Fünfundzwanzigstes Kapitel


Die Rückkehr James Mores

Am Morgen wurde ich zu später Stunde durch Klopfen an meiner Tür aus unruhigem Schlummer geweckt; ich lief, um zu öffnen und wäre im Widerstreit meist schmerzlicher Empfindungen fast umgesunken: dort auf der Schwelle in einem groben Überrock und ungewöhnlich großem, betreßten Hut stand James More. Ich hätte mich vielleicht rückhaltlos freuen sollen, denn der Mann kam in gewissem Sinne wie eine Antwort auf ein Gebet. Ich hatte mir vorgeredet, bis mir der Kopf schwindelte, daß Catriona und ich uns trennen müßten, hatte mich, bis ich Kopfschmerzen bekam, nach einer Möglichkeit hierzu umgeschaut. Jetzt war das Mittel auf zwei Beinen zu mir heranspaziert, und Freude nahm den hintersten Platz in meinen Gedanken ein. Zu bedenken ist jedoch, daß, obwohl die Last der Zukunft durch dieses Mannes Ankunft von meinen Schultern genommen wurde, die Gegenwart nur um so schwärzer und drohender vor mir aufragte; ich glaube daher, daß ich, als ich mich im ersten Augenblick in Hemd und Hosen ihm gegenüber sah, wie angeschossen zurückfuhr.

»Ah,« sagte er, »ich habe Euch gefunden, Mr. Balfour.« Und er bot mir seine große, schöne Hand, die ich (gleichzeitig, wie zur Abwehr, meinen Posten an der Tür von neuem beziehend) etwas im Zweifel ergriff. »Höchst eigentümlich, wie unsere Geschäfte sich verstricken«, fuhr er fort. »Ich schulde Euch wegen dieses bedauerlichen Eingreifens in die Euren, zu dem ich mich durch mein Vertrauen in jenes Doppelgesicht, Prestongrange, verleiten ließ, eine Entschuldigung; ich schäme mich, einzugestehen, daß ich einmal einem Juristen traute.« Er zuckte auf sehr französische Art die Achsel. »Aber wahrhaftig, der Mann machte einen so guten Eindruck. Und jetzt scheint es gar, als hättet Ihr Euch in nobelster Weise meiner Tochter angenommen, deren Adresse zu erfragen man mich an Euch wies.«

»Ich glaube, Sir,« entgegnete ich über die Maßen verlegen, »zwischen uns beiden ist eine Auseinandersetzung erforderlich.« »Es ist doch alles in Ordnung?« forschte er. »Mein Agent, Mr. Sprott –« »Um Gottes willen, dämpft Eure Stimme!« rief ich. »Sie darf Euch nicht hören, bis wir unsere Auseinandersetzung gehabt haben.«

»Sie befindet sich hier?« rief er.

»Das ist ihre Kammertür.«

»Ihr seid hier mit ihr allein?« »Wen sonst sollte ich noch bei mir haben?« rief ich. Ich will ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen: er erbleichte. »Das ist sehr ungewöhnlich«, sagte er. »Die Umstände sind sehr ungewöhnlich. Ihr habt recht: eine Auseinandersetzung ist erforderlich.«

Mit diesen Worten ging er an mir vorbei, und ich muß gestehen, der imponierende alte Schelm nahm sich im Augenblick sehr würdig aus. Er sah jetzt zum erstenmal mein Zimmer, das ich sozusagen mit seinen Augen musterte. Ein Strahl der Morgensonne fiel durch das Fenster und beleuchtete den Raum; mein Bett, meine Koffer, der Waschtisch, meine ziemlich unordentliche Garderobe, der leere Kamin bildeten die einzige Ausstattung; kein Zweifel, es sah kalt und kahl aus und schien als Unterkunft für eine Dame der unpassendste, erbärmlichste Platz von der Welt. Gleichzeitig fielen mir die Kleider ein, die ich ihr gekauft hatte, und mich dünkte, der Kontrast zwischen Armut und Verschwendung machte einen üblen Eindruck.

Er sah sich rings im Zimmer nach einem Sitz um, und ließ sich, da er keinen anderen passenden fand, auf meinem Bettrand nieder, wo ich mich wohl oder übel zu ihm setzen mußte, nachdem ich zuvor die Tür geschlossen hatte. Wie immer diese merkwürdige Unterredung auch enden mochte, sie mußte, wenn möglich, stattfinden, ohne Catriona zu wecken, und dazu war erforderlich, daß wir dicht beieinander saßen und leise sprachen. Ich kann mir kaum vorstellen, welch ein Bild wir beide abgaben, er in seinem schweren Mantel, der gegen die Kälte außerordentlich am Platze schien, ich frierend in Hemd und Hosen; er fast mit der Miene eines Richters, ich (was immer auch mein Aussehen war) ganz mit den Gefühlen eines Mannes, der die Posaune des Jüngsten Gerichts erschallen hört.

»Nun?« forschte er. »Nun«, hub ich an, entdeckte aber, daß ich nicht weiterreden konnte.

»Ihr sagt mir, sie sei hier?« fragte er abermals, jetzt aber mit einem Anflug von Ungeduld, der mir Mut zu verleihen schien. »Sie befindet sich in diesem Hause«, sagte ich; »ich wußte, man würde die Umstände ungewöhnlich finden. Aber Ihr müßt bedenken, wie ungewöhnlich die ganze Angelegenheit von Anfang bis zu Ende war. Hier ist eine junge Dame, die mit zwei Schillingen und anderthalb Pence in der Tasche an der Küste Europas an Land gesetzt wird. Sie wird an Euren Beauftragten, Sprott, in Helvoet gewiesen. Ich höre, Ihr bezeichnet den Mann als Euren Agenten. Alles, was ich von ihm weiß, ist, daß er bereits bei der Nennung Eures Namens in Flüche und Schimpfworte ausbricht, und ich bin genötigt, ihn aus meiner eigenen Tasche zu bezahlen, um ihn zu bewegen, wenigstens Eurer Tochter Sachen in Aufbewahrung zu nehmen. Ihr sprecht von ungewöhnlichen Umständen, Mr. Drummond, falls das der Name ist, den Ihr Euch zu geben beliebt. Das war ein Umstand, dem Ihr sie niemals hättet aussetzen dürfen – ja, eine Barbarei.« »Aber ich begreife von alledem kein Wort«, sagte James. »Meine Tochter wurde der Obhut verantwortlicher Leute anvertraut – den Namen habe ich vergessen.« »Der Name lautet Gebbie,« sagte ich,» und ohne Zweifel hätte Mr. Gebbie mit ihr in Helvoet an Land gehen müssen. Das tat er aber nicht, Mr. Drummond, und ich meine, Ihr könnt Gott danken, daß ich dort war und an seiner Statt zu gehen mich erbot.«

»Ich werde noch ein Wort mit Mr. Gebbie zu haben«, erwiderte er »Und was Euch selbst betrifft, so hättet Ihr, meine ich, bedenken müssen, daß Ihr für einen derartigen Posten ein wenig jung seid.«

»Aber es handelte sich ja gar nicht um eine Wahl zwischen ihr und jemand anderem. Es blieb nur die Wahl zwischen mir und niemand. Niemand erbot sich, statt meiner zu gehen, und ich muß sagen, Ihr scheint mir für das, was ich getan habe, nur geringe Dankbarkeit zu zeigen.« »Ich werde warten, bis ich die Art meiner Verpflichtung etwas genauer kenne«, meinte er.

»Nun, mich dünkt, sie starrt Euch förmlich ins Gesicht. Euer Kind war ganz verlassen, sie war mitten in Europa auf die Straße gesetzt, mit knapp zwei Schillingen und keine zwei Worte der Landessprache zu ihrer Verfügung: ich muß sagen, ein sauberes Geschäft! Ich brachte sie hierher. Ich gab ihr den Namen und die zärtliche Pflege einer Schwester; all das ist nicht ohne Aufwand geschehen, aber das brauche ich wohl kaum zu erwähnen. Diese Dienste war ich der jungen Dame, deren Charakter ich hochschätze, schuldig. Ja, mich dünkt, es wäre eine nette Sache, wenn ich hier ihrem Vater noch ihr Lob singen müßte.« »Ihr seid ein junger Mann«, begann er.

»Das habt Ihr mir schon einmal gesagt«, entgegnete ich ziemlich hitzig. »Ihr seid ein sehr junger Mann,« wiederholte er, »oder Ihr hättet die Bedeutung dieses Schrittes erkannt.«

»Ich finde, Ihr habt hier sehr leicht reden«, rief ich. »Was konnte ich sonst wohl tun? Freilich hätte irgendeine ehrbare arme Frau als Gesellschafterin mieten können; aber ich erkläre Euch, auf diesen Gedanken bin ich erst jetzt gekommen. Und wo sollte ich sie hernehmen, ich, der ich hier selbst fremd bin? Außerdem möchte ich Euch darauf aufmerksam machen, Mr. Drummond, daß es mich nochmals Geld aus meiner Tasche gekostet hätte. Darauf läuft die ganze Sache hinaus: für Eure Nachlässigkeit habe ich büßen müssen; und die Wahrheit ist: Ihr wäret so lieblos und so unachtsam, Eure Tochter einfach zu verlieren.« »Wer im Glashause sitzt, soll nicht mit Steinen werfen«, antwortete er; »erst wollen wir einmal Miß Drummonds Verhalten untersuchen, bevor wir über ihren Vater zu Gericht sitzen.«

»Aber ich lehne es ab, mich in eine derartige Stellung locken zu lassen. Wie ihr Vater eigentlich wissen müßte, ist Miß Drummonds Charakter über jeden Zweifel erhaben. Der meinige auch; das gebe ich Euch hiermit zu verstehen. Es stehen Euch nur zwei Wege offen. Der eine ist der, mir wie ein Gentleman dem anderen Euren Dank auszudrücken und kein Wort mehr über die Sache zu verlieren. Der andere (wenn Ihr es wirklich so genau nehmt) besteht darin, mir meine Auslagen zurückzuerstatten und Euch von mir zu trennen.« Er schien mich mit erhobener Hand beruhigen zu wollen. »Sachte, sachte; Ihr seid zu hastig, Mr. Balfour. Gut, daß ich etwas mehr Geduld gelernt habe. Ich glaube, Ihr vergeßt, daß ich meine Tochter noch nicht gesprochen habe.«

Ich fühlte mich ein wenig erleichtert nach dieser Rede und nach einer gewissen Veränderung in des Mannes Gebaren, die ich entdeckte, sobald das Wort Geld zwischen uns gefallen war.

»Ich glaube, es wäre schicklicher – falls Ihr mir die Ungeniertheit des Ankleidens in Eurer Gesellschaft verzeihen wollt – wenn ich ausginge und Euch bei Eurem Zusammentreffen allein ließe?«

»Das hatte ich von Euch erwartet!« entgegnete er, und kein Zweifel! die Worte waren höflich gemeint. Dies gefiel mir immer mehr, und da mir, während ich meine Strümpfe anzog, des Mannes unverschämte Schnorrerei bei Prestongrange einfiel, beschloß ich, meinen offenbaren Sieg zu verfolgen.

»Falls Ihr Euch längere Zeit in Leyden aufzuhalten gedenkt, steht Euch dieses Zimmer von Herzen gern zur Verfügung; ich kann ohne Schwierigkeiten ein anderes finden. Auf diese Weise haben wir möglichst wenig Scherereien, da nur einer umzuziehen genötigt ist.« »Sir,« entgegnete er, sich in die Brust werfend, »ich schäme mich nicht einer Bedürftigkeit, die ich mir im Dienste meines Königs zugezogen habe. Ich verhehle nicht, der Stand meiner Angelegenheiten ist sehr im unklaren; ja im Augenblick wäre es mir sogar unmöglich, eine Reise zu unternehmen.«

»Bis Ihr Gelegenheit erhaltet, Euch mit Freunden in Verbindung zu setzen,« sagte ich, »ist es Euch dann vielleicht recht (wie es mir natürlich eine Ehre ist) Euch als meinen Gast zu betrachten?«

»Sir,« entgegnete er, »Euer Angebot ist freimütig, ich glaube, ich ehre mich selbst am meisten, wenn ich diesen Freimut nachahme. Eure Hand, Mr. David; Ihr besitzt einen Charakter, den ich vor allem schätze; Ihr gehört zu den Menschen, aus deren Händen ein Gentleman ohne weitere Worte eine Gefälligkeit anzunehmen vermag. Ich bin ein alter Soldat,« fügte er hinzu, sich ein wenig angewidert im Zimmer umsehend, »Ihr braucht daher nicht fürchten, daß ich Euch zur Last fallen werde. Ich habe allzuoft schon neben Schützenwällen gespeist und aus einem Graben getrunken und außer dem Regen kein Dach über meinem Haupte gehabt.« »Ich muß Euch noch sagen, daß uns gewöhnlich um diese Zeit unser Frühstück gebracht wird«, versetzte ich. »Ich schlage daher vor, daß ich mich jetzt in den Gasthof begebe, um noch ein zweites Gedeck für Euch zu bestellen und das Mahl um eine Stunde hinauszuzögern. In der Zwischenzeit könnt Ihr ja Eure Tochter sprechen.« Ich glaube, bei diesen Worten zuckten seine Nasenflügel. »Oh, eine ganze Stunde?« meinte er. »Das ist vielleicht doch überflüssig. Eine halbe Stunde, Mr. David, oder sagen wir, zwanzig Minuten. Das genügt mir vollkommen. Da fällt mir ein,« fügte er hinzu, mich am Rockzipfel festhaltend, »was trinkt Ihr eigentlich morgens? Bier oder Wein?«

»Offen gesagt, Sir, nichts als pures, kaltes Wasser.«

»Puh, puh« machte er, »das ist ja für den Magen schier ruinös, nehmt eines alten Veteranen Wort. Unser heimatlicher Branntwein ist vielleicht das Allergesündeste; da der aber nicht erhältlich ist, werden Rheinwein oder Burgunder wohl das Nächstbeste sein.« »Ich werde dafür sorgen, daß Euch nichts mangelt«, entgegnete ich. »Sehr gut,« sagte er, »wir werden noch einen Mann aus Euch machen, Mr. David.« Jetzt war ich so weit, daß ich kaum noch auf ihn achtete, höchstens schoß es mir durch den Kopf, was für eine Art Schwiegervater er wohl abgeben würde. All meine Sorge konzentrierte sich auf das Mädchen, seine Tochter, die ich vor dem Zusammentreffen mit ihrem Besuche irgendwie zu warnen beschloß. Ich trat daher an ihre Tür, klopfte und rief gleichzeitig durch die Füllung: »Miß Drummond, Euer Vater ist endlich angekommen.« Dann machte ich mich an die Erledigung meines Auftrags, nachdem ich zuvor (durch zwei kleine Worte) meiner Sache schwer geschadet hatte.

Zwölftes Kapitel


Wieder auf dem Marsch mit Alan

Es mochte zwischen ein und zwei Uhr sein; der Mond war, wie gesagt, untergegangen; ein starker Wind, der schwere Wolkenmassen vor sich hertrieb, sprang plötzlich im Westen auf, und wir traten unseren Marsch in einer so finsteren Nacht an, als sie ein Flüchtling oder Mörder sich nur wünschen könnte. Der weiße Schimmer der Landstraße geleitete uns nach dem schlafenden Städtchen Broughton und von dort über Picardy, vorbei an meinem alten Bekannten, dem Galgen mit den beiden Dieben. Kurz danach, in Lochend, gewahrten wir in einem Fenster ein Licht, das uns als willkommenes Leuchtfeuer diente. Mit ihm als Wegweiser ging es, immer noch ziemlich auf gut Glück, vorwärts, mitunter über volle Erntefelder, dann wieder stolpernd und gleitend über Brachacker, quer durch das Land, bis wir schließlich die wellige, sumpfige Heidelandschaft von Figgate Whins erreichten. Hier unter einem Ginsterbusch legten wir uns nieder, um den Rest der Nacht zu verschlafen. Etwa um fünf Uhr weckte uns der Tag. Es war ein wunderschöner Morgen, immer noch blies aus Westen ein kräftiger Wind, aber die Wolken waren alle nach dem Kontinent gezogen. Alan hatte sich schon lächelnd aufgerichtet. Es war das erstemal seit unserer Trennung, daß ich meines Freundes Gesicht sah, und ich betrachtete es mit frohem Herzen. Er trug immer noch den gleichen schweren Mantel; neu war nur ein Paar gestrickte Gamaschen, die ihm bis über die Knie reichten. Zweifellos sollten sie eine Art Verkleidung sein; da es jedoch ein warmer Tag zu werden versprach, machte Alan eine äußerst auffallende Figur. »Nun, David,« sagte er, »ist das nicht ein schöner Morgen? Heute ist ein Tag, wie er sein sollte. Das nenn ich mir eine Abwechslung nach dem Aufenthalt im Bauche des Heus; und während du hier schliefst und dich rekeltest, habe ich etwas getan, das ich vielleicht nur allzu selten tue.«

»Was denn?« fragte ich.

»Ach, nur so ’n bißchen gebetet.«

» Und wo sind meine ›Herrschaften‹, wie du sie nennst?«

»Das weiß allein der liebe Gott«, antwortete er.

»Mit einem Wort, wir müssen uns auf unser Glück verlassen. Munter, David! Auf die Beine! Fortuna sei uns noch einmal hold! Es scheint, wir sollen einen wundervollen Spaziergang haben.«

So ging es in östlicher Richtung weiter am Meere entlang bis an die Mündung des Esk, wo die Salzgruben dampften. Ohne Zweifel schien die Morgensonne strahlender als sonst auf Arthurs Sitz und auf die grünen Hügel von Pentland, aber der Zauber des Tages schien Alan gegen den Strich zu gehen.

»Ich komme mir vor wie ein Holzklotz, an einem Tage wie heute Schottland zu verlassen«, bemerkte er. »Es will mir nicht aus dem Schädel; lieber, glaub ich, bleibe ich hier und lass mich henken.«

»Es würde dir doch nicht gefallen, Alan«, sagte ich. »In Frankreich ist es ja auch ganz schön,« erklärte er, »aber es ist nicht dasselbe. Es ist, glaube ich, sogar schöner als hier, aber es ist nicht Schottland. Es gefällt mir großartig, wenn ich erst drüben bin; und doch bang ich mich nach schottischen Strohdächern und schottischem Torfgeruch.«

»Wenn dich nichts anderes drückt, Alan, so ist es ja weiter nicht schlimm«, sagte ich.

»Ich hab auch kein Recht, mich zu beklagen,« meinte er, »gerade jetzt, da ich eben erst aus dem verdammten Heu heraus bin.«

»Du hattest deinen Heuschober also gründlich satt?« erkundigte ich mich.

»Satt ist gar nicht der richtige Ausdruck«, entgegnete er. »Ich lass mich nicht so leicht entmutigen; aber ich fühl mich wohler an der frischen Luft mit dem Himmel über mir. Ich bin wie der alte schwarze Douglas (so hieß er doch?), der lieber die Lerche trillern als die Mäuse piepsen hörte. Und in dem Schober, David – der sich ja, wie ich zugeben muß, vorzüglich als Versteck eignete – war es stockfinster von morgens bis abends, weißt du. Es gab Tage (oder auch Nächte, wie sollte ich das wissen?) die mir so lang wie ein langer Winter erschienen.«

»Wie wußtest du die Stunde für unser Stelldichein?« fragte ich.

»Der Hausvater brachte mir so um elf mein Abendbrot und einen Tropfen Schnaps und ein Endchen Talglicht, um mir zu leuchten«, sagte er. »Wenn ich dann einen Bissen gegessen hatte, wußte ich, es war ungefähr Zeit, in den Wald zu gehen. Dort lag ich und bangte mich arg nach dir, David,« fuhr er fort, seine Hand auf meine Schulter legend, »und erriet aus dem Gefühl, wann die zwei Stunden vorbei waren – wenn nicht Charlie Stuart kam und es mir an seiner Uhr bewies, – und zurück ging’s in meinen Schober. Ja, ja, das war kein kurzweiliger Aufenthalt, und dem Himmel sei Dank, daß ich mich durchgeschunden habe.«

»Wie vertriebst du dir die Zeit?« erkundigte ich mich.

»So gut ich konnte!« antwortete er. »Manchmal spielte ich das Knöchelspiel. Ich bin großartig im Knöchelspiel, aber es ist eine langweilige Geschichte, wenn keiner da ist, um einen zu bewundern. Und manchmal hab ich auch gedichtet.«

»Wovon handeln denn deine Gedichte?« forschte ich weiter.

»Oh, so von Hirschen und von der Heide und von den alten Häuptlingen, die längst gestorben sind – na, wovon Gedichte im allgemeinen handeln – und manchmal redete ich mir auch ein, ich hätte einen Dudelsack und spielte darauf. Großartige Melodien hab ich gespielt, und mir kam’s vor, ganz meisterhaft; ich schwöre, mitunter hab ich’s direkt schrillen hören! Aber die Hauptsache ist doch, daß es nun hinter mir liegt.«

Danach brachte er das Gespräch wieder auf meine Abenteuer, die er sich ganz von vorne, aber ausführlicher erzählen ließ, und denen er mit außerordentlichem Beifall lauschte. Von Zeit zu Zeit erklärte er, ich sei doch »ein sonderbares Exemplar von einem Burschen«.

»Du hattest also Angst vor Simon Fraser?« fragte er das eine Mal.

»Große Angst!« rief ich.

»Das hätte ich auch gehabt, Davie. Er ist, weiß Gott, ein furchtbarer Mensch. Aber selbst dem Teufel soll man zahlen, was ihm gebührt, und ich sage dir, Fraser ist auf dem Schlachtfeld ungemein zu respektieren.«

»Ist er so tapfer?« fragte ich.

»Tapfer?« wiederholte er. »So tapfer wie meine Klinge hier.«

Die Geschichte meines Duells brachte ihn außer sich. »Wer hätte das gedacht!« rief er. »Nachdem ich dir obendrein in Corrynakiegh gezeigt habe, wie man’s macht! Dreimal – dreimal hintereinander entwaffnet! ’s ist eine Schande für mich, der ich dich unterrichtet habe! Hier, stell dich mal in Positur, heraus mit deinem Eisen! Du kommst mir nicht vom Fleck, bis du nicht mir und dir mehr Ehre machst.«

»Alan,« erwiderte ich, »das ist doch hellster Wahnsinn. Jetzt ist nicht die Zeit für Fechtunterricht.«

»Eigentlich hast du recht«, gab er zu. »Aber dreimal hintereinander, Junge! Und sich wie ein Holzklotz hinzustellen und dann wegzulaufen und sein eigenes Schwert aufzulesen, wie ’n Hündchen ein Taschentuch! David, dieser Duncansby muß ein Phänomen sein! Er muß ein Wunder an Fechtkunst sein! Hätt ich die Zeit, ich kehrte um, mich selber mal mit ihm zu messen. Der Mann müßte Profos werden.«

»Du dummer Kerl,« erwiderte ich, »du vergißt, er hatte ja nur mich als Gegner.«

»Aber dreimal hintereinander!«

»Aber du weißt doch selbst genau, daß ich kaum fechten kann!«

»Nein, so was ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Ich will dir eines versprechen, Alan«, fügte ich hinzu. »Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werde ich es besser verstehen. Du sollst in Zukunft nicht die Schmach erdulden, einen Freund zu haben, der keinen Hieb austeilen kann.«

»Das nächste Mal?« wiederholte er. »Wann wird das sein? Ich wollte, ich wüßte es.«

»Nun, Alan, ich habe auch darüber nachgedacht,« sagte ich, »und mein Plan ist: ich will Advokat werden.«

»Ein langweiliges Geschäft,« meinte Alan, »und ein schuftiges obendrein. Da stäkest du schon besser in des Königs Rock.«

»Das wäre zweifellos die richtige Art, uns wieder zu treffen«, rief ich. »Du in König Louis‘ Rock und ich in König Geordies. Eine reizende Zusammenkunft!«

»Du hast nicht so ganz unrecht«, stimmte er zu.

»Also muß es schon bei dem Advokaten bleiben,« fuhr ich fort, »ich glaube auch, der Beruf paßt besser für einen Gentleman, der dreimal hintereinander entwaffnet worden ist. Aber das Schöne ist: eine der besten Fakultäten für diese Wissenschaft – bei der auch mein Verwandter Pilrig gehört hat – befindet sich zu Leyden in Holland. Was sagst du dazu, Alan? Könnte nicht ein Fähnrich der Royal Ecossais gelegentlich Urlaub bekommen, um über die Marsch zu eilen und einen Leydener Studenten zu besuchen?« »Das will ich meinen!« rief er. »Schau, ich steh mich gut mit meinem Obristen, dem Grafen Drumond-Belfort; und was noch wichtiger ist, ein Vetter von mir ist Obristleutnant in einem schottischen Regiment in Holland. Nichts könnte passender sein, als daß ich Urlaub nehme, um Obristleutnant Stuart von Halkett zu besuchen. Und Lord Melfort, der so eine Art Gelehrter ist und Bücher nach der Manier Cäsars schreibt, wird sich meine Beobachtungen sicherlich mit Freuden zunutze machen.« »Ist Lord Melfort ein Autor?« fragte ich, denn ob auch Alan viel von den Militärs hielt, mir standen Edelleute, die Bücher schrieben, höher.

»Freilich, Davie«, antwortete er. »Man sollte meinen, ein Obrist hätte Besseres zu tun. Aber was soll ich dazu sagen, der ich Gedichte schreibe?«

»Ja, dann brauchst du mir nur noch eine Adresse in Frankreich anzugeben, an die ich dir schreiben kann, und sowie ich in Leyden bin, schicke ich dir die meine.« »Das Beste ist, du schreibst mir an die Adresse meines Häuptlings, Charles Stuart, Herrn von Ardshiel, in der Stadt Melons, Isle de France. Es kann lang dauern, und es kann auch nicht lang dauern, aber zum Schluß kommt es doch in meine Hände.« Zum Frühstück in Musselburgh verspeisten wir einen Schellfisch, und es war ungemein belustigend, dabei Alan zuzuhören. Sein schwerer Mantel und die Wollgamaschen mußten an diesem warmen Morgen jedem auffallen, und vielleicht war eine vorsichtige Erklärung in der Tat ganz angebracht. Alan jedoch machte sich an diese Angelegenheit wie an ein Geschäfl oder, besser noch, Vergnügen. Er eroberte das Herz der Hausfrau mit einigen Komplimenten über die Zubereitung des Fisches, und den Rest unseres Aufenthaltes verwickelte er sie in ein Gespräch über eine Unterleibserkältung, die er sich zugezogen hätte, wobei er ihr todernst alle möglichen Symptome auseinandersetzte und mit scheinbar ungeheurem Interesse der Aufzählung der Altweibermittel lauschte, die sie ihm anpries. Wir verließen Musselburgh noch vor Eintreffen der Neun-Pence-Postkutsche aus Edinburg, denn das wäre eine Begegnung, meinte Alan, der wir am besten aus dem Wege gingen. Der Wind war zwar noch kräftig, aber sehr mild, die Sonne brannte, und Alan begann unter seinem schweren Anzug zu leiden. Bei Prestonpans führte er mich vom Wege ab nach dem Schlachtfeld von Gladsmuir, wo er sich weit mehr als nötig anstrengte, um mir den Verlauf der Schlacht zu schildern. Dann ging es in unserem altbekannten, scharfen Wanderschritt weiter nach Cockenzie. Dort bauten sie bei Cadells Heringsboote, aber das Ganze machte den Eindruck eines verlassenen, rückschrittlichen Städtchens, zur Hälfte voll verfallener Häuser. Allein das Wirtshaus war sauber, und Alan, der mittlerweile die Hitze kaum ertragen konnte, mußte sich durchaus eine Flasche Ale leisten und der neuen Wirtin seine alte Geschichte von dem Unterleibsleiden aufbinden, nur waren die Symptome diesmal ganz andere. Ich saß und lauschte, und mir fiel ein, ich hätte ihn noch niemals in meinem Leben im Ernst drei Worte mit einer Frau sprechen hören; immer trieb er Scherz und Spott mit ihnen und machte sich im Stillen über sie lustig, und doch verwandte er auf dieses Geschäft eine erstaunliche Menge Energie und Interesse. Das ungefähr sagte ich ihm auch, als die Gevatterin zufällig abgerufen wurde. »Was willst du mehr?« fragte er. »Ein Mann sollte sich mit dem Weibervolk stets auf möglichst guten Fuß stellen; er muß ihnen immer irgendeine Geschichte zum besten geben, arme Schäfchen, die sie sind! Das solltest du auch lernen, David; du müßtest wenigstens die Grundbegriffe zu erfassen suchen. Es gehört nun mal zum Geschäft. Zum Beispiel, wäre unsere Freundin hier ein junges Mädchen oder auch nur ein bißchen hübsch, niemals hätt ich ihr von meinem Bauch erzählt, Davie. Sind sie aber fürs Hofieren zu alt geworden, dann werden sie alle Quacksalberinnen. Warum? Weiß ich es! Sie sind nun mal so, wie der Herrgott sie erschaffen hat. Aber ein Mann, der sich nicht mit ihnen abgibt, ist in meinen Augen ein Dummkopf.« Und als in diesem Augenblick die alte Dame zurückkehrte, wandte er sich, wie ungeduldig, von neuem das Gespräch aufzunehmen, von mir weg. Die gute Frau war schon früher von dem Thema, Alans Bauch, abgekommen, um ihm den Fall eines Gevatters in Aberlady zu erklären, dessen Siechtum und Tod sie mit großer Ausführlichkeit beschrieb. Mitunter war die Geschichte nur langweilig, mitunter aber auch grausig, und die Frau sprach mit sichtlichem Wohlbehagen. Die Folge war, daß ich in tiefes Nachsinnen versank und zum Fenster auf die Landstraße hinaussah, ohne indes das meiste wirklich wahrzunehmen. Würde man mich jedoch beachtet haben, man hätte mich nach einer Weile zusammenzucken sehen. »Wir machten ihm einen warmen Umschlag für die Füße«, erzählte die Gevatterin gerade, »und legten ihm einen heißen Stein auf den Leib, und wir gaben ihm einen Trank aus Eisenkraut und Poleiminze, und schönen, sauberen Schwefelbalsam gegen den Husten –.« »Sir,« unterbrach ich sie sehr ruhig, »ein Freund von mir ist eben am Haus vorbeigegangen.« »Wahrhaftig«, entgegnete Alan vollkommen gleichgültig, und die lästige Klatschbase fuhr mit ihrer Geschichte fort. Bald jedoch gab er ihr als Bezahlung eine halbe Krone, und sie mußte zum Wechseln das Zimmer verlassen. »War es der Rothaarige?« fragte Alan. »Jawohl«, entgegnete ich. »Was hab ich dir im Walde gesagt?« rief er. »Und doch ist’s sonderbar, daß er hier ist. War er allein?« »Mutterseelenallein, soweit ich sehen konnte.«

»Ging er vorüber?« »Geradeswegs vorüber, ohne nach rechts oder links zu schauen.«

»Das ist noch sonderbarer«, meinte Alan. »Ich glaube, Davie, es ist an der Zeit, daß wir uns aus dem Staube machen. Aber wohin? Der Teufel hol es! Jetzt ist tatsächlich die alte Zeit zurückgekehrt.«

»Mit einem großen Unterschied«, erwiderte ich. »Diesmal haben wir Geld in der Tasche.« »Da ist noch ein zweiter, wichtiger Unterschied, Mr. Balfour«, sagte er. »Heute sind uns die Spürhunde auf den Fersen. Sie haben die Fährte aufgenommen; die Meute ist uns hart auf der Spur, David, ’s ist ein elendes Geschäft, hol es der Henker.« Er dachte angestrengt nach, und ein Ausdruck trat auf sein Gesicht, den ich gut kannte. »Sagt einmal, Frau Wirtin,« fragte er, als die Hausfrau zurückkehrte, »hat dieses Gasthaus noch einen rückwärtigen Ausgang?« Sie bejahte und erklärte ihm, wohin er führe.

»Dann, Sir,« meinte er, zu mir gewandt, »ist das, meines Erachtens, für uns der kürzeste Weg. Lebt recht wohl, gute Frau, und das Zimtwasserrezept werde ich mir merken.« Wir verließen das Haus durch der Wirtin Kohlgarten und bogen in einen Wiesenpfad ein. Alan spähte scharf nach allen Seiten und ließ sich, da wir uns in einer kleinen Erdsenke außer Sichtweite befanden, am Wege nieder. »Und jetzt zu unserm Kriegsrat, Davie«, sagte er. »Zuvor aber einen Wink. War ich nun wie du gewesen, was hätte sich die Alte an uns gemerkt? Nichts weiter, als daß wir durch die Hintertür das Haus verließen. Und an was erinnert sie sich jetzt? An einen netten, gemütlichen, freundlichen, gesprächigen Mann, der – armer Kerl – an Leibschmerzen litt und ungemein von ihres Gevatters Schicksal mitgenommen war! Ach, Davie, Mann, versuch doch ein wenig klüger zu werden.« »Ich will’s versuchen, Alan«, versprach ich.

»Und jetzt zu dem Fuchskopf«, fuhr er fort; »ging er schnell oder langsam?«

»So halb und halb«, entgegnete ich.

»Also keine große Eile?«

»Keineswegs.« »Hm,« sagte Alan, »das sieht merkwürdig aus. Heute morgen in Whins war keine Spur von ihnen zu entdecken; er überholt uns, er scheint nicht nach uns auszuschauen, und doch bleibt er uns auf der Spur! Potz Donner, Davie, ich glaube, ich hab’s! Ich glaube, sie sind gar nicht hinter dir her, mich wollen sie fangen. Und ich glaube, sie wissen genau, was sie tun.« »Sie wissen?« fragte ich, »Ich glaube, Andie Scougal hat mich verkauft – er oder sein Maat, der zum Teil Bescheid weiß – oder Charlies Schreiberbursche, was ja ein Jammer wäre«; bemerkte Alan, »und wenn du mich nach meiner ganz persönlichen Ansicht fragst, bin ich der Meinung: auf Gillane Sands wird’s einige geborstene Schädel geben.« »Alan,« rief ich, »wenn du nur annähernd recht hast, werden ihrer mehr als genug dort sein! Es wird uns aber wenig nützen, ihnen die Schädel einzuschlagen.« »Es wäre aber eine Art Genugtuung«, meinte Alan. »Doch wart ein Weilchen, wart ein Weilchen; laß mich mal überlegen – ich glaube, ich hab noch eine Chance, durchzukommen, dank dieses prächtigen Westwinds. Auf folgende Weise, Davie: ich habe mich mit diesem Kerl Scougal erst gegen Dunkelwerden verabredet. ›Aber,‹ sagte er, ›schnapp ich von Westen her ’ne Handvoll Wind auf, bin ich viel früher dort,‹ – das hat er gesagt – ›und dann warte ich auf Euch hinter der Insel Fidra.‹ Wenn nun deine Herrschaften den Treffpunkt kennen, wissen sie auch die Zeit. Siehst du, worauf ich hinaus will, Davie? Dank Johnnie Copes und der übrigen schafsköpfigen Rotröcke kenn ich diese Gegend wie meine Tasche; und bist du bereit, wieder mal einen kleinen Eilmarsch mit Alan Breck zu unternehmen, so könnten wir uns ein Stückchen landeinwärts schlagen und bei Dirleton wieder zur Küste stoßen. Finden wir dort mein Schiff, so werden wir versuchen, an Bord zu gehen. Ist es nicht dort, muß ich wohl oder übel in meinen verdammten Heuschober zurück. Auf jeden Fall aber werden unsere Herrschaften vergeblich nach uns pfeifen.« »Vielleicht ist die Sache durchführbar«, sagte ich. »Also los, Alan!«

Dreizehntes Kapitel


Gillane Sands

Ich lernte aus Alans Führung weniger als er aus General Cope’s Manöver, denn ich weiß kaum, welchen Weg wir nahmen. Meine Entschuldigung ist, daß wir sehr rasch reisten. Teils liefen, teils trabten wir, und die übrige Strecke marschierten wir in einem verteufelten Tempo drauflos. Zweimal prallten wir mitten im Lauf mit Landleuten zusammen, und obwohl der erste ganz unversehens an einer Ecke auftauchte, war Alan schlagfertiger als eine geladene Muskete. »Habt Ihr mein Pferd gesehen?« keuchte er. »Nee, nee, wir haben überhaupt kein Pferd gesehen,« antwortete der Bauer. Und Alan nahm sich die Zeit, ihm ausführlich auseinanderzusetzen, wir hätten höchste Eile; unser Rößlein hätte sich losgemacht, und wir fürchteten, es sei auf dem Wege in den Stall nach Linton. Damit nicht zufrieden, fing er an, unter Aufwand des geringen Atems, der ihm noch geblieben war, sein Pech und meine Dummheit, die an allem schuld wäre, zu verfluchen. »Wer nicht die Wahrheit sagen kann,« bemerkte er im Weitergehen zu mir, »sollte stets eine ehrliche, handfeste Lüge bei der Hand haben. Wenn die Leute nicht wissen, was du vor hast, Davie, sind sie verflixt neugierig; glauben sie aber Bescheid zu wissen, dann fragen sie so wenig danach, wie ich nach einem Linsengericht.«

Da wir zuerst landeinwärts marschiert waren, führte unsere Straße zuletzt fast unmittelbar nach Norden; die alte Kirche von Aberlady war unser Wegzeichen zur Linken, zur Rechten die Anhöhe von Berwick Law; so erreichten wir dicht bei Dirleton die Küste. Westlich von North Berwick bis Gillane Neß liegen in einer Reihe vier kleine Inseln: Craigleich, The Lamb, Fidra und Eyebrough, alle bemerkenswert durch die Verschiedenheit ihrer Größe und Gestalt. Fidra ist die eigenartigste: eine seltsame, graue Insel mit zwei Höckern, die obendrein noch eine Ruine trägt; und ich erinnere mich, die See spähte, als wir uns ihr näherten, fast wie ein menschliches Auge durch die Türen und Fenster dieser Trümmerstätte. Die Leeseite von Fidra bietet bei Westwind einen guten Ankerplatz; und dort sahen wir auch schon von weitem die ›Thristle‹ sich an ihren Tauen wiegen. Die Küste ist gegenüber diesen Inseln vollkommen verödet; nirgends eine menschliche Behausung und nur sehr selten ein menschliches Wesen; höchstens verirren sich gelegentlich ein paar strolchende Kinder beim Spielen dorthin. Gillane ist ein kleiner Ort jenseits der Neß – die Bewohner von Dirleton haben ihre Felder weiter nach dem Innern verlegt, und die von North Berwick betreiben unmittelbar von ihrem Hafen aus die Fischerei – so daß wenige Teile der Küste einsamer sind. Trotzdem erinnere ich mich, daß wir scharf nach allen Richtungen spähten, und daß unsere Herzen gegen die Rippen hämmerten, als wir platt auf dem Bauche durch dieses Labyrinth von Hügeln und Tälern krochen; und die Sonne schien so hell, der Wind pfiff so lustig durch das Dünengras, und es herrschte ein derartiger Lärm von auffliegenden Möwen und sich niederduckenden Kaninchen, daß die Wüste einem bevölkerten Orte glich. Zweifellos war der Platz für eine heimliche Einschiffung – falls sie wirklich geheim war – in jeder Hinsicht gut gewählt. Und selbst jetzt, da wir verraten waren und man den Ort beobachtete, vermochten wir uns unbemerkt bis nach der vordersten Dünenkette, die unmittelbar auf Strand und Meer niederschaute, heranzupirschen.

Dort aber hielt Alan plötzlich an.

»Davie,« sagte er, »das hier ist ein kitzliger Weg! Solange wir stillliegen, sind wir sicher; aber ich bin dann meinem Schiff und der französischen Küste nicht viel näher. Und das Aufstehen und Heranwinken der Brigg ist auch ’ne heikle Sache. Wo, meinst du, stecken deine Herrschaften?«

»Vielleicht sind sie noch gar nicht da«, entgegnete ich. »Und selbst wenn sie da sind, spricht ein Umstand klar zu unseren Gunsten: sie haben sich zwar versammelt, um sich auf uns zu stürzen, aber sie sind darauf vorbereitet, daß wir aus Osten kommen, und hier befinden wir uns westlich von ihnen.«

»Ja,« sagte Alan, »trotzdem wünschte ich, wir wären unserer mehr, und das hier wäre eine Schlucht, dann hätten wir sie fein überlistet! Aber es ist nun mal nicht der Fall, David, und so wie die Dinge liegen, wirken sie ein bißchen ernüchternd auf Alan Breck. Ich schwanke, Davie.«

»Die Zeit flieht, Alan«, drängte ich.

»Ich weiß«, sagte Alan. »Ich weiß nichts anderes, wie die Franzosen sagen. Aber es ist ein schreckliches Lotteriespiel. Ach, wüßte ich nur, wo deine Herrschaften stecken!«

»Alan«, entgegnete ich, »du bist gar nicht du selbst. Es gilt: jetzt oder nie.«

»Das bin ich nicht, sagt er,
Ich bin es nicht, du bist es nicht,
Nein, Johnnie, Mann! Wir beide nicht,«

sang Alan mit komischem Ausdruck, halb drollig, halb beschämt, und plötzlich hatte er sich kerzengerade aufgerichtet und marschierte, ein wehendes Taschentuch in der Rechten, auf den Strand zu. Auch ich stand auf, hielt mich aber etwas im Hintergrund und beobachtete im Osten die Dünenkette. Sein Auftauchen blieb anfänglich unbemerkt; Scougal erwartete ihn nicht zu so früher Stunde und ›meine Herrschaften‹ hielten nach der anderen Richtung Ausguck. Dann erwachten die Leute an Bord der ›Thristle‹ zum Leben; alles schien in Bereitschaft, denn nach einem sekundelangen Durcheinander auf Deck sahen wir sie am Heck ein Boot zu Wasser lassen, das eilig auf das Ufer zuhielt. Fast im gleichen Augenblick erschien auf einem Hügel etwa eine halbe Meile nach Gillane Neß zu blitzschnell die Gestalt eines Mannes, der mit den Armen gestikulierte, und obwohl er ebenso rasch wieder verschwand, fuhren die Möwen an jener Stelle fort, eine Weile unruhig hin und her zu flattern.

Alan hatte ihn nicht bemerkt, da er unentwegt meerwärts nach Schiff und Boot ausschaute.

»Es muß kommen, wie es will!« sagte er, als ich ihm berichtet hatte. »Wenn nur mein Boot sich eilt, sonst wird mein Schädel wohl einige Püffe aushalten müssen.« Der Strand dehnte sich an jenem Teil der Küste lang und eben und bot bei Ebbe ein bequemes Gehen; ein kleiner, kressereicher Bach ergoß sich an der einen Stelle ins Meer, und die Dünen zogen sich gleich einem Mauerwall an seiner Mündung hin. Keiner von uns konnte sehen, was sich in den Senken ereignete, keine noch so große Eile unsererseits vermochte die Fahrt des Bootes zu beschleunigen. Für uns schien die Zeit während dieses unheimlichen Harrens stillzustehen.

»Das eine möchte ich wissen.« meinte Alan, »jener Herren Befehle. Wir beide zusammen sind unsere vierhundert Pfund wert; wie wenn sie nun Gewehre gegen uns herangeschleppt hätten, Davie? Von jener langen Sandböschung aus könnten sie einen feinen Schuß gegen uns abgeben.«

»Logisch unmöglich«, entgegnete ich. »Das ist es ja gerade: Gewehre haben sie nicht. Sie sind allzu heimlich ans Werk gegangen; sie haben vielleicht Pistolen, aber keine Gewehre.«

»Ich glaube, du hast recht«, bestätigte Alan. »Trotzdem sehne ich mich ganz ungemein nach jenem Boot.« Und er schnippte mit den Fingern und versuchte, es wie einen Hund heranzupfeifen.

Die Jolle hatte jetzt vielleicht den dritten Teil der Strecke zurückgelegt, und wir selbst befanden uns fast am Meeresrande, so daß der weiche Sand in meine Schuhe drang. Wir konnten nichts anderes tun als warten und, so gut es ging, beobachten, wie das Boot näher kroch, und so wenig wie möglich nach der unerbittlichen Front der Dünen schauen, über der die Mövenflügel funkelten und hinter der zweifellos unsere Feinde sich sammelten.

»Ein schöner, prächtiger, passender Ort zum Erschießen«, sagte Alan plötzlich; »Mann, ich wollte, ich hätte deinen Mut.«

»Alan,« rief ich, »was sind das für Redensarten? In dir lebt nichts anderes als Mut; er ist die Wurzel deines Charakters; das kann ich allein schon beweisen, falls keine anderen Zeugen da sind.«

»Um so mehr würdest du dich irren«, widersprach er. »Den Unterschied machen lediglich mein großer Scharfblick und meine Kenntnisse der Lage aus. Aber was alten, kalten, forschen, tödlichen Mut betrifft, so bin ich nicht wert, dir die Schuhriemen zu lösen. Sieh uns beide an, wie wir hier am Strande stehen. Da bin ich und verzappele mich vor Ungeduld, wegzukommen, und da bist du und weißt (wenn ich mich nicht täusche) nicht einmal, ob du gehen oder bleiben sollst. Meinst du, ich könnte oder würde das tun? Ich nicht! Erstens hätte ich nicht den Mut und würde mich nicht getrauen, und dann bin ich ein Mann von großem Scharfsinn und würde dich eher zum Teufel gehen lassen.«

»Also darauf willst du hinaus!« rief ich. »Ach, Alan, Mann, deine alten Weiber magst du an der Nase herumführen, mich aber nicht.«

Erinnerung an meine Versuchung im Walde machte mich fest wie Eisen.

»Ich muß ein Stelldichein einhalten«, fuhr ich fort. »Ich habe mich mit deinem Vetter Charlie verabredet und habe mein Wort gegeben.«

»Ein schönes Stelldichein, und schön wirst du’s einhalten«, sagte Alan. »Den Herrschaften dort hinter den Dünen wirst du in die Arme laufen; dabei wird’s bleiben, ein für allemal. Und weshalb?« fügte er mit bedrohlichem Ernst hinzu. »Sag mir nur, weshalb, mein Jungchen! Will man dich verschwinden lassen wie Lady Grange? Oder wollen sie dir den kalten Stahl zu fressen geben, um dich dann in den Dünen zu verscharren? Oder haben sie sich das Gegenteil in den Kopf gesetzt, und wollen sie dich mit James zusammen vor Gericht schleppen? Sind das etwa Leute, denen man vertrauen kann? Willst du wirklich deinen Kopf Simon Fraser und den anderen Whigs direkt in den Rachen stecken?« schloß er mit auffallender Bitterkeit.

»Alan,« rief ich, »es sind alles Lügner und Schelme, das gebe ich zu. Um so wichtiger, daß unter solchem Gaunerpack wenigstens ein anständiger Mensch bleibt! Ich habe mein Wort gegeben und werde daran festhalten. Damals schon sagte ich zu deiner Base, ich würde vor keinem Risiko zurückschrecken. Erinnerst du dich noch jener Nacht, als Colin Campbell fiel? Hier bleibe ich. Prestongrange hat mir mein Leben versprochen, und wird er meineidig, so sterbe ich hier.«

»Schön, schön«, antwortete Alan.

Die ganze Zeit über hatten wir nichts mehr von unseren Verfolgern gesehen oder gehört. In Wahrheit hatten wir sie völlig überrumpelt. Wie ich später erfuhr, hatte die Bande sich noch nicht vollständig versammelt; die zur Stelle waren, lagen zwischen den Hängen nach Gillane zu verstreut. Es war keine leichte Sache, sie zu alarmieren und zusammenzutreiben, und inzwischen kam das Boot gut vorwärts. Außerdem hatten wir es mit feigem Pack zu tun: einer Rotte von Hochlandsräubern, die sich nur aufs Viehstehlen verstand, aus verschiedenen Clans zusammengestellt, ohne einen Gentleman-Anführer, und je länger sie Alan und mich dort stehen sahen, umso weniger (nehme ich an) gefiel ihnen unser Aussehen. Wer immer Alan verraten hatte, der Kapitän war es nicht. Der begleitete selbst das Boot und lenkte und feuerte seine Ruderer an gleich jemandem, der mit dem Herzen bei der Sache ist. Schon war er uns ganz nahe, schon wollte das Boot auf dem Sand auflaufen, und Alans Gesicht glühte vor Aufregung über seine Rettung – da stießen unsere Freunde in den Dünen, sei es aus Verzweiflung, ihr Opfer entrinnen zu sehen, sei es in der Hoffnung, Andie abzuschrecken, einen schrillen, mehrstimmigen Schrei aus.

Der Lärm hier an dieser gottverlassenen Küste war wirklich furchterregend, und sofort hielten die Männer in dem Boote an.

»Wer da? Was ist los?« schrie der Kapitän, der sich jetzt bequem in Rufweite befand.

»Freunde von mir«, entgegnete Alan und begann auf der Stelle durch das seichte Wasser zum Boot hinauszuwaten. »Davie,« sagte er, noch einmal innehaltend, »Davie, kommst du wirklich nicht mit? Ich kann dich nicht hier lassen.«

»Nicht einen Zoll weit«, sagte ich.

Eine Sekunde zögerte er immer noch, bis zu den Knien im Salzwasser.

»Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen«, sagte er und wurde, jetzt bis zu den Hüften naß, an Bord der Jolle gezogen, die sofort wieder auf das Schiff zuhielt. Ich stand, wo er mich verlassen hatte, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Alan saß mit dem Gesicht zu mir gekehrt und sah mich an, und das Boot glitt unbehindert weg. Plötzlich war ich so nahe daran, in Tränen auszubrechen, wie nur je in meinem Leben, und fühlte mich als den verlassensten, einsamsten Burschen in ganz Schottland. Da drehte ich mich mit dem Rücken dem Meere zu, den Dünen entgegen. Kein Mensch war zu sehen oder zu hören; die Sonne schien über nassem und trockenem Sand, der Wind wehte durch die Dünen, die Möwen schrieen traurig. Als ich den Strand hinaufschritt, hüpften die Sandflöhe munter durch den angeschwemmten Tang. Kein Laut oder sonstiges Merkmal von Leben an jenem unheimlichen Ort. Und doch wußte ich, Menschen waren da und belauerten mich zu irgendeinem verborgenen Zweck. – Es waren keine Soldaten, sonst hätten sie uns längst überfallen und gefangen genommen; zweifellos hatte ich es nur mit ganz gemeinen Halunken zu tun, gedungen zu meinem Schaden, vielleicht um mich zu verschleppen, vielleicht auch, um mich kaltblütig zu ermorden. Nach dem Range der Mietlinge hielt ich das erstere für wahrscheinlicher; was ich von ihrem Charakter und ihrer Liebe zu diesem Geschäft wußte, ließ das letztere als möglich erscheinen, und bei dieser Vorstellung fror mir das Herzblut. Mir kam der tolle Gedanke, mein Schwert in der Scheide zu lockern; denn war ich auch völlig außerstande, mich Klinge gegen Klinge mit einem Gentleman zu messen, so glaubte ich doch in einem Handgemenge ganz gehörigen Schaden anrichten zu können. Doch ich erkannte rechtzeitig die Torheit eines Widerstandes. Ohne Zweifel war dieser Überfall der ›bestimmte Weg‹, über den Prestongrange und Fraser sich geeinigt hatten. Der eine, des war ich sicher, hatte gesorgt, daß man mein Leben schonte; der andere aber hatte höchstwahrscheinlich Neil und seinen Gefährten gegenüber irgendeinen gegenteiligen Wink fallen lassen, und zog ich blank, so spielte ich meinem Todfeinde vielleicht einen Trumpf in die Hand und besiegelte eigenhändig meinen Untergang. Diese Gedanken hatten mich bis zu der Strandböschung begleitet. Ich sah mich um; das Boot näherte sich der Brigg. Alan ließ als Lebewohl sein Taschentuch flattern, und ich winkte ihm meine Antwort mit der Hand. Aber selbst Alan war für mich angesichts meiner schrecklichen Lage zu einer nebensächlichen Angelegenheit zusammengeschrumpft. Ich drückte den Hut fest ins Gesicht, biß die Zähne zusammen und schritt gerade auf den Dünenkranz los. Es war eine schwierige Kletterpartie, der Sand gab unter meinen Tritten nach wie Wasser. Aber schließlich packte ich oben an der Dünenkuppe ein Büschel des langen Seegrases und zog mich auf festeren Boden hinauf. Im nämlichen Augenblick rührte sich etwas, und sechs bis sieben Männer, sämtlich zerlumpt und jeder mit einem Dolch in der Hand, tauchten hier und dort wie aus dem Erdboden auf. Die Wahrheit ist, ich schloß die Augen und betete. Als ich sie wieder öffnete, waren die Halunken, schweigend und ohne jede Eile, einen Schatten näher gekrochen. Aller Augen waren auf mich gerichtet, und mit seltsam starken Empfinden spürte ich ihr Leuchten und die Furcht, mit der die Burschen sich auch weiterhin mir näherten. Ich streckte ihnen meine leeren Hände entgegen; da fragte mich einer mit starkem, hochländischen Akzent, ob ich mich ergäbe. »Unter Protest,« entgegnete ich, »falls Ihr das versteht, was ich bezweifle.« Nach diesen Worten stürzten sie alle über mich her, wie ein Schwarm Vögel über Aas, packten mich, nahmen mir meinen Degen ab und das Geld aus meinen Taschen, banden mich, Hand und Fuß, mit einem starken Strick und warfen mich auf einen Klumpen Seegras. Dort setzten sie sich im Halbkreis um ihren Gefangenen und starrten ihn schweigend an, wie reißende Tiere, Löwen oder Tiger auf dem Sprung. Nach einer Weile ließ ihre Aufmerksamkeit nach. Sie rückten näher aneinander heran, fingen an, sich auf gälisch zu unterhalten und verteilten mit größter Unverfrorenheit vor meinen Augen unter sich mein Eigentum. Währenddessen war es mein Trost, daß ich von meiner Lage aus meines Freundes Flucht verfolgen konnte. Ich sah, wie das Boot die Brigg erreichte, wie es hochgezogen wurde, wie die Segel sich blähten, und wie das Schiff hinter den Inseln an North Berwick vorbei das offene Meer gewann. Im Verlauf der nächsten zwei, drei Stunden stießen mehr und mehr zerlumpte Hochländer zu uns, darunter als einer der ersten Neil, bis die Gesellschaft an die zwanzig Mann zählte. Mit jedem Ankömmling wurde das Gespräch wieder lebhaft, und es klang, als folgten Beschwerden und Erklärungen einander. Das eine fiel mir auf: keiner der Nachzügler erhielt einen Anteil an der Beute. Die letzte Auseinandersetzung war äußerst heftig und bewegt, und einmal dachte ich, es käme zu einem Kampf. Das Ergebnis war, daß sie sich trennten; die Mehrzahl zog vereint in westlicher Richtung davon, während Neil mit zwei anderen als Bewachung zurückblieb.

»Ich kenne jemand, dem Eure Tagesarbeit sehr schlecht gefallen würde, Neil Duncanson«, sagte ich, als die anderen sich entfernt hatten. Als Antwort versicherte er mir, man würde mich schonend behandeln, da ich ›ein Bekannter des Fräul’ns‹ wäre. Das war unsere ganze Unterhaltung; sonst ließ kein Muttersohn sich an jenem Teil der Küste blicken, bis die Sonne hinter den Bergen des Hochlands versank und die Dämmerung sich zur Nacht vertiefte. Um diese Zeit bemerkte ich einen langen, hageren, knochigen Tiefländer von auffallend dunkler Gesichtsfarbe, der uns zwischen den Dünen auf einem Ackergaul entgegenritt. »Jungens, habt ihr einen Ausweis wie diesen hier?« rief er, ein Papier hoch haltend. Neil zog ein zweites hervor, das der Fremde durch eine Hornbrille studierte, worauf er erklärte, alles wäre in Ordnung; wir seien die Leute, die er suche. Dann saß er ab, und ich wurde statt seiner auf das Pferd gesetzt; man band meine Füße unter den Bauch des Tieres zusammen, und wir machten uns unter der Führung des Tiefländers auf den Weg. Er muß seine Route gut gewählt haben, denn die ganze Zeit über begegneten wir nur zwei Menschen, einem Liebespärchen, die uns vielleicht für Schmuggler hielten und bei unserem Kommen flohen. Einmal befanden wir uns hart am Fuße des Südhangs von Berwick Law; ein andermal, als wir einige offene Hügel passierten, gewahrte ich die Lichter eines Dorfes und in der Nähe, zwischen Bäumen, einen alten Kirchturm, alles aber noch so fern, daß jeder Hilferuf, selbst wenn ich daran gedacht hätte, umsonst gewesen wäre. Endlich hörten wir wieder das Meer. Der Mond schien, wenn auch nicht hell, und in seinem Licht konnte ich die drei mächtigen Türme und bröckelnden Bastionen von Tantallon, dem alten Stammsitz der Roten Douglas, erkennen. Das Pferd wurde in der Tiefe eines Grabens zum Grafen angekoppelt, und mich führte man hinein durch den Hof und von dort in einen verfallenen, steinernen Saal. Hier, mitten auf den Fliesen, bauten meine Wärter ein lustiges Feuer, denn die Nacht war kühl. Meine Hände wurden losgebunden, ich wurde an dem einen Ende der Halle gegen die Mauer gesetzt und erhielt (nachdem der Flachländer Mundvorrat hervorgeholt hatte) Haferbrot und eine Kanne französischen Schnapses. Danach ließ man mich wieder mit meinen drei Hochländern allein. Diese scharten sich eng ums Feuer und tranken und schwatzten; der Wind pfiff durch die Mauerlücken, wirbelte den Rauch und Flammenwolken umher und heulte durch die Turmspitzen. Ich konnte das Meer am Fuße der Klippen hören, und da ich in bezug auf mein Leben beruhigt und nach diesem Tage an Leib und Seele erschöpft war, drehte ich mich auf die Seite und schlief. Wie spät es war, als man mich weckte, vermochte ich durchaus nicht zu erraten, aber der Mond war untergegangen, und das Feuer brannte schwach. Man löste meine Fußfesseln und schleppte mich durch die Ruinen einen steilen Pfad den Klippen entlang an eine Stelle, wo ich in einem natürlichen Felshafen ein Fischerboot fand. Dieses mußte ich besteigen, und wir stießen bei leuchtendem Sternenlicht vom Ufer ab.

Vierzehntes Kapitel


Die Insel Baß

Ich dachte nicht nach, wohin sie mich führten; ich spähte nur hier und dort nach einem Schiff aus, und indessen ging ein Wort Ransomes – »die Zwanzigpfünder« – mir unaufhörlich im Kopfe herum. Sollte ich wiederum der Gefahr einer Verschleppung nach den Plantagen ausgesetzt werden, so würde es mir diesmal, meinte ich, schlecht ergehen; ein zweites Mal würden kein Alan, kein Schiffbruch und keine lose Rahe da sein, und ich sah mich bereits unter der Peitsche Tabak schneiden. Der Gedanke ließ mich frieren; die Luft auf dem Wasser war scharf, die Sitze im Boot waren von eisigem Tau durchnäßt, und ich zitterte vor Kälte auf meinem Platze neben dem Steuermann. Dieser war der Dunkelhäutige, den ich bisher als den Flachländer bezeichnet habe; er hieß Dale und wurde gewöhnlich der »Schwarze Andie« genannt. Als er mich zittern fühlte, reichte er mir freundlichst eine grobe Jacke voller Fischschuppen, und ich war froh, mich damit bedecken zu können. »Ich danke Euch für Eure Güte«, sagte ich, »und erlaube mir, sie durch eine Warnung zu vergelten. Ihr habt mit dieser Sache eine schwere Verantwortung auf Euch geladen. Ihr seid nicht wie diese unwissenden, barbarischen Hochländer, sondern kennt die Gesetze und das Risiko, das jene laufen, die sie übertreten.«

»Ich kann zwar nicht behaupten, daß ich’s mit den Gesetzen so besonders genau nehme, auch in der besten Zeit nicht«, entgegnete er; »aber in dieser Sache handle ich mit sicherer Vollmacht.« »Was wollt Ihr mit mir anfangen?« fragte ich.

»Nichts Schlimmes,« erwiderte er, »durchaus nichts Schlimmes. Ihr habt mächtige Freunde, mein‘ ich. Es wird noch alles gut werden.«

Ein grauer Schleier begann sich auf des Meeres Antlitz zu senken, kleine rosa und rote Flecken, glimmenden Kohlen gleich, tauchten im Osten auf; gleichzeitig erwachte das Wildgeflügel und umkreiste schreiend den Gipfel von Baß. Die Insel besteht, wie jeder weiß, aus einem einzigen Felsen, der jedoch so groß ist, daß man draus eine ganze Stadt hauen könnte. Die See war ungewöhnlich ruhig, aber am Fuß der Klippe tönte ein hohles Plätschern. Mit dem wachsenden Licht konnte ich sie immer deutlicher erkennen; die schiere Felswand war mit Exkrementen von Seegeflügel bemalt wie mit morgendlichem Rauhreif, den schrägen Gipfel deckte grünes Gras, ein Volk von weißen Lummen umschrie ihre Flanken, und die schwarzen, verfallenen Baulichkeiten des Gefängnisses hockten hart neben dem Uferrand. Bei diesem Anblick ging mir plötzlich die Wahrheit auf. »Dorthin schafft Ihr mich also!« rief ich. »Nach Baß, wohin sonst denn, Freundchen?« entgegnete er. »Wo vor Euch die alten Märtyrer waren; doch zweifle ich, ob Ihr Euer Gefängnis auf so redliche Weise verdient habt.«

»Aber jetzt haust niemand mehr hier«, rief ich; »der Ort ist ja längst verfallen.« »Um so angenehmer der Wechsel für die Lummen«, meinte Andie trocken. Als der Tag sich mählich klärte, bemerkte ich zwischen dem Seetang unter großen Steinen, wie die Fischer sie als Ballast wählen, eine Reihe von Fässern und Körben sowie einigen Brennvorrat. All das war auf den Klippen abgeladen worden. Andie, ich und meine drei Hochländer (ich nenne sie »mein«, obwohl es umgekehrt richtiger wäre) landeten neben ihnen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als das Boot sich wieder entfernte, während das Knirschen der Ruder in den Dollen von den Klippen widerhallte, und wir fünf blieben in unserer seltsamen Wüstenei allein. Andie Dale war der Präfekt von Baß (wie ich ihn im Scherz zu nennen pflegte) und gleichzeitig der Schäfer und Wildhüter jener kleinen, aber reichen Herrschaft. Er mußte etwa ein Dutzend Schafe hüten, die dort fett wurden und an den schrägen Hängen weideten gleich Tieren auf den Dächern einer Kathedrale. Außerdem pflegte er die weißen Tölpel – eine Lummenart – die in den Klippen nisteten, und die ein ansehnliches Vermögen repräsentierten. Die Jungen gelten als Delikatesse und werden gewöhnlich von Epikuräern bereitwilligst mit zwei Shilling das Stück bezahlt. Selbst die ausgewachsenen Vögel sind durch die Federn und das Öl, das sie liefern, wertvoll, sodaß ein Teil der Pfründe des Pfarrers von North Berwick bis auf den heutigen Tag in diesem Seegeflügel bezahlt wird, weshalb sie (in mancher Leute Augen) als ungemein begehrenswert gilt. Um diesen mannigfachen Pflichten nachzukommen, auch um die Vögel vor Wilderern zu schützen, mußte Andie häufig Tage und Nächte auf dem Felsen zubringen, und er war dort so vollkommen zu Hause wie ein Bauer auf seinem Hof. Mit der Aufforderung, einen Teil der Vorräte aufzuladen – ein Geheiß, das ich mich zu erfüllen beeilte – führte er uns durch ein verschließbares Tor, den einzigen Zugang zur Insel, und durch die Ruinen der Festung nach dem Gouvernementsgebäude. Dort hatte er, wie wir aus der Asche im Kamin und einem in der Ecke befindlichen Pfostenbett ersahen, seine ständige Wohnstatt aufgeschlagen. Das Bett bot er mir zur Benutzung an, mit der Bemerkung, ich beanspruche vermutlich, vom Adel zu sein. »Mein Adel hat nichts mit der Art meiner Unterkunft zu tun«, entgegnete ich. »Gottlob war ich auch früher schon harte Betten gewöhnt und kann sie mit Dankbarkeit von neuem hinnehmen. Solange ich hier bin, Mr. Andie – falls das Euer Name ist – werde ich genau wie Ihr anderen meine Arbeit tun und meinen Platz an Eurer Seite einnehmen; dagegen bitte ich Euch, mich mit Eurem Spott zu verschonen, der mir, das gebe ich zu, nicht behagt.« Er murrte ein wenig gegen diese Rede, schien sie jedoch nach einigem Nachdenken zu billigen. In Wahrheit war er ein schlauer, vernünftiger Mann, ein guter Whig und Presbyterianer. Täglich las er in seiner Taschenbibel und war sowohl imstande wie begierig, sich ernsthaft über Religion zu unterhalten; dabei zeigte er keine geringe Neigung zu cameronischen Extremen. Seine Moral jedoch war von zweifelhafter Farbe. Ich fand, daß er tief in das Schmugglergewerbe verstrickt war und die Ruinen von Tantallon als Stapelplatz für seine verbotenen Waren benutzte. Und was die Zollbeamten betraf, so war ihm deren Leben, glaube ich, keinen halben Farthing wert. Aber jener Teil von Lothian ist auch heute noch eine wilde Gegend und das Volk so rauh als nur irgendeins in Schottland. Ein Vorfall, der sich während meiner Gefangenschaft ereignete, ist mir dank seiner Folgen im Gedächtnis haften geblieben. Damals war im Firth ein Kriegsschiff stationiert, das »Seepferd«, Kapitän Palliser. Zufällig kreuzte es im Monat September zwischen Fife und Lothian, um die dortigen Untiefen zu loten. Eines schönen Morgens wurde es in aller Frühe etwa zwei Meilen östlich von uns gesichtet, wie es ein Boot zu Wasser ließ, um Wildfire Rocks und Satans Bush, zwei berüchtigt gefährliche Stellen jener Küste, zu sondieren. Nachdem es seine Jolle wieder aufgenommen hatte, hielt das Schiff vor dem Wind unmittelbar auf Baß zu. Das kam Andie und den Hochländern sehr in die Quere; meine Entführung war von Anfang bis zu Ende auf Geheimhaltung berechnet, und jetzt lief ihnen zur Unzeit dieser Kriegsschiffskapitän über den Weg, und es sah ganz so aus, als würde die Sache zum mindesten ruchbar werden, selbst wenn sie keine schlimmeren Folgen hätte. Ich stand allein vier Mann gegenüber; ich bin kein Alan, der über eine ganze Bande herfällt, und ich war durchaus nicht überzeugt, daß das Kriegsschiff meine Lage bessern würde. Alles in allem gab ich daher Andie mein Ehrenwort, verpflichtete mich zu Ruhe und Gehorsam und wurde in aller Eile nach der Felskuppe geschafft, wo wir uns an verschiedenen versteckten Beobachtungsposten hart am Rande der Klippe niederließen. Das »Seepferd« hielt scharf auf uns zu, bis ich dachte, sie würde auflaufen, und wir konnten von unserem schwindeligen Ausguck her die Mannschaft an ihren Plätzen beobachten und hörten den Mann mit dem Lot seine Befunde ausschreien. Dann drehte das Schiff plötzlich bei und gab aus – ich weiß nicht wie vielen – mächtigen Rohren eine Salve ab. Der Felsen bebte unter der Wucht der Detonation, der Rauch ergoß sich über unsere Köpfe, und die Lummen schwärmten in unfaßlicher Zahl auf. Ihr Schreien und das Funkeln ihrer Flügel gestalteten sich zu einem einzigartigen Erlebnis; und ich nehme an, Kapitän Palliser hatte sich nur diesem etwas kindlichen Vergnügen zuliebe der Insel genaht. Das kam ihm später teuer zu stehen. Während das Schiff auf uns zusteuerte, hatte ich Gelegenheit gehabt, mir die Takelung einzuprägen, weshalb ich es von nun an selbst aus meilenweiter Entfernung zu erkennen vermochte; und das sollte (mit Gottes Hilfe) das Mittel werden, um einen Freund vor großem Unglück zu bewahren, Kapitän Palliser dagegen eine empfindliche Enttäuschung zu bereiten.

Die ganze Zeit während meines Aufenthaltes auf dem Felsen lebten wir gut. Wir hatten Dünnbier und Schnaps, sowie Hafermehl, aus dem wir uns abends und morgens unsere Grütze bereiteten. Mitunter setzte von Castleton aus ein Boot zu uns über und brachte uns ein Hammelviertel, da wir die Schafe auf der Klippe, die besonders für den Markt gemästet wurden, nicht anrühren durften. Für die Vögel war es leider nicht die richtige Jahreszeit; so ließen wir sie in Ruhe. Aber wir fischten eigenhändig und ließen öfter noch die Lummen für uns fischen, indem wir ihnen, sobald sie einen Fisch gefangen hatten, die Beute wieder abjagten, ehe sie sie verschlingen konnten.

Die seltsame Natur des Ortes und die Merkwürdigkeiten, von denen es dort wimmelte, bildeten meine Beschäftigung und mein Vergnügen. Da eine Flucht unmöglich war, ließ man mir volle Freiheit, und ich fuhr fort, die Oberfläche der Insel zu erforschen, so weit ein Menschenfuß sich wagen konnte. Der alte Gefängnisgarten war noch klar zu erkennen; Blumen und Pflanzen wucherten dort wild, und eines der Bäumchen trug reife Kirschen. Etwas unterhalb des Gartens lag eine Kapelle oder Eremitenklause; wer sie erbaut oder bewohnt hatte, wußte niemand, und der Gedanke an ihr Alter versenkte mich oft in tiefes Sinnen. Auch das Gefängnis, in dem ich jetzt mit meinen hochländischen Viehräubern biwakierte, war in weltlichem wie religiösem Sinne eine historische Stätte. Mich berührte es seltsam, daß so viele Heilige und Märtyrer erst vor kurzem hier geweilt hatten, ohne auch nur ein Bibelblatt oder einen eingeschnitzten Namen als Andenken zu hinterlassen, während die rauhen Soldatenkerls, die auf den Bastionen Wache gehalten, die ganze Umgebung mit Spuren übersät hatten – zumeist mit einer erstaunlichen Menge zerbrochener Pfeifenköpfe, daneben aber auch mit Uniformknöpfen. Zeitweise glaubte ich aus den Gefängnissen der Märtyrer fromme Psalmen klingen zu hören und sah im Geiste die Soldaten, glimmende Pfeifen im Maul, auf der Bastei auf und ab marschieren, während ihnen im Rücken aus der Nordsee der Morgen aufstieg.

Zweifellos trug Andie mit seinen Erzählungen viel dazu bei, mein Hirn mit diesen Träumen zu bevölkern. Er war in der Geschichte des Felsens ungewöhnlich beschlagen und wußte alle Einzelheiten bis auf die Namen der gemeinen Soldaten, da sein Vater in dieser Eigenschaft dort gedient hatte. Außerdem besaß er ein natürliches Erzählertalent, so daß die Menschen zu reden und die Dinge sich direkt vor des Hörers Augen zu ereignen schienen. Diese Gabe und meine Freude am Zuhören brachten uns einander näher. Ich kann in Wahrheit nicht leugnen: er gefiel mir gut; bald erkannte ich, daß auch er mich gern hatte, und ich hatte mir ja von Anfang an vorgenommen, sein Wohlwollen zu erringen. Ein seltsamer Umstand (von dem später noch die Rede sein wird) verwirklichte dies über jede Erwartung hinaus; aber selbst in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft standen wir für einen Wärter und seinen Gefangenen auf ungemein freundschaftlichem Fuß.

Ich könnte es vor meinem Gewissen nicht verantworten, wenn ich behaupten wollte, mein Aufenthalt auf Baß sei durchwegs unangenehm gewesen. Die Insel erschien mir im Gegenteil als eine Art Zufluchtsstätte, wo ich allen meinen Nöten entronnen war. Niemand durfte mir etwas zuleide tun; physische Hindernisse – der Felsen und die tiefe See – machten jede weitere Anstrengung unmöglich; ich fühlte, mein Leben und meine Ehre waren in sicherem Gewahrsam, und es gab Zeiten, in denen ich mich so weit gehen ließ, mich daran wie an gestohlenem Gut zu weiden. Aber ich hatte auch ganz andere Gedanken. Ich erwog, mit welcher Kraft ich vor Rankeillor und Stuart getreten war; ich überlegte, daß man meine Gefangenschaft auf Baß, hier im Angesicht eines großen Teiles der Küste von Fife und Lothian, als eine Sache ansehen würde, die ich eher gesucht als unfreiwillig über mich hatte ergehen lassen, und daß ich vor jenen beiden Herren als Prahler und Feigling dastehen mußte. Manchmal nahm ich das alles leicht genug und versicherte mir selbst, solang ich mit Catriona Drummond gut stünde, sei die übrige Welt für mich nur Mondschein und flüchtiges Wasser; dann fiel ich unmerklich in jene Betrachtungen, die einem Liebenden so teuer sind, dem Leser jedoch stets erstaunlich eitel dünken. Ein anderes Mal packte mich mit Gewalt die Furcht; dann schüttelte mich förmlich panische Angst um meine Selbstachtung, und jenes vermeintliche, harte Urteil erschien mir als eine Ungerechtigkeit, die ich unmöglich ertragen könnte. Das führte mich wieder zu anderen Gedanken; kaum hatte ich begonnen, mich um der Welt Meinung über mich selbst zu sorgen, da verfolgte mich schon die Erinnerung an James Stuart in seinem Gefängnis und an die Klagen seiner Frau. Dann erst begann sich echte Leidenschaft in mir zu rühren; ich konnte es mir niemals verzeihen, daß ich hier müßig saß; mir war, als müßte ich (wenn nur ein Funken Mannhaftigkeit in mir lebte) fliegend oder schwimmend meinem Asyl entfliehen. In solchen Stimmungen, wie um meiner Selbstquälerei zu fröhnen, machte ich mich daran, Andie Dale zu gewinnen.

Eines schönen Morgens endlich, als wir uns ganz allein auf dem Gipfel des Felsens befanden, ließ ich einen vorsichtigen Wink über eine Bestechung fallen. Er blickte mich an, warf den Kopf zurück und lachte mir ins Gesicht.

»Ah, Ihr lacht, Mr. Dale,« sagte ich, »wenn Ihr aber die Güte hättet, einen Blick auf dieses Papier zu werfen, würdet Ihr vielleicht einen andern Ton anschlagen.«

Die dummen Hochländer hatten mir bei meiner Gefangennahme lediglich mein Bargeld abgenommen, und das Papier, das ich Andie jetzt zeigte, war eine Quittung der British Linen Company über eine beträchtliche Summe.

Er las. »Bei Gott, Ihr seid gar nicht so ein Bettler«, meinte er.

»Dachte ich’s mir doch, daß Ihr Eure Meinung ändern würdet«, sagte ich.

»Pah!« rief er, »das zeigt nur, daß Ihr bestechen könnt; aber ich bin unbestechlich.«

»Das werden wir noch sehen«, entgegnete ich. »Erst will ich Euch beweisen, daß ich weiß, was ich sage. Ihr habt Befehl, mich bis nach Donnerstag, dem 21. September, hier festzuhalten.«

»Da habt Ihr auch nicht so ganz unrecht«, meinte Andie. »Ich soll Euch, falls nicht Gegenorder kommt, Samstag, den 23. September, freilassen.«

Ich konnte nicht anders, mir kam diese Verabredung ungemein raffiniert vor. Daß ich just dann wieder auftauchen sollte, wenn es zu spät war, würde meine Geschichte, falls ich wirklich eine erzählte, um so unglaubhafter machen; das brachte mich erst recht in Harnisch.

»Paßt auf, Andie; Ihr kennt die Welt, also hört mich an und bedenkt, was ich Euch sage«, hub ich an. »Ich weiß, große Herren sind in diese Sache verstrickt, und ich zweifle keinen Augenblick, daß Ihr Euch auf sie berufen könnt. Ich selbst habe auch mit ihnen zu tun gehabt, seit diese Affäre begann, und habe ihnen meine Meinung ins Gesicht gesagt. Was für ein Verbrechen soll ich denn begangen haben? Und nach welchem Verfahren bin ich abgeurteilt? Ich werde von ein paar lumpigen Hochländern am 30. August überfallen, nach diesem alten Steinhaufen geschleppt, der (einerlei was er früher war) weder eine Festung noch ein Gefängnis, sondern lediglich die Behausung des Wildhüters von Baß ist, und soll am 23. September genau so heimlich, wie ich gefangen genommen wurde, wieder freigelassen werden – klingt Euch das nach Gerechtigkeit? Oder klingt es nicht vielmehr nach niedriger, schmutziger Intrige, deren sich sogar die Leute, die sie ersonnen haben, schämen?«

»Ich kann Euch nicht widersprechen, Shaw. Es sieht verteufelt unsauber aus«, erklärte Andie. »Und wären die Leute nicht gute, handfeste Whigs und waschechte Presbyterianer – ich hätte sie eher nach dem Jordan und Jerusalem geschickt, als mich auf so was eingelassen.«

»Der Herr von Lovat ist ein rechter Whig«, entgegnete ich, »und ein großartiger Presbyterianer.«

»Ich weiß nichts von ihm,« beharrte er, »ich habe nichts mit den Lovats zu schaffen.«

»Nein, Ihr werdet mit Prestongrange zu tun haben«, sagte ich.

»A, das sollt Ihr nicht aus mir herauskriegen.«

»Als wenn ich das brauchte, nun ich schon alles weiß«, lautete meine Antwort.

»Auf das eine könnt Ihr Euch verlassen, Shaw«, beteuerte Andie. »Mit Euch habe ich nichts zu schaffen (und wenn Ihr Euch auf den Kopf stellt). Und ich werde auch nichts mit Euch zu schaffen haben«, fügte er hinzu.

»Nun, Andie, ich sehe, ich muß offen mit Euch reden«, erwiderte ich und erzählte ihm die Tatsachen, soweit ich das für nötig hielt.

Er hörte mich mit ernsthaftem Interesse an und schien, als ich geendet hatte, eine Weile zu überlegen.

»Shaw,« sagte er endlich, »ich will frei von der Leber weg reden. ’s ist eine merkwürdige Geschichte und keine sehr schöne, so wie Ihr sie erzählt, womit ich nicht behaupten will, sie hätte sich anders zugetragen, als Ihr glaubt. Was Euch selbst betrifft, so scheint Ihr mir ein recht anständiger junger Mann. Aber ich bin älter und verständiger als Ihr und sehe in dieser Sache vielleicht ein Endchen weiter. Und das hier ist meine ehrliche Meinung: Euch wird’s nicht schaden, wenn ich Euch hier behalte; im Gegenteil, ich glaube, Ihr seid hier ein gut Teil besser aufgehoben als draußen. Dem Lande wird’s auch nicht schaden – bloß ein Hochländer mehr wird aufgeknüpft, und dazu können wir uns, weiß Gott, nur gratulieren! Dagegen würde ich mir selber ziemlich viel schaden, wenn ich Euch laufen ließe. Und darum – als guter Whig und aufrichtiger Freund von Euch und eifriger Freund von mir selbst gesprochen – die nackte Tatsache ist: ich denke, Ihr werdet hier bei Andie und den Lummen bleiben müssen.«

»Andie,« sagte ich, meine Hand auf seine Knie legend, »dieser Hochländer ist unschuldig.«

»Ja, ja, in dem Punkt ist’s schon schade«, meinte er.

»Aber Ihr wißt ja, so wie der Herrgott diese Welt erschaffen hat, kann einer nicht alles haben, wie er sich’s wünscht.«

Fünfzehntes Kapitel


Was der Schwarze Andie von Tod Lapraik erzählte

Ich habe bisher wenig von den Hochländern gesprochen. Alle drei waren Gefolgsleute von James More; das band ihrem Herrn die Schuld sehr fest um den Hals. Alle konnten ein oder zwei Worte Englisch, aber Neil war der einzige, der genug für eine allgemeine Unterhaltung zu verstehen glaubte, obwohl seine Gefährten (war erst ein Gespräch im Gange) sich oft zur gegenteiligen Ansicht gezwungen fühlten. Alle waren einfache, willige Geschöpfe, die mehr Höflichkeit zeigten, als man nach ihrem verwahrlosten, wüsten Aussehen hätte annehmen mögen, und fielen Andie und mir gegenüber von selbst in die Rolle von Dienern.

Hier an diesem einsamen Ort inmitten der bröckelnden Ruinen eines Gefängnisses, umgeben von den endlosen, fremdartigen Geräuschen des Meeres und der Vögel, glaubte ich schon früh an ihnen die Wirkungen abergläubischer Furcht zu bemerken. Wenn es nichts zu tun gab, schliefen oder ruhten sie, eine Beschäftigung, die sie nie satt bekamen, oder Neil unterhielt die anderen mit Geschichten, die indes alle grausig waren. War keines dieser beiden Vergnügen erreichbar – schliefen, zum Beispiel, zwei und sah der dritte sich außerstande, es auch zu tun –, so pflegte er ängstlich lauschend dazusitzen; seine Unruhe wuchs, er schrak zusammen, erbleichte und verkrampfte die Hände – kurz, glich in seiner Spannung einem gestrafften Bogen. Die Art seiner Befürchtungen vermochte ich nie zu erraten, aber ihr Anblick wirkte ansteckend, und die Natur des Ortes, an dem wir uns befanden, begünstigte diese Angst. Andie hatte dafür einen volkstümlichen Ausdruck, den er immer wieder brauchte.

»Ja,« pflegte er zu sagen, »hier auf Baß ist es nicht geheuer.«

So scheint es mir auch heute noch. »Nicht geheuer« war es dort, Tag und Nacht, ›nicht geheuer‹ waren die Geräusche – das Geschrei der Lummen, das Branden des Meeres und das Echo der Felsen – die ständig an unsere Ohren tönten, am stärksten aber bei verhältnismäßig ruhigem Wetter. Sogar bei geringem Wellengang umbrüllten die Wogen den Felsen wie der Donner selbst oder wie das Trommeln ganzer Armeen: ein furchtbarer, aber ausgelassener Lärm. Und an den stillen Tagen gar konnte es jeden, der lauschte, – nicht nur die Hochländer, wie ich aus Erfahrung weiß – ganz entnerven, so zahlreich waren die leisen, hohlen Stimmen, die in den Felsennischen widerhallten und uns unablässig verfolgten.

Das bringt mich auf eine Geschichte und eine Szene, an der ich teilnahm, die unsere Lebensweise von Grund auf veränderten und für mein Entkommen von größter Bedeutung waren. Ich saß eines Nachts neben dem Feuer, in tiefes Nachdenken versunken, und begann in Erinnerung an Alan sein Lied zu pfeifen. Da legte sich eine Hand auf meinen Arm, und die Stimme Neils bat mich, aufzuhören, denn die Musik sei ›nicht geheuer‹.

»Nicht geheuer?« fragte ich. »Wieso denn?«

»Ja,« meinte er, »die hat ein Geist gemacht, die auf sein Leib kein Kopf nicht hatte.«

»Nun,« sagte ich, »hier kann es keine Geister geben, Neil; es ist nicht anzunehmen, daß sie so weit vom Wege abirren, um ein paar Lummen vorzuspuken.«

»Was sagt Ihr da?« fuhr Andie dazwischen. »Ist das Eure Meinung? Ich sage Euch, hier hat schon Schlimmeres als Geister gespukt.«

»Was gibt es denn Schlimmeres, Andie?« fragte ich.

»Zauberer«, erwiderte er. »Und’n Zauberer war es zum mindesten. Aber das ist ’ne merkwürdige Geschichte«, fügte er hinzu. »Wenn Ihr wollt, erzähl ich sie Euch.«

Darüber gab es freilich nur eine Meinung, und selbst der Hochländer, der von den dreien am wenigsten Englisch konnte, setzte sich zurecht, um mit aller Macht zu lauschen.

Die Geschichte von Tod Lapraik

Mein Vater, Tom Dale – Friede seiner Asche! – war in seinen jungen Jahren ein wilder, toller Bursch mit wenig Vernunft und noch weniger Tugend. Er liebte den Wein und die Weiber und lustige Unterhaltung; doch daß er ehrliche Arbeit liebte, hab ich nie gehört. Eins ergab das andere; bald hatte er sich als Soldat anwerben lassen und stand in Garnison in dieser Festung, und so kam es, daß die Dales auf Baß Fuß faßten. War das ein elender Dienst! Der Gouverneur braute sein eigenes Bier; wie’s scheint, das schlechteste, das man sich nur denken konnte. Der Felsen wurde von der Küste aus verproviantiert, das Ganze war falsch geleitet, und mitunter waren sie im Essen nur auf die Fische und die Lummen angewiesen. Um allem die Krone aufzusetzen, herrschten damals die Religionsverfolgungen. Die eisig kalten Zellen waren alle mit Heiligen und Märtyrern besetzt, dem Salz der Erde, die ihrer gar nicht würdig ist. Und obzwar Tom Dale, ein einzelner Soldat, wacker sein Feuerschloßgewehr spazieren trug, und, wie gesagt, den Wein und die Weiber liebte, verrichtete er mehr aus Pflicht denn aus Freude seinen Dienst. Zu Zeiten hatte er kurze Offenbarungen von den Herrlichkeiten der Kirche – dann stieg ihm der Zorn hoch, des Herrn Heilige so mißhandelt zu sehen, und Scham packte ihn bei dem Gedanken, daß er bei einem so sündhaften Geschäft das Licht hielt (oder eine Muskete führte). Mitunter, wenn er des Nachts auf Posten stand und alles so unheimlich still war, während der Winterfrost in den Mauern knackte, hörte er einen der Gefangenen einen Psalm anstimmen, und die andern fielen ein, und die heiligen Klänge stiegen aus den verschiedenen Räumen – ich meine: Gefängnissen – so mächtig auf, daß dieser alte Fels mitten im Meer ein Zipfel vom Himmelreich schien. Schwarze Schande erfüllte seine Seele, und seine Sünden ragten vor ihm auf, groß wie der Felsen von Baß, alle überragend die Todsünde, daß er mit Hand anlege, die Kirche Christi zu verfolgen und bedrängen. Aber die Wahrheit ist, er widerstand der Stimme des Geistes. Der Morgen kam, die Kameraden erwachten, und seine guten Vorsätze waren verschwunden. Damals hauste ein Erwählter des Herrn auf Baß, Peden, der Prophet genannt. Ihr werdet von dem Propheten Peden gehört haben. Niemals mehr hat es seinesgleichen gegeben, und manche bezweifeln, ob es das früher gab. Er war wild wie eine Moorhexe, furchtbar zu sehen und zu hören, und sein Antlitz war wie das Jüngste Gericht. Seine Stimme war die der Lummen und donnerte den Leuten in die Ohren, und seine Worte glichen glühenden Kohlen. Nun lebte damals auf dem Felsen ein Mädchen, die dort, glaube ich, wenig zu suchen hatte, denn es war kein Ort für ehrbare Weiber; aber sie war, wie es scheint, hübsch, und sie und Tom Dale verstanden sich gut. Der Zufall wollte, daß Peden ganz allein in seinem Garten betete, als Tom und das Mädchen vorbeigingen; und was fällt der Dirne ein? Mit Lachen und Spott überhäufte sie des Heiligen Andacht. Da stand er auf und schaute die beiden an, und Toms Knie wankten bei seinem Anblick. Doch als der andere sprach, geschah es mehr in Trauer denn im Zorne. »Armes Ding, armes Ding!« sagte er und blickte dabei das Mädchen an. »Ich höre dich schreien und lachen,« sagte er, »aber der Herr hält einen tödlichen Schuß für dich bereit, und bei jenem erstaunlichen Gottesgericht wirst du nur einen Schrei ausstoßen!« Kurz danach schlenderte sie mit zwei, drei Soldatenkerls auf den Klippen umher, und es war ein stürmischer Tag. Da kam ein Windstoß, packte ihre Röcke und wirbelte sie, so wie sie ging und stand, ins Meer. Und die Soldaten bemerkten, daß sie dabei nur den einen Schrei ausstieß. Ohne Zweifel, dieses Gottesgericht machte ziemlichen Eindruck auf Tom; aber der verging, und Tom blieb der alte. Eines Tages zankte er sich mit einem Kameraden. »Der Teufel hol mich!« schimpfte Tom, denn er fluchte stets gotteslästerlich. Und schon stand Peden da und starrte ihn an, schlau und finster, Peden mit seinem langen Gesicht und seinen brennenden Augen, sein Plaid fest um die Brust gewickelt und die eine Hand mit den schwarzen Krallen weit ausgestreckt – denn der Leibespflege achtete er nicht. – »Pfui, pfui, armer Mann!« schrie er, »armer, törichter Mann! Der Teufel hol mich, sagt er? Ich sehe den Teufel an seiner Seite!« Da brach die Erkenntnis seiner Schuld und der Gnade des Himmels über Tom herein wie der Ozean selbst; er warf die Pike weg, die er trug, und rief: »Nie mehr erhebe ich meine Hand gegen die Sache Christi!« Und er hielt sein Wort. Anfänglich gab’s viele Scherereien, aber als der Gouverneur ihn so entschlossen sah, erteilte er ihm doch den Abschied, und Tom ließ sich in North Berwick nieder und heiratete und stand von dem Tage an bei allen ehrlichen Leuten in gutem Ruf. Es war im Jahre 1706, als die Insel Baß in die Hände derer von Dalrymple überging, und zwei Männer bewarben sich um den Verwalterposten. Beide eigneten sich trefflich dafür, denn beide hatten als Soldaten dort in Garnison gelegen und wußten die Lummen zu behandeln und kannten die Zeiten, in denen sie was wert waren. Außerdem waren – oder schienen doch – beide andächtige Bekenner und in erbaulichen Reden beschlagen. Der erste war kein anderer als Tom Dale, mein Vater; der zweite war ein gewisser Lapraik, den die Leute meist Tod4 Lapraik nannten, ob aber wegen seines Namens oder seiner Natur, konnte ich niemals erfahren. Nun, Tom ging zu Lapraik, um die Sache mit ihm zu bereden, und führte mich, der ich damals ein kleines Kerlchen und noch unsicher auf den Beinen war, an der Hand. Tods Haus stand an der langen Gasse nördlich des Friedhofs. Es ist eine finstere, unheimliche Gasse; außerdem ist die Kirche seit Jakobs VI. Zeiten und dem Teufelsspuk, der sich während der Königin Fahrt übers Meer dort zutrug, verschrien. Und Tods Haus lag am dunkelsten Ende und war denen, die am besten Bescheid wußten, nie recht geheuer. Die Tür stand an jenem Tage offen, und mein Vater und ich traten, ohne zu klopfen, ein. Tod war von Beruf aus Weber; sein Webstuhl stand auf der Diele. Dort saß er, ein dicker, feister Klumpen von Mann, weiß und ölig wie Schmalz, mit so ’ner Art heiligem Lächeln auf dem Gesicht, das mir den hellen Ekel wachrief. Mit der einen Hand führte er das Schiffchen, aber seine Augen waren verglast. Wir riefen ihn beim Namen, schrien ihm in die tauben Ohren und rüttelten ihn an der Schulter. Da saß er und führte das Schiffchen und lächelte ölig.

»Gott steh uns bei«, sagte Tom Dale, »das geht nicht mit rechten Dingen zu!« Kaum hatte er gesprochen, als Tod Lapraik wieder zu sich kam. »Bist du’s, Tom?« fragte er. »Grüß dich Gott, Mann! Bin froh, dich zu sehen. Von Zeit zu Zeit fall ich in so ’ne Art Ohnmacht, weißt du; – es kommt vom Magen.« Na, sie fingen also an, von dem Posten auf Baß zu sprechen, und wer von beiden ihn wohl kriegen würde, und allmählich kam es zu bitteren Worten zwischen den beiden, und sie gingen im Zorn auseinander. Ich weiß noch genau, wie mein Vater auf dem Rückwege immer wieder auf das eine zu sprechen kam: ihm gefielen Tod und seine Ohnmachten nicht. »Ohnmachten!« rief er. »Wegen dergleichen Ohnmachten sind Leute schon verbrannt worden, mein‘ ich!« Na, wie dem auch sei, mein Vater kriegte den Posten auf Baß, und Tod mußte leer ausgehen. »Tom,« sagte er, »diesmal bist du mir wieder über, und hoffentlich«, sagte er, »find’st du auf Baß alles so, wie du dir’s gewünscht hast.« Und das hat man später für ’ne recht merkwürdige Redensart gehalten. Endlich war die Zeit gekommen, in der Tom die jungen Lummen aus den Nestern holen mußte. Das war ein Geschäft, das er gewohnt war, denn er war von klein auf auf den Klippen zu Hause und vertraute dergleichen Arbeit niemandem als sich selber an. Eines Tages baumelt er also an einem Tau an der Klippenfront, wo sie am höchsten und steilsten ist. Vier kräftige Burschen hielten oben auf der Kuppe den Strick und warteten auf Toms Zeichen. Aber wo Tom hing, war nichts als die schiere Klippe und weit in der Tiefe das Meer und die schreienden, fliegenden Lummen. Es war ein schöner Frühlingsmorgen, und Tom pfiff vor sich hin, während er die jungen Vögel fing. Oft hab‘ ich ihn davon erzählen hören, und jedesmal brach ihm der Schweiß aus. Zufällig, müßt Ihr wissen, blickte Tom auf und bemerkte eine große Lumme, und die Lumme hackte nach dem Tau. Er fand das merkwürdig und gar nicht nach der Kreatur Gewohnheit. Er erinnerte sich, Stricke seien unheimlich mürbes Zeug und der Lummen Schnabel sowie der Felsen unheimlich hart, und ein Sturz von zweihundert Fuß war etwas mehr, als ihm zu fallen behagte. »Husch!« sagte Tom. »Fort mit dir, Vieh! Husch! Mach, daß du fortkommst!« Die Lumme starrte Tom so von oben ins Gesicht, und an des Tieres Auge war etwas nicht ganz geheuer. Es starrte ihn nur das einzige Mal an und fiel dann wieder über das Seil her. Und jetzt riß und zerrte es daran wie nicht recht gescheit. Niemals hat es eine Lumme gegeben, die wie jene Lumme sich mühte, und sie schien auch ihr Geschäft vortrefflich zu verstehen, denn sie rieb das weiche Tau immer zwischen ihrem Schnabel und dem spitzen Fels. Kalte Furcht schoß Tom ins Herz. »Das Ding da ist kein Vogel«, dachte er. Da drehten sich ihm die Augen im Kopfe herum und um ihn wurde es finster. »Wenn ich hier ohnmächtig werde,« dachte er, »ist es aus mit Tom Dale!« Und er gab den Burschen ein Zeichen, daß sie ihn hoch ziehen möchten.

Aber die Lumme schien das Zeichen zu verstehen. Kaum hatte Tom es gegeben, da ließ sie den Strick los, krächzte laut auf, flatterte hin und her und schoß schnurstracks auf Tom Dales Augen los. Tom hatte ein Messer, und er ließ den kalten Stahl funkeln. Doch die Lumme schien auch über Messer Bescheid zu wissen; denn als die Klinge in der Sonne glitzerte, stieß sie einen einzigen Schrei aus, aber leiser, wie jemand, der enttäuscht ist, und verschwand um die Klippe herum, und Tom sah sie nie wieder. Und sowie das Ding fort war, sank Toms Kopf auf seine Schulter, und sie zogen ihn wie einen Toten herauf, und da lag er, wie ’n Toter, der Länge nach auf dem Felsen. Ein Gläschen Schnaps, den er stets bei sich hatte, brachte ihn wieder zur Vernunft, wenigstens zu dem, was noch davon übrig war. Er setzte sich aufrecht. »Lauf, Geordie, lauf nach dem Boot und bewache es, Mann – lauf!« schrie er. »Sonst geht die Lumme mit ihm durch.« Die vier Burschen starrten einander an und versuchten, ihm gut zuzureden und ihn zu beruhigen. Aber Tom Dale gab sich nicht zufrieden, bis einer von ihnen vorangegangen war, um neben dem Boot Posten zu stehen. Die anderen fragten Tom, ob sie ihn wieder ‚runterlassen sollten. »Nein,« sagte er, »weder ich noch einer von Euch geht mir da ‚runter, und sowie ich wieder auf meinen Beinen stehen kann, wollen wir sehen, daß wir von diesem Teufelsfelsen fortkommen.«

Tatsächlich verloren sie keine Zeit, und auch so blieben sie zu lange dort, denn bevor sie North Berwick erreichten, lag Tom in schwerem Fieber. Den ganzen Sommer lag er zu Bett; und wer war so freundlich, ihn immer wieder zu besuchen? Wer anders als Tod Lapraik! Die Leute meinten später, jedesmal, wenn Tod in die Nähe des Hauses kam, wäre das Fieber schlimmer geworden. Ich weiß nicht, ob das stimmt; aber ich weiß, daß es damit bald ein Ende hatte. Es war etwa um diese Jahreszeit; mein Großvater war draußen beim Schellfischfang, und Bub, der ich war, hatte ich ihn begleitet. Ich erinnere mich, wir hatten einen großartigen Fang, und so, wie die Fische lagen, mußten wir bis hart an den Felsen von Baß heran, wo wir einem zweiten Boote begegneten, das einem gewissen Sandie Fletcher aus Castleton gehörte. Er ist noch gar nicht lang gestorben, sonst könntet Ihr Euch bei ihm selber erkundigen. Nun, Sandie rief uns an. »Was ist das für ein Ding da auf dem Felsen?« fragte er. »Auf dem Felsen?« wiederholte mein Großvater. »Ja,« sagte Sandie, »auf dem grünen Abhang.«

»Was für ein Ding meinst du?« fragte Großvater. »Auf dem Felsen können nur Schafe sein.«

»’S sieht ganz wie ein Mensch aus«, meinte Sandie, der der Insel näher war als wir. »Ein Mensch«, wiederholten wir, und die Sache gefiel uns allen nicht. Denn nirgendwo war ein Boot zu sehen, um einen Menschen dorthin zu bringen, und der Schlüssel des Gefängnisses hing immer noch daheim am Kopfende von meines Vaters Wandbett. Wir blieben dicht beisammen, um nicht allein zu sein, und krochen langsam näher. Großvater hatte ein Glas, denn er war ein Seemann und Kapitän eines Fischerboots gewesen, ehe er das Schiff auf den Sandbänken des Tay verloren hatte. Und als wir durch das Glas schauten, sahen wir tatsächlich einen Mann. Da stand er in einer grünen Hügelfalte, dicht unterhalb der Kapelle, ganz mutterseelenallein, und hüpfte und sprang und tanzte herum wie so ’n tolles Frauenzimmer bei ’ner Hochzeit. »Es ist Tod«, sagte Großvater und reichte das Glas Sandie. »Ja, er ist’s«, sagte Sandie. »Oder jemand anders in seiner Gestalt«, meinte der Großvater. »Das ist ungefähr dasselbe«, entgegnete Sandie. »Ob Teufel oder Hexenmeister, ich will ihm mal ’ne Probe aus meiner Büchse zu kosten geben«, sagte er und zog eine Vogelflinte heraus, die er immer bei sich hatte, denn Sandie war als Schütze in der ganzen Gegend berühmt. »Halt ein, Sandie,« warnte der Großvater, »wir müssen erst klarer sehen, sonst kann es uns beiden teuer zu stehen kommen.« »Unsinn!« meinte Sandie. »Das ist wahrhaftig die Strafe des Herrn, Himmelherrgottnocheinmal!« »Kann sein, kann aber auch nicht sein«, sagte mein Großvater, – Gott hab ihn selig! – »Hüte dich vor dem Staatsanwalt; ich denke, ’s war‘ nicht das erstemal, daß du ihm in die Quere liefest.« Das war nur allzu wahr. Sandie schien ein bißchen abgekühlt. »Na, schön, Edie,« sagte er, »was schlägst du vor, zu tun?« »Nur das eine«, sagte mein Großvater. »Ich habe das schnellere Boot und fahre zurück nach North Berwick, und du bleibst hier und behältst das Ding da im Auge. Kann ich Lapraik nicht finden, dann bin ich gleich wieder da, und wir beide wollen mit ihm eins schwatzen. Wenn aber Lapraik zu Hause ist, dann zieh ich die Flagge im Hafen hoch, und dann kannst du das Ding dort mit deiner Büchse traktieren.« Na, so wurde es zwischen ihnen ausgemacht. Ich war nur ein Bub und kletterte in Sandies Boot, von wo es, wie ich meinte, das meiste zu sehen gäbe. Mein Großvater reichte Sandie ein silbernes Sixpencestück, daß er ’s mit den Bleikugeln abschösse, da es gegen Teufelsspuk viel wirksamer ist. Und dann machte sich das eine Boot auf den Weg nach North Berwick, während das andere das unselige Ding dort auf dem Hügel bewachte. Die ganze Zeit, während wir da lagen, hüpfte und wirbelte das Geschöpf herum wie ein Kreisel, und wir konnten die Schreie hören, die es im Tanzen ausstieß. Ich habe Dirnen, tolle, wilde Frauenzimmer, eine ganze Winternacht durchtanzen sehen und erlebt, daß sie bei Morgengrauen immer noch tanzten. Aber dann waren Leute da, um ihnen Gesellschaft zu leisten und Burschen, die sie antrieben, und das hier war ganz allein. Und sonsten ist ein Fiedler da, der in der Ofenecke den Ellbogen tanzen läßt, während dieses Wesen als Musik nur die Schreie der Lummen hatte. Und die Dirnen waren junge Dinger, denen das rote Blut in den Adern brannte und sang, aber das hier war ein dicker, plumper, feister Mann, hoch in den Jahren. Sagt, was Ihr wollt, ich muß aussprechen, was meine Meinung ist. Freude war’s, die in des Unwesens Herzen lebte: die Freude der Hölle vielleicht; aber doch Freude. Wie oft hab ich mich gefragt, weshalb Hexen und Zauberer ihre Seelen (als da sind ihr kostbarstes Gut) verkaufen und alte, gebrechliche, runzlige Weiber oder greise, bresthafte, saft- und kraftlose Männer bleiben, und jedesmal mußte ich dabei an Tod Lapraik denken, der ganz allein in dem Jubel seines schwarzen Herzens die Stunden vertanzte. Ohne Zweifel, sie müssen dafür in der tiefsten Hölle braten, aber hier oben freuen sie sich ihres Lebens – solange es dauert – Gott verzeih mir’s! Na, endlich sehen wir die winzige Flagge draußen auf den Felsen im Hafen am Maste hochgehen. Auf das hatte Sandie gewartet. Im Handumdrehen hatte er die Flinte heraus, zielte sehr sorgfältig und drückte ab. Der Schuß krachte, und von der Insel kam ein jämmerlicher Schrei. Und wir saßen da und rieben uns die Augen und starrten uns an wie Menschen, die den Verstand verloren haben. Denn mit dem Krach und dem Schrei war das Ding vom Erdboden verschwunden. Die Sonne schien, und der Wind blies, aber da war der leere Platz, wo das Wunder noch vor einer Sekunde gehüpft und gesprungen war. Den ganzen Rückweg schrie und brüllte ich vor Schreck über diesen Richtspruch des Himmels. Den Erwachsenen ging es auch nicht viel besser; in Sandies Boot kam wenig über unsere Lippen, außer dem Namen Gottes, und als wir die Mole erreichten, war der ganze Landungsplatz schwarz von Menschen, die auf uns warteten. Es scheint, sie hatten Lapraik in einer seiner Ohnmachten gefunden, wie er das Schiffchen führte und vor sich hinlächelte, und hatten einen Burschen geschickt, um die Flagge zu hissen, während sie alle in des Webers Haus blieben. Ihr könnt Euch denken, daß ihnen dabei nicht wohl zumute war, aber manchen von denen, die dort leise beteten (denn keiner hatte Lust, es laut zu tun) und dabei das schreckliche Etwas, das das Schiffchen führte, vor Augen hatten, wurde es ein Mittel zur Bekehrung. Da, plötzlich, sprang Tod mit einem fürchterlichen Schrei von seinem Sitz auf und fiel als blutige Leiche auf das Gewirk. Als die Leiche untersucht wurde, sah man, die Bleikugeln waren von des Zauberers Körper abgeprallt; man fand auch nicht einen Tropfen Blei, aber meines Großvaters silbernes Sixpencestück stak tief in seinem falschen Herzen.« Andie hatte kaum geendet, da ereignete sich ein äußerst törichter Vorfall, der seine Folgen hatte. Neil war, wie gesagt, selbst ein großer Geschichtenerzähler. Später erfuhr ich, er wisse sämtliche Sagen des Hochlandes, und er selbst und auch andere seien nicht wenig stolz darauf. Jetzt erinnerte ihn Andies Geschichte an eine, die er kannte. »Ich haben die Geschichte schon mal gehört«, sagte er »Sie war die Geschichte von Uistean More M’Gillie Phadrig und dem Gavar Vore.« »Den Teufel war es das«, rief Andie. »Es ist die Geschichte meines Vaters (Gott hab ihn selig) und Tod Lapraiks. Das behaupte ich Euch glatt ins Gesicht,« setzte er hinzu, »und haltet in Zukunft Euer loses Hochlandsmaul.« Der Umgang mit Hochländern ist, wie man ersehen wird, und wie auch die Geschichte beweist, für Tiefländer von Rang sehr leicht, für die Plebs aus dem Flachland dagegen fast unmöglich. Es war mir längst aufgefallen, daß Andie mit unseren drei McGregors ständig auf Kriegsfuß lebte, und jetzt kam es tatsächlich zu einem offenen Streit. »Das sind keine Worte nicht zu Shentlemans«, brach Neil los. »Shentlemans!« schrie Andie. »Shentlemans, du hochländischer Ochs! Wenn Gott dir die Gnade schenkte, dich einmal selbst zu sehen, wie andere dich sehen – du kämst herunter von deinem Roß!«

Neil entfuhr eine Art gälischer Fluch; im selben Augenblick blitzte das schwarze Messer in seiner Hand. Zeit zum Denken gab es nicht; ich packte den Hochländer am Bein und hatte ihn hingeworfen und die ausgestreckte Hand mit der Waffe am Boden festgenagelt, ehe ich noch wußte, was ich tat. Seine Kameraden sprangen ihm zu Hilfe, Andie und ich waren ohne Waffen und zwei Mann gegen drei. Wir schienen rettungslos verloren, als Neil in seiner Muttersprache aufschrie und den anderen befahl, abzulassen, worauf er in der demütigsten, hündischsten Art mir seine Unterwerfung anbot und mir sogar sein Messer aushändigte, das ich ihm jedoch nach einer Wiederholung seines Versprechens am nächsten Tage zurückgab. Zwei Dinge gingen aus alledem klar hervor: erstens, daß ich nicht allzu fest auf Andie bauen durfte, der sich, bleich wie der Tod, gegen die Wand gekauert hatte, bis der Handel vorüber war; zweitens, daß ich mich den Hochländern gegenüber, die strenge Weisung haben mußten, mein Leben zu schonen, in einer sehr starken Position befand. Allein obwohl ich nicht viel von Andies Mut zu halten vermochte, konnte ich mich über Mangel an Dankbarkeit nicht beklagen. Er verfolgte mich weniger mit Dankesbezeigungen, als daß seine ganze Stellungnahme zu mir, innerlich wie äußerlich, anders schien, und da er von nun an große Scheu vor seinen Gefährten hatte, waren er und ich mehr denn je aufeinander angewiesen.

  1. Schottisch für Fuchs.

Sechzehntes Kapitel


Der fehlende Zeuge

Am 16., dem Tage meines Stelldicheins mit dem Anwalt, haderte ich heftig mit dem Schicksal. Der Gedanke, wie er in den »King’s Arms« vergeblich auf mich wartete, und was er wohl von mir dächte, und was er sagen würde, wenn wir uns wiedersahen, quälte und drückte mich. Die Wahrheit war unglaubhaft, das mußte ich zugeben, und es schien grausam hart, als Lügner und Feigling dastehen zu müssen, ohne daß ich es je bewußt an dem, was in meiner Macht stand, hatte fehlen lassen. Diese Formel wiederholte ich mir immer wieder mit einer Art bitterem Gusto und prüfte noch einmal in jenem Licht die einzelnen Schritte meines Verhaltens. Mir schien, ich hatte mich James Stuart gegenüber wie ein Bruder benommen; die ganze Vergangenheit bot ein Bild, auf das ich stolz sein konnte; also galt es nur noch, mich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Ich konnte zwar weder das Meer durchschwimmen noch die Luft durchfliegen, aber da war ja noch Andie. Ich hatte ihm einen Dienst erwiesen, er hatte mich gern; hier war ein Hebel, den ich ansetzen konnte; der schiere Anstand gebot, daß ich es noch einmal mit Andie versuchte. Es war spät am Nachmittag. Totenstille herrschte auf Baß, unterbrochen nur von dem Plätschern und Gurgeln einer sehr ruhigen See, und meine vier Gefährten hatten sich alle zurückgezogen, die drei McGregors den Abhang hinauf, Andie mit seiner Bibel an einen sonnigen Platz unter den Ruinen. Dort fand ich ihn fest eingeschlafen und brachte meine Bitte, sowie er wach war, mit ziemlicher Inbrunst und eindringlicher Logik vor.

»Wüßte ich nur, ob es für Euch gut ist, Shaw!« bemerkte er und starrte mich über seine Brillengläser an. »Es geschieht, um einen anderen zu retten,« entgegnete ich, »und um mein Wort einzulösen. Gibt es etwas Besseres? Habt Ihr die Heilige Schrift vergessen, Andie, und haltet doch die Bibel auf dem Schoß? Was hülfe es ihm, wenn er die ganze Welt gewönne!« »Ja,« sagte er, »für Euch ist das recht schön und gut. Aber wo bleibe ich derweil? Ich hab genau wie Ihr mein Wort einzulösen. Und was verlangt Ihr anders, als daß ich’s Euch gegen Geld verkaufe?«

»Andie! Habe ich das Wort Geld gebraucht?« rief ich. »Bah! Das Wort hat nichts zu sagen,« erwiderte er, »das Zeugs steckt doch dahinter. Ich will Euch sagen, worauf es hinauskommt: erweis ich Euch den Dienst, den Ihr verlangt, so verlier ich meine Stellung. ‚S ist klar, daß Ihr in dem Fall für mich aufkommen müßt und mir, so um der Ehre willen, noch was draufzahlen werdet. Und ist das etwa keine Bestechung? Und wenn mir die wenigstens sicher wäre! Aber soviel ich weiß, ist sie das durchaus nicht. Wenn Ihr nun hängen müßt, was wird dann aus mir? Nein! die Sache ist unmöglich. Also seid ein guter Junge und laßt Andie in Ruhe sein Kapitel lesen.«

Ich weiß, im Grunde meines Herzens war ich von diesem Ergebnis sehr befriedigt; die Folge war, daß ich in eine Stimmung – fast hätte ich gesagt – von Dankbarkeit verfiel, Dankbarkeit gegen Prestongrange, der mich auf diese gewaltsame, ungesetzliche Art aus all meinen Gefahren, Versuchungen und Verwicklungen herausgerissen hatte. Aber diese Selbstlüge war allzu feige und fadenscheinig, um zu dauern, und die Erinnerung an James begann von neuem von mir Besitz zu ergreifen. Den 21., den Tag, der für die Verhandlung angesetzt war, verbrachte ich in solcher Seelenqual, wie ich sie, meines Wissens nach nur noch auf der Insel Earraid erduldet habe. Die meiste Zeit lag ich in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen irgendwo auf einem Hügel ausgestreckt, äußerlich regungslos, innerlich von aufrührerischen Gedanken zerrissen. Mitunter schlief ich tatsächlich ein; aber der Gerichtssaal von Inverary und der Gefangene, der sich in allen Winkeln nach seinem fehlenden Zeugen umschaute, verfolgten mich bis in meine Träume; und ich fuhr aus dem Schlafe auf, mein Körper wie zerschlagen, meine Seele von Verzweiflung umnachtet. Ich glaubte zu bemerken, daß Andie mich beobachtete, aber ich achtete wenig darauf. Wahrlich, mein Brot schmeckte bitter und meine Tage wurden mir zur Last. Früh am folgenden Morgen, Freitag, den 22., kam ein Boot mit Proviant zu uns herüber, und Andie legte ein versiegeltes Päckchen in meine Hände. Der Umschlag war ohne Adresse, aber mit einem amtlichen Siegel verschlossen. Er enthielt zwei Billette. »Mr. Balfour wird jetzt von sich aus erkannt haben, daß es zu spät ist, sich einzumischen. Sein Betragen wird beachtet und seine Diskretion belohnt werden.« Das war der Inhalt des ersten Zettels, der mühsam mit der linken Hand geschrieben war. Ganz entschieden besagten seine Worte nichts, das den Schreiber kompromittieren konnte, selbst wenn man diese Persönlichkeit ausfindig machte; das imponierende Siegel, das als Unterschrift diente, war einem zweiten, völlig leeren Blatt Papier angeheftet; und ich mußte zugeben, so weit wußten meine Gegner genau, was sie taten; ich suchte daher nach Möglichkeit die Drohung zu verdauen, die unter der Verheißung hervorlugte. Doch die zweite Einlage war bei weitem überraschender. Sie war von einer Dame im breitesten Dialekt geschrieben. »Dem Junker Dauvit Balfour wird hierdurch mitgeteilt, daß eine Freundin sich nach ihm erkundigt hat, und ihre Augen waren grau«, so lauteten die Worte, – ein so seltsames Schriftstück und unter so seltsamen Umständen – der Augenblick und das amtlich versiegelte Dokument – in meine Hand gespielt, daß ich wie betäubt dastand. Catrionas graue Augen leuchteten in meiner Erinnerung auf. Ein Glücksgefühl durchschauerte mich: sie mußte die Freundin sein. Doch wer war die Schreiberin, die ihr Billett mit Prestongranges einschloß? Und – Wunder über Wunder – weshalb hielt man es für notwendig, mir diese angenehme, doch belanglose Botschaft nach der Insel Baß zu senden? Als Schreiberin kam für mich niemand anders als Miß Grant in Betracht. Ich erinnerte mich: ihrer Familie waren Catrionas Augen aufgefallen, ja man hatte das Mädchen nach ihren Augen benannt, und Miß Grant selbst hatte die Gewohnheit gehabt, wahrscheinlich um mein bäuerisches Wesen zu verspotten, mich in breitem Dialekt anzureden. Außerdem wohnte sie ja zweifellos in dem Hause, aus dem der Brief stammte. Also gab es nur noch einen Umstand zu erklären: wie kam Prestongrange dazu, sie in ein derartiges Geheimnis einzuweihen und ihr tolles Billett mit seinem zu befördern? Aber auch hier vermutete ich mancherlei. Einmal schien mir die junge Dame selbst eine etwas gefährliche Person, und ihr Papa konnte mehr unter ihrem Pantoffel stehen, als ich wissen durfte. Und dann gab es noch des Mannes konsequente Politik zu bedenken, sein Benehmen mir gegenüber, ständig mit Schmeichelei untermischt, und die Tatsache, daß er selbst in einem solchen Zwist niemals die Maske der Freundschaft hatte fallen lassen. Er mußte annehmen, daß meine Gefangennahme mich wütend machte. Vielleicht sollte diese scherzhafte, freundschaftliche kleine Botschaft meinen Zorn entwaffnen. Ich will ehrlich sein – ich glaube, es glückte ihm. Ich spürte plötzlich eine warme Zuneigung für die schöne Miß Grant, die sich herabgelassen hatte, ein so lebhaftes Interesse für meine Angelegenheiten zu bezeugen. Allein die Erwähnung Catrionas genügte, um mildere und feigere Gedanken in mir wachzurufen. Wußte der Lord Staatsanwalt von ihr und unserer Bekanntschaft – erregte ich durch jene ›Diskretion‹ von der in seinem Briefe die Rede war, sein Wohlwollen – wozu konnte das nicht alles führen? ›Vergeblich stellet er im Angesicht der Vögel seine Netze!‹ heißt es in der Bibel. Nun, Vögel müssen weiser als Menschen sein, denn ob ich auch ihre Absichten durchschaute, fügte ich mich doch darein.

So dachte ich klopfenden Herzens und sah vor mir, deutlich wie zwei Sterne, die grauen Augen, als Andie mein Sinnen unterbrach. »Ihr habt gute Nachrichten erhalten«, bemerkte er.

Ich fand, daß er mich neugierig musterte; da tauchten visionär James Stuart und der Gerichtssaal von Inverary vor mir auf, meine Seele drehte sich gleich einer Tür in ihren Angeln, und das erste Bild versank. Verhandlungen, überlegte ich mir, ziehen sich mitunter mehr in die Länge, als man glaubt. Selbst wenn ich einen Augenblick zu spät nach Inverary kam, konnte ich vielleicht noch etwas in James‘ Interesse unternehmen – und mein eigener Ruf wurde auf diese Art am besten gewahrt. Im Handumdrehen, gleichsam ohne jedes Besinnen, stand mein Plan fest.

»Andie«, forschte ich, »bleibt es bei morgen?«

Er sagte mir, nichts hätte sich darin geändert.

»Ist irgend eine Stunde angegeben?«

»Zwei Uhr nachmittags«, antwortete er.

»Und wie steht’s mit dem Ort?« fuhr ich fort.

»Welchem Ort?« fragte Andie.

»Dem Ort, an dem ich abgesetzt werden soll?«

Er gestand, darüber wäre nichts vereinbart worden.

»Nun gut,« sagte ich, »dann werde ich ihn bestimmen.

Der Wind kommt von Osten, mein Weg führt nach Westen; behaltet Euer Boot, ich miete es; wir wollen heute den ganzen Tag den Forth hinaufsegeln, und morgen um zwei Uhr sollt Ihr mich am westlichsten Punkt, den wir erreichen können, landen.«

»Ihr seid ein toller Bursche!« rief er. »Ihr wollt also doch versuchen, Inverary zu erreichen?«

»Ihr habt es erraten, Andie«, sagte ich.

»Na, Ihr gebt Euch nicht schnell geschlagen!« meinte er. »Und gestern tatet Ihr mir beinahe leid«, fügte er hinzu. »Wißt Ihr, bis dahin war ich mir nie so ganz klar, was Ihr eigentlich wirklich wolltet.«

Hier war ein Sporn für einen lahmen Gaul!

»Ein Wort in Euer Ohr, Andie«, sagte ich. »Mein Plan hat noch einen anderen Vorteil. Wir können diese Hochländer hier auf dem Felsen zurücklassen, und eines Eurer Boote aus Castleton kann sie morgen abholen. Jener Kerl Neil hat einen merkwürdigen Ausdruck, wenn er Euch ansieht; kann sein, es kommt, wenn ich erst zum Tore hinaus bin, doch zu einer Messerstecherei; diese Kittelröcke sind verteufelt rachsüchtig. Und werden irgendwelche Fragen gestellt, so habt Ihr ja eine Entschuldigung bei der Hand. Unser Leben war von diesen Wilden bedroht; da Ihr für meine Sicherheit verantwortlich waret, wähltet Ihr den Ausweg, mich aus ihrer Nachbarschaft zu entfernen und den Rest der Zeit in Eurem Boot gefangenzuhalten; und wißt Ihr was, Andie?« schloß ich lächelnd. »Ich glaube, Eure Wahl war sehr vernünftig.« »Die Wahrheit ist, ich habe nichts übrig für Neil«, sagte Andie, »und er für mich auch nichts; und ich möchte nicht mit dem Mann handgemein werden. Tam Anster wird jedenfalls besser mit dem Pack auskommen.« (Dieser Mann Anster stammte aus Fife, wo noch Gälisch gesprochen wird.) »Ja, ja,« beteuerte Andie, »Tam versteht mit ihnen auszukommen. Bei Gott, je mehr ich mir’s überlege, um so weniger seh ich, wozu sie uns brauchen. Den Ort – Potz Blitz! – ja, den Ort haben sie ganz vergessen. Verdammt, Shaw, Ihr seid schon ein Schlaukopf, wenn Ihr wollt! Außerdem schulde ich Euch mein Leben«, fügte er ernsthafter hinzu und bot mir seine Hand, um das Abkommen zu besiegeln.

Darauf gingen wir unvermittelt, fast ohne weitere Worte, an Bord, stießen vom Lande ab und setzten das Luggersegel. Die Gregaras waren inzwischen mit der Bereitung des Frühstücks beschäftigt, denn die Kocherei war gewöhnlich ihre Arbeit; einer jedoch trat auf die Bastei hinaus und entdeckte unsere Flucht, ehe wir noch zwanzig Faden von dem Fels entfernt waren, worauf alle drei zwischen den Ruinen und dem Landungssteg hin und her liefen, ganz wie Ameisen um einen zerstörten Bau, und uns zuriefen und -schrien, umzukehren. Wir befanden uns immer noch im Schutze des Felsens, der einen breiten Schatten über das Wasser warf; aber wir erreichten fast im nämlichen Augenblick den Wind und den Sonnenschein; das Segel blähte sich, das Schiff folgte dem Ruder, und wir schossen pfeilschnell außer Reichweite ihrer Stimmen. Welche Schrecknisse diese drei erduldeten, die wir ohne die stärkende Gegenwart eines zivilisierten Menschen, ja selbst ohne den Schutz einer Bibel sich selbst überließen, kann niemand ermessen; sie hatten als Trost nicht einmal Schnaps, denn trotz der Hast und Heimlichkeit unseres Aufbruchs hatte Andie es fertiggebracht, den mitzunehmen.

Unsere erste Sorge war, Anster in einer Bucht bei Glenteithy Rocks an Land zu bringen, damit er am folgenden Tag planmäßig unsere Ausgesetzten erlösen könnte. Dann hielten wir firthaufwärts. Die Brise, die bis dahin so munter geweht hatte, flaute rasch ab, ohne jedoch völlig abzusterben. Den ganzen Tag rückten wir vorwärts, obwohl es oft nicht mehr als ein Schleichen war; und es war schon dunkel geworden, als wir Queensferry erreichten. Um den Buchstaben von Andies Verpflichtung (soweit davon noch die Rede sein konnte) zu erfüllen, mußte ich an Bord bleiben, aber ich sah nicht ein, weshalb ich mich nicht schriftlich mit dem Lande in Verbindung setzen sollte. Auf Prestongranges Umschlag, dessen amtliches Siegel den Empfänger ziemlich überrascht haben muß, schrieb ich beim Licht der Bootslaterne die notwendigen Worte, und Andie übermittelte sie Rankeillor. Nach rund einer Stunde war er wieder an Bord und brachte eine gefüllte Börse und die Versicherung mit: morgen um zwei Uhr nachmittags würde ein gutes Pferd für mich bei Clackmannan Pool bereitstehen. Danach legten wir uns, bedeckt von dem Segel, schlafen, während das Boot an seinem Anker ruhte. Den nächsten Tag waren wir lange vor zwei Uhr an Ort und Stelle, und es blieb uns nichts übrig, als ruhig zu warten. Ich spürte keine große Lust zu meinem Vorhaben. Jeden einleuchtenden Vorwand, es fallen zu lassen, hätte ich mit Freuden begrüßt; da sich aber keiner fand, war meine Ungeduld so groß, als ginge es zu einem ersehnten Vergnügen. Kurz nach eins wurde das Pferd an das Ufer gebracht, und ich konnte sehen, wie ein Mann es bis zu meiner Landung auf und ab führte, was meine Ungeduld noch gehörig steigerte. Andie berechnete den Augenblick meiner Freilassung mit Finesse; er zeigte sich als Mann von Wort, ohne jedoch seiner Kundschaft Maß zu häufen, und rund fünfzig Sekunden nach zwei saß ich im Sattel und jagte mit verhängten Zügeln auf Stirling zu. In weniger als einer Stunde hatte ich jene Stadt hinter mir und arbeitete mich bereits den Hang von Alan Water hinan, als das Wetter sich zu einem kleinen Orkan verdichtete. Der Regen blendete mich, und die hereinbrechende Nacht überraschte mich in einer Wildnis, immer noch einige Meilen östlich von Balwhidder, ohne daß ich die genaue Richtung wußte, während mein Gaul bereits zu ermatten begann. Um rascher vorwärts zu kommen und nicht durch einen Führer aufgehalten und belästigt zu werden, hatte ich (soweit das für einen Reiter möglich war) den Weg eingeschlagen, den ich früher mit Alan zurückgelegt hatte. Das tat ich, obwohl ich die große Gefahr, die damit verbunden war, klar voraussah; jetzt hatte das Unwetter sie herangerückt. Das Letzte, was ich von meiner Lage wußte, war, daß ich mich irgendwo in der Nähe von Uam Var befand; die Zeit muß etwa sechs Uhr abends gewesen sein. Trotzdem erachte ich es als ein großes Glück, daß ich ungefähr um elf Uhr nachts mein Ziel, das Haus von Duncan Dhu, erreichte. Wo ich inzwischen herumgeirrt bin, weiß wohl nur das Pferd. Wie ich mich erinnere, stürzten wir zweimal, wobei ich einmal kopfüber aus dem Sattel flog; und eine Sekunde lang wurden wir von einem brüllenden Gießbach mitgerissen. Roß und Reiter waren beide beschmutzt bis über die Ohren. Von Duncan erfuhr ich einiges über den Prozeß. Dieser wurde in jenem Teile des Hochlandes mit atemloser Spannung verfolgt; Nachrichten darüber verbreiteten sich von Inverary aus, so rasch Menschen nur reisen konnten, und zu meiner Freude hörte ich, er wäre heute, Samstag, zu vorgerückter Stunde noch nicht abgeschlossen gewesen; jeder glaubte, er würde sich bis Montag hinziehen. Diese Neuigkeit spornte mich so an, daß ich weder rasten noch essen wollte; da aber Duncan sich bereit erklärte, mein Führer zu sein, legte ich den Rest des Weges zu Fuß zurück, den Bissen Nahrung in der Hand, und kaute im Gehen weiter. Duncan hatte für unterwegs eine Flasche Usquebaugh sowie eine Handlaterne mitgenommen, die uns leuchtete, solange wir Häuser fanden, wo wir sie füllen konnten, denn das Ding leckte ganz ungebührlich und erlosch bei jedem Windstoß. Den größeren Teil der Nacht jedoch wanderten wir blind zwischen tönenden Mauern von Regen, und der Tag fand uns immer noch in den Bergen ohne Weg noch Ziel. Aber ganz in der Nähe stießen wir neben einem Quellenhang auf eine Hütte, wo wir ein wenig Nahrung und eine Beschreibung des Weges erhielten, und kurz vor Beendigung der Predigt standen wir vor der Tür der Kirche von Inverary. Der Regen hatte zwar die obere Hälfte meines Habits so ziemlich gewaschen, aber bis zu den Knien war ich eine einzige Kotmasse; ich triefte vor Nässe und war so müde, daß ich mich kaum schleppen konnte, und mein Gesicht glich dem eines Gespenstes. Zweifellos waren ein Kleiderwechsel und ein Bett mir nötiger als alle Wohltaten der Christenheit. Trotzdem stieß ich (in der Überzeugung, nichts sei so wichtig wie sofortige Publizität) die Tür auf und betrat, den nicht minder schmutzigen Duncan auf den Fersen, die Kirche, wo ich mich auf einen leeren Platz in der Nähe niederließ. »Dreizehntens und in Parenthese, meine Brüder, ist aber auch das Gesetz selbst als ein Mittel der Gnade anzusehen«, verkündete der Pastor mit der Stimme eines Menschen, der voller Genuß ein Argument verfolgt. Die Predigt wurde dank den Assisen englisch gehalten. Die Richter nahmen samt ihrem bewaffneten Gefolge daran teil; in der Ecke neben der Tür funkelten die Hellebarden, und auf den Bänken drängte sich eine ungewohnte Schar von Juristen. Der Text war den Römerbriefen entnommen, der Prediger ein geschickter Redner, und die gesamte, illustre Zuhörerschaft in jener Kirche – angefangen bei Argyle selbst und den Lords Elchies und Kilkerran bis zu den Hellebardisten ihres Gefolges – saß mit gerunzelter Stirn, in gespannte kritische Aufmerksamkeit versunken. Der Prediger selbst sowie ein kleiner Teil der Leute in der Nähe des Einganges hatten unseren Eintritt bemerkt und dann gleich wieder vergessen; die anderen konnten oder wollten ihn nicht hören, und so saß ich unbeachtet zwischen Freund und Feind. Den ersten, den ich erkannte, war Prestongrange. Er saß vornüber gebeugt, wie ein hitziger Reiter im Sattel; seine Lippen bewegten sich mit Behagen, seine Augen waren fest auf den Prediger geheftet; was dort gelehrt wurde, war sichtlich nach seinem Herzen. Charles Stuart dagegen war halb eingeschlafen und sah bleich und sorgenvoll aus. Und was Simon Fraser betrifft, so erschien er inmitten dieser aufmerksamen Gemeinde fast als ein Schandfleck oder Skandal; er vergrub die Hände in den Taschen, rutschte auf seinem Sitz umher, räusperte sich, zog die kahlen Brauen hoch und blickte, jetzt gähnend, dann wieder verstohlen lächelnd, nach rechts und nach links. Mitunter nahm er auch die Bibel, die vor ihm lag, blätterte darin, schien ein Stückchen zu lesen, blätterte weiter und hielt inne, um unverhohlen zu gähnen: das Ganze, wie um sich wach zu halten. Dank dieser Ruhelosigkeit fiel sein Blick auf mich. Eine Sekunde lang saß er da, wie erstarrt, dann riß er eine halbe Seite aus der Bibel, kritzelte etwas mit Bleistift darauf und reichte sie flüsternd seinem nächsten Nachbarn. Der Zettel gelangte schließlich in Prestongranges Hände, der einen einzigen Blick darauf warf; von dort wanderte er zu Mr. Erskine weiter, von ihm zu Argyle, der zwischen zwei Richtern saß, und Seine Gnaden drehten sich um und starrten mich hochmütig an. Der Letzte der Parteien, meine Gegenwart zu bemerken, war Charlie Stuart, und auch er begann Notizen zu schreiben und zirkulieren zu lassen, deren Weg durch die Menge ich jedoch nicht zu verfolgen vermochte. Doch das Kreisen dieser Zettel hatte Aufsehen erregt; alle Eingeweihten (und solche, die sich dafür hielten) gaben flüsternd Informationen weiter – die anderen Fragen – und der Pastor selbst schien durch die Bewegung in der Kirche, die plötzliche Unruhe und das Flüstern völlig aus dem Konzept gebracht. Seine Stimme änderte sich, er stockte offenbar und gewann auch nicht einen Augenblick seine Beweiskraft und seinen sonoren Vortrag wieder. Bis an sein Lebensende wird es ihm wohl ein Rätsel geblieben sein, weshalb eine Predigt, deren erste vier Teile er mit Triumph abwickelte, im fünften Abschnitt elend scheiterte. Was mich anbelangt, so blieb ich auch fernerhin auf meinem Platze sitzen, sehr naß und müde und ziemlich besorgt, was sich wohl als nächstes ereignen würde, aber immerhin über meinen Erfolg frohlockend.

Siebzehntes Kapitel


Die Denkschrift

Die letzten Worte des Segens waren noch kaum gesprochen, da hatte mich Stuart schon am Arme gepackt. Wir waren die ersten, die Kirche zu verlassen, und er trieb mich so eilig vorwärts, daß wir wohlbehalten die vier Wände eines Hauses erreichten, bevor die Straße sich mit auf dem Heimwege befindlichen Kirchgängern anfüllte. »Komme ich noch zur Zeit?« fragte ich. »Ja und nein«, sagte er. »Der Prozeß ist beendet; die Jury hat sich zurückgezogen und wird die Güte haben, uns morgen früh ihr Urteil wissen zu lassen, das ich Euch schon vor drei Tagen, ehe die Komödie begann, hätte sagen können. Es war von Anfang an bekannt. Der Angeklagte kannte es. »Ihr könnt für mich tun, was Ihr wollt,« flüsterte er mir vor zwei Tagen zu, »ich weiß, was mir bevorsteht; ich habe gehört, was der Herzog von Argyle eben jetzt zu Mr. Macintosh sagte.« O, es war ein Skandal! Ja, selbst der Pedell schrie, ›Cruachan!‹«

»Der große Argyle schritt munter voran.
Da huben Kanonen zu brüllen an!«

»Aber nun ich Euch wiederhabe, geb ich die Sache nicht verloren. Die Eiche soll noch über die Myrthe triumphieren; wir werden die Campbells in ihrer eigenen Stadt besiegen. Mit Gottes Hilfe werde ich den Tag noch erleben!« Er zitterte vor Aufregung, schüttete seine Koffer auf dem Boden aus, damit ich die Kleider wechseln könnte, und belästigte mich dabei durch seine Hilfe. Was es aber noch zu tun gab, und wie ich es tun mußte, brachte ich nicht aus ihm heraus, ja, ich glaube, er widmete dem auch nicht einen Gedanken. »Wir werden die Campbells schon unterkriegen!« war sein ständiger Refrain. Und mir wurde plötzlich klar, daß diese Angelegenheit, die nach außen hin einem nüchternen Rechtsverfahren glich, im Kern nichts als ein barbarisch wilder Clanstreit war. Und mein Freund, der Anwalt, erschien mir als einer der wildesten Parteigänger. Wer von jenen, die ihn gesehen hatten, wenn er in einer gewöhnlichen Verhandlung hinter dem Gerichtsadvokaten auftrat oder auf den Bruntsfield Links einen Golfball vor sich hertrieb, hätte in dem wortreichen, gewalttätigen Clansmann den gleichen Menschen erkannt?

James Stuart hatte vor Gericht vier Vertreter: die Sheriffs Brown von Coulston und Miller, Mr. Robert Macintosh und Mr. Stuart junior von Stuart Hall. Die vier waren eingeladen, nach der Predigt bei dem Anwalt zu speisen, und ich wurde freundlichst aufgefordert, mit von der Partie zu sein. Kaum war das Tischtuch abgenommen und die erste Bowle Punsch kunstvoll von Sheriff Miller gebraut, als wir über das Thema herfielen, das uns beschäftigte. Ich gab einen kurzen Bericht meiner Gefangennahme und Absperrung und wurde wiederholten Verhören und Kreuzverhören unterzogen. Man wird sich erinnern: es war das erstemal, daß ich ausführlich reden konnte, und daß der Fall von einem Juristenkollegium behandelt wurde; das Resultat war für die anderen ungemein entmutigend und für mich (wie ich zugeben muß) eine Enttäuschung. »In summa,« erklärte Coulston, »Ihr beweist, daß Alan dabei war; Ihr habt ihn Drohungen gegen Glenure ausstoßen hören; und obwohl Ihr uns versichert, er wäre nicht der Mann, der den Schuß abfeuerte, hinterlaßt Ihr doch durchaus den Eindruck, daß er mit dem andern im Bunde stand, zum minderten, daß er der Tat zustimmte, selbst wenn er sich nicht an ihr beteiligte. Ihr beweist ferner, daß er unter Gefährdung seiner Freiheit nach Kräften des Verbrechers Flucht begünstigte, und der Rest Eurer Aussage (sofern sie von materiellem Wert ist) stützt sich auf das bloße Wort der beiden Angeklagten Alan und James. Ihr brecht durchaus nicht die Kette, die unseren Klienten an den Mord fesselt, sondern verlängert sie vielmehr um ein Glied; und ich brauche wohl kaum hervorzuheben: die Einführung eines dritten Komplicen verstärkt eher den Verdacht einer Verschwörung, welcher von Anfang an das Hindernis war, an dem wir scheiterten.« »Ich bin der gleichen Ansicht«, meinte Sheriff Miller. »Ich glaube, wir können Prestongrange alle sehr dankbar sein, daß er einen höchst lästigen Zeugen aus dem Wege räumte. Und hauptsächlich glaube ich, schuldet Mr. Balfour selbst ihm Dank… Ihr redet von einem dritten Komplicen, doch Mr. Balfour erweckt (in meinen Augen) ganz den Eindruck eines vierten.«

»Vergebung, meine Herren«, warf hier Stuart, der Anwalt, ein. »Es gibt noch einen ganz anderen Gesichtspunkt. Hier ist ein Zeuge – ob wichtig oder nicht, ist einerlei –, ein Zeuge in diesem Prozeß, der von jener gesetzlosen alten Räuberbande, den Glengyle MacGregors, überfallen und fast einen Monat lang in einem elenden kalten Steinhaufen auf Baß gefangengehalten wurde. Rührt das auf und seht, welchen Schmutz Ihr aufwirbelt und dem Prozeß anhängen könnt! Meine Herren, das ist eine Geschichte, von der die ganze Welt reden wird! Es müßte schon nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn wir auf diese Art nicht eine Begnadigung für unseren Klienten herausdrückten.«

»Schön, angenommen, wir greifen morgen den Fall Balfour auf«, entgegnete Stuart Hall. »Ich müßte mich sehr täuschen, wenn man uns nicht derart viele Hindernisse in den Weg rückte, daß wir den James gehenkt sähen, ehe wir einen Gerichtshof zusammenhätten, um den Fall zu vernehmen. Die Sache ist ein unerhörter Skandal; aber ich meine, wir haben alle einen noch größeren Skandal nicht vergessen: den Fall der Lady Grange. Die Dame befand sich in Gefangenschaft; mein Freund, Mr. Hope von Rankeillor, tat, was in Menschenmacht stand, und wieweit kam er? Er erzielte nicht einmal einen Haftbefehl! Nun, das gleiche wird sich wiederholen; man wird sich der nämlichen Waffen bedienen. Das hier ist ein Fall der Clananimosität. Der Haß gegen den Namen, den zu tragen ich die Ehre habe, ist an höchster Stelle entfesselt. Wir haben es hier lediglich mit der krassen Bosheit und schmutzigen Intrigue der Campbells zu tun.«

Man glaube mir, damit hatte er ein Thema angeschlagen, das ihnen nur allzu willkommen war, und eine ganze Weile saß ich hier unter meinen gelehrten Rechtsbeiständen mit einem Kopf, der mir vor lauter Reden brummte, ohne jedoch um ein Jota klüger zu werden. Charles Stuart ließ sich zu einigen hitzigen Bemerkungen fortreißen; Coulston sah sich genötigt, ihn zu widerlegen; die übrigen schlugen sich auf die eine oder andere Seite, alle aber mit ziemlichem Aufwand von Stimme und Worten. Der Herzog von Argyle wurde zu Mus zerstampft; König George erhielt beiläufig ein paar Rippenstöße und wurde dann des langen und breiten verteidigt. Ein einziger Mann schien ganz vergessen: James von der Schlucht. Indessen verhielt sich jener Mr. Miller ganz still. Er war ein kleiner, zierlicher Herr mit rosigem Gesicht und zwinkernden Augen und sprach mit einer sonoren, einschmeichelnden Stimme auf unendlich pfiffige Art, wobei er jedes Wort wie ein Schauspieler betonte, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen. Ja, selbst wenn er schwieg und, die Perücke beiseite gelegt, das Glas in beiden Händen, mit komisch aufgeworfenen Lippen und vorgestrecktem Kinn dasaß, schien er die Verkörperung munterer Schlauheit. Es war klar, auch er hatte ein Wort zu sagen und wartete die passende Gelegenheit ab.

Sie kam sehr bald. Coulston hatte eine seiner Reden mit irgend einem Hinweis auf ihre Pflicht gegenüber ihrem Klienten geschlossen. Sein Kollege Miller war vermutlich über den Übergang entzückt. Mit bedeutungsvoller Geste und vielsagendem Blick zog er die Tafelrunde in sein Vertrauen.

»Das bringt mich auf einen Punkt, der, wie mir scheint, bisher übersehen worden ist«, bemerkte er. »Das Interesse unseres Klienten hat selbstverständlich allem voranzugehen, doch die Welt ist ja mit James Stuart noch nicht zu Ende.« Hier zwinkerte er schlau. »Da sind, exempli gratia, noch ein Mr. George Brown, ein Mr. Thomas Miller und ein gewisser Mr. David Balfour. Mr. Balfour hat allen Grund zur Klage, und ich glaube, meine Herren, wir können, wenn wir seine Sache geschickt durchfechten, eine ganze Reihe Whigs zur Strecke bringen.« Wie auf Kommando wandte sich der ganze Tisch ihm zu. »Richtig gedreht und sorgfältig ausgeschlachtet, ist das hier eine Geschichte, die bedeutungsvolle Folgen haben dürfte«, fuhr er fort. »Unsere gesamte Justizverwaltung, von den höchsten Beamten abwärts, wäre dann kompromittiert, und mir sieht es ganz so aus, als müßten diese Beamten ersetzt werden.« Er strahlte förmlich vor Schlauheit. »Ich brauche wohl nicht erst zu betonen: der Fall Balfour ist ein gutes Schlachtpanier.« Nun, damit hatten sie ein neues Wild aufgespürt. Der Fall Balfour, und welche Reden dabei gehalten und welche Beamten verabschiedet werden müßten, und wer ihr Nachfolger sein sollte, wurde das Gesprächsthema. Ich will nur zwei Beispiele anführen. Es wurde vorgeschlagen, Simon Fraser zu gewinnen, dessen Zeugnis Argyle und Prestongrange den Hals brechen mußte, Miller war durchaus für den Versuch. »Vor uns liegt ein fetter Bissen,« sagte er, »es fällt für jeden ein Mundvoll ab.« Mir kam’s vor, als leckten sich alle die Lippen. Miller sah das Ende bereits vor sich. Charles Stuart war vor Entzücken außer sich, denn er witterte Rache an seinem Erzfeinde, dem Herzog. »Meine Herren,« schrie er, sein Glas füllend, »ich trinke auf Sheriff Miller. Seine juristischen Fähigkeiten sind weltbekannt. Für seine kulinarischen spricht vor uns die Bowle Punsch! Doch erst seine politischen –«, er leerte sein Glas.

»Ja, aber die Politik dürfte kaum nach Eurem Geschmack sein«, sagte der erbaute Mr. Miller. »Nennt es, wenn Ihr wollt, eine Revolution; ich glaube Euch sogar versprechen zu können, daß Historiker sie vom Falle Balfour ab datieren werden. Doch richtig geleitet, Mr. Stuart, mit Vorsicht geleitet, wird es eine friedliche Revolution werden.« »Wenn nur die verdammten Campbells eins ausgewischt kriegen!« schrie Stuart, mit der Faust auf den Tisch schlagend, »alles andere ist mir gleich!«

Man kann sich denken, daß ich von alledem nicht sonderlich entzückt war, obwohl ich mich kaum enthalten konnte, über eine gewisse Einfalt an diesen alten Verschwörern zu lächeln. Aber es entsprach nicht meiner Absicht, so viel Kummer erduldet zu haben, nur um Sheriff Miller zu befördern und im Parlamentshaus eine Revolution anzuzetteln. Ich mischte mich daher mit so viel Unschuld, als ich aufzubringen vermochte, ein.

»Ich danke Euch für Euren Rat, meine Herren«, sagte ich. »Und jetzt möchte ich mit Verlaub zwei, drei Fragen stellen. Eine Sache wurde hierbei ein wenig in den Hintergrund gedrängt, zum Beispiel: wird dieser Fall unserem Freunde James von der Schlucht weiterhelfen?« Alle schienen einen Schatten gedämpfter und gaben die verschiedensten Antworten; aber in einem Punkte waren sie sich so ziemlich einig: daß James nur noch auf Begnadigung durch den König hoffen dürfe.

»Um fortzufahren,« bemerkte ich, »wird es Schottland irgendwie nützen? Es gibt ein Sprichwort: der ist ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt. Ich erinnere mich, gehört zu haben, daß wir damals, als ich noch in den Windeln lag, in Edinburgh eine Revolte hatten, die die hochselige Königin veranlaßte, unser Land ein barbarisches Land zu nennen, und ich glaubte bisher immer, wir hätten dadurch mehr verloren als gewonnen. Dann kam das Jahr ’45, und ich habe auch nie vernommen, daß die Revolution ’45 uns genützt hätte. Jetzt kommen wir zu diesem Fall Balfour, wie Ihr ihn nennt. Sheriff Miller erklärt, Historiker würden ihre Schriften nach diesem Zeitpunkt datieren, was ich ihm gerne glauben will. Ich fürchte nur, sie werden die betreffende Periode als eine Zeit des Unglücks und des öffentlichen Vorwurfs bezeichnen.« Der geistig agile Miller witterte bereits, worauf ich hinaus wollte, und beeilte sich, den gleichen Weg einzuschlagen. »Sehr treffend bemerkt, Mr. Balfour,« meinte er. »Ein gewichtiges Argument, Sir.«

»Dann müssen wir uns auch fragen, ob König Georg damit gedient ist«, fuhr ich fort. »Sheriff Miller scheint sich über diesen Punkt keine weiteren Gedanken zu machen; doch ich zweifle, ob man Seiner Majestät den Boden unter den Füßen wegziehen kann, ohne Seiner Majestät selbst dadurch ein, zwei Schläge zu versetzen, von denen einer oder der andere leicht tödlich sein könnte.« Ich ließ ihnen Zeit zu einer Entgegnung, aber keiner rührte sich. »Bezüglich derer, die durch diese Sache profitieren sollen,« fuhr ich fort, »hat Sheriff Miller eine Reihe von Namen genannt, unter denen er so gütig war, auch meinen anzuführen. Ich hoffe, er wird mir verzeihen, wenn ich gegenteiliger Ansicht bin. Ich glaube, keinerlei Bedenken gezeigt zu haben, als es sich darum handelte, ein Menschenleben zu retten, obwohl ich gestehe, daß ich mein eigenes Leben dabei als stark bedroht empfand. Ich bin aber bereit, zuzugeben, daß ich es für schade halte, wenn ein junger Mann, der selbst die juristische Karriere einzuschlagen gedenkt, sich den Ruf eines aufrührerischen, händelsüchtigen Burschen zuzieht, bevor er noch zwanzig Jahre alt ist. Und was James anbetrifft, so scheint ihm zur Zeit – da das Urteil so gut wie gesprochen ist – keine andere Hoffnung als die Gnade des Königs zu bleiben. Gibt es daher nicht eine Möglichkeit, sich Seiner Majestät in wirksamerer Weise zu nähern, den Ruf dieser hohen Beamten vor der Öffentlichkeit zu schützen und mich selbst einer Lage zu entziehen, die für mich, meiner Meinung nach, den Ruin bedeutet?«

Alle saßen schweigend da, den Blick auf ihre Gläser gerichtet, und ich sah, meine Haltung war nicht nach ihrem Geschmack. Allein Miller war auch auf diese Eventualität vorbereitet. »Falls mir gestattet ist, unseres jungen Freundes Gedanken eine offizielle Form zu geben,« sagte er, »schlage ich vor, wenn ich ihn recht verstanden habe, daß wir die Tatsachen bezüglich seiner Gefangenhaltung sowie auch einige der wichtigsten Punkte der Zeugenaussage, die er bereit war abzulegen, in einer Denkschrift an die Krone zu Papier zu bringen. Dieser Plan birgt gewisse Elemente des Erfolges. Er wird unserem Klienten so gut (wenn nicht gar besser) helfen als irgendeiner. Vielleicht wird Seine Majestät sogar die Gewogenheit haben, allen denen gegenüber, die an einem derartigen Memorial beteiligt sind, das unschwer zum Ausdruck der taktvollsten Untertanentreue gestaltet werden kann, eine gewisse Dankbarkeit zu bezeugen; ja, ich glaube sogar, dieser Gesichtspunkt läßt sich bei der Abfassung ohne weiteres betonen.« Alle nickten einander, wenn auch nicht ohne Seufzer, zu, denn die frühere Alternative entsprach ohne Zweifel weit mehr ihren Neigungen.

»Dann darf ich wohl um einen Bogen Papier bitten, Mr. Stuart,« fuhr Miller fort, »ich glaube, die Denkschrift kann in überaus passender Form von den fünf Anwesenden als von den ›Prokuratoren des Verurteilten‹ unterzeichnet werden.« »Jedenfalls kann sie keinem von uns schaden«, bemerkte Coulston mit einem zweiten Seufzer; er hatte sich in den letzten zehn Minuten bereits als Lord Staatsanwalt gesehen. Darauf machten sie sich, wenn auch ohne Begeisterung, ans Werk, das Memorial aufzusetzen – ein Vorgang, bei dem sie sehr bald Feuer fingen, und ich hatte nichts weiter zu tun, als zuzusehen und gelegentlich eine Frage zu beantworten. Das Schriftstück war sehr gut formuliert; es begann mit einer Aufzählung der Tatsachen über mich selbst, der Belohnung, die auf meine Person ausgeschrieben war, meiner freiwilligen Auslieferung, des Drucks, den man auf mich ausgeübt hatte, meiner Gefangenhaltung und meines verspäteten Eintreffens in Inverary, und fuhr dann fort, die Gründe der Loyalität und des öffentlichen Interesses auseinanderzusetzen, aus denen man von jeder Aktion abgesehen hätte. Den Schluß bildete ein beredter Appell an des Königs Gnade zugunsten von James.

Mir schien, als käme ich dabei ziemlich schlecht weg; als schilderten sie mich eher als einen Heißsporn, der nur mit Mühe durch einen Schwarm Anwälte von radikalen Maßnahmen abgehalten werden könnte. Aber ich ließ das hingehen und schlug nur vor, man möchte angeben, ich sei bereit, vor jeder Untersuchungskommission meine eigenen Aussagen zu machen und mit Hilfe anderer die nötigen Beweise beizubringen, und als einzige Forderung verlangte ich, sofort eine Kopie ausgehändigt zu bekommen.

Coulston hüstelte und räusperte sich. »Es ist ein streng vertrauliches Dokument«, meinte er.

»Und meine Stellung zu Prestongrange ist äußerst eigentümlich«, entgegnete ich. »Ohne Frage habe ich bei unserer ersten Unterredung sein Herz gerührt; seither ist er stets mein Freund gewesen. Ohne ihn, meine Herren, wäre ich jetzt tot oder harrte an der Seite des armen James meines Urteils, aus welchem Grunde ich ihm von dem Vorhandensein dieses Memorials zu erzählen wünsche, sobald es abgeschrieben ist. Ihr müßt außerdem bedenken, daß dieser Schritt zu meinem Schutz beitragen wird. Ich habe Feinde, die gewohnt sind, ohne Rücksicht zu handeln: Seine Gnaden hier in seinem eigenen Lande, ihm zur Seite Lovat, und falls an unserem Vorgehen irgend etwas zweifelhaft erscheint, werde ich höchstwahrscheinlich im Gefängnis aufwachen.« Da sie auf diese Erwägungen keine Antwort wußten, erteilten meine versammelten Ratgeber mir endlich notgedrungen ihre Zustimmung; sie stellten mir die eine Bedingung: ich sollte das Schriftstück Prestongrange mit den ausdrücklichsten Komplimenten aller Beteiligten überreichen. Der Lord Staatsanwalt befand sich bei der Tafel im Schloß, zusammen mit Seiner Gnaden. Durch einen von Coulstons Bedienten sandte ich ihm ein Billet, in dem ich ihn um eine Unterredung bat, und erhielt den Bescheid, ihn sogleich in einem Privathaus in der Stadt zu treffen. Hier fand ich ihn allein in einem Zimmer; seinem Gesicht war nichts zu entnehmen; trotzdem war ich weder so blind, im Vorplatz nicht einige Hellebarden zu bemerken, noch so blöde, daß ich daraus nicht gefolgert hätte, er sei bereit, mich auf der Stelle verhaften zu lassen, falls er es für gut hielt.

»Also da haben wir Euch wieder, Mr. David,« sagte er. »Ja, Mylord, und ich fürchte, ich bin nicht sehr willkommen«, entgegnete ich. »Ehe ich jedoch weiterrede, möchte ich Eurer Lordschaft für Eure wiederholten guten Dienste danken, selbst wenn sie jetzt ein Ende nehmen sollten.« »Ich habe Eure Dankbarkeit bereits früher vernommen,« erwiderte er ein wenig trocken, »ich glaube, das wird kaum der Grund sein, weswegen Ihr mich von meinem Wein abrieft. Auch würde ich an Eurer Stelle bedenken, daß Ihr immer noch auf sehr schwankem Boden steht.« »Im Augenblick, glaube ich, nicht,« meinte ich; »geruhen Euer Lordschaft nur einen einzigen Blick auf dieses Papier zu werfen; ich denke, Ihr werdet dann meiner Meinung sein.« Er las es stirnrunzelnd sorgfältig durch, dann blätterte er zurück und schien einen Teil mit dem anderen zu vergleichen und ihre Wirkung abzuwägen. Sein Gesicht erhellte sich ein wenig. »Es hätte schlimmer sein können,« meinte er, »obwohl es immer noch den Anschein hat, als sollte ich meine Bekanntschaft mit Mr. David Balfour teuer bezahlen.« Noch immer schweiften seine Blicke über das Papier, und seine Stimmung schien sich sichtlich zu heben.

»Wem habe ich dies zu verdanken?« fragte er nach einer Weile. »Man wird ohne Zweifel auch andere Schritte erörtert haben. Wer schlug diese private Methode vor? War es Miller?«

»Mylord, ich war es selbst«, antwortete ich. »Jene Herren haben mir gegenüber keine solche Rücksicht gezeigt, daß ich mir das Lob, auf das ich billigerweise Anspruch habe, versagen oder ihnen einen Teil der Verantwortung, die ihnen von Rechts wegen zufällt, zu ersparen brauche. Die nackte Wahrheit ist: alle waren für einen Prozeß, der aufsehenerregende Folgen im Parlamentshaus haben und für sie selbst einen fetten Bissen abgeben sollte (um einen ihrer eigenen Ausdrücke zu gebrauchen). Vor meiner Intervention waren sie, glaube ich, dabei, unter sich die verschiedenen Ämter der Justizverwaltung zu verteilen. Unser Freund, Mr. Simon, sollte auf Grund irgendeines Vergleichs übernommen werden.«

Prestongrange lächelte. »Das sind nun unsere Freunde«, bemerkte er. »Und was bewog Euch, es abzulehnen, Mr. David?« Ich berichtete ihm ganz offen, schob aber dabei die Bedenken, die Prestongrange selbst betrafen, in den Vordergrund. »Ihr laßt mir dabei nur Gerechtigkeit widerfahren«, sagte er. »Ich habe für Euch so hart gekämpft wie Ihr für mich. Und wie kommt es, daß Ihr heute schon hier seid?« forschte er. »Als der Prozeß sich in die Länge zog, begann ich schon zu befürchten, ich hätte den Spielraum zu knapp bemessen; ich erwartete Euch bereits morgen. Aber gar heute – das habe ich mir nicht träumen lassen.«

Ich dachte natürlich nicht daran, Andie zu verraten.

»Ich vermute, Ihr würdet unterwegs einige recht abgehetzte Pferde finden«, entgegnete ich.

»Hätte ich Euch als einen derartigen Strauchdieb erkannt, ich hätte Euch den Aufenthalt auf Baß gründlich auskosten lassen«, erwiderte er.

»Dabei fällt mir ein; hier ist Euer Lordschaft Brief.«

Und ich reichte ihm den Zettel mit der verstellten Handschrift. »Da war noch ein versiegelter Umschlag.«

»Ich habe ihn nicht mehr. Er trug nur die Adresse und konnte keine Katze kompromittieren. Dagegen befindet sich die zweite Einlage noch in meinem Besitz, und ich möchte sie, mit Eurer Erlaubnis, behalten.« Ich glaube, er war unangenehm berührt, ohne mir jedoch zu widersprechen. »Morgen«, fuhr er fort, »wird unser Geschäft hier beendet sein, und ich reise nach Glasgow weiter. Ich werde mich sehr freuen, wenn Ihr mich begleitet, Mr. David.«

»Mylord –«, hub ich an. »Ich leugne nicht, Ihr würdet mir damit einen Dienst erweisen«, unterbrach er mich. »Ich wünsche sogar, daß Ihr in Edinburgh in meinem Hause absteigt. Ihr habt an den Fräulein Grants sehr warme Freundinnen gefunden, sie werden entzückt sein, Euch bei sich zu haben. Wenn Ihr glaubt, ich wäre Euch nützlich gewesen, könnt Ihr Euch auf diese Art sehr leicht revanchieren und, statt zu verlieren, obendrein einigen Vorteil daraus ziehen. Nicht jeder junge Unbekannte wird durch den Kronanwalt in die Gesellschaft eingeführt.« Häufig genug (trotz unserer kurzen Bekanntschaft) hatte dieser Gentleman erreicht, daß mir der Kopf sich drehte; zweifellos brachte er auch jetzt einige Sekunden lang diese Wirkung zustande. Hier sah ich ihn wieder einmal die alte Fiktion aufrechterhalten, daß ich mich bei seinen Töchtern besonderer Gunst erfreue; dabei war die eine so freundlich gewesen, mich auszulachen, während die anderen beiden kaum die Gnade gehabt hatten, von meiner Existenz Notiz zu nehmen. Und jetzt sollte ich mit Mylord nach Glasgow reiten und in Edinburgh bei ihm wohnen, sollte unter seiner Protektion in die Gesellschaft eingeführt werden! Daß er so gutmütig war, mir zu verzeihen, war an sich schon wunderbar genug; daß er aber meine Bekanntschaft pflegen und mir dienen wollte, schien unfaßbar, und ich begann nach seinen Gründen zu forschen. Das eine war klar: wurde ich sein Gast, dann war jede Umkehr unmöglich; niemals konnte ich meine jetzigen Absichten bereuen und ein Verfahren gegen ihn einleiten. Außerdem – würde nicht mein Aufenthalt in seinem Hause dem Memorial die ganze Stoßkraft rauben? Die Beschwerde konnte nicht allzu ernst genommen werden, wenn die Person, der am meisten unrecht geschehen, der Gast des am stärksten inkriminierten Beamten war. Als ich das bedachte, konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren. »Das soll eine Art Aktion gegen das Memorial sein?« fragte ich. »Ihr seid schlau, Mr. David,« meinte er, »und habt nicht so ganz daneben geraten. Die betreffende Tatsache wird mir meine Verteidigung erleichtern. Vielleicht unterschätzt Ihr aber auch meine freundschaftlichen Gefühle, die wirklich vollkommen echt sind. Ich habe vor Euch Respekt, Mr. David, untermischt mit Angst«, fügte er lächelnd hinzu.

»Ich bin mehr als bereit, ja begierig, Euren Wünschen entgegenzukommen«, sagte ich. »Ich habe die Absicht, selbst Jurist zu werden, und Eurer Lordschaft Protektion dürfte für mich unschätzbar sein; außerdem bin ich Euch selbst und Eurer Familie für die vielen Beweise von Interesse und Nachsicht aufrichtig dankbar. Die Schwierigkeit besteht nur darin: wir ziehen in einer bestimmten Sache an verschiedenen Strängen. Ihr sucht James Stuart zu henken, ich ihn zu retten. Insofern meine Begleitung Eurer Lordschaft Verteidigung erleichtert, stehe ich Eurer Lordschaft ganz zur Verfügung; sofern sie aber hilft, James Stuart zu henken, stehe ich vor einem unüberwindlichen Hindernis.« Ich glaube, er fluchte vor sich hin. »Ihr solltet entschieden Advokat werden; der Gerichtssaal ist der wahre Schauplatz für Eure Talente«, bemerkte er bitter und schwieg dann eine Weile. »Ich will Euch etwas sagen,« fuhr er fort, »es handelt sich nicht länger darum, für oder gegen James Stuart Partei zu ergreifen. James ist ein toter Mann; sein Leben ist gegeben und genommen – gekauft und verkauft (wenn Ihr wollt); kein Memorial kann ihm helfen – keine Abtrünnigkeit des treuen Mr. David ihm mehr schaden. Ob es nun so oder so ausgeht, es gibt kein Pardon für James Stuart: laßt Euch das gesagt sein! Es handelt sich jetzt nur noch um mich selbst: werde ich stehen oder fallen? Und ich leugne nicht, ich befinde mich in einiger Gefahr. Mag jedoch Mr. David Balfour gefälligst bedenken, weshalb! Nicht etwa, weil ich gegen James zu scharf vorgegangen bin; dafür bin ich meines Lohnes sicher. Nicht weil ich Mr. David auf einem Felsen gefangengehalten habe, obgleich man dem Kind natürlich diesen Namen geben wird; sondern weil ich nicht den bequemen, breiten Pfad erwählte und, wie man mir verschiedentlich nahelegte, Mr. David in sein Grab oder zum Galgen sandte. Daher der Skandal – daher dieses verdammte Memorial«, rief er, das Papier gegen sein Bein schlagend. »Meine Rücksicht gegen Euch hat mich in diese schwierige Lage gebracht. Ich möchte nun wissen, ob die Rücksicht auf Euer eigenes Gewissen zu groß ist, um Euch zu erlauben, daß Ihr mir wieder heraushelft?« Ohne Zweifel war an seinen Worten viel Wahres; war James nicht mehr zu helfen – was konnte natürlicher sein, als daß ich dem Manne vor mir, der mir selbst so oft geholfen hatte, und der mir gegenüber im nämlichen Augenblick eine vorbildliche Geduld zeigte, die Hand reichte? Außerdem war ich auf dem besten Wege, mein ewiges Mißtrauen und die daraus entstehende ablehnende Haltung nicht nur satt zu bekommen, nein, auch mich ihrer zu schämen.

»Wenn Ihr mir Zeit und Ort angeben wollt, werde ich pünktlich zur Stelle sein, um Eurer Lordschaft aufzuwarten«, sagte ich. Er schüttelte mir die Hand. »Ich glaube sogar, meine jungen Damen haben gute Nachrichten für Euch«, waren seine Entlassungsworte.

Ich verabschiedete mich, ungemein befriedigt von dem Frieden, den wir geschlossen hatten, aber immer noch mit leise unruhigem Gewissen; und rückblickend fragte ich mich trotz allem immer wieder, ob ich nicht doch ein wenig zu gutmütig gewesen sei. Allein die Tatsache ließ sich nicht leugnen: dieser Mann, der mein Vater hätte sein können, der ein tüchtiger Mann und großer Würdenträger war, hatte in der Stunde meiner Not seine Hand ausgestreckt, um mir zu helfen. Um so besser war ich in der Lage, den Rest des Abends zu genießen, den ich mit den Anwälten zusammen, zwar in unzweifelhaft guter Gesellschaft, aber unter überreichlichem Genuß von Punsch verbrachte; denn obwohl ich früh zu Bett ging, kann ich mich nicht mehr deutlich erinnern, wie ich dorthin gelangte.

Achtzehntes Kapitel


Der Schwungball

Am folgenden Tage hörte ich von ihrem Privatzimmer aus, wo niemand mich sehen konnte, die Richter das Urteil über James Stuart sprechen und verlesen. Ich hin ganz sicher, des Herzogs Worte richtig verstanden zu haben; und da jene berühmte Rede seither vielfach umstritten wurde, dürfte es angebracht sein, meine Version zu fixieren. Nach einer Anspielung auf das Jahr ’45 redete das Oberhaupt der Campbells in seiner Eigenschaft als Lord Oberrichter den unglücklichen Stuart vor ihm mit folgenden Worten an: »Wäret Ihr in jener Rebellion erfolgreich gewesen, Ihr würdet vielleicht Recht sprechen, wo Ihr heute aus den Händen des Rechts das Urteil empfangt; wir, die wir heute Eure Richter sind, wären von einem Eurer Scheingerichte abgeurteilt worden; dann hättet Ihr Euch an dem Blute jenes Mannes oder Clans satt trinken können, gegen den Ihr einen Haß nährtet.«

»Das heißt tatsächlich die Katze aus dem Sack lassen«, dachte ich. Dies war auch der allgemeine Eindruck. Man mußte sich wundern, zu sehen, wie die grünen Anwaltjungen jene Rede aufgriffen und verspotteten; wie kaum eine Mahlzeit vorbeigehen konnte, ohne daß irgend jemand die Worte einschmuggelte: »Dann hättet Ihr Euch satt trinken können.« Zahlreiche Augenblickslieder wurden gedichtet und fast alle wieder vergessen. Ich erinnere mich, das eine begann:

» Von wem wollt Ihr trinken das Blut, ja das Blut?
Ist’s ein Name, sagt, ist es ein Clan?
Oder ist’s gar ein wilder Hochlandsmann,
Von dem Ihr wollt trinken das Blut, ja das Blut

Ein anderes wurde nach meiner alten Lieblingsmelodie »The House of Airlie« gesungen:

» Es begab sich an dem Tag, da Argyle präsidierte,
Daß man ihm einen Stuart zum Abendbrot servierte

Und einer der Verse lautete:

» Und auf stand der Herzog und sprach zu seinem Koch:
Ich eracht es als mein heißestes Bestreben,
Mir zu füllen den Schlauch
Und zu stopfen den Bauch
Mit dem Blute der feindlichen Leben

James wurde so offenkundig ermordet, als hätte der Herzog ihn mit seiner Jagdflinte niedergeknallt. Das alles wußte ich genau, aber andere wußten es nicht. Um so größer war die Empörung über gewisse skandalöse Einzelheiten, die im Verlauf des Prozesses durchsickerten; darunter an erster Stelle dieser Hieb des Vorsitzenden. Mit ihm wetteiferte die ausfallende Bemerkung eines Geschworenen, der ein Plädoyer Coulstons mit den Worten unterbrach: »Ich bitte Euch, Sir, faßt Euch kurz, wir haben die Sache satt.« Das mußte als der Gipfel der Unverfrorenheit und Einfalt erscheinen. Doch einige meiner neuen Freunde unter der Anwaltschaft fühlten sich noch mehr vor den Kopf gestoßen durch einen neuen Brauch, der diesen Prozeß verunglimpfte, wenn nicht gar schändete. Der eine Zeuge wurde niemals aufgerufen. Zwar stand sein Name auf der vierten Seite der Zeugenliste, wo er auch heute noch zu finden ist, als »James Drummond, alias MacGregor, alias James More, weiland Pächter auf Inveronachile«, und sein Vorverhör war, der Sitte gemäß, protokolliert. Er hatte darin Material beigebracht oder erdichtet, (Gott helfe ihm), das, wie ich erkannte, Blei in James‘ Schuhe goß, während es seinen eigenen Schwingen anheftete. Nun war es zwar äußerst wünschenswert, diese Aussagen der Jury zu unterbreiten, jedoch ohne den Zeugen selbst der Gefahr eines Kreuzverhörs auszusetzen; und der Ausweg, den man wählte, bot allen die größte Überraschung. Das Schriftstück wurde (gleich einer Kuriosität) von Hand zu Hand weitergegeben, wanderte zur Geschworenenbank, wo es seine Arbeit verrichtete, und verschwand wieder (wie zufällig), ehe es die Rechtsbeistände des Gefangenen erreichte. Diese Machenschaft wurde als besonders hinterlistig angesehen; und daß mit ihr der Name James More verknüpft war, füllte mich mit Scham für Catriona und mit Sorge um mich selbst. Am folgenden Tage brachen Prestongrange und ich, begleitet von einem ziemlich großen Anhang, nach Glasgow auf, wo wir uns (ganz gegen meinen Willen) teils in Geschäften, teils zum Vergnügen ziemlich lange aufhielten. Ich wohnte zusammen mit Mylord und wurde zu intimem, persönlichem Umgang herangezogen. Ich war zu allen Gesellschaften eingeladen und wurde den wichtigsten Gästen vorgestellt, kurz, wurde hofiert in einem Maße, wie es weder meinen Verdiensten noch meinem Range entsprach, so daß ich oft in Gegenwart von Fremden für Prestongrange errötete. Ich muß gestehen, die Weltanschauung, die ich mir in den letzten Monaten gebildet hatte, drohte mich melancholisch zumachen. Vielen war ich begegnet, die durch Geburt oder Talent den Edelsten der Nation angehörten; und wer von ihnen allen hatte reine Hände gehabt? Was die Browns und Millers anbetraf, so hatte ich sie derart streberisch gefunden, daß ich sie nicht länger zu achten vermochte. Prestongrange war von allen noch der Beste; er hatte mich gerettet oder verschont, wo andere geplant hatten mich kaltblütig zu ermorden. Allein, an seinen Händen klebte das Blut James‘, und ich fand seine Verstellung bezüglich meiner Person unverzeihlich. Daß er an meiner Unterhaltung Freude zu haben vorgab, ging fast über meine Geduld. Ich saß dann da und beobachtete ihn, während in meinem Innern eine Art langsamen Feuers schwelte. »Ach Freundchen, Freundchen,« dachte ich im Stillen, »hättest du dich erst durch diese Memorialaffäre durchgewunden, mit einem Fußtritt flöge ich auf die Straße.« Darin tat ich ihm, wie spätere Ereignisse zeigten, schweres Unrecht; ich glaube vielmehr, er war gleichzeitig weit aufrichtiger und ein viel geschickterer Schauspieler, als ich vermutete. Doch ein Teil meines Mißtrauens wurde durch das Benehmen einer Korona von jungen Anwälten gerechtfertigt, die den Lord Staatsanwalt in der Hoffnung auf Protektion umschwärmten. Die plötzliche Gunst, zu der ein junger Bursche ausrückte, von dem sie früher nie gehört hatten, stürzte sie in Unruhe. Keine zwei Tage waren vergangen, da sah ich mich plötzlich mit Schmeicheleien und Aufmerksamkeiten überschüttet. Ich war inzwischen weder besser noch hübscher geworden, ja, war immer noch derselbe junge Mann, dem sie vor einem Monat die kalte Schulter gezeigt hatten, und jetzt war keine Artigkeit für mich zu gut! Derselbe, sage ich? Durchaus nicht; das bestätigte mir der Spitzname, den sie mir hinter meinem Rücken gaben. Da sie mich in des Lord Staatsanwalts Gunst fest verankert fanden und überzeugt waren, ich würde noch weit und hoch fliegen, wählten sie eine Bezeichnung aus der Golfsprache und nannten mich »den Schwungball«. Sie erklärten mir, jetzt sei ich »einer von ihnen«; ich, der ich ihre rauhe Schale gespürt hatte, sollte jetzt den süßen Kern kosten. Ja, ein junger Mann, dem ich in Hope Park vorgestellt worden war, besaß die Unverfrorenheit, mich an jene Zusammenkunft zu gemahnen. Ich sagte ihm, ich hätte nicht das Vergnügen, mich daran erinnern zu können. »Aber Miß Grant hat mich Euch persönlich vorgestellt«, protestierte er. »Mein Name lautet Soundso.« »Ich will es Euch gern glauben, Sir«, entgegnete ich; »leider habe ich es jedoch vergessen.«

Da ließ er mich in Ruhe, und ich empfand inmitten des Ekels, der mich gemeinhin zu ersticken drohte, so etwas wie Freude. Allein ich habe nicht die Langmut, bei jener Zeit zu verweilen. Befand ich mich in Gesellschaft dieser jungen Diplomaten, so überwältigten mich Scham über mich selbst und mein ungehobeltes Wesen und Verachtung ihrer Doppelzüngigkeit. Von beiden Übeln hielt ich Prestongrange für das geringere, und ob ich auch den jungen Modeherren stets eine stocksteife Front präsentierte, verbarg ich doch so ziemlich meine bitteren Gefühle gegen den Lord Staatsanwalt und war (um mit Mr. Campbell zu reden) dem »Herrn des Hauses gegenüber gefügig«. Prestongrange selbst stellte mich des Unterschiedes wegen zur Rede und forderte mich auf, mich meinem Alter entsprechend zu benehmen und mit meinen jungen Kameraden Freundschaft zu schließen.

Ich sagte ihm, daß ich mich nur schwer jemandem anschlösse. »Ich nehme das Wort zurück«, erwiderte er. »Es gibt auch so etwas wie ›Schön guten Abend und guten Tag‹, Mr. David. Das sind hier die nämlichen jungen Männer, an deren Seite Ihr Eure Tage verbringen und Euch durchs Leben schlagen sollt. Eure Zurückhaltung schmeckt nach Arroganz, und ich fürchte, Ihr werdet auf Eurem Wege Schwierigkeiten begegnen, wenn Ihr nicht ein wenig mehr Schmiegsamkeit annehmt.« »Es ist ein undankbar Geschäft, aus einem Schweinsohr eine seidene Börse schneidern wollen«, lautete meine Antwort. Am Morgen des 1. Oktober wurde ich durch das Pferdegetrappel eines reitenden Boten aus dem Schlafe geschreckt; fast noch ehe er abgesessen hatte, stand ich schon am Fenster und erkannte, daß der Mann scharf geritten war. Später wurde ich zu Prestongrange befohlen, der in Schlafrock und Nachtmütze vor einem Haufen Briefe saß. »Mr. David,« sagte er, »ich habe für Euch Neuigkeiten. Sie betreffen Freunde von Euch, derer Ihr Euch, wie ich manchmal glaube, ein wenig schämt, denn Ihr habt niemals ihre Existenz erwähnt.«

Ich errötete vermutlich. »Ich sehe, Ihr habt mich verstanden; Ihr gebt das richtige Antwortsignal. Übrigens mein Kompliment – Ihr versteht Euch vortrefflich auf Frauenschönheit. Wißt Ihr jedoch, Mr. David, daß wir es anscheinend mit einem höchst unternehmungslustigen jungen Frauenzimmer zu tun haben? Sie kommt uns von allen Seiten in die Quere. Die Regierung von Schottland weiß, wie es scheint, dank der Jungfer Katharina Drummond weder ein noch aus, ganz wie es (vor kurzem erst) mit einem gewissen Mr. David Balfour der Fall war. Würden die beiden nicht ein passendes Paar abgeben? Des Fräuleins erster Eingriff in die Politik – aber ich darf jene Geschichte nicht verraten; die Behörden haben beschlossen, sie Euch durch einen anderen, lebhafteren Berichterstatter wissen zu lassen. Dieser neue Fall ist indes schwerwiegender, und ich fürchte, ich muß Euch durch die Nachricht beunruhigen, daß das Fräulein sich zur Zeit im Gefängnis befindet.«

Ich schrie auf. »Ja,« bestätigte er, »das kleine Fräulein sitzt im Gefängnis. Aber Ihr braucht deswegen nicht zu verzweifeln. Wenn Ihr (samt Euren Freunden und Eurem Memorial) nicht meinen Sturz herbeiführt, wird ihr kein Leid geschehen.« »Was hat sie getan? Welches ist ihr Vergehen?« rief ich.

»Hm – man könnte es fast als Hochverrat bezeichnen,« antwortete er, »sie ist in das Königliche Schloß von Edinburgh eingebrochen.«

»Ich – bin von Herzen – der Dame Freund«, sagte ich. »Ich weiß; Ihr würdet meiner nicht spotten, wäre die Sache ernst.« »Und doch ist sie das in gewissem Sinne,« entgegnete er, »denn diese Schelmin Katharina oder Katrin, wie wir sie ruhig nennen dürfen – hat jene höchst zweifelhafte Persönlichkeit, ihren Herrn Papa, von neuem gegen die Welt losgelassen.«

Also war eine meiner Vermutungen Wahrheit geworden: James More hatte die Freiheit wiedererlangt. Er hatte seine Leute hergegeben, um mich gefangenzuhalten; er hatte in der Appiner Mordsache sein Zeugnis angeboten, und das Zeugnis war (einerlei durch welche Schliche) dazu benutzt worden, die Jury zu beeinflussen. Seine Belohnung war fällig – er wurde freigelassen. Mochten die Behörden der Affäre das Mäntelchen einer Flucht umhängen – ich wußte es besser; ich wußte, das Ganze war nur die Erfüllung eines Paktes. Dieser Gedankengang nahm mir auch den letzten Rest Sorge um Catriona. Mochte man ruhig glauben, sie sei in ihres Vaters Gefängnis eingebrochen; mochte sie es ruhig selbst glauben. Die führende Hand in dieser Sache war die Hand Prestongranges, und ich war überzeugt, er würde es nicht einmal zu einer Gerichtsverhandlung, geschweige denn zu einer Verurteilung kommen lassen, worauf mir sogleich der nicht sehr diplomatische Ruf entschlüpfte:

»A! Das hatte ich erwartet!« »Und doch leidet Ihr mitunter an einem Übermaß von Diskretion!« lautete Prestongranges Antwort.

»Was beliebt Euer Lordschaft damit sagen zu wollen?« »Ich wundere mich nur, daß Ihr, nun Ihr so klug seid, diese Schlüsse zu ziehen, sie nicht auch klugerweise für Euch behaltet. Doch Ihr wünscht vermutlich Näheres über die Angelegenheit zu hören. Ich habe zwei verschiedene Fassungen erhalten: die inoffizielle ist die ausführlichere und zugleich weit unterhaltsamer, da sie der munteren Feder meiner ältesten Tochter entstammt. ›Zur Zeit hat ein recht sauberes Schelmenstückchen die ganze Stadt in Aufruhr versetzt‹, schreibt sie, ›und, was die Sache noch anrüchiger macht, wenn es die guten Leute wüßten – die Spitzbübin ist eine Protegée Seiner Lordschaft, meines Herrn Papas. Ich bin überzeugt, Euer Herz ist (abgesehen von allem andern) allzusehr eins mit Eurer Pflicht, als daß Ihr der »Grauen Augen« vergessen hättet. Was tut nun das Mädchen! Schafft sich einen breitrandigen Hut mit heruntergeschlagenen Ohrenklappen, einen langen, zottigen Männermantel und eine stattliche Krawatte an, schürzt sich die Röcke hoch bis Gott weiß wohin, zieht sich zwei Paar Gamaschen über die Beine und marschiert, ein Paar geflickter Nagelschuhe in der Hand, gen’s Schloß! Dort gibt sie sich aus als einen Schuhmacher in Diensten von James More und wird in seine Zelle gelassen, wobei der Herr Leutnant (der ein recht scherzfroher Mann zu sein scheint) sich mit seinen Kerls über des Schusters Paletot amüsieret. Bald darauf hört man drinnen Streit, zudem Lärm von Hieben. Heraus fliegt der Schuster mit flatternden Rockschößen, die Ohrenklappen fest ums Gesicht gezogen, und Leutnant und Soldaten lachen hinter ihm drein. Sie lachten nicht ganz so herzhaft, als sie das nächstemal die Zelle inspizierten und niemanden dort fanden als ein großes, hübsches, grauäugiges Mädchen in Frauenzimmerkleidern! Was nun den Schuster anbetrifft, so ist er längst über alle Berge, und es heißt, unser armes Schottland müsse sich ohne ihn trösten. Ich habe in jener Nacht öffentlich auf Catrionas Wohl getrunken. Wahrhaftig, die ganze Stadt bewundert sie; ich glaube, die Herren Galans würden Stücke ihres Strumpfbandes im Knopfloch tragen, könnten sie nur etliche bekommen. Ich hätte sie auch im Gefängnis besucht, wäre mir nicht rechtzeitig eingefallen, daß ich Papas Tochter bin. So schrieb ich ihr statt dessen ein Billett, das ich dem treuen Doig anvertraute, und ich hoffe, Ihr werdet zugeben, daß ich, wenn nötig, diplomatisch sein kann. Derselbe treue Esel soll auch dieses Schreiben zusammen mit Briefen der klugen und gescheiten Leute per Eilpost weiter befördern, so daß Ihr Hans Narr in Gesellschaft Salomos reden hören könnt. A propos Esel! Benachrichtigt bitte auch David Balfour! Ich wollte, ich sähe sein Gesicht, wenn er von der verzwickten Lage eines langbeinigen Mädchens hört, geschweige denn von der frivolen Dreistigkeit Eurer zärtlichen Tochter und seiner respektvollen Freundin!‹ So unterschreibt sich meine Schelmin«, fügte Prestongrange hinzu. »Ihr seht also selbst, Mr. David, ich habe vollkommen recht, wenn ich behaupte, daß meine Tochter Euch mit wohlgeneigter Munterkeit betrachtet.« »Der Esel läßt sich vielmals bedanken«, sagte ich.

»War die Sache nicht scharmant arrangiert?« fuhr er fort. »Hat dieses Hochlandsmädchen nicht etwas von einer Heldin?« »Ich wußte von jeher, sie hatte ein großes Herz,« sagte ich, »und ich wette, sie hat nichts erraten. Pardon – das heißt, sich auf verbotenes Gebiet wagen.« »Ich bürge dafür, daß sie nichts ahnt«, erwiderte er ganz offen. »Ich wette, sie glaubte, damit König George einen Schlag ins Gesicht zu versetzen.«

Erinnerungen an Catriona und der Gedanke an ihr Gefangensein griffen mir seltsam ans Herz. Es war klar, selbst Prestongrange bewunderte sie, ja konnte sich in Erinnerung an ihr Verhalten eines Lächelns nicht erwehren. Was nun gar Miß Grant betraf, so machte sie trotz ihrer peinlichen Spottlust kein Hehl aus ihrer ausdrücklichen Bewunderung. Da packte mich eine Art Feuer. »Ich bin nicht Eurer Lordschaft Tochter«, hub ich an.

»Das weiß ich!« unterbrach er mich lächelnd.

»Ich rede wie ein Narr – vielmehr habe ich falsch angefangen. Ohne Zweifel wäre es von Miß Grant unklug, sie im Gefängnis zu besuchen; dagegen gälte ich, meiner Meinung nach, nur als ein lauer Freund, wenn ich nicht sofort zu ihr eilte.«

»O, Mr. David, ich dachte, Ihr und ich hätten einen Handel abgeschlossen?« »Mylord, als ich auf jenen Handel einging, war ich zwar recht sehr gerührt von Eurer Güte, gleichzeitig jedoch unleugbar von persönlichen Interessen bewogen. Selbstsucht lebte in meinem Herzen; jetzt schäme ich mich ihrer. Möglich, daß die Behauptung, dieser lästige David Balfour sei Eurer Lordschaft Freund und Hausgenosse, sich mit Eurer Sicherheit reimt. Haltet sie also aufrecht, ich werde Euch niemals widersprechen. Doch was Eure Gunst betrifft, so gebe ich sie hiermit ungeteilt zurück. Ich bitte nur um das eine – laßt mich gehen und gebt mir einen Paß, daß ich sie im Gefängnis besuchen darf.«

Er warf mir einen harten Blick zu. »Ihr zäumt, wie es scheint, das Pferd beim Schwanze auf. Was ich Euch gewährte, war ein Teil meiner Zuneigung, und Eure undankbare Natur scheint das nicht bemerkt zu haben. Meine Gunst jedoch ist Euch weder gewährt noch (um präzis zu sein) Euch angeboten worden – vorläufig.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich warne Euch, Ihr kennt Euch selbst nicht«, fügte er hinzu. »Die Jugend ist vorschnell, Ihr werdet in einem Jahr über das alles anders denken.«

»Ich möchte aber zu dieser Art Jugend gehören!« rief ich. »Ich habe gar zuviel von der anderen Partei in Gestalt der jungen Advokaten gesehen, die Eure Lordschaft mit Schmeichelei umgeben und sich sogar die Mühe machen, mir zu schmeicheln. Ja, ich habe das Gleiche auch bei den Alten entdeckt. Sie jagen alle bestimmten Zwecken nach – alle, die ganze Sippschaft! Das ist der Grund, weswegen ich Eurer Lordschaft Zuneigung anzweifle. Weshalb sollte ich annehmen, daß Ihr mich mögt? Ihr sagtet mir im Gegenteil selbst, Ihr verfolgtet dabei einen Zweck!« Ich hielt inne, verwirrt, daß ich mich so weit hatte hinreißen lassen; er betrachtete mich derweil mit unergründlichem Ausdruck. »Mylord, ich bitte Euch um Verzeihung. In meinem Maul steckt nur eine grobe Bauernzunge. Ich meine, es wäre nicht mehr als anständig, wenn ich die mir befreundete Dame in der Gefangenschaft besuchte; aber ich verdanke Euch mein Leben – das werde ich Euch nie vergessen. Und wenn es Eurer Lordschaft Wohl befiehlt – so bleibe ich. Das verlangt die bloße Dankbarkeit.« »Dieses Resultat hätte sich mit geringerem Wortaufwand erreichen lassen«, bemerkte Prestongrange grimmig. »Es ist leicht und mitunter auch edelmütig, mit einem schlichten, schottischen ›Ja‹ zu antworten.« »Ah, Mylord, ich glaube, Ihr habt mich nicht ganz verstanden!« rief ich. »Um Euretwillen, um des Lebens willen, das ich Euch schulde, und um des Wohlwollens willen, das Ihr mir, wie Ihr sagt, entgegenbringt – gebe ich meine Zustimmung; nicht etwa, weil Gutes daraus für mich entstehen könnte. Wenn ich beiseite trete, während dieses junge Mädchen in Not ist, wird es durchaus nicht mein Vorteil sein; ich werde im Gegenteil daran verlieren, niemals gewinnen. Lieber scheiterte ich mit Mann und Maus, als auf solcher Grundlage weiterbauen.«

Einen Augenblick blickte er ernst drein, dann lächelte er. »Ihr erinnert mich an den Mann mit der langen Nase«, sagte er. »Wenn Ihr durchs Fernrohr den Mond betrachtetet, würdet Ihr auch nur David Balfour sehen! Aber Ihr sollt Euren Willen haben. Ich will nur noch einen einzigen Dienst von Euch erbitten, dann seid Ihr frei. Meine Schreiber sind übermäßig beschäftigt; seid so gut, mir diese wenigen Seiten zu kopieren«, und er kramte ostentativ zwischen mächtigen Manuskriptrollen … »Ist das geschehen, dann wünsche ich Euch gute Reise! Gott verhüte, daß ich mich mit Mr. Davids Gewissen belaste! Wenn Ihr jedoch ein Teil davon (so en passant) wegwürfet – Ihr würdet sehen, Ihr säßet weit leichter zu Pferde.« »Der Ritt ginge vielleicht nicht ganz in der gleichen Richtung weiter, Mylord!« »Ihr sollt wahrhaftig das letzte Wort haben!« rief er wohlgelaunt. Er hatte auch in der Tat einigen Grund zu dieser Laune, da er inzwischen das Mittel zur Erreichung seines Zieles entdeckt hatte. Um das Gewicht des Memorials zu verringern und eine plausible Antwort bei der Hand zu haben, wünschte er, daß ich öffentlich in der Rolle seines vertrauten Freundes aufträte. Wenn ich jedoch mit der gleichen Öffentlichkeit Catriona im Gefängnis besuchte, würde die Welt nicht säumen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, und die wahre Bewandtnis von James Mores Flucht mußte allen klar werden. Das war das kleine Problem, das ich ihm unversehens zu lösen gegeben und auf das er so rasch die Antwort gefunden hatte. Ich sollte in Glasgow durch die Kopierarbeit festgehalten werden, die ich aus reinem äußeren Anstand nicht ausschlagen konnte; während ich so beschäftigt war, konnte er sich im Stillen Catrionas entledigen. Ich schäme mich, so etwas von diesem Manne zu schreiben, der mich derart mit Wohltaten überhäufte. Er war gütig zu mir wie der gütigste Vater; dennoch dünkte er mir stets so falsch wie eine gesprungene Glocke.

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Widmung

Catriona

Eine Fortsetzung zu »David Balfour v. Shaw«,

enthält: Die Memoiren und weiteren Abenteuer Davids sowohl in der Heimat wie in fremden Ländern und berichtet über die zahlreichen Mißgeschicke, die ihn anläßlich des Appiner Mordes trafen; seine Nöte mit dem Lord Staatsanwalt; seine Gefangenschaft auf der Felseninsel Baß; seine Reise nach Holland und Frankreich sowie seine höchstseltsamen Beziehungen zu James More Drummond oder MacGregor, Sohn des berüchtigten Rob Roy, und dessen Tochter Catriona, von ihm selbst erzählt und herausgegeben

von

Robert Louis Stevenson

Mein lieber Charles Baxter,

Es ist das Los aller Fortsetzungen, daß sie denen, die ihrer harrten, eine Enttäuschung bringen; und mein David muß sich darauf gefaßt machen, nachdem er länger als ein Lustrum vor den Toren der British Linen Company die Daumen gedreht hat, sich bei seinem verspäteten Wiederauftreten in der Welt mit Pfiffen, wenn nicht gar Schlimmerem, begrüßt zu sehen. Und doch bin ich nicht ganz ohne Hoffnung, gedenke ich der Tage unserer gemeinsamen Streifzüge. Irgendwo in unserer Heimatstadt dürfte es noch Nachkommen der paar Auserwählten geben; irgendein langbeiniger, heißblütiger Jüngling wird jetzt die Träume träumen und die Wanderungen unternehmen, die wir vor so vielen Jahren geträumt und zurückgelegt; sein wird die Freude sein, die sonst unser gewesen wäre, zwischen Straßenschildern und numerierten Häusern David Balfour auf seinen ländlichen Spaziergängen nachzugehen; er wird Dean und Silvermills und Broughton und Hope Park und das gute, alte Lochend – falls es noch steht – und Figgate Whins – wenn noch was von ihm übriggeblieben ist – aufspüren; vielleicht wird er gar (bei längerer Ferienzeit) über Land bis Gillane und der Insel Baß vordringen. So kann es geschehen, daß seine Augen geöffnet werden und er die Kette der Generationen überschaut und staunend das schwerwiegende und doch so eitle Geschenk des Lebens, das ihm zuteil geworden, wägen lernt.

Du weilst immer noch – wie zur Zeit, da ich Dich zuerst sah, da ich zuletzt das Wort an Dich richtete – in jener ehrwürdigen Stadt, die ich stets als meine Heimat betrachten werde. Und ich bin weit umhergezogen, und die Stätten und Gedanken meiner Jugend folgen mir nach; und traumbildgleich sehe ich die Jugend meines Vaters und die seines Vaters und den ganzen Strom des Lebens, der dort im fernen Norden fließt samt seinem Gelächter und seinen Tränen, den Strom, der mich an seiner Mündung, einem sprudelnden Rinnsal gleich, an diese entlegensten Inseln ausspie. Und ich neige bewundernd mein Haupt vor der Romantik des Geschicks.

R. L. S.
Vailima,
Upolu,
Samoa, 1892.

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Zusammenfassender Bericht über die früheren Abenteuer des Helden, wie sie in der Erzählung »David Balfour von Shaw« dargestellt sind

Die Brüder Alexander und Ebenezer Balfour aus dem Hause Shaw bei Crammond in dem Walde von Ettrick lieben die gleiche Dame und kommen miteinander überein, da sie den älteren Bruder, Alexander, vorzieht, daß Ebenezer als Entgelt für seine Enttäuschung das Gut Shaw erhalten soll. Alexander und seine Gattin ziehen nach Essendean, wo sie in der Abgeschiedenheit leben, Alexander in der Eigenschaft eines Dorfschulmeisters. Dort wird ihnen ein Sohn geboren, David Balfour, der Held dieser Erzählung. David, der in Unkenntnis der Familiengeschichte und seiner Ansprüche auf das Gut erzogen wird, verliert noch vor seinem achzehnten Lebensjahre beide Eltern und empfängt als einziges Erbe einen an seinen Oheim gerichteten, versiegelten Brief, der ihm von dem Pfarrer in Essendean, Mr. Campbell, ausgehändigt wird. Als David ihn abliefern will, entdeckt er, daß sein Oheim als kinderloser Geizhals zu Shaw haust; er wird von ihm unfreundlich aufgenommen und nach einem vergeblichen Anschlag auf sein Leben an Bord der nach den Karolinen bestimmten Brigg »Covenant«, Kapitän Hoseason, gelockt, um zur Zwangsarbeit auf die Plantagen verkauft zu werden. Allein, als die »Covenant« zu Beginn ihrer Reise die Meerenge von Minch durchfährt, überrennt sie ein offenes Boot und bringt es zum Kentern. Aus diesem Boot rettet sich und kommt an Bord ein hochländischer Gentleman, Alan Breck Stuart, der seit dem Jahre ’45 in der Verbannung lebt und jetzt unterwegs ist, um von seinen Clansleuten, den Appin-Stuarts, den Pachtzins für ihren Häuptling Ardshiel in dessen Exil nach Frankreich hinüberzuschmuggeln. Als Hoseason und seine Besatzung von dem Golde hören, das Alan mit sich trägt, verschwören sie sich, ihn auszurauben und zu ermorden; aber David, der in das Komplott eingeweiht wird, warnt Alan und verspricht, ihm beizustehen.

In der Enge der Kajüte gelingt es den beiden während des nun folgenden Handgemenges dank Alans Fechtkunst, ihrer Angreifer Herr zu werden, wobei sie über die Hälfte töten und verwunden. Dadurch sieht sich Kapitän Hoseason außerstande, seine Fahrt fortzusetzen, und einigt sich mit Alan dahin, ihn nach einem Teil der Küste zu bringen, von wo aus er sich am leichtesten nach seiner Heimat, der Landschaft Appin, durchschlagen kann. Aber bei diesem Versuche läuft die »Covenant« auf Grund und versinkt vor der Insel Mull. Die Schiffsinsassen retten sich, so gut sie können, und David wird von ihnen getrennt. Zuerst wird er auf die Insel Earraid verschlagen und zieht von dort aus quer durch Mull. Alan ist schon früher des gleichen Weges gezogen und hat David die Nachricht hinterlassen, daß er ihm folgen und in seiner Heimat, im Hause seines Verwandten James Stuart von der Schlucht, wieder zu ihm stoßen soll. David findet sich zu diesem Rendezvous am nämlichen Tage in Appin ein wie der Sachwalter des Königs, Colin Roy Campbell von Glenure, der mit einem Trupp Rotröcke dahergeritten kommt, um die Pächter von den beschlagnahmten Gütern Ardshiels zu vertreiben, und ist zugegen, als Glenure durch einen Schuß aus dem benachbarten Walde am Wegrande ermordet wird. Da gerade in dem Augenblick, als sich David an die Verfolgung des unbekannten Mörders macht, der Verdacht laut wird, daß er Mitschuldiger ist, entschließt er sich zur Flucht und stößt bald dabei auf Alan Breck, der ganz in der Nähe im Versteck liegt, obgleich er nicht den Schuß abgefeuert hat. Die beiden führen jetzt auf dem Moor das Leben von Flüchtlingen. Die Entrüstung über den Mord ist ungeheuer, und die Schuld wird öffentlich auf James Stuart von der Schlucht, den bereits geächteten Alan Breck und auf einen unbekannten jungen Burschen, der kein anderer als David Balfour ist, gewälzt. Für ihre Ergreifung wird ein Blutgeld ausgelobt und das Land von der Soldateska durchstöbert. Im Verlauf ihrer Irrfahrten besuchen David und Alan James Stuart in Aucharn, liegen verborgen in Cluny MacPhersons Käfig und sind gezwungen, im Hause von Duncan Dhu Maclaren in Balwhidder Obdach zu suchen, da David krank wird. Alan ficht einen Wettkampf auf dem Dudelsack mit Robin Oig, dem Sohne von Rob Roy, aus. Endlich, nach zahlreichen Gefahren und Leiden, gelangen sie bis zur Hochlandsgrenze und an den Forth. Aus Furcht vor Verhaftung wagen sie es aber nicht, den Forth zu überschreiten, bis es ihnen gelingt, eine Wirtstocher aus Limekilnes, Alison Hastie, zu bewegen, sie im Schutze der Nacht nach der Lothianküste überzusetzen. Alan verbirgt sich hier wieder, während David Mister Hope Rankeillor aufsucht, den Anwalt und früheren Verwalter der Shawschen Güter. Dieser nimmt sich sofort seiner Sache an und verwirklicht einen Plan, durch den mit Alans Hilfe Ebenezer Balfour gezwungen wird, seinen Neffen als berechtigten Erben der Güter anzuerkennen und ihm bis zu seinem, Ebenezers, Tode einen angemessenen Teil seines Einkommens zu überlassen.

Nachdem David Balfour auf diese Weise in seine Rechte eingesetzt ist, beschließt er, die Universität Leyden zu besuchen, um seine Erziehung zu vervollständigen. Erst jedoch muß er den Forderungen der Freundschaft und des Gewissens gerecht werden, indem er Alan hilft, aus Schottland zu fliehen und für die Unschuld James Stuarts von der Schlucht als Zeuge auftritt, der jetzt als Gefangener seiner Aburteilung wegen des Appiner Mordes entgegenbangt.