Nur zwei Punkte sind noch in Betracht zu ziehen. Erstens die Beweggründe, die Sie bei dem allem haben, zweitens die Gefahren, die wir laufen.«

»Reden wir von den Gefahren, Hoheit,« antwortete d’Herblay. »Gefahren sind gar keine da, sofern nur Sie mit Sündhaftigkeit und ohne Furcht in Ihre Rolle als König eintreten und die vollkommene Aehnlichkeit mit dem König, die die Natur Ihnen äußerlich verliehen hat, durch die nötige innere Majestät ergänzen. Darum ist mir aber gar nicht bange.« – »Mir auch nicht, Herr; allein Sie vergessen eine ganz besondere und schier unüberwindliche Gefahr: das Gewissen, das seine Stimme erhebt, die Gewissensbisse, die das Herz zerreißen. Haben Sie einen Bruder?«

»Ich bin allein auf der Welt,« antwortete Aramis trocken. »Doch, Königliche Hoheit, wenn Sie sich fürchten, sei es vor dem Pomp des Hofes, sei es vor den Kanonen der Festungen, sei es vor den Regungen des eigenen Gewissens, so kenne ich ein Ländchen, fern von aller Well, wo Sie ganz für sich leben können, unberührt von dem Treiben der Menschen, wo Sie alles das vergessen können, was ich Ihnen jetzt angeboten habe, wo die Versuchung nicht wieder an Sie herantreten wird. Ich will nicht, daß Sie sich, getrieben durch meinen Willen, meine Laune oder meinen Ehrgeiz, was es nun ist, blindlings in einen Abgrund stürzen. Jetzt sind Sie überreizt, geschwächt durch die Luft der Freiheit, die Sie seit einer Stunde ungehindert atmen. Soll ich glauben, daß Sie diese vollen, ungehinderten Atemzüge nicht fortsetzen wollen? Daß Sie sich ein niedriges Leben wünschen, für das Ihre Kräfte geeigneter sind? Dann würde ich Sie in jenes einsame kleine Ländchen führen, wo niemand Sie kennen und verfolgen wird, und Ihnen soviel Geld mit auf den Weg geben, daß Sie davon bis an Ihr Ende leben können, sorglos, frei und glücklich. Ich will Ihnen ein Gut schenken, mit Feld und Garten. Jagdgewehre, Hunde und Dienerschaft. Sie werden unabhängig sein. Gebieter in einem allerdings winzigen Eigentum im Vergleich zu dem Thron, den ich Ihnen auf der andern Seite angeboten habe. Wollen Sie es annehmen? Ich gebe es Ihnen gern, frohen Herzens. Von diesem Fleck aus kann der taubstumme Diener Sie in ununterbrochener Fahrt dorthin bringen. Ich werde mich begnügen mit der Gewißheit, meinem Fürsten den Dienst erwiesen zu haben, für den er sich selbst entschieden hat. Nun, Königliche Hoheit, entschließen Sie sich! Wählen Sie jenes Ländchen, so wagen Sie nichts – wählen Sie den Thron, so können Sie ermordet, ja im Gefängnis erdrosselt werden. Ich selbst, ich gestehe es offen, nachdem ich beide Wagschalen geprüft, würde Bedenken tragen.«

»Mein Herr,« antwortete der junge Prinz, »ehe ich mich endgültig entschließe, will ich mich zehn Minuten lang mit Gott beraten. Dann will ich Ihnen antworten.« – Aramis verneigte sich ehrerbietig und trat zurück. Der junge Mann entfernte sich mit unsicheren Schritten.

Es war am 15. August gegen elf Uhr abends. Dichte Wolken, die ein Unwetter verkündeten, hüllten den Himmel ein – kein Stern schien. Kaum konnte man die Baumwipfel zu Häupten erkennen, so schwarz war die Nacht. Ein lauer Wohlgeruch stieg von der Erde auf, frischen Odem hauchte das Laub der Bäume aus, und dies alles drang in der ringsum herrschenden Stille eindrucksvoll auf den jungen Mann ein, der zum ersten Mal in seinem Leben frei war. Er sah vor sich hin in die dichte Finsternis, die sein Auge nur auf wenige Schritte zu durchdringen vermochte. Er kreuzte die Arme auf der Brust und atmete mit Wonne die herbe Luft, die des Nachts durch die hohen Gewölbe des Waldes streift.

Der junge Prinz ließ die Seele zu Gott emporfliegen und um einen Lichtstrahl inmitten dieser Nacht flehen, aus der der Tag für ihn mit Leben oder Tod hervorgehen sollte. Es war ein furchtbarer Moment für Aramis; noch nie hatte er vor einer so schweren Entscheidung gestanden. Seine Seele war von Stahl. Mit den Hindernissen des Lebens hatte er immer nur gespielt und war nie besiegt worden. Sollte nun sein großes Unternehmen scheitern, weil er den Einfluß nicht vorausgesehen hatte, den ein paar Liter ozonreiche Waldluft auf den menschlichen Körper ausübten?

Die zehn Minuten, die der junge Mann sich zur Entscheidung ausbedungen, waren eine Ewigkeit für Aramis. Er bewegte sich nicht vom Platze, nur seine brennenden Augen folgten dem Prinzen, der langsam hin und her wandelte, stehenblieb und wieder weiterschritt.

Endlich kehrte der Blick des Prinzen vom Himmel zur Erde zurück. Seine Stirn zog sich in Falten, die Lippen preßten sich aufeinander, sein Auge leuchtete wild und begehrlich auf; er ergriff rasch und fest Aramis‘ Hand und rief: »Vorwärts! Ich will den Thron!« – »Ist das Ihr fester Entschluß?« – »Unwiderruflich!« antwortete Philipp. – »Sie werden ein großer König sein, Monseigneur, dafür bürge ich.« – »Wir wollen unser Gespräch an dem Punkte wieder aufnehmen,« sprach der Prinz, »wo wir es fallen ließen. Zwei Punkte nannte ich, die noch zu erörtern seien; den ersten, das Gewissen, haben wir abgetan, den zweiten, Ihre Beweggründe, fassen wir nun ins Auge. Erklären Sie sich, Herr d’Herblay! Welche Bedingungen stellen Sie mir? Sie werden mir nicht zumuten zu glauben, daß Sie ganz uneigennützig handelten. Teilen Sie nur ohne Furcht Ihre Gedanken mit!«

»Monseigneur, wenn Sie König sind –« – »Wann werde ich es sein?« – »Morgen abend – das heißt, im Laufe der Nacht.« – »Wie werde ich es werden? Erklären Sie mir erst das!« – »Wenn ich eine weitere Frage an Eure Königliche Hoheit gerichtet haben werde. Ich sandte Ihnen ein Heft mit sorgsam zusammengestellten Aufzeichnungen, aus denen Eure Hoheit von Grund aus alle Personen kennen lernen sollten, die Ihren Hof bilden werden.« – »Ich habe diese Notizen so aufmerksam durchgelesen, daß ich sie auswendig weiß. Ich glaube, Anna von Oesterreich, meine Mutter, vor mir zu sehen. Ich kenne Henriette von Stuart, ich kenne die Lavallière.« – »Vor ihr nehmen Sie sich in acht, Hoheit,« sagte Aramis, »die Augen einer liebenden Frau sind schwer zu täuschen.« – »Ich kenne Saint-Aignan und Fouquet – und Colbert, dessen Todfeind. Mit dem letzteren brauche ich mich nicht viel zu beschäftigen; er soll alsbald verbannt werden. Ich kenne meine Lektion gut, wie Sie sehen, und mit Gottes und Ihrer Hilfe werde ich keinen Fehler machen. Dann ist da noch der Kapitän der Musketiere, Herr d’Artagnan. Soll er auch verbannt werden?«

»Keineswegs, er ist mein Freund,« antwortete d’Herblay. »Zu gelegener Zeit werde ich ihm alles sagen. Einstweilen müssen wir vor ihm auf der Hut sein; denn wittert er etwas, so werden wir beide verhaftet und getötet.« – »Ich werde bedachtsam sein. Was soll mit Herrn Fouquet geschehen?« – »Er bleibt Ober-Intendant.« – »Soll er nicht erster Minister werden? Ein so unwissender König wie ich, wird einen haben müssen.« »Eure Majestät brauchen einen Freund.« – »Ich habe nur einen, und das sind Sie. Deshalb werden Sie mein erster Minister sein.« – »Nicht alsbald, Monseigneur, denn das würde Aufsehen erregen. Es ist besser, Eure Majestät machen mich erst zum Kardinal und dann zum Minister.«

»In zwei Monaten wird es geschehen,« antwortete Philipp. »Doch Sie würden mich betrüben, wenn das alles wäre, was Sie von mir zu verlangen haben.« – »Ich wage in der Tat auch noch mehr zu hoffen, Monseigneur,« sprach Aramis. »Der große Richelieu tat sehr unrecht daran, daß er sich anmaßte, Frankreich allein zu regieren. Er ließ auf diese Weise zwei Könige auf dem Throne sitzen, während er doch sehr gut einen Thron ganz für sich hätte haben können. Der Kardinal, der erster Minister in Frankreich gewesen ist und sich auf die Hilfe, auf die Fürsprache seines Königs stützen kann, braucht seinem Gebieter nicht den Thron streitig zu machen. Sie werden allein regieren können; Sie werden ein weiser, ein energischer König sein, und infolgedessen wird Ihr Einfluß in meiner Sache entscheidend sein. Ich habe Ihnen den Thron Frankreichs gegeben, Sie werden mir den Thron des heiligen Petrus geben. Und wenn dann Ihre edle, sanfte und doch starke Hand sich mit der Hand eines solchen Papstes vereint, dann wird weder Karl V., der zwei Drittel der Welt beherrschte, noch Karl der Große, der sie ganz beherrschte, an Ihre Macht heranreichen. Ich werde als Papst keine Vorurteile verfechten, keine Intrigen spinnen, keine Familienkriege anzetteln, keine Verfolgung von Ketzern befehlen; ich werde sprechen: Uns beiden die Welt: mir für die Seelen, Ihnen für die Leiber! – Was sagen Sie zu meinem Plane, Monseigneur?«

»Sie machen mich stolz und glücklich. Ja, Sie sollen Kardinal sein, dann erster Minister, und dann werden Sie mir angeben, was ich zu tun habe, um Ihre Wahl zum Papst zu sichern. Verlangen Sie Garantien?«

»Nein. Ich werde jederzeit zu Ihrem Vorteil handeln; wenn ich steige, wird auch Ihnen eine noch höhere Stufe bereitet sein. Ich werde mich Ihnen fern genug halten, um nicht Ihren Neid zu erwecken, und doch nahe genug, um Ihnen förderlich zu sein. Unsere Interessen sind wechselseitig.«

»Und mein Bruder wird verschwinden?« – »Auf die einfachste Weise. Wir holen ihn aus dem Bette, indem wir durch die Diele, die dem Druck des Fingers nachgibt, zu ihm hinabsteigen. Eingeschlafen unter einer Krone, wird er im Gefängnis erwachen.« – »Hier meine Hand, d’Herblay!« – »Erlauben Sie, daß ich vor Ihnen knie, Majestät! Umarmen werden wir uns an dem Tage, wo uns beiden die Stirn geschmückt ist, Ihnen mit der Krone, mir mit der Tiara.« – »Umarmen Sie mich heute schon!« rief Philipp, »und seien Sie für mich mehr als ein großer, erhabener Geist – seien Sie mein Vater!«

Als Aramis diese Worte hörte, hätte ihn beinahe die Rührung übermannt. Er glaubte in seinem Herzen eine bisher ungekannte Regung zu verspüren; doch es war ein flüchtiges Wallen, das ohne Spur vorüberging. – »Dein Vater,« dachte er, »ja, dein heiliger Vater!« – Und sie kehrten in den Wagen zurück und fuhren nach Schloß Vaux.

  1. Ad majorem dei gloriam (zum größern Ruhme Gottes): der Wahlspruch des Jesuitenordens.

3. Kapitel. In Schloß Vaux

Das große Fest, zu dem Fouquet den Hof nach Schloß Vaux geladen, und das ihm nach seiner Befürchtung den Untergang, nach Aramis‘ Zuversicht die Rettung bringen sollte, hatte mit der Ankunft Ludwigs XIV. begonnen. Fouquet, der an den Prophetismus d’Herblays nicht glaubte, war entschlossen, in Ludwigs Brust einen Neid zu erwecken, den er bis an sein Lebensende nicht überwinden sollte. Schon die Wege waren von Melun an aufs sorgsamste hergerichtet worden, und man hätte auf dieser ganzen Strecke nicht einen eigroßen Kieselstein gesunden. Da die Wagen wie auf einem Teppich fahren konnten, langten die Herren und Damen noch des Abends um acht Uhr an, ohne die geringste Erschütterung erlitten zu haben, ohne die mindeste Müdigkeit zu spüren.

Sie wurden von Herrn und Frau Fouquet empfangen, und kaum hatte der König den Fuß auf den Boden des Schloßgartens gesetzt, so flammten rings an den Bäumen, Sträuchern und Marmorgruppen Lichter auf, die alles ringsum tageshell erleuchteten. Dieser Zauber währte so lange, bis die Majestäten den Palast betreten hatten. Noch am selben Abend überraschte Fouquet den König durch eine Entfaltung von Glanz, die selbst diese trotz ihrer Jugend schon übersättigten Augen blendete. Der große Reigen von luxuriösen Vergnügungen, die geplant waren, und die durch den Staatsstreich des Herrn d’Herblay ein so jähes Ende nehmen sollten, wurde mit einigen Prachtnummern eröffnet, die allein schon Unsummen kosteten. Bei diesem Anblick wurde das erst fröhliche, offene und glückliche Gesicht Ludwigs XIV. traurig, finster, zornig. Er dachte an seinen eigenen Haushalt, welcher im Gegensatz zu dem hier dargestellten Pomp armselig genannt werden mußte. Man speiste auf Gold, das noch nie benützt worden war, das berühmte neue Meister ziseliert hatten. Man trank Weine, die der König nicht einmal dem Namen nach kannte, und trank sie aus Bechern, von denen jeder einzelne kostbarer war, als der ganze königliche Keller.

Der König speiste schweigsam. Anna von Oesterreich hatte sich vorgenommen, alles zu tadeln, und handelte danach, Maria-Theresia, gutmütig und neugierig, interessierte sich für alles und machte kein Hehl aus ihrem Entzücken. Sie erkundigte sich nach gewissen Früchten, die aus Fouquets Treibhäusern waren, und wollte wissen, wie sie genannt würden. Fouquet antwortete, er wisse die Namen selber nicht. Ludwig merkte, daß er nur aus Taktgefühl so sprach, und fühlte sich um so mehr gedemütigt. Er ärgerte sich darüber, daß die Königin zu freundlich und die Königin-Mutter zu abweisend war. Er richtete seine ganze Sorgfalt darauf, die richtige Mitte in seinem Wesen innezuhalten.

Allein Fouquet hatte das alles vorausgesehen, denn er war ein Mann von großem Scharfblick. Der König hatte erklärt, auf Schloß Vaux sollten die Mahlzeiten nicht der Hofetikette unterworfen sein. Er wollte inmitten der andern sitzen. Doch der Ober-Intendant gab ihm einen abgesonderten Platz, im Zentrum der allgemeinen Tafel. Dieses wunderbar zusammengestellte Diner enthielt alle Lieblingsgerichte Ludwigs, und zwar in einer Zubereitung, die über alles Lob erhaben war. Der König hatte keinen Grund, ungehalten zu sein, und da er für den stärksten Esser seines Reiches galt, so konnte er auch nicht Mangel an Appetit vorschützen.

Fouquet tat noch mehr. Er setzte sich zunächst mit an die Tafel, doch als die Suppe verzehrt war, stand er auf und begann selbst den König zu bedienen, gleichzeitig erhob sich Frau Fouquet und bediente die Königin-Mutter. Ludwig konnte nicht anders als laut erklären: »Herr Fouquet, ein besseres Mahl anzurichten, ist nicht mehr menschenmöglich.« – Nun bekannte der gesamte Hof seinen Beifall, und zwar so ungeheuchelt, daß der König abermals zu schmollen begann und, als sein Hunger gestillt war, sich ernstlich schlechter Laune fühlte. Als das Festessen zu Ende war, begab er sich in den Park, der feenhaft erleuchtet war, ganz zu schweigen von dem Monde, der, als fügte er sich den Anordnungen des Schloßherrn von Vaux, die Teiche mit seinem Phosphorlicht versilberte. Es herrschte eine angenehme Kühle, und die Wege waren mit weichem Sande bestreut, welcher den Füßen wohltat.

D’Artagnan hatte an diesem Abend seine klugen Gaskogner-Augen offen gehalten und vieles bemerkt, was ihm nicht sehr geheuer vorkam. Er wollte Aramis befragen und lief so lange herum, bis er ihn traf. Er fand ihn in einem schönen Zimmer, welches man das blaue nannte, seiner Vorhänge wegen, und das d’Herblay mit Porthos teilte. Der Herr Baron saß in einem Lehnstuhl und erquickte sich, da er sehr viel gegessen hatte, durch ein Schläfchen. D’Herblay und d’Artagnan brauchen sich also an die Anwesenheit dieses Dritten nicht zu kehren.

Der Musketier fühlte, daß er das Gespräch eröffnen müsse, und begann denn auch mit den tiefsinnigen Worten: »So sind wir denn nun in Vaux.« – »Ja, in Vaux,« antwortete Aramis, »gefällt es Ihnen hier?« – »Sehr, und ich mag auch Herrn Fouquet sehr gern.« – »Nicht wahr, er ist prächtig.« – »Es läßt sich nichts dagegen sagen, nur scheint Seine Majestät anderer Meinung zu sein.« – »Ich habe nicht darauf geachtet, weil ich mich in Gedanken mit dem Programm des morgigen Tages beschäftigt habe.« – »Ah, Sie sind wohl hier sozusagen Festordner? Wissen Sie, Aramis, es war schon heute alles so großartig, daß mir während des Soupers ein seltsamer Gedanke gekommen ist.« – »Und der wäre?« – »Ich habe bei mir gedacht,« sprach der Kapitän der Musketiere, »der wahre König von Frankreich sei gar nicht Ludwig XIV.« – »Hm!« murmelte Aramis und öffnete unwillkürlich die Augen um einen Spalt weiter. – »Nicht Ludwig XIV.,« fuhr der Gaskogner fort, »sondern Herr Fouquet.« – »Diese Redensart stammt doch sicherlich von Herrn Colbert,« sagte Aramis lächelnd. »Ein erbärmlicher Kerl, dieser Colbert! Und wenn man bedenkt, daß er in vier Wochen Ihr Minister sein wird –«

»Wie Fouquet der Ihrige,« warf d’Artagnan ein. – »Mit dem Unterschied,« sagte Aramis, »daß Fouquet ein ganz anderer Mann ist.«

»Wenn Herr Fouquet in vier Wochen schon zugrunde gerichtet sein wird,« sagte der Gaskogner, »warum gibt er dann noch Festlichkeiten? Weshalb haben Sie ihm nicht davon abgeraten?« – »Es handelt sich darum, sich den König gewogen zu halten.« – »Indem man sich für ihn zugrunde richtet?« meinte d’Artagnan. »Eine eigentümliche Spekulation. Und ich bin kein Freund von unnützen Narrheiten. Aramis, warum sind die Zimmer im Schloß sogar frisch gedielt worden, von den neuen Tapeten ganz zu schweigen?« – »Ich sagte das Herrn Fouquet auch, aber er antwortete mir, er sei reich genug, dem König ein ganz neues Schloß aufzubauen und es, nachdem der König darin geweilt, mit allem, was es enthalte, verbrennen zu lassen, damit die Gegenstände später von niemand anders benutzt würden.« – »Das ist rein spanisch,« meinte d’Artagnan. »Uebrigens können Sie das jedem andern erzählen, nur mir nicht. Sagen Sie mir doch ruhig die Wahrheit!«

»Freund, schon wieder argwöhnisch?« – »Sie wissen, ich habe instinktartige Eingebungen,« antwortete der Chevalier. »Früher glaubten Sie daran. Und hier scheint es mir, als wenn Sie mit einem geheimen Projekt umgingen.« – »Daß ich nicht wüßte,« erwiderte Aramis ruhig. »Wenn ich mit einem Projekt umgehe, das ich verschweigen muß, so werde ich schweigen – wenn es eins wäre, das ich Ihnen mitteilen könnte, so wüßten Sie es längst.« – »Aramis, es gibt Projekte, die man erst im günstigen Moment kundgibt.« – »Nun, dieser günstige Moment ist eben noch nicht gekommen.« sagte Aramis lächelnd.

D’Artagnan schüttelte den Kopf. »Freundschaft, Freundschaft!« murmelte er. »Ein eitler Begriff. Und das ist ein Mann, der sich für mich, wenn ich es verlangte, in Stücke hauen lassen würde.« – »Das ist wahr,« sprach Aramis edel. – »Und derselbe Mann, der das Blut all seiner Adern für mich hingeben würde, öffnet mir nicht einmal einen kleinen Winkel seines Herzens. Freundschaft, du bist nur ein leerer Wahn.« – »Reden Sie doch nicht so von unserer Freundschaft, d’Artagnan!« rief d’Herblay.

»Aramis,« versetzte der Kapitän, »ich will Ihnen etwas sagen. Gegen Colbert zu komplottieren, das wäre Ihnen zu gering. Hinter dem allen steckt also mehr, das steht für mich fest. Ob Sie nun reden oder schweigen wollen, so erkläre ich Ihnen mit aller Bestimmtheit, wir sind die besten Freunde, wir sind sogar Brüder, aber wenn Sie etwas gegen den König ins Werk setzen wollen, so kann ich Ihnen nicht helfen. Aber eins kann ich tun, Aramis, ich kann neutral bleiben, ja, ich kann versuchen, Sie zu retten.« – »Sie phantasieren, Freund,« erwiderte Aramis. »Was soll man einem legitimen König anhaben? Und dann sind Sie ja mit den Musketieren da. Nein, d’Artagnan, wenn es meine Absicht wäre, den Sohn Annas von Oesterreich, den wahren König von Frankreich, auch nur mit einem Finger anzurühren, wenn ich nicht willens wäre, mich vor seinem Throne niederzuwerfen und den morgigen Tag auf Schloß Vaux zum glorreichsten von allen Tagen meines Königs zu machen – dann möge mich der Blitz zermalmen!«

Er sprach diese Worte in seltsamer Betonung mit gegen die Wand gekehrtem Gesicht. Indessen stellten sie den Musketier zufrieden, er faßte d’Herblays Hand und drückte sie herzlich. – »Gehen Sie fort?« fragte Aramis. »Dann nehmen Sie Porthos mit.« – »Wohnt er nicht bei Ihnen?« – »Gott bewahre! er hat sein eigenes Zimmer. Das wäre schön, wenn er hier schliefe, denn unter mir wohnt der König, und Porthos schnarcht wie eine Kanone.« – Der Kapitän weckte den Riesen und ging Arm in Arm mit ihm hinaus. Aramis und Porthos getrennt zu wissen, benahm ihm die letzte Spur von Argwohn.

Sobald sie gegangen, trat Aramis zur Wand und drückte auf eine Feder; die Tapete öffnete sich und zeigte einen kleinen Raum, aus dem Philipp, der ehemalige Gefangene der Bastille, hervortrat. – »Herr d’Artagnan hat Verdacht geschöpft,« murmelte er. – »Haben Sie ihn erkannt?« fragte Aramis. »Ja, das war der Kapitän Ihrer Musketiere.« – »Er ist mir sehr ergeben.« – »Wie ein Hund, der manchmal beißt,« antwortete d’Herblay. »Wenn d’Artagnan Sie nicht erkennt, ehe der andere beiseitegeschafft worden ist, dann können Sie auf Ihren Kapitän zählen in alle Ewigkeit. Wenn er nichts gesehen hat, bleibt er treu, und hat er zu spät etwas gemerkt, so ist er Gaskogner und gibt nie zu, daß er sich hinters Licht führen ließ. Doch sehen Sie jetzt hierher!« fuhr Aramis fort und schob ein fensterbreites Stück der Diele zur Seite. Darauf kam eine Oeffnung zum Vorschein, durch die man wie durch einen Schleier in das untere Zimmer blicken konnte.

Philipp sah hinab und zuckte zusammen. »Der König!« flüsterte er. – »Ja, und geben Sie acht, was er tun wird.« – »Colbert ist bei ihm,« sagte Philipp. »Ich erkenne den Mann mit den dicken Brauen und dem unförmigen Schädel. Sie haben Ihre Porträts trefflich gezeichnet, Herr d’Herblay.« – Aramis nickte. »Sie sahen nun, wie Ludwig XIV. den Intendanten mit außergewöhnlicher Huld empfing. – »Colbert,« sprach er, »Sie haben heute alles mögliche getan, um mir die Laune zu verderben.« – »Ich weiß, Sire,« sprach Colbert. – »Sehr gut, die Antwort gefällt mir. Sie haben Mut gezeigt. Nun denn, waren Sie meinetwegen besorgt?« – »Und wäre es nur ein verdorbener Magen, Sire,« antwortete Colbert, »man gibt solche Feste nur, um den König unter der Last schwerer Speisen zu ersticken.«

»Woher nimmt er das Geld, um die ungeheuern Auslagen zu bestreiten?« sagte der König. »Wissen Sie das vielleicht?« – »Ja, ich weiß es, Sire.« – »So erklären Sie es mir.« – »Sire, die Lebenden sehen Herrn Fouquets Reichtum und klatschen Beifall, aber die Toten, die weiser sind als wir, kennen die Quelle dieses Reichtums und klagen an.«

»Sie müssen vertrauensvoller mit mir sprechen, Colbert,« sagte Ludwig XIV., »fürchten Sie nichts, wir sind allein.« – »Ich fürchte nie etwas, Sire, wenn ich mich im Schutze meines Gewissens und meines König weiß.« – »Nun also,« unterbrach Ludwig ihn. »Wenn die Toten reden könnten–?« – »Sie können bisweilen doch reden,« sagte Colbert. »Hier, lesen Sie, Sire!« Und er legte ihm einen jener Briefe Mazarins vor, die Frau von Chevreuse ihm verkauft hatte.

»Ich verstehe das noch nicht ganz,« murmelte der König, als er gelesen hatte. »Es handelt sich da um Geld, das man Herrn Fouquet gegeben. Um dreizehn Millionen. Fehlt dieser Betrag etwa in der Gesamt-Abrechnung?« – »Das ist nachgewiesen,« antwortete Colbert. »Aus diesem Briefe geht deutlich hervor, daß Herr Fouquet diese dreizehn Millionen für sich genommen hat. Mit einem solchen Betrage kann man schon Feste geben.«

»Colbert, das wäre ja eine Unterschlagung,« murmelte Ludwig XIV. »Und wenn ich nicht Gast des Herrn Fouquet wäre –« – »Eure Majestät sind überall zu Hause,« erwiderte Colbert, »und zumal in Häusern, die man von Ihrem Gelde erbaut hat.«

»Mich dünkt,« flüsterte Philipp oben Aramis zu, »der Mann, der dieses Haus errichtete, hätte die Decke dieses Zimmers beweglich machen sollen, damit man sie jetzt auf den Kopf dieses schwarzen Schurken herabfallen lassen könnte!« – »Mein Prinz, horchen Sie weiter,« antwortete d’Herblay. – »Wir werden nicht mehr lange zu horchen haben,« sagte Philipp. – »Wie das, Hoheit?« fragte der Bischof. – »Weil ich nichts mehr zu antworten hätte, wenn ich König wäre,« antwortete der Prinz. – »Und was würden Sie tun?« – »Bis morgen warten, um nachzudenken.«

Ludwig XIV. erhob sich in demselben Augenblick und sprach: »Colbert, es ist spät, ich will zu Bett gehen. Morgen werde ich Ihnen meinen Entschluß bekanntgeben.« – Colbert schritt rückwärts der Tür zu. Der König rief seine Diener und ließ sich entkleiden. Philipp wollte seinen Beobachtungsposten verlassen, doch Aramis sprach: »Ein Weilchen noch! Das ist auch sehr lehrreich. Sie lernen dabei den Nachtdienst, die Etikette des Schlafengehens kennen, und morgen müssen Sie ganz genau wissen, wie ein König sich zu Bett legt.«

Der neue Tag brachte neue Mannigfaltigkeit an Prunk und Freuden. Fouquet zeigte sich als Mäcen inmitten einer großen Zahl von Künstlern; da sah man Lafontaine, den berühmten Fabeldichter, Molière, den Schauspieler und Verfasser beliebter Komödien, Lebrun, den ausgezeichneten Maler, dazu Gelehrte aller Fächer. Alle Wunder von Tausendundeiner Nacht schienen sich in den Gärten von Vaux zu entfalten; eine orientalische Märchenwelt war nach Frankreich verpflanzt worden und blendete mit noch nie gesehenen Veranstaltungen, mit fast unerklärlichen Zauberspielen die Augen der Zuschauer. Aber je größer die Pracht war, um so größer wurde Ludwigs Neid. Man sah den König nicht ein einziges Mal lächeln, und alle, die ihn kannten, flüsterten sich zu, es drohe ein Unwetter. Colbert, der wohl von allen Höflingen den schärfsten Blick hatte, erkannte zu seiner Befriedigung, daß der König sich mit einem finstern Entschluß trug.

Der Abend kam heran; der König wünschte erst nach dem Spiel spazieren zu gehen. Es wurde also zwischen dem Souper und der Promenade »gejeut«. Ludwig gewann tausend Pistolen, steckte sie in die Tasche und rief: »Auf in den Park, meine Herren!« – Aber Fouquet hatte es verstanden, 10 000 Pistolen zu verlieren, und zwar so, daß einem jeden der Höflinge ein Teil der Summe zufiel. Man gehorchte daher nur zögernd der Aufforderung des Königs, die Spieltische zu verlassen. Das reizte den erlauchten Gast nur noch mehr gegen seinen Wirt auf. Er sah die Gesichter der Herren und Damen strahlen und wußte, daß er selbst mit gar saurer Miene unter ihnen stand.

An der Ecke einer Allee wartete Colbert auf ihn. Ohne Zweifel kam der Intendant auf grund eines geheimen Einverständnisses dorthin; denn bisher war Ludwig ihm aus dem Wege gegangen; jetzt aber gab er ihm einen Wink, und Colbert trat herzu. Beide schritten tiefer in den Park hinein.

Aber auch Luise von Lavallière hatte den finstern Blick, die flammende Stirn des Königs bemerkt, und da ihr liebendes Auge alle Regungen dieser Seele zu erspähen vermochte, so ahnte sie, daß von seinem Zorne jemand Gefahr drohe. Sie stellte sich als Engel des Erbarmens auf den Weg der Rache.

Colbert blieb bei ihrem Anblick stehen und ließ sie allein mit dem König. – »Fräulein,« sprach Ludwig, erfreut, sie zu sehen, »Sie scheinen traurig zu sein. Ihr Auge ist feucht, Ihre Brust atmet beklommen.« – »O, Sire, es ist, weil ich Sie traurig sehe.« – »Sie irren sich, Fräulein, ich bin nicht betrübt. Ich fühle mich nur niedergedrückt, ja, um es beim rechten Namen zu nennen, gedemütigt.« – »Was sagen Sie da, Majestät?« – »Ich meine damit, wo ich bin, sollte kein anderer Herr sein. Hier aber bin nicht ich König, sondern Fouquet, und wenn ich bedenke, daß er all den Glanz, den er entfaltet, nur einem Diebstahl verdankt, einem an mir begangenen Diebstahl –!«

»O, Majestät!« rief die Lavallière. – »Wollen Sie etwa Herrn Fouquet verteidigen?« unterbrach Ludwig sie.

»Keineswegs, Sire,« antwortete Luise. »Ich frage nur, ob Sie recht berichtet sind. Majestät haben schon öfter erfahren, welchen Wert bei Hofe die Beschuldigungen haben.« – »Colbert!« rief der junge Fürst, »sprechen Sie! Fräulein von Lavallière bedarf Ihrer Bestätigung, um an das Wort ihres Königs zu glauben. Sagen Sie dem Fräulein, was Herr Fouquet verbrochen hat. O, es ist rasch gesagt, Fräulein, hören Sie bitte ruhig zu.«

Warum drang Ludwig darauf? Weil sein eignes Herz nicht ruhig war, weil er noch nicht völlig von Fouquets Schuld überzeugt war. Er witterte unter dieser Geschichte von den dreizehn Millionen tückische Anschläge und wollte das reine Gemüt der Lavallière zum Schiedsrichter aufrufen. Sie sollte, empört über diesen Diebstahl, durch ein einziges Wort den schwankenden König in seinem Vorhaben bekräftigen.

»O, sprechen Sie, Herr,« sagte die Lavallière zu Colbert, »was für ein Verbrechen hat Herr Fouquet begangen?« – »O, nur eine kleine Unterschlagung, mein Fräulein,« antwortete der Intendant. – »Erklären Sie es, Colbert,« sprach Ludwig, »und wenn Sie fertig sind, so schicken Sie mir Herrn d’Artagnan her.« – »O, warum ihn, Sire? Ich bitte, mir das zu sagen!« rief Luise. – »Nun, um diesen stolzen Schloßherrn zu verhaften, der mir die Macht zu entreißen versucht.« – »Herrn Fouquet verhaften?« erwiderte die Lavallière. »Hier, wo Sie sein Gast sind?« – »Warum nicht? Wenn er schuldig ist! Er ist es hier so gut wie anderswo.’«

»Er richtet sich in diesem Moment zugrunde, um seinen König zu ehren,« sagte die Lavallière. – »Ich glaube wirklich, Fräulein, Sie nehmen Partei für diesen Verräter,« rief der König. – »Nein, Sire, wenn ich so spreche, geschieht es nur in Ihrem Interesse; denn Sie entehren sich, wenn Sie einen solchen Befehl geben.« – »Ich entehre mich?« murmelte der König ungehalten. »In der Tat, Fräulein, Sie entwickeln da einen höchst sonderbaren Eifer.« – »Das tue ich stets, wenn ich Ihnen dienen kann, Sire,« erwiderte Luise. »Und mit dem gleichen Eifer würde ich, wenn es nötig wäre, mein Leben für Sie hingeben.«

Colbert wollte etwas sagen, da wendete dieses sanfte Lamm sich wider ihn und gebot ihm flammenden Auges Schweigen. »Mein Herr!« rief sie, »wenn der König unbewußt unrecht tut, so liebe ich ihn zu sehr, als daß ich es ihn tun ließe, ohne ihn darauf aufmerksam zu machen.« – »Fräulein,« entgegnete Colbert, »ich glaube, ich liebe den König ebenfalls.« – »Wir lieben ihn beide, jeder nach seiner Art,« sprach Luise in einem Tone, der dem jungen König zu Herzen ging. »Nur liebe ich ihn so innig, daß es alle Welt weiß und er selbst nicht daran zweifelt. Er ist mein König und mein Herr, und ich bin seine ergebene Dienerin. Aber wer an seine Ehre greift, der greift mir ans Leben. Und deshalb wiederhole ich, wer dem König den Rat gibt, Fouquet in dessen Hause verhaften zu lassen, der entehrt den König!«

»Fräulein,« versetzte Colbert, »ich habe nur ein Wort zu sagen.« – »Sparen Sie es sich! Ich würde Sie doch nicht anhören. Was könnten Sie mir sagen? Daß Herr Fouquet ein Verbrechen begangen? Das weiß ich, weil der König es gesagt hat; und von dem Moment an, wo der König es sagt, glaube ich es, niemand braucht es zu bestätigen oder zu beweisen. Aber wäre Herr Fouquet auch der ärgste Schurke, so würde ich dennoch erklären, er ist für den König unverletzlich, weil der König sein Gast ist!«

Die Lavallière schwieg. Wider Willen mußte der König sie bewundern. Die Wärme ihrer Sprache, der Adel ihrer Gründe überzeugten ihn. Colbert gab den ungleichen Kampf auf. Ludwig schüttelte den Kopf. »Ah, Fräulein, weshalb sprechen Sie gegen mich?« rief er traurig. »Sie wissen nicht, was dieser Elende tun würde, wenn ich ihn nicht im Zaume hielte!« – »Mein Gott, ist er nicht eine Beute, die Ihnen jederzeit anheimfallen muß?« – »Aber wenn er entflieht?« – »Majestät, es wäre ein ewiger Ruhm für den König, Herrn Fouquet entfliehen zu lassen, und je größer seine Schuld wäre, desto größer würde der Ruhm des Königs sein!«

Ludwig küßte der Lavallière die Hand und ließ sich zu ihren Knien nieder. Colbert glaubte sich verloren, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Rasch zog er sein Notizbuch, und während Ludwig XIV., verdeckt von einer breiten Linde, die Lavallière liebevoll an sich drückte, zog Colbert ein schon etwas vergilbtes Briefchen hervor, betrachtete es lächelnd und näherte sich dem Paare.

Gleichzeitig kamen in einiger Entfernung mehrere Fackeln zum Vorschein. »Geh, Luise,« sprach der König, »man kommt.« – Luise verschwand schnell unter den Bäumen. Als Ludwig XIV. gehen wollte, sagte Colbert bescheiden: »Fräulein von Lavallière hat etwas verloren.« – »Was denn?« fragte der König. – »Einen Brief, wie mich dünkt,« sagte Colbert und deutete auf etwas Weißes, das am Boden lag. Der König bückte sich und hob das Papier auf. Fackeln erschienen und beleuchteten tageshell die finstere Allee.

Ein Lichtmeer umflutete die Gruppe von Damen und Herren, die herbeikam, in ihrer Mitte Fouquet selbst. Man suchte den König, um ihm das Feuerwerk zu zeigen, das auf dem großen Platze vor dem Schlosse gen Himmel stieg. Und beim Scheine dieses Feuers las nun Ludwig jenen Brief, den Fouquet vor einiger Zeit auf d’Herblays Rat an Fräulein von Lavallière geschrieben, in dem er ihr die Liebe erklärte. Fouquet hatte den Brief zurückholen wollen, von Fräulein von Lavallière aber erfahren, daß sie ihn gar nicht erhalten habe. Der Diener, den er mit der Besorgung beauftragt, machte sich anheischig, das Schreiben wieder zur Stelle zu schaffen, ging fort und kam nicht wieder. Er war seither verschwunden, und der Ober-Intendant hatte im Drange der Geschäfte die Angelegenheit vergessen. Colbert, der listige Minierer, war in den Besitz des an sich unbedeutenden Briefchens gelangt, das er nun zu einer wertvollen, ja vernichtenden Waffe umzuwandeln verstand.

Ludwig XIV. erbleichte beim Lesen; sein Gesicht, von dem Schein des Feuers beleuchtet, erschreckte alle, die es sahen, so offenbar war das wilde Spiel der Leidenschaften, die in seinem Herzen tobten. Eifersucht und Wut waren die furchtbaren Dämonen, die den König beherrschten, und von dem Augenblick, wo er erkannte, weshalb Fouquet in der Lavallière eine Fürsprecherin gefunden, verschwand alles: Mitleid, Sanftmut und Ehrfurcht vor der Gastfreundschaft. Nur mit größter Mühe bezwang er sich soweit, daß er nicht laut aufschrie und ohne weiteres seine Musketiere herbeirief. Fouquet sah den König erbleichen, doch konnte er sich nicht die Ursache dieser Mißstimmung erklären; Colbert wußte, welche Bewandtnis es hatte, und frohlockte.

»Majestät, was haben Sie?« fragte Fouquet ehrerbietig. – »Nichts,« antwortete Ludwig schroff, und ohne das Ende des Feuerwerks abzuwarten, begab er sich ins Schloß. Alle folgten ihm nach. Die letzten Raketen verpufften ungesehen.

Der Ober-Intendant glaubte, es habe zwischen dem König und Fräulein von Lavallière eine kleine Meinungsverschiedenheit gegeben, und diese Erklärung befriedigte ihn. Er trat lächelnd vor den König hin, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Es war großer Dienst an diesem Abend; denn es war der letzte, den der Hof in Schloß Vaux verbringen sollte. Am folgenden Morgen gedachte der König die Rückreise anzutreten. Da mußte man doch dem freigebigen Wirt Dank erzeigen für die zwölf Millionen, die er für das Fest ausgegeben hatte. Der König entließ den Ober-Intendanten mit den Worten: »Sie werden von mir hören, Herr Fouquet. Einstweilen schicken Sie mir bitte Herrn d’Artagnan her.«

Ludwig XIV. vermochte sich schlecht zu verstellen, wenn das Blut ungestüm in seinen Adern wallte. Am liebsten hätte er Fouquet erwürgt, wie sein Vorgänger den Marschall d’Ancre ermorden ließ. Er verbarg jedoch seinen furchtbaren Entschluß unter einem königlichen Lächeln. Fouquet nahm des Königs Hand und küßte sie. Ludwig bebte am ganzen Körper, doch ließ er es zu, daß die Lippen des Ministers seine Hand berührten.

Fünf Minuten später trat d’Artagnan in Ludwigs Zimmer. Im oberen Gemache standen Aramis und Philipp wieder auf dem Posten. Der König ließ dem Kapitän nicht einmal Zeit, bis zu seinem Lehnstuhl vorzutreten. – »Wieviel Mann haben Sie mit?« rief er ihm zu. – »Was gibt es zu tun?« antwortete d’Artagnan.– »Wieviel Mann Sie hier haben, frage ich,« versetzte der König, mit dem Fuße stampfend. – »Die Musketiere, die Garden und dreizehn Schweizer.« – »Wieviel Leute braucht man, um –« – »Um?« fragte der Kapitän und sah den König mit seinen großen, ruhigen Augen an. – »Um Herrn Fouquet zu verhaften?«

D’Artagnan trat einen Schritt zurück und rief: »Herr Fouquet soll verhaftet werden?« – »Sagen Sie etwa auch, es sei unmöglich?« schrie Ludwig in wildem Zorne. – »Ich nenne nichts unmöglich,« antwortete d’Artagnan verletzt. – »Nun, so tun Sie es.« – »Ich bitte um einen schriftlichen Befehl.« – »Seit wann genügt Ihnen das Wort des Königs nicht mehr?« – »Weil das königliche Wort, sobald es vom Zorn diktiert wird, sich verändern kann, wenn der Zorn schwindet,« erwiderte der Musketier ruhig. »Sire, Sie lassen da einen Mann verhaften, während Sie noch sein Gast sind, das tut nur der Zorn. Wenn Sie nicht mehr im Zorn sind, will ich Ihnen dann Ihre eigne Unterschrift zeigen können. Donnerwetter, Sire! Der Mann richtet sich zugrunde, um Ihnen zu gefallen, und Sie lassen ihn verhaften. Wenn ich Fouquet wäre, würde ich mit Brandraketen mich und alles im Schlosse in die Luft sprengen. Aber ja doch, es gilt mir gleich – hier habe ich meinen Befehl, und so gehe ich denn.«

»Ja! Gehen Sie! Kein Wort weiter! Und nehmen Sie genug Leute mit!« – »Glauben Sie denn, ich würde einen ganzen Zug Reiter mitnehmen? Herrn Fouquet zu verhaften, ist so leicht, daß ein Kind es tun könnte. Herrn Fouquet zu verhaften, ist nicht schwerer, als ein Glas Wermut zu trinken. Man macht eine saure Miene, das ist alles.« – »Wieso? Er wird sich zur Wehr setzen!« rief der König. – »Er denkt so wenig daran, daß er seine letzte Million dafür hingeben würde, ein solches Ende zu finden! Sich zur Wehr setzen, wo eine solche Behandlung von seiten des Königs ihn zum größten Märtyrer seiner Zeit macht? Doch genug, ich gehe zu ihm.«

»Es soll nicht öffentlich geschehen,« sagte Ludwig. – »Das ist schon schwieriger,« antwortete d’Artagnan. »Denn das einfachste wäre natürlich, hinzugehen und mitten unter seine Bewunderer zu treten mit dem Rufe: Ich verhafte Sie im Namen des Königs! Allein ihn zu bewachen als Gefangenen, so daß niemand etwas davon merkt, das ist eine heikle Sache, zu der hundertmal geschicktere Leute gehören –« – »Mein Gott, sagen Sie bloß noch, es sei unmöglich!« rief Ludwig. »Werde ich denn immer von Leuten umgeben sein, die mich hindern zu tun, was ich will?« – »Ich hindere Sie in nichts, Sire.« – »So bewachen Sie mir Herrn Fouquet, bis ich morgen einen Entschluß gefaßt habe.« – »Das wird geschehen, Sire.« – »Und finden Sie sich morgen zum Lever ein, um meine Befehle entgegenzunehmen.« – »Ich werde zur Stelle sein.« – »Und jetzt lasse man mich allein!«

»Befehlen Sie nicht Herrn Colbert?« fragte d’Artagnan mit unnachahmlicher Ironie. – Der König fuhr zusammen. – »Nein,« rief er. »Ich will niemand sehen. Gehen Sie!« – Er schloß hinter dem Kapitän die Türe selber zu und schritt wütend auf und nieder, wie ein verwundeter Stier. Endlich riß er auf der Brust das Gewand auseinander und rief: »Ah, du Elender! Du raubst mir nicht bloß mein Geld, sondern bestichst damit auch Staatsmänner, Künstler, Dichter und Gelehrte, daß sie dir den Hof machen! Und nicht genug damit! auch mein Liebstes wolltest du mir stehlen! Ha, darum hat die Treulose ihn in Schutz genommen! Es geschah aus Dankbarkeit – wer weiß? vielleicht gar aus Liebe!« – Er knirschte vor Grimm. – »Er greift mit seinen goldenen Händen in alles hinein. Er besudelt mir alles. Er wird mich noch töten. Er ist zu mächtig, zu hoch – er ist mein Todfeind – er muß fallen – ich hasse ihn – ich hasse ihn – ich hasse ihn!«

Mit diesen Worten schlug er auf die Lehne des Stuhls, in den er schlaff hineinsank. – »Morgen!« murmelte er. »Morgen wird niemand anders als ich mit der Sonne wetteifern. Dieser Mann soll so tief fallen, daß man an den Trümmern, die sein Sturz hinterläßt, erkennen soll, daß ich doch noch mächtiger bin, als er je gewesen.« – Er warf mit einem Faustschlag einen Tisch um, der an seinem Bette stand, und warf sich keuchend und vor Wut schäumend angezogen, wie er war, in die Kissen von Seide.

4. Kapitel. Vom Thron in die Bastille

Nach einer Viertelstunde wurde der König ruhig. Sein Kopf versank tief in den kostbaren Spitzen des Pfühls, seine Arme sanken schlaff hernieder, aus seiner Brust stiegen, kaum noch vernehmlich, die letzten Seufzer seines Grimms; dann schloß er die Augen und schlief ein. Er hatte einen an abwechslungsvollen Vergnügungen reichen Tag hinter sich, und all die Szenen, die er erschaut, zogen jetzt vor seinem träumenden Gemüt vorüber und vermischten sich zu einem tollen, phantastischen Tanze. Inmitten dieser verworrenen Visionen zeigte sich plötzlich die Gestalt eines Mannes, der vom Himmel herabzuschweben schien. Er legte die Hand aus den Mund und neigte sich über das Bett. Und diese Traumgestalt glich ihm selbst so völlig, daß er sein eigenes Bild zu sehen vermeinte. Dann war es, als wenn der Fußboden sich bewegte, das Bett geriet in eine schaukelnde Bewegung und begann zu versinken. Eine kalte, feuchte Luft war um ihn her; an Stelle der golddurchwirkten Tapeten, der brokatnen Vorhänge, zeigten sich jetzt graue, triefende Mauern. Es wurde immer finsterer, und mit einem Male hörte die Bewegung auf.

»Das ist ein schrecklicher Traum,« murmelte Ludwig XIV. »Aber es ist doch nur ein Traum.« – »So erwachen Sie!« sprach eine finstere Stimme, bei deren Klang Ludwig heftig erschrak und erkannte, daß er die Augen schon auf hatte. Rechts und links von sich sah er zwei vermummte Männer, bewaffnet und in weite Mäntel gehüllt. Einer trug eine Blendlaterne, deren rötlicher Schein unheimlich an den finstern Mauern auf und nieder zuckte.

Der König sprang von dem Bett auf und richtete sich vor dem Manne empor, der die Lampe hielt. »Was bedeutet dieses Possenspiel?« rief er. – »Es ist kein Possenspiel« antwortete der Maskierte in dumpfem Tone. – Der König wendete sich an den andern Mann und sprach: »Wenn das eine der Überraschungen des Herrn Fouquet ist, so sagen Sie ihm, ich finde sie ungeziemend und wünsche sie nicht fortgesetzt zu sehen.« – Der zweite Mann, von hünenhaftem Wuchs und gewaltigem Umfange, antwortete gar nichts. – »Nochmals, was wollen Sie mit mir machen?« rief der König außer sich. »Wo bin ich hier?« – »Sehen Sie sich um,« antwortete der Mann, der die Lampe trug. – Aber Ludwig sah noch immer nur feuchte Mauern, auf denen hier und da die silbernen Schleimspuren von Schnecken glitzerten.

»Ein Kerker!« murmelte Ludwig. – »Nein, nur ein unterirdischer Raum,« antwortete der Mann. »Folgen Sie uns.« – »Ich rühre mich nicht von der Stelle,« sagte der König. – »Wenn Sie rebellisch sind, junger Freund,« sagte jetzt der Riese mit dröhnendem Baß, »dann packe ich Sie und wickle Sie in einen Mantel wie einen gestohlenen Schinken, verstanden?« – Dabei legte er auf die Schulter des Königs eine so schwere Faust, daß die Majestät fast in die Knie gesunken wäre. Ludwig erkannte, daß er wehrlos sei und sich in den Willen dieses gewalttätigen Menschen fügen müsse. Er schüttelte den Kopf.

»Ich scheine da in die Hände zweier Mörder gefallen zu sein,« sprach er. »Vorwärts!« – Sie durchschritten nun einen langen Korridor, der viele Windungen machte und unzählige versteckte Türen und Treppenstufen hatte. Alle Schlösser öffnete der Mann mit der Lampe, der einen großen Schlüsselbund am Gürtel trug. Bei einer letzten Tür gab der riesenhafte Mann Ludwig einen Stoß in den Rücken und schob ihn so ins Freie hinaus.

»Wagen Sie es, mich zu schlagen?« murmelte Ludwig. »Was tun Sie mit dem König von Frankreich?« – »Vergessen Sie diesen Titel!« sagte der Mann mit der Lampe. – »Man sollte Sie aufs Rad flechten,« brummte der Hüne, »weil Sie die Frechheit haben, sich König zu nennen, aber Ludwig XIV. ist barmherzig.« – Der Monarch begriff nicht. Doch im nächsten Moment hatten die beiden ihn in eine Kutsche gesetzt, der Mann mit der Lampe stieg zu ihm, der Riese kletterte auf den Bock, und der Wagen fuhr davon. Nach einer Weile machte man halt und spannte neue Pferde ein. Dann ging es weiter, und als der König nach einigen Stunden zum Fenster hinausspähte, sah er, daß der Tag graute und die Kutsche in Paris einfuhr. Gleich darauf wurde ein großes Tor passiert, in dem Ludwig zu seinem Schrecken das Hauptportal der Bastille erkannte. Sein Begleiter sprach an allen Posten und Barrieren nur die Worte: »Im Namen des Königs!« und nach einer Weile hielt der Wagen an, und die Stentorstimme des Mannes auf dem Bock rief: »Weckt den Gouverneur!«

Baisemeaux erschien im Nachtgewande an der Schwelle seiner Tür. »Was gibt es denn?« rief er, »und wen bringt man mir da?« – Der Mann mit der Lampe öffnete den Kutschenschlag und sprach ein paar Worte mit dem auf dem Bocke. Der stieg herab, nahm ein Gewehr zur Hand, das er unterm Mantel trug, und richtete die Mündung, den Hahn spannend, auf die Brust des Gefangenen. – »Sobald er nur ein Wort spricht,« sagte der Mann mit der Lampe ganz laut, »schießen Sie.« – »Gut,« sagte der andere, ohne sich zu bedenken.

Darauf schritt der Mann mit der Lampe zu dem Gouverneur. »Herr d’Herblay!« rief dieser. – »Still!« unterbrach Aramis ihn. »Gehen wir auf Ihr Zimmer!« – »O, mein Gott!« flüsterte Baisemeaux, »was führt Sie denn zu dieser Stunde hierher?« – »Ein Irrtum, lieber Baisemeaux,« antwortete der Bischof. »Sie scheinen neulich, was jenen Freilassungsbefehl für Marchiali betrifft, recht gehabt zu haben.« – »Was? Ich habe doch gleich daran gezweifelt, nur daß Sie mich dann gezwungen haben, Marchiali doch ziehen zu lassen!« rief Baisemeaux. – »Gezwungen?« erwiderte Aramis. »O, welches häßliche Wort gebrauchen Sie da, lieber Freund? Bewogen, wollen wir sagen. Ich habe Sie bewogen, Marchiali trotzdem freizugeben. Nun, es war ein Irrtum. Man hat ihn im Ministerium eingesehen, und ich bringe Ihnen nun einen Freilassungsbefehl für den armen Kerl, den Seldon. Hier, lesen Sie selbst!«

»Meiner Treu,« rief der Gouverneur. »Das ist derselbe Befehl, den ich damals gesehen habe. Ich erkenne ihn an diesem Tintenklecks wieder. Und was ist mit Marchiali?« – »Den bringe ich zurück.« – »Das genügt mir aber nicht,« versetzte der Gouverneur. »Ich muß zu seiner Wiederaufnahme auch einen Befehl haben.« – »Schwatzen Sie keinen Unsinn!« entgegnete Aramis. »Sie haben ja gar keinen Befehl erhalten, ihn freizulassen.« – »Aber erlauben Sie!« rief Baissemeaux und nahm aus seinem Schreibtisch die damals von Aramis untergeschobene, auf Marchiali lautende Order. D’Herblay ergriff das Papier, zerriß es und verbrannte die Fetzen an der Lampe. »So, nun haben Sie keinen Befehl mehr. Höchst einfach!« setzte er hinzu. »Ich bringe Marchiali wieder, und alles ist so, als wäre er überhaupt nie hinausgekommen. Sie geben mir jenen Seldon, und die ganze Geschichte ist abgetan.«

»Aber weshalb soll denn Marchiali wieder her?« fragte Baisemeaux, der nichts von dem allen begriff. – Aramis näherte die Lippen seinem Ohre und antwortete: »Sie wissen ja von jener großen Aehnlichkeit. Nun, sobald Marchiali frei war, rühmte er sich dieser Aehnlichkeit und behauptete ganz keck, er sei der König von Frankreich. Er kleidete sich genau so wie der König und ging tatsächlich mit dem Gedanken um, Ludwig XIV. vom Throne zu verdrängen.« – »Der Unglückselige!« rief der Gouverneur. – »Und deshalb bringe ich ihn wieder,« fuhr Aramis fort. »Er darf mit niemand zusammenkommen und muß ganz abgesondert gehalten werden. Sein Wahnwitz ist dem König zu Ohren gekommen, und es steht jetzt – merken Sie sich das wohl, lieber Baisemeaux – die Todesstrafe darauf, jemand anders als mich und den König selbst zu ihm zu lassen. Bringen Sie ihn alsbald in seine Zelle zurück.«

Baisemeaux ließ die Trommel rühren und die Wache ins Gewehr treten. Dann übernahm er den Gefangnen, dem Porthos noch immer das Gewehr vor die Brust hielt. – »Ja, er ist es, der Unglückliche!« murmelte Baisemeaux, als er ihn erblickte.

So wurde Ludwig XIV. nach dem nördlichen Turm gebracht, in jene Zelle, die sein bedauernswerter Zwillingsbruder bis dahin innegehabt hatte. Er trat in den Kerker, ohne ein Wort zu sprechen. Er stand da, totenbleich, wie betäubt, und sah regungslos zu, wie die schwere Tür zugeschlossen wurde. Aramis schärfte dem Gouverneur noch einmal die Verhaltungsmaßregeln ein, dann wendete er sich an Porthos: »Auf, Freund, zurück nach Vaux!«

»Man fühlt sich leicht wie eine Feder,« antwortete Porthos, »wenn man seinem König wacker gedient und durch diesen Dienst obendrein noch das Vaterland gerettet hat.« – Die Kutsche rollte über die Zugbrücke, die hinter ihnen wieder in die Höhe stieg.

Der junge König sah sich um. Ja, es war kein Zweifel, er befand sich in der Bastille – in jenem Gefängnis, das während seiner Regierung zu einer unheimlichen Bedeutung gelangte, zu einem Massengrabe für die Menschen wurde, in welchem sie lautlos und spurlos verschwanden. Doch was bedeutete das? Er war entthront, gefangengesetzt – er, der gestern noch allmächtige König von Frankreich! War es denn möglich? Oder war das alles vielleicht doch ein Traum, ein Alpdruck nach einer allzureichen Mahlzeit?

Als er sich diese Frage vorlegte, schlug ein Geräusch an sein Ohr, und er wandte den Kopf. Da sah er am Kamin eine große Ratte, die den Rest einer Brotrinde benagte und den neuen Gast mit ihren kleinen Augen neugierig anguckte. Der Ekel stieg dem König zum Halse empor, er stieß einen Schrei aus und wich zur Tür zurück. Er wußte nun, es war kein Traum, es war furchtbare, krasse Wirklichkeit. Das widerliche Tier, der Genosse der Eingekerkerten, der Schmarotzer der Gefängnisse, war der lebende Beweis dafür.

»Gefangen!« rief er aus. »Ich bin gefangen!« – Er sah sich um, ob nicht irgendwo eine Klingel wäre. – »Es gibt keine Klingeln in der Bastille, ich weiß es wohl,« sprach er vor sich hin. »Aber wie ist das gekommen? Durch ein Komplott des Herrn Fouquet, und sein Agent war jener d’Herblay, den er mir vorstellte. Ich habe diesen Menschen unter seiner Maske erkannt. Colbert hat recht gehabt! Doch was will Fouquet? Will er an meiner Stelle König werden? Das ist unmöglich! Doch wer weiß? Vielleicht handelt mein Bruder, der Herzog von Orléans, ebenso gegen mich, wie der alte Herzog von Orléans sein Leben lang gegen meinen Vater gehandelt hat? Aber meine Mutter? Aber die Lavallière? O, man wird sie der Herzogin auf Gnade und Ungnade ausliefern! Das arme Kind, man wird sie ins Gefängnis sperren wie mich. Wir sind auf immer getrennt!«

Bei dem Gedanken an die Geliebte weinte er. Dann fuhr er grimmig empor. »Es ist ein Gouverneur hier,« dachte er. »Ich will mit ihm sprechen.« – Er rief, doch niemand antwortete ihm. Er packte einen Stuhl und schlug damit gegen die Tür. Ein dumpfer Widerhall durchklang die Gewölbe und Korridore. Aber keine menschliche Stimme war zu hören. Das war für den König ein neuer Beweis, wie gering man ihn in der Bastille achtete. Er begann zu schreien, so laut er konnte. Und er, der an augenblicklichen Gehorsam auf den leisesten Wink gewöhnt war, fürchtete wahnsinnig zu werden angesichts dieser Ohnmacht. Er zertrümmerte den Stuhl und hämmerte mit den Beinen so lange und so heftig gegen die Tür, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann. Das Getöse war furchtbar und andauernd. Ringsum wurden undeutliche Stimmen laut.

Ludwig XIV. lauschte. Ein Schauer ergriff ihn. Das waren die Stimmen der Gefangenen, die einst seine Opfer, jetzt seine Gefährten waren. Diese Stimmen klangen wie Seufzer durch die dicken Zellendecken und die undurchdringlichen Mauern. Sie schimpften nun über den Mann, der solchen Lärm machte. Nachdem der König so vielen die Freiheit geraubt, kam er zu ihnen, um ihnen auch noch den Schlaf zu rauben.

Ludwig XIV. verdoppelte seine Kräfte; er wollte um jeden Preis Aufklärung haben oder ein Ende dieses Zustandes herbeiführen. Nach Verlauf einer Stunde geschah von außen ein heftiger Schlag gegen seine Tür. »Was fällt Euch ein, so zu toben?« rief jemand. »Seid Ihr etwa verrückt geworden? Haltet gefälligst Ruhe!« – »Sind Sie der Gouverneur?« fragte der König. – »Es geht Sie gar nichts an, wer ich bin,« war die Antwort. »Sie haben sich ruhig zu verhalten, verstanden!« – Der König hörte, wie der Mann sich entfernte. Aufs neue geriet Ludwig XIV. in Raserei, sprang jetzt zum Fenster und zertrümmerte die Scheibe, so daß die Splitter klirrend auf das Pflaster des Hofes fielen. – »Gouverneur!« brüllte er. »Gouverneur!«

Alles blieb still. Das eiserne Gitter widerstand seinen Fäusten, die Mauern waren so dick, daß er sich mit einem Stoß den Kopf daran hätte zerschlagen können – die Stuhlbeine waren ganz zerkleinert. Da lehnte er sich an die Wand und gab es auf zu schreien und zu toben. Seine Kräfte waren erschöpft, seine Kleider zerschlitzt, seine Manschetten beschmutzt. – »Man wird mir wie allen Gefangenen zu essen bringen,« murmelte er. »Dann werde ich jemand sehen, mit dem ich reden kann.« – Er sann nach, zu welcher Stunde in der Bastille die erste Mahlzeit angesetzt sei, und mußte zugeben, daß er es nicht wisse. Er hatte 25 Jahre lang als König glücklich gelebt und nie an die Leiden der Unglücklichen gedacht, die sein Machtwort der Freiheit beraubt hatte. Dieser Gedanke war für ihn ein Dolchstoß, tief und grausam. Er sagte sich, Gott bestrafe ihn jetzt, und diese Strafe treffe ihn verdientermaßen.

Das Geräusch hinter seiner Tür ließ sich wieder vernehmen. Ludwig sprang vor, um jedem, der einträte, entgegenzustürzen; doch bezwang er sich, nahm eine ruhige und edle Haltung an und wartete. Es war nur ein Schließer, der eine Mahlzeit brachte. Der König betrachtete voll Unruhe diesen Mann, der sich mit einem fast gutmütigen Lächeln umsah. – »Da habt Ihr nun Euern Stuhl zerbrochen,« sagte er. »Ihr seid von Sinnen.« – »Mann,« versetzte Ludwig XIV., »kennst du den König?« – »Nein, wir bekommen ihn hier nie zu sehen,« antwortete der Schließer und schüttelte ernst den Kopf. – »Laß den Gouverneur zu mir kommen,« rief Ludwig in dem gebieterischen Ton, der ihm zur zweiten Natur geworden war.

»Mein Junge,« sprach der Schließer, »Ihr waret sonst immer sehr manierlich. Die Tollheit hat Euch borstig gemacht. Wir halten’s Euch zugute, aber treibt es nicht zu arg. Solcher Lärm, wie Ihr diese Nacht gemacht habt, wird mit finsterm Kerker bestraft. Tut es nicht wieder, so will ich es diesmal nicht dem Gouverneur melden!« – »Ich will mit dem Gouverneur sprechen!« sagte der König. – »Wie Ihr mit den Augen rollt!« rief der Schließer. »Wohl, da lasse ich Euch heute kein Messer hier. Eßt mit den Fingern.« – Darauf ging er hinaus und schloß die Tür zu. Der König schleuderte voll Wut die Schüssel und Teller gegen die Wand und zum Fenster hinaus. Doch alles blieb still.

Und nun war er kein König, kein Edelmann, ja kein Mensch mehr! Er war ein irrsinniges Geschöpf, das sich die Nägel an dem Holz der Tür, an den Steinfliesen des Bodens zerkratzte und so fürchterlich schrie, daß die Bastille in ihren Grundfesten erbebte.

Herr von Baisemeaux kümmerte sich nicht darum. Er wünschte nur eins: der tolle Marchiali triebe seinen Wahnsinn soweit, sich am Gitter des Fensters aufzuhängen, und er legte sich alles Ernstes die Frage vor, ob es nicht das beste sei, ihn in der Stille aus dem Wege zu räumen.

5. Kapitel. Aus der Bastille auf den Thron

Die Weine des Herrn Oberintendanten hatten bei dem Festessen eine sehr ehrenwerte Rolle gespielt, allein d’Artagnan war völlig nüchtern, und als er den Befehl erhielt, Herrn Fouquet zu verhaften, griff er an seinen Degen. Es war seine Art, bei wichtigen Anlässen die Kälte dieses Stahls sein Inneres durchdringen zu lassen. – »Hm!« brummte er, »meine Nachkommen – wenn ich je welche habe – können sich damit brüsten, von dem Manne abzustammen, der seine Hand an den Rockkragen des allmächtigen Herrn Fouquet gelegt hat. Ei, mich dünkt, wenn ich kein Schuft sein will, muß ich es Herrn Fouquet sagen, wie der König ihm gesinnt ist. Wenn ich aber kein Verräter sein will, darf ich das Geheimnis meines Herrn nicht preisgeben. Nun, gib doch noch einmal etwas her, alter Schädel, der du mir so manchmal einen guten Gedanken beschertest! Zunächst, weshalb fällt Fouquet in Ungnade? Erstens, weil er Herrn Colbert verhaßt ist, zweitens, weil er Fräulein von Lavallière lieben wollte, und drittens, weil der König Herrn Colbert und die Lavallière liebt. Er ist verloren; aber soll ich ihn ergreifen, weil er den Ränken eines Schreibers und eines Weibes unterliegt? Pfui! Ist er wirklich ein gefährlicher Mensch, dann nieder mit ihm! Wird er zu Unrecht verfolgt, dann will ich sehen, was sich machen läßt. Und da bin ich auf den Punkt gekommen, wo kein Mensch, auch nicht der König, Einfluß auf meine Meinung hat. Anstatt also Herrn Fouquet zu packen und festzunageln, werde ich bemüht sein, mich als Mann von guter Art zu betragen. Man wird darüber sprechen, aber man wird gut davon sprechen.«

D’Artagnan gürtete den Degen um und ging geradeswegs zu Herrn Fouquet, der nach den Triumphen dieses Tages ruhig zu schlafen gedachte. Die Luft roch noch nach dem Qualm des Feuerwerks. Die Kerzen verbreiteten ihren ersterbenden Schein, die Blumen hauchten ihre letzten Düfte aus. Fouquet war allein mit seinem Kammerdiener, als d’Artagnan auf der Schwelle erschien. Es war für einen Mann wie d’Artagnan unmöglich, je bei Hofe populär zu werden; obwohl man ihn stets und überall sah, rief sein Erscheinen doch immer wieder eine fatale Wirkung hervor. – So war es auch jetzt bei Herrn Fouquet.

»Sie hier, Herr d’Artagnan?« rief er aus. – »Zu dienen,« antwortete der Musketier. – »Treten Sie nur ein.« – »Ich danke.« – »Haben Sie mir noch etwas mitzuteilen?« – »Das nicht, mein Herr,« antwortete der Gaskogner. »Sie schlafen also hier?« – »Wie Sie sehen,« sagte Fouquet, mehr und mehr betroffen. – »Sie haben da dem König ein sehr schönes Fest angerichtet,« sprach d’Artagnan. – »Finden Sie? War der König zufrieden?« fragte der Oberintendant. – »Einfach bezaubert!« sagte der Musketier. »Ist das Ihr Bett dort?« – »Jawohl. Warum fragen Sie danach? Gefällt Ihnen das Ihrige nicht? Sagt Ihnen Ihr Zimmer nicht zu?« »Offen gesagt, nein!« – »So trete ich Ihnen meins ab.« – »O, ich werde Sie nicht berauben. Aber vielleicht gestatten Sie mir, dieses Zimmer mit Ihnen zu teilen?« – Fouquet sah den Musketier scharf an. – »Sie kommen im Auftrag des Königs?« fragte er kurz. »Nun ja, Monseigneur. Doch ich versichere Ihnen, ich denke nicht daran, meine Order zu mißbrauchen…« Fouquet hieß den Kammerdiener hinausgehen und fragte dann: »Was haben Sie mir zu sagen, mein Herr?«

»Ich habe Ihnen gar nichts zu sagen,« versetzte der Gaskogner. »Mich verlangt nur nach Ihrer Gesellschaft.« »Sie verhaften mich also?« – »Bewahre!« – »Oder Sie bleiben als Wache bei mir?« – »Das ja.« – »So bin ich in Ungnade. Ich war todmüde und wollte schlafen. Das hat mich wieder munter gemacht. Herr, ich bestelle meine Pferde und reise nach Paris. Werden Sie mich zurückhalten?« – »Nein, aber mitreisen.« – »Genug!« rief Fouquet. »Warum verhaften Sie mich? Was habe ich getan?« – »Das weiß ich nicht – auch verhafte ich Sie bis jetzt noch nicht.«

»Bis jetzt noch nicht?« wiederholte Fouquet erbleichend. »Aber morgen vielleicht.« – »Wir haben noch nicht morgen,« sagte d’Artagnan. »Wer kann für das einstehen, was morgen geschehen mag?« – »Lassen Sie mich hinaus, ich muß mit Herrn d’Herblay sprechen.« – »Monseigneur, es ist unmöglich.« – »Mit d’Herblay, Ihrem Freunde!« – »Ich habe darüber zu wachen, daß Sie dieses Zimmer nicht verlassen, Herr Oberintendant. Aber wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben wollen hierzubleiben, dann will ich gehen und Herrn d’Herblay zu Ihnen bringen.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!« rief Fouquet erfreut. Der Kapitän ging hinaus. – Der Oberintendant stürzte auf seinen Schreibtisch zu und öffnete einige geheime Fächer. Er riß einen Ballen Papiere und Rechnungen heraus und warf sie in den Ofen. Dann sank er in den Lehnstuhl und wartete mit Ungeduld. Nach einer Viertelstunde kehrte d’Artagnan zurück. Er hatte d’Herblay nicht gefunden. Der Kapitän war von vornherein überzeugt gewesen, Fouquet wolle nicht fliehen sondern nur gewisse Papiere beiseiteschaffen, die ihn in einem Prozeß kompromittieren könnten. Als er nun den Rauch sah, der noch nicht ganz verzogen war, nickte er zum Zeichen der Zufriedenheit. Sie wechselten beide einen Blick und fühlten, daß sie sich verstanden hatten.

»Und wo ist d’Herblay?« fragte Fouquet. – »Er muß ein Freund nächtlicher Spaziergänge sein, denn er ist nicht auf seinem Zimmer,« antwortete d’Artagnan. – »Er ist nicht auf seinem Zimmer?« rief Fouquet, und seine letzte Hoffnung sank, denn er glaubte, daß ihm nur noch von seiten des Bischofs Hilfe kommen könne. – »Herr Fouquet, ich habe in meinem Leben viele Male bei Verhaftungen zugesehen,« sprach d’Artagnan, »zum Beispiel bei der des Prinzen Condé, des Herrn von Retz, des Herrn Broussel. Sie gleichen in diesem Moment dem letzteren, der – verzeihen Sie mir das Wort – ein recht gutmütiges Schaf war. Es fehlt nur noch, daß Sie Ihre Serviette in die Brieftasche stecken und sich mit Ihren Papieren den Mund abwischen. Wetter nochmal, Herr Fouquet! ein Mann wie Sie soll nicht so niedergeschlagen sein. Wenn Ihre Freunde Sie sähen –«

»Herr d’Artagnan,« antwortete Fouquet mit traurigem Lächeln, »eben weil mich meine Freunde nicht sehen, bin ich so. Ich bin’s nicht gewohnt, allein zu sein. Ich habe mir Freunde gemacht, um einmal in ihnen eine Stütze zu haben. Und gerade in solchem Augenblick soll ich nun verlassen sein?« – »Sie übertreiben, Herr Oberintendant. Der König will Ihnen wohl, nur Colbert haßt Sie und möchte Sie zugrunde richten.«

»O, was das betrifft,« sagte der Minister ruhig, »zugrunde gerichtet bin ich schon.« – D’Artagnan hob den Kopf und warf einen Blick um sich her. – »Ich weiß, was Sie bei sich denken,« fuhr Fouquet fort. »Sie fragen sich, weshalb ich dieses Schloß nicht verkaufe, man würde 40 Millionen daraus lösen. Lieber Kapitän, und wollte ich es für zwei Millionen losschlagen, es gäbe in Frankreich niemand, der es unterhalten könnte, so wie es jetzt aussieht. Nein, dieses Vaux kann und will ich nicht verkaufen. Mag es mit mir zugrunde gehen!«

»Das sieht Ihnen schon ähnlicher,« sagte d’Artagnan, »und vernichtet die unangenehme Aehnlichkeit mit Broussel, dem alten weinerlichen Frondeur. Wenn Sie auch zugrunde gerichtet sind, alle Wetter! Sie sind eine Person, die der Nachwelt angehört, und haben kein Recht, sich zu verkleinern. Mir hat das Schicksal eine weit weniger schöne Rolle zuerteilt als Ihnen, denn ich muß denjenigen machen, der Sie zu verhaften hat. Aber ich muß gehorchen, so sehr ich auch darunter leide. Neben Ihnen bin ich nichts wert, Monseigneur. Doch, den Teufel auch! die Rollen, die uns zufallen in diesem Mummenschanz des Lebens, müssen so gut wie möglich gespielt werden. Das Ende krönt das Werk.«

Fouquet stand auf, umarmte d’Artagnan und zog ihn an die Brust. »Gut gesprochen!« rief er. »Wer so redet, kann nur ein Freund von mir sein. Doch, wo mag Herr d’Herblay stecken? Gut, wir wollen den Tag abwarten. Was auch geschehen mag, dank Ihrer Liebenswürdigkeit trifft es mich nun nicht unerwartet. Wären Sie mitten beim Diner vor mich hingetreten, mich zu verhaften, ich wäre vor Scham und Zorn gestorben.« – »Freut mich, daß Sie mit mir zufrieden sind,« sprach d’Artagnan, »und nun, Monseigneur, lassen Sie den Dingen ihren Lauf. Sie sind abgespannt, Sie haben auch Ihre Lage durchzudenken. Ich beschwöre Sie, gehen Sie zu Bett. Ich mache mir’s hier in diesem Lehnstuhl bequem. Und ich werde so fest schlafen, daß eine Kanonenkugel mich nicht aufwecken soll. Das heißt, das Knarren von geheimen Türen, von verborgenen Ein- und Ausgängen, höre ich sehr genau, lassen Sie sich das gesagt sein. Das beruht auf einer angeborenen Antipathie. Sie mögen hin und her gehen, schreiben, zerreißen, verbrennen – nur berühren Sie keinen Schlüssel an einer Tür, keine Klinke, Sie würden mich dadurch aus dem schönsten Schlafe jäh aufwecken.«

»Herr d’Artagnan,« sagte der Minister, »Sie sind entschieden der geistvollste und artigste Mann, den ich kenne. Ich bedaure nur, Ihre Bekanntschaft so spät gemacht zu haben.« – »Und nun vielleicht doch noch zu früh,« murmelte d’Artagnan und ließ sich in den Lehnstuhl nieder. Beide ließen die Kerzen brennen und erwarteten den Tag – Fouquet seufzte, d’Artagnan schnarchte.

*

Das Bett, das in den unterirdischen Raum hinabgelassen war, hatte sich mit dem beweglichen Fußboden wieder erhoben, und blaß, mit pochendem Herzen stand Philipp vor dem Lager, das noch zerwühlt war von dem Leibe seines Zwillingsbruders. Die durcheinandergestoßenen Kissen und Laken redeten eine deutliche Sprache, schilderten allein eindringlich genug den Kampf, der in der Stille des Kellers stattgefunden hatte.

»Nun trete ich meinem Schicksal gegenüber,« sprach er vor sich hin. »Wird es schrecklicher sein als die Gefangenschaft? Der König hat auf diesem Bett geruht – nun soll ich mich darauf ausstrecken. Doch was zaudere ich? Es ist ja ein Platz, der mir gebührt, um den mich die Mutter und der Bruder betrogen haben! Philipp, alleiniger König von Frankreich, das Wappen, das diese Tücher ziert, gebührt dir! Habe kein Mitleid mit dem Usurpator, der selbst in diesem Augenblicke keine Gewissensbisse wegen der Leiden fühlt, zu denen er dich verurteilte!«

Mit diesen Worten legte er sich in das Bett, und als er den Kopf zurücklehnte, erblickte er über sich die Königskrone, die von einem Engel mit goldenen Flügeln gehalten wurde. Aber Philipp konnte nicht schlafen. Gespannt horchte er auf jedes Geräusch, und immer wieder fragte er sich, ob seine Kraft, seine Geschicklichkeit, seine Geistesgegenwart ausreichen würden, das Werk zum glücklichen Ausgang zu führen.

Gegen Morgen glitt ein Schatten in das Gemach. Philipp erwartete diesen Mann und erschrak nicht über sein Kommen. – »Nun, Herr d’Herblay?« – »Es ist geschehen, Sire.« – »Wie hat er’s getragen?« – »Er schrie und sträubte sich, tobte wie ein Rasender und versank dann in todesähnliche Erstarrung.« – »Ahnt der Gouverneur der Bastille etwas?« – »Nichts. Die völlige Aehnlichkeit läßt ihn alles glauben, was ich ihm sagte.«

»Aber der Gefangene wird selbst sprechen, bedenken Sie das wohl.« – »Ist auch bedacht. Nach einigen Tagen werden Sie ihn außer Landes schaffen lassen, werden ihn so weit wegschicken –« – »Sei es noch so weit, d’Herblay, man kann zurückkehren!« – »Wir werden ein Land aussuchen, in welchem es ihm zur Rückkehr an den materiellen und an den leiblichen Kräften fehlen soll.«

»Und Herr du Vallon?« – »Den stelle ich Ihnen heute vor. Er wird Ihnen Glück wünschen zu der Befreiung von dem verwegenen Usurpator.« – »Ich werde ihn zum Herzog machen.« – »Ja, zum Herzog,« sprach Aramis mit seltsamen Lächeln. »Sehr weise, Majestät. Sie sehen voraus, daß dieser Porthos auf die Dauer ein lästiger Zeuge werden könnte, und deshalb töten Sie ihn.« – »Wie? ich töte ihn?« – »Ja, indem Sie ihn zum Herzog machen. Der Schlag wird ihn vor Freude treffen.« – »Mein Gott!« stammelte Philipp. – »Ich werde dabei einen wackern Freund verlieren,« setzte Aramis phlegmatisch hinzu.

In diesem Augenblick hörte d’Herblay ein Geräusch.

»Der Tag bricht an, Sire,« sagte er. »Ehe Sie sich gestern zu Bette legten, hatten Sie sich vorgenommen, über Nacht einen Entschluß zu fassen.« – »Ich habe dem Kapitän meiner Musketiere gesagt, ich erwarte ihn am Morgen,« antwortete Philipp. – »Ich höre Tritte im Vorsaal,« sagte Aramis. »Wenn Sie ihn herbestellt haben, so ist er es, der da kommt.« – »So fangen wir an,« sprach Philipp entschlossen.

»Vorsicht!« rief Aramis. »Es wäre töricht, mit d’Artagnan anzufangen. Er weiß nichts, er ahnt nichts – aber wenn er an diesem Morgen zuerst eintritt, so wird er wittern, daß etwas vorgegangen ist.« – »Wie soll ich ihn aber zurückweisen?« fragte Philipp.« »Er ist bestellt. – »Das nehme ich auf mich,« antwortete der Bischof. »Zunächst will ich einen Streich führen, der ihn ein wenig betäuben soll.« – »So tun Sie das,« sagte der Prinz lebhaft, denn er wollte des Wartens und Bangens ein Ende machen.

Der Kapitän der Musketiere reckte sich in seinem Lehnstuhl in die Höhe, wusch sich in Fouquets Toilette, bürstete Wams und Hut ab, schnallte den Degen um und war bereit, sich auf den Weg zu machen. – »Sie gehen fort?« – »Ja, Monseigneur, und Sie?« – »Ich bleibe.« – »Auf Ihr Wort?« – »Auf Ehrenwort.« – »Gut. Ich gehe auch nur, um Ihnen die bewußte Antwort zu holen.« – »Die Verurteilung, wollen Sie sagen.« – »Wissen Sie, ich habe etwas von einem alten Römer,« sagte d’Artagnan. »Ich glaube an das, was mir mein Degen prophezeit. Heute morgen blieb er nirgends hängen und rutschte ganz glatt ins Wehrgehänge. Nein, nein, Herr Fouquet, das beruht auf jahrelangen Beobachtungen. Immer, wenn der Degen an meinem Rücken hängen blieb, so wurde mir von Mazarin eine Zahlung verweigert. Wenn er sich im Wehrgehänge verfing, so bekam ich einen unangenehmen Auftrag. Wenn er in der Scheide tanzte, so hatte ich ein glückliches Duell. Wenn er sich in den Fransen verhedderte, so wurde ich leicht verwundet. Und wenn er von selbst aus der Scheide fuhr, so wurde ich stets vom Schlachtfeld getragen und mußte mehrere Tage mit einem Verband herumlaufen. Das traf immer unfehlbar zu. Sehen Sie, mein Degen ist ein Glied meines Leibes. Gewisse Menschen werden durch ihr Bein oder durch ein Klopfen in den Schläfen an kommende Dinge gemahnt. Bei mir besorgt das der Degen. Heute morgen nun ist er ganz allein ins Wehrgehäng geglitten. Das bedeutet einen angenehmen Auftrag.«

»Welcher Art mag er sein?« – »Wetter! Ich werde jemand zu verhaften haben,« rief d’Artagnan. – »Nämlich mich!« sagte Fouquet, »und das nennen Sie einen angenehmen Auftrag?« – »Nein, die Weissagung betrifft nicht Sie. Denn Sie sind schon seit gestern abend verhaftet. Ich werde jemand anders zu verhaften haben, und deshalb wird es für mich ein glücklicher Tag werden.«

Mit diesen Worten ging d’Artagnan, um sich zum König zu begeben. Er hatte Fouquet trösten wollen; er glaubte selber nicht, daß sich die Prophezeiung dieses Morgens erfüllen würde; und doch sollte es geschehen. – Der Musketier klopfte an die Tür des Königs. Sie öffnete sich, doch war es nicht der König, der erschien. D’Artagnan starrte, den Mann, der sich vor ihm zeigte, verblüfft an und stieß einen Schrei der Ueberraschung aus.

»Aramis!« rief er. – »Guten Tag, lieber d’Artagnan,« sagte der Bischof kalt. – »Sie hier?« stammelte der Gaskogner. – »Seine Majestät läßt Ihnen sagen,« sprach Aramis, »daß er noch schlafen will, da er die ganze Nacht kein Auge geschlossen hat.« – »Hm!« brummte d’Artagnan, der nicht begreifen konnte, wie ein Mann, der vor wenigen Stunden noch gar nicht beim König in Gunst gestanden, über Nacht zum größten Glückspilz geworden sein sollte, der je an einem königlichen Bette emporgeschossen. Denn um an der Zimmertür des Monarchen dessen Willen zu verkünden, mußte man mehr sein, als Richelieu bei Ludwig XIII. gewesen war. Das ausdrucksvolle Auge d’Artagnans, sein weit offener Mund, sein Schnurrbart, der sich vor Staunen in die Höhe richtete, verrieten diese Gedanken dem lächelnden Prälaten.

»Herr Bischof,« sagte der Musketier, »Seine Majestät hat mich zu heute früh herbestellt.« – Da erklang aus dem Zimmer die Stimme des Königs. »Ich weiß,« rief er, »aber wir schieben das auf.« – D’Artagnan zuckte zusammen. War es wirklich der König, der da sprach? Verblüfft, fast erschrocken, verneigte er sich und wollte gehen. »Noch eins,« sagte der Bischof. »Hier ist ein Befehl, den Sie sofort vollziehen werden. Er betrifft Herrn Fouquet.« – D’Artagnan nahm das Papier entgegen, las es und murmelte: »In Freiheit zu setzen? Ah! Ah!« – Dann verneigte er sich abermals und ging. – »Ich begleite Sie,« sagte Aramis. »Ich will mich an Herrn Fouquets Freude ergötzen.«

»Potzblitz, Aramis!« brummte d’Artagnan, während sie hinweggingen. »Was haben Sie da gemacht? Sie müssen erstaunlich hoch in der Gunst des Königs gestiegen sein, um für Herrn Fouquet eine Begnadigung zu erwirken.« – »Aber nun begreifen Sie, nicht wahr?« – »Alle Wetter, nein!« stieß der Musketier zwischen den Zähnen hervor. »Ich begreife nichts. Doch das ist Nebensache – hier ist ein Befehl.«

6. Kapitel. Der Retter Ludwigs XIV

Fouquet wartete mit großer Ungeduld, und als er hinter d’Artagnan den Bischof von Vannes erblickte, von dem allein er noch Rettung erwartete, da war seine Freude ebenso groß wie am Tage zuvor seine Bestürzung. Der Prälat war schweigsam, d’Artagnan noch ganz verwirrt. – »Sie bringen mir Herrn d’Herblay, Kapitän,« rief Fouquet. – »Und noch etwas Besseres,« antwortete der Gaskogner. »Nämlich die Freiheit. Hier ist der Befehl des Königs.« – Fouquet warf einen fragenden Blick auf Aramis. – »Jawohl,« setzte d’Artagnan hinzu, »bedanken Sie sich bei dem Bischof von Vannes, er hat den König umgewandelt. Aramis, noch einmal! Wie sind Sie der Günstling des Königs geworden, da sie ihn doch nur zweimal im Leben gesehen haben?«

»Einem Freunde, wie Sie verhehlt man nichts,« antwortete Aramis. »Nun denn, ich habe den König nicht nur zweimal, wie Sie glauben, sondern hundertmal gesehen. Nur geschah es insgeheim, das ist das ganze. Monseigneur,« wendete er sich von dem erstaunten d’Artagnan zu dem nicht minder erstaunten Fouquet, »der König läßt Ihnen sagen, er sei mehr als je Ihr Freund, und Ihr schönes Fest hat ihn entzückt.« – Er verneigte sich vor Fouquet und schwieg. Der Oberintendant sah ihn fest an und vermochte nicht zu antworten.

D’Artagnan erriet, die beiden Männer hatten sich etwas zu sagen. Er machte ihnen eine flüchtige Verbeugung und ging. Fouquet eilte hinter ihm zur Tür, schloß ab und rief: »D’Herblay, erklären Sie mir, was vorgeht. Ich verstehe nichts von dem allen. Wie kommt es, daß der König mich in Freiheit setzt?« – »Sie hätten mich vielmehr fragen sollen, warum er Sie verhaften ließ,« antwortete Aramis. – »Es war ein wenig Eifersucht im Spiele, glaube ich,« sprach der Minister. – »Ja und mehr,« erwiderte d’Herblay. »Erinnern Sie sich jener Briefe und Quittungen von Herrn Mazarin, die einen gewissen Betrag von 13 Millionen betreffen? Erinnern Sie sich des Briefes, den Sie an die Lavallière geschrieben haben?«

»Weh mir!« rief Fouquet. »Da bin ich für den König ein Dieb und ein Verräter? Doch um so wunderbarer, daß er mir vergeben hat.« – »Wir sind noch bei der Begründung der Verhaftung,« fuhr Aramis fort. »Der König weiß also, daß Sie an einer Unterschlagung von Staatsgeldern mitschuldig sind. Pardon, ich weiß sehr wohl, Sie haben nicht das Mindeste veruntreut, allein der König hat die Quittung nicht gesehen und muß Sie also für schuldig halten. Ferner hat der König Ihren Liebesbrief gelesen und kann nicht daran zweifeln, daß Sie Absichten auf sein Schätzchen gehabt haben. Aus diesen zwei Gründen steht Ihnen der König als unversöhnlicher Todfeind gegenüber. Er hat unwiderruflich mit Ihnen gebrochen.«

»Aber jetzt gibt er mich doch frei,« rief Fouquet. – »Glauben Sie denn das wirklich?« fragte der Bischof kalt. – »Ohne an eine plötzliche Freundschaft des Königs zu glauben, glaube ich doch an die Wahrheit der Tatsache,« antwortete der Minister. – Aramis zuckte die Achseln. – »Warum sollte Ihnen Ludwig XIV. aufgetragen haben, mir zu sagen, was d’Artagnan eben mitangehört hat?« – »Der König hat mir gar nichts für Sie aufgetragen,« sagte Aramis, und er sprach diese Worte in so seltsamem Tone, daß Fouquet zusammenfuhr.

»Sie verheimlichen mir etwas, d’Herblay,« rief er. Aramis streichelte sein Kinn mit den weißen Fingern. – »Verhehlen Sie mir nichts, d’Herblay, Sie machen mir Angst!« stieß Fouquet hervor. »Bin ich noch immer Oberintendant?« – »Solange Sie wollen,« antwortete Aramis ruhig. – »Wer welche seltsame Herrschaft haben Sie über Seine Majestät erlangt?« rief der Minister. »Sie scheinen Sie nach Ihrem Gefallen auszunützen.«

»Allerdings.«

»D’Herblay, ich beschwöre Sie bei unserer Freundschaft! Sagen Sie mir, wodurch Sie bei Ludwig XIV. soweit gekommen sind? Ich weiß, er war Ihnen nicht hold.« – »Er wird mich jetzt lieben,« antwortete Aramis, das letzte Wort betonend. – »Was ist das für ein Geheimnis?« entgegnete der Oberintendant. »Reden Sie!« – »Sie haben es erraten, Monseigneur,« antwortete d’Herblay. »Es handelt sich um ein Geheimnis. Dieses Geheimnis ist in meinem Besitz, und es ist so wichtig, so schwerwiegend, daß es mir Macht über den König gibt. Erinnern Sie sich,« fragte er, die Augen niederschlagend, »der Geburt Ludwigs XIV?« –. »Wie heute,« antwortete Fouquet. – »Und haben Sie je über diese Geburt etwas Besonderes reden hören?« – »Nein.« – »So hören Sie!« sprach Aramis. »Die Königin hat an diesem Abend nicht ein Kind, sondern zwei geboren. Ludwig XIII. war abergläubisch und fürchtete, zwei gleichberechtigte Kinder könnten einmal in Streit um den Thron geraten und ihr Land ins Verderben stürzen. Er ließ die Geburt des zweiten Kindes verheimlichen. Die beiden Zwillinge wuchsen heran: der eine kam auf den Thron – der andere blieb verborgen und unbekannt. Sie sind der Minister des einen – ich bin der Freund des andern.«

»Mein Gott, was sagen Sie mir da, Herr d’Herblay?« rief der Minister. »Und was geschah mit jenem armen Prinzen?« – »Erst wurde er heimlich auf dem Lande erzogen, und dann brachte man ihn in die Bastille.« – »Und weiß seine Mutier darum?« – »Anna von Oesterreich weiß das alles.« – »Und der König?« – »Er weiß nichts. Dieser bedauernswerteste Prinz war der unglücklichste unter den Menschen, bis Gott ihm zu Hilfe kam und ihm Freunde schuf, ihm eine Stütze gab, ihm einen Rächer bestellte. Der regierende König nun – ich drücke mich so aus, weil von Rechts wegen beide Brüder kraft der Ebenbürtigkeit hätten regieren sollen, denn Zwillinge sind eins in zwei Körpern – der regierende König, sage ich – der Usurpator – Sie sind doch auch meiner Ansicht, wenn ich diesen ruhigen Genuß eines Erbteils, auf das er nur ein halbes Recht hatte, Usurpation nenne?« – Fouquet nickte und antwortete: »Ja Usurpation ist das richtige Wort.«

»Wie gesagt, dieser regierende König, der Usurpator,« fuhr Aramis fort, »hatte einen Mann von Talent und Geist zum ersten Minister, aber er zürnte ihm, raubte ihm langsam sein Vermögen und damit seine Macht und trachtete ihm dann nach Freiheit und Leben. Aber diesem ersten Minister, den man so grausam verfolgte, hatte Gott einen Freund zur Seite gegeben, dem das Staatsgeheimnis bekannt war und der die Kraft in sich fühlte, dieses Geheimnis ans Licht zu ziehen.« – »Halten Sie inne!« rief Fouquet. »Ich errate alles. Sie sind vor den König hingetreten, als er mich verhaften lassen wollte, und haben mit Veröffentlichung dieses furchtbaren Geheimnisses gedroht. Ja, ich begreife, der König mußte sich Ihnen fügen?« – »Nennen Sie das Logik, Herr Oberintendant?« versetzte Aramis ironisch. »Meinen Sie wirklich, ich lebte zu dieser Stunde noch, wenn ich dem König eine solche Entdeckung gemacht hätte? Er hätte mich auf der Stelle fesseln und in einen unterirdischen Kerker werfen lasten. Und hätte ich damit Ihnen gedient, wie ein Freund es soll? Ihm Geld gestohlen zu haben, das ist nichts; seiner Mätresse den Hof gemacht zu haben, ist wenig; aber seine Krone, seine Ehre in der Hand zu halten – ah! er würde Ihnen mit eigner Hand das Herz aus der Brust gerissen haben!«

»So haben Sie ihm nichts von dem Geheimnis gesagt?« – »Lieber hätte ich alle Gifte verschluckt, die Mithridates trank, um sich vor Vergiftung zu schützen. Und nun sind wir an dem Punkte, wo ich Ihnen mitzuteilen habe, was ich tat!« – Aramis schritt durchs Zimmer und setzte sich dann wieder in den Lehnstuhl. – »Ich habe noch eins vergessen,« fuhr er fort, »Gott hat die beiden Zwillingsbrüder einander so ähnlich geschaffen, daß selbst die Mutter sie nicht voneinander unterscheiden könnte. Beide haben den gleichen Adel in den Zügen, genau denselben Wuchs, dieselbe Stimme, denselben Gang!« – »Ist es möglich?« rief Fouquet. »Doch die Denkweise, der Verstand, die Lebensansicht?« – »Darin sind sie ungleich. Das arme Opfer der Bastille ist, was die Charaktereigenschaften betrifft, seinem Bruder unendlich weit überlegen. Würde er aus dem Gefängnis geholt und auf den Thron gesetzt, so hätte Frankreich vielleicht, seit es besteht, keinen König gekannt, der an Adel der Gesinnung und an Geist mit diesem zu vergleichen wäre.«

Fouquet legte auf einen Augenblick die von einem so furchtbaren Geheimnis niedergedrückte Stirn in beide Hände. – »Und auch in bezug auf Sie,« fuhr Aramis fort, »besteht ein Unterschied zwischen den beiden Königen; denn der letztgeborne Sohn kennt keinen Herrn Colbert.« – Der Oberintendant sah auf. – »Ich verstehe. Sie schlagen mir eine Verschwörung, einen Staatsstreich vor,« sagte er mit stockender Stimme. »Sie sprachen davon, den Sohn Ludwigs XIII., der gefangen sitzt, den Platz mit dem, der auf dem Throne sitzt, vertauschen zu lassen. Allein das ist ein Umsturz, der das ganze Reich über den Haufen werfen kann. Den Baum mit den zahllosen Wurzeln, den man König nennt, kann man nicht so ohne weiteres ausreißen und durch einen anderen ersetzen.«

»Mein Freund,« entgegnete Aramis im Tone einer leichten Vertraulichkeit, »wie macht es denn Gott, wenn er an die Stelle eines Königs einen andern setzt?« – »Gott!« rief der Minister. »Gott gibt seinem Vollzieher Befehl, den Verurteilten zu ergreifen und fortzuführen, um dann den Triumphator auf den erledigten Thron steigen zu lassen. Sie vergessen aber, dieser Bevollmächtigte Gottes heißt Tod. Haben Sie etwa vor, Herr d’Herblay–?« – »Sie gehen über das Ziel hinaus. Monseigneur!« antwortete Aramis. »Wer spricht davon, Ludwig XIV. in den Tod zu senden? Ich wollte damit nur sagen: Gott vollbringt das alles ohne Umsturz, ohne Aergernis. Er bedarf dazu nur eines auserwählten Mannes, dem er seinen Willen einflößt. Mit einem Worte. Freund! wenn ein Umsturz oder ein Aergernis geschehen mußte, um den Gefangenen der Bastille mit dem König den Platz tauschen zu lassen, so fordere ich Sie auf, mir das zu beweisen.«

»Was?« schrie Fouquet, blässer als das Taschentuch, mit dem er sich die Stirn abwischte. »Was sagen Sie da?« – »Gehen Sie in das Zimmer des Königs,« antwortete Aramis. »Sie wissen nun das Geheimnis. Ueberzeugen Sie sich davon, daß der Gefangene der Bastille im Bette seines Bruders liegt.« – »Und der König?« stammelte Fouquet. – »Der, der gestern noch König war?« antwortete d’Herblay. »Ueberzeugen Sie sich! Er ist in der Bastille an dem Platze, den seit so langer Zeit sein Opfer innegehabt.« – »Himmel! und wer hat ihn hingebracht?« – »Ich! Und zwar auf die einfachste Weise. Diese Nacht habe ich ihn entführt und den andern an seine Stelle gesetzt. Ich glaube nicht, daß es Aufsehen gemacht hat. Ein Blitz, auf den kein Donner folgt, weckt niemand auf.« – Fouquet tat einen Schrei, als hätte ein Schlag ihn getroffen, und preßte den Kopf zwischen beide Hände. – »Das haben Sie getan?« stöhnte er. »Den König entthront und ins Gefängnis geschleppt. Und das ist hier in Vaux geschehen! Und in dieser Nacht?« – »Hier in Vaux – und in dieser Nacht zwischen zwölf und eins.« –

Der Ober-Intendant machte eine Bewegung, als wollte er sich auf den Bischof stürzen; doch er hielt an sich. – »In Vaux!« stammelte er. »In meinem Hause!« – »Ja! In dem Hause, das jetzt erst richtig das Ihre ist, seit es Ihnen Herr Colbert nicht mehr rauben kann,« entgegnete Aramis. – »In meinem Hause ward dieses Verbrechen verübt,« sagte Fouquet, ohne auf den Prälaten zu hören. – »Verbrechen?« wiederholte dieser betroffen. – »Dieses fluchwürdige Verbrechen!« fuhr Fouquet fort. »Dieses Verbrechen, das verdammenswerter ist als der Totschlag! Dieses Verbrechen, das für immer meinen Namen entehrt und zum Abscheu für Mit- und Nachwelt macht!«

»Ah, Sie sind ja nicht bei Sinnen, Herr!« entgegnete Aramis mit bebender Stimme. »Sie reden zu laut, geben Sie acht!« – »Ich will schreien, daß alle Welt mich hört!« versetzte der Minister. »Ja, Sie haben mich entehrt durch diesen Verrat, durch diese Gewalttat, die Sie an meinem Gaste unter meinem Dache verübten! O, welch ein Unglück für mich!« – »Ihr Gast?« rief Aramis außer sich. »Und trachtete Ihnen nach Vermögen und Leben? Vergessen Sie das?« – »Er war mein Gast, er war mein König!«

»Habe ist es mit einem Tollhäusler zu tun?« sprach Aramis und stand auf. – »Nein, sondern mit einem Ehrenmanne!« – »Narr, der Sie sind!« – »Mit einem Manne, der Ihr Verbrechen noch jetzt vereiteln wird!« – »Narr!« – »Mit einem Manne, der lieber stirbt, als daß er sich von Ihnen entehren läßt!« – Er trat ganz dicht an Aramis und sprach in gepreßtem Tone: »Ich gebe zu, Sie handelten in meinem Interesse, aber ich nehme das nicht an! Doch will ich Sie zu dieser Stunde nicht verdammen. Die Tür steht Ihnen noch offen.« – »Ihnen auch noch, aber nicht mehr lange!« rief Aramis mit prophetischer Stimme.

»Sie weissagen da richtig, Herr d’Herblay,« antwortete Fouquet ruhig. »Dennoch soll mich nichts aufhalten. Sie verlassen Vaux und Frankreich. Ich gebe Ihnen vier Stunden Frist, sich in Sicherheit zu bringen. Sie haben damit einen entscheidenden Vorsprung vor allen, die der König Ihnen nachsenden konnte. Diese Zeit wird Ihnen genügen, sich nach Belle-Ile zu flüchten, wo Sie Zuflucht finden werden. Gehen Sie! Solange ich lebe, soll Ihnen kein Haar gekrümmt werden.« – »Ich danke,« versetzte Aramis in düsterer Ironie. – »Reisen Sie also ab und – reichen Sie mir noch einmal die Hand. Retten Sie sich das Leben – ich werde meine Ehre retten.«

Aramis zog die Hand aus der Brust; die Nägel waren von Blut gerötet, denn er hatte sie in sein eigenes Fleisch gegraben. Aber er berührte die ihm dargereichte Hand Fouquets nicht. Er hob sie über des Ministers Haupt, stieß einen Fluch aus, spritzte ihm ein paar Tropfen seines Blutes ins Gesicht und verließ das Zimmer.

Fouquet eilte hinter ihm hinaus, bestellte seine besten Pferde und fuhr im Galopp nach Paris.

»Soll ich allein gehen?« murmelte Aramis, »oder soll ich den Prinzen benachrichtigen? Und was dann? Mit ihm abreisen? Diesen lebenden Beweis meiner Tat überall mit mir herumschleppen? Unmöglich! Aber was wird er ohne mich tun? Ohne mich kann er sich nicht halten – doch mit mir jetzt auch nicht mehr! O, so vollende sich das Verhängnis! Er war verdammt – er ist wieder verdammt – er wird für immer verdammt sein! O, du finstere, rätselhafte Macht, die man Genius des Menschen nennt, Gott oder Teufel – du bist unberechenbarer als der Föhn, du versehrst das All mit einem Hauche deines Odems, du richtest Felsenmassen auf und stürzest Gebirge nieder. Du spielst mit Mächten, die du selbst nicht einmal kennst, die dich vielleicht leugnen und sich an dir rächen. So bin ich denn verloren? Ich – verloren? Nach Belle-Ile flüchten? Und soll Porthos hierbleiben? Nein, ich will nicht, daß Porthos Ungemach erleide. Er ist ein Stück von mir. Sein Schmerz ist auch der meine. Porthos muß mit mir.«

Wenige Minuten später saßen die beiden Flüchtlinge schon zu Pferde – Porthos in dem Wahne, es handle sich um eine wichtige Mission, die der König ihnen aufgetragen.

Inzwischen jagte das Gespann Fouquets auf der Landstraße dahin und erreichte die Vorstadt Saint-Antoine. Vor der Bastille ließ er halten, sprang heraus und wurde, als er sich als Finanzminister legitimiert hatte, ohne Umstände eingelassen und vor den Gouverneur geführt. Baisemeaux hatte seit dem letzten Besuch d’Herblays keine ruhige Minute gehabt. Die Ankunft Fouquets, der mit allen Zeichen furchtbarster Aufregung vor ihm erschien, versetzte ihn aufs neue in Schrecken. – »Mein Herr!« rief Fouquet. »Sie haben heute morgen den Bischof von Vannes gesprochen?« – »Ja, Monseigneur,« antwortete Baisemeaux. – »Und das sagen Sie so ruhig, wo es sich doch um ein entsetzliches Verbrechen handelt, an dem Sie mitschuldig sind?« – »Ein Verbrechen?« stöhnte Baisemeaux. »Ah, das wird immer schöner!« – »Ein Verbrechen! Ja! Für das Sie gevierteilt werden können, verstehen Sie mich? Führen Sie mich auf der Stelle zu dem Gefangenen!«

»Zu welchem Gefangenen?« stammelte Baisemeaux. – »Ah, Sie stellen sich unwissend?« rief Fouquet. »Gut, ich will annehmen, Sie wüßten nichts. Geständen Sie eine solche Mitschuld ein, so wären Sie ja auch verloren. Doch nochmals! Führen Sie mich auf der Stelle zu ihm!« – »Ja zu wem denn aber? Etwa zu Marchiali?« – »Marchiali? Wer ist das?« – »Der Gefangene, den Herr d’Herblay heute früh gebracht hat.« – »Man nennt ihn also Marchiali?« fragte der Oberintendant. – »Ja, unter diesem Namen wird er in den Büchern geführt,« antwortete Baisemeaux.

Fouquets Blick drang dem armen Gouverneur bis ins Herz, und der vollendete Menschenkenner las darin Unschuld und Aufrichtigkeit. Er erkannte, daß Baisemeaux nicht in das Geheimnis des Bischofs eingeweiht war. »Marchiali heißt also der Gefangene, den d’Herblay heute morgen hergebracht hat?« – »Ja, und wenn Monseigneur kommen, ihn abzuholen, so ist mir das lieb, denn ich wollte schon seinetwegen ans Ministerium schreiben. Er ist tobsüchtig geworden, wie es scheint. Er schreit wie toll und hat alles in seiner Zelle zertrümmert.« – »Ich will Sie allerdings von ihm befreien,« sprach Fouquet. »Führen Sie mich in seinen Kerker.« – »Monseigneur werden mir den königlichen Befehl vorlegen?« fragte der Gouverneur.

»Wie?« rief Fouquet. »Sie spielen den Gewissenhaften, Sie, der Sie die Gefangenen sonst so leicht entführen lassen? Zeigen Sie mir den Befehl, auf Grund dessen dieser Mann freigelassen worden ist.« – Baisemeaux legte den auf Seldon lautenden Befehl vor. – »Aber Seldon ist doch nicht Marchiali,« rief Fouquet. – »Marchiali ist ja auch nicht freigelassen worden,« sagte Baisemeaux. »Er ist hier.« – »Aber erst heute früh zurückgebracht worden, wie Sie selbst gesagt haben!« –

»Ich bleibe bei meiner Amtspflicht, Monseigneur,« sagte Baisemeaux ausweichend. »Mir ist ein Freilassungsbefehl für Seldon vorgelegt worden, und Seldon ist entlassen. Marchiali ist hier, und ohne ausdrücklichen Befehl des Königs darf ich niemand zu einem Gefangenen lassen.« – »Sie haben aber Herrn d’Herblay zu Marchiali gelassen,« versetzte der Minister. »Schweigen Sie, Baisemeaux, ich weiß das. Herr d’Herblay hat Sie beeinflußt, aber Herr d’Herblay hat ausgespielt und die Flucht ergreifen müssen. Wenn Sie bei Ihrer Weigerung beharren, lasse ich Sie mitsamt Ihren Offizieren auf der Stelle verhaften, oder ich gehe und komme mit 10 000 Mann und 30 Kanonen wieder, um Ihre verfluchten Türme in Grund und Boden zu schießen und ganz Paris gegen die Bastille aufzurufen. Und Sie selbst lasse ich an der Zinne des Eckturms aufknüpfen.«

»Mein Gott, sind Monseigneur verrückt geworden?« schrie der Gouverneur. – »Ich gebe Ihnen zehn Minuten Bedenkzeit. Sind Sie dann noch halsstarrig, dann gehe ich und führe aus, was ich eben sagte, ob Sie mich für verrückt halten oder nicht!« – »Monseigneur, halten Sie inne!« rief Baisemeaux, der sich nicht mehr zu helfen wußte. »Wohlan, ich lege die Sache in die Hände des Königs, der mag darüber urteilen, ob ich recht tat oder nicht, indem ich so vielen Schrecknissen nachgab. Auf! folgen Sie mir zu Marchiali!« – »Sehr wohl! Aber wir beide gehen ganz allein, verstanden,« sagte Fouquet. »Nun leben Sie wohl, es darf kein Mensch mit anhören, was ich mit diesem Marchiali zu reden habe!«

Baisemeaux senkte den Kopf und nahm die Schlüssel. Sie gingen beide über den Hof und nach dem Eckturm. Je näher sie kamen, um so deutlicher wurde das Geschrei hörbar, das der unglückliche Gefangene noch immer anstimmte. – »Was ist das?« rief Fouquet erschauernd. – »Das ist Ihr famoser Marchiali,« antwortete Baisemeaux. – Der Minister entriß ihm die Schlüssel, eilte zu der Tür, hinter der der Lärm erscholl, schloß auf und rief dem Gouverneur zu: »Bleiben Sie zurück, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!« – »Ich will’s auch gar nicht mit ansehen, wenn zwei solche Wüteriche zusammenkommen,« brummte der Gouverneur. »Einer wird den andern verschlingen.«

Das Geschrei des Gefangenen war so furchtbar, daß Fouquets Hände zitterten, während er das schwere Schloß öffnete. – »Zu Hilfe! zu Hilfe!« schrie es drinnen. »Ich bin der König! Herr Fouquet hat mich hierher bringen lassen! Zu Hilfe dem König gegen Fouquet! In den Tod mit Fouquet!« – Das heisere Brüllen zerriß dem Minister das Herz. Endlich hatte er das Schloß geöffnet und trat in die Zelle.

Als der Minister und der König einander erblickten, stießen beide einen Schrei aus. – »Kommen Sie, mich umzubringen?« rief Ludwig. – »Der König in diesem Zustande?« rief Fouquet. – Der junge Fürst bot in der Tat einen entsetzlichen Anblick: finster, bleich, das Haar zerwühlt, die Kleider zerfetzt, die Hände zerrissen, von Angst und Hunger verzehrt. Diese wenigen Stunden in der Bastille hatten alles Königliche seiner Erscheinung hinweggewischt; er war nichts als ein Elender, ein Phantom dessen, was er gewesen. Er packte eins der zertrümmerten Stuhlbeine und schwang es gegen Fouquet. – »Sire,« rief dieser, »erkennen Sie nicht mehr Ihren treuesten Freund?« – »Sie ein Freund von mir?« schrie der König, vor Rachedurst mit den Zähnen knirschend. – »Ihr untertäniger Diener!« antwortete Fouquet und warf sich zu seinen Füßen nieder. Und er umschlang seine Knie und schmiegte den Kopf an die zerrissenen Kleider. »Mein König! mein König!« rief er. »Sie haben viel leiden müssen?«

Ludwig schien jetzt erst zu erkennen, wie er aussah, und sich seiner Lage, seines Zustandes zu schämen. Er erblaßte. – »Kommen Sie, Sire!« rief Fouquet. »Sie sind frei.« – »Ha!« rief der König. »Sie machen mich frei, nachdem Sie sich erfrecht haben, mich gefangenzusetzen?« – »O, glauben Sie doch das nicht! Ich bin ohne jede Schuld!« rief Fouquet. Und schnell und mit Wärme erzählte er den ganzen Hergang. Ludwig hörte schweigend zu, und als Fouquet schwieg, sah er wie ein Träumender vor sich hin, so sehr stand er noch unter dem Banne der schrecklichen Gefahr, in der er geschwebt hatte. Dann richteten seine Gedanken sich auf das Geheimnis, das die Grundlage des ganzen Staatsstreiches gewesen war. – »Mein Herr!« rief er aus. »Diese Zwillingsgeburt ist ein Märchen. Wie kann man einen solchen Verdacht gegen meine Mutter aussprechen? Ich habe nur einen Bruder, das ist Monsieur.« – »Zum mindesten muß dieser Marchiali Eurer Majestät in der Tat sehr ähnlich sehen,« antwortete der Minister. »Denn alle haben sich von dieser großen Aehnlichkeit täuschen lassen, alle, Ihre Mutter, Sire, Ihre Offiziere, der ganze Hof.«

»In Vaux?« rief der König. »Ich will mit Truppen gegen sie alle ziehen und die schändlichen Verräter vernichten.« – »Majestät, die hierzu nötigen Befehle sind schon erteilt. In einer Stunde können Sie an der Spitze von 10 000 Mann stehen.« – »Was? Sie haben dazu schon Anordnungen getroffen?« rief der König und ergriff Fouquets Hand mit einer Rührung, an der man erkennen konnte, wie tief bisher sein Mißtrauen gegen diesen Mann gewesen war. – »Allein, Sire,« fuhr Fouquet fort, »es wird nicht nötig sein, davon Gebrauch zu machen, denn das Haupt des Unternehmens, der Mann, der dies alles ausgeführt hat, ist von mir entlarvt worden.«

»Sie haben diesen falschen Prinzen gesehen?« rief Ludwig. – »Nein,« antwortete Fouquet. »Er ist nicht die Seele dieser Tat, er ist nur ein Werkzeug. Der Mann, der dieses furchtbare Verbrechen entworfen und ausgeführt hat, ist Herr d’Herblay, der Bischof von Vannes.«

»Ihr Freund!« rief Ludwig. – »Er war mein Freund,« antwortete Fouquet edel. »Ich wußte nichts von dem schändlichen Vorhaben.« – »Und wer war sein Helfershelfer? Wer war der Riese, der mit seiner herkulischen Kraft drohte?« – »Das muß Baron du Vallon gewesen sein.« – »Ha! Ich werde die Schuldigen züchtigen, einen wie alle!« rief Ludwig. – »Sire, erwägen Sie!« entgegnete Fouquet. »Ein Prozeß würde in diesem Falle die Ehre des Throns beeinträchtigen. Der erhabene Name Annas von Oesterreich darf nicht vor ein Gericht gezogen werden. Königliches Blut darf nicht auf dem Schafott fließen.« – »Wie? Sie glauben an diese Zwillingsgeburt?« rief der König. »Das ist eine Erfindung d’Herblays, die sein Verbrechen noch erschwert, wenn dies möglich ist. Er und sein Genosse müssen sterben, und sterben muß dieser Pseudoprinz, das elende Werkzeug des Verwegenen!«

»Sire, was ihn anbetrifft, so werden Sie die Ehre Ihrer Krone wahren, ich menge mich da nicht hinein. Nur eines wage ich anzudeuten, Sire,« antwortete Fouquet. »Ehe Sie Ihrem Zwillingsbruder Philipp von Frankreich den Kopf abschlagen lassen, sprechen Sie mit Ihrer Mutter. Was aber d’Herblay und du Vallon anbetrifft, so bitte ich für sie um Gnade!« – »Gnade für die Meuchelmörder?« rief der König. – »Zwei Rebellen, Sire, weiter nichts.« – »Und Ihre Freunde? Ja ich verstehe. Doch die Sicherheit meines Reiches erheischt es, daß ich die Schuldigen bestrafe.«

»Ich erinnere Eure Majestät daran,« sagte Fouquet bescheiden, »daß ich Ihnen eben die Freiheit gegeben und das Leben gerettet habe. Und hätte Herr d’Herblay die Rolle eines Mörders spielen wollen, so hätte er heute früh Eure Majestät unterwegs nur durch einen Pistolenschuß zu töten brauchen, und alles wäre abgetan gewesen.« – Ludwig XIV. fuhr zusammen. – »Ein Pistolenschuß in den Kopf,« setzte Fouquet hinzu, »hätte das Gesicht der Leiche bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert, und niemand würde in dem Toten den König von Frankreich erkannt haben. Dann würde d’Herblay mir auch nicht seinen Plan enthüllt haben. Nachdem der wahre König beseitigt, hätte der falsche König sich an seine Stelle gesetzt, und kein Mensch hätte das Geheimnis entdeckt. Sicherheit für alle Zeiten, Straflosigkeit und den Erfolg seiner Tat – das alles hätte sich d’Herblay mit diesem Pistolenschuß verschafft. Danken Sie also auch ihm, Sire, daß man Sie noch retten kann!«

Fouquet wollte den König rühren, aber er erreichte das Gegenteil. Dieses stolze Gemüt vermochte nicht den Gedanken zu ertragen, daß ein Sterblicher sein Leben in der Hand gehabt habe. Er fühlte sich tief gedemütigt, und jedes Wort, durch das Fouquet die Begnadigung seiner Freunde zu erlangen hoffte, war ein Tropfen Gift, in das empörte Herz des Königs geträufelt. Mit Ungestüm wendete er sich an Fouquet und rief: »Mein Herr, wie können Sie mich um Gnade für diese Leute bitten? Warum auch tun Sie es? Sie haben es gar nicht nötig. Ich bin ja hier in der Bastille, und man hält mich für den wahnsinnigen Marchiali, der sich für den König ausgibt. Aendern Sie einfach nichts daran! Lassen Sie den Verrückten hier im Kerker, und der neue König wird nichts gegen Herrn d’Herblay und Herrn du Vallon tun.«

»Majestät,« antwortete Fouquet trocken, »wenn ich einen neuen König hätte machen wollen, würde ich in Vaux geblieben sein, statt zu Ihrer Rettung hierher zu eilen. Das ist doch einleuchtend. Majestät sind im Zorn, sonst würden Sie nicht denjenigen beleidigen, der Ihr treuester Diener ist und Ihnen den wichtigsten Dienst geleistet hat.« – Ludwig erkannte, er war zu weit gegangen, denn noch hatten sich ihm die Tore der Bastille nicht geöffnet, während sich allmählich die Schranken auftaten, hinter denen der edelsinnige Fouquet seinen Zorn zurückhielt. – »Ich habe das nicht gesagt, Herr Fouquet,« sprach er, »um Sie zu demütigen, sondern nur um festzustellen, daß ich gegen mein Gewissen handeln müßte, wenn ich diese Verbrecher straflos ließe. Es sei denn, Sie legen mir Bedingungen auf, zu denen ich mich verpflichten soll, ehe Sie mich freilassen.«

»Majestät, ich habe unrecht,« antwortete Fouquet. »Ich errege in der Tat den Anschein, als wollte ich eine Gnade erzwingen. Das tut mir sehr leid, und ich bitte Sie um Verzeihung.« – »Ihnen ist vergeben, Herr,« antwortete der König. »Aber Verzeihung für d’Herblay und du Vallon erlangen Sie nie, solange ich lebe. Reden Sie nie mehr davon.« – »Sire, ich werde gehorchen,« antwortete Fouquet kurz. »Auch sah ich voraus, Sie würden den beiden Ihre Gnade versagen, und habe demzufolge meine Maßregeln getroffen. Herr d’Herblay hat sich mir offenbart und mir dadurch das Glück verschafft, meinen König und mein Vaterland zu retten. Ich konnte ihn nicht zum Tode verdammen, indem ich ihn dem Zorn Eurer Majestät auslieferte. Ich habe ihm und Herrn du Vallon meine besten Pferde und vier Stunden Vorsprung gegeben. Eure Majestät können sie nicht mehr einholen. Sie werden Belle-Ile erreichen, wo ich ihnen ein Asyl zugestanden habe.« – »Sie vergessen, Belle-Ile haben Sie mir geschenkt.« – »Doch nicht, damit Sie da meine Freunde verhaften.« – »Sie nehmen es mir wieder?« – »Dann ja, Majestät.« – »Meine Musketiere werden es in Besitz nehmen.« – »Weder Ihre Musketiere noch Ihre ganze Armee, Sire,« erwiderte der Minister. »Belle-Ile ist uneinnehmbar.«

Der König wurde blaß, und ein Blitz flammte aus seinen Augen. In diesem Moment war das Schicksal Fouquets besiegelt. Er fühlte es, allein er gehörte nicht zu denen, die ihr Leben höher einschätzen als ihre Ehre. Er hielt dem tückischen Blicke des Königs stand. Ludwig bezwang seine Wut und sagte nach kurzem Schweigen: »Lassen Sie uns nach Vaux gehen.« – »Ich stehe zu Eurer Majestät Befehl,« antwortete Fouquet mit einer tiefen Verbeugung. »Doch, bitte, erst zum Louvre, Majestät, damit Sie die Kleider wechseln können.«

Und sie gingen von dem verblüfften Baisemeaux fort, der schon einmal Marchiali hatte gehen sehen und sich die wenigen Haare ausriß, die ihm noch verblieben waren.

5. Kapitel. Aufklärungen

So war denn Luise von Lavallière wieder am Hofe der Herzogin von Orléans. Außer den Eingeweihten wußte niemand etwas Genaues über ihre Zurückberufung zu sagen; ja man wußte nicht einmal bestimmt, ob sie wirklich verstoßen worden sei. Die Montalais, Malicorne, Saint-Aignan und der Kapitän der Musketiere hüteten sich wohl, mit ihrer Mitwissenschaft zu prahlen. Ebenso schwieg Madame über ihre Unterredung mit dem König und teilte niemand mit, auf welche Weise die Einigung zustande gekommen war. Die Erkenntnis, um welch gefährliches Geheimnis es sich hierbei handelte, ging bei den Höflingen und Hofdamen sogar so weit, daß sie nicht einmal Vermutungen anzustellen wagten. Man huldigte der Lavallière – aber man sah nichts von der Leidenschaft des Königs; man bemerkte den Zorn der Herzogin von Orléans, aber man wußte nichts über die Ursache.

Madame hatte nachgegeben, aber deshalb war Ludwig, der Liebende, seinem Ziele nicht um einen Schritt näher gekommen. Im Gegenteil! denn Madame hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihm alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg zu legen und ihm eine Zusammenkunft mit der Lavallière so gut wie unmöglich zu machen, sofern er es nicht auf einen offnen Affront ankommen lassen wollte. Ludwig war außer sich; er durchschaute alle ihre Machinationen und konnte doch nichts dagegen tun. Nach außenhin blieb sein Verhältnis zu seiner Schwägerin auf dem Boden der Höflichkeit, ja der Freundschaft, und doch gab es keine größere Feindschaft, als diese beiden Herzen, das eine in seiner Eifersucht, das andere in seinem Liebesdurst, gegeneinander hegten.

Aber zum Glück hatte Ludwig XIV. zwei Helfershelfer, die, ohne daß er sich durch die geringste Andeutung zu kompromittieren brauchte, das Verlangen seiner Seele erkannten und mit allen Mitteln zu befriedigen strebten. Malicorne, der ehrgeizige Freund der Montalais, wollte Karriere machen und erblickte in einem Kuppeldienst zwischen Ludwig und Luise das sicherste Sprungbrett. Da die Person des Königs ihm noch unerreichbar war, wandte er sich mit seinen Ratschlägen an Saint-Aignan, dem nichts mehr am Herzen lag, als seinen königlichen Herrn zufriedenzustellen. Der gute Hofmeister aber war von Natur ein wenig zaghaft und mußte ja in seiner Stellung auch scharf auf der Hut sein, um jede schiefe Situation zu vermeiden. Da kam ihm der findige Kopf Malicornes, der nie um Auskunftsmittel verlegen war, sehr zupaß, und ihren beiderseitigen Bemühungen konnte der glückliche Erfolg nicht lange fernbleiben, zumal Malicorne wiederum in der Montalais einen trefflichen Beistand hatte.

Madame ließ die Montalais und die Lavallière unmittelbar neben ihrem Schlafzimmer logieren, und nun begann die Montalais plötzlich im Traum zu sprechen, zu weinen, zu schreien, so daß Madame keine Nacht mehr ungestört schlafen konnte. Nervös wie sie war, schalt sie alle Morgen darüber, aber es half nichts; sie mußte die von ewigem Alpdrücken geplagte Montalais ausquartieren. Da es nun Vorschrift war, daß die Ehrenfräulein zu zweien in einem Zimmer schliefen, und die Montalais bisher stets die Lavallière zur Gefährtin gehabt hatte, so folgte Luise ihr nach. Man war in Verlegenheit um ein geeignetes Zimmer und fand schließlich eins unmittelbar über dem Gemach, das im Palast dem Herrn Grafen von Guiche eingeräumt war. Das war Madame aus gewissen Gründen sehr lieb; sie hatte in letzter Zeit begonnen, die Montalais zu ihrer Vertrauten zu machen, und hielt es für praktisch, diese Dame so nahe bei dem Grafen Guiche wohnen zu lassen. Allein der Graf war noch immer krank und konnte das Haus, in das man ihn als Verwundeten gebracht, noch nicht verlassen. Sein Zimmer, das zu ebner Erde lag, stand also leer.

Nachdem die beiden Ehrenfräulein in dem ersten Stockwerk einquartiert worden waren, stattete nun Saint-Aignan Herrn von Guiche einen Besuch ab, überbrachte ihm die Grüße des Königs und bat den Grafen, ihm einstweilen sein Palastzimmer einzuräumen. Graf Guiche hatte nichts dagegen, und der Hofmeister siedelte über und wohnte nun unter Fräulein von Lavallière. Das alles war auf Betreiben Malicornes geschehen, und Malicorne, der erfinderische, ging noch weiter. Er besprach sich mit einem Klempner und einem Tischler, die man mit verbundenen Augen in Saint-Aignans Zimmer führte. Während Madame mit ihren Damen einen Ausflug machte, gingen die beiden Handwerker an die Arbeit, stellten eine von dem unteren zum obern Zimmer führende Treppe her und brachten in der Decke eine Falltür an, deren Mündung im Parkett des oberen Fußbodens so sorgsam eingepaßt wurde, daß selbst ein mit solchen Geheimnissen vertrautes Auge nichts entdecken konnte. Vor die Falltür wurde noch ein Wandschirm gerückt, dessen Aufstellung niemand wundernehmen konnte, da es nur in der Ordnung war, daß sich die Damen einen kleinen Raum absonderten, der ihnen als Boudoir dienen konnte.

Die Falltür war auf beiden Seiten durch eine geräuschlos spielende Feder zu öffnen und zu schließen. Wenn nun auch das Zimmer der Lavallière stets der Kontrolle unterlag und niemals ein sicherer Aufenthalt für die Liebenden war, so konnten sie doch um so ungestörter zusammen sein, wenn die Lavallière sich in Saint-Aignans Zimmer begab. Der König war entzückt über die Anordnungen, die getroffen worden waren, die Bedenklichkeiten der Lavallière wurden leicht überwunden, und Ludwig sah sich am Ziel seiner heißesten Wünsche. Er konnte sich täglich mit ihr treffen, und seine beiden Helfershelfer waren diskret genug, ihn mit der Geliebten allein zu lassen.

Eines Tages ruhte sie wieder an der Brust ihres königlichen Geliebten. Eine süße Trunkenheit nahm beider Sinne gefangen, seliges Vergessen senkte sich über sie herab; für ihre Inbrunst war die Welt nicht mehr vorhanden, bis plötzlich die Lavallière erschrocken auffuhr. – »Sire, es klopft oben!« stammelte sie. »Ludwig, Ludwig, hören Sie nicht? man erwartet mich.« – »Wenn wir nur zusammen sind,« antwortete er, sie wieder an sich ziehend, »so mögen die andern warten.« – »Nein, nein,« rief sie und machte sich gewaltsam los, »ich höre die Stimme der Montalais.« Und sie eilte die Treppe hinauf, schlüpfte durch die Falltür und erschien hinter dem Wandschirm.

»Schnell, schnell!« rief die Montalais. »Er kommt herauf.« – »Wer denn?« – »Er! O, das habe ich vorausgesehen!« – »Aber wer denn?« stammelte Luise totenbleich. »Du marterst mich zu Tode.« – »Wer? fragst du noch?« antwortete ihre Freundin. »Bragelonne!« – Luise stieß einen furchtbaren Schrei aus. – Im selben Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Rudolf erschien auf der Schwelle. »Ja, da bin ich, Luise!« rief er. »O, ich wußte es wohl, Sie lieben mich noch immer!«

Luise starrte ihn an, barg das Gesicht in den Händen und stammelte in wimmerndem Tone: »Nein, nein! kommen Sie mir nicht nahe!« – Rudolf blieb stehen, wie angewurzelt, wie erstarrt. – Die Montalais warf einen scheuen Seitenblick nach dem Wandschirm und flüsterte: »Die Unvorsichtige! Nicht einmal die Falltür hat sie hinter sich geschlossen.« – Sie wollte hinter den Schirm schlüpfen, da stürzte aus der Oeffnung der König hervor, kniete vor Luise nieder und schlang die Arme um ihre Knie. Er hatte Rudolf nicht gesehen – aber Rudolf sah und erkannte ihn, stob, wie vom Blitz getroffen, zurück und sprang die Treppe hinab. Nun hörte der König die Tritte und lief nach dem Korridor, allein Bragelonne verschwand, ehe Ludwig ihn sehen konnte.

Betäubt, erschreckt, wie von Sinnen, stürzte Rudolf davon. Er hatte den König zu den Füßen Luisens gesehen. Konnte er nun noch zweifeln? Nein! es war offenbar, alle Gerüchte, die ihn in Schrecken gesetzt hatten, beruhten auf Wahrheit. Luise war die Geliebte Ludwigs XIV. Obwohl nun eigentlich jede Frage überflüssig war, so begab er sich doch zu Herrn von Guiche, um ihn zu fragen, was er davon wisse. – »Guiche ist mein Freund,« sagte sich der Unglückliche, »er hat mir geschrieben, er muß mir etwas sagen können, und er wird mir nichts verheimlichen.« – Denn das eine war ihm ja noch ein Rätsel: wie der König so plötzlich im Zimmer Luisens hatte erscheinen können.

Graf Guiche trug noch den Verband, war aber bereits außer Bett. Er umarmte seinen Freund, er erzählte ihm, was ihm geschehen, er erging sich in allerlei Fragen nach Rudolfs Aufenthalt in London und war sichtlich beflissen, das Gespräch von dem Thema fernzuhalten, das Rudolf so sehr am Herzen lag. Endlich jedoch mußte er ihn die heikle Frage stellen lassen. »Sie haben mich hergerufen, Graf Guiche. Was haben Sie mir zu sagen?« – »Ich kann Ihnen nichts sagen,« antwortete der Graf. – »Mein Freund, wenn Sie etwas wissen, warum verhehlen Sie es mir?« versetzte Rudolf. »Wenn Sie nichts wissen, warum schrieben Sie mir?« Und er erzählte ihm ausführlich, was ihm soeben geschehen war. Aber Graf Guiche schüttelte nur traurig den Kopf. »Ich fühle mit Ihnen, Bragelonne,« sagte er, »ich kann mir denken, wie angstvoll Sie nach Aufklärung verlangen – doch ich kann sie Ihnen nicht geben. Fordern Sie nichts mehr von Ihrem unglücklichen Freunde.«

»Sie meinten, Guiche, wenn ich käme, würde ich sehen, nicht wahr? Nun, ich habe gesehen – ich sah Luise in Verwirrung – ich sah den König – nicht wahr, es ist der König?« – »Ich sage nichts darauf,« antwortete Guiche abermals. – »Guiche, Guiche, Sie bringen mich ins Grab!« stöhnte Bragelonne. »Reden Sie doch, Sie sehen ja, mein Herz verblutet.« – »Mein lieber Freund,« antwortete der Graf, »was ich Ihnen sagen könnte, erfahren Sie vom ersten Besten, den Sie fragen. Mehr kann, mehr darf auch ich nicht sagen. Wollen Sie, daß ich mich durch ein unbesonnenes Wort in die Bastille bringe? Meine Pflicht war, Ihnen Nachricht zu geben, das habe ich getan. Wachen Sie nun selbst über Ihre Angelegenheit!«

Ein Lakai trat ein. »Man erwartet den Herrn Grafen im Porzellankabinett.« Graf Guiches Antlitz leuchtete auf. – »O,« murmelte Rudolf, als der Graf gegangen war, »ich schalt Madame eine Kokette. Aber in ihren guten Stunden liebt sie doch wenigstens und macht Guiche zum glücklichsten der Menschen! – Ich gehe zu d’Artagnan! er ist mein Freund und war noch nie einer von denen, die hinterm Berge halten.«

Der Kapitän war außer Dienst und saß in seinem Zimmer. Er las einen Brief, den er von Athos erhalten und der sich mit derselben Person beschäftigte, die jetzt, aufgeregt, mit fiebernder Stirn und kochendem Blute, zu ihm hereintrat. – »Rudolf, mein Junge!« rief d’Artagnan und drückte ihn stürmisch an die Brust. »Wie schön, daß du ha bist! Hat der König dich zurückgerufen?« – »Nein, ich bin so gekommen!« erwiderte Rudolf dumpf. – »Was?« brummte der Gaskogner und sah Rudolf vielsagend an. »Zurück ohne Befehl des Königs? Das verstehe ich nicht. Und was machst du für eine Leichenbittermiene? Hat man dir in England die Laune verdorben? Potzblitz! auch ich war in England und kam lustig wie ein Fink zurück. Was hast du für Verdruß?«

»Mein Gott, das wissen Sie doch recht gut, Herr d’Artagnan!« rief Rudolf. – »Woher soll ich denn das wissen?« versetzte der Chevalier. – »O, Herr d’Artagnan,« sagte Bragelonne. »Ich bin kein witziger Kopf wie Sie, und jetzt überhaupt bin ich wie zerschlagen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Helfen Sie mir.« – »Was fehlt dir denn aber?« – »Fräulein von Lavallière betrügt mich,« stieß Rudolf hervor. – »Wer hat dir das gesagt?« antwortete der Gaskogner trocken.

»Alle Welt.« – »Dann muß ja was Wahres dran sein,« brummte der Kapitän. »Wenn ich Rauch sehe, so glaube ich, daß es wo brennt. Allein ich menge mich nicht gern in solche Sachen, dafür kennst du mich.« – »Auch nicht für einen Freund, für einen Sohn?« rief Rudolf.– »Da du mein Freund bist, so will ich dir sagen,« antwortete d’Artagnan, aber er schlug sich auf den Mund und knurrte: »Nein, ich will dir nichts sagen. Wie geht es Porthos?«

»Herr d’Artagnan,« rief Rudolf, »im Namen der Freundschaft, die Sie mit meinem Vater verbindet –!«

»Teufel, die Neugierde plagt dich gewaltig.« – »Ich schwöre es Ihnen, es ist nicht Neugierde, es ist Liebe. Ich liebe Fräulein von Lavallière bis zum Wahnsinn.«

»Unmöglich! Du bist wie alle jungen Leute, du bist närrisch. Ein wirklich verständiger Mann läßt sich von seinem Herzen, ob es noch so gärte, nie vom rechten Wege abbringen. Potz Wetter! Wenn ich dir auch etwas sagte, du würdest mich nicht verstehen, und wenn du mich verständest, so würdest du mir doch nicht gehorchen.«

»O, probieren Sie es, Herr d’Artagnan!« flehte Bragelonne. – »Nun denn, so höre!« sprach der Gaskogner, »schnall die Sporen an und reite ein gutes Pferd müde.« – Rudolf wandte sich ab. »Man hat keine Freunde,« sagte er, »nur Spötter und Gleichgültige.« – »Und willst du etwa mein Freund sein, daß du mich zum Schwatzen zwingen möchtest!« rief der Chevalier. »Meinst du denn, wenn ich schon so unglücklich wäre, etwas zu wissen, ich würde so unklug sein, es dir mitzuteilen? Als ob ich nichts weiter zu tun hätte, als mich um Klempner und Tischler zu bekümmern.«

»Um was für einen Klempner? Um was für einen Tischler?« – »Ich weiß nicht. Man munkelt, ein Tischler hätte einen Zimmerboden durchlöchert und eine Treppe mit einer Falltür gemacht, und ein Klempner hätte sie eingesetzt.« – »Ha! im Zimmer der Lavallière, nicht wahr?« – »Du nennst immer wieder diese Person,« versetzte der Gaskogner. »Wer spricht von der Lavallière?«

»Nun, wenn es sie nicht betrifft, was geht es mich dann an?« rief Rudolf. – »Es soll dich ja auch gar nichts angehen. Du fragst nur, und ich gebe Antwort.«

»Das ist zum Sterben!« stöhnte der junge Mann. »Ich werde jemand aufsuchen, der mir die Wahrheit sagen wird.«

»Die Montalais? nicht wahr? Sprich nicht mit ihr, mein Junge. Du würdest nur ein Geheimnis preisgeben, das man zu deinem Schaden mißbrauchen könnte. Warte, wenn du kannst.« – »Ich kann nicht.«

Es klopfte an die Tür. Ein Musketier kam herein. »Ein Fräulein wünscht mit dem Herrn Kapitän zu sprechen.« – »Mit mir?« sprach d’Artagnan verwundert. »Sie trete ein.« Es war die Montalais. – »Ich suchte Herrn von Bragelonne,« sagte sie, »und man wies mich zu Ihnen. – »Ah, das trifft sich gut, Fräulein,« sagte der Chevalier, »er wollte eben zu Ihnen. Nun, so gehen Sie, Rudolf.« Er schob den jungen Mann zur Tür hinaus und flüsterte Aure zu: »Seien Sie gut und schonen Sie seiner!« – »Ah, ich will nicht mit ihm reden,« antwortete sie, »Madame läßt ihn holen.« – »O, das ist gut,« brummte der Kapitän. »Madame wird ihn kurieren.« – »Oder töten,« murmelte die Montalais. »Gott befohlen, Kapitän.«

Und sie lief Rudolf nach, der schon den Korridor entlangschritt. Er küßte ihr die Hand. – »Sie bringen Ihre Küsse da auf verlorenem Boden an,« sagte sie kalt. »Ich bürge Ihnen, sie werden Ihnen keine Zinsen tragen.« – »Aber Sie können mir doch sagen, Fräulein –«

»Madame wird Ihnen alles sagen,« antwortete sie. »Zu ihr führe ich Sie. Schleudern Sie nicht so wilde Blicke! Die Fenster haben hier Augen und die Mauern Ohren. Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie mit mir recht laut vom Wetter oder vom Leben in England. Ich habe keine Lust, in die Bastille zu spazieren.«

Rudolf ballte die Fäuste, preßte die Zähne aufeinander und sprach kein Wort mehr, bis er vor Madame stand. Reizender als je ruhte Lady Henriette in einem Schlafsessel und spielte in dem seidenen Fell einer kleinen Katze. Sie schien in Träume versunken, die Montalais mußte sie anreden, dann erst sah sie auf und begrüßte Herrn von Bragelonne. – »Sieh da! Zurück aus England. Verlassen Sie uns, Montalais! Sie haben ein paar Minuten für mich übrig, Herr Graf?« – »Mein ganzes Leben gehört Ihrer Königlichen Hoheit,« antwortete Rudolf, der nichts davon erfahren hatte, daß Madame selbst es gewesen, die ihn hatte zurückkommen lassen.

»Herr von Bragelonne,« begann Madame nach kurzem Schweigen, »sind Sie gern zurückgekommen?« – »Und weshalb sollte ich ungern zurückgekommen sein, Hoheit?« antwortete er. – »Ein Mann Ihres Alters und ein so schöner Mann könnte dazu doch immer Ursache gehabt haben,« sagte sie lächelnd. »Oder sollte Gott Amor in England keine Stätte mehr haben?« – »Madame,« erwiderte Rudolf, »Sie wollen mir etwas sagen, und Ihr natürlicher Edelmut veranlaßt Sie, schonend vorzugehen. Nun, schonen Sie mich nicht, ich bin stark genug, alles zu hören – nur die Ungewißheit ist grausam.«

»Grausam auch die Gewißheit,« sagte die Herzogin leise. »Doch weil ich schon anfing – was hat Ihnen Herr von Guiche gesagt?« – »Nichts, Madame.« – »Nichts? Daran erkenne ich ihn; er wollte ohne Zweifel mich schonen. Aber d’Artagnan, von dem Sie eben kommen?« – »Sagte mir ebensowenig wie Guiche, Madame.« – Henriette machte eine Gebärde der Ungeduld. »Aber was der ganze Hof weiß, das wenigstens ist Ihnen bekannt?« – »Mir ist nichts bekannt.« – Henriette fühlte Rührung beim Anblick dieses Mannes, der so traurig und so tapfer war. – »Herr von Bragelonne,« sagte sie, »so will ich denn tun, was Ihre Freunde nicht zu tun wagten. Ich will als Ihre Freundin handeln. Sie tragen da den Kopf eines Ehrenmannes, und den sollen Sie nicht unter dem Spott jedes Witzlings beugen müssen. Hören Sie mich ruhig an!«

Und sie erzählte von jenem Gewitter, bei dem der König mit der Lavallière allein im Walde gewesen, von der Flucht Luisens nach Chaillot und von der Zurückberufung. – »Sie waren der Verlobte des Fräuleins,« schloß sie, »und als solchem teile ich Ihnen noch mit, daß ich heute oder morgen trotz dem König Fräulein von Lavallière fortjagen werde. Ich habe nicht länger Lust, auf die Tränen des Königs und seine verliebten Klagelieder Rücksicht zu nehmen. Mein Haus soll fürder nicht der Schauplatz solcher Umtriebe sein.«

Rudolf neigte den Kopf zur Erde; nur mit aller Kraft vermochte er sich aufrecht zu halten. – »Ich weiß, daß ich da schwere Beschuldigungen ausspreche,« sagte sie in sanfterem Tone, »doch werde ich nicht zaudern, sie Ihnen zu beweisen. Folgen Sie mir.« – Sie schritt mit ihm über den Hof auf die Wohnung der Lavallière zu. Das Schloß war um diese Stunde leer; der König war mit dem Hofstaate nach Saint-Germain gefahren. Madame hatte Unpäßlichkeit vorgeschützt, weil sie diese Gelegenheit benutzen wollte, um mit Bragelonne, um dessen Rückkunft zunächst sie allein wußte, zu sprechen. Sie konnte also sicher sein, die Zimmer der Lavallière und Saint-Aignans leer zu finden.

Mit einem Nachschlüssel öffnete sie die Zimmertür ihres Ehrenfräuleins. Sie traten ein und schlossen hinter sich zu. – »Sie wissen, wo Sie sind?« fragte Lady Henriette. – »Ich erkenne das Zimmer wieder,« antwortete er. »Es ist das des Fräuleins.« – Die Prinzessin schritt zu dem Wandschirm, rückte ihn beiseite und bückte sich zum Fußboden nieder. Ein Fingerdruck – und Rudolf sah eine Falltür aufspringen, die eine Treppe enthüllte. – »Sehr sinnreich, nicht wahr?« rief sie. »Der Druckknopf ist kaum zu erkennen. Beim vierten Blatt des Parketts, wo sich ein Knoten im Holz befindet. Die Feder spielt sehr leicht, damit auch eine kleine Damenhand sie in Tätigkeit setzen könne. Folgen Sie mir weiter!«

Und Rudolf stieg mit ihr die Treppe hinab und gelangte in das untere Zimmer, das selbst dem nüchternsten Auge als Treffpunkt eines Liebespaares erscheinen mußte. – »Es ist Herrn von Saint-Aignans Zimmer,« sagte Madame. »Es traf sich zufällig, daß es frei stand, und der Hofmeister des Königs zögerte nicht, hierhin überzusiedeln.«

Bragelonne glaubte, das Herz breche ihm. Er wankte und sank auf einen Stuhl. Sein letzter Zweifel war zerstört, die letzte schwache Hoffnung vernichtet. Das Luftschloß, in dem er seit vielen Jahren schon von Glück und Liebe träumte, stürzte in Trümmer und begrub ihn unter sich. – »Vergebung, Madame!« stammelte er. »Ich weiß, ich sollte in Ihrer Gegenwart mehr Herr über mich sein. Aber möge der Gott des Himmels und der Erde Sie nie mit einem solchen Schlage heimsuchen, wie mich in diesem Augenblick!« – »Herr von Bragelonne,« antwortete sie, »es wäre mir schmerzlich gewesen, Ihr ganzes Leben durch Treulosigkeit verbittert, durch Hohn befleckt zu sehen. Deshalb rief ich Sie aus London zurück – ja! ich selbst schrieb an meinen Bruder in dieser Sache. Hier habe ich Ihnen nun die Beweise geliefert die Sie heilen müssen, so schwer die Operation auch sein mag. Aber Sie werden sie bestehen, wenn sie ein Mann von Mut und kein weinerlicher Amadis 12 sind. Danken Sie mir nicht – denn ich tat es selbst nur sehr ungern – und dienen Sie um nichts weniger Ihrem König.«

»Ah, ich vergaß es fast,« murmelte Bragelonne düster, »es ist ja der König, mein Gebieter!« – »Und deshalb handelt es sich für Sie um Leben und Freiheit!« setzte Madame hinzu. – Ein flammender Blick Rudolfs verriet der Herzogin, daß der junge Mann nach beidem nicht mehr fragte. – »Seien Sie auf der Hut, Herr Graf,« sagte sie. »Wägen Sie Ihre Handlungen sorgsam ab, bringen Sie den König nicht in Zorn, Sie würden damit sich und die Ihrigen ins Unglück stürzen. Beugen Sie sich – heilen Sie sich!« – »Dank, Madame!« erwiderte der junge Mann. »Noch eine Frage! Wie haben Sie das Geheimnis dieser beiden Zimmer entdeckt?« – »Das war sehr einfach. Ich habe stets doppelte Schlüssel zu den Gemächern meiner Damen, um sie jederzeit überwachen zu können,« antwortete Lady Henriette. »Nun wunderte es mich, daß die Lavallière sich so oft auf ihr Zimmer zurückzog, daß Saint-Aignan eine andere Wohnung nahm, und zwar merkwürdigerweise gerade unter der Lavallière, und daß an der Tagesordnung bei Hofe manches auffallenderweise geändert wurde. Ich mag dem König nicht zum Spielball dienen; ich mag nicht den Deckmantel für seine Liebschaften hergeben; denn nach der weinerlichen Lavallière wird es die übermütige Tonnay-Charente sein, das sehe ich schon kommen. Das ist keine meiner würdige Rolle. Deshalb entdeckte ich das Geheimnis, indem ich die Handwerker bestach, die hier gearbeitet haben. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen und habe es getan. Sie sind gewarnt, bringen Sie sich nicht in Gefahr. Der Sturm steht über unsern Häuptern.«

»Erwarten Sie nicht, daß ich die Schmach, die man mir antut, ohne Widerrede hinnehmen werde!« versetzte Rudolf stolz. – »Sie sind Herr Ihrer Entschlüsse,« antwortete sie. »Nur nennen Sie die Quelle nicht, aus der Sie die Wahrheit schöpften.« – »Fürchten Sie nichts, Madame,« sagte Bragelonne mit bitterm Lächeln. Darauf riß er ein Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb darauf die folgenden Worte: »An den Grafen von Saint-Aignan. – Herr Graf! Sie werden den Besuch eines meiner Freunde erhalten. Rudolf Vicomte von Bragelonne.« – Er rollte den Zettel zusammen und schob ihn in den Spalt der zum Zimmer der beiden Liebenden führenden Tür. Auf dem Treppenabsatz verließ ihn Madame, und während sie in ihre Gemächer zurückeilte, sprach sie bei sich: »Hätte ich gewußt, wie nahe es ihm ginge, ich würde diesem armen Menschen die Wahrheit verschwiegen haben.«

  1. Der Held eines sentimentalen Ritter- und Liebesromans und Typus des empfindsamen, unglücklichen Liebenden.