4. Kapitel Ich falle in Ungnade


4. Kapitel Ich falle in Ungnade

Wäre das Zimmer, wo damals mein Bett stand, ein fühlendes Wesen, möchte ich es heute – wer wohl jetzt darin schlafen mag – zum Zeugen anrufen, wie schwer mir das Herz war, als ich eintrat.

Wie ich die Treppe hinaufging, hörte ich den Hund hinter mir dreinbellen; und drinnen sah ich die Stube mit ebenso fremden Augen an wie sie mich. Ich setzte mich hin, die kleinen Hände gefaltet, und dachte nach.

Ich dachte an die seltsamsten Dinge, an die Form des Zimmers, an die Sprünge in der Decke, an die Tapeten an den Wänden, an die Rippen und Flecken im Fensterglas, hinter denen sich die Gegenstände draußen verzerrten und verschoben, an den Waschtisch, der auf drei Beinen wackelte, etwas Unzufriedenes hatte und mich an Mrs. Gummidge erinnerte.

Ich weinte die ganze Zeit über, dachte aber keinen Augenblick darüber nach, warum ich weinte. Ich empfand nur das Gefühl der Kälte und Niedergeschlagenheit. In meiner Einsamkeit fing ich an, mir auszumalen, wie schrecklich verliebt ich in die kleine Emly sei, und daß man mich von ihr gerissen habe, während sich hier niemand um mich kümmerte. Das machte mich derart unglücklich, daß ich mich in einen Zipfel der Bettdecke wickelte und mich in Schlaf weinte.

Hörte dann jemand sagen, »hier ist er«, und wachte auf mit glühheißem Kopf. Meine Mutter und Peggotty hatten mich aufgesucht, und eine von beiden mußte die Worte gesprochen haben.

»Davy«, sagte meine Mutter, »was fehlt dir?«

Ich fühlte es als etwas sehr Sonderbares, daß sie mich noch fragen konnte, und antwortete: »Nichts.« Ich legte mich aufs Gesicht, damit sie meine zitternden Lippen nicht sähe, die ihr besser Auskunft gegeben hätten.

»Davy«, sagte meine Mutter. »Davy, mein Kind!«

Keine Worte hätten mich mehr rühren können, als daß sie mich ihr Kind nannte. Ich verbarg meine Tränen in den Kissen und drängte meine Mutter weg, als sie meinen Kopf aufheben wollte.

»Das ist dein Werk, Peggotty, du grausames Ding!« schrie meine Mutter. »Ich zweifle gar nicht daran. Wie kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, meinen eignen Jungen gegen mich oder irgend jemand, den ich lieb habe, aufzuhetzen? Was soll das heißen, Peggotty?«

Die arme Peggotty erhob Hände und Augen zum Himmel und antwortete nur mit einer Art Paraphrase des Tischgebets, das ich nach dem Essen herzusagen pflegte: »Gott vergebe Ihnen, Mrs. Copperfield, was Sie in dieser Minute gesagt haben. Mögen Sie es niemals ernstlich bereuen!«

»Es ist zum Verrücktwerden!« rief meine Mutter, »noch dazu in meinen Flitterwochen, wo man denken sollte, mein erbittertster Feind müßte Erbarmen haben und mir nicht das bißchen Ruhe und Glück neiden. Davy, du nichtsnutziger Junge! Peggotty, du wildes Geschöpf! Ach Gott, ach Gott!« rief sie in ihrer kindischen Art. »Wie ist die Welt doch widerwärtig, grade wenn man so viel Angenehmes von ihr erwartet!«

Ich fühlte die Berührung einer Hand, der ich sogleich anmerkte, daß sie weder meiner Mutter noch Peggotty gehörte, und sprang rasch aus dem Bett. Es war Mr. Murdstones Hand, der meinen Arm faßte. Ich hörte, wie er sagte:

»Was ist das, liebe Klara, hast du vergessen? Festigkeit! meine Liebe!«

»Es tut mir recht leid, Edward«, sagte meine Mutter. »Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber mir ist so unbehaglich.«

»Wirklich!« antwortete er. »So bald schon. Das ist ja recht schlimm, Klara.«

»Es ist recht bitter, daß es mich jetzt so treffen muß«, sagte meine Mutter schmollend. »Sehr, sehr bitter, nicht wahr!«

Er zog sie an sich, flüsterte ihr etwas ins Ohr und küßte sie. Als ich sah, wie meine Mutter ihren Kopf an seine Schulter lehnte und ihren Arm um seinen Nacken schlang, da begriff ich damals so gut wie jetzt, daß er ihrem weichen Charakter jede beliebige Gestalt geben konnte:

»Geh hinunter, meine Liebe«, sagte er. »David und ich wollen auch hinunterkommen.«

»Meine Gute«, fuhr er mit einem finstern Gesicht zu Peggotty fort, als er meine Mutter an die Tür begleitet und mit einem Nicken und einem Lächeln verabschiedet hatte. »Sie kennen doch den Namen Ihrer Herrin!«

»Sie war lange genug meine Herrin, Sir«, antwortete Peggotty, »als daß ich ihn nicht kennen sollte.«

»Das ist richtig«, antwortete er, »aber mir schien es, wie ich die Treppe heraufkam, als ob Sie sie mit einem Namen anredeten, der nicht der ihrige ist. Sie wissen doch, daß sie meinen angenommen hat. Vergessen Sie das nicht.«

Mit einigen besorgten Blicken auf mich knixte Peggotty sich aus dem Zimmer heraus, ohne zu antworten. Sie begriff, daß sie gehen sollte, und fand keinen Vorwand, um dazubleiben. Als wir beide allein waren, machte er die Türe zu, setzte sich auf einen Stuhl, stellte mich vor sich hin, während er mich immer noch am Arm festhielt, und sah mir unverwandt in die Augen. Ich fühlte meinen Blick fest an ihn gebannt. Wenn ich mir vorstelle, wie wir uns damals Auge in Auge gegenüberstanden, kommt es mir vor, als hörte ich wieder mein Herz schneller und lauter schlagen.

»David«, sagte er und preßte seine Lippen ganz dünn zusammen, »wenn ich einen eigensinnigen Gaul oder Hund vor mir habe, was glaubst du wohl, tue ich dann mit ihm?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich prügle ihn!«

Ich hatte ihm mit einem atemlosen Geflüster geantwortet, aber in meinem Schweigen fühlte ich, daß mein Atem noch kürzer wurde.

»Ich haue ihn, daß er sich windet vor Schmerz. Ich sage mir, ich will den Burschen bezwingen, und wenns ihm alles Blut im Leibe kosten sollte. Was hast du im Gesicht?«

»Schmutz«, sagte ich.

Er wußte so gut wie ich, daß es Tränenspuren waren. Aber wenn er mich zwanzigmal gefragt hätte, jedesmal mit zwanzig Hieben, so glaube ich doch, mein Kinderherz wäre eher gebrochen, ehe ich ihm das eingestanden hätte.

»Du bist recht gescheit für dein Alter«, sagte er mit dem ernsten Lächeln, das ihm eigen war. »Und ich sehe, du hast mich ganz gut verstanden. Wasche dir das Gesicht und komme mit mir herunter.«

Er deutete auf den Waschtisch, der mir wie Mrs. Gummidge vorkam, und machte eine Bewegung mit dem Kopf, ich solle sofort gehorchen. Ich zweifelte damals nicht und jetzt noch viel weniger, daß er mich ohne das geringste Erbarmen zu Boden geschlagen haben würde, wenn ich gezögert hätte.

»Meine liebe Klara«, sagte er, als er mit mir in das Wohnzimmer trat, immer noch meinen Arm festhaltend, »ich hoffe, du wirst jetzt keinen Verdruß mehr haben. Wir werden unsre jugendlichen Launen schon ablegen und uns bessern.«

Gott helfe mir, ich hätte für mein ganzes Leben gebessert werden können, ich wäre ein ganz andrer Mensch geworden durch ein einziges freundliches Wort damals. Ein Wort der Ermutigung und Erklärung und des Mitgefühls für meine kindliche Unwissenheit, des Willkomms in der Heimat, eine Versicherung, daß das alte mütterliche Haus noch ganz dasselbe sei, hätten mich zu einem gehorsamen Sohn gemacht, anstatt daß ich jetzt Gehorsam heuchelte, – hätten mich ihn achten gelehrt anstatt hassen. Mir kam es so vor, als ob es meiner Mutter leid täte, mich so scheu und fremd im Zimmer stehen zu sehen. Und daß sie mir mit sorgenvollen Blicken folgte, als ich nach meinem Stuhle schlich. Das Wort aber wurde nicht gesprochen, und die Zeit dazu war vorüber.

Wir speisten alle drei allein am Tisch. Er schien meine Mutter sehr gern zu haben, – ich fürchte fast, er war mir deshalb nicht weniger zuwider, – und sie war sehr zärtlich zu ihm. Aus seinen Reden merkte ich, daß eine ältere Schwester von ihm ankommen sollte und bei uns bleiben. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon damals oder erst später erfuhr, daß er einen Geschäftsanteil an einer Weinhandlung in London besaß, – schon von Großvaters Zeiten her, – an der seine Schwester in gleicher Weise beteiligt war; jedenfalls kann ich es gleich hier bemerken.

Nach dem Essen, als wir vor dem Feuer saßen und ich darüber nachsann, wie ich zu Peggotty flüchten könnte, dabei aber nicht den Mut hatte, zu entschlüpfen, fuhr ein Wagen an der Gartentür vor, und er ging hinaus, um den Besuch zu empfangen.

Meine Mutter folgte ihm. Ich ging schüchtern hinter ihr drein, da drehte sie sich in der Stubentür um, drückte mich im Dunkeln ans Herz, wie früher, und flüsterte mir zu, ich solle meinen neuen Vater lieben und ihm gehorsam sein.

Sie tat das so hastig und geheimnisvoll, als ob es ein Unrecht wäre, aber mit großer Zärtlichkeit. Dann zog sie mich hinter sich her in den Garten, wo er stand. Dort ließ sie mich wieder los und legte ihren Arm in den seinen.

Miss Murdstone war angekommen, eine finster aussehende Dame, schwarz wie ihr Bruder, dem sie in Gesicht und Stimme sehr glich. Sie hatte starke, buschige Augenbrauen, die über ihrer großen Nase fast zusammenstießen, als wollten sie den Backenbart ersetzen, den ihr Geschlecht ihr versagt hatte.

Sie brachte ein paar unnachgiebige, schwarze Koffer mit, auf deren Deckeln mit harten Messingnägeln ihr Monogramm stand. Um den Kutscher zu bezahlen, holte sie ihr Geld aus einer harten, stählernen Börse. Sie trug die Börse in einem wahren Kerker von Strickbeutel, der ihr an einer schweren Kette am Arm hing und wie ein Gebiß schloß. Ich hatte bis dahin noch nie eine so durch und durch metallische Dame gesehen wie Miss Murdstone.

Sie wurde mit vielen Zeichen des Willkommens in die Stube geführt, und dort erkannte meine Mutter sie in aller Form als neue nahe Verwandte an.

Dann blickte mich Miss Murdstone an und sagte:

»Ist das dein Junge, Schwägerin?«

Meine Mutter bejahte.

»Im allgemeinen«, sagte Miss Murdstone, »kann ich Jungen nicht leiden. Wie gehts dir, Junge?«

Unter diesen ermutigenden Umständen antwortete ich, daß es mir gut ginge und ich dasselbe von ihr hoffte, aber mit so wenig Wärme, daß Miss Murdstone mich mit den zwei Worten abfertigte:

»Keine Manieren.«

Nachdem sie dies mit großer Bestimmtheit ausgesprochen, wünschte sie auf ihr Zimmer geführt zu werden, das von der Zeit an für mich zu einem Ort des Grauens und der Furcht wurde, weil die beiden schwarzen Koffer stets verschlossen dort standen und eine Menge kleiner Stahlfesseln und Kettchen, mit denen sich Miss Murdstone zu verschönern pflegte, in furchtgebietenden Reihen über dem Spiegel hingen.

Soviel ich herausbekommen konnte, war sie in der Absicht gekommen, Gutes zu stiften, und sie trug sich nicht mit dem Gedanken, jemals wieder wegzugehen. Schon am nächsten Morgen fing sie an, meiner Mutter zu »helfen«, und ging den ganzen Tag in der Vorratskammer aus und ein, um alles zurechtzusetzen und die alte Ordnung umzustürzen.

Ihre hervorstechendste Eigenschaft schien mir die zu sein, daß sie beständig argwöhnte, die Dienstmädchen hielten irgendwo im Hause einen Mann verborgen. Von diesem Wahn besessen, tauchte sie zu den ungewöhnlichsten Zeiten in den Kohlenkeller und öffnete fast nie die Tür dunkler Schränke, ohne sie zugleich wieder zuzuschlagen, im Glauben, daß sie »ihn« erwischt hätte.

Obgleich durchaus nichts Lustiges sonst an Miss Murdstone war, glich sie doch in puncto Frühaufstehen einer Lerche. Sie war auf den Beinen, wie ich heute noch glaube, um nach dem Mann zu suchen, ehe sich noch irgend etwas im Hause regte. Peggotty huldigte der Ansicht, daß sie stets nur mit einem Auge schliefe. Ich konnte mich diesem Glauben nicht anschließen, seit ich selbst versucht und herausgefunden hatte, daß so etwas nicht möglich ist.

Schon am ersten Morgen nach ihrer Ankunft stand sie früh auf und klingelte beim ersten Hahnenschrei. Als meine Mutter zum Frühstück herunterkam, gab ihr Miss Murdstone eine Art Schnabelhieb auf die Wange – das war bei ihr die kußähnliche Bewegung – und sagte: »Nun, liebe Klara, du weißt, ich bin hergekommen, um dir alles abzunehmen. Du bist viel zu hübsch und gedankenlos«, – meine Mutter errötete, lachte aber und schien diese Charakterisierung nicht übel zu nehmen – »als daß dir Pflichten auferlegt werden dürfen, die ich erfüllen kann. Wenn du so gut sein willst, mir die Schlüssel zu übergeben, meine Liebe, so will ich alles das in Zukunft selber besorgen.«

Von dieser Zeit an behielt Miss Murdstone die Schlüssel den Tag über in ihrem Beutel und die Nacht über unter ihrem Kopfkissen; meine Mutter hatte nicht mehr damit zu tun als ich selbst.

Meine Mutter ließ sich ihre Herrschaft nicht rauben, ohne vorher einen leisen Versuch von Widerstand zu machen. Eines Abends, als Miss Murdstone ihrem Bruder gewisse Haushaltungspläne entwickelt hatte und er seine Zustimmung gab, fing meine Mutter plötzlich an zu weinen und sagte, man hätte sie doch wohl auch zu Rate ziehen können.

»Klara«, sagte Mr. Murdstone streng, »Klara, ich bin erstaunt über dich!«

»Du hast gut von erstaunt sein sprechen, Edward«, rief meine Mutter, »und von Festigkeit, aber das würdest du dir auch nicht gefallen lassen.«

Festigkeit, muß ich bemerken, war die große Eigenschaft, auf der beide, Mr. und Miss Murdstone, fußten. Ich weiß nicht, welchen Namen ich damals dafür gewählt hätte, aber ich begriff genau, daß es nur eine andre Bezeichnung für Tyrannei war und für eine gewisse finstere, anmaßende, teuflische Laune, die in den beiden steckte. Das Glaubensbekenntnis, würde ich jetzt mich ausdrücken, Mr. Murdstones lautete: Ich bin fest, niemand soll in der Welt so fest sein wie ich, niemand überhaupt fest, und alles soll sich vor meiner Festigkeit beugen. Miss Murdstone war die eine Ausnahme. Sie durfte fest sein, aber nur aus verwandtschaftlichen Rücksichten und in einem untergeordneten und tributpflichtigen Grad. Meine Mutter war die zweite Ausnahme. Sie konnte und durfte fest sein und mußte es, aber nur im Ertragen der Festigkeit der beiden andern.

»Es ist sehr hart«, sagte meine Mutter, »daß ich in meinem eignen Haus –«

»In meinem eignen Hause?!« wiederholte Mr. Murdstone. »Klara!«

»Unserm eignen Hause, meine ich«, stotterte meine Mutter ganz erschrocken, – »ich hoffe, du weißt, was ich meine, Edward, es ist sehr hart, daß ich in deinem eignen Hause nicht ein Wort über häusliche Angelegenheiten sagen darf. Ich habe sicher sehr gut hausgehalten, ehe wir heirateten. Ich habe Beweise«, setzte sie schluchzend hinzu. »Frag nur Peggotty, ob es nicht recht gut ging, als man mir nicht dreinredete.«

»Edward«, sagte Miss Murdstone, »machen wir der Sache ein Ende. Ich reise morgen ab!«

»Jane Murdstone!« donnerte Mr. Murdstone, »wirst du schweigen! Was unterstehst du dich!«

Miss Murdstone zog ihr Taschentuch aus dem Kerker und hielt es vor die Augen.

»Klara«, fuhr er fort, »du setzest mich in Erstaunen! Ja. Ich fand Befriedigung in dem Gedanken, eine unerfahrene und harmlose Person zu heiraten und ihren Charakter zu bilden und ihr etwas von der Festigkeit und Entschiedenheit zu geben, die ihr fehlen. Aber wenn Jane Murdstone so gütig ist, mir darin beizustehen, und meinetwegen eine Stellung gleich der einer Haushälterin übernimmt und dafür so schlechten Dank erntet –«

»O bitte, bitte, Edward!« rief meine Mutter. »Sag nicht, daß ich undankbar bin. Ich bin sicher nicht undankbar, das hat mir noch niemand gesagt. Ich habe viele Fehler, aber nicht diesen. Bitte, sage das nicht, Liebling!«

»Wenn Jane Murdstone, sage ich«, fuhr er fort, nachdem er meine Mutter hatte ausreden lassen, »dafür Undank erntet, so fühle ich meine Gefühle erkalten.«

»Liebling, bitte, sag das nicht«, flehte meine Mutter kläglich. »O bitte, Edward, ich kann das nicht ertragen. Wie ich auch immer sein mag, ich bin nachgiebig und dankbar. Ich weiß, ich bin es, bin nachgiebig und dankbar. Ich würde es nicht sagen, wenn ich es nicht gewiß wüßte. Frag nur Peggotty. Sie wird es gewiß bestätigen.«

»Bloße Schwäche fällt bei mir nicht ins Gewicht, Klara«, entgegnete er. »Du verschwendest nur deine Worte.«

»Komm, laß uns wieder gut sein«, sagte meine Mutter. »Ich könnte nicht leben in Kälte und Unfreundlichkeit um mich herum. Es tut mir so herzlich leid. Ich habe sehr viele Fehler, ich weiß, und es ist sehr gut von dir, Edward, daß du mit deinem starken Charakter dir Mühe gibst, mich zu bessern. Jane, ich will dir nicht mehr widersprechen. Es würde mir das Herz brechen, wenn du nur daran dächtest, uns zu verlassen –« meine Mutter konnte nicht weitersprechen vor lauter Rührung.

»Jane Murdstone«, sagte Mr. Murdstone zu seiner Schwester, »harte Worte sind zwischen uns selten. Es ist nicht meine Schuld, daß heut abend ein so ungewöhnliches Ereignis stattgefunden hat. Ich wurde von jemand anders dazu gebracht. Aber es ist auch nicht deine Schuld, auch dich hat jemand in eine schiefe Lage gebracht. Wir wollen beide trachten, es zu vergessen. Und da dies«, fügte er nach diesen großmütigen Worten hinzu, »kein passendes Bild ist für den Knaben, so geh zu Bett, David.«

Ich konnte kaum die Türe finden, so voll Tränen standen meine Augen. Ich fühlte meiner Mutter Schmerz so tief mit; ich schlich hinaus und tappte im Dunkeln die Treppe hinauf in mein Zimmer, ohne nur das Herz zu haben, Peggotty gute Nacht zu sagen oder mir eine Kerze von ihr geben zu lassen. Als sie vielleicht eine Stunde später nach mir sah, wachte ich auf, und sie sagte mir, meine Mutter sei sehr betrübt zu Bett gegangen, und Mr. und Miss Murdstone säßen noch unten allein.

Am nächsten Morgen ging ich etwas früher als gewöhnlich hinunter und hörte, wie drinnen meine Mutter Miss Murdstone demütigst um Verzeihung bat. Die Dame verzieh ihr, und es fand eine vollständige Aussöhnung statt. Nie wieder später hörte ich meine Mutter über irgend etwas eine Meinung äußern, ehe sie sich nicht zuvor an Miss Murdstone gewendet oder in sichre Erfahrung gebracht hatte, was ihre Ansicht sei; und nie wieder sah ich Miss Murdstone in übler Laune nach dem Beutel greifen, als ob sie die Schlüssel herausnehmen und sie meiner Mutter zurückgeben wollte, ohne daß diese nicht in die schrecklichste Angst geraten wäre.

Das dunkle Blut, das in den Adern der Murdstones floß, gab auch ihrer Religion etwas Finsteres und Strenges. Ich habe seitdem oft darüber nachgedacht, ob diese Eigenschaft nicht eine notwendige Folge war von Mr. Murdstones Festigkeit, die ihm niemals erlauben wollte, irgend jemand von der strengsten Strafe freizusprechen. Sei dem, wie es wollte, ich kann mich noch recht gut der finstern und ernsten Gesichter erinnern, mit denen wir zum Gottesdienst zu gehen pflegten, und des veränderten Eindrucks, den die Kirche auf mich machte.

Wieder kommt der gefürchtete Sonntag, und ich marschiere zuerst in den alten Betstuhl, wie ein bewachter Sträfling zu einem Gefangenengottesdienst. Dicht hinter mir folgt Miss Murdstone in einem schwarzen Samtkleid, das aus einem Leichentuch gemacht zu sein scheint. Dann kommt meine Mutter, dann ihr Gatte. Peggotty geht nicht mehr mit wie früher. Wieder höre ich Miss Murdstone die Responsorien murmeln und auf alle drohenden Worte mit grausamem Behagen besondern Nachdruck legen. Wieder sehe ich ihre dunklen Augen in der Kirche umherschweifen, wenn sie sagt »elende Sünder«, als wenn sie die ganze Gemeinde in diesem Namen einschließen wolle. Wieder werfe ich verstohlene Blicke auf meine Mutter, die ihre Lippen schüchtern flüsternd bewegt, während das Summen der beiden in ihren Ohren brummt wie fernes Donnergrollen. Dann überkommt mich eine plötzliche Furcht, ob nicht vielleicht Mr. und Miss Murdstone recht haben und unser guter Pfarrer unrecht, und daß alle Engel im Himmel Racheengel sein könnten. Wenn ich einen Finger rühre oder ein Muskel meines Gesichts schlaff wird, stößt mich Miss Murdstone mit ihrem Gebetbuch, daß mich die Seite schmerzt.

Und auf dem Heimweg bemerke ich, wie die Nachbarn mich und meine Mutter ansehen und uns nachblicken und miteinander flüstern. Und wie die drei Arm in Arm gehen und ich allein hinter ihnen drein, folge ich diesen Blicken und frage mich, ob meiner Mutter Gang wirklich nicht mehr so leicht ist und ob das heitere Glück ihrer Schönheit nicht schon ganz trüb geworden. Ich frage mich, ob die Nachbarn wohl auch daran denken, wie wir beide früher nach Hause gingen, und ich zerbreche mir den Kopf darüber den ganzen langsam sich hinschleppenden trüben Tag.

Von Zeit zu Zeit war davon die Rede gewesen, mich in eine Kostschule zu schicken. Mr. und Miss Murdstone hatten es angeregt, und meine Mutter hatte natürlich beigestimmt. Nichtsdestoweniger kam es vorläufig noch nicht dazu. Vorläufig hatte ich zu Hause Lehrstunden.

Werde ich diesen Unterricht wohl je vergessen? Dem Namen nach stand ihm meine Mutter vor, in Wirklichkeit aber Mr. Murdstone und seine Schwester, die immer zugegen waren und darin eine günstige Gelegenheit sahen, meiner Mutter Lektionen in der Festigkeit zu erteilen, die unser beider Leben vergiftete.

Ich glaube, nur das war der Grund, weshalb ich vorläufig zu Hause behalten wurde. Ich hatte gut und willig gelernt, als meine Mutter und ich noch allein miteinander lebten. Ich kann mich noch undeutlich erinnern, wie ich auf ihrem Schoß das Alphabet lernte. Noch heute, wenn ich auf die fetten, schwarzen Buchstaben in einer Fibel sehe, tritt mir die verwirrende Neuheit ihrer Gestalten und die behäbige Gemütlichkeit des »O, Q und S« ganz so vor die Augen wie damals. Aber sie erinnern mich an kein Gefühl des Widerwillens oder des Ekels. Im Gegenteil, es ist mir, als ob ich auf einem Blumenpfad bis zum Krokodilbuch gewandelt sei, und als ob mich die sanfte Weise und Stimme meiner Mutter auf dem ganzen Wege gestärkt hätten.

Aber der feierliche Unterricht, der später kam, steht vor mir, wie der Tod meines Seelenfriedens, wie eine tägliche, jämmerliche Plage und kummervolles Elend.

Die Lektionen waren sehr lang, sehr zahlreich, sehr schwer – einige vollkommen unverständlich für mich – und verwirrten mich meistens ebenso sehr, wie vermutlich meine Mutter.

Ich will einmal in der Erinnerung so einen Morgen durchgehen:

Ich trete nach dem Frühstück mit meinen Büchern, einem Schreibheft und einer Schiefertafel ein. Meine Mutter sitzt an ihrem Schreibtisch und ist bereit für mich, aber nicht halb so bereit wie Mr. Murdstone in seinem Lehnstuhl am Fenster (wenn er auch vorgibt, ein Buch zu lesen) oder wie Miss Murdstone, die in der Nähe meiner Mutter sitzt und Stahlperlen aufreiht.

Der bloße Anblick der beiden wirkt auf mich, daß ich merke, wie die Worte, die ich mir mit so unendlicher Mühe eingeprägt habe, mir alle entfallen und gehen, ich weiß nicht wohin. Nebenbei gesagt, möchte ich übrigens wirklich gerne wissen, wo sie eigentlich hingehen.

Ich reiche das erste Buch meiner Mutter. Es ist eine Grammatik, vielleicht ein Geschichts- oder Geographiebuch. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Seite, wie ein Ertrinkender, während ich ihr das Buch hinhalte, und fange an im Galopp aufzusagen, um fertig zu werden, solange ich noch alles frisch im Kopfe habe.

Ich stocke bei einem Wort, Mr. Murdstone blickt auf.

Ich werde rot, werfe ein halbes Dutzend Worte verwirrt durcheinander und bleibe stecken. Ich fühle, meine Mutter würde mir das Buch zeigen, wenn sie es wagte, aber sie wagt es nicht und sagt sanft:

»O Davy, Davy!«

»Klara«, sagt Mr. Murdstone, »sei fest mit dem Jungen. Sag nicht Davy, Davy! Das ist kindisch. Entweder kann er seine Lektion oder er kann sie nicht.«

»Er kann sie nicht«, fällt Miss Murdstone mit grauenerregendem Nachdruck ein.

»Ich fürchte wirklich, er kann sie nicht«, sagt meine Mutter.

»Nun dann, Klara«, erwidert Miss Murdstone, »solltest du ihm das Buch zurückgeben und ihm das sagen.«

»Ja, gewiß«, stimmt meine Mutter bei. »Das wollte ich tun, liebe Jane. Also Davy, versuch es noch einmal und mach es gut.«

Ich gehorche dem ersten Teil der Ermahnung und versuche es noch einmal; mit dem zweiten Teil bin ich nicht so glücklich, denn ich mache es sehr schlecht. Ich bleibe stecken, früher noch als vorhin, an einer Stelle, die ich eben noch gut kannte, und halte inne, um nachzudenken. Aber ich kann nicht an die Aufgabe denken, ich muß daran denken, wie viel Ellen Spitzen auf Miss Murdstones Haube sein mögen oder was Mr. Murdstones Schlafrock gekostet oder an andere alberne Dinge, die mich nichts angehen! Mr. Murdstone macht die ungeduldige Bewegung, die ich schon lange erwartet habe. Miss Murdstone tut dasselbe. Meine Mutter blickt unterwürfig nach ihnen hin, klappt das Buch zu und legt es beiseite als einen Rückstand, der nachgeholt werden muß, wenn die andern Aufgaben beendet sind.

Bald liegt ein ganzer Stoß solcher Rückstände da und wächst an wie eine Lawine. Je höher er wird, um so vernagelter werde ich. Der Fall ist so hoffnungslos, daß ich das Gefühl habe, in einem tiefen Sumpf von Unsinn herumzuwaten, und jeden Gedanken wieder herauszubekommen aufgebe und mich meinem Schicksal überlasse. Die verzweifelte Angst, mit der meine Mutter und ich einander ansehen, ist wirklich trübsinnig. Aber der Hauptschlag kommt, wenn meine Mutter sich unbeobachtet glaubt und mir das Stichwort durch eine Bewegung der Lippen zu verraten sucht. In diesem Augenblick sagt Miss Murdstone, die bloß darauf gewartet hat, mit tiefer warnender Stimme:

»Klara!«

Meine Mutter fährt zusammen, wechselt die Farbe und lächelt schüchtern. Mr. Murdstone steht von seinem Stuhl auf, wirft mir das Buch an den Kopf oder schlägt es mir um die Ohren und schiebt mich bei den Schultern zur Tür hinaus.

Wenn die Stunden aus sind, kommt erst das Schlimmste in Gestalt eines entsetzlichen Rechenexempels. Das ist für mich besonders erfunden und wird mir durch Mr. Murdstone mündlich überliefert. Es fängt an:

»Wenn ich in einen Käseladen gehe und kaufe fünftausend doppelte Gloucesterkäse zu vier und einem halben Penny – augenblicklich zahlbar« – Miss Murdstones Züge werden überglücklich bei dieser Wendung – und so weiter und so weiter. Bis Mittag brüte ich über diesen Käsen ohne Resultat oder Erleuchtung, und wenn ich dann durch Abwischen der mit Schiefer beschmutzten Finger an meinem schweißtriefenden Gesicht einen Mulatten aus mir gemacht habe, bekomme ich ein Stückchen Brot ohne Butter zu meinen Käsen und bin für den Abend in Ungnade gefallen.

Nach so vielen Jahren scheint es mir, als ob meine unglücklichen Studien immer denselben Verlauf genommen hätten. Ich wäre sehr gut vorwärtsgekommen ohne die Murdstones, aber ihr Einfluß auf mich war wie der bannende Blick, den zwei Schlangen auf einen armen kleinen Vogel richten.

Selbst wenn ich ziemlich gut durch die Morgenarbeiten kam, hatte ich nicht viel mehr gewonnen als die freie Zeit des Mittagessens, denn Miss Murdstone konnte mich nie unbeschäftigt sehen; und wenn ich unvorsichtigerweise merken ließ, daß ich gerade nichts zu tun hatte, so lenkte sie ihres Bruders Aufmerksamkeit auf mich, indem sie sagte: »Liebe Klara, es geht nichts über die Arbeit, – gib deinem Jungen etwas auf.« Und das hatte stets zur Folge, daß ich sofort über eine neue Arbeit geduckt wurde. Von Zerstreuungen mit andern Kindern meines Alters war kaum die Rede, denn dem finstern Puritanismus der Murdstones erschienen alle Kinder wie eine Brut kleiner Vipern. Als ob niemals ein Kind in die Mitte der Jünger gestellt worden wäre!

Die natürliche Folge dieser vielleicht sechs Monate oder noch länger fortgesetzten Behandlungsweise war, daß ich ganz stumpf, verstockt und schwer von Begriffen wurde. Nicht wenig trug dazu bei, daß ich mich täglich mehr meiner Mutter entfremdet fühlte. Ich glaube, wenn mir nicht ein glücklicher Umstand geholfen hätte, ich wäre blödsinnig geworden.

Und das war folgender. Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einer Dachstube neben meinem Schlafraum, um die sich niemand kümmerte, hinterlassen. Aus diesem gesegneten kleinen Stübchen kamen Roderick Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Landprediger von Wakefield, Don Quichote, Gil Blas und Robinson Crusoe – eine glorreiche Schar – zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie erhielten meine Phantasie lebendig – und meine Hoffnung auf etwas über diesen Ort und diese Zeit hinaus; sie und Tausendundeine Nacht und die persischen Märchen brachten mir keinen Schaden, denn was in einigen von ihnen Schädliches sein mochte, war für mich nicht da; ich verstand nichts davon. Es ist mir nur unbegreiflich, woher ich inmitten meines Hockens und Brütens über schwierigere Themen die Zeit nahm, alle diese Bücher zu lesen. Es ist mir jetzt wunderbar, wie es für mich in meinen kleinen und doch so großen Leiden tröstlich sein konnte, daß ich die Rollen meiner Lieblingscharaktere in diesen Geschichten auf mich übertrug und Mr. und Miss Murdstone mit allen schlechten bedachte. Eine ganze Woche lang war ich Tom Jones in Kindergestalt. Die Rolle Roderick Randoms habe ich wohl einen Monat lang gespielt.

Ich fraß förmlich ein paar Bände Reisebeschreibungen, ich weiß nicht mehr, welche, und tagelang bin ich in der obern Region des Hauses heimlich umhergestreift, bewaffnet mit dem Mittelstück eines alten Stiefelholzes, als Kapitän Soundso von der königlich britischen Flotte, der von Wilden bedroht war und sein Leben so teuer wie möglich verkaufen wollte. Niemals verlor der Kapitän seine Würde, wenn ihm die lateinische Grammatik um die Ohren geschlagen wurde. Ich litt wohl darunter, der Kapitän aber blieb Kapitän und ein Held trotz aller Grammatiken, aller lebenden und toten Sprachen.

Das bildete meinen einzigen und beständigen Trost. Wenn ich daran denke, steht mir ein Sommerabend vor Augen, wo die Kinder draußen auf dem Kirchhof spielten und ich auf dem Bette saß und auf Tod und Leben draufloslas. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche, jeder Fußbreit des Friedhofs standen in meiner Seele in Verbindung mit diesen Büchern und vertraten die Stelle eines in ihnen berühmt gewordnen Ortes. Ich habe gesehen, wie Tom Pipes den Kirchturm hinaufkletterte, habe Strab mit dem Schnappsack auf dem Rücken beobachtet, wie er an der Gitterpforte am Zaun ausruhte, und ich weiß, daß Commodore Trunnion seine Klubsitzung mit Mr. Pickle in der Gaststube unserer kleinen Dorfschenke abhielt. So war ich damals geartet, als das Ereignis eintrat, von dem ich jetzt berichten will.

Eines Morgens, als ich mit meinen Büchern in das Wohnzimmer trat, bemerkte ich, daß meine Mutter sehr ängstlich aussah und Miss Murdstone sehr fest, während Mr. Murdstone etwas um das untere Ende eines Rohrstockes wickelte. Es war ein geschmeidiges und schächtiges Rohr, das er in der Hand wippte und durch die Luft sausen ließ, als ich hereinkam.

»Ich sage dir doch, Klara«, bemerkte Mr. Murdstone, »ich selbst bin oft durchgehauen worden.«

»Gewiß, selbstverständlich«, sagte Miss Murdstone.

»Gewiß, liebe Jane«, stammelte meine Mutter demütig. »Aber – aber meinst du, daß es Edward gutgetan hat?«

»Glaubst du, daß es Edward geschadet hat, Klara?« fragte Mr. Murdstone ernst.

»Das ist der springende Punkt«, sagte seine Schwester.

»Gewiß, liebe Jane«, weiter sagte meine Mutter nichts mehr.

Mich beschlich das Gefühl, daß sich das Zwiegespräch auf mich bezöge. Und ich suchte und begegnete Mr. Murdstones Blick.

»Nun, David?« sagte er und sein Auge blitzte. »Du mußt dich heute viel mehr in acht nehmen als gewöhnlich.« Er hieb weiter mit dem Rohr durch die Luft, und nachdem er diese Vorbereitung beendigt hatte, legte er es mit ausdrucksvollem Blick neben sich hin und nahm ein Buch zur Hand.

Nur für den Beginn war dies eine gute Auffrischung meiner Geistesgegenwart. Dann fühlte ich, wie die Worte mir beim Aufsagen entschwanden, nicht einzeln oder zeilenweise, sondern gleich ganze Seiten lang. Ich versuchte meine Gedanken wieder einzufangen, aber es war, als ob sie Schlittschuhe anhätten und mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit wegglitten.

Wir fingen schlecht an und fuhren noch schlechter fort. Ich war hereingekommen mit dem Bewußtsein, daß ich mich heute sogar auszeichnen würde, denn ich glaubte recht gut vorbereitet zu sein, aber es stellte sich als vollständiger Irrtum heraus. Ein Buch nach dem andern vermehrte den Haufen der Rückstände, und Miss Murdstone wandte die ganze Zeit über den Blick nicht von uns. Und als wir endlich zu den fünftausend Käsen kamen, – er machte an diesem Tage Rohrstöcke daraus –, fing meine Mutter zu weinen an.

»Klara!« sagte Miss Murdstone mit warnender Stimme.

»Ich fühle mich nicht ganz wohl, meine liebe Jane, glaube ich«, sagte meine Mutter.

Ich sah Mr. Murdstone feierlich seiner Schwester zuwinken, als er aufstand, das Rohr nahm und sagte:

»Nun, Jane, wir können kaum erwarten, daß Klara mit unerschütterlicher Festigkeit den Ärger und die Qual trägt, die David ihr heute verursacht hat. Das würde stoisch sein. Klara hat sich sehr gefestigt und ist viel stärker geworden, aber wir können kaum so viel von ihr erwarten. David, wir wollen jetzt beide hinaufgehen.«

Als er mich aus der Türe zog, rannte meine Mutter auf uns zu. Miss Murdstone sagte: »Klara! Bist du denn ganz närrisch!« und trat dazwischen. Ich sah, wie sich meine Mutter die Ohren zuhielt, und hörte sie weinen.

Er führte mich in mein Zimmer, langsam und feierlich; ich weiß bestimmt, es machte ihm Freude, die Exekution so förmlich zu gestalten – und als wir oben angekommen waren, klemmte er plötzlich meinen Kopf unter seinen Arm.

»Mr. Murdstone! Sir!« schrie ich auf. »O bitte, schlagen Sie mich nicht. Ich habe mir solche Mühe beim Lernen gegeben, Sir, aber ich kann es nicht aufsagen, wenn Sie und Miss Murdstone dabei sind. Ich kann es wirklich nicht!«

»Kannst du wirklich nicht, David?« fragte er. »Wir wollens mal versuchen.«

Er hielt meinen Kopf fest wie in einem Schraubstock. Aber ich entwand mich doch noch, und es gelang mir, ihn einen Augenblick aufzuhalten. Nur einen Augenblick, denn gleich darauf versetzte er mir einen heftigen Schlag. In demselben Augenblick erhaschte ich seine Hand mit meinem Mund und biß sie durch und durch. Es zuckt mir jetzt noch in den Zähnen, wenn ich daran denke.

Er schlug mich dann, als ob er mich totpeitschen wollte. Durch all den Lärm, den wir machten, hörte ich die andern die Treppe heraufrennen und aufschreien – ich hörte meine Mutter aufschreien – und Peggotty. Dann war er fort, und die Tür war von außen verschlossen. Und ich lag fieberheiß und zerrissen und wund auf dem Boden und raste in ohnmächtiger Wut.

Ich weiß mich gut zu erinnern, welch unnatürliche Stille im ganzen Haus herrschte, als ich wieder ruhig wurde. Ich kann mich gut entsinnen, als Schmerz und Leidenschaft sich legten, wie schlecht ich mir vorkam.

Ich saß lange Zeit lauschend da, aber es war kein Laut zu vernehmen. Ich raffte mich vom Boden auf und sah mein Gesicht im Spiegel so verschwollen und entstellt, daß ich mich entsetzte. Die Striemen waren wund und hart, und ich mußte aufschreien, wenn ich mich rührte. Aber sie waren nichts gegen mein Schuldbewußtsein. Es lastete schwer auf meiner Brust, wie wenn ich der schlimmste Verbrecher gewesen wäre.

Es fing an zu dunkeln, und ich machte das Fenster zu, – ich hatte die ganze Zeit über mit dem Kopf auf dem Fensterbrett gelegen und abwechselnd geweint, halb geschlafen oder gedankenlos hinausgesehen, – als sich der Schlüssel herumdrehte und Miss Murdstone mit Brot, Fleisch und Milch hereintrat. Ohne ein Wort zu sprechen, setzte sie es auf den Tisch und starrte mich währenddessen ununterbrochen mit größter Festigkeit an, entfernte sich dann und schloß die Türe hinter sich zu.

Noch lange saß ich im Dunkeln da und grübelte, ob sonst noch jemand kommen werde. Als das für diesen Abend unwahrscheinlich wurde, zog ich mich aus und ging zu Bett und fing an, mich furchtsam zu fragen, was jetzt wohl mit mir geschehen würde. War es ein Verbrechen, das ich begangen hatte? Würde man mich verhaften und ins Gefängnis stecken, mich am Ende gar hängen?!

Ich werde nie das Erwachen am nächsten Morgen vergessen: Im ersten Augenblick froh und heiter, war ich plötzlich durch die erwachende Erinnerung wie niedergeschmettert. Miss Murdstone erschien wieder, ehe ich mich erhob, sagte mir mit kurzen Worten, daß ich eine halbe Stunde, aber nicht länger, spazierengehen dürfte, und verschwand. Sie ließ diesmal die Türe offen, damit ich von der Erlaubnis Gebrauch machen könnte.

Ich tat es und jeden folgenden Morgen meiner Gefangenschaft, die fünf Tage dauerte. Wenn ich meine Mutter allein hätte sehen können, wäre ich vor ihr auf die Knie gefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten, aber ich bekam niemand zu Gesicht, außer Miss Murdstone. Eine Ausnahme bildete nur die Zeit des Abendgebetes in der Wohnstube; dorthin führte mich Miss Murdstone, und ich mußte wie ein junger Sträfling an der Tür stehen bleiben, während alle ihre Plätze einnahmen; und ehe sie sich erhoben, führte mich meine Kerkermeisterin mit großer Feierlichkeit wieder ins Gefängnis. Ich bemerkte, daß meine Mutter, am allerweitesten von mir entfernt, ihr Gesicht von mir abgewandt hielt, und daß Mr. Murdstones Hand mit einem großen leinenen Tuch verbunden war.

Wie entsetzlich lang mir diese fünf Tage wurden, kann ich nicht beschreiben. Sie nehmen in meiner Erinnerung den Raum von Jahren ein. Die Spannung, mit der ich allen Vorkommnissen im Hause lauschte, das Klingeln, das Öffnen und Schließen von Türen, das Murmeln von Stimmen, die Schritte auf den Treppen, das Lachen, Pfeifen und Singen draußen, das mir in meiner Einsamkeit und Verstoßenheit furchtbarer erschien, als alles andere, das ungewisse Schleichen der Stunden, besonders des Nachts, wenn ich in dem Glauben aufwachte, es sei schon Morgen, während die Familie noch nicht zu Bett gegangen war und ich noch die ganze lange Nacht vor mir hatte, – die quälenden Träume mit ihrem Alpdrücken, – die Wiederkehr von Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend, wo die Jungen draußen auf dem Kirchhof spielten, und ich sie vom Hintergrund des Zimmers aus beobachtete, weil ich mich schämte, mich wie ein Gefangener am Fenster zu zeigen, – das fremdartige Gefühl, daß ich mich nie sprechen hörte, – die flüchtigen Pausen schnell entschwindender Erleichterung, die mit dem Essen und Trinken kam und wieder ging, der Regen eines Abends mit seinem frischen Duft, wie er immer dichter und dichter wurde zwischen mir und der Kirche, bis er und die hereinbrechende Nacht mich in einer Finsternis von Furcht und Reue zu ersticken drohten, – alles das scheint Jahre statt Tage gedauert zu haben, so lebendig und tief hat es sich mir eingeprägt.

In der letzten Nacht meiner Haft wachte ich auf und hörte meinen Namen flüstern. Ich richtete mich im Bett auf, breitete meine Arme im Dunkeln aus und fragte:

»Bist dus, Peggotty?«

Es kam nicht sogleich eine Antwort. Aber nicht lange darauf hörte ich wieder meinen Namen in einem so geheimnisvollen und schaurigen Ton, daß ich vor Schrecken wahrscheinlich ohnmächtig geworden wäre, hätte ich nicht plötzlich begriffen, daß er durch das Schlüsselloch kommen müsse. Ich tappte mich zur Tür, legte den Mund an das Schlüsselloch und flüsterte:

»Bist dus, liebe Peggotty?«

»Ja, mein einziger lieber Davy. Sei so leise wie eine Maus, sonst hört uns die Katze.«

Ich verstand sogleich, daß Miss Murdstone gemeint war, und fühlte die Notwendigkeit der Vorsicht, denn ihr Zimmer stieß dicht an meines.

»Was macht Mama, liebe Peggotty? Ist sie sehr böse auf mich?«

Ich konnte hören, daß Peggotty leise vor der Tür weinte, – wie ich, ehe sie antworten konnte:

»Nein, nicht sehr.«

»Was wird mit mir geschehen, liebe Peggotty? Weißt du es?«

»Schule. Bei London«, war Peggottys Antwort. Sie mußte es noch einmal wiederholen, denn sie hatte es das erstemal in meinen Hals hineingesprochen, weil ich vergaß, den Mund vom Schlüsselloch wegzunehmen und das Ohr daranzulegen. Ihre Worte kitzelten mich sehr, aber verstehen konnte ich sie nicht.

»Wann, Peggotty?«

»Morgen.«

»Hat deshalb Miss Murdstone meine Kleider aus der Kommode genommen?«

»Ja«, sagte Peggotty. »Koffer.«

»Werde ich Mama nicht mehr wiedersehen?«

»Ja«, sagte Peggotty. »Morgen früh.« Dann legte sie ihre Lippen dicht an das Schloß und sprach die folgenden Worte so gefühlvoll und innig, wie sie wohl nie durch ein Schlüsselloch mitgeteilt worden sind, und stieß jeden Satz abgebrochen mit einem krampfhaften kleinen Ruck hervor:

»Lieber Davy, – wenn ich jetzt nicht ganz so herzlich – mit dir bin, wie früher, – so ists nicht, weil ich dich nicht – sehr und noch mehr liebe, mein liebes Herzenspüppchen, – sondern bloß weil ich glaube, es ist besser für dich – und für jemand anders. Davy, mein Liebling, hörst du mich? Kannst du hören?«

»Ja-a-a-a, Peggotty«, schluchzte ich.

»Du mein Herzenskind«, flüsterte Peggotty mit unendlichem Mitleid. »Ich will dir nur sagen, du darfst mich niemals vergessen. Auch ich will dich niemals vergessen. Und ich will deine Mama, Davy, so in acht nehmen, wie ich dich in acht genommen habe. Und ich werde sie nie verlassen. Der Tag wird noch kommen, wo sie gern ihren armen Kopf ihrer dummen, mürrischen, alten Peggotty wieder auf den Arm legen wird. Ich werde dir schreiben, mein Liebling. Wenn ich auch kein Gelehrter bin, und ich will – ich will –« Peggotty fing an, das Schlüsselloch zu küssen, da sie mich nicht küssen konnte.

»Ich danke dir, meine liebe Peggotty«, sagte ich. »Ich danke, danke dir. Willst du mir nur eins versprechen, Peggotty? Wirst du Mr. Peggotty und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge und Ham sagen, daß ich nicht so schlecht bin, wie sie vielleicht denken, und daß ich sie alle von Herzen grüßen lasse, besonders die kleine Emly? Willst du so gut sein, Peggotty?«

Die gute Seele versprach mirs, und wir küßten beide das Schlüsselloch mit der größten Zärtlichkeit, – ich streichelte es mit der Hand, entsinne ich mich noch, als ob es ihr ehrliches Gesicht gewesen wäre, – und trennten uns. Seit dieser Nacht wuchs in mir ein Gefühl für Peggotty, das ich nicht recht beschreiben kann. Sie ersetzte mir nicht meine Mutter, niemand hätte das können, aber sie füllte eine Leere in meinem Herzen aus, die sich über ihr schloß, und ich fühlte etwas für sie, was ich nie für ein anderes menschliches Wesen empfunden habe. Es mischte sich das Gefühl des Komischen wohl unter meine Zärtlichkeit, und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie ich den Schmerz ertragen hätte, wenn sie gestorben wäre.

Frühmorgens erschien Miss Murdstone wie gewöhnlich und sagte mir, daß ich in die Schule geschickt würde, was mich durchaus nicht so überraschte, wie sie wohl angenommen hatte. Sie sagte mir auch, daß ich hinunterkommen sollte in die Wohnstube zum Frühstück. Dort fand ich meine Mutter sehr blaß und mit roten Augen. Ich lief ihr in die Arme und bat sie aus tiefbewegter Seele um Verzeihung.

»O Davy!« sagte sie, »daß du jemand weh tun konntest, den ich liebe. Versuche dich zu bessern, bete darum, daß du besser werdest. Ich verzeihe dir, aber ich bin voll Kummer, Davy, daß du ein so böses Herz hast.«

Sie hatten ihr eingeredet, daß ich ein verworfenes Geschöpf wäre, und das schmerzte sie mehr als mein Fortgehen. Auf mich machte es einen tiefen Eindruck.

Ich versuchte mein Abschiedsfrühstück zu essen, aber die Tränen tröpfelten auf mein Butterbrot und in meinen Tee.

Ich sah, wie meine Mutter mich von Zeit zu Zeit anblickte und dann auf Miss Murdstone sah und die Augen niederschlug oder wegschaute.

»Ist Master Copperfields Koffer da?« fragte Miss Murdstone, als draußen der Wagen vorfuhr. Ich sah mich nach Peggotty um, aber weder sie noch Mr. Murdstone erschien. Mein alter Bekannter, der Fuhrmann, stand an der Tür, nahm den Koffer und hob ihn auf den Wagen.

»Klara!« sagte Miss Murdstone in warnendem Ton.

»Ich bin bereit, liebe Jane«, sagte meine Mutter. »Leb wohl, Davy, du gehst zu deinem eignen Besten. Leb wohl, mein Kind, du wirst in den Feiertagen nach Hause kommen und ein besserer Junge sein.«

»Klara!« wiederholte Miss Murdstone.

»Gewiß, meine liebe Jane«, antwortete meine Mutter und hielt meine Hand noch immer fest. »Ich verzeihe dir, mein lieber Junge. Gott segne dich!«

»Klara!« wiederholte Miss Murdstone. Sie hatte die Güte, mich zum Wagen zu führen und mir unterwegs zu sagen, sie hoffe, ich würde in mich gehen, ehe es ein schlimmes Ende mit mir nähme, und dann stieg ich in den Wagen und das faule Pferd trottete mit mir davon.

20. Kapitel Bei Steerforth


20. Kapitel Bei Steerforth

Als das Stubenmädchen früh um acht Uhr an meine Tür klopfte, hereinkam und mir meldete, daß draußen warmes Wasser zum Rasieren für mich bereit stehe, empfand ich es schmerzlich, daß ich dessen nicht bedurfte und errötete darüber im Bett.

Der Argwohn, das Mädchen könnte darüber gelacht haben, quälte mich die ganze Zeit über beim Anziehen und verlieh mir ein scheues, schuldbewußtes Aussehen, als sie auf dem Weg zum Frühstück mir auf der Treppe begegnete. Ich war mir meiner Jugend so unangenehm bewußt, daß ich mich gar nicht entschließen konnte, unter so demütigenden Umständen an ihr vorüberzugehen, sondern, während sie unten kehrte, am Fenster stehenblieb und so lang durch ein Fenster die Reiterstatue König Karls, umgeben von einem Labyrinth von Fiakern und in dem feinen Regen und dunkelbraunen Nebel nichts weniger als majestätisch aussehend, betrachtete, bis mir der Kellner meldete, der Herr warte mit dem Frühstück auf mich.

Steerforth empfing mich nicht im Gastzimmer, sondern in einem hübschen separaten Zimmer mit roten Vorhängen und türkischen Teppichen, wo ein helles Feuer brannte und ein warmes Frühstück auf dem sauber gedeckten Tisch stand. Ein niedliches Miniaturbild des Zimmers, des Feuers, des Frühstücks und Steerforths und alles übrigen malte sich in dem kleinen runden Spiegel über dem Seitentische ab. Ich war ein wenig befangen am Anfang, weil Steerforth so selbstbewußt und elegant war und mir nicht nur an Jahren überlegen. Sein gefälliges, ungezwungnes Benehmen brachte jedoch bald alles ins Gleichgewicht, und ich fühlte mich wie zu Hause. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, wie sehr sich das »Goldne Kreuz« – verglichen gegen gestern verwandelt hatte.

Die Familiarität des Kellners war verschwunden, als sei sie niemals dagewesen. Er bediente uns sozusagen in Sack und Asche.

»Nun, Copperfield?« fragte Steerforth, als wir allein waren. »Was treibst du eigentlich, welches Ziel hast du – und so weiter. Ich weiß nicht, es kommt mir vor, als ob du mein Eigentum wärst.«

Glühend vor Vergnügen, daß er noch so viel Teilnahme an mir nahm, erzählte ich ihm, daß meine Tante mich zu dieser kleinen Reise veranlaßt habe, und daß Yarmouth mein Ziel sei.

»Da du also keine Eile hast«, sagte Steerforth, »so komm doch mit zu meiner Mutter nach Highgate und bleib ein oder zwei Tage bei uns. Meine Mutter wird dir gefallen, – sie ist ein bißchen eingebildet auf mich und spricht viel von mir, aber das darfst du ihr nicht übelnehmen. Und du wirst ihr auch gefallen.«

»Ich wollte, es wäre so, wie du sagst«, erwiderte ich lächelnd.

»O«, sagte Steerforth, »wer mich gern hat, hat ein Anrecht auch an sie und findet sicher Anerkennung.«

»Dann werde ich bei ihr allerdings in besonderer Gunst stehen«, sagte ich.

»Gut, komm und beweise es. Wir wollen uns ein paar Stunden in der Stadt umsehen. Es ist ordentlich eine Freude, sie einem Grünschnabel wie dir, Copperfield, zeigen zu können. Und dann fahren wir mit dem Wagen nach Highgate.«

Ich konnte mir nur mit Mühe klarmachen, daß ich nicht träumte und nicht sogleich in Nummer 44 oder in der Box im Gastzimmer bei dem familiären Kellner aufwachen würde.

Nachdem ich an meine Tante über das glückliche Zusammentreffen mit meinem vielbewunderten Schulkameraden und die Einladung geschrieben, fuhren wir in einem Fiaker aus, und ich bewunderte das Panorama, das Museum und andre Sehenswürdigkeiten. Ich konnte dabei nicht umhin, zu bemerken, wie viel Steerforth über alle möglichen Dinge wußte, und wie gering er solches Wissen anzuschlagen schien.

»Du wirst dir gewiß einen hohen akademischen Rang erwerben, Steerforth«, sagte ich, »wenn du ihn nicht schon besitzt. Sie müssen sehr stolz auf dich sein.«

»Ich einen Rang erwerben?« rief Steerforth. »Ich nicht, mein liebes Gänseblümchen. Du nimmst es doch nicht übel, wenn ich dich Daisy nenne?«

»Durchaus nicht«, sagte ich.

»Bist doch ein guter Junge! Mein liebes Gänseblümchen also, ich wünsche und beabsichtige nicht im mindesten, mich in dieser Hinsicht auszuzeichnen. Für meine Zwecke habe ich schon genug gelernt. Ich komme mir selber schon so ziemlich fad vor.«

»Aber der Ruhm –« fing ich an.

»Du romantisches Gänseblümchen«, sagte Steerforth und lachte noch herzlicher. »Soll ich mich vielleicht plagen, damit ein Dutzend dickköpfiger Kerle den Mund aufsperren und verwundert die Hände zusammenschlagen. Das mögen sie meinetwegen bei jemand anders tun.«

Ich war ordentlich beschämt, daß ich so fehlgegriffen hatte, und bemühte mich, die Rede auf etwas andres zu bringen. Das war zum Glück nicht schwer, denn Steerforth konnte immer mit einer ihm eignen Leichtigkeit und Gewandtheit von einem Gegenstand zum andern übergehen.

Während unserer Umschau in der Stadt nahmen wir den Lunch ein, und der kurze Wintertag verging so schnell, daß wir erst in der Dämmerung an einem alten steinernen Haus in Highgate oben auf der Höhe hielten.

Eine ältere Dame, wenn auch noch nicht sehr bei Jahren, von stolzer Haltung und mit schönen Zügen, stand in der Tür, als wir ausstiegen, und schloß Steerforth mit der Begrüßung: »Mein liebster James!« in die Arme.

Diese Dame wurde mir als Mrs. Steerforth vorgestellt, und sie bewillkommnete mich mit großer Freundlichkeit.

Das Haus war ein vornehmes, altmodisches Gebäude, sehr still und wohlgehalten. Von den Fenstern meines Zimmers aus sah ich in der Ferne London liegen wie eine große Dunstwolke, durch die hie und da die Lichter funkelten.

Während des Umziehens fand ich Gelegenheit, einen Blick auf die soliden Möbel, die eingerahmten Stickereien – wahrscheinlich Jugendarbeiten von Steerforths Mutter – und ein paar Kreidezeichnungen, Damen mit gepudertem Haar im Reifrock darstellend, zu werfen, die an den Wänden sichtbar wurden und wieder verschwanden, wenn das frisch angezündete Feuer aufflackerte. Dann rief man mich zu Tisch.

Im Speisezimmer war noch eine zweite Dame anwesend von kleinerm Wuchs, dunklem Teint und nicht sehr angenehmem Äußern, wenn sie auch durchaus nicht häßlich war. Sie zog meine Aufmerksamkeit auf sich, vielleicht weil ich nicht erwartet hatte, sie zu sehen, vielleicht weil ich ihr gegenübersaß, vielleicht auch, weil etwas Bemerkenswertes an ihr war.

Sie hatte schwarzes Haar, lebhafte schwarze Augen und eine Narbe auf der Lippe. Es war eine alte Narbe, eher ein schmaler weißer Strich quer über die Lippen bis herunter zum Kinn. In mir setzte sich sofort die Vorstellung fest, daß die Dame dreißig Jahre alt sei und sich einen Mann wünschte. Sie sah ein wenig verfallen aus, – wie ein Haus, das lange nicht bewohnt gewesen ist, doch hatte sie, wie schon gesagt, kein gerade häßliches Äußere. Ihre Hagerkeit schien die Folge eines verzehrenden Feuers in ihrem Innern zu sein, das sich noch deutlicher in ihren dunklen Augen offenbarte.

Sie wurde als Miss Dartle vorgestellt, und Steerforth und seine Mutter nannten sie Rosa. Ich erfuhr, daß sie im Hause wohnte und seit langem Mrs. Steerforths Gesellschafterin war. Sie sagte niemals etwas grade heraus, sondern deutete es immer bloß an und ließ es dadurch meist viel wichtiger erscheinen, als es in Wirklichkeit war. Als zum Beispiel Mrs. Steerforth bei Gelegenheit und mehr im Scherz als im Ernst die Befürchtung fallenließ, ihr Sohn lebe an der Universität etwas allzu flott, sagte Miss Dartle:

»O wirklich? Du weißt, wie wenig ich das kenne, und daß ich bloß frage, um mich belehren zu lassen. Aber ist das nicht immer so? Ich habe immer geglaubt, das Leben auf der Universität sei immer – nicht?«

»Es ist die Vorbereitung zu einer sehr ernsten Laufbahn, wenn du das meinst, Rosa«, antwortete Mrs. Steerforth ein wenig kühl.

»O ja. Das ist sehr wahr«, entgegnete Miss Dartle. »Aber ist es bei alledem nicht –? Ich lasse mich gern belehren, wenn ich unrecht habe. Ist es wirklich nicht –?«

»Was soll es denn wirklich sein«, fragte Mrs. Steerforth.

»O, wenn du meinst, so ist es also nicht –«, erwiderte Miss Dartle. »O, es freut mich, das zu hören. Nun weiß ich, was ich zu tun habe. Das ist der Vorteil des Fragens. Ich werde nie mehr zugeben, daß die Leute das Universitätsleben verschwenderisch und liederlich nennen.«

»Da tust du sehr recht«, sagte Mrs. Steerforth. »Der Erzieher meines Sohnes ist ein gewissenhafter Herr, und wenn ich mich nicht schon unbedingt auf James verließe, so könnte ich doch ihm vollständig vertrauen.«

»Wirklich?« sagte Miss Dartle. »O Gott! Gewissenhaft ist er? Wirklich gewissenhaft?«

»Ja, ich bin davon überzeugt«, sagte Mrs. Steerforth.

»Ach, wie reizend! Wie angenehm! Wirklich gewissenhaft? Da ist er also nicht – aber natürlich kann ers ja nicht sein, wenn er wirklich gewissenhaft ist. Ach, ich werde ganz glücklich sein, da ich es jetzt weiß. Du kannst dir gar nicht denken, wie ihn das in meinen Augen hebt, daß er so gewissenhaft ist.«

Miss Dartle gab ihre Ansichten über jede Frage auf diese Weise zu verstehen und manchmal mit großem Nachdruck, auch wenn sie sich im Widerspruch mit Steerforth befand.

Ein Beispiel dieser Art kam noch während des Essens vor. Mrs. Steerforth sprach von meiner beabsichtigten Reise nach Suffolk, und ich sagte zufällig, wie sehr ich mich freuen würde, wenn ihr Sohn mit mir ginge.

Ich erzählte ihnen von meiner alten Kindsfrau und Mr. Peggottys Familie und erinnerte meinen Freund an den Schiffer, den er damals in der Schule gesehen hatte.

»Aha, der rauhe Bursche!« sagte Steerforth. »Er hatte einen Sohn mit, nicht?«

»Nein. Es war sein Neffe«, gab ich zur Antwort, »den er aber als Sohn adoptiert hat. Er hat auch eine sehr hübsche kleine Nichte als Tochter angenommen. Mit einem Wort, sein Haus oder vielmehr sein Boot, denn er wohnt in einem solchen, auf trocknem Land, ist voll von Leuten, die sein Edelmut und seine Güte erhält. Du wirst entzückt sein, diese Häuslichkeit zu sehen.«

»Meinst du«, sagte Steerforth. »Ja, wenn du glaubst. – Wir werden sehen, was sich tun läßt. Es wäre die Reise wert, – gar nicht zu reden von dem Vergnügen, mit dir zu reisen, Daisy, – einmal mitten unter Leuten dieses Schlages zu leben.«

Mein Herz schlug voll Hoffnung auf eine neue Freude. Sein Ton, mit dem er »von Leuten dieses Schlages« gesprochen hatte, veranlaßte jetzt Miss Dartle, deren glänzende Augen uns beobachtet hatten, einzufallen.

»O wirklich? Erzählen Sie. Sind sie wirklich –?«

»Was sollen sie sein, und wer soll was sein?« fragte Steerforth.

»Leute dieses Schlages – sind sie wirklich Stöcke und Klötze und Geschöpfe anderer Art? Darüber möchte ich belehrt sein.«

»Nun es ist ein ziemlich großer Unterschied zwischen ihnen und uns«, sagte Steerforth gleichgültig. »Man kann doch nicht erwarten, daß sie so feinfühlig sind wie wir. Ihr Zartgefühl ist nicht so leicht zu verletzen. Sie sind entsetzlich tugendhaft, glaube ich, wenigstens behaupten das viele Leute, und ich will dem nicht widersprechen. Aber sie sind keine feinen Naturen und können dankbar dafür sein, daß sie wegen ihrer Dickfelligkeit nicht so leicht verwundbar sind.«

»Wirklich?« sagte Miss Dartle. »Nun, ich muß gestehen, es freut mich sehr, so etwas zu hören. Es ist so tröstlich! Es ist eine wahre Wonne, zu wissen, daß sies nicht fühlen, wenn sie leiden. Manchmal habe ich mir ordentlich Kummer gemacht um diese Art Leute. Aber von jetzt an werde ich jeden Gedanken an sie fallenlassen. Man lebt, um zu lernen. Ich gestehe, ich hatte meine Zweifel. Aber jetzt sind sie behoben. Ich wußte es nicht, aber jetzt weiß ich es. Und das beweist, wie nützlich es ist, zu fragen, nicht wahr?«

Ich nahm an, Steerforth habe das, was er sagte, im Scherz gemeint oder um Miss Dartle aufzuziehen, und ich erwartete, er würde es mir sagen, als sie fort waren und wir beide allein am Kamin saßen. Aber er fragte mich bloß, was ich von ihr hielte.

»Sie ist sehr gescheit, nicht wahr?« fragte ich.

»Gescheit! Sie hält alles an einen Schleifstein«, sagte Steerforth »und macht es scharf, wie sie sich und ihr Gesicht seit Jahren scharf gemacht hat. Sie hat sich schon halb aufgebraucht durch beständiges Schärfen. Sie ist ganz Schneide.«

»Was für eine merkwürdige Narbe sie auf der Lippe hat«, sagte ich.

Steerforths Gesicht verfinsterte sich, und er schwieg einen Augenblick. »Hm«, sagte er dann, »an der bin eigentlich ich schuld.«

»Durch einen unglücklichen Zufall?«

»Nein. Ich war noch ein kleiner Junge, und sie brachte mich auf, und ich warf ihr einen Hammer ins Gesicht. Ein vielversprechender junger Engel muß ich gewesen sein.«

Es tat mir sehr leid, ein so peinliches Thema berührt zu haben, aber es ließ sich nicht mehr ändern.

»Sie hat die Narbe seit jener Zeit behalten, wie du siehst«, sagte Steerforth, »und wird sie mit sich ins Grab nehmen, wenn sie je in einem ruht. Ich kann kaum glauben, daß sie überhaupt jemals Ruhe finden wird. Sie war das mutterlose Kind eines Vetters meines Vaters. Als meine Mutter Witwe geworden war, nahm sie sie als Gesellschafterin zu sich. Sie hat ein paar tausend Pfund eigenes Vermögen und legt die Zinsen alljährlich auf das Kapital. Da hast du die Geschichte von Miss Rosa Dartle.«

»Sie liebt dich gewiß wie einen Bruder?« fragte ich.

»Hm«, entgegnete Steerforth und sah ins Feuer. »Manche Brüder werden nicht allzu sehr geliebt und manche lieben – aber schenk dir ein, Copperfield. Wir wollen auf die Gänseblümchen im Tale trinken, dir zu Ehren, – und auf die Lilien auf dem Felde, die nicht säen und nicht ernten, mir zu Ehren und zur Schande.« Das trübe Lächeln, das auf seinem Gesicht gelegen, verschwand, als er diese Worte fröhlich sagte, und er war wieder ganz der alte, offene, gewinnende Steerforth.

Ich mußte mit peinlichem Interesse nochmals die Narbe betrachten, als wir beim Tee saßen. Ich bemerkte bald, daß es der empfindlichste Fleck des Gesichtes der Dame war; daß er sich zuerst veränderte, wenn sie die Farbe wechselte, und in seiner ganzen Länge einen bleifarbigen Streifen darstellte, der wie ein Zeichen mit sympathetischer Tinte geschrieben, wenn man es ans Feuer hält, aussah.

Es entstand ein kleiner Streit zwischen ihr und Steerforth beim Pochbrettspiel. Sie war einen Augenblick ganz wütend, und da wurde der Streif sichtbar wie die Schrift an der Mauer des Königs Belsazar.

Ich wunderte mich natürlich nicht, daß Mrs. Steerforth große Stücke auf ihren Sohn hielt. Sie zeigte mir sein Bild als kleines Kind in einem Medaillon mit einer abgeschnittenen Locke, sie zeigte mir sein Bild aus der Zeit, in der ich ihn zuerst kennengelernt, und trug ihn, wie er jetzt war, auf der Brust. Alle seine Briefe, die er ihr je geschrieben, hatten ihr eignes Schränkchen am Kamin, und sie würde mir gewiß einige zu meiner Freude vorgelesen haben, wenn er sie nicht durch gute Worte von ihrem Vorhaben abgebracht hätte.

»Mein Sohn erzählte mir, Sie wären bei Mr. Creakle mit ihm bekannt geworden«, sagte Mrs. Steerforth, als wir uns beide an einem Tisch unterhielten, während James und Miss Dartle an einem andern ihr Pochbrett spielten. »Ich kann mich noch aus jener Zeit erinnern, daß er mir von einem jungen Schüler erzählte, an dem er Gefallen gefunden hatte, aber wie Sie sich wohl denken können, ist mir Ihr Name entfallen.«

»Er benahm sich damals sehr hochherzig und edel gegen mich, Ma’am«, sagte ich, »und ich hatte einen solchen Freund sehr nötig. Ich wäre ohne ihn zugrunde gegangen.«

»Er ist immer hochherzig und edel«, sagte Mrs. Steerforth mit Stolz.

Ich stimmte mit vollem Herzen ein, Gott weiß es. Sie fühlte das, denn die Steifheit ihres Wesens fing an, etwas nachzulassen, außer wenn sie lobend von ihrem Sohn sprach, wobei sie stets eine stolze Miene aufsetzte.

»Es war eigentlich keine passende Schule für meinen Sohn«, fuhr sie fort. »Durchaus nicht; aber es kamen damals bei der Wahl besondere Umstände in Betracht. Meines Sohnes Feuergeist machte es notwendig, daß er mit einem Mann zusammenkam, der seine Überlegenheit fühlte und sich vor ihm beugte. Und wir fanden dort einen solchen Mann.«

Ich wußte das, da ich den Burschen kannte. Und dennoch verachtete ich ihn deshalb nicht noch mehr, sondern hielt es eher für nen Zug, der manches wiedergutmachte. Überhaupt schien es mir ein Milderungsgrund für Creakle zu sein, daß er einem so unwiderstehlichen Menschen, wie Steerforth war, nicht hatte standhalten können.

»Die großen Fähigkeiten meines Sohnes«, fuhr Mrs. Steerforth in ihrem mütterlichen Stolz fort, »wurden von freiwilligem Wetteifer und selbstbewußtem Stolz angestachelt. Er würde sich gegen jeden Zwang empört haben, aber da er dort der Herr war, war er fest entschlossen, sich seiner Stellung würdig zu erweisen. Das sah ihm ganz ähnlich.«

Ich stimmte aus vollstem Herzen bei.

»So wählte mein Sohn aus eignem freien Willen ohne Zwang den Weg, auf dem er immer, wenn er will, jeden Mitbewerber überholen kann. Mein Sohn sagte mir, Mr. Copperfield, daß Sie ihn förmlich verehrt haben und ihn gestern, als Sie ihn trafen, mit Freudentränen im Auge anredeten. Es würde affektiert aussehen, wenn ich mich überrascht stellen sollte, daß mein Sohn solche Gemütsbewegungen hervorzurufen imstande ist. Aber ich kann gegen eine Person, die seine Verdienste so tief fühlt, nicht gleichgültig sein, und ich kann Ihnen nur versichern, daß auch er für Sie Gefühle ungewöhnlicher Freundschaft hegt, und daß Sie sich auf seinen Schutz verlassen können.«

Miss Dartle spielte genau so eifrig, wie sie alles andere tat. Aber ich müßte sehr irren, wenn sie auch nur ein Wort von unserm Gespräch verloren hätte.

Als der Abend ziemlich weit vorgerückt war, und Gläser und Flaschen hereingebracht wurden, versprach mir Steerforth, am Kamin sitzend, daß er allen Ernstes an die Reise nach Yarmouth denken wolle. Es habe weiter keine Eile damit, sagte er. In einer Woche sei auch noch Zeit genug, und seine Mutter wiederholte gastfreundlich dasselbe. Während des Gesprächs nannte er mich mehr als einmal »Daisy«, was Miss Dartle wieder anregte.

»Ist das nicht, Mr. Copperfield, ein Spitzname? Und warum nennt er Sie so? Vielleicht – vielleicht, weil er Sie für jung und unschuldig hält? Ich bin so dumm in solchen Dingen.«

Ich wurde rot, als ich antwortete, daß es nur deswegen sei.

»O«, sagte Miss Dartle, »wie freue ich mich, daß ich es weiß. Ich frage, um aufgeklärt zu werden, und bin froh, es zu wissen. Also er denkt, Sie sind jung und unschuldig! Sie sind also sein Freund. Ach, das ist ja entzückend!«

Sie ging bald darauf zu Bett und Mrs. Steerforth ebenfalls.

Nachdem Steerforth und ich noch eine halbe Stunde am Feuer gesessen und von Traddles und all den übrigen aus der alten Zeit geplaudert hatten, gingen wir zusammen hinauf. Steerforths Zimmer stieß an das meinige, und ich warf einen Blick hinein. Es war ein wahres Muster von Komfort, voller Lehnstühle, Kissen und Fußschemel, von seiner Mutter gestickt, und ausgestattet mit allem, was man nur wünschen konnte.

Mrs. Steerforths hübsches Gesicht sah von der Wand herab auf ihren Liebling, als wenn es ihr noch ein Genuß wäre, zu wissen, daß ihr Bildnis ihn während des Schlummers überwachen konnte.

Ein helles Feuer brannte in meinem Zimmer, und die weißen Gardinen an meinem Fenster und Bett gaben dem Raum ein sehr sauberes Aussehen. Ich nahm in einem großen Lehnstuhl vor dem Kamine Platz, um über mein Glück nachzudenken, und hatte mich eine Zeitlang in diesen Genuß versenkt, als ich bemerkte, daß ein Porträt Miss Dartles mit forschendem Blick vom Kaminsims auf mich herabsah.

Das Bildnis war erschreckend ähnlich. Der Maler hatte die Narbe weggelassen, aber ich ergänzte sie mir, und da sah ich sie bald hervortreten, bald verschwinden, jetzt nur auf der Oberlippe, dann wieder in ganzer Länge dunkelfarbig erscheinend.

Es berührte mich unangenehm, daß Miss Dartles Bild grade in meiner Stube untergebracht war.

Um den Anblick loszuwerden, entkleidete ich mich rasch, blies das Licht aus und ging zu Bett. Aber noch vor dem Einschlafen mußte ich immer darüber nachdenken, ob sie mich nicht forschend ansehe: »Ists wirklich so? Ich möchte das wissen –«

Und wenn ich in der Nacht aufwachte, da kam mir zum Bewußtsein, daß ich im Traum allerlei Leute gefragt hatte, ob es wirklich so sei oder nicht, – ohne zu wissen, was ich eigentlich meinte.

21. Kapitel Die kleine Emly


21. Kapitel Die kleine Emly

In dem Hause von Steerforths Mutter befand sich ein Diener, der gewöhnlich zur Verfügung des jungen Herrn zu stehen hatte und von ihm auf der Universität aufgenommen worden war.

Dem Äußern nach war er ein Muster von Respektabilität. Ich glaube nicht, daß es in solcher Stellung einen respektabler aussehenden Mann geben konnte. Er trat leise auf, war äußerst still in seinem ganzen Wesen, ehrerbietig, aufmerksam, immer zur Hand, wenn er gebraucht wurde, und nie zu sehen, wenn man ihn nicht brauchte. Aber seine hervorstechendste Eigenschaft war, wie gesagt, seine Respektabilität.

Er hatte ein unbewegliches Gesicht, einen etwas steifen Nacken, einen runden, glatten Kopf mit kurzem an den Schläfen dicht anliegendem Haar, eine milde Sprechweise und eine eigentümliche Art, den Buchstaben S so deutlich zu lispeln, daß er ihn öfter als jeder andere Mensch zu gebrauchen schien. Aber auch diese Eigentümlichkeit trug nur zu seiner Respektabilität bei.

Selbst wenn seine Nase umgekehrt im Gesicht gestanden hätte, würde ihn dies wahrscheinlich noch respektabler gemacht haben. Er umgab sich mit einer Atmosphäre von Respektabilität und wandelte mit Sicherheit in ihr einher.

So durch und durch respektabel war er, daß ihn wegen irgend etwas im Verdacht zu haben, für jedermann von vornherein ausgeschlossen schien. So respektabel war er, daß sich niemand unterstanden hätte, ihm eine Livree zuzumuten, noch viel weniger eine niedrige Arbeit. Und dessen waren sich die weiblichen Dienstboten des Hauses so sehr bewußt, daß sie sich solcher Arbeit stets aus freien Stücken unterzogen und das meistens, während er am Herdfeuer die Zeitung las.

Ich sah nie einen gesetzteren, zurückhaltenderen Menschen als ihn. Aber auch durch diese Eigenschaft erschien er noch respektabler. Sogar der Umstand, daß niemand seinen Taufnamen wußte, schien zur Hebung seiner Respektabilität beizutragen. Niemand hatte etwas einzuwenden, daß man ihn mit seinem Familiennamen Littimer rief. Ein Peter konnte gehenkt oder ein Tom deportiert werden, aber Littimer war höchst respektabel.

Ich glaube, die fast ehrwürdige Art seiner nahezu abstrakten Respektabilität war schuld, daß ich mir in seiner Gegenwart ganz besonders jung vorkam.

Wie alt er sein mochte, konnte ich nicht erraten. Und das kam ihm schon wieder zugute. Nach seiner Ruhe und Respektabilität zu schließen, konnte er ebensogut fünfzig wie dreißig Jahre sein.

Littimer brachte mir, ehe ich aufstand, das gewisse, auf mich wie ein Vorwurf wirkende Rasierwasser und meine Kleider. Als ich die Vorhänge zurückzog, um aus dem Bett zu schauen, sah ich ihn in einer gleichmäßigen Respektabilitätstemperatur, ungerührt von dem winterlichen Ostwinde draußen und in keiner Hinsicht fröstlig, meine Stiefel in die erste Tanzposition stellen und Stäubchen von meinem Rock blasen, den er so zärtlich, als wäre es ein Wickelkind, hinlegte.

Ich wünschte ihm guten Morgen und fragte ihn, wie spät es sei. Er zog eine höchst respektable Jagduhr heraus, ließ den Deckel nur halb aufspringen, spähte hinein, als ob er eine orakelfähige Auster zu Rate zöge, und sagte: »Wenn es beliebt, es ist halb neun. Mr. Steerforth wird sich freuen, zu hören, wie Sie geruht haben, Sir.«

»Ich danke«, antwortete ich, »vortrefflich. Befindet sich Mr. Steerforth wohl?«

»Ich danke Ihnen, Sir. Mr. Steerforth befindet sich recht wohl.« Es war wieder eine von Littimers Eigenheiten, daß er nie von Superlativen Gebrauch machte. Immer der kühle, ruhige Mittelweg.

»Habe ich die Ehre, sonst noch etwas für Sie zu tun, Sir? Die Frühstücksglocke wird um neun Uhr läuten. Die Familie frühstückt um halb zehn.«

»Nichts sonst. Ich danke Ihnen.«

»Ich danke Ihnen, wenn Sie erlauben«, erwiderte Littimer; und mit diesen Worten und mit einer leichten Verbeugung, wie wenn er für seine Berichtigung um Verzeihung bitten wollte, ging er hinaus und schloß die Türe so zart, als ob ich eben in einen süßen Schlummer, von dem mein Leben abhing, gesunken wäre.

Jeden Morgen fand ein Gespräch dieser Art zwischen uns statt, niemals länger und niemals kürzer. So hoch ich mich infolge von Steerforths Gesellschaft, Mrs. Steerforths Vertrauen oder meiner Unterhaltung mit Miss Dartle dem Alter entgegengereift wähnte, vor diesem so respektablen Mann wurde ich jedesmal wieder zum Kinde.

Er besorgte Pferde für uns, und Steerforth, der alles konnte, gab mir Reitstunden. Er besorgte uns Florette, und Steerforth unterrichtete mich im Fechten – Handschuhe, und ich nahm Boxstunden. Es verletzte mich nicht, vor Steerforth als Neuling in allen diesen Künsten zu erscheinen, aber unerträglich war es mir, meinen Mangel an Geschicklichkeit vor dem so respektablen Littimer sehen zu lassen. Ich hatte gar keinen Grund, zu glauben, daß er selbst von allen diesen Dingen etwas verstünde. Nicht durch das geringste Zucken auch nur eines seiner respektablen Augenlider ließ er so etwas ahnen. Aber wenn er nur bei unseren Übungen anwesend war, kam ich mir schon als der grünste und unerfahrenste aller Sterblichen vor.

Die Woche verstrich in der angenehmsten Weise. Ich lernte Steerforth noch besser kennen und aus tausend Gründen noch mehr bewundern. Seine ungenierte Weise, mich wie ein Spielzeug zu behandeln, war mir lieber als jedes andere Benehmen, das er mir hätte zeigen können. Es erinnerte mich an die Zeit unserer frühern Bekanntschaft, erschien mir als eine natürliche Folge derselben, zeigte mir, daß er noch ganz der alte war, und befreite mich von jedem unangenehmen Gefühl, das ein Nebeneinanderstellen seiner und meiner Eigenschaften hätte verursachen können. Vor allem aber war es seine vertrauliche, ungezwungene und herzliche Art, weil er sie gegen niemand sonst zur Schau trug, die mich annehmen ließ, er behandle mich, wie schon damals in der Schule, auch jetzt im Leben anders als irgendeinen seiner Freunde. Ich glaubte seinem Herzen näherzustehen als alle andern und glühte vor Liebe zu ihm.

Er entschloß sich, mit mir auf das Land zu gehen, und der Tag unserer Abreise kam heran. Anfangs schwankte er, ob er Littimer mitnehmen solle oder nicht, entschied sich aber dann, ihn zu Hause zu lassen.

Der respektable Mann war selbstverständlich zufrieden und befestigte unsere Manteltaschen auf dem kleinen Wagen, der uns nach London bringen sollte, so sorgfältig, als müßten sie dem Sturm von Jahrhunderten trotzen, und nahm meine bescheiden hingehaltene Gabe mit unerschütterlicher Miene entgegen.

Wir sagten Mrs. Steerforth und Miss Dartle Adieu unter vielen Danksagungen meinerseits und vielen Freundschaftsbezeigungen von Seiten Steerforths zärtlicher Mutter. Das letzte, was ich sah, war Littimers unbewegtes Auge. Es war voll der Überzeugung, wie ich mir einbildete, daß ich wirklich sehr jung sei.

Meine Empfindungen bei einer so glücklichen Rückkehr zu der alten trauten Umgebung will ich nicht zu beschreiben versuchen. Von London aus nahmen wir die Post. So sehr lag mir die Ehre von Yarmouth am Herzen, daß ich sehr erfreut war, als Steerforth während der Fahrt durch die dunklen Gassen nach dem Gasthof sagte, es sei ein gutes, verrücktes, abgelegenes Loch.

Wir begaben uns gleich nach der Ankunft zu Bett (ich bemerkte ein paar schmutzige Schuhe und Gamaschen, die meinem alten Freund, dem »Delphin« gehörten) und frühstückten spät am Morgen. Steerforth, der sehr gut aufgelegt war, hatte schon vorher einen Spaziergang am Strande gemacht und, wie er sagte, bereits die Hälfte der Fischer kennengelernt. Er hätte bestimmt, wie er sagte, in der Ferne Mr. Peggottys Haus mit dem rauchenden Ofenrohr gesehen und große Lust gefühlt, hinzugehen, die Tür zu öffnen und sich in meinem Namen vorzustellen.

»Wann willst du mich dort einführen, Daisy?« fragte er. »Ich stehe ganz zu deiner Verfügung. Arrangiere du.«

»Nun, Steerforth, ich denke, heute abend wäre die beste Zeit. Da sitzen sie alle um das Feuer. Ich möchte, daß du sie siehst, wenn es gerade am gemütlichsten ist.«

»Also gut, heute abend.«

»Ich werde ihnen natürlich nichts von unserm Hiersein sagen lassen. Wir müssen sie überraschen!«

»Natürlich«, sagte Steerforth. »Es wäre sonst kein Spaß dabei. Wir müssen die Eingeborenen in ihrem Naturzustand sehen.«

»Obgleich sie – ein ›gewisser Schlag Leute sind‹, wie du einmal sagtest«, bemerkte ich.

»Aha. Du erinnerst dich also an mein Geplänkel mit Rosa«, sagte er mit einem raschen Blick. »Verdammtes Frauenzimmer! Ich fürchte mich fast vor ihr. Sie verfolgt mich wie ein Kobold. Aber weg mit ihr! – Was gedenkst du jetzt zu tun? Wie ich vermute, willst du deine alte Kindsfrau besuchen.«

»Freilich wohl«, sagte ich, »Peggotty muß ich zuerst besuchen.«

»Gut«, antwortete Steerforth und sah auf die Uhr. »Genügt es dir, um dich auszuweinen, wenn ich dich ein paar Stunden allein lasse?«

Ich erwiderte lachend, ich glaubte bis dahin fertig sein zu können. Daß er aber auch kommen müßte, denn sein Ruhm sei ihm so voraus geeilt, daß er eine ebenso wichtige Person wäre wie ich.

»Ich werde kommen, wohin du willst, und alles Gewünschte vollbringen. Sage mir nur, wohin ich kommen soll, und in zwei Stunden werde ich mich in jedem gewünschten Zustand vorstellen, gleichgültig, ob sentimental oder humoristisch.«

Ich gab ihm genaueste Anweisungen, damit er die Wohnung Mr. Barkis‘ – »Fuhrmann nach Blunderstone und andern Orten« – auffinden könne, und ging dann allein aus.

Die Luft war scharf, die Erde trocken, die See gekräuselt und klar, die Sonne verbreitete reiches Licht, wenn auch wenig Wärme, und alles erschien munter und frisch. Ich selbst fühlte mich in meiner Freude, hier zu sein, so glücklich, daß ich am liebsten die Leute auf der Straße angehalten und ihnen die Hände geschüttelt hätte.

Die Straßen kamen mir natürlich eng und klein vor, wie es immer der Fall ist, wenn man in reiferem Alter die Umgebung der Kinderjahre wiedersieht. Aber ich hatte keinen Fleck vergessen und fand nichts verändert, bis ich an Mr. Omers Laden kam. Omer & Joram stand, wo früher bloß Omer gestanden hatte, aber die Inschrift: »Tuchhändler, Schneider, Mützenmacher, Leichenbesorger usw.« war geblieben.

Im Hintergrund des Ladens erblickte ich eine hübsche Frau, die ein kleines Kind in ihren Armen schaukelte, während sich ein zweites, etwas größeres, an ihre Schürze klammerte. Unschwer erkannte ich in ihnen Minnie und deren Kinder. Die Glastür des Hinterzimmers stand nicht offen, aber aus dem Arbeitsschuppen klang in gedämpften Tönen die alte Weise, als ob sie nie aufgehört hätte.

»Ist Mr. Omer zu Hause?« fragte ich eintretend. »Ich möchte ihn gern einen Augenblick sehen.«

»O ja, Sir, er ist zu Hause«, sagte Minnie. »Bei solchem Wetter erlaubt ihm sein Asthma nicht auszugehen. Joe, ruf den Großvater.«

Der kleine Kerl an der Schürze stieß einen so lauten Ruf aus, daß er selbst sofort darüber ganz bestürzt war und sein Gesicht in den Kleidern der Mutter versteckte. Dann hörte ich ein Keuchen und Husten näher kommen, und bald darauf stand Mr. Omer, noch kurzatmiger als ehemals, aber nicht viel älter aussehend, vor mir. »Diener, Sir«, sagte Mr. Omer, »womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«

»Sie können mir die Hand schütteln, Mr. Omer«, sagte ich und streckte die meinige aus. »Sie waren einmal sehr freundlich zu mir, und ich glaube nicht, daß ich damals meine Erkenntlichkeit gebührend an den Tag legte.«

»So. War ich das?« fragte der Alte. »Freut mich, es zu hören, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Wissen Sie auch gewiß, daß ich es war?«

»Ganz gewiß.«

»Ich glaube, mein Gedächtnis ist so kurz geworden wie mein Atem«, sagte Mr. Omer und sah mich kopfschüttelnd an. »Ich kann mich Ihrer nicht erinnern.«

»Wissen Sie nicht mehr, wie Sie auf meine Ankunft in der Postkutsche warteten? Wie ich dann hier frühstückte und wir zusammen nach Blunderstone hinüberfuhren? Sie und ich und Mrs. Joram und auch Mr. Joram, die damals noch nicht verheiratet waren!«

»Gott im Himmel!« rief Mr. Omer nach einem Hustenanfall überrascht. »Was Sie sagen! Minnie, mein Kind, erinnerst du dich? Lieber Himmel, ja. Es war eine Dame damals, glaube ich?«

»Meine Mutter«, bestätigte ich.

»O gewiß«, sagte Mr. Omer und tupfte mir mit dem Zeigefinger auf die Weste, »und ein kleines Kind war auch dabei. Sie wurden miteinander begraben. Drüben in Blunderstone, ganz recht. O Gott! Wie haben Sie sich seitdem immer befunden?«

»Sehr gut!« und ich sagte, ich hoffte dasselbe von ihm.

»Nun, ich kann mich nicht beklagen. Mein Atem wird kurz, aber daß er mit den Jahren nicht länger wird, ist begreiflich. Ich nehme es, wie es kommt und nehme es von der besten Seite. Das ist immer noch das Gescheiteste, nicht wahr?«

Er hustete wieder, weil er so hatte lachen müssen, und seine Tochter, die dicht neben ihm stand, stützte ihn und ließ ihr Kleinstes auf dem Ladentisch strampeln.

»Mein Gott! Freilich ja«, fuhr Mr. Omer fort. »Zwei auf einmal. Damals auf der Fahrt wurde der Hochzeitstag für meine Minnie festgesetzt. Bestimmen Sie den Tag, Mr. Omer, sagte Joram damals zu mir, und Minnie redete mir auch zu. Und jetzt ist er mit im Geschäft. Sehen Sie mal her: das Jüngste!«

Minnie lachte und strich sich das Haar an den Schläfen glatt, während ihr Vater dem strampelnden Kind einen seiner fetten Finger hinhielt.

»Zwei auf einmal, natürlich!« und er nickte gedankenvoll. »Ganz richtig. Und Joram arbeitet grade heute wieder an einem grauen mit Silbernägeln; ungefähr diese Größe«, und er deutete auf das strampelnde Kind auf dem Ladentisch.

»Aber wollen Sie nicht etwas genießen?«

Ich lehnte dankend ab.

»Warten Sie mal«, sagte Mr. Omer. »Barkis, dem Fuhrmann seine Frau, die Peggotty, hat sie nicht was mit Ihrer Familie zu tun? Sie stand doch bei Ihnen in Diensten, nicht?«

Ich bejahte, was ihn sehr befriedigte.

»Ich glaube wahrhaftig, mein Atem wird nächstens besser, da mein Gedächtnis sich so erholt! Denken Sie sich, Sir, wir haben hier bei uns in der Lehre eine junge Verwandte von ihr, die einen so feinen Geschmack in der Putzmacherei entwickelt, daß es eine Herzogin nicht mit ihr aufnehmen kann.«

»Doch nicht die kleine Emly?« fuhr es mir heraus.

»Emily heißt sie«, sagte Mr. Omer, »und klein ist sie auch. Aber ich sage Ihnen, eine Larve hat sie, daß die Hälfte der Frauenzimmer in Yarmouth wütend ist.«

»Dummes Zeug, Vater!« rief Minnie.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Omer, »ich meine doch nicht dich«, – er zwinkerte mir zu – »ich meine bloß eine Hälfte der Frauenzimmer von Yarmouth und fünf Meilen im Umkreis.«

»Sie hätte eben nicht großtun sollen, Vater«, sagte Minnie »und den Leuten keinen Anlaß geben, von ihr zu reden, dann hätten sie es nicht tun können.«

»Hätten es nicht tun können! Ist das deine Lebenserfahrung? Was könnte ein Frauenzimmer nicht tun, – besonders wenn es sich um das hübsche Gesicht einer andern handelt!«

Ich dachte schon, Mr. Omers letzte Stunde sei gekommen. Er hustete so stark und konnte so wenig Luft kriegen, daß ich jeden Augenblick erwartete, seinen Kopf hinter dem Ladentisch verschwinden und seine kleinen schwarzen Beine mit den Schleifen am Knie im Todeskampf emporzappeln zu sehen. Endlich erholte er sich wieder, mußte sich aber erschöpft niedersetzen.

»Sehen Sie«, fing er atemlos wieder an und trocknete sich die Glatze ab. »Emly hat sich hier weder an Bekannte noch Freunde angeschlossen, geschweige denn sich einen Liebsten angeschafft. Natürlich heißt es gleich, sie wolle die vornehme Dame spielen. Bloß weil sie manchmal in der Schule gesagt hatte, wenn sie eine vornehme Dame sei, wolle sie ihrem Onkel das oder jenes kaufen.«

»Das hat sie mir tausendmal gesagt, als wir noch Kinder waren«, bestätigte ich eifrig.

Mr. Omer nickte und rieb sich das Kinn. »Ganz recht! Dann verstand sie, sich mit sehr geringen Mitteln viel besser zu kleiden als andere sich mit großem Aufwand, und das machte die Sache ganz schlimm. Übrigens war sie ja ein wenig, was man eigensinnig nennen könnte. Hatte sich vielleicht nicht so ganz im Zaum, war ein bißchen verzogen und konnte am Anfang nicht recht still sitzen. Mehr kann man doch nicht gegen sie sagen, Minnie!«

»Nein, Vater«, bestätigte Mrs. Joram, »Schlimmeres gewiß nicht.«

»Als sie daher eine Stellung bekam und einer alten verdrießlichen Dame Gesellschaft leisten sollte, vertrug sie sich nicht mit ihr und blieb nicht. Schließlich kam sie zu uns auf drei Jahre in die Lehre. Zwei davon sind fast vorbei, und wir haben noch kein so gutes Mädchen gehabt. Sie wiegt sechs andere auf. Wiegt sie nicht sechs andere auf, Minnie?«

»Ja, Vater«, entgegnete Minnie, »ich sage ihr doch nichts Unrechtes nach.«

»Sehr gut«, sagte Mr. Omer, »so lasse ich mirs gefallen.«

»Und jetzt, junger Herr«, setzte er hinzu, nachdem er sich noch ein Weilchen das Kinn gerieben hatte, »damit Sie mich nicht für ebenso langatmig wie kurzatmig halten, rede ich weiter nichts mehr.«

Da das ganze Gespräch in leisem Ton geführt worden war, bezweifelte ich nicht, daß Emly in der Nähe sei. Auf meine Frage nickte Mr. Omer bejahend und deutete nach der Tür des Hinterstübchens. Man hatte nichts dagegen einzuwenden, daß ich einen Blick hineinwerfen zu dürfen bat, und so sah ich denn Emly durch die Glasscheibe bei ihrer Arbeit sitzen.

Sie war ein wunderliebes niedliches Geschöpf geworden, die klaren, blauen Augen, die einst so tief in mein Kinderherz geblickt hatten, jetzt lachend einem von Minnies Kleinen zugewandt, das in ihrer Nähe spielte. Es lag genug von dem alten Mutwillen in ihnen, um begreiflich erscheinen zu lassen, was ich eben gehört hatte. Aber nichts, was nicht von Güte und Glück sprach und auf ebensolche Lebensführung hinwies.

Die Weise vom Hof drüben, die nie aufgehört zu haben schien, – es war wohl eine Weise, die nie aufhört – hämmerte leise die ganze Zeit hindurch.

»Wollen Sie nicht hineingehen und mit ihr sprechen?« fragte Mr. Omer. »Tun Sies doch, Sir! Tun Sie doch, als ob Sie zu Hause wären.«

Ich war zu befangen dazu und fürchtete, Emly und mich in Verlegenheit zu bringen. Aber ich erkundigte mich nach der Stunde ihres Fortgehens, um die Besuchszeit bei ihren Verwandten danach einrichten zu können, und nahm Abschied von Mr. Omer, seiner hübschen Tochter und ihren kleinen Kindern. Dann machte ich mich auf den Weg zu meiner guten, alten Peggotty. –

In der mit Ziegelstein gepflasterten Küche stand sie und kochte das Mittagessen. Auf mein Klopfen hatte sie mir die Türe aufgemacht und fragte, was ich wünschte. Ich sah sie mit einem Lächeln an, aber ihre Miene blieb ganz verständnislos. Wohl hatte ich nie aufgehört, ihr zu schreiben, aber es waren fast sieben Jahre her, seit wir einander nicht gesehen.

»Ist Mr. Barkis zu Hause, Ma’am?« fragte ich mit verstellter lauter Stimme.

»Er ist zu Hause, Sir«, antwortete Peggotty, »aber er liegt an der Gicht.«

»Fährt er jetzt nicht nach Blunderstone?«

»Nur wenn er gesund ist.«

»Fahren Sie manchmal hinüber, Mrs. Barkis?«

Sie sah mich aufmerksamer an, und ich bemerkte, wie ihre Hände unruhig wurden.

»Weil ich mich dort nach einem Hause erkundigen möchte, das sie hm – wie heißt es nur – ›Krähenhorst‹ nennen.«

Sie trat einen Schritt zurück und streckte in ungewisser Angst die Hände aus, als wollte sie mich zurückhalten.

»Peggotty!« rief ich ihr zu.

Sie schrie auf. »Mein lieber, lieber Junge!« Wir brachen beide in Tränen aus und lagen uns in den Armen.

Peggotty wußte sich gar nicht zu fassen. Sie lachte und weinte abwechselnd vor Stolz und Freude. Wie sie jammerte, daß sie mich so lange nicht zärtlich ans Herz hatte schließen können, kann ich nicht übers Herz bringen zu erzählen. Nicht einen Augenblick quälte mich der Gedanke, es könnte kindisch aussehen, daß ich ihre Rührung teilte. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so gelacht und geweint, gern gestehe ich es ein, wie an diesem Morgen.

»Und Barkis wird sich freuen!« sagte sie und trocknete sich die Augen mit der Schürze, »es wird ihm mehr helfen als ganze Töpfe voll Salbe. Kann ich hinaufgehen und ihm sagen, daß du hier bist? Willst du nicht mit hinaufkommen und ihn besuchen, mein Liebling?«

Natürlich wollte ich. Aber Peggotty brauchte sehr lange, denn sooft sie die Türe erreichte und sich nach mir umsah, fiel sie mir immer wieder lachend und weinend um den Hals. Endlich, um die Sache abzukürzen, ging ich selbst hinauf mit ihr und trat, nachdem ich ein wenig draußen gewartet hatte, um ihr Zeit zu lassen, Mr. Barkis auf mein Kommen vorzubereiten, in das Krankenzimmer.

Mr. Barkis nahm mich mit sichtlichem Entzücken auf. Er war zu gichtisch, um mir auch nur die Hand reichen zu können, und bat mich, statt dessen die Trottel an seiner Zipfelmütze zu schütteln, was ich mit Herzlichkeit tat. Als ich an seinem Bette saß, sagte er, er fühle sich so wohl wie damals, als er mich mit der Kutsche nach Blunderstone gefahren hatte. Er sah höchst wunderlich aus so zugedeckt im Bett, daß man bloß sein Gesicht sehen konnte.

»Was für einen Namen schrieb ich damals im Wagen an, Sir?« fragte er mit einem leisen rheumatischen Lächeln.

»Ach, Mr. Barkis, wir hatten schon damals eine sehr wichtige Unterhaltung über diesen Punkt, nicht wahr?« sagte ich.

»Ich ›wollte‹ lange Zeit, Sir.«

»Ja, ja, lange Zeit.«

»Und ich bereue es nicht«, sagte er. »Erinnern Sie sich noch, wie Sie einmal erzählten, daß sie alle Apfeltorten machte und das Kochen besorgte?«

»O, recht gut.«

»Es war so wahr wie Kohlrübe«, sagte Mr. Barkis. »Es war so wahr«, und er schüttelte die Nachtmütze, was seine höchste Begeisterung ausdrückte, »wie die Steuern, und nichts ist so wahr wie die.«

Er wandte mir seine Augen zu, als ob er meine Zustimmung erwartete. Ich gab ihm recht.

»Nichts ist so wahr und wirklich wie die Steuern«, wiederholte er. »Wenn ein Mann, so arm wie ich, im Bett liegen muß, dann findet er das bald heraus. Ich bin ein sehr armer Mann, Sir!«

»Es tut mir leid, das zu hören, Mr. Barkis.«

»Ein sehr armer Mann, ja, das bin ich!«

Er brachte jetzt langsam seine Hand unter der Bettdecke hervor und tastete nach einem Stock, der neben dem Bette hing. Damit tappte er eine Weile unter das Bett, während sich sein Gesicht auf die seltsamste Weise verzog, bis er auf einen Koffer stieß, dessen eines Ende ich längst hervorstehen sehen hatte. Dann glätteten sich seine Züge wieder.

»Alte Kleider«, sagte er.

»So, so!«

»Ich wollte, es wäre Geld, Sir.«

»Ich wünschte es Ihnen auch«, gab ich zur Antwort.

»Aber es ist keins«, sagte Mr. Barkis und riß seine Augen, soweit er nur konnte, auf.

Ich versicherte ihm, daß ich dies vollkommen glaube, und er fuhr fort, indem er seine Frau mit freundlicheren Augen ansah:

»Sie ist die nützlichste und beste aller Frauen, C. P. Barkis! Alles Lob, das man C. P. Barkis nachsagen kann, verdient sie und noch mehr. Meine Liebe, du wirst heute für Gäste kochen. Was Gutes zu essen und zu trinken, was?«

Ich hätte gegen diesen unnötigen Ehrenbeweis Einwand erhoben, aber Peggotty machte ein so furchtbar ängstliches Gesicht und gab mir allerhand Zeichen, daß ich schwieg.

»Ich muß hier irgendwo ein bißchen Geld haben, meine Liebe«, sagte Mr. Barkis. »Ich bin recht müde jetzt. Wenn du mit Master David mich ein bißchen nicken lassen möchtest, will ich nachsehen, wenn ich aufwache.«

Wir verließen das Zimmer, wie er wünschte. Draußen erzählte mir Peggotty, daß er, jetzt noch ein bißchen knickeriger als früher, stets zu dieser List seine Zuflucht nähme, bevor er mit einem einzigen Geldstück aus seinem Schatz herausrücke. Er litte dabei unsägliche Schmerzen, weil er jedesmal ohne Beistand aus dem Bett kriechen müßte, um den unglückseligen Koffer aufzusperren.

Wirklich hörten wir ihn jetzt drinnen jämmerlich stöhnen, weil dieses einer Elster würdige Beginnen ihm sehr weh tat.

Peggottys Augen standen voll Tränen aus Mitleid für ihn, aber sie meinte, seine Freigebigkeit würde ihm nur gut tun, und man trete ihm am besten nicht entgegen. So stöhnte er weiter, bis er wieder im Bett lag, schmerzensreich wie ein Märtyrer, und uns dann hereinrief und vorgab, soeben von einem erquickenden Schlummer erwacht zu sein und eine Guinee unter dem Kopfkissen gefunden zu haben. Seine Befriedigung, uns so hinters Licht geführt und das undurchdringliche Geheimnis des Geldkoffers so glücklich vor uns bewahrt zu haben, schien ihn hinlänglich für die ausgestandnen Qualen zu entschädigen.

Ich bereitete Peggotty auf Steerforths Ankunft vor, die nicht lange auf sich warten ließ. Ich bin überzeugt, es war für meine alte Kindsfrau gleichbedeutend, ob er ihr Wohltäter oder mein Freund war; sie hätte ihn in beiden Fällen nicht mit größerer Dankbarkeit und Ergebenheit aufnehmen können. Seine heitere frische Laune, sein offnes Benehmen, sein liebenswürdiges Auge, seine Gabe, sich jeder Lage anzupassen, und wenn er wollte, jedes Herz zu erobern, gewann auch sie in weniger als fünf Minuten.

Schon sein Benehmen gegen mich würde ihr genügt haben. Er blieb mit mir zum Essen da – wenn ich sagte: bereitwillig, würde ich nur unvollkommen seine freudige Beistimmung ausdrücken. Er kam in Mr. Barkis Zimmer wie Luft und Licht und hellte es auf wie ein schöner Tag. Nicht die Spur Gezwungenes und Gewolltes lag in seinem Tun und Lassen. Alles an ihm war von unbeschreiblicher Leichtigkeit, so reizvoll, natürlich und angenehm, daß es noch heute in der Erinnerung einen überwältigenden Eindruck auf mich macht.

Wir verbrachten unsere Zeit fröhlich in dem kleinen Wohnzimmer, wo das Märtyrerbuch unberührt und aufgeschlagen wie damals auf dem Pulte lag, und ich betrachtete die schrecklichen Bilder. Als Peggotty von diesem Zimmer als von dem meinigen sprach, hatte ich kaum Zeit, Steerforth einen Blick zuzuwerfen, da hatte er schon die ganze Sachlage erfaßt. »Natürlich«, sagte er, »solange wir in Yarmouth bleiben, schläfst du hier und ich im Gasthaus.«

»Dich zu einer so langen Reise bewogen zu haben, um dich dann allein zu lassen, scheint mir wenig freundschaftlich zu sein, Steerforth«, wandte ich ein.

»Aber um Gotteswillen! Wohin gehörst du von Rechts wegen?« sagte er. »Was heißt das: ›es scheint‹?« Und damit war die Angelegenheit ein für allemal erledigt.

Er blieb unverändert liebenswürdig bis zum letzten Augenblick, wo wir uns – um acht Uhr – nach Mr. Peggottys Boot auf den Weg machten. Seine Eigenschaften traten, je später es wurde, immer glänzender hervor, und schon damals schien es mir, als ob sein Wunsch zu gefallen, ihn mit einer vermehrten Sinnesschärfte ausstattete und in seinem Bestreben noch unterstützte.

Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß alles das nichts als ein glanzvolles Spiel sei, nichts als flüchtiges Vergnügen und gedankenlose Lust, ein Übergewicht an den Tag zu legen in bloßer leichtsinniger Sucht etwas zu gewinnen, was ihm wertlos schien und in der nächsten Minute weggeworfen werden sollte, – wenn mir jemand an diesem Abend so etwas gesagt haben würde, ich weiß nicht, in welcher Weise ich meiner Entrüstung Luft gemacht hätte. Wahrscheinlich würde es mein romantisches Gefühl von Treue und Freundschaft, mit dem ich jetzt neben ihm herging, über die winterlich dunkeln Dünen nach dem alten Boot, während der Wind noch klagender um uns pfiff als an jenem Abend, wo ich zuerst über Mr. Peggottys Schwelle trat, nur noch verstärkt haben.

»Es ist eine wilde Gegend, Steerforth, nicht wahr?« begann ich.

»Unheimlich genug in der Finsternis«, sagte er. »Die See brüllt, als hungerte ihr nach uns –. Ist dort das Boot, wo das Licht schimmert?«

»Es ist das Boot«, sagte ich.

»Es ist dasselbe, das ich heute früh schon sah. Ich ging aus Instinkt direkt darauf los, glaube ich.«

Wir schwiegen, als wir uns dem Lichte näherten, und gingen leise auf die Türe zu. Ich legte meine Hand auf die Klinke, Steerforth zuflüsternd, sich dicht an mich zu halten. Dann trat ich ein.

Ein Stimmengemurmel war bis heraus gedrungen, und im Augenblick unseres Eintritts hörten wir noch ein Händeklatschen. Ich war sehr erstaunt, als ich sah, daß dieses Geräusch von der sonst so trostlosen Mrs. Gummidge stammte.

Aber Mrs. Gummidge war nicht die einzige Person, die heut so ungewöhnlich erregt schien. Mr. Peggotty, dessen Gesicht von ungewöhnlicher Befriedigung leuchtete, und der aus vollem Halse lachte, hatte seine sehnigen Arme weit geöffnet, um die kleine Emly darin aufzunehmen. Ham, mit einem Gemisch von Bewunderung, Entzücken und ungeschickter Befangenheit, die ihm sehr gut stand, hielt die Kleine an der Hand, wie wenn er sie Mr. Peggotty vorstellen wollte. Emly selbst, rot und verschämt, aber entzückt über Peggottys Freude, wie deutlich in ihren strahlenden Augen zu lesen war, hielt nur unser Eintritt ab (sie war die erste, die uns sah), sich an Mr. Peggottys Brust zu werfen. So stellte sich uns dieses Bild dar, als wir aus der dunklen kalten Nacht in die warme helle Stube traten, – mit Mrs. Gummidge im Hintergrund, die wie eine Verrückte in die Hände klatschte.

Das Bild löste sich bei unserm Eintritt so rasch auf, daß man an seinem frühern Vorhandensein hätte zweifeln können. Ich stand mitten unter der erstaunten Familie dicht vor Peggotty und hielt ihm die Hand hin. Da schrie Ham auf:

»Masr Davy. Es is Masr Davy.« Im nächsten Augenblick schüttelten wir uns die Hände, fragten einander, wie es uns ginge, beteuerten, wie froh wir wären, uns zu sehen, und sprachen alle durcheinander.

Mr. Peggotty war so stolz und überglücklich, daß er gar nicht reden konnte und mir in einem fort die Hand drückte, dann Steerforth und wieder mir. Dann wühlte er in seinem struppigen Haar und lachte so freudig und triumphierend, daß es eine Wonne war, ihn anzuschauen.

»Daß die beiden Genlmn, wirklich erwachsene Genlmn, grade heute abends kommen mußten!« sagte Mr. Peggotty, »so etwas ist ganz gewiß noch nicht in der Welt passiert. Emly, mein Liebling, komm her. Komm her, du kleine Hexe. Das ist Masr Davys Freund! Dat is der Herr, von dem du all hört hest, Emly! Er kommt und besucht dich mit Masr Davy an dem glücklichsten Abend, den dein Onkel jemals erlebt hat und erleben wird! Riemen platt und ein Hurra für ihn!«

Nachdem Mr. Peggotty alles das in einem Atem und mit außerordentlicher Lebhaftigkeit und Freude gesprochen, nahm er das Gesicht seiner Nichte zwischen seine beiden Hände, küßte es wohl ein dutzendmal, legte es mit einem Ausdruck von zärtlichem Stolz und Liebe an seine Brust und streichelte es so mild, als wäre seine Hand eine Damenhand. Dann ließ er sie wieder los, und während sie sich in mein früheres kleines Schlafzimmer flüchtete, sah er uns alle ganz erhitzt und atemlos mit ungewöhnlicher Befriedigung an.

»Wenn Sie beide Genlmn, jetzt erwachsene Genlmn und solche Genlmn –«, begann er.

»Dat sün sei – dat sün sei«, rief Ham dazwischen, »gut seggt. Dat sün sei, Masr Davy –, erwachsene Genlmn – dat sün sei!«

»– wenn Sie beide Genlmn –, erwachsene Genlmn«, sagte Mr. Peggotty, »mir auch vor übelnehmen, daß ich so unter vollen Segeln bin –, wenn Sie wüßten, – warum –, so muß ich Sie um Verzeihung bitten. Emly, lieber Schatz! – aha, sie merkt, daß ichs erzählen will«, – er hatte wieder einen Freudenausbruch – »und hat sich aus dem Staub gemacht. Willst du nicht so gut sein, nach ihr zu sehen, Mutting!«

Mrs. Gummidge nickte und verschwand.

»Wenn das nicht der schönste Abend meines Lebens ist«, sagte Mr. Peggotty und nahm bei uns vor dem Feuer Platz, »so will ich eine Krabbe sein und noch dazu eine gekochte, und mehr kann ich nicht sagen. Die kleine Emly da, Sir«, fügte er leise zu Steerforth hinzu, »die da so rot wird –.« Steerforth nickte nur, aber mit einem so liebenswürdigen Ausdruck von Anteilnahme, daß Mr. Peggotty es wie eine Antwort auffaßte.

»So ist es! Das ist sie und so ist sie. Schoin Dank, Sir.«

Ham nickte mir mehrere Male zu, als ob er mir dasselbe sagen wollte.

»Üns lütt Emly«, fuhr Mr. Peggotty fort, »ist in unser Huus wesen, was nur ein klein helläugiges Geschöpf in einem Haus sein kann. – Is nich mien Kind, hatte nie eins. Aber ich könnte sie nicht lieber haben. Sie verstehen! – Könnte nich.«

»Ich verstehe«, sagte Steerforth.

»Das weiß ich, Sir, und schoin Dank! Masr Davy weiß noch, was sie war. Sie selber können mit eignen Augen sehen, was sie jetzt ist. Aber keiner von Ihnen kann wissen, was sie meinem Herzen war, ist und noch sein wird. Ich bin rauh, Sir, rauh wie ein Seeigel, aber niemand, nur eine Frau vielleicht, kann wissen, was lütt Emly für mich ist. Und unter uns gesagt«, fügte er ganz leise hinzu, »die Frau, die das begriffe, ist nicht einmal Missis Gummidge, wenn sie auch bannich veel Verdienst hett.«

Er fuhr sich wieder mit beiden Händen durch die Haare und sprach weiter.

»Nun war da eine gewisse Person, die unsre Emly von der Zeit, als ihr Vater ertrank, kannte, und sie immer vor Augen gehabt hat. Als Baby, junge Deeren, als Weib. Nich von besonnern Ansehen, die Person. Etwa nach meiner Art. Rauh – n beeten Südwester sehr salzig – aber im ganzen ein ehrlichen Kerl, und das Herz am rechten Fleck.«

Ich glaube, ich habe Ham noch nie so fürchterlich grinsen sehen wie damals.

»Und was tut diese gesegnete Teerjacke nun?« fuhr Mr. Peggotty fort, und sein Gesicht strahlte wie ein Vollmond vor Wonne, »verliert sien Herz an üns lütt Emly. Läuft ihr Tach und Nacht im Kielwasser, macht sich zu ihren Sklaven, verliert sien ganz Takelage und gesteht mir die Havarie. Natürlich hätt ich gern gesehen, daß unsre kleine Emly sich gut verheiratet. Hätte bei jedem Wetter einen ehrenhaften Mann, der ein Recht hat, sie in Schutz zu nehmen, neben ihr gesehen. Weiß doch nicht, wie lang ich lebe, und wie bald ich sterben kann! Aber ich weiß, wenn ich einmal nachts draußen im Sturm kentern könnte und die Lichter der Stadt zum letztenmal glänzen sähe über den Brechern, gegen die man sich nicht halten kann, so würde ich ruhiger sinken bei dem Gedanken: dort am Ufer ist ein Mann, der fest wie Eisen zur kleinen Emly hält, die Gott segnen möge, – und kein Unheil kann ihr zustoßen, solang dieser Mann lebt.«

Mr. Peggotty schwenkte den Arm, als ob er im Ernst zum letzten Mal den Lichtern der Stadt zuwinken wollte, und fuhr dann fort, Ham zunickend:

»Also ich rate ihm, mit Emly zu sprechen. Er ist lang genug, aber blöder als ein kleiner Butt und will nicht. Red ich also mit ihr. ›Was? Ihn?‹ sagt Emly. ›Ihn, den ich so viele Jahre kenne und so gern habe? Ach, Onkel, kann ich doch nicht! Er ist so ein guter Junge.‹ Ich gebe ihr einen Kuß und sage: ›Liebes Kind, hast recht, dich offen auszusprechen, sollst nach deinem Sinn wählen und frei sein wie ein Vögelchen.‹ Dann geh ich zu ihm und sage: ›Wollte, es wäre so gewesen, aber es geht nicht. Aber ihr sollt bleiben, wie ihr wart. Und wat ick di segg, is: bliew wie früher mit ihr und bliew een Mann.‹ Und er sagt zu mir und schüttelt mir die Hand: ›Will ich‹, sagt er! Und hett dat dohn ehrlich und männlich zwei Jahre lang und wir waren zuhaus unter uns wie vordem.«

Mr. Peggottys Gesicht, dessen Ausdruck sich gemäß den verschiedenen Stadien seiner Erzählung lebhaft verändert hatte, leuchtete jetzt wieder ganz in dem früheren triumphierenden Entzücken auf, wie er eine Hand auf mein und die andere auf Steerforths Knie legte und folgende Rede zwischen uns teilte:

»Op eenmal hüt awend kommt lütt Emly von die Arbeit tohus und er mit ihr. Nicht viel Besondres bei, werden Sie sagen. Nein, is auch nich, weil er sie unter seine Obhut nimmt wie ein Bruder, by Dunkelweren und vor Dunkelweren und zu jeder Zeit. Aber diese Teerjacke nimmt mit eins ihre Hand und ruft mir ganz freudig zu: ›Dat soll mien lütt Fru weren‹; und sie sagt, halb keck, halb scheu und lachend und weinend zu mir: ›Ja, Onkel, wenn du erlaubst!‹ – Wenn ich erlaube!« schrie Mr. Peggotty mit einemmal auf und wackelte mit dem Kopf vor Freude bei dem bloßen Gedanken: »Herr, als ob ich etwas anderes tun könnte! – ›wenn du erlaubst, ich bin jetzt gesetzter und hab mirs noch einmal überlegt und will ihm eine so gute kleine Frau sein, wie mir nur möglich ist, denn er ist ein lieber, guter Mensch.‹ Und dann klatscht Missis Gummidge in die Hände wie im Theater, – und Sie beide Genlmn traten herein. So, jetzt ists draußen! Sie beide kommen also herein. Jetzt diese Stunde ists vorgefallen, und da steht der Mann, der sie heiraten wird, wenn sie aus der Lehre ist.«

Ham wankte, wie wohl begreiflich, unter dem Schlag, den ihm Mr. Peggotty in seiner unbegrenzten Freude jetzt als ein Zeichen des Vertrauens und der Freundschaft auf die Achsel gab.

Da er sich gedrungen fühlte, ebenfalls etwas zu sagen, sprach er unter vielem Stottern:

»Sie war nicht größer als Sie, Masr Davy, als Sie zuerst kamen – als ich schon dachte: wie schön sie heranwächst! Wuchs heran wie eine Blume! Ick giw mien Leben her – Masr Davy – und mit Freuden. Sie is mich mehr – als – sie is mich allens, was ich jemals brauchen kann – mehr als ick to seggen vermöchte. Ick – ich liebe sie wahr und wahramstig. Kein Genlmn auf den Land und op de See – kann sien Liewste mehr lieben als ich sie, wenn schon mancher gemeine Mann – besser sagen würde – was er meint.«

Mir kam es rührend vor, einen so handfesten Burschen wie Ham unter der Stärke seines Gefühls für das hübsche kleine Geschöpf, das sein Herz gewonnen hatte, ordentlich zittern zu sehen. Das schlichte Vertrauen, das Peggotty und er uns schenkten, rührte mich. Mich rührte überhaupt die ganze Geschichte.

Wie ich an meine Erinnerungen aus der Kindheit denken mußte, weiß ich nicht mehr. Ob noch eine leise Spur von Liebe zur kleinen Emly in mir lebte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß mich alles, was ich sah, mit Freude erfüllte. Anfangs mit einer Freude, so empfindsam, daß ein klein wenig mehr sie schon zum Schmerz gemacht hätte.

Hätte ich den richtigen Ton anschlagen müssen, würde es mir kaum gelungen sein. Aber diese Rolle fiel Steerforth zu, und er führte sie mit solchem Geschick durch, daß wir uns in wenigen Minuten so ungeniert und wohl fühlten, wie nur möglich.

»Mr. Peggotty«, sagte er, »Sie sind durch und durch ein guter Kerl und verdienen so glücklich zu sein, wie Sies heute abend sind! Meine Hand darauf! – Ham, mein Junge: ich freue mich. Geben Sie mir die Hand! Daisy, schür das Feuer an und machs mal prasseln. Und Mr. Peggotty, wenn Sie Ihre kleine Nichte absolut nicht bewegen können herzukommen, gehe ich lieber. Eine solche Lücke an einem Abend wie heute möchte ich in Ihren Familienkreis nicht um alle Schätze Indiens reißen.«

Mr. Peggotty eilte in mein ehemaliges kleines Schlafzimmer, um die kleine Emly einzufangen.

Erst wollte sie nicht kommen, und dann ging Ham zu ihr. Endlich brachten sie sie, – sehr scheu und verwirrt –, bald jedoch wurde sie sicherer, als sie merkte, wie rücksichtsvoll Steerforth mit ihr redete, wie geschickt er alles zu vermeiden wußte, was sie in Verlegenheit bringen konnte, wie er mit Mr. Peggotty von Booten und Schiffen, von Gezeiten und Fischen sprach, sich dann an mich wendete, als die Rede auf Mr. Peggottys Besuch in Salemhaus kam und leicht und sicher die Unterhaltung leitete. So bannte er uns alle allmählich in einen Zauberkreis, und unsere Gespräche nahmen den zwanglosesten Verlauf.

Emly sprach zwar wenig an diesem Abend, aber sie hörte aufmerksam zu. Ihr Gesicht war lebhaft und reizend hübsch.

Steerforth erzählte dann eine Geschichte von einem Schiffbruch so lebendig, als ob er sie vor sich sähe, und auch die Augen der kleinen Emly hingen an seinen Lippen, als ob auch sie das Schauspiel in Wirklichkeit miterlebte. Dann wieder kam er auf ein lustiges Abenteuer aus seinem Leben mit einer solchen Frische, als ob ihm die Geschichte so neu wäre wie uns, zu sprechen, und die kleine Emly lachte, daß das Boot von ihrer Lustigkeit widerhallte, und wir alle lachten mit, unwiderstehlich zu Steerforth hingezogen. Schließlich brachte er Mr. Peggotty dazu, zu singen oder vielmehr zu brüllen:

»Wenn die Stürme blasen, blasen, blasen usw.« und er selbst sang ein Schifferlied so ausdrucksvoll und schön, daß es mir schien, als ob selbst der Wind draußen mit zuhöre.

Was Mrs. Gummidge betrifft, so heiterte er dieses Opfer von Schwermut derartig auf, daß sie noch am nächsten Tag glaubte, behext gewesen zu sein.

Als die kleine Emly freier wurde und mit mir von unsern alten Streifungen an den Gestaden sprach und vom Muschelsuchen, und ich sie fragte, ob sie noch wisse, wie sehr ich sie geliebt habe, und wir beide dann lachten und erröteten bei diesem Rückblick an die schönen, alten Zeiten, die sich jetzt fast wie ein Traum ausnahmen, schwieg er aufmerksam still und beobachtete uns gedankenvoll.

Sie saß den ganzen Abend auf der alten Kiste in ihrer Ecke neben dem Feuer, – und an ihrer Seite, wo sonst ich gesessen hatte, Ham. Ich konnte nicht herausbekommen, ob es eine kleine Koketterie oder mädchenhafte Scheu von ihr war, daß sie sich immer dicht an der Wand und von Ham entfernt hielt, aber ich bemerkte, daß es den ganzen Abend der Fall war.

Es schlug Mitternacht, als wir Abschied nahmen. Wir hatten zum Abendessen Zwieback und gedörrten Fisch gegessen. Steerforth hatte aus seiner Manteltasche eine Flasche Wacholderbranntwein geholt, die wir Männer – ich kann es jetzt ohne Erröten sagen – wir Männer geleert hatten. Wir schieden sehr lustig voneinander, und als sie alle in der Türe standen, um uns, soweit es ging, heimwärts zu leuchten, sah ich Emlys schöne blaue Augen hinter Ham hervorschauen und hörte ihre liebliche Stimme uns vor dem schlechten Weg warnen.

»Eine allerliebste kleine Schönheit!« sagte Steerforth und nahm meinen Arm. »Es ist wirklich ein kurioses Haus und nette Leute, und es ist eine ganz neuartige Empfindung, mit ihnen umzugehen.«

»Und wie famos«, entgegnete ich, »daß wir grade zu dieser Verlobung kommen mußten! Ich habe in meinem Leben noch nicht so glückliche Menschen gesehen. Es war ganz entzückend, an ihrer ehrlichen Freude teilnehmen zu können.«

»Es ist ein tölpelhafter Kerl für das Mädchen, was?« sagte Steerforth.

Er war so herzlich gegen Ham und gegen sie alle gewesen, daß mir diese unerwartete und kalte Bemerkung einen Ruck gab. Aber als ich ihn rasch anblickte und seine lachenden Augen sah, antwortete ich ganz erleichtert:

»Ach, Steerforth. Du hast gut über die Armen scherzen. Miss Dartle kannst du wohl anführen oder deine Gefühle im Scherz vor mir zu verstellen suchen, ich aber weiß es besser. Wenn ich sehe, wie von Grund aus du sie verstehst, wie du auf das Glück dieser Fischer oder auf die Liebe meiner alten Kindsfrau eingehen kannst, weiß ich genau, daß Freude und Schmerz dieser Leute dir nicht gleichgültig sind. Und ich bewundere und liebe dich deshalb um so mehr, Steerforth.«

Er blieb stehen, sah mich an und sagte: »Daisy, ich glaube, du redest wirklich im Ernst. Du bist ein guter Kerl. Ich wollte, wir wären es alle.«

Im nächsten Augenblick sang er lustig Mr. Peggottys Lied, während wir raschen Schrittes nach Yarmouth zurückkehrten.

22. Kapitel Alte Umgebungen und neue Menschen


22. Kapitel Alte Umgebungen und neue Menschen

Steerforth und ich blieben länger als vierzehn Tage auf dem Lande. Natürlich waren wir viel beisammen, aber mitunter trennten wir uns auf ein paar Stunden. Er war ein guter Segler und ich ein recht mäßiger, und wenn er mit Mr. Peggotty, was ihm einen Hauptspaß machte, hinausfuhr, blieb ich meistens zu Haus.

Daß ich bei Peggotty wohnte, legte mir einen Zwang auf, von dem er frei war. Da ich wußte, wie sorgsam sie Mr. Barkis pflegte, wollte ich abends nicht lang wegbleiben, wogegen Steerforth es sich im Gasthaus einrichten konnte, wie er wollte. So kam es denn, wie ich hörte, daß er noch in der Nacht, wenn wir längst im Bette lagen, den Fischerleuten im Wirtshaus »Zum guten Vorsatz« kleine Feste gab oder in Seemannskleidern ganze Mondnächte hindurch auf der See war und erst mit der Morgenflut zurückkam. Ich wußte, daß seine ruhelose Natur und sein Feuergeist sich ebenso gern in schwerer Anstrengung bei bösem Wetter Luft machten, wie in jeder andern Art Aufregung, die sich ihm darbot. Deshalb überraschte mich sein Tun nicht.

Ein anderer Grund, weswegen wir uns manchmal trennten, war mein natürlicher Wunsch, die alte vertraute Umgebung von Blunderstone zuweilen zu besuchen. Selbstverständlich konnte Steerforth, nachdem er einmal dort gewesen war, kein besonderes Interesse an dem Orte haben, und so kam es, daß wir drei oder vier Tage hindurch einander nur ganz zeitig morgens beim Frühstück sahen und erst spät abends wieder. Ich hatte keine Ahnung, was er in der Zwischenzeit trieb, und wußte nur, daß er überall sehr beliebt war und zwanzig Mittel, sich die Zeit zu vertreiben, fand, wo ein anderer auch nicht eins entdeckt hätte.

Ich für meinen Teil beschäftigte mich auf meinen einsamen Spaziergängen damit, mir jeden Schritt des alten Wegs ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich wurde nicht müde, alte bekannte Plätze aufzusuchen. Ich verweilte auf ihnen, wie ich es früher in Gedanken so oft getan hatte. Das Grab unter dem Baum, wo meine beiden Eltern ruhten, und bei dem ich einst so unglücklich und verlassen gestanden, als es meine gute Mutter und ihr Kind aufnahm, der Hügel, den Peggottys zärtliche Fürsorge seitdem gepflegt und in ein Gartenbeet verwandelt hatte, war mir ein Ort, an dem ich oft stundenlang verweilte. Er lag ein wenig abseits vom Hauptwege in einer stillen Ecke, aber nicht so weit weg, daß ich nicht beim Auf- und Abgehen die Leichensteine hätte lesen können.

Manchmal schreckte ich aus meinen Gedanken auf, wenn die Kirchenglocke die Stunden schlug, aus meinen Gedanken, die sich immer Luftschlösser bauten, in denen ich große Rollen im Leben spielen und große Dinge vollbringen wollte. Immer malte ich mir dabei aus, daß meine Mutter noch am Leben sei.

In dem alten Haus war vieles anders geworden. Die alten verlassenen Krähennester waren fort und die Bäume, gestutzt und verschnitten, hatten ihre alte Gestalt verloren. Der Garten war verwildert, und die Hälfte der Fenster mit Laden verschlossen. Bewohnt wurde es jetzt nur von einem armen, wahnsinnigen Herrn und seinen Wärtern. Er saß immer an meinem kleinen Fenster und sah auf den Friedhof hinaus, und ich hätte gern gewußt, ob seine wirren Gedanken sich wohl auch mit denselben Träumen beschäftigten, die mich einst an dem heitern Morgen erfüllten, wo ich aus demselben kleinen Fenster in meinem Nachtkleid herausschaute und im Schimmer der aufgehenden Sonne den friedlich weidenden Schafen zusah.

Unsere alten Nachbarn, Mr. und Mrs. Grayper, waren nach Südamerika ausgewandert, und der Regen hatte sich einen Weg durch das Dach ihres verlassenen Hauses gebahnt und die Mauern fleckig und schimmlig gemacht. Mr. Chillip war wieder mit einer langen, knochigen, großnasigen Frau verheiratet, und sie hatten ein kleines, schwächliches Kind mit einem schweren Kopf, den es nicht aufrecht halten konnte, und zwei Glotzaugen, die sich immer zu wundern schienen, warum es überhaupt auf der Welt sei.

Wenn ich auf dem nächsten Wege nach Yarmouth zurückkam, schnitt ich mit einer Fähre den beträchtlichen Umweg, den die Landstraße machte, ab. Da Mr. Peggottys Haus kaum hundert Yards vom Wege lag, stattete ich ihm im Vorbeigehen stets einen Besuch ab. Und immer wartete Steerforth dort auf mich, und dann gingen wir zusammen nach Hause.

An einem dunklen Abend – später als gewöhnlich – fand ich ihn bei meiner Heimkehr von Blunderstone in Mr. Peggottys Haus in Gedanken versunken vor dem Feuer sitzen. Er war so vertieft, daß er mein Ankommen nicht bemerkte. Das hätte auch unter andern Umständen leicht stattfinden können, da der sandige Boden draußen das Geräusch der Schritte vollständig verschlang; aber selbst mein Eintritt weckte ihn nicht auf. Ich stand dicht neben ihm und sah ihn an, aber immer noch saß er in Gedanken verloren mit düsterer Miene da.

Er fuhr derart auf, als ich ihm meine Hand auf die Schulter legte, daß ich ordentlich erschrak.

»Du kommst fast über mich wie der Geist des Vorwurfs«, rief er beinahe ärgerlich aus.

»Ich mußte mich doch auf irgendeine Weise bemerkbar machen«, entschuldigte ich mich. »Ich habe dich wohl aus allen Himmeln gerissen?«

»Nein«, antwortete er, »nein.«

»Habe ich dich gestört?« fragte ich und setzte mich neben ihn.

»Ich habe mir die Bilder im Feuer betrachtet.«

»Du zerstörst sie ja für mich«, sagte ich, als er die Flamme rasch mit einem Holzscheit schürte und eine Unmasse glimmender Funken emporschlugen und hinauf in die Esse prasselten.

»Du hättest sie doch nicht sehen können«, entgegnete er. »Mir ist diese Zwitterzeit, wo es weder Tag noch Nacht ist, verhaßt. Wie lange du ausbleibst! Wo warst du?«

»Ich habe von meinem alten Spazierweg Abschied genommen.«

»Und ich habe hier gesessen«, sagte Steerforth und sah sich im Zimmer um, »und mir bei dem öden Eindruck, den alles in dieser Stunde macht, gedacht, daß die Menschen, die wir am Abend nach unserer Ankunft hier so glücklich beisammen fanden, vielleicht bald auseinander gerissen, tot oder wer weiß zu welchem Schaden gekommen sein können. David, bei Gott, ich wollte, ich hätte in den zwanzig Jahren meines Lebens einen einsichtsvollen Vater gehabt!«

»Aber mein lieber Steerforth, was fehlt dir denn?«

»Ich wollte von ganzem Herzen, ich wäre besser geleitet worden!« rief er aus. »Ich wollte von ganzer Seele, ich könnte mich besser beherrschen!« Es lag eine so leidenschaftliche Niedergeschlagenheit in seinen Worten, daß ich ganz erstaunt war. Er schien mehr verändert, als ich es je für möglich gehalten hätte.

»Ich wäre lieber dieser arme Peggotty oder dieser Lümmel von seinem Neffen«, sagte er, indem er aufstand und sich mit finsterer Miene an den Kamin lehnte – »als ich, der zwanzig Mal reicher und zwanzig Mal klüger ist. Lieber das, als sich selbst zur Qual sein, wie ich es mir während der letzten halben Stunde in diesem verwünschten Boote gewesen bin.«

Ich war derartig verblüfft durch sein verändertes Wesen, daß ich ihn anfangs nur stillschweigend beobachten konnte, wie er das Haupt auf die Hand gestützt trübe ins Feuer sah. Endlich bat ich ihn mit aller Aufrichtigkeit, mir zu sagen, was ihn in so ungewöhnlicher Weise bedrücke. Aber ehe ich noch ausgesprochen, fing er an zu lachen, erst ärgerlich, aber bald mit wiederkehrender Fröhlichkeit.

»Pah! Es ist nichts, Davy! Ich sagte dir doch schon in London, ich bin manchmal für mich ein öder Gesellschafter. Ich habe ein wenig Alpdrücken gehabt, das ist alles. Es gibt wunderliche Zeiten, wo einem die Ammenmärchen wieder einfallen, man weiß nicht, warum. Ich glaube, ich bin mir vorgekommen wie der böse Bube, der nicht folgen wollte und von Löwen gefressen wurde. Wahrscheinlich ist das ein grandioseres Bild für ›zum Teufel gehen‹. Was alte Weiber einen Schauder nennen, hat mich von Kopf bis zu Fuß überlaufen. Ich habe mich vor mir selbst gefürchtet.«

»Das ist wohl das einzige, vor dem du dich fürchtest, glaube ich!«

»Vielleicht! Und doch hätte ich manchmal Grund genug, mich vor allerlei zu fürchten«, antwortete er. »Basta, jetzt ists vorbei. Es wird mich nicht noch einmal überlaufen, David. Aber ich sage dir nochmals, mein guter Junge, daß es für mich und andere gut gewesen wäre, wenn ich einen festen und einsichtsvollen Vater gehabt hätte.«

Sein Gesicht war immer ausdrucksvoll, aber ich hatte noch nie einen so düstern Ernst darin bemerkt wie jetzt, wo er, in das Feuer schauend, so sprach.

»Soviel drum«, und er schnippte mit den Fingern und machte eine Handbewegung, als ob er ein Bild in der Luft verjagen wollte.

»Jetzt, wo es fort ist, bin ich wieder Mann, wie Macbeth sagt, und jetzt zum Essen, Daisy!«

»Ich möchte nur wissen, wo sie alle stecken«, sagte ich.

»Gott weiß«, sagte Steerforth. »Nachdem ich an der Fähre auf dich gewartet hatte, trat ich hier ein und fand das Haus leer. Und dann fing ich an zu grübeln, und so fandest du mich hier.«

Die Ankunft der Mrs. Gummidge mit einem Korbe erklärte, warum das Haus so lange leer gestanden. Sie war fortgegangen, um etwas zum Abendessen für Mr. Peggotty einzukaufen, wenn er mit der Flut zurückkehrte, und hatte für den Fall, daß Ham und die kleine Emly nach Hause kommen sollten, die Türe offenstehen lassen. Nachdem Steerforth Mrs. Gummidges Laune durch eine heitere Begrüßung und eine scherzhafte Umarmung sehr gehoben hatte, hängte er sich in mich ein und wir eilten fort.

Er war jetzt wieder guter Laune und unterhielt mich mit großer Lebhaftigkeit.

»Wir geben also morgen dieses Piratenleben auf, nicht wahr?« sagte er lustig.

»So haben wirs ausgemacht«, erwiderte ich, »und unsre Plätze in der Landkutsche sind schon bestellt.«

»Nun, dann kann man nichts mehr machen«, sagte Steerforth. »Ich habe fast vergessen, daß es noch etwas anderes auf der Welt zu tun gibt, als sich auf dem Meer draußen von den Wellen herumwerfen zu lassen. Ich wollte, es gäbe weiter nichts.«

»Solange die Sache neu ist«, sagte ich lachend.

»Leicht möglich«, erwiderte er, »obgleich für jemand, der so liebenswürdig und unschuldig ist wie mein junger Freund, die Bemerkung recht sarkastisch klingt. Ich weiß ja, ich bin ein launenhafter Mensch, David. Das weiß ich, aber solange das Eisen heiß ist, kann ich es auch tüchtig schmieden. Ich glaube, ich könnte schon ein ganz leidliches Examen als Lotse in diesen Gewässern ablegen.«

»Mr. Peggotty sagte, du wärest ein Wunder«, gab ich zur Antwort.

»Ein nautisches Phänomen, was!« lachte Steerforth.

»Freilich sagt er das und du weißt, mit welchem Recht, da du so eifrig betreibst, was du einmal angegriffen hast, und es so leicht bemeisterst. Was mich bei dir nur in Erstaunen versetzt, Steerforth, ist, daß du dich zufrieden gibst, deine Fähigkeiten so planlos zu verwenden.«

»Zufrieden?« antwortete er fröhlich. »Ich bin nie zufrieden, außer mit deiner Naivität, mein liebes Gänseblümchen. Und was die Planlosigkeit anbetrifft, so habe ich nie die Kunst gelernt, mich an eines der Räder, an denen sich unsre Tage herumdrehen, festzubinden. Ich habe es in einer schlechten Lehrzeit vergessen und jetzt ists mir einerlei. Du weißt doch, daß ich hier ein Boot gekauft habe?!«

»Was du für ein merkwürdiger Mensch bist«, rief ich aus und blieb stehen, denn ich hörte jetzt das erstemal davon. »Du kommst vielleicht in deinem Leben nicht wieder hierher!«

»Das weiß ich nicht gewiß. Ich habe Gefallen an dem Orte gefunden. Jedenfalls«, fuhr er fort und schlug einen hastigen Schritt ein, »habe ich ein Boot gekauft, das zum Verkauf stand. Einen Kutter nennt es Mr. Peggotty, und er wird es während meiner Abwesenheit unter seine Obhut nehmen.«

»Jetzt verstehe ich dich, Steerforth«, sagte ich frohlockend. »Du tust, als hättest du es für dich angeschafft, willst ihm aber im Grunde ein Geschenk damit machen. Das hätte ich gleich wissen können. Das sieht dir wieder ähnlich. Mein lieber Steerforth, ich kann dir gar nicht sagen, wie mich dein Edelsinn rührt.«

»Still!« sagte er und wurde rot. »Je weniger du Worte machst, desto besser.«

»Wußte ichs nicht?« rief ich aus, »sagte ich nicht, daß Freud und Leid dieser ehrlichen Herzen dir nicht gleichgültig bleiben können?«

»Ja, ja, ja«, antwortete er. »Alles das hast du gesagt, aber jetzt hör endlich auf.«

Besorgt, ihn zu verletzen, wenn ich länger bei diesem Thema verweilte, beschäftigte ich mich bloß in Gedanken damit, während wir noch rascher als vorhin unsern Weg zurücklegten.

»Das Boot muß neu getakelt werden«, fing Steerforth wieder an. »Ich werde Littimer zur Aufsicht dalassen, bis es ganz fertig ist. Habe ich dir schon gesagt, daß Littimer angekommen ist?«

»Nein.«

»Er kam diesen Morgen mit einem Brief von meiner Mutter.«

Als sich unsre Blicke begegneten, bemerkte ich, daß Steerforth blaß bis in die Lippen war, obwohl er mich fest ansah. Ich fürchtete, ein Streit zwischen ihm und seiner Mutter habe die Stimmung veranlaßt, die ich an ihm vorhin gesehen. Ich spielte darauf an.

»Ach nein«, sagte er, schüttelte den Kopf und lachte leise auf. »Nichts derart. Ja. Er ist angekommen. Mein Bedienter. Mein Macher.«

»Immer der alte?« fragte ich.

»Ganz der alte«, sagte Steerforth. »Kalt und still wie der Nordpol. Er soll Sorge tragen, daß das Boot umgetauft wird. Es heißt jetzt ›Sturmvogel‹. Was kümmert sich Mr. Peggotty um Sturmvögel. Ich will es umtaufen lassen.«

»Wie soll es heißen?« fragte ich.

»Die kleine Emly.«

Da er mich wieder so fest ansah, hielt ich es für einen Wink, daß er nicht gelobt zu sein wünschte. Ich konnte nicht umhin, meine Freude darüber auszudrücken, machte aber wenig Worte. Da ließ er wieder, wie gewöhnlich, sein Lächeln sehen und schien erleichtert zu sein.

»Aber schau nur«, rief er. »Da kommt die kleine Emly selbst und der Bursche mit ihr. Meiner Seel, er ist der reinste Ritter. Er verläßt sie nie.«

Ham war Schiffszimmermann geworden und hatte sich in diesem Handwerk ein großes Geschick angeeignet. Er trug seinen Arbeitsrock, sah rauh genug, aber doch sehr männlich aus und schien so recht ein passender Beschützer für das kleine blühende Wesen an seiner Seite zu sein. In seinem Gesicht lag eine Offenheit, die Ehrlichkeit und sichtlicher Stolz auf seine Braut, die ihm besser standen als ein schönes Gesicht. Ich dachte mir, als sie näherkamen, wie gut sie zueinander paßten.

Emly entzog Ham schüchtern ihre Hand, als wir stehenblieben, um sie zu begrüßen, und errötete, als sie sie Steerforth und mir gab. Als sie dann wieder weitergingen, legte sie ihre Hand nicht wieder in Hams Arm, sondern ging schüchtern mit gezwungenem Wesen neben ihm her. Mir kam das alles sehr hübsch und anziehend vor, und Steerforth schien dasselbe zu denken, als wir dem im Dämmerlicht des aufgehenden Mondes verschwindenden Paar nachsahen.

Plötzlich strich – offenbar jenen folgend – ein junges Weib an uns vorbei, dessen Näherkommen wir bisher nicht bemerkt hatten.

Sie war dünn angezogen, schäbig aufgeputzt und hatte ein hageres verlebtes Gesicht. Sie schien an weiter nichts zu denken, als jenen nachzugehen. Ebenso schnell wie die beiden andern war sie unsern Blicken in dem nebelhaften Dämmer entschwunden.

»Das ist ein schwarzer Schatten, der dem Mädchen da nachfolgt«, sagte Steerforth und blieb stehen. »Was bedeutet das?«

Er sprach mit so tonloser Stimme, daß es mich fast erschreckte.

»Sie wird sie anbetteln wollen«, sagte ich.«

»Eine Bettlerin wäre nichts Absonderliches«, meinte Steerforth, »aber es ist seltsam, daß die Bettlerin heute abend gerade diese Gestalt annehmen muß.«

»Warum?«

»Ich mußte an ein ähnliches Gesicht denken, als sie vorbeiging«, sagte er nach einer Pause. »Wo zum Teufel mag sie hergekommen sein?«

»Wahrscheinlich aus dem Schatten dieser Mauer«, sagte ich, als wir auf einen Weg traten, an dem eine Mauer hinlief.

»Es ist vorbei«, sagte er, über die Schulter blickend, »und möge alles Böse damit vorbei sein. Und jetzt zu Tisch!« Aber er sah sich noch ein paarmal nach der in der Ferne schimmernden See um und äußerte in abgerissenen Worten seine Verwunderung über die Erscheinung. Erst als wir darauf in dem einfachen Zimmer bei Kerzenschein fröhlich bei Tisch saßen, schien er zu vergessen.

Littimer war auch da und übte seine gewöhnliche Wirkung auf mich aus. Als ich ihn nach dem Befinden von Mrs. Steerforth und Miss Dartle fragte, antwortete er ehrerbietig, sie befänden sich leidlich wohl und ließen sich mir empfehlen. Weiter fügte er nichts hinzu, und doch schien er mir ganz deutlich damit verstehen zu geben: Sie sind sehr jung, Sir; über alle Maßen jung.

Wir hatten kaum das Diner beendet, als er an die Tafel herantrat und zu seinem Herrn sagte:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, Miss Mowcher ist hier.«

»Wer?« rief Steerforth ganz überrascht.

»Miss Mowcher, Sir.«

»Was, um Himmels willen, macht die hier?«

»Sie scheint aus dieser Gegend zu stammen, Sir. Sie sagte mir, sie mache jedes Jahr eine Geschäftsreise hierher. Ich traf sie heute nachmittag auf der Straße, und sie läßt fragen, ob sie sich die Ehre nehmen darf, Ihnen nach dem Essen ihre Aufwartung zu machen.«

»Kennst du die Riesin, Daisy?« fragte Steerforth.

Ich mußte leider gestehen und schämte mich wegen dieses Mangels vor Littimer, daß Miss Mowcher und ich einander nie vorgestellt worden waren.

»Dann sollst du sie kennenlernen. Sie ist eines der sieben Weltwunder. Wenn Miß Mowcher kommt, lassen Sie sie eintreten!«

Ich war sehr gespannt auf die Dame, besonders da Steerforth stets zu lachen anfing, wenn ich sie erwähnte, und sich entschieden weigerte, irgendeine Aufklärung zu geben. Ich war daher voller Erwartung, und wir saßen schon eine halbe Stunde beim Wein, als endlich die Tür aufging und Littimer in seiner gewohnten unerschütterlichen Ruhe meldete: »Miss Mowcher.«

Ich blickte nach der Türe und – sah nichts. Ich dachte gerade, Miss Mowcher lasse recht lang auf sich warten, als zu meinem unendlichen Erstaunen um die Ecke eines bei der Tür stehenden Sofas eine Zwergin gewackelt kam, vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt, mit sehr großem Kopf und Gesicht, verschmitzten grauen Augen und so außerordentlich kurzen Armen, daß sie, um ihren Finger, wie sie es zu lieben schien, schelmisch an ihre Stumpfnase legen zu können, als sie mit Steerforth liebäugelte, ihrer Hand mit dem Kopf entgegenkommen mußte. Ihr Doppelkinn war so fett, daß die Bänder ihres Hutes samt der Schleife darin verschwanden. Der Hals fehlte, die Taille gleichfalls und die Beine schienen nicht der Rede wert. Wenn auch ihr Körper wie bei andern Menschen unten in ein paar Füße auslief, so war die Person doch so klein, daß sie vor einem gewöhnlichen Sessel wie vor einem Tische stand. In einem schlendrigen Stil gekleidet, den Zeigefinger an die Nase gelegt und eines der schlauen Augen zugekniffen, stand diese Dame eine Weile mit lustigem Gesicht noch vor uns und brach dann in einen Strom von Beredsamkeit aus.

»Was! Mein Blütenkind«, fing sie scherzend an und drohte Steerforth mit einem Schütteln ihres großen Kopfs. »Sie sind hier? So, so! O Sie nichtsnutziger Mensch, schämen Sie sich, was machen Sie so weit von Hause weg? Auf schlimmen Wegen, möcht ich wetten! O Sie sind mir ein Spitzbube, Steerforth. Ja, das sind Sie, und ich bin auch so was, nicht wahr? Hahaha. Sie hätten hundert Pfund gegen fünf gewettet, daß Sie mich hier nicht sehen würden, nicht wahr? Aber ich sage Ihnen, mein Jüngelchen, ich bin überall. Ich bin hier und dann wieder dort und wieder nirgends, ganz so, wie der Taler des Zauberkünstlers im Taschentuch der schönen Dame. Da wir grade von Taschentüchern sprechen und von Damen: was für ein Segen Sie für Ihre liebe Mutter sind! Nicht wahr, mein lieber Junge?«

Miss Mowcher band jetzt ihren Hut ab, warf die Bänder über die Schultern und setzte sich atemlos auf einen Fußschemel vor dem Kamin; und der Speisetisch bildete eine Art Mahagonilaube für sie.

»O du lieber Gott«, fuhr sie fort und schlug sich mit den Händen auf ihre kleinen Knie, mich listig von der Seite ansehend, »ich werde zu dick, das ist die Sache, Steerforth. Wenn ich eine Treppe hinaufsteige, wird mir jeder Atemzug so schwer wie ein Eimer Wasser. Wenn Sie mich aus einem Fenster im obersten Stockwerk herausblicken sehen, könnten Sie mich für eine schöne Frau halten, nicht wahr?«

»Ich würde Sie überall dafür halten«, antwortete Steerforth.

»Gehen Sie, Sie Schelm Sie«, rief das kleine Geschöpf und schlug nach ihm mit dem Taschentuch, mit dem sie sich eben das Gesicht abgewischt hatte, »und seien Sie nicht unverschämt. Aber in allem Ernst und auf Ehrenwort, ich war letzte Woche bei Lady Mithers, – ja, das ist eine Frau! Wie die sich trägt! – Und Mithers selbst kam in das Zimmer, in dem ich auf sie wartete, – ja, das ist ein Mann! Wie der sich trägt! Und seine Perücke dazu. Er hat sie jetzt schon zehn Jahre! Und er fing auch an, mir solche Komplimente zu machen, daß ich wirklich schon dachte, ich müßte klingeln. Hahaha. Er ist ein angenehmer Schwerenöter, aber er hat keine Grundsätze.«

»Was hatten Sie bei Lady Mithers zu tun?« fragte Steerforth.

»Das hieße ausplaudern, mein kleines Engelchen«, gab Miss Mowcher zur Antwort, legte wieder den Finger an die Nase, kniff das eine Auge zu und zwinkerte mit dem andern uns an wie ein Kobold von übernatürlicher Schlauheit. »Das geht Sie nichts an. Sie möchten wissen, ob ich ihr Haar vor dem Ausfallen bewahre oder ob ich es färben muß oder ihren Teint und ihren Augenbrauen nachhelfe, nicht wahr? Sie sollens erfahren, mein Liebling – wenn ich es Ihnen sage. Wissen Sie, wie mein Urgroßvater hieß?«

»Nein«, sagte Steerforth.

»Aufsitzer hieß er, mein Herzblättchen«, erwiderte Miß Mowcher, »und er stammt von einer ganzen Reihe von Aufsitzern ab. Und von ihnen habe ich die Fähigkeit gelernt, die Leute aufsitzen zu lassen.«

Etwas Derartiges, wie Miss Mowcher das Auge zukniff, war mir noch nicht vorgekommen. Sie hatte eine wunderliche Art, den Kopf schlau auf eine Seite zu legen, wenn sie auf eine Antwort wartete, und das Auge nach oben zu drehen wie eine Elster. Ich war ganz außer mir vor Erstaunen und starrte sie, allen Gesetzen der Höflichkeit zuwider, ununterbrochen an.

Sie hatte jetzt den Stuhl an sich herangezogen und holte geschäftig aus einem Beutel eine Anzahl Fläschchen, Schwämme, Kämme, Bürsten, Flanelläppchen und Brenneisen hervor, jedesmal ihren kurzen Arm bis an die Schulter in den Sack tauchend, und häufte die Sachen auf dem kleinen Stuhl auf. Plötzlich hielt sie inne und sagte zu Steerforth zu meiner großen Verlegenheit: »Wie heißt Ihr Freund?«

»Mr. Copperfield«, sagte Steerforth. »Er möchte Sie gerne kennenlernen.«

»O das kann er! Er sah mir schon lang danach aus«, erwiderte Miss Mowcher und wackelte lächelnd auf mich zu. »Ein Gesicht wie ein Pfirsich!« Ich saß auf einem Stuhl, trotzdem mußte sie sich noch auf Zehenspitzen stellen, um mich in die Wange zu kneifen. »Ordentlich verführerisch! Ich habe Pfirsiche sehr gern. Ich schätze mich glücklich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Copperfield!«

Ich sagte, daß das Glück nur meinerseits sei.

»O du meine Güte, wie höflich wir sind!« rief Miss Mowcher aus und machte einen komischen Versuch, ihr großes Gesicht mit ihrer kleinen Hand zu bedecken. »Es ist eine Welt voll blauen Dunstes, nicht wahr?«

Das galt uns beiden. Dann vergrub sie wieder ihren Arm in den Beutel.

»Wie meinen Sie das, Miss Mowcher?« fragte Steerforth.

»Hahaha! Was für eine erquickliche Sorte Schwindler wir sind, nicht wahr, mein Süßer«, erwiderte die Zwergin und kramte, den Kopf auf eine Seite geneigt, das eine Auge nach der Decke gerichtet, wieder in dem Strickbeutel herum. »Schauen Sie mal her.« Und sie nahm etwas heraus. »Schnitzel von den Nägeln des russischen Prinzen! Prinz ›A bis Z durcheinander‹ nenne ich ihn, denn sein Name ist ein Mischmasch von allen Buchstaben.«

»Der russische Prinz ist Ihre Kundschaft, nicht wahr?«

»So ists, mein Herzblättchen. Ich halte ihm die Nägel in Ordnung. Zweimal die Woche. Finger und Zehen.«

»Hoffentlich zahlt er gut«, sagte Steerforth.

»Er bezahlt, wie er spricht, mein liebes Kind – durch die Nase –« entgegnete Miss Mowcher. »Das ist keiner von den Glattrasierten wie Ihr; der Prinz. Das würden Sie zugeben, wenn Sie seinen Schnurrbart sähen. Rot von Natur, schwarz durch die Kunst.«

»Durch Ihre Kunst natürlich?«

Miss Mowcher nickte. »Mußte nach mir schicken. Konnte nicht anders. Das Klima veränderte seine Farbe. In Rußland gings noch, aber hier nicht. So einen rostigen Prinzen haben Sie Ihr Lebtag nicht gesehen. Wie altes Eisen.«

»Und deswegen nennen Sie ihn einen Schwindler?« fragte Steerforth.

»Sie wären mir der rechte«, antwortete Miss Mowcher und schüttelte heftig den Kopf. »Ich meinte doch, daß wir Schwindler sind, – wir Menschen im allgemeinen, – und zeigte Ihnen zum Beweis die Schnitzel von den Nägeln des Prinzen. Diese Nägel empfehlen mich bei den vornehmen Familien besser als alle meine Talente zusammengenommen. Ich trage sie stets bei mir. Sie sind die beste Empfehlung. Wenn Miss Mowcher dem Fürsten die Nägel schneidet, dann muß sie etwas können! Ich schenke sie den jungen Damen. Ich glaube wahrhaftig, sie legen sie in ihre Albums. Hahaha! Wahrhaftig, das ganze soziale System, wie es die Leute nennen, wenn sie Reden im Parlament halten, ist ein System aus Prinzennägeln«, sagte die winzige Frau und versuchte ihre kleinen Arme zu verschränken und nickte ernsthaft mit ihrem großen Kopf. Dann schlug sie sich auf die Knie, stand auf und rief: »Das nenne ich nicht Geschäfte betreiben. Kommen Sie her, Steerforth, lassen Sie uns die Polarregionen untersuchen, und dann haben Sies überstanden.«

Sie suchte sich zwei oder drei ihrer kleinen Werkzeuge heraus und ein Fläschchen und fragte zu meinem Erstaunen, ob der Tisch sie wohl tragen würde. Auf Steerforths bejahende Antwort schob sie einen Stuhl daran, und die Hilfe meiner Hand erbittend, stieg sie rasch hinauf wie auf eine Bühne.

»Wenn einer von Ihnen meine Knöchel gesehen hat«, rief sie, als sie sicher oben stand, »so sagen Sie es, und ich gehe nach Hause und bringe mich um.«

»Ich habe nichts gesehen«, bekannte Steerforth.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

»Also gut. Dann kann ich ja noch weiter leben«, rief Miss Mowcher. »Nun komm, Hühnchen, zu Mrs. Strick und laß dich töten!«

Das war eine Einladung an Steerforth. Er setzte sich demgemäß mit dem Rücken gegen den Tisch, sein lachendes Gesicht mir zugewendet, und ließ sich den Kopf untersuchen – offenbar zu keinem andern Zweck als zu unserer Unterhaltung. Übrigens, Miss Mowcher auf dem Tisch stehen zu sehen, wie sie Steerforths reiches braunes Haar durch ein großes rundes Vergrößerungsglas besichtigte, war wirklich ein wunderlicher Anblick.

»Sie sind mir ein netter Junge«, sagte sie nach kurzer Untersuchung. »Wenn ich nicht wäre, hätten Sie in einem Jahr eine Glatze wie ein Mönch. Nur eine halbe Minute, junger Freund, und ich will Ihren Locken eine Frisur geben, die die nächsten zehn Jahre vorhält.«

Mit diesen Worten goß sie ein paar Tropfen auf ein Flanellfleckchen, rieb damit eine ihrer kleinen Bürsten ein, und fing an, Steerforths Kopf in der geschäftigsten Weise zu bearbeiten.

»Sie kennen doch Charley Pyegrave, den Sohn des Herzogs, nicht wahr?«

»Ein wenig«, sagte Steerforth.

»Das ist ein Mann! Der hat einen Backenbart! Können Sie sich vorstellen, der versucht es ohne mich – und ist noch dazu in der Garde!«

»Verrückt«, sagte Steerforth.

»Sollte man glauben. Aber verrückt oder nicht, er hats versucht. Wissen Sie, was er tut. Geht hin zu einem Parfümeur und verlangt eine Flasche Macassaröl.«

»Das tut Charley?« fragte Steerforth.

»Ja, Charley! Aber sie haben kein Macassaröl.«

»Was ist das? – Etwas zu trinken?« fragte Steerforth.

»Zu trinken«, erwiderte Miss Mowcher und gab ihm scherzhaft einen Klaps auf die Hand. »Um seinem Schnauzbart damit aufzuhelfen! Das wissen Sie recht gut. Im Laden war eine Frau, ein ältliches Frauenzimmer, fast schon ein Drache, die noch nie von so etwas gehört hatte. ›Ich bitte um Entschuldigung‹, sagt dieser Drache zu Charley, ›ist es nicht – nicht – nicht Schminke?‹ ›Was zum Teufel soll ich mit Schminke tun?‹ war die Antwort. ›Es war nicht bös gemeint‹, sagte die Frau. ›Es wird bei uns unter so viel Namen danach gefragt, daß ich dachte, es könnte Schminke sein.‹ – Sehen Sie, mein Kind, das ist wieder so ein Beispiel erquicklichen Humbugs! Ja, ja, hierherum frägt man nach solchen Dingen nicht viel. Das bringt mich wieder auf etwas. Ich habe kein hübsches Mädchen gesehen, seitdem ich hier bin, Jammy.«

»Nicht?« sagte Steerforth.

»Nicht den Schatten von einem«, erwiderte Miss Mowcher.

»Wir könnten ihr eine lebendige zeigen, glaube ich«, sagte Steerforth und drehte mir seine Augen zu, »nicht wahr, Daisy?«

»Allerdings«, gab ich zu.

»Aha!« rief das kleine Geschöpf und sah erst mich und dann Steerforth mit schlauem Blick an, »hüm!«

Der erste Ausruf klang wie eine Frage an uns beide, der zweite schien nur Steerforth zu gelten. Sie schien auf beide keine Antwort zu finden, sondern fuhr fort zu reiben, den Kopf auf eine Seite gelegt und ein Auge der Decke zugewandt, als ob sie von dort her eine Auskunft erhoffte.

»Eine Schwester von Ihnen, Mr. Copperfield?« fing sie nach einer kleinen Pause wieder an, »wie?«

»Nein«, sagte Steerforth, ehe ich antworten konnte, »nichts von der Sorte. Im Gegenteil! Mr. Copperfield war ein großer Bewunderer von ihr, wenn ich nicht irre.«

»So? Und ist es jetzt nicht mehr?« entgegnete Miss Mowcher. »Ist er unbeständig? O, pfui. Schwebt er von Blume zu Blume, bis Polly seine Zärtlichkeit erwidern wird? Heißt sie nicht Polly?« Die koboldartige Schnelligkeit, mit der sie mich mit diesen Fragen überfiel, und ihr forschender Blick brachten mich für einen Augenblick ganz außer Fassung.

»Nein, Miss Mowcher«, antwortete ich. »Sie heißt Emily.«

»Ah?« rief die Zwergin wie vorhin, »hem? Hem? Was für eine Plaudertasche ich bin, nicht wahr, Mr. Copperfield?«

In ihrem Blick und Ton lag etwas, was in Verbindung mit diesem Thema mir nicht paßte, deshalb sagte ich ernster, als bisher einer von uns gesprochen hatte:

»Sie ist ebenso schön wie tugendhaft und mit einem vortrefflichen Mann von gleichem Stande verlobt. Ich schätze sie wegen ihrer Verständigkeit ebensosehr, wie ich ihre Schönheit bewundere.«

»Sehr gut gesagt«, rief Steerforth. »Hört, hört, hört! Jetzt will ich die Neugier dieser kleinen Fatme, mein liebes Gänseblümchen, dadurch befriedigen, daß ich ihr nichts zu erraten übriglasse; also: sie ist augenblicklich in der Lehre bei Omer & Joram, Mützenmacher und so weiter und so weiter, hier in der Stadt. Verstehen Sie wohl? Omer & Joram! Verlobt ist sie mit ihrem Vetter, Ham Peggotty, Beruf Schiffszimmermann, Aufenthalt Yarmouth. Sie wohnt bei einem Verwandten, Vorname unbekannt, Familienname Peggotty, Beruf Schiffer – ebenfalls hier. Sie ist die hübscheste kleine Hexe von der Welt. Ich bewundere sie ebensosehr wie Mr. Copperfield. Ich möchte nicht, weil es mein Freund nicht gern sieht, ihrem Bräutigam unrecht tun, aber mir scheint sie zu gut für ihn zu sein. Ich bin überzeugt, sie könnte einen bessern finden, und ich möchte schwören, sie ist zu einer vornehmen Dame geboren.«

Miss Mowcher hörte mit unveränderter Kopfhaltung genau zu. Dann fuhr sie mit wunderbarer Schnelligkeit fort zu plaudern: »O das ist alles?« und ihre kleine Schere blitzte in allen Richtungen um Steerforths Kopf. »Sehr, sehr gut! Eine lange Geschichte! Sollte eigentlich enden: und sie wurden glücklich für ihr ganzes Leben, was? Wie heißt es im Pfänderspiel: Ich liebe meine Geliebte mit einem E, weil sie ›E‹ntzückend ist, ich hasse sie mit einem E, weil sie ›E‹ingenommen ist (für einen andern), ich halte sie für die ›E‹inzige und ›E‹ntführe sie. Ihr Name ist ›E‹mily und sie wohnt zu ›E‹bner ›E‹rde. Hahaha, Mr. Copperfield, was halten Sie von der Wankelmütigkeit?«

Sie sah mich mit ausnehmender Schlauheit an, wartete aber keine Antwort ab und fuhr in einem Atem fort:

»So! Wenn je ein Nichtsnutz wiederhergerichtet worden ist, so sind Sies, Steerforth. Wenn ich einen Kopf auf der Welt verstehe, ist es der Ihrige. Hören Sie genau, was ich Ihnen sage, mein Liebling: Ich verstehe den Ihren«, und sie spähte ihm ins Gesicht. »So, jetzt können Sie sich ›drücken‹, Jammy, wie wir bei Hof sagen. Und wenn Mr. Copperfield Platz nehmen will, so will ich ihn bearbeiten.«

»Was meinst du dazu, Daisy?« fragte Steerforth lachend und bot mir seinen Platz an. »Willst du dich herrichten lassen?«

»Ich danke Ihnen, Miss Mowcher, heute nicht!«

»Sagen Sie nicht nein«, entgegnete die kleine Frau und sah mich mit Kennermiene an. »Ein bißchen mehr Augenbrauen?«

»Ich danke Ihnen«, erwiderte ich. »Ein andermal.«

»Ein Viertelzoll weiter nach den Schläfen zu«, sagte Miss Mowcher, »läßt sich in vierzehn Tagen machen.«

»Nein, ich danke Ihnen. Jetzt nicht.«

»Nur beim Ohrläppchen nehmen«, drang sie in mich, »nicht? Nun, so wollen wir den Grundstein zu einem Backenbart legen!«

Ich konnte nicht anders, ich mußte erröten, als ich es ausschlug, denn ich fühlte, daß sie meine schwache Seite berührt hatte.

Als Miss Mowcher sah, daß ich jetzt wenigstens von ihrer Kunstfertigkeit keinen Gebrauch machen wollte und ungerührt von dem Anblick des kleinen Fläschchens blieb, das sie mir in ihrer Überredungskunst vor die Augen hielt, sagte sie, wir würden schon eines schönen Morgens anfangen, und bat mich, ihr vom Tische herabzuhelfen. Auf meine Hand gestützt sprang sie mit großer Gewandtheit herunter und band sich ihr Doppelkinn in ihren Hut.

»Das Honorar«, sagte Steerforth, »beträgt?«

»Fünf blanke«, erwiderte Miss Mowcher, »und es ist spottbillig, mein Hühnchen. Bin ich nicht ein lockerer Zeisig, Mr. Copperfield?«

Ich antwortete höflich: »Durchaus nicht.« Aber ich dachte mirs doch, als sie die beiden halben Kronen in die Luft warf, wieder auffing und sie dann in die Tasche fallen ließ.

»Das ist die Kasse«, erklärte sie und schlug sich auf die Tasche, und dann steckte sie ihre sieben Sachen wieder in den Strickbeutel.

»Habe ich alle meine Fuchsfallen? Ich kann es doch nicht machen wie der lange Ned Bedwood, als sie ihn in die Kirche schleppten, um ihn mit jemand zu trauen, und dabei die Braut vergaßen. Hahaha, ein böser Kerl, der Ned. Aber drollig. Nun, ich weiß schon, ich breche Ihnen jetzt das Herz, aber ich muß Sie verlassen. Sie müssen alle Ihre Kraft zusammennehmen und zusehen, wie Sies tragen können. Adieu, Mr. Copperfield! Hüten Sie sich, Jockey von Norfolk! Was habe ich nur alles zusammengeschwatzt?! Aber da seid Ihr beiden Ungeheuer dran schuld. Ich verzeihe Euch. ›Bob schwor‹, wie der Engländer sagte, statt Bon soir nach der ersten französischen Lektion. ›Bob schwor‹, meine Hühnchen.«

Den Beutel über dem Arm wackelte sie hinaus, blieb aber noch einmal in der Türe stehen und fragte, ob sie uns nicht eine Locke zum Andenken dalassen sollte. Dann ging sie.

Steerforth lachte so sehr, daß ich mitlachen mußte, obwohl mir nicht danach zumute war. Dann erzählte er mir, daß Miss Mowcher einen großen Kundenkreis habe und sich vielen Leuten auf mancherlei Weise nützlich mache. Einige behandelten sie als ein bißchen verrückt, aber sie sei eine scharfe Beobachterin und ebenso weitblickend wie kurzarmig.

Ich wollte wissen, ob sie bösartig sei oder gutherzig. Aber da ich mich vergeblich bemühte, seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu lenken, ließ ich davon ab. Dagegen erzählte er mir mit großer Redelust von ihrem Geschick und ihren Einkünften, und daß sie das Schröpfen wissenschaftlich betriebe. Für den Fall, daß ich jemals ihrer Dienste bedürfen sollte!

Sie bildete den Hauptgegenstand unserer Unterhaltung während des Abends, und als ich für die Nacht von ihm schied, rief er mir noch ›Bob schwor‹, wie der Engländer sagte, nach.

Als ich Mr. Barkis‘ Haus erreichte, fand ich zu meiner großen Verwunderung Ham vor demselben auf und ab gehen und vernahm, daß die kleine Emly drin sei.

»Ja, sehen Sie, Masr Davy«, sagte Ham zögernd, »Emly möt drin mit jemand snaken.«

»Ich sollte meinen«, sagte ich lächelnd, »das wäre grade ein Grund für Sie, drin zu sein, Ham.«

»Im allgemeinen freilich, Masr Davy«, sagte er leise, »sollte woll sin. Ein Mächen, Sir, ein junges Mächen, das Emly mal kannte und eigentlich nicht mehr kennen sollte –«

Bei diesen Worten fiel mir plötzlich die Gestalt ein, die ich vor ein paar Stunden hatte von der Mauer kommen sehen.

»Is een armes Wurm, Masr Davy«, sagte Ham. »Wird von allen unner de Foit treten in der Stadt. In den Gräbern auf dem Kirchhof liegt keiner, vor dem sich die Leute mehr scheuten.«

»Bin ich ihr heut abend nicht begegnet, Ham, als wir euch trafen?«

»Woll möglich. Weiß es freilich nich, Masr Davy. Aber nicht lange drauf kam sie zu Emly ans Fenster geschlichen und flüsterte: ›Emly, Emly, um Christi willen, hab ein weiblich Herz für mich. Ich war einst wie du!‹ Das waren feierliche Worte, Masr Davy!«

»Gewiß wohl, Ham. Und was tat Emly?«

»Emly sagte: ›Marta, bist dus? Marta, bist dus wirklich?‹ Sie hatten manchen Tag bei Mr. Omer gearbeitet.«

»Ja, ich entsinne mich ihrer«, rief ich, denn ich erinnerte mich an eins der beiden Mädchen, die ich einst bei meinem ersten Besuch dort gesehen hatte. »Ich entsinne mich ihrer jetzt genau.«

»Marta Endell« sagte Ham, »zwei oder drei Jahre älter als Emly. War ihre Schulfreundin.«

»Ihren Namen kenne ich nicht«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Was das betrifft, Masr Davy«, erwiderte Ham, »is allens mit den Worten gesagt: ›Emly, um Christi willen, hab ein weiblich Herz für mich. Ich war einmal so wie du! –‹ Sie wollte mit Emly sprechen; Emly konnte nicht – dort, denn Onkel war nach Hause gekommen, und er wollte nicht – nein, Masr Davy, – so gut und weichherzig er ist, so konnte er doch nicht um alle Schätze, die im Meer liegen, die beiden nebeneinander sehen.«

Ich fühlte, wie wahr das sei, und empfand es so deutlich wie Ham.

»Emly schreibt also mit Bleistift einen Zettel und reicht ihn ihr durchs Fenster hinaus. ›Zeig das meiner Tante, Mrs. Barkis, und sie wird dich aus Liebe zu mir aufnehmen, bis der Onkel ausgegangen ist und ich kommen kann.‹ Nach und nach erzählt sie mirs, Masr Davy, und bittet mich, sie herzubringen. Was kann ich tun? Freilich sollte sie so eine nicht kennen, aber ich kann ihr nichts abschlagen, wenn sie weint.«

Er griff in die Brust seiner zottigen Jacke und zog sehr sorglich eine kleine, hübsche Börse hervor.

»Und wenn ichs ihr nicht abschlagen konnte, als ihr die Tränen im Auge standen, Masr Davy«, sagte Ham, »wie könnt ichs ihr abschlagen, als sie mir das zu tragen gab, – da ich doch wußte, wozu – son lütt Spielzeuch und so wenig Geld drin! Meine liebe Emly!«

Ich schüttelte ihm warm die Hand, – es tat mir wohler als Worte, und wir gingen ein paar Minuten schweigend auf und ab. Da öffnete sich die Türe, und Peggotty winkte Ham, einzutreten. Ich wollte mich entfernen, aber sie kam mir nach und bat mich ebenfalls hereinzukommen. Da die Tür unmittelbar in die Küche führte, stand ich, eh ich mir dessen recht bewußt war, mitten unter ihnen.

Das Mädchen – dasselbe, das ich auf den Dünen gesehen, – kniete nicht weit vom Feuer auf dem Fußboden und hatte den Kopf und den Arm auf einen Stuhl gelegt. Aus ihrer Stellung erriet ich, daß Emly eben erst aufgestanden war, und daß Kopf und Arm auf ihrem Schoße geruht hatten.

Ich konnte nicht viel von dem Gesicht des Mädchens sehen, denn es war halb von dem gelösten Haar bedeckt, das zerrauft aussah, als ob sie es sich zerwühlt hätte. Ich konnte nur erkennen, daß sie jung und blond war.

Peggotty hatte geweint. Die kleine Emly ebenfalls. Niemand sprach ein Wort. Die Schwarzwälderuhr schien in dem Schweigen doppelt so laut zu ticken wie gewöhnlich.

Emly redete zuerst.

»Marta möchte nach London gehen«, sagte sie zu Ham.

Er stand zwischen beiden und sah auf das kniende Mädchen mit einem Gemisch von Mitleid und Besorgnis, sie möchte in zu nahe Berührung mit ihr kommen, die er so liebte. Alle sprachen, als ob sie krank wäre, fast im Flüsterton.

»Besser dort als hier«, sagte eine dritte Stimme laut. Es war Marta; aber sie regte sich nicht dabei. »Niemand kennt mich dort. Hier kennt mich jeder.«

»Was will sie dort?« fragte Ham.

Das Mädchen hob den Kopf empor und sah einen Augenblick schmerzlich auf. Dann ließ sie ihn wieder sinken wie ein Weib im tiefsten Schmerz.

»Sie wird versuchen, ordentlich zu sein«, sagte die kleine Emly. »Du weißt nicht, wie sie zu uns gesprochen hat! Nicht wahr, Tante.«

Peggotty nickte mitleidig mit dem Kopf.

»Ich will es versuchen«, sagte Marta, »wenn Ihr mir von hier fort helft. Schlimmer als hier kann es nicht werden. Vielleicht wird es besser. O«, sagte sie mit angstvollem Schaudern, »bringt mich fort von diesen Straßen, wo die ganze Stadt von Kindheit an mich kennt.«

Als Emly Ham ihre Hand hinhielt, sah ich, wie er ihr einen kleinen Leinwandbeutel hineinlegte. Sie nahm ihn in der Meinung, es sei ihre Börse, bemerkte aber bald den Irrtum. »Is allens dien, Emly«, hörte ich ihn sagen. »Habe nichts in der Welt, was nicht dein ist, mein Herz! Es macht mir nur deinetwegen Freude.«

Die Tränen traten Emly von neuem in die Augen, aber sie wandte sich ab und ging zu Marta hin. Was sie ihr gab, weiß ich nicht. Ich hörte sie nur flüsternd fragen: »Reicht es?«

»Mehr als genug«, sagte das Mädchen, ergriff Emlys Hand und küßte sie. Dann stand sie auf, nahm ihr Tuch zusammen, bedeckte sich das Gesicht damit und ging laut weinend nach der Türe. Auf der Schwelle blieb sie einen Augenblick stehen, als wollte sie noch etwas sagen oder umkehren, aber kein Wort kam über ihre Lippen. In das Tuch schluchzend, ging sie hinaus. Als die Tür zufiel, sah die kleine Emly uns drei aufgeregt an, verbarg dann ihr Gesicht in den Händen und fing an zu schluchzen.

»Weine nicht, Emly«, sagte Ham und klopfte ihr milde auf die Schulter. »Du sollst nicht so weinen, liebes Herz.«

»Ach Ham«, rief sie immer noch bitterlich schluchzend aus, »ich bin nicht so, wie ich sein sollte. Ich bin manchmal nicht so dankbar, wie ich sein sollte.«

»Doch, doch, bist es immer, ich weiß es«, sagte Ham.

»Nein, nein, nein«, schrie die kleine Emly und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht so gut, wie ich sein sollte!«

Und wieder weinte sie, als ob ihr das Herz brechen müßte.

»Ich mute deiner Liebe zu viel zu, ich weiß, daß ichs tue. Ich quäle dich oft und bin launisch gegen dich, immer, wenn ich ganz anders sein sollte. Du bist niemals so gegen mich. Warum kann ich nur so sein, wo ich doch an nichts weiter denken sollte, als wie ich mich dir dankbar zeigen und dich glücklich machen könnte.«

»Du machst mich immer glücklich, mein Herz!« sagte Ham. »Ich bin glücklich, wenn ich dich sehe. Ich bin den ganzen Tag glücklich, wenn ich an dich denke.«

»Weil du so gut bist!« rief sie aus. »Ach Ham! Es wäre besser für dich, wenn du eine andere liebtest, eine die beständiger und deiner würdiger ist als ich. Die ganz in dir aufginge und niemals launenhaft wäre wie ich!«

»Armes, kleines Weichherz!« sagte Ham leise. »Marta hat sie außer sich gebracht.«

»Bitte, Tante«, schluchzte Emly, »komm her und laß mich meinen Kopf auf deinen Schoß legen. Ach, ich bin heute sehr unglücklich, Tante. Ich bin nicht so gut, wie ich sein sollte. Noch lange nicht, ich weiß es wohl.«

Peggotty setzte sich auf den Stuhl neben das Feuer. Emly schlang ihre Arme um sie, kniete neben ihr nieder und sah ihr flehend ins Gesicht.

»Ach bitte, Tante, versuch mir beizustehen. Lieber Ham, versuch mir beizustehen. Mr. David, der alten Zeiten wegen, bitte, helfen Sie mir. Ich muß besser werden! Ich muß hundertmal dankbarer werden, als ich jetzt bin. Ich muß mehr fühlen, welches Glück es ist, die Frau eines braven Mannes zu werden und ein friedvolles Leben zu führen. O Gott, o Gott, ach mein Herz, mein Herz!«

Sie verbarg ihr Gesicht an der Brust meiner alten Kindsfrau, hörte mit ihrer Klage, die in ihrem Schmerz etwas Kindliches hatte, auf und weinte stumm, während Peggotty sie zu beruhigen suchte, wie ein kleines Kind.

Allmählich wurde sie ruhiger, und dann sprachen wir ihr Trost zu, bis sie wieder aufblickte und mit uns redete. Dann unterhielten wir sie, bis sie wieder lächeln konnte und dann lachen, und sich zuletzt halb beschämt wieder aufrecht setzte, während Peggotty ihr die Locken zurechtstrich, ihr die Augen trocknete und sie wieder hübsch machte, damit der Onkel beim Nachhausekommen nicht frage, warum sein Liebling geweint habe.

Sie tat heute etwas, was ich noch nie bei ihr gesehen hatte, sie küßte ihren Bräutigam unschuldig auf die Backen und drängte sich dicht an seine derbe Gestalt, als wäre er ihre beste Stütze. Als sie in dem matten Mondlicht zusammen fortgingen, und ich ihnen nachblickte und dabei an Marta denken mußte, sah ich, wie sie seinen Arm mit beiden Händen umklammerte und sich immer noch dicht an ihn drängte.

23. Kapitel Ich sehe, daß Mr. Dick recht hatte, und wähle einen Beruf


23. Kapitel Ich sehe, daß Mr. Dick recht hatte, und wähle einen Beruf

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dachte ich viel an die kleine Emly und ihre große Aufregung gestern abend nach Martas Fortgehen. Ich hatte das Gefühl, daß es unrecht sei, Steerforth von der erlebten Szene etwas zu verraten. Gegen niemand fühlte ich eine zartere Empfindung als gegen das liebliche Geschöpf, das meine Gespielin gewesen und das ich auf das hingehendste liebte. Etwas zu erzählen, was mir der Zufall und die Fülle ihrer Herzensregung offenbart, kam mir wie eine Roheit vor, unwürdig meiner selbst, unwürdig des Glanzes unserer reinen Kinderjahre, der immer noch ihr Haupt umgab. Ich faßte daher den Entschluß, es als Geheimnis in meiner Brust zu bewahren, und das verlieh Emlys Bild einen neuen Reiz.

Während wir frühstückten, erhielt ich einen Brief von meiner Tante, dessen Inhalt derart war, daß ich glaubte, Steerforth werde mir einen Rat erteilen können. So beschloß ich, mit ihm darüber während unserer Heimreise zu sprechen. Vorderhand nahm der Abschied von unsern Freunden genug Zeit in Anspruch. Mr. Barkis war in seinem Schmerz über unsere Abreise nicht der letzte. Ich glaube, er hätte seinen Geldkoffer noch einmal aufgesperrt und eine zweite Guinee geopfert, wenn er uns dadurch achtundvierzig Stunden in Yarmouth hätte zurückhalten können. Peggotty und ihre ganze Familie waren voll Schmerz über unsere Abreise. Das ganze Geschäft Omer & Joram stand unter der Türe, um uns Lebewohl zu sagen. So viel Schiffer waren zu Steerforth gekommen, um unsere Koffer an den Wagen zu bringen, daß das Gepäck eines ganzen Regiments hätte befördert werden können. Mit einem Wort, wir reisten zum allgemeinen Bedauern ab und ließen viele Leute sehr betrübt zurück.

»Bleiben Sie lange hier, Littimer?« fragte ich, als der Wagen auf die Abfahrt wartete.

»Nein, Sir. Wahrscheinlich nicht sehr lange.«

»Er kann es jetzt noch nicht wissen«, bemerkte Steerforth leichthin. »Er weiß, was er zu tun hat, und wird es schon besorgen.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich.

Littimer griff bei meinem Kompliment an den Hut, und ich kam mir etwa acht Jahre alt vor. Er griff noch einmal an den Hut und wünschte uns glückliche Reise. Und wir sahen ihn noch von weitem auf dem Trottoir stehen, ein so ehrwürdiges Geheimnis wie eine ägyptische Pyramide.

Eine kleine Weile sprachen wir nicht. Steerforth war ungewöhnlich stumm, und ich hatte genug zu tun mit meinen Gedanken, die sich mit den alten Plätzen und den Veränderungen, die während meiner Abwesenheit vielleicht zu Hause vorgekommen sein mochten, beschäftigten. Schließlich wurde Steerforth plötzlich wieder fröhlich und gesprächig, wie das so seine Art war, faßte mich am Arm und fragte: »Sprich doch, David! Was ists mit dem Brief, den du heute beim Frühstück erwähntest?«

»Richtig«, sagte ich und griff in die Tasche. »Er ist von meiner Tante.«

»Und was schreibt sie? Ist es von Belang?«

»Sie erinnert mich daran, daß der Zweck meiner Reise war, mich ein wenig umzusehen und ein wenig nachzudenken.«

»Was du natürlich getan hast.«

»Eigentlich nur zum Teil. Um die Wahrheit zu sagen, ich fürchte, ich habe es vergessen.«

»Nun so sieh dich jetzt um und hole das Versäumte nach«, sagte Steerforth. »Dort rechts hast du flaches Land und viel Sumpf darin, und links wirst du dasselbe sehen. Schau gradeaus, und du wirst keinen Unterschied finden. Und hinter uns ists gradeso.«

Ich lachte und erwiderte, daß ich aus dem Anblick solcher Einförmigkeit allerdings keinen Anhaltspunkt für einen geeigneten Beruf gewinnen könnte.

»Was meint deine Tante weiter?« fragte Steerforth und blickte auf den Brief in meiner Hand. »Schlägt sie dir etwas vor?«

»O ja. Sie fragt mich, was ich davon halte, Proktor zu werden. Was hältst du davon?«

»Ach, ich weiß nicht«, antwortete Steerforth gleichgültig. »Du kannst, denke ich, das ebenso gut werden wie irgend etwas anderes.« Ich mußte wieder lachen, weil ihm alles so vollständig gleichgültig schien, und sagte es ihm.

»Was ist überhaupt ein Proktor, Steerforth?«

»Na. Das ist so eine Art mönchischer Anwalt. Er ist das bei einigen vermoderten Gerichtshöfen, in Doctors‘ Commons – einem alten, stillen Winkel beim St. Pauls-Kirchhof, was ein Solicitor beim gewöhnlichen Zivilgericht ist. Er bekleidet ein Amt, das von Rechts wegen schon vor zwei Jahrhunderten hätte aufhören sollen. Ich kann dirs am besten erklären, wenn ich dir erzähle, was Doctors‘ Commons ist. Es ist ein kleiner Ort in einem abgelegenen Winkel, wo sie nach sogenanntem Kirchenrecht vorgehen, allerhand Kniffe handhaben nach uralten Ungeheuern von Parlamentsakten, von denen drei Viertel der Welt überhaupt nichts weiß, während das andere Viertel der Meinung ist, man hätte sie bereits in fossilem Zustande ausgegraben. Es ist ein Ort, der ein altes Monopol hat für Rechtsstreitigkeiten über Erbschafts- und Heiratsangelegenheiten und Prozesse wegen Schiff- und Bootsfahrt.«

»Dummes Zeug, Steerforth!« rief ich aus. »Zwischen Kirchenrecht und Seerecht besteht doch keine Verwandtschaft.«

»Gewiß nicht, mein Lieber, aber tatsächlich wird in beiden in Doktors Commons von ein und denselben Richtern geurteilt und entschieden. Wenn du erst einmal dort bist, wirst du sie über die Hälfte der nautischen Wörter in Youngs Marine Lexikon stolpern hören in Sachen der ›Nancy‹ gegen die ›Sarah Jane‹ wegen Beschädigung durch Zusammenstoß, oder weil Mr. Peggotty und die Schiffer von Yarmouth während eines Sturms dem Ostindienfahrer ›Nelson‹ mit Anker und Rettungsleinen zu Hilfe gefahren sind. Und kommst du ein anderes Mal hin, wirst du sie vertieft finden in die Zeugenaussagen gegen einen wegen schlechter Führung angeklagten Geistlichen, und der Richter in dem Schiffsprozeß ist vielleicht Advokat in der Sache des Geistlichen oder umgekehrt. Sie sind wie die Schauspieler. Sind einmal Richter, einmal Advokaten, dann wieder gar nichts von beiden, aber immer ist es ein sehr angenehmes, rentables kleines Privattheatergeschäft, das vor einer ungewöhnlich erlesenen Zuhörerschaft seine Vorstellung gibt.«

»Aber Advokat und Proktor sind doch nicht ein und dasselbe«, fragte ich etwas verwirrt, »oder doch?«

»Nein«, erwiderte Steerforth, »Die Advokaten müssen auf der Universität den Doktor machen. Deshalb weiß ich auch von ihnen etwas. Die Proktoren sind von den Advokaten beschäftigt. Beide beziehen sehr hübsche Honorare und machen im allgemeinen recht gemütliche Geschäftchen miteinander. Ich möchte dir überhaupt anempfehlen, dich für Doctors‘ Commons zu entscheiden, David. Sie brüsten sich dort mit ihrer Vornehmheit, wenn dir das etwas ausmacht.«

Ich zog bei dem etwas karikierten Bilde, das Steerforth eben entworfen hatte, seine Ansichten in gehörigen Betracht und fühlte mich, wenn ich an das altertümliche und würdevolle Aussehen dachte, das ich unwillkürlich mit dem alten, stillen Winkel nicht weit vom St. Pauls-Kirchhof verband, gar nicht abgeneigt, auf den Plan meiner Tante einzugehen. Sie überließ mir übrigens ganz die Entscheidung und sagte mir ganz offen, daß es ihr kürzlich beim Besuch ihres Proktors, als sie ihr Testament zu meinen Gunsten habe umändern lassen, eingefallen sei.

»Es ist jedenfalls ein sehr löbliches Vorhaben deiner Tante«, sagte Steerforth, »und verdient Aufmunterung. Daisy; mein Rat ist, daß du dich für Doctors‘ Commons entscheidest.«

Mein Entschluß stand jetzt fest. Ich erzählte Steerforth weiter, daß mich meine Tante in der Stadt erwarte und sich auf eine Woche in einem Privathotel in Lincolns Inns Fields, das eine steinerne Treppe und eine Eingangstür im Dach aufzuweisen habe, eingemietet hätte. Meine Tante war nämlich fest überzeugt, daß jedes Haus in London Nacht für Nacht von einer Feuersbrunst bedroht sei.

Wir vollendeten den Rest unserer Reise in größter Heiterkeit und kamen des öftern auf Doctors‘ Commons zu sprechen und versetzten uns im Geiste in ferne Zeit, wo ich einst Proktor sein würde, was Steerforth so drollig auszumalen wußte, daß wir beide sehr lustig waren. Als wir unser Reiseziel erreichten, versprach er mir, mich übermorgen zu besuchen, und ich fuhr nach Lincolns Inns Fields, wo mich meine Tante bereits mit dem Abendessen erwartete.

Wenn ich während der Zeit meiner Abwesenheit eine Reise um die Welt gemacht haben würde, hätten wir uns nicht freudiger begrüßen können. Meine Tante weinte fast, als sie mich umarmte, und sagte unter geheucheltem Lächeln, daß, wenn meine arme Mutter noch am Leben wäre, sie gewiß Tränen vergossen haben würde.

»Du hast also Mr. Dick zu Hause gelassen, Tante? Das tut mir leid! – Ach, Janet, wie gehts?«

Als Janet mit einem Knix dankte, fiel mir auf, daß das Gesicht meiner Tante sehr lang wurde.

»Auch mir tut es sehr leid«, fuhr meine Tante fort und rieb sich die Nase. »Ich habe keine Ruhe gehabt, Trot, seit ich hier bin.«

Ehe ich noch fragen konnte, fuhr sie bereits fort:

»Ich bin überzeugt« – sie legte die Hand in bekümmerter Entschlossenheit auf den Tisch –, »daß Dicks Charakter nicht geeignet ist, die Esel fernzuhalten. Es fehlt ihm an der nötigen Entschlossenheit. Ich hätte lieber Janet zu Hause lassen sollen und wäre dann vielleicht ruhiger gewesen. Wenn je ein Esel über meinen Rasen gegangen ist«, sagte sie mit Nachdruck, »dann war es heute nachmittag um vier Uhr. Ein kalter Schauder überfiel mich vom Scheitel bis zur Zehe, und ich weiß genau, es war ein Esel.«

Ich wollte es ihr ausreden, aber sie wies jeden Trost zurück.

»Es war ein Esel«, sagte sie, »und es war der mit dem gestutzten Schweif, auf dem die ›Mordschwester‹ damals ritt, als sie zu uns kam.« – Sie nannte Miss Murdstone nie anders. – »Wenn es einen Esel in Dover gibt, dessen Frechheit ich am wenigsten ertragen kann, so ist es dieser«, und sie schlug auf den Tisch.

Auch Janet versuchte sie zu beruhigen und sagte, der betreffende Esel sei zur Zeit mit Sand- und Kiesfahren beschäftigt und somit keiner Übertretung fähig. Meine Tante aber wollte nichts hören.

Das Abendessen war gut und wurde ganz heiß serviert, obgleich die Zimmer meiner Tante sehr hoch lagen, – ich weiß nicht, ob sie für ihr Geld so viel steinerne Stufen wie möglich beanspruchte oder nur in nächster Nähe der Tür im Dache sein wollte, – und bestand aus einem Huhn, Beefsteak und Gemüse; alles war ausgezeichnet. Meine Tante hatte so ihre eignen Ansichten über Londoner Lebensmittel und aß nur wenig.

»Ich glaube, dieses arme Huhn ist in einem Keller ausgekrochen«, sagte sie, »und nicht an die Luft gekommen außer auf einen Droschkenstand. Ich hoffe, das Beefsteak ist Rindfleisch, aber ich glaube es nicht. Nichts ist echt in dieser Stadt, nur der Schmutz.«

»Kann denn das Huhn nicht vom Lande sein, Tante?« fragte ich.

»Ausgeschlossen! Es würde einem Londoner Kaufmann kein Vergnügen machen, etwas Echtes zu verkaufen.«

Ich wagte nicht, diese Meinung zu bestreiten, ließ mir jedoch das Abendessen gut schmecken, was meiner Tante sehr zur Befriedigung gereichte. Als der Tisch abgeräumt war, half ihr Janet das Haar aufstecken, damit sie ihre Nachtmütze aufsetzen konnte, die kleiner war als gewöhnlich – wegen der Möglichkeit einer Feuersbrunst. Dann nahmen wir am Kamin Platz. Nach gewissen feststehenden Regeln, von denen nicht die leiseste Abweichung geduldet wurde, bereitete ich ihr ein Glas weißen Glühwein und schnitt eine Scheibe Toast in lange dünne Streifen. Damit sollte der Rest des Abends vergehen. Sie saß mir gegenüber, trank ihren Glühwein und tunkte die Röstschnitten hinein und sah mich unter dem Besatz ihrer Nachtmütze hervor wohlwollend an.

»Nun, Trot«, fing sie an, »was sagst du zu der Idee mit dem Proktor? Oder hast du noch nicht darüber nachgedacht?«

»Ich habe sogar sehr viel darüber nachgedacht, liebe Tante, und lange darüber mit Steerforth beraten. Ich finde sehr großen Gefallen daran. Ganz außerordentlichen Gefallen.«

»Aber das ist ja herrlich!«

»Nur ein Bedenken hätte ich, Tante.«

»Nur heraus damit, Trot.«

»Schau, ich möchte dich fragen, Tante, da es doch ein privilegierter Beruf ist, ob mein Eintritt nicht sehr teuer zu stehen kommen wird.«

»Dich einschreiben zu lassen, kostet gerade tausend Pfund.«

»Das macht mir wirklich viel Sorge«, sagte ich und rückte meinen Stuhl näher an sie heran. »Das ist sehr viel Geld. Du hast schon so viel für meine Erziehung ausgegeben und mich in jeder Hinsicht so freigebig ausgestattet wie nur möglich. Es gibt gewiß manchen Beruf, den ich ohne besondere Auslagen anfangen könnte und in dem ich doch Aussicht hätte, es mit Fleiß und Ausdauer zu etwas zu bringen. Glaubst du nicht, daß es besser wäre, es auf diese Weise zu versuchen? Weißt du bestimmt, daß du so viel Geld auslegen kannst und daß es recht ist, es auf diese Weise auszugeben? Ich bitte dich, – dich, meine zweite Mutter, das wohl zu überlegen. Bist du dir darüber klar?«

Meine Tante aß die Röstschnitte, die sie angebissen hatte, zuerst ruhig zu Ende, wobei sie mich fest ansah, dann setzte sie das Glas auf den Kamin, faltete die Hände über ihr Knie und sagte:

»Trot, mein Kind, wenn ich einen Lebenszweck habe, so ist es der, dich zu einem glücklichen und verständigen Menschen zu machen. Ich habe es mir vorgenommen. Und auch Dick. Ich wünschte, gewisse Leute könnten Dicks Meinung über diese Sache hören. Sein Scharfblick ist wunderbar. Aber kein Mensch außer mir weiß, was dieser Mann für einen Verstand hat.« Sie hielt einen Augenblick inne, um meine Hand zu ergreifen, und fuhr fort:

»Man soll nur an die Vergangenheit denken, wenn man daraus Nutzen für die Gegenwart ziehen kann. Vielleicht hätte ich mich mit deinem armen Vater besser vertragen können, vielleicht auch mit deiner Mutter, dem armen Kind, selbst damals noch, als sie mich mit deiner Schwester Betsey Trotwood so enttäuschte. Als du zu mir kamst, als kleiner fortgelaufner Junge, ganz staubig und die Füße vom Weg zerrissen, dachte ich es mir. Von dem Tag an bis heute, Trot, bist du immer mein Stolz und meine Freude gewesen. Niemand anders hat auf mein Vermögen Anspruch – wenigstens –« hier stockte sie zu meiner Verwunderung und wurde verlegen – »nein, niemand anders hat darauf Anspruch, und du bist mein Adoptivkind. Sei mir, wenn ich alt bin, ein liebevoller Sohn und nimm es mit meinen Launen nicht so genau, und du wirst mehr tun für eine alte Frau, deren beste Lebenszeit nicht so glücklich und zufrieden war, wie sie hätte sein können, als diese Frau für dich tut.«

Es war das erste Mal, daß ich meine Tante von ihrer frühern Lebensgeschichte sprechen hörte. In der anspruchslosen Weise, wie sie es tat und dann schnell abbrach, lag eine Großherzigkeit, die meine Liebe und Verehrung zu ihr womöglich noch vermehrte.

»Wir sind also soweit einig, Trot«, sagte sie, »und brauchen nicht weiter davon zu reden. Gib mir einen Kuß. Wir wollen morgen nach dem Frühstück zu Doctors‘ Commons gehen.«

Wir plauderten noch lange beim Feuer, ehe wir zu Bett gingen.

Mein Schlafzimmer befand sich mit dem meiner Tante auf einem Flur, und es störte mich ein wenig, daß sie in der Nacht oft bei mir anklopfte, wenn Fiaker in der Ferne rollten, und mich fragte, ob ich die Feuerspritzen hörte. Aber gegen Morgen schlief sie fester und ließ mich in Ruhe. Mittags machten wir uns auf den Weg nach der Kanzlei der Herren Spenlow & Jorkins in Doktors‘ Commons. Meine Tante hatte noch eine andere vorgefaßte Meinung von London und sah in jedem Menschen einen Taschendieb. Deshalb gab sie mir ihre Börse mit zehn Guineen und etwas Silbergeld zum Tragen.

Wir waren fast am Ziel, als sie plötzlich ihre Schritte beschleunigte und ganz erschreckt aussah. Es fiel mir auf, daß ein ärmlich gekleideter, verdächtig aussehender Mann, der uns eine Weile aufmerksam angestarrt, jetzt schnell hinter uns herging, als wolle er meine Tante anrempeln.

»Trot, lieber Trot!« flüsterte sie mir erschrocken zu und preßte meinen Arm. »Ich weiß nicht, was ich tun soll!«

»Beunruhige dich nicht«, sagte ich. »Es ist kein Grund dazu. Tritt in einen Laden, und ich werde mit dem Burschen sehr schnell fertig sein.«

»Nein, nein, Kind«, entgegnete sie, »um alles in der Welt, sprich nicht mit ihm. Ich bitte dich, ich befehle es dir!«

»Aber lieber Himmel, Tante!« sagte ich. »Er ist nichts als ein frecher Bettler.«

»Du weißt nicht, wer er ist«, entgegnete meine Tante. »Du weißt nicht, was du sprichst.«

Wir waren mittlerweile in einen Torweg getreten, und der Mann war ebenfalls stehengeblieben.

»Sieh ihn nicht an«, sagte meine Tante, als ich mich zornig umdrehte. »Bitte besorge mir eine Droschke, mein Kind, und erwarte mich auf dem Paulskirchhof.«

»Dich erwarten?« wiederholte ich.

»Ja«, antwortete meine Tante. »Ich muß mit ihm gehen.«

»Mit ihm, Tante? Mit diesem Mann?«

»Ich bin vollständig bei Sinnen«, antwortete sie, »und ich sage dir, ich muß. Hole mir eine Droschke.«

Sosehr mich ihr Benehmen in Erstaunen versetzte, fühlte ich doch, daß ich kein Recht hatte, einen so entschieden ausgesprochenen Wunsch abzuschlagen. Ich ging eilig ein paar Schritte und rief einen leer vorbeifahrenden Fiaker an. Ich hatte kaum Zeit, den Tritt herabzulassen, als meine Tante schon hineinstieg und der Mann ihr folgte. Sie winkte mir mit der Hand so ernstlich, zu gehen, daß ich unwillkürlich sofort gehorchte. Ich hörte noch, wie sie zu dem Kutscher sagte: »Fahren Sie los, ganz gleichgültig wohin!«

Es fiel mir wieder ein, was mir Mr. Dick erzählt und was ich damals für eine Sinnestäuschung von ihm gehalten hatte. Ohne Zweifel war der Unbekannte, von dem er gesprochen, derselbe, obgleich ich mir nicht im mindesten denken konnte, welcher Art sein Einfluß auf meine Tante sein mochte. Nach einer halben Stunde Wartens auf dem Kirchhof sah ich den Wagen wieder kommen, und meine Tante saß allein drin.

Sie hatte sich noch nicht genügend von ihrer Aufregung erholt, um den beabsichtigten Besuch sogleich machen zu können. Ich mußte zu ihr einsteigen, und wir fuhren eine Weile langsam die Straße auf und ab. Sie sagte weiter nichts: »Mein liebes Kind, frage mich niemals, was eben geschehen ist, und sprich nicht davon.«

Als sie ihre Fassung endlich wiedergewonnen hatte, sagte sie, sie sei jetzt wieder ganz ruhig und wir könnten aussteigen. Als sie mir ihre Börse gab, damit ich den Kutscher bezahle, bemerkte ich, daß die Guineen nicht mehr drin waren; nur noch das Silbergeld.

Ein kleiner niedriger Torweg führte uns zu Doctors‘ Commons. Schon nach ein paar Schritten schien mir das Geräusch der Stadt wie durch Zauber in weite Ferne gerückt. Ein paar stille Höfe und schmale Gänge brachten uns zu der Kanzlei von Spenlow & Jorkins, die Oberlicht hatte und in deren Vorzimmer drei oder vier Schreiber tätig waren. Einer derselben, ein kleiner vertrockneter Mann mit einer steifen, braunen Perücke, die wie aus Pfefferkuchen aussah, stand auf, um meine Tante zu begrüßen, und wies uns in Mr. Spenlows Zimmer.

»Mr. Spenlow ist bei Gericht, Ma’am«, sagte er, »er hat Tagfahrt im Archivgericht, aber es ist gleich daneben, und ich werde sofort um ihn schicken.«

Während wir warteten, benutzte ich die Gelegenheit, mich umzusehen. Das Mobiliar des Zimmers war altmodisch und verstaubt. Das grüne Tuch auf dem Schreibtisch hatte die Farbe ganz verloren und sah welk und bleich aus wie ein Findelkind. Es lagen viele beschriebene Rollen darauf, einige bezeichnet mit Konsistorial-, andere mit Archivgericht, andere mit Prerogativ- und Admiralitätsgericht, noch andere mit Delegiertengericht, so daß ich mich erstaunt fragte, wie viel Gerichte es wohl überhaupt geben möge und wie lange es wohl dauern würde, bis ich das alles verstünde. Außerdem bemerkte ich mehrere außerordentlich dicke Bücher mit notariell aufgenommenen Zeugenaussagen, stark gebunden und in Reihen gestellt, immer eine Reihe für je einen Rechtsfall. Alles das sah sehr einträglich aus und gab mir einen angenehmen Begriff von den Geschäften eines Proktors. Ich musterte mit zunehmendem Wohlgefallen diese und andere ähnliche Gegenstände, als man draußen eilige Schritte hörte und Mr. Spenlow in einem schwarzen, mit weißem Pelz besetzten Talar hereintrat.

Er war ein kleiner, hellblonder Gentleman mit tadellosen Stiefeln und einem weißen Halskragen von der steifsten Sorte. Sehr knapp und sorgfältig zugeknöpft schien er sich sehr viel Mühe mit der Pflege seines sorgfältig gelockten Backenbarts gegeben zu haben. Seine goldne Uhrkette war so schwer, daß mich die spaßhafte Vermutung beschlich, ob er, um sie herauszuziehen, nicht auch einen so starken, goldnen Arm haben müßte, wie er über den Läden der Goldschmiede zu sehen ist. Er war so sorgfältig angezogen und so steif, daß er sich kaum verbeugen konnte, und wenn er ein paar Papiere auf seinem Pult ansehen wollte, sich aus der Hüfte heraus verneigen mußte wie eine Gliederpuppe.

Meine Tante stellte mich vor. Er begrüßte mich mit großer Höflichkeit und sagte dann:

»Sie gedenken also, Mr. Copperfield, sich unserm Beruf zu widmen. Ich erwähnte neulich zufällig Miss Trotwood, als ich das Vergnügen hatte, mit ihr zu sprechen – er machte eine höfliche Gliederpuppenverbeugung –, daß bei uns eine Stelle vakant sei. Miss Trotwood war so freundlich zu bemerken, daß sie einen Neffen habe, für den sie eine gute Stellung suche. Diesen Neffen habe ich jetzt wahrscheinlich das Vergnügen?« – wieder Puppenverbeugung.

Ich verbeugte mich ebenfalls und erwiderte, meine Tante habe es mir mitgeteilt; ich könnte aber jetzt noch nicht sagen, wie es mir gefallen würde, ehe ich nicht mehr davon kennengelernt hätte, und daß ich voraussetzte, ich würde sozusagen versuchsweise eintreten dürfen.

»O gewiß, gewiß!« sagte Mr. Spenlow. »Wir schlagen in unserm Geschäft immer einen Monat vor – einen Probemonat. Ich würde mich glücklich schätzen, zwei Monate oder drei oder eine unbestimmte Zeit anzubieten, aber ich habe einen Kompagnon, Mr. Jorkins.«

»Und die Gebühr beträgt tausend Pfund, Sir?« fragte ich weiter.

»Die Gebühr, Stempel eingerechnet, beträgt tausend Pfund. Wie ich schon zu Miss Trotwood erwähnte, werde ich nie von gewinnsüchtigen Rücksichten bestimmt oder gewiß weniger als die meisten Menschen. Mr. Jorkins hat jedoch seine Ansichten über die Sache, und ich halte es für meine Pflicht, Mr. Jorkins‘ Meinung zu respektieren. Mr. Jorkins hält tausend Pfund sogar für zuwenig.«

»Ich nehme an«, sagte ich, immer noch in der Hoffnung, meiner Tante Ausgaben ersparen zu können, »daß Sie sicherlich einem eingeschriebenen Angestellten, wenn er sich besonders nützlich macht und seinen Beruf gründlich erfüllt« – ich mußte erröten, denn es klang so sehr wie Selbstlob –, »in den letzten Jahren seiner Lehrzeit –«

Mr. Spenlow beeilte sich, meinem Wort »Salär« zuvorzukommen, und hob mit großer Anstrengung seinen Kopf so weit über den Halskragen, um ihn schütteln zu können.

»Nein! Ich will nicht sagen, wie ich über diesen Punkt denken würde, wenn ich nicht gebunden wäre. Mr. Jorkins ist unerbittlich.«

Mir wurde ordentlich angst vor diesem schrecklichen Mr. Jorkins. Später fand ich, daß er ein sehr sanfter Mann von etwas trägem Temperament war, der im Geschäft selbst stets unbemerkt im Hintergrund blieb, aber immer als der hartnäckigste und unbarmherzigste Mensch vorgeschoben wurde. Wenn ein Schreiber höheres Gehalt haben wollte, zeigte sich Mr. Jorkins unerbittlich. War ein Klient langsam im Bezahlen der Kosten, so bestand Mr. Jorkins hartherzig darauf, und so höchst unangenehm diese Sachen für Mr. Spenlows Gefühle sein mochten, – Mr. Jorkins bestand auf seinem Schein. Das Herz und die Hand des guten Engels Spenlow wären immer offen gewesen ohne den Dämon Jorkins. Im spätem Alter habe ich noch manche Kanzlei kennengelernt, die nach dem Prinzip Spenlow & Jorkins vorging.

Es wurde vereinbart, daß ich meinen Probemonat anfangen sollte, sobald es mir beliebe, und daß bis zu seinem Ablauf meine Tante ruhig in Dover bleiben könne, da ihr der Kontrakt ohne Schwierigkeiten zur Unterschrift nach Hause geschickt werden würde. Als wir das abgemacht hatten, erbot sich Mr. Spenlow, mich im Gerichtshof herumzuführen. Ich nahm es sehr gerne an, und wir gingen fort, ließen aber meine Tante zurück, da sie sich, wie sie sagte, an solche Orte nicht wagte. Sie schien Gerichtshöfe für eine Art Pulvermühlen, die jeden Augenblick auffliegen könnten, zu halten.

Mr. Spenlow führte mich durch einen gepflasterten, von ernsten Ziegelsteingebäuden umgebenen Hof – nach den Schildern an den Türen und den Namen der Doktoren zu schließen, Amtswohnungen der studierten Advokaten, von denen Steerforth gesprochen, – und dann in einen großen dunkeln Saal linker Hand, der fast wie eine Kapelle aussah.

Der rückwärtige Teil des Raumes war durch ein Gitter abgesperrt. Drin saßen an beiden Seiten einer erhöhten Bühne in Hufeisenform auf altmodischen Speisezimmerlehnstühlen in roten Talaren und grauen Perücken die erwähnten Doktoren. In der Rundung des Hufeisens zwinkerte über einem kleinen Pult, das wie eine Kanzel aussah, ein alter Herr hervor, den ich, wenn er in einem Vogelkäfig gesessen hätte, für eine Eule gehalten haben würde, der aber nur, wie ich erfuhr, der Vorsitzende Richter war. Innerhalb des Hufeisens, etwas niedriger – sozusagen zu ebner Erde –, saßen verschiedne andere Herren von Mr. Spenlows Rang, wie er in schwarze, mit weißem Pelz verbrämte Amtstracht gekleidet. Ihre Kragen waren durchweg sehr steif und ihre Blicke sehr hochfahrend; aber in letzterer Hinsicht bemerkte ich, daß ich ihnen unrecht getan hatte, als zwei oder drei von ihnen aufzustehen und eine Frage des Vorsitzenden Richters zu beantworten hatten. Noch nie sah ich etwas Schafsmäßigeres.

Das Publikum, bestehend aus einem Burschen mit einem langen Umhängtuch und einem schäbig eleganten Herrn, der heimlich Brotkrumen aus seinen Rocktaschen aß, wärmte sich an einem Ofen in der Mitte des Saales. Die schläfrige Stille des Ortes wurde nur durch das Knistern des Ofenfeuers oder die Stimme eines der Doktoren unterbrochen, wenn einer von diesen Herren langsam durch die ganze Bibliothek von Zeugenaussagen wanderte und nur unterwegs manchmal zur Erquickung bei irgend einem kleinen Argument einkehrte.

Mein ganzes Leben lang habe ich nie einer so gemütlichen, schläfrigen, altmodischen, zeitvergessenen, kleinen Familiensitzung beigewohnt. Ich fühlte, es mußte auf jeden Mann beruhigend wie ein Opiat wirken, ausgenommen auf einen Klienten.

Sehr befriedigt von dem träumerischen Charakter des Ortes gab ich Mr. Spenlow zu verstehen, daß ich vorläufig genug gesehen hätte, und wir begaben uns wieder zu meiner Tante, mit der ich sodann Commons verließ. Noch beim Herausgehen bei Spenlow & Jorkins sah ich, wie die Schreiber einander anstießen und mit ihren Federn auf mich deuteten, was mir meine große Jugend wieder sehr lebhaft vor Augen führte.

Wir erreichten Lincolns Inns Fields ohne neue Abenteuer, außer, daß wir einem unglücklichen Esel vor einem Obstkarren begegneten, der in meiner Tante peinliche Erinnerungen erweckte. Wir führten noch eine lange Unterhaltung über meine Zukunft, als wir in unserer Wohnung angekommen waren. Da ich wußte, wie sehr sie sich nach Hause sehnte und geplagt von ihren wunderlichen Gedanken über Feuer, Taschendiebe und Nahrungsmittel sich keine halbe Stunde in London glücklich fühlen konnte, drang ich in sie, sich meinetwegen keine Sorge zu machen, sondern mich ruhig mir selbst zu überlassen.

»Ich habe auch schon dran gedacht, liebes Kind, und bin nicht umsonst eine Woche hier gewesen. Eine kleine möblierte Wohnung ist in Adelphi zu vermieten, Trot! Sie würde wunderbar für dich passen!«

Damit holte sie aus ihrer Tasche eine aus einer Zeitung sorgfältig herausgeschnittene Anzeige, daß in der Buckingham Straße in Adelphi einige möblierte Zimmer als elegante Wohnung für einen jungen Herrn der Rechtshörerschaft zu vermieten und gleich zu beziehen seien. Der Preis war billig, hieß es, und die Wohnung könnte auch für einen Monat überlassen werden.

»Ja, das ist das Wahre, Tante«, sagte ich, ganz erregt von der Aussicht, eine eigne Wohnung zu beziehen.

»Also komm«, erwiderte meine Tante und setzte sogleich wieder ihren Hut auf, den sie eben erst abgelegt hatte. »Wir wollens uns ansehen.«

Wir gingen aus. Die Anzeige wies uns an eine gewisse Mrs. Crupp, und wir zogen die Hausglocke. Erst nach drei- bis viermaligem Läuten konnten wir Mrs. Crupp in Gestalt einer beleibten Dame, deren flanellner Unterrock unter einem Nankingkleid hervorguckte, zu Gesicht bekommen.

»Bitte zeigen Sie uns Ihre Zimmer, Ma’am«, sagte meine Tante.

»Für diesen jungen Herrn?« fragte Mrs. Crupp und suchte in der Tasche nach dem Schlüssel.

»Ja, für meinen Neffen.«

»Is a wunderschöne Wohnung für so an Herrn«, sagte Mrs. Crupp.

Wir folgten ihr die Treppe hinauf.

Die Wohnung befand sich im obersten Stock des Hauses, ein großer Vorzug in den Augen meiner Tante – wegen der Feuersgefahr –, und bestand aus einem kleinen Eintrittszimmer, so dunkel, daß man kaum etwas sehen konnte, einem kleinen stockfinstern Vorratszimmer, in dem man überhaupt nichts sehen konnte, einem Wohnzimmer und einer Schlafkammer. Die Möbel waren recht verschossen, aber gut genug für mich. Und unten floß der Fluß vorbei.

Da mir die Wohnung gefiel, zogen sich meine Tante und Mrs. Crupp in die Speisekammer zurück, um über die Bedingungen zu verhandeln, während ich im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen blieb und kaum an die Möglichkeit zu denken wagte, der Mieter eines so vornehmen Quartiers zu werden. Nach einem Zweikampf von einiger Dauer kehrten sie zurück, und ich las zu meiner Freude an ihren Gesichtern, daß die Sache abgemacht sei.

»Sind das die Möbel des letzten Mieters?« fragte meine Tante.

»Ja, Ma’am.«

»Was ist aus ihm geworden?«

Mrs. Crupp wurde von einem quälenden Husten befallen, zwischen dem sie mit großer Schwierigkeit hervorstieß: »Er wurde krank hier, Ma’am, und – und – uch, uch, uch, mein Gott, – er starb.«

»Ha! Woran starb er?«

»Er starb vom Trinken und vom Rauchen.«

»Rauchen? Sie meinen doch nicht Ofenrauch?« fragte meine Tante.

»Nein, Ma’am. Von Zigarren und Pfeifen.«

»Das ist wenigstens nicht ansteckend, Trot«, bemerkte meine Tante sich zu mir wendend.

»Nein«, sagte ich, »allerdings nicht.«

Mit einem Wort, da meine Tante sah, wie sehr mir die Wohnung gefiel, nahm sie sie, vorläufig auf einen Monat, und wenn dann keine Kündigung erfolgen sollte, für das ganze Jahr. Mrs. Crupp hatte die Wäsche und das Kochen zu besorgen; alles andere war bereits abgemacht, und Mrs. Crupp verpflichtete sich ausdrücklich, daß sie mich stets wie einen Sohn lieben werde. Ich sollte übermorgen einziehen, und sie sagte, sie danke dem Himmel, daß sie wieder für jemand zu sorgen habe.

Auf dem Heimwege gab meine Tante der Hoffnung Ausdruck, das Leben, das ich jetzt zu beginnen im Begriffe stehe, werde mir einen selbständigen und festen Charakter geben; weiter verlange sie nichts. Sie wiederholte das noch mehrere Male am folgenden Tag, während wir die Hersendung meiner Bücher und Sachen von Mr. Wickfield regelten. Ich schrieb bei dieser Gelegenheit einen langen Brief an Agnes, den meine Tante zu besorgen versprach.

Sie sorgte für alle meine möglichen Bedürfnisse während des Probemonats auf das reichlichste und freute sich schon auf die bevorstehende Demütigung der Esel in Dover. Zu ihrer und meiner großen Überraschung erschien Steerforth nicht und, als die Kutsche fort war, wandte ich mich dem Adelphi zu und mußte an die Tage denken, wo ich durch seine unterirdischen Bogengänge streifte, und an die glücklichen Veränderungen, die mich wieder ans Licht gebracht.

24. Kapitel Meine erste Ausschweifung


24. Kapitel Meine erste Ausschweifung

Es war etwas wunderbar Schönes, das hohe Schloß für mich allein zu haben und mich, wenn ich die Außentür zumachte, zu fühlen wie Robinson Crusoe, wenn er sich in seiner Festung befand und die Leiter hinter sich hinaufgezogen hatte. Es war etwas Zauberhaftes, mit dem Hausschlüssel in der Tasche in der Stadt herumzugehen und zu wissen, daß man jeden zu sich einladen könnte, ohne irgend jemand damit zu belästigen, als höchstens sich selbst; so wunderbar herrlich, kommen und gehen zu können, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen, und die keuchende Mrs. Crupp aus den Tiefen der Erde heraufzuläuten, wenn man sie brauchte – und sie Lust hatte zu kommen.

Alles das war wunderbar schön, aber eigentlich auch manchmal recht langweilig. Es war sehr hübsch, besonders an einem schönen Morgen, frisch und lebendig bei Tag und noch mehr bei Sonnenschein. Aber wenn der Tag sank, schien das Leben ebenfalls unterzugehen. Ich weiß nicht, wie es kam, aber es war selten gemütlich bei Kerzenschein. Ich hätte jemand haben mögen, um mich mit ihm zu unterhalten. Agnes fehlte mir. An ihrer Statt – die sie immer lächelnd meine Herzensergüsse aufgenommen – herrschte eine öde Leere.

Und bis zu Mrs. Crupp war ein recht weiter Weg.

Nach zwei Tagen und Nächten kam es mir vor, als hätte ich schon ein Jahr dort gewohnt, und, da Steerforth immer noch nicht erschien und ich fürchtete, er könnte krank sein, machte ich am dritten Tag frühmorgens einen Abstecher nach Highgate. Mrs. Steerforth freute sich sehr, mich zu sehen, und sagte mir, er sei zu einem seiner Oxforder Freunde auf Besuch nach Saint Albans gegangen, käme aber morgen zurück. Ich hatte ihn so gern, daß ich auf seine Oxforder Freunde ordentlich eifersüchtig war.

Da man mich so dringend zum Essen einlud, mußte ich annehmen, und wir sprachen den ganzen Tag nur von ihm. Ich erzählte Mrs. Steerforth, wie gerne ihn die Leute in Yarmouth hätten, und was er für ein angenehmer Gesellschafter gewesen sei. Miss Dartle war wie gewöhnlich voller Andeutungen und geheimnisvoller Fragen, hörte aber mit so großem Interesse zu und fragte so oft: »wirklich, ist es wirklich –?« bis sie alles erfahren hatte, was sie wissen wollte. Sie sah genau so aus wie bei meinem ersten Besuch, aber die Damengesellschaft erschien mir so angenehm, daß ich mich ein ganz klein wenig in Miss Dartle verliebte. Mehrmals am Abend und besonders, als ich nachts nach Hause ging, drängte sich mir der Gedanke auf, was für ein angenehmer Verkehr sie für mich in der Buckingham Straße sein müßte.

Ich verzehrte am andern Morgen gerade meinen Kaffee mit Semmeln, – es war wunderbar, wieviel Kaffee Mrs. Crupp verbrauchte und wie schwach er dabei war, – als zu meiner grenzenlosen Freude Steerforth hereintrat.

»Lieber Steerforth!« rief ich aus. »Ich fing schon an zu glauben, ich würde dich nie mehr wiedersehen.«

»Sie haben mich fast gewaltsam entführt«, sagte Steerforth, »gleich am nächsten Morgen nach meiner Rückkehr. Aber Daisy, du haust ja hier wie ein alter Junggeselle.«

Ich zeigte ihm die ganze Wohnung und sogar die Speisekammer voll Stolz, und er lobte alles sehr.

»Ich will dir was sagen, alter Junge«, fügte er dann hinzu. »Ich hätte Lust, das zu meinem Absteigequartier zu machen, bis du mir kündigst.«

Ich war entzückt. Ich sagte ihm, wenns auf die Kündigung ankäme, könnte er bis zum Jüngsten Tag warten.

»Aber du mußt doch etwas frühstücken«, sagte ich und griff nach der Klingel. »Mrs. Crupp soll dir frischen Kaffee kochen, und ich will dir auf meinem neuen Junggesellenherd ein wenig Schinken rösten.«

»Nein, nein«, sagte Steerforth, »klingle nicht. Ich kann nicht. Ich muß mit zwei Kollegen im Piazza-Hotel in Covent Garden frühstücken.«

»Dann kommst du aber doch zum Mittagessen?«

»Mein Wort, ich kann nicht! Nichts würde mir angenehmer sein, aber ich muß bei den beiden bleiben. Wir wollen alle drei morgen früh wieder fort.«

»Nun, dann bring sie mit hierher zu Tisch«, schlug ich vor. »Glaubst du, sie würden kommen?«

»O gewiß, sehr gerne«, sagte Steerforth, »aber wir würden dir Ungelegenheiten machen. Speise du lieber mit uns irgendwo.«

Damit wollte ich mich in keiner Weise einverstanden erklären. Ich konnte doch keine bessere Gelegenheit finden, ein kleines Antrittsfest zu geben. Ich war auf meine Wohnung noch einmal so stolz, nachdem Steerforth sie so gelobt hatte, und brannte vor Verlangen, sie alle Stücke spielen zu lassen. Er mußte mir daher auf das bestimmteste im Namen seiner Freunde für sechs Uhr abends zusagen.

Als er fort war, klingelte ich Mrs. Crupp und weihte sie in meinen verwegnen Plan ein. Sie sagte vorerst, selbstverständlich könne man von ihr nicht erwarten, daß sie bei Tisch bediene, aber sie kenne einen gewandten jungen Mann, der für fünf Schillinge und ein kleines Trinkgeld vielleicht dazu bereit wäre. Ich bestellte natürlich diesen jungen Mann. Dann sagte Mrs. Crupp, sie könne selbstverständlich nicht an zwei Orten zugleich sein, was mir einleuchtete, und daß ein junges »Gschöpf« in der Speisekammer, um Teller zu waschen, unentbehrlich sei. Ich fragte, was so ein Mädchen kosten könne, und Mrs. Crupp sagte, achtzehn Pence würden mich kaum zugrunde richten. Das sah ich ein, und so war alles abgemacht. Dann sagte Mrs. Crupp: »Jetzt also das Essen.« Es war ein bemerkenswertes Beispiel von Gedankenlosigkeit seitens des Ofensetzers, daß Mrs. Crupps Küchenherd so gebaut war, daß man nur Hammelkoteletten und Kartoffelbrei darauf kochen konnte. Den Fischkessel, sagte sie, sollte ich nur einmal in der Küche ansehen. Weiter könne sie nichts sagen.

Warum sollte ich ihn ansehen! Da es doch nichts geholfen hätte, schlug ich es ab und sagte ihr: »Also kein Fischgericht!« Aber Mrs. Crupp meinte: »Sagen Sie das nicht, es gibt doch Austern! Warum wollen Sie die nicht nehmen?« Das war also auch abgemacht. Dann sagte Mrs. Crupp, sie würde folgendes empfehlen: »Ein paar gebratene Hühner – aus der Hotelküche; ein Gericht gedämpftes Rindfleisch mit Gemüse – aus der Hotelküche; zwei Zwischenspeisen – aus der Hotelküche; eine Pastete mit Bohnen – aus der Hotelküche; eine Torte mit Früchtegelee – aus der Hotelküche.« Das, meinte Mrs. Crupp, würde ihr volle Zeit lassen, ihre geistigen Fähigkeiten auf die Kartoffeln zu konzentrieren und den Käse und die Sellerie, so rasch wie ich es wünschte, servieren zu können.

Ich handelte nach Mrs. Crupps Rat und gab selber in der Hotelküche die nötigen Aufträge. Als ich nachher am Strand entlangging und in einem Fleischladen eine harte marmorierte Substanz mit der Aufschrift »Mockturtle« erblickte, ließ ich mir ein Stück abschneiden, das, wie ich später erfuhr, für fünfzehn Personen gereicht hätte. Nicht ohne einige Schwierigkeit verstand sich Mrs. Crupp dazu, das Präparat aufzuwärmen. Es schmolz aber in flüssigem Zustand so zusammen, daß es, wie Steerforth sagte, knapp ein »Happen« für vier war.

Außerdem kaufte ich noch ein kleines Dessert auf dem Covent Garden Markt und gab einem Weinhändler in der Nachbarschaft einen namhaften Auftrag. Als ich nachmittags nach Hause kam und die Flaschen auf dem Fußboden der Vorratskammer im Viereck aufgeschichtet sah, kamen sie mir so zahlreich vor (obgleich zwei fehlten, was Mrs. Crupp sehr unangenehm war), daß ich geradezu darüber erschrak.

Der eine von Steerforths Freunden hieß Grainger, der andere Markham. Beide waren sehr fröhliche, lebenslustige junge Leute. Grainger war etwas älter als Steerforth, Markham sah jugendlich aus und konnte höchstens zwanzig sein. Es fiel mir auf, daß Markham stets von sich als der »Mensch« sprach und nie in der ersten Person.

»Der Mensch könnte sich hier sehr wohl befinden, Mr. Copperfield«, sagte Markham.

»Es ist keine schlechte Lage«, stimmte ich zu, »die Wohnung ist wirklich recht bequem.«

»Ich hoffe, ihr habt beide guten Appetit mitgebracht«, fragte Steerforth.

»Ehrenwort!« erwiderte Markham. »Der Mensch bekommt in der Stadt Appetit. Man ist den ganzen Tag hungrig. Man ißt in einem fort.«

Da ich ein wenig befangen war am Anfang und mir zu jung vorkam, um den Wirt zu spielen, bat ich Steerforth zu präsidieren und setzte mich ihm gegenüber. Alles war sehr gut, wir sparten keinen Wein, und er übertraf sich selbst, so gut hielt er alles in Gang, so daß keine Pause in unserm Fest eintrat. Ich konnte während des Essens kein so guter Gesellschafter sein, wie ich wünschte, denn mein Stuhl stand der Tür gegenüber, und meine Aufmerksamkeit wurde immer dadurch abgelenkt, daß der gewandte junge Mann sehr oft das Zimmer verließ und sein Schatten stets unmittelbar darauf mit einer Flasche am Mund an der Wand erschien.

Auch das junge »Gschöpf« machte mir einige Sorgen. Nicht so sehr, weil sie stets vergaß, die Teller zu waschen, sondern weil sie sie immer zerbrach. Da sie sehr wißbegierig zu sein schien und sich nicht auf die Vorratskammer beschränkt hielt, lugte sie beständig durch die halboffene Tür herein, hielt sich jedesmal für entdeckt und zog sich in diesem Glauben des öftern auf die Teller zurück, mit denen sie sorgfältig vorher den Fußboden belegt hatte, und richtete dadurch viel Zerstörung an.

Immerhin waren das geringfügige Unannehmlichkeiten, die ich bald vergaß, als das Tischtuch weggenommen war und das Dessert auf der Tafel stand, um welche Zeit, nebenbei gesagt, der gewandte junge Mann kaum mehr lallen konnte. Ich bedeutete ihm, die Gesellschaft der Mrs. Crupp aufzusuchen und auch das junge »Gschöpf« mit hinunterzunehmen, und überließ mich ganz dem Vergnügen.

Es fing damit an, daß ich sehr heiter wurde; ich erzählte allerlei halbvergessene Dinge und wurde ungewöhnlich gesprächig. Ich lachte herzlich über meine eignen Witze und die der andern, rief Steerforth zur Ordnung, weil er den Wein nicht hatte herumgehen lassen, versprach des öftern nach Oxford zu kommen, erklärte, daß ich vorläufig jede Woche ein solches Diner geben würde, und nahm so furchtbar viel Schnupftabak aus Graingers Dose, daß ich mich in die Speisekammer zurückziehen und zehn Minuten lang niesen mußte.

Der Wein ging immer schneller und schneller herum, und ich öffnete immer mehr Flaschen, lange, bevor es nötig war. Ich sagte, Steerforth sei mein teuerster Freund, der Beschützer meiner Kindheit und der Gefährte meiner Jugend. Ich müsse auf seine Gesundheit trinken. Ich schulde ihm mehr, als ich ihm je vergelten könnte, und bewunderte ihn mehr, als ich mit Worten zu sagen vermöchte. Und dann schloß ich: »Steerforth soll leben! Gott segne ihn! Hurra!« Wir gaben ihm dreimal drei Hurras und dann noch eins und ein noch recht ordentliches, um das Maß vollzumachen. Ich zerbrach mein Glas, als ich um den Tisch ging, ihm die Hand zu schütteln, und sagte in zwei Worten: »Steerforth! dubistderleitsternmeineslebens.«

So ging es fort, da bemerkte ich plötzlich, daß jemand mitten im Singen eines Liedes begriffen war. Markham sang, und zwar: »Wenn die Sorg das Menschenherz mit Gram beschwert.« Am Schluß sagte er, er möchte die Weiber leben lassen. Ich erhob Einspruch dagegen und gestattete es nicht. Ich fand die Form nicht respektvoll genug und wollte niemand in meinem Hause erlauben, anders als auf die »Damen« zu trinken. Ich wurde sehr heftig gegen ihn, weil ich sah, daß Steerforth und Grainger mich auslachten – oder ihn – oder uns beide. Er sagte, »man« ließe sich nichts vorschreiben. Ich war damit nicht einverstanden. Er sagte, der »Mensch« dürfte nicht beleidigt werden. Und ich gab ihm recht. – Unter meinem Dache, wo die Laren und die Gesetze der Gastfreundschaft geheiligt seien, dürfe niemand beleidigt werden. Er sagte, es wäre des Menschen nicht unwürdig zu bekennen, daß ich ein verteufelt guter Kerl sei. Ich ließ ihn sofort hochleben.

Es rauchte jemand. Alle rauchten. Ich rauchte auch und unterdrückte mühsam einen Schüttelfrost. Steerforth hielt eine Rede auf mich, die mich fast bis zu Tränen rührte. Ich dankte in einer Gegenrede und hoffte, die Anwesenden würden morgen bei mir speisen und übermorgen – jeden Tag um fünf Uhr, damit wir einen langen Abend vor uns hätten. Ich fühlte mich bewogen, einen Privattoast auszubringen. Ich ließ meine Tante leben. Miss Betsey Trotwood, die beste ihres Geschlechts.

Es lehnte sich jemand aus meinem Schlaftstubenfenster und kühlte sich die Stirn an dem steinernen Sims. Das war ich. Ich redete mich als Copperfield an und sagte: warum hast du geraucht! Du hättest ja wissen können, daß du es nicht vertragen kannst. Dann sah sich jemand im Spiegel. Das war ich. Meine Augen blickten stier, und mein Haar – nur mein Haar, sonst nichts – sah ganz betrunken aus.

Jemand sagte zu mir: »Wir wollen ins Theater gehen, Copperfield.«

Ich befand mich nicht mehr im Schlafzimmer, sondern wieder an dem mit Gläsern bedeckten Tische. Da stand die Lampe; Grainger saß zu meiner Rechten, Markham links, Steerforth mir gegenüber, – alle von einem Nebel umgeben und weit, weit weg. »Ins Theater? Natürlich. Also los!« Aber sie müßten mich entschuldigen, wenn ich sie erst alle hinausließe und die Lampe abdrehte wegen der Feuersgefahr.

Die Finsternis verwirrte mich. Die Tür war verschwunden. Ich tappte nach ihr in den Fenstergardinen, als Steerforth mich lachend beim Arme faßte und hinausführte. Wir gingen die Treppe hinunter, einer nach dem andern. Auf einer der letzten Stufen stolperte jemand und kollerte hinunter. Eine Stimme sagte, es sei Copperfield. Ich ärgerte mich über die Unwahrheit, bis ich mich im Hausflur auf dem Rücken liegend fand und zu glauben anfing, es müßte doch etwas Wahres dran sein.

Draußen lag starker Nebel, und um die Straßenlaternen hingen große Ringe. Ich hörte so etwas wie, es sei feucht. Mir kam es kalt vor. Steerforth staubte mich unter einer Laterne ab und bog meinen Hut zurecht, den irgend jemand auf höchst rätselhafte Weise irgendwo gefunden hatte. Dann sagte er: »Ist dir schon besser, Copperfield?« und ich erwiderte: »Nie besserer.«

Ein Mann in einem Taubenschlag blickte aus dem Nebel und kassierte Geld von jemand ein und fragte, ob ich einer der Herren wäre, für die gezahlt worden sei. Gleich darauf befanden wir uns sehr hoch oben in einem sehr heißen Theater, und ich sah in ein großes Parterre hinab, das mir zu dampfen schien, so wenig konnte ich die Leute, die darin zusammengepfropft saßen, unterscheiden. Auch eine große Bühne sah ich, die im Vergleich mit der Straße sehr rein und glatt schien, und es waren auch Leute darauf, die unverständlich von irgend etwas sprachen. Ein Überfluß von Licht, Musik, Damen in den Logen, und ich weiß nicht, was sonst noch. Alles schien schwimmen zu lernen und benahm sich ganz unerklärlich, wenn ich es festzuhalten versuchte. Auf irgend jemandes Anregung hin beschlossen wir hinunter in die erste Rangloge zu den Damen zu gehen. Ein Gentleman in Gesellschaftsanzug saß auf einem Sofa. Er zog mit einem Opernglas in der Hand an meinem Blick vorüber. Ebenso mein eignes Bild im Spiegel. Dann führte man mich in eine der Logen, und ich setzte mich irgendwo nieder, sagte etwas, und die Leute in meiner Nähe riefen jemand »Ruhe« zu.

Und die Damen sahen mich empört an und – ja, was ist denn das? Da sitzt Agnes in der Reihe vor mir neben einer Dame und einem Herrn, die ich nicht kenne. Ich sehe ihr Gesicht jetzt noch – besser als damals mit einem auf mich gerichteten, unbeschreiblichen Blick voll Schmerz und Verwunderung.

»Agnes!« sagte ich mit schwerer Zunge. »Mein Gott, Agnes!«

»Still, ich bitte dich«, sagte sie. Ich konnte nicht begreifen warum. »Du störst das Publikum! Schau auf die Bühne.«

Ich versuchte meinem Blick eine bestimmte Richtung zu geben und etwas von dem zu verstehen, was unten vorging, aber es war vergebens. Ich sah sie wieder an, und sie drückte sich scheu in ihre Ecke und hielt ihre Hand an die Stirn.

»Agnes!« lallte ich, »Ichfürchtubisnichwohl.«

»Ja, ja. Bitte, laß mich, Trotwood!« erwiderte sie. »Höre. Gehst du bald wieder?«

»Gehbalwier?« wiederholte ich.

»Ja.«

Ich hatte die törichte Absicht, ihr zu antworten, daß ich auf sie warten wollte, um sie die Treppe hinunterzuführen. Ich mußte es irgendwie herausgebracht haben, denn, nachdem sie mich eine Weile aufmerksam angesehen, sagte sie leise:

»Ich weiß, daß du mir folgen wirst, wenn ich dir sage, daß mir sehr viel daran liegt. Geh jetzt, Trotwood! Um meinetwillen, und bitte deine Freunde, daß sie dich nach Hause bringen!«

Sie hatte mich doch so weit zur Besinnung gebracht, daß ich, wenn auch ärgerlich auf sie, mich schämte und mit einem kurzen »Gura!«, das gute Nacht heißen sollte, aufstand und fortging. Meine Freunde folgten mir, und ich trat aus der Logentür unmittelbar in mein Schlafzimmer, wo bloß noch Steerforth bei mir blieb, mir beim Ausziehen half, wobei ich ihm wiederholt versicherte, Agnes sei meine Schwester, und ihn immerwährend bat, den Korkzieher zu bringen, damit ich noch eine Flasche Wein aufmachen könnte.

Irgend jemand lag in meinem Bett und sagte und tat das immer wieder die ganze Nacht hindurch in einem Fiebertraum und in buntem Wirrwarr, während das Bett wie eine rauhe See niemals stille stand. Aus diesem Jemand wurde langsam ich mit fieberndem Durst in einer heißen, trocknen Haut, die mich umhüllte wie ein hartes Brett.

Meine Zunge war dem Boden eines leeren Kessels gleich, beschlagen von langem Dienst und über einem langsamen Feuer röstend; meine Handflächen Platten von glühendem Metall, die kein Eis kühlen konnte.

Aber erst die Seelenqual, die Reue und die Scham, als ich am Morgen wieder meiner bewußt wurde! Mein Entsetzen, tausend Beleidigungen begangen zu haben, die ich vergessen hatte und nicht mehr gutmachen konnte, – die Erinnerung an Agnes‘ unbeschreiblichen Blick, das quälende Gefühl der Unmöglichkeit, mich mit ihr auszusprechen, da ich weder wußte, wann sie nach London gekommen war, noch wo sie wohnte! Mein Ekel bei dem bloßen Anblick der Stube, wo das Gelage stattgefunden hatte, – der Kopfschmerz, – der Geruch von Zigarrenrauch, der Anblick der Gläser, die Unfähigkeit, aufzustehen, geschweige denn auszugehen. Ach Gott, was war das für ein Tag!

Und der Abend! als ich am Kamin saß mit einem Teller Hammelsuppe, die ganz in Fett schwamm! – Gequält von dem Gedanken, daß ich jetzt auf demselben Wege sei wie mein Vormieter und der Erbe seiner traurigen Geschichte, war ich halb und halb willens, stracks nach Dover zu eilen und alles zu beichten! Wie dann Mrs. Crupp hereinkam, den Suppenteller holte und eine Niere auf dem Käseteller als einzigen Überrest des gestrigen Gelages vorwies, und ich dabei wirklich Neigung fühlte, an ihre Nankingbrust zu sinken und in aufrichtigem Elend zu sagen: »O Mrs. Crupp, Mrs. Crupp, reden Sie nicht von Fleisch, mir ist so miserabel.«

Aber selbst in diesem Katzenjammer fühlte ich so etwas wie Zweifel, daß Mrs. Crupp eine Frau sei, der man vertrauen könne.

25. Kapitel Gute und böse Engel


25. Kapitel Gute und böse Engel

Ich trat am Morgen nach jenem beklagenswerten Tag von Kopfschmerz, Übelkeit und Reue, vollständig verwirrt über das Datum des von mir gegebenen Festes, das mir ein paar Monate in die Vergangenheit zurückgeschoben schien, als hätte ein Heer von Titanen den Hebel der Zeit verrückt, aus meiner Stube, als ich einen Dienstmann mit einem Brief in der Hand die Treppe heraufkommen sah. Er ging ganz langsam; kaum sah er mich aber oben auf der Treppe, verfiel er in Trab und blieb keuchend vor mir stehen, als ob er sich bis zur äußersten Erschöpfung angestrengt hätte.

»D. Copperfield, Hochwohlgeboren«, sagte er und berührte mit seinem kleinen Rohrstock seine Mütze.

Ich konnte mich kaum zu dem Namen bekennen, so bestürzt war ich bei dem Bewußtsein, daß der Brief von Agnes kam. Endlich sagte ich, daß ich D. Copperfield, Hochwohlgeboren, sei und nahm das Schreiben, das, wie der Dienstmann sagte, auf Antwort wartete. Ich ließ ihn vor der Türe stehen und trat mit einer solchen Aufregung in die Stube, daß ich den Brief erst auf den Tisch legen mußte, um mich mit seiner Außenseite etwas vertraut zu machen, ehe ich mich entschließen konnte, ihn aufzubrechen.

Dann fand ich ein paar sehr freundliche Zeilen, die nicht den geringsten Hinweis auf meinen Zustand im Theater enthielten. Sie sagten weiter nichts als: »Lieber Trotwood! Ich wohne hier in dem Hause von Papas Agenten, Mr. Waterbroock, Elypiatz, Holborn. Willst Du mich heute zu jeder beliebigen Stunde besuchen? Immer Deine Agnes.«

Ich brauchte zur Abfassung einer mich befriedigenden Antwort so viel Zeit, daß ich wirklich nicht weiß, was der Dienstmann draußen sich gedacht haben muß; – wahrscheinlich, ich lernte schreiben.

Ich muß mindestens ein halbes Dutzend Briefe entworfen haben. Einer fing an: »Wie kann ich jemals hoffen, liebe Agnes, daß Du den widerlichen Eindruck vergessen kannst, ?« das gefiel mir nicht und ich zerriß den Brief. Ich fing wieder an: »Shakespeare sagt, liebe Agnes, wie seltsam es ist, daß der Mensch im eignen Mund seinen Feind ?« Aber das erinnerte mich an Markham, und ich kam nicht weiter. Ich fing ein drittes Billet mit einer Zeile von sechs Silben an: »Gedenke, gedenke ?« aber das erinnerte mich an den Beginn der Inschrift auf dem Tower, die von Aufruhr und Pulververschwörung handelt. Nach vielen vergeblichen Versuchen schrieb ich endlich: »Meine liebe Agnes! Dein Brief ist ganz wie Du selbst, und ich kann nicht mehr zu seinem Lobe sagen. Ich komme um vier Uhr. Mit aufrichtiger Zuneigung, Dein bekümmerter D. C.« Mit diesem Brief, den ich wohl zwanzigmal zurücknehmen wollte, nachdem ich ihn kaum aus der Hand gegeben, trat der Dienstmann endlich den Rückweg an.

Wenn irgendeinem der Berufsgentlemen in Doctors‘ Commons der Tag nur halb so schrecklich vorkam wie mir, so hat er, glaube ich, genügend Buße für seinen Teil an diesem alten verrotteten kirchengesetzlichen Käse getan. Ich verließ die Kanzlei um halb vier, traf ein paar Minuten später vor Agnes‘ Wohnung ein, und dennoch dauerte es eine volle Viertelstunde, ehe ich den verzweifelten Entschluß fassen konnte, an Mr. Waterbroocks Klingel zu ziehen.

Die Kanzlei für die laufenden Angelegenheiten Mr. Waterbroocks befand sich zu ebner Erde. Der vornehmere Teil der Berufsfragen wickelte sich im obern Teil des Hauses ab. Man führte mich in ein hübsches, aber kleines Gesellschaftszimmer, und hier saß Agnes und häkelte eine Börse.

Ihr Gesicht sah so gut und still aus und erinnerte mich so an die heitern, frischen Tage meiner Schulzeit in Canterbury und stach so sehr von dem betrunknen durchräucherten Scheusal ab, das ich neulich gewesen, daß ich meiner Reue und Scham freien Lauf ließ und – kurz, mich wie ein Kind benahm. Ich kann nicht leugnen, daß ich weinte. Bis zu dieser Stunde weiß ich noch nicht, ob es das Klügste oder das Lächerlichste war, was ich tun konnte.

»Wenn es irgend jemand anders gewesen wäre als du, Agnes«, sagte ich mit abgewandtem Gesicht, »würde es mich nur halb so grämen. Aber daß du grade mich so sehen mußtest! Ich wollte fast, ich wäre lieber gestorben.«

Sie legte ihre Hand – ihre Berührung war wie die keiner andern Hand – einen Augenblick auf meinen Arm, und ich fühlte mich so getröstet und beruhigt, daß ich sie dankbar an meine Lippen drückte.

»Setz dich doch«, sagte Agnes heiter. »Sei nicht unglücklich, Trotwood! Wenn du dich mir nicht anvertrauen kannst, wem denn sonst.«

»Ach, Agnes«, antwortete ich, »du bist mein guter Engel.«

Sie lächelte, wie mir schien, ziemlich trübe und schüttelte den Kopf.

»Ja, Agnes«, wiederholte ich, »mein guter Engel! Immer mein guter Engel.«

»Wenn ich das wirklich sein darf, Trotwood«, sagte sie, »dann kann ich dir auch sagen, daß mir etwas sehr am Herzen liegt.«

Ich sah sie forschend an, bereits mit einem Vorgefühl dessen, was kommen würde.

»Dich vor deinem bösen Engel warnen«, fuhr Agnes fort und sah mich fest an.

»Meine liebe Agnes, wenn du Steerforth meinst –«

»Allerdings, Trotwood.«

»Dann tust du ihm sehr unrecht. Er mein oder irgend jemandes böser Engel! Er, der mir nie etwas anderes als ein Führer, eine Stütze und ein Freund gewesen ist. Liebe Agnes, ist es nicht ungerecht und deiner unwürdig, ihn nach dem, was du neulich abends sahst, zu beurteilen?«

»Ich beurteile ihn durchaus nicht danach«, gab sie ruhig zur Antwort.

»Wonach denn?«

»Nach mancherlei, an sich Kleinigkeiten, die mir aber in einem andern Licht erscheinen, wenn ich sie zusammenhalte. Ich beurteile ihn teils nach dem, was du mir von ihm erzählt hast, Trotwood, teils nach deinem Charakter und dem Einfluß, den er auf dich ausübt.«

Es lag etwas in ihrer sanften Stimme, das in mir eine anklingende Seite zu berühren schien. Ihre Stimme war immer ernst, aber wenn sie sehr ernst war wie jetzt, übte sie einen überwältigenden Einfluß auf mich aus. Ich betrachtete Agnes, während sie stumm ihre Augen auf ihre Arbeit gesenkt hielt. Mir war es, als ob ich ihr noch immer zuhörte, und Steerforths Bild trat, trotz aller meiner Zuneigung zu ihm, durch ihren Ton wie in Dunkelheit zurück.

»Ich nehme mir sehr viel heraus«, sagte Agnes und blickte wieder auf, »wenn ich dir bei meiner geringen Weltkenntnis so zuversichtlich einen Rat gebe oder überhaupt eine so entschiedene Meinung äußere. Aber ich weiß, in welchen Gefühlen sie wurzelt, Trotwood; wie sie ihren Ursprung hat in der Erinnerung an unsere gemeinsam verlebte Jugend und in einer innigen Teilnahme an allem, was dich angeht. Das macht mich so sicher. Ich bin überzeugt, daß ich recht habe. Ich bin davon durchdrungen. Mir ist, als ob jemand anders durch mich spräche und nicht ich, wenn ich dich vor diesem gefährlichen Feinde warne.«

Wieder blickte ich sie an, wieder hatte ich die Empfindung, als ob sie noch spräche, während sie bereits schwieg, und wieder trat sein Bild in tiefen Schatten zurück.

»Ich erwarte nicht etwa«, begann Agnes abermals nach einer Weile, »daß du mit einem Schlag ein Gefühl, das dir bereits zur Überzeugung geworden ist, ausrotten kannst oder wirst; schon deswegen nicht, weil es seine Wurzeln in deinem vertrauenden Charakter hat. Du solltest das auch gar nicht versuchen. Ich bitte dich nur, Trotwood, wenn du an mich denkst – ich meine –«, sagte sie mit einem ruhigen Lächeln, denn ich wollte sie unterbrechen und sie wußte warum, ? »sooft du an mich denkst, dich daran zu erinnern, was ich dir eben gesagt habe. Verzeihst du mir alles das?«

»Ich werde dir verzeihen, Agnes«, erwiderte ich, »wenn du später einmal Steerforth Gerechtigkeit widerfahren läßt und ihn so gern haben wirst wie ich.«

»Erst dann?«

Ihr Gesicht umdüsterte sich einen Augenblick bei diesen Worten, aber sie erwiderte mein Lächeln, und wir waren wieder so rückhaltlos in unserer gegenseitigen Vertraulichkeit wie früher.

»Und wann wirst du mir den letzten Abend verzeihen, Agnes?«

»So oft ich mich daran erinnere!«

Sie wollte damit den Gegenstand fallenlassen, aber das Herz war mir zu voll davon, und ich beharrte darauf, ihr alles ausführlich zu erzählen und ihr auseinanderzusetzen, von welcher Kette zufälliger Umstände das Theater das letzte Glied gewesen war. Diese Erzählung und ein längeres Verweilen bei dem Dienst, den mir Steerforth an jenem Abend geleistet, gewährte mir eine große Erleichterung.

»Du darfst nicht vergessen«, sagte Agnes und lenkte, als ich ausgesprochen, die Unterhaltung ruhevoll auf ein anderes Thema, »daß du mir auch immer Bericht erstatten mußt, wenn du dich verliebst. Wer ist Miss Larkins‘ Nachfolgerin geworden, Trotwood?«

»Niemand, Agnes.«

Agnes lachte und drohte mir mit dem Finger.

»Nein, Agnes, niemand. Auf mein Wort, niemand. Bei Mrs. Steerforth ist wohl eine Dame, die sehr gescheit ist und mit der ich mich gern unterhalte – Miss Dartle –, aber ich mache ihr gewiß nicht den Hof.«

Agnes lachte wieder über ihren Scharfblick und sagte, wenn ich ihr immer mein Vertrauen schenkte, werde sie vielleicht ein kleines Register meiner heftigsten Neigungen anlegen, ähnlich den Tabellen über die Könige und Königinnen von England. Dann fragte sie mich, ob ich Uriah gesehen hätte.

»Uriah Heep? – Nein. Ist er denn in London?«

»Er kommt täglich unten in die Kanzlei. Er fuhr schon eine Woche vor mir nach London. Ich fürchte wegen eines unangenehmen Geschäftes, Trotwood.«

»Ein Geschäft, das dir Unruhe macht, Agnes? Was kann das sein?«

Agnes legte ihre Arbeit weg, faltete ihre Hände und sah mich mit ihren schönen, sanften Augen nachdenklich an.

»Ich glaube, er will bei Papa ins Geschäft eintreten.«

»Was? Uriah? Dieser niedrige, kriecherische Kerl will sich in eine derartige Stellung drängen?« rief ich entrüstet. »Hast du denn dagegen gar keine Vorstellungen erhoben, Agnes? Bedenke doch, was das für eine Verbindung werden würde. Du mußt dich aussprechen darüber! Du darfst nicht dulden, daß dein Vater einen so wahnsinnigen Schritt tut. Du mußt es verhindern, solange es noch Zeit ist.«

Agnes schüttelte den Kopf bei meinen Worten und lächelte ein wenig über meine Wärme, und dann erwiderte sie:

»Du erinnerst dich doch an unser letztes Gespräch wegen meines Vaters? Kaum einige Tage später ließ Papa mir gegenüber die erste Andeutung von dem fallen, was ich dir eben sagte. Es war ein trauriger Anblick, ihn mit dem Wunsch, mir es als eine Sache freier Wahl seinerseits vorzustellen, andererseits seine Unfähigkeit zu verbergen, daß ihm der Schritt aufgezwungen wurde, kämpfen zu sehen. Es schmerzte mich sehr.«

»Aufgezwungen, Agnes? Von wem?«

»Uriah hat sich Papa unentbehrlich gemacht«, fuhr sie nach einigem Schweigen fort. »Er ist schlau und wachsam. Er hat die Schwächen Papas durchschaut und sie ausgenützt, bis – kurz, Trot, – bis Papa ihn fürchtete.«

Es war ersichtlich, daß sie mehr hätte sagen können, mehr wußte oder wenigstens argwöhnte. Ich wollte ihr durch weiteres Fragen keinen Schmerz bereiten, denn ich wußte, daß sie es mir nur verschwieg, um ihren Vater zu schonen. Ich fühlte wohl, daß die Dinge allmählich dieser Wendung entgegengereift sein mußten, und blieb stumm.

»Seine Macht über Papa ist sehr groß. Er stellt sich unterwürfig und bescheiden und dankbar – vielleicht ist er es wirklich – ich will es wenigstens hoffen –, aber er hat eine sehr einflußreiche Stellung errungen und nützt seinen Einfluß aufs äußerste aus.«

Ich sagte, er sei ein Hund, was mich für den Augenblick sehr befriedigte.

»Damals sprach Papa mit mir und sagte, Uriah wolle fort. Es täte ihm sehr leid, aber er habe bessere Aussichten. Papa war sehr niedergeschlagen und von Sorge gebeugter, als du und ich ihn jemals gesehen haben. Der Ausweg, Uriah als Teilhaber anzunehmen, schien ihn sehr zu erleichtern, wenn es auch seinen Stolz verletzte und er sich sehr deswegen zu schämen schien.«

»Und wie nahmst du es auf, Agnes?«

»Hoffentlich, Trotwood, tat ich das Richtige. Ich fühlte, daß das Opfer nötig war, Papas Ruhe wegen, und deshalb bat ich ihn, es zu bringen. Ich sagte ihm, es würde ihm die Last seines Lebens leichter machen – hoffentlich wird es das –, und es wäre mir noch mehr Gelegenheit gegeben, beständig um ihn zu sein. Ach, Trotwood!« Agnes bedeckte sich das Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus. »Mir ist es, als wäre ich meines Vaters Feind gewesen. Ich weiß, gegen wie viele Dinge er sich abgeschlossen hat bloß meinetwegen; wie seine Sorge um mich ihn ängstlich und schwach gemacht hat, weil er sich immer auf denselben Gedanken konzentrierte. Wenn ich das einmal wiedergutmachen könnte! Wenn ich ihn je wieder erheben könnte, so, wie ich jetzt unschuldigerweise die Ursache seines Verfalles bin.«

Ich hatte Agnes noch nie weinen sehen. Wohl hatte sie Tränen in den Augen gehabt, wenn ich immer wieder neue Ehren aus der Schule brachte, auch als wir das letzte Mal von ihrem Vater sprachen; ich hatte gesehen, wie sie ihr liebliches Gesicht abwandte, als wir voneinander Abschied nahmen, aber nie war sie so schmerzlich erschüttert gewesen. Es berührte mich so tief, daß ich nur in einer kindischen, hilflosen Weise sagen konnte: »Bitte, Agnes, weine nicht! Weine nicht! Meine liebe Schwester!«

Aber Agnes war mir zu sehr an Charakterfestigkeit und Willensstärke überlegen, wenn ich es auch damals noch nicht wußte, um meine Tröstungen nötig zu haben. Ihre schöne, ruhige Gelassenheit kehrte bald zurück wie heiterer Himmel über Wolken.

»Wir werden wohl nicht mehr lange allein bleiben«, sagte sie, »und solange ich noch Zeit habe, laß mich dich ernstlich bitten, Trotwood, freundlich gegen Uriah zu sein. Stoß ihn nicht zurück. Sei nicht heftig gegen ihn, wenn du ihn unangenehm empfindest. Er verdient es vielleicht nicht, denn wir können ihm noch nichts Böses nachsagen. In jedem Fall denke zuerst an Papa und mich.«

Agnes konnte nichts weiter hinzufügen, denn die Türe ging auf und Mrs. Waterbroock kam hereingesegelt. Sie war eine große und breite Dame, die ein sehr weites Kleid trug. Vielleicht sah sie nur deswegen so aus. Ich entsann mich dunkel, sie im Theater gesehen zu haben wie in einer Zauberlaterne. Aber wie es schien, erinnerte sie sich meiner noch vollkommen und hatte mich noch immer im Verdacht, betrunken zu sein.

Als sie allmählich herausfand, daß ich nüchtern und ein ganz bescheidner, junger Mann sei, wurde sie viel milder gegen mich gestimmt und fragte mich vorerst, ob ich viel in der Gesellschaft verkehre. Auf meine Verneinung schien ich sehr in ihrer guten Meinung zu sinken, aber gnädig genug verbarg sie das und lud mich für den nächsten Tag zu Tisch ein. Ich nahm die Einladung an und nahm Abschied, suchte Uriah in der Kanzlei auf und ließ, da er abwesend war, meine Karte für ihn zurück.

Als ich tags darauf zum Essen kam, geriet ich beim Öffnen der Haustüre in ein Dampfbad von Schöpsenbratendunst und schloß daraus, daß ich nicht der einzige Gast sei.

Mr. Waterbroock war ein Mann in mittleren Jahren mit kurzem Hals und großem Kragen, und es fehlte ihm zum Mops nur eine schwarze Nase. Er sagte mir, er schätze sich glücklich, die Ehre zu haben, meine Bekanntschaft zu machen. Und als ich mich vor ihm verbeugt hatte, stellte er mich mit großer Feierlichkeit einer ehrfurchtgebietenden schwarzsamtenen Dame in großem Velvethut vor, die mir wie eine nahe Verwandte Hamlets, etwa seine Tante, vorkam.

Sie hieß Mrs. Henry Spiker, und ihr Gatte – ein so frostiger Mann, daß sein grauer Kopf mit Reif bestreut zu sein schien, – war auch zugegen. Unendliche Ehren wurden den Henry Spikers erwiesen; wie mir Agnes sagte, weil Mr. Henry Spiker der Anwalt irgend jemandes war, der in entfernten Beziehungen zur königlichen Schatzkammer stand.

Uriah Heep traf ich auch in der Gesellschaft. Er war in einen schwarzen Anzug und tiefe Unterwürfigkeit gekleidet. Als ich ihm die Hand schüttelte, sagte er, er sei stolz, von mir beachtet zu werden, und fühle sich für meine Herablassung tief verpflichtet. Ich hätte lieber gesehen, er wäre mir weniger verpflichtet gewesen, denn er verfolgte mich wie ein Schatten den ganzen Abend hindurch, und sooft ich ein Wort zu Agnes sprach, sah er mit seinen wimperlosen Augen und seinem Leichengesicht gespenstisch auf uns hin.

Noch andere Gäste waren anwesend, alle in Eis eingekühlt gleich dem Wein. Einer zog meine Aufmerksamkeit besonders auf sich, ehe er noch hereintrat, da man ihn als Mr. Traddles anmeldete. Mit einem Schlag sah ich Salemhaus vor mir und dachte: »Könnte das Tommy sein, der immer die Gerippe zeichnete?«

Ich brannte ordentlich auf Mr. Traddles Bekanntschaft. Er war ein stiller, gesetzt aussehender, junger Mann von zurückhaltendem Wesen und weit offenstehenden Augen und einem recht komischen Haarwuchs. Er versteckte sich so rasch in einem dunkeln Winkel, daß ich ihn nur mit Mühe wiederfinden konnte. Endlich gelang es mir, und entweder täuschten mich meine Augen oder es war wirklich der alte, unglückselige Tommy.

Ich bahnte mir einen Weg zu Mr. Waterbroock und sagte, ich glaubte zu meinem großen Vergnügen, einen alten Schulkollegen hier gefunden zu haben.

»Wirklich?« sagte Mr. Waterbroock überrascht. »Sie sind doch viel zu jung, um mit Mr. Henry Spiker in der Schule gewesen zu sein.«

»O, den meine ich nicht, ich meine Mr. Traddles.«

»Ach so, ach so. Wirklich?« sagte mein Wirt mit merklich verminderter Teilnahme. »Schon möglich.«

»Wenn es wirklich derselbe ist, so waren wir in einem gewissen Salemhaus Kameraden, und er muß ein ganz vortrefflicher Mensch sein.« »O ja, Traddles ist ein guter Kerl«, erwiderte mein Wirt und nickte mit duldsamer Miene. »Traddles ist ein recht guter Kerl.«

»Es ist ein seltsames Zusammentreffen.«

»Ja, wirklich«, stimmte mein Wirt bei. »Traddles wurde erst heute morgen eingeladen, als der Tischplatz, der für Mr. Henry Spikers Bruder bestimmt war, infolge seiner Unpäßlichkeit frei wurde. Mr. Henry Spikers Bruder ist ein sehr feiner Mann, Mr. Copperfield.«

Ich murmelte meine Zustimmung, trotzdem ich nichts von dem Betreffenden wußte, und fragte, was Mr. Traddles Beruf sei.

»Traddles steht vor der Advokatur. Hm, ja. Ja, er ist ein sehr guter Kerl, – hat niemand zum Feind als sich selber.«

»Er hat sich selbst zum Feinde?« sagte ich bedauernd, denn es tat mir leid, das zu hören.

»Nun ja.« Mr. Waterbroock spitzte den Mund und spielte in behäbiger, wohlwollender Weise mit seiner Uhrkette. »Ich möchte sagen, er ist so einer von den Leuten, die sich selbst im Licht stehen. Ich möchte sogar sagen, daß er niemals mehr als fünfhundert Pfund wert sein wird. Traddles wurde mir von einem Geschäftsfreund empfohlen. Ach ja, er hat ein gewisses Talent, Rechtsfälle schriftlich klar auseinanderzusetzen. Ich kann ihm im Laufe des Jahres immerhin nicht Unbedeutendes zukommen lassen. O ja, ja.«

Die behäbige und zufriedene Art, mit der Mr. Waterbroock sich in diesem kleinen Wort »ja« ausließ, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Es lag so viel darin. Mr. Waterbroock machte ganz den Eindruck eines Mannes, der, wenn auch nicht mit einem silbernen Löffel, so doch mit einer Leiter geboren worden war und alle Sprossen geschickt genommen hatte und jetzt mit dem Auge eines Philosophen und Gönners von oben auf die Leute herabsah.

Ich beschäftigte mich noch mit diesem Gedanken, als gemeldet wurde, es sei serviert. Mr. Waterbroock gab Hamlets Tante den Arm. Mr. Henry Spiker führte Mrs. Waterbroock. Agnes, die ich gern unter meine Obhut genommen hätte, bekam einen borniert lächelnden Menschen mit dünnen Beinen zum Tischherrn. Uriah, Traddles und ich schlossen als die jüngsten der Gesellschaft den Zug.

Ich verschmerzte das Mißgeschick, nicht neben Agnes sitzen zu dürfen, ein wenig dadurch, daß ich mich auf der Treppe Traddles zu erkennen geben konnte, der mich mit größter Wärme begrüßte, wobei Uriah sich so zudringlich vor lauter Unterwürfigkeit krümmte, daß ich ihn am liebsten über das Geländer geworfen hätte.

Traddles und ich wurden bei Tisch auseinander gesetzt und erhielten unsern Platz an zwei entgegengesetzten Ecken zugewiesen: er in dem Sonnenschein einer rotsamtnen Dame, ich in der düstern Nacht der Tante Hamlets.

Das Diner dauerte sehr lange, und die Unterhaltung drehte sich um Aristokratie und Vollblut. Mrs. Waterbroock sagte uns des öftern, daß, wenn sie eine Schwäche besäße, es die für das Vollblut sei.

Es wäre viel gemütlicher gewesen, wenn wir uns nicht so vornehm benommen hätten. Wir taten so außerordentlich exklusiv, daß der Gesichtskreis in der Unterhaltung sehr eingeengt war. In der Gesellschaft befand sich ein Mr. Gulpidge mit Frau, der an zweiter Stelle mit den juristischen Geschäften der Bank zu tun hatte. So trug teils die Bank, teils das Schatzamt die Schuld, daß wir förmlich waren bis zum Äußersten. Dazu kam noch, daß Hamlets Tante den Erbfehler ihrer Familie hatte, viel Monologe zu halten und über jedes Thema, auf das die Sprache kam, sich selbst eine Rede zu halten. Allerdings waren dieser Themen nur wenige, aber da wir immer wieder auf das Vollblut zurückkamen, so erschloß sich ihr ein ebenso weites Feld für abstrakte Spekulationen wie einst ihrem berühmten Neffen. Wir hätten ganz gut eine Gesellschaft von Werwölfen sein können, so blutig wurde allmählich die Unterhaltung.

»Ich gestehe, ich bin ganz Mrs. Waterbroocks Meinung«, sagte Mr. Waterbroock und hielt das Weinglas vor das Auge. »Jedes Ding hat seine gute Seite, aber das Blut ist die Hauptsache.«

»Ach«, fiel Hamlets Tante ein, »nichts gewährt so viel Befriedigung. Nichts entspricht in so hohem Grade dem beau idéal. Es gibt wohl – wenn auch zum Glück nicht viele – niedrige Kreaturen, die vor Dingen niederknien, die ich Götzenbilder nennen möchte. Entschieden Götzenbilder! Vor Verdienst, Talent und dergleichen! Aber das sind unfaßbare Begriffe. Blut ist etwas anderes. Wir erkennen Blut an einer Nase. Wir sehen es an der Kinnbildung und sagen, da ist es. Da ist Vollblut. Es ist eine greifbare Sache. Wir können mit Fingern darauf zeigen. Es läßt keinen Zweifel zu.«

Der Simpel mit den dünnen Beinen, der neben Agnes bei Tisch saß, verteidigte die Sache noch viel entschiedener.

»Meine Herrschaften, äh, sie wissen«, sagte er und blickte mit dummem Lächeln herum, »wir können Vollblut nicht entbehren. Einige junge Leute, äh, sind vielleicht in Erziehung und Benehmen hinter ihrer Stellung zurückgeblieben und mögen ein bißchen auf falschem Weg sein, äh, und bringen sich und andere in Verlegenheit, aber auf Ehre, äh, es ist immer angenehm, zu denken, daß sie blaues Blut haben. Ich für meinen Teil möchte mich lieber von einem Mann, der blaues Blut hat, zu Boden schlagen, als von einem aufheben lassen, der keines hat.«

Dieser Ausspruch, der das Thema in eine Nußschale zusammenpreßte, erregte die größte Befriedigung und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf diesen Herrn bis zu dem Moment, wo sich die Damen zurückzogen. Als dies geschehen war, bemerkte ich, daß Mr. Gulpidge und Mr. Henry Spiker, die sich bis dahin sehr fern voneinander gehalten hatten, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen uns übrige schlossen und uns zur Schmach und Demütigung ein geheimnisvolles Gespräch über den Tisch hinüber eröffneten.

»Die Angelegenheit mit dem ersten Schatzschein über viertausendfünfhundert Pfund hat nicht den erwarteten Verlauf genommen«, sagte Mr. Gulpidge.

»Meinen Sie die D. von A.s.?« fragte Mr. Spiker.

»Die C. von B.s.«

Mr. Spiker zog die Augenbrauen in die Höhe und machte ein sehr betroffenes Gesicht.

»Als man sich wegen der Angelegenheit an Lord – Sie wissen schon«, sagte Mr. Gulpidge vorsichtig.

»Ich verstehe«, sagte Mr. Spiker: »N.!«

Mr. Gulpidge nickte geheimnisvoll. – »Als man sich an ihn wendete, sagte er weiter nichts als: ›Geld, oder er kommt nicht los.‹«

»Gott im Himmel!«

»Geld, oder er kommt nicht los«, wiederholte Mr. Gulpidge fest.

»Der nächste an der Reihe! – Sie verstehen mich!«

»K.« sagte Mr. Spiker mit einem ominösen Blick.

»K. weigerte sich nun entschieden, zu unterzeichnen. Man erwartete ihn zu diesem Zweck in Newmarket, und er weigerte sich glatt, es zu tun.«

Mr. Spiker war förmlich versteinert.

»So steht die Sache jetzt noch«, sagte Mr. Gulpidge und warf sich in seinen Stuhl zurück. »Unser Freund Waterbroock wird mich entschuldigen, wenn ich mich wegen der Wichtigkeit der betreffenden Interessen nicht deutlicher erklären kann.«

Mir kam es so vor, als schätze sich Mr. Waterbroock nur zu glücklich, solche Interessen und solche Namen auch nur andeutungsweise an seinem Tisch erwähnen zu hören. Er nahm eine Miene wichtigtuender Mitwisserschaft an, obgleich ich überzeugt bin, daß er ebenso wenig von dem Gespräch verstand wie ich, und billigte höchlichst die von seinen Gästen beobachtete Zurückhaltung.

Als Vergeltung für das ihm anvertraute Geheimnis fühlte Mr. Spiker natürlich ein Bedürfnis, seinem Freunde ebenfalls eins anzuvertrauen. Und so folgte auf das eben erzählte Gespräch ein anderes, in dem die Reihe des Erstaunens an Mr. Gulpidge kam, auf dieses wieder eins, das Mr. Spiker sehr verblüffte, und so ging es fort in bunter Abwechslung. Unterdessen litten wir, die Outsider, unter dem Druck der unermeßlichen Interessen, um die sich das Gespräch drehte, und unser Wirt sah uns als die Opfer heilsamen, ehrfurchtsvollen Grauens und Staunens mit Stolz an.

Ich freute mich sehr, daß ich endlich zu Agnes hinaufgehen, mich mit ihr in einer Ecke unterhalten und ihr Traddles vorstellen konnte, der scheu, aber angenehm und immer noch dasselbe gutmütige Geschöpf wie früher war. Da er morgens früh die Stadt für einen Monat verlassen mußte, konnte ich leider nicht viel mit ihm sprechen, aber wir nahmen uns gegenseitig das Wort ab, gleich nach seiner Rückkehr miteinander zusammenzukommen. Es interessierte ihn sehr, daß ich Steerforth kannte, und er sprach von ihm mit so viel Wärme, daß ich ihn seine Äußerungen vor Agnes wiederholen ließ.

Aber Agnes sah dabei nur mich an und schüttelte bloß leise den Kopf. Da sie sich hier in Gesellschaft von Leuten befand, unter denen sie sich nach meiner Überzeugung unmöglich zu Hause fühlen konnte, freute es mich fast zu hören, daß sie in wenigen Tagen die Stadt verlassen wollte, sosehr es mir auch leid tat, so bald wieder von ihr scheiden zu müssen. Ich blieb, bis alle Gäste fort waren. Mich mit ihr zu unterhalten und sie singen zu hören, weckte in mir so angenehme Erinnerung an das Leben in dem ernsten, alten Haus, das sie so verschönt hatte, daß ich am liebsten die halbe Nacht geblieben wäre. Da ich aber keinen Vorwand zu längerem Bleiben finden konnte, als alle Lichter auf dem Tisch ausgelöscht wurden, empfahl ich mich sehr gegen meinen Willen.

Ich fühlte damals mehr als je, daß Agnes mein guter Engel sei.

Wenn ich sagte, alle Gäste seien schon fortgewesen, hätte ich Uriah ausnehmen sollen, der sich immer in unserer Nähe herumgedrückt hatte. Er folgte mir auf dem Fuße, als ich die Treppe hinabging. Er schlich dicht neben mir, als ich mich vom Hause entfernte, und schob zögernd seine langen Knochenfinger in die noch längeren Finger seiner Handschuhe.

Ich fühlte gar keine Neigung für seine Gesellschaft, aber ich mußte an Agnes‘ Bitte denken und lud ihn ein, mit mir zu kommen und eine Tasse Kaffee zu trinken.

»Ach, Master Copperfield, ich bitte vielmals um Entschuldigung, Mister Copperfield, – das Master kommt mir immer so auf die Lippen – ich möchte nicht, daß Sie sich Ungelegenheiten machen, indem Sie eine so niedrige Person wie mich in Ihr Haus laden.«

»Es macht mir gar keine Ungelegenheiten«, sagte ich. »Wollen Sie?«

»Es würde mich sehr, sehr freuen«, entgegnete Uriah mit einer kriecherischen Verbeugung.

»Nun, so kommen Sie!«

Ich konnte mich nicht überwinden, ihn anders als ziemlich schroff zu behandeln, aber er schien es nicht zu merken. Wir schlugen den kürzesten Weg ein, ohne uns viel zu unterhalten, und er tat so unterwürfig, sogar seinen Vogelscheuchenhandschuhen gegenüber, daß er sie immer noch anzog und noch immer keine Fortschritte damit gemacht hatte, als wir bereits bei meiner Wohnung angekommen waren.

Ich führte ihn die dunkle Treppe hinauf, damit er sich nicht den Kopf anstieße, und seine feuchte kalte Hand lag wie ein Frosch in der meinigen, so daß ich sie am liebsten hätte fallen lassen und davongelaufen wäre. Der Gedanke an Agnes und die Pflichten der Gastfreundschaft behielten jedoch die Oberhand, und ich brachte ihn bis in meine Stube. Als ich Licht anzündete, geriet er in demütige Verzückung über das Zimmer, und als ich den Kaffee in dem einfachen Blechgefäß kochte, in dem Mrs. Crupp ihn am liebsten bereitete, wahrscheinlich, weil das Gefäß nicht dazu bestimmt war – es war ein Rasiertopf – und sie einen sehr teuern Patentkaffeetopf lieber in der Vorratskammer verschimmeln ließ, legte er so viel Bewegung an den Tag, daß ich ihn am liebsten verbrüht hätte.

»Ach wirklich, Master Copperfield – ich meine Mister Copperfield – zu sehen, wie Sie mich so bedienen, das hätte ich nie erwartet. Aber auf allen Seiten geschehen so viele Dinge mit mir, die ich in meiner niedrigen Stellung nie hätte erwarten können, daß es ordentlich ist, als regnete es Segnungen herab auf mein Haupt. Sie haben gewiß etwas von der Veränderung in meinen Aussichten gehört, Mister Copperfield?«

Als er auf meinem Sofa saß, die magern Knie unter der Kaffeetasse in die Höhe gezogen, Hut und Handschuhe auf dem Boden neben sich, mit dem Löffel immer langsam im Kreise rührend, die schlummerlosen rötlichen Augen, die aussahen, als ob ihnen die Wimpern weggesengt worden wären, mir zugewendet, ohne aber mich anzublicken, während die unangenehmen Schattierungen in seinen Nüstern mit seinem Atem kamen und gingen und die schlangenhaften Windungen seinen Körper vom Kinn bis zu den Stiefeln durchliefen, da empfand ich, daß ich ihn tief innerlich haßte. Das Bewußtsein, ihn als Gast bei mir zu haben, stimmte mich sehr unbehaglich. Ich war damals noch jung und verstand es nicht, starke Gefühle zu verbergen.

»Haben gewiß etwas von einer Veränderung in meinen Aussichten gehört, Master Copperfield, – ich wollte sagen, Mister Copperfield?« –

»Ja, so im allgemeinen.«

»Ah, ich dachte mir gleich, Miss Agnes müsse davon wissen. Ich bin so froh, zu hören, das Miss Agnes davon weiß, – o, ich danke Ihnen, Master – Mister Copperfield.«

Ich hätte ihm am liebsten den Stiefelknecht, der vor mir auf dem Teppich stand, an den Kopf geworfen, weil er mich verleitet hatte, etwas über Agnes zu sagen, so unwesentlich es auch war. Aber ich trank ruhig meinen Kaffee weiter.

»Was für ein Prophet sie gewesen sin, Mister Copperfield. Gott, was Sie für ein Prophet gewesen sin! Wissen Sie noch, wie Sie mir einmal gesagt haben, daß ich vielleicht dereinst in Mr. Wickfields Geschäft eintreten und die Firma gar Wickfield & Heep heißen könnte? Sie besinnen sich vielleicht nicht mehr drauf, aber eine so niedrige Person, Master Copperfield, was ich bin, hütet so einen Ausspruch wie einen Schatz.«

»Ich erinnere mich, etwas der Art gesagt zu haben«, entgegnete ich, »wenn ich es damals auch selbst nicht für sehr wahrscheinlich hielt.«

»O, wer hätte das für wahrscheinlich gehalten, Mister Copperfield?!« stimmte Uriah voll Begeisterung ein. »Ich gewiß nicht! Ich weiß noch recht gut, wie ich mit eignem Munde sagte, daß ich dazu eine viel zu niedrige Person sei. Und das war wirklich und wahrhaftig mein Ernst.«

Er saß vor mir mit seinem hölzernen Grinsen und sah ins Feuer.

»Aber was die niedrigste Person is, Master Copperfield«, fuhr er sogleich wieder fort, »kann ein Werkzeug zum Guten werden. Wie froh bin ich, daß ich für Mr. Wickfield ein Werkzeug zum Guten gewesen bin und es noch weiter sein darf. O, was für ein würdiger Herr er gewesen is, Mister Copperfield, aber wie unvorsichtig!«

»Es tut mir sehr leid, das zu hören«, sagte ich. Ich konnte mich nicht zurückhalten, spitzig hinzuzufügen: »In jeder Hinsicht.«

»Sie haben ganz recht, Mister Copperfield«, erwiderte Uriah, »in jeder Hinsicht! Miss Agnes über alles! Sie erinnern sich wohl nicht mehr an Ihre beredten Äußerungen, Master Copperfield, wie Sie einmal sagten, daß jedermann sie bewundern müsse, und wie dankbar ich Ihnen dafür war? Sie haben das sicher vergessen, Master Copperfield.«

»Nein«, sagte ich trocken.

»O, wie mich das freut, zu denken, daß Sie der erste waren, der die Funken des Ehrgeizes in meiner niedrigen Brust weckte, und daß Sie es nicht vergessen haben. O, würden Sie erlauben, daß ich Sie noch um eine Tasse Kaffee bitte?«

Etwas in dem Nachdruck, den er auf das »Wecken der Funken« legte, und der Blick, den er dabei auf mich warf, machte mich auffahren, als ob ich ihn plötzlich im Licht eines Blitzes vor mir hätte stehen sehen. Von seinem Ersuchen, das er in einem ganz andern Ton aussprach, wieder zur Besinnung gebracht, schenkte ich ihm ein, aber mit so unsicherer Hand und von dem Gefühl, daß ich ihm nicht gewachsen sei, und einer so bangen, argwöhnischen Angst vor dem, was er jetzt sagen werde, befallen, daß ich wohl fühlte, nichts von alledem könne seinem Scharfblick entgehen.

Er sagte gar nichts, er rührte seinen Kaffee um, nippte, betastete sein Kinn sanft mit seiner scheußlichen Hand, sah ins Feuer, sah sich im Zimmer um, wand sich in tiefster Demut, rührte und nippte und trank den Kaffee, aber er überließ mir die Fortsetzung des Gesprächs.

»Also, Mr. Wickfield«, sagte ich endlich, »der fünfhundert Ihrer Sorte – oder meiner Sorte aufwiegt«, ich stockte leider vor den Worten »oder meiner« – »ist unvorsichtig gewesen, Mr. Heep?«

»O, sehr sehr unvorsichtig, Master Copperfield«, bestätigte Uriah mit einem bescheidnen Seufzer. »O, wie sehr unvorsichtig! Aber ich möchte gern, daß Sie mich Uriah nennen. Es erinnert so an die alten Zeiten.«

»Nun gut, Uriah«, – ich brachte den Namen nur schwer heraus.

»Ich danke Ihnen!« erwiderte er mit Inbrunst. »Ich danke Ihnen, Master Copperfield. Es ist wie das Wehen des alten Windes oder wie das Läuten alter Glocken, wenn Sie Uriah sagen. Ich bitte um Verzeihung, was hab ich doch gleich gesagt?«

»Sie sprachen von Mr. Wickfield.«

»Ja richtig. Ach, eine große Unvorsichtigkeit, Mister Copperfield! Zu irgendeinem Fremden würde ich gar nicht von der Sache reden, selbst gegen Sie kann ich es nur andeutungsweise. Wenn in den letzten paar Jahren jemand anders an meiner Stelle gewesen wäre, so hätte er Mr. Wickfield ganz unter den Daumen bekommen. Unter den Daumen«, betonte Uriah sehr langsam, streckte seine grausam aussehende Hand aus und preßte sie geballt auf den Tisch nieder, daß er wackelte und das Zimmer erschütterte.

Wenn ich hätte zusehen müssen, wie er seinen breiten Fuß auf Mr. Wickfields Kopf legte, hätte ich ihn nicht mehr hassen können.

»O Gott, ja, Master Copperfield«, fuhr er mit einer sehr sanften Stimme fort, die seltsam zu seiner geballten Faust, die noch immer fest auf dem Tische lastete, abstach. »Daran ist kein Zweifel. Vermögensverlust, Schande, und wer weiß, was sonst noch, wäre das Ende gewesen! Mr. Wickfield weiß es. Ich bin das niedrige Werkzeug, das ihm demütig diente, und er stellt mich auf eine Höhe, die ich nie zu erreichen hoffte. Wie dankbar muß ich sein!« Als er ausgesprochen hatte, wandte er mir sein Gesicht zu, aber ohne mich anzusehen, und schabte langsam und gedankenvoll seinen eckigen Kinnbacken mit dem Daumen, als ob er sich rasierte.

Ich erinnere mich recht gut, wie mir das Herz vor Entrüstung schlug, als sich sein tückisches Gesicht, vom roten Licht passend beleuchtet, wieder zu etwas anderm vorbereitete.

»Master Copperfield«, fing er an, »aber ich halte Sie vom Schlafengehen ab?«

»Sie halten mich nicht ab, ich gehe meist spät zu Bett.«

»Vielen Dank, Master Copperfield! Ich habe mich aus meiner niedrigen Stellung erhoben, es ist wahr, aber ich bin immer noch demütig. Ich hoffe, ich werde nie anders sein als demütig und bescheiden. Werden Sie nicht von meiner Bescheidenheit schlechter denken, wenn ich Ihnen ein klein wenig mein Herz öffne, Master Copperfield?«

»O nein«, sagte ich mit Anstrengung.

»Vielen Dank!« Er zog sein Taschentuch heraus und fing an, sich die Handflächen abzuwischen. »Miss Agnes, Master Copperfield –«

»Nun, Uriah?«

»O, wie angenehm ist es, daß Sie mich freiwillig Uriah nennen!« er schnellte sich wie ein Fisch. »Meinen Sie nicht auch, daß sie heute abend sehr schön war, Master Copperfield?«

»Sie ist es immer, sie ist ihrer Umgebung in jeder Hinsicht überlegen.«

»O, ich danke Ihnen. Das ist so wahr«, rief er. »O, wie so dankbar bin ich Ihnen dafür!«

»Keine Ursache!« sagte ich kühl. »Sie haben gar keinen Grund, mir zu danken.«

»Das betrifft eben den Punkt, Master Copperfield, den ich mir eben die Freiheit nehmen wollte, zu berühren. So niedrig ich bin«, – er wischte seine Hände stärker ab und sah abwechselnd sie und das Feuer an – »niedrig, wie meine Mutter is, und so bescheiden unser armes, aber ehrliches Dach immer gewesen, hat doch das Bild von Miss Agnes – ich stehe nicht an, Ihnen mein Geheimnis anzuvertrauen, Master Copperfield, denn mein Herz floß immer gegen Sie über seit dem ersten Tag, wo ich das Vergnügen hatte, Sie in dem Ponywagen zu sehen, – hat das Bild von Miss Agnes seit Jahren schon in meinem Herzen gewohnt. Ach, Master Copperfield, mit welch reiner Zuneigung liebe ich den Boden, den Agnes betritt!«

Ich glaube, mich durchzuckte der wahnwitzige Gedanke, das rotglühende Schüreisen aus dem Kamin zu reißen und es Uriah durch den Leib zu rennen. Der Vorsatz verließ mich blitzschnell wieder, wie eine Kugel den Flintenlauf, aber Agnes‘ Bild, durch die bloßen Worte dieses rotköpfigen Tieres geschändet, blieb vor meiner Seele stehen, während ich ihn gekrümmt vor mir sitzen sah, als ob seine gemeine Seele seinen Körper zusammendrückte, und machte mich schwindeln. Es war, als ob Uriah vor meinen Augen anschwölle und größer würde, als ob das Zimmer erfüllt wäre von dem Widerhall seiner Stimme, und es bemächtigte sich meiner jenes gewisse seltsame Gefühl, das wohl keinem Menschen fremd ist, daß dieses alles vor einer unbestimmten Zeit schon einmal geschehen sei und daß ich genau wüßte, was er jetzt sagen werde. Noch zur rechten Zeit gewahrte ich das Machtbewußtsein, das in seinem Gesicht lauerte, und erinnerte mich an Agnes‘ Bitte. Gefaßter, als ich es mir noch vor einer Minute zugetraut haben würde, fragte ich ihn, ob er Agnes seine Gefühle gestanden hätte.

»O nein, Master Copperfield«, antwortete er. »Ach Gott, nein. Niemand anders als Ihnen. Sie sehen ja, ich trete soeben erst aus meiner niedrigen Stellung heraus. Ich hoffe so sehr, daß sie selbst gewahr wird, wie nützlich ich ihrem Vater bin, denn ich glaube wirklich, ich bin ihm sehr nützlich, und wie ich ihm die Sache bequem mache und ihm den Weg ebne. Sie liebt ihren Vater so sehr, Master Copperfield, – o, wie schön ist das von einer Tochter – daß ich glaube, sie wird zuletzt seinetwegen freundlich gegen mich sein.«

Ich durchschaute die Tiefe dieses schurkischen Plans und begriff sofort, warum er gerade mir ihn enthüllte.

»Wenn Sie die Güte haben wollen, mein Geheimnis zu bewahren, Master Copperfield, und nicht gegen mich sein wollen, so würde ich das als eine besondere Gunst betrachten. Sie werden gewiß – der Familie keine Unannehmlichkeiten verursachen wollen. Ich weiß, was Sie für ein gutes Herz haben, aber da Sie mich nur in meiner niedrigen Stellung haben kennengelernt, – in meiner niedrigsten, sollte ich sagen, denn ich bin immer noch in einer sehr niedrigen –, so könnten Sie, ohne es zu wissen, mir bei meiner Agnes entgegenwirken. Sie sehen, ich nenne sie ›mein‹, Master Copperfield. Es gibt ein Lied: ›Auf die Krone würde ich verzichten, auf meine Lieb mitnichten‹.«

Teuere Agnes, du, viel zu gut und schön für irgendeinen, den ich mir ausdenken könnte, solltest zur Gattin eines solchen Scheusals bestimmt sein?!

»Die Sache hat noch keine Eile, Master Copperfield«, fuhr Uriah in seiner unterwürfigen Art fort, während ich, mit diesem Gedanken beschäftigt, ihn ansah. »Meine Agnes ist noch sehr jung, und Mutter und ich, wir müssen noch viel vorwärtskommen und noch manches einrichten, bis wir soweit sin. So werde ich Zeit genug haben, sie mit meinen Hoffnungen vertraut zu machen, bis sich Gelegenheit dazu findet. O, ich bin Ihnen so außerordentlich dankbar, daß Sie mir Gehör geschenkt haben. O, es ist eine solche Erleichterung, Sie können sich das gar nicht vorstellen, daß ich nun weiß, Sie kennen unsere Lage und werden gewiß nicht, um der Familie keine Unannehmlichkeiten zu machen, mir zuwiderhandeln wollen.«

Er nahm meine Hand, die ich ihm nicht zu entziehen wagte und, nachdem er sie mit seinen kalten, feuchten Krallen gedrückt, zog er seine abgerissene Uhr heraus.

»Mein Gott! Es ist halb zwei! Die Stunden vergehen wie Minuten, wenn man von alten Zeiten spricht, Master Copperfield.«

Ich antwortete, ich hätte es für später gehalten, nicht daß ich wirklich so dachte, sondern weil es mit meiner Unterhaltungsgabe ganz und gar zu Ende war.

»Mein Gott«, sagte er nachdenklich, »das Haus, wo ich drin wohne, eine Art Hotel garni, Master Copperfield, nahe beim New River, ist gewiß schon seit zwei Stunden zu. Alles muß schon schlafen.«

»Es tut mir leid, daß ich hier nur ein Bett habe und daß ich –«

»O sprechen Sie nicht von Betten, Master Copperfield«, fiel Uriah voll Entzücken ein und zog ein Bein in die Höhe. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich hier vors Feuer legte?«

»Wenn wir schon dabei halten, so nehmen Sie mein Bett und ich lege mich hier vors Feuer.«

Der Ton, mit dem er dies Anerbieten zurückwies, war im Übermaß seiner Überraschung und Unterwürfigkeit schrill genug, um bis zu den Ohren der Mrs. Crupp dringen zu können, die, wie ich vermute, um diese Zeit in einer entlegnen Kammer, etwa auf Grundwasserhöhe, schlummerte, eingelullt von dem Ticken einer unverbesserlichen Uhr, die, trotzdem sie jeden Morgen genau gestellt wurde, immer mindestens dreiviertel Stunden zu spät ging. Da keiner meiner Einwände ihn zu bewegen vermochte, sich in mein Schlafzimmer zu legen, so mußte ich, so gut es ging, Anordnungen treffen, daß er vor dem Feuer schlafen konnte. Die Matratze des Sofas, das zu kurz für seine lange Gestalt war, die Sofakissen, ein Bett und zwei Tischtücher und ein Überrock brachten für ihn ein Nachtlager zustande.

Nachdem ich ihm meine Schlafmütze geliehen, die er sofort über den Kopf zog, und in der er so entsetzlich aussah, daß ich sie seitdem nie wieder getragen habe, wünschte ich ihm gute Ruhe.

Ich werde diese Nacht nie vergessen. Ich werde nie vergessen, wie ich mich im Bett herumwälzte, mich mit meinen Gedanken an Agnes und dieses Geschöpf abquälte, hin und her überlegte, was zu tun sei, und zu keinem andern Entschluß kommen konnte, als daß der beste Weg für ihren Frieden sei, nichts zu tun und, was ich gehört, für mich zu behalten. War ich einen Augenblick eingeschlafen, erschien mir Agnes und ihr Vater, den Blick zärtlich auf sie gerichtet, wie ich es so oft gesehen, beide mit flehenden Mienen, und erfüllten mich mit unbestimmtem Entsetzen. Wenn ich wieder erwachte, quälte mich der Gedanke, daß Uriah im nächsten Zimmer schlafe wie ein Alp, und lastete auf mir mit einem bleischweren Schrecken, als hätte ich einen Teufel zu Gaste.

Auch das Schüreisen drängte sich in meinen halbwachen Schlummer und wollte nicht wieder verschwinden. Zwischen Schlafen und Wachen kam es mir vor, ich hätte es ihm rot und glühend durch den Leib gerannt. Diese Vorstellung quälte mich so sehr, daß ich sie gar nicht abschütteln konnte und mich ins nächste Zimmer stahl, um ihn anzusehen. Da lag er auf dem Rücken, die Beine weit von sich gestreckt, und röchelte aus der Kehle heraus, und der Atem stockte ihm in der Nase, und den Mund hatte er offen wie ein Postbureau. Er übertraf an Scheußlichkeit so sehr alle meine Vorstellungen, daß ich aus wahrem Widerwillen jede halbe Stunde wieder einmal hinging und ihn ansehen mußte. Und die lange, lange Nacht blieb hoffnungslos wie der dunkle Himmel, an dem sich kein Dämmern des Tages zeigen wollte.

Als ich Uriah frühmorgens die Treppe hinabsteigen sah, – Gott sei Dank, er wollte nicht zum Frühstück bleiben, – war es mir, als ob mit ihm auch die Nacht hinweggginge. Als ich mich zu Doktors Commons verfügte, gab ich Mrs. Crupp besondern Befehl, die Fenster offen zu lassen, damit frische Luft durch mein Zimmer streichen und sie von seiner Gegenwart reinigen könne.

19. Kapitel Ich halte die Augen offen und mache eine Entdeckung


19. Kapitel Ich halte die Augen offen und mache eine Entdeckung

Ich weiß nicht mehr, ob ich innerlich froh oder traurig war, als meine Schultage zu Ende gingen und die Zeit nahte, wo ich Dr. Strongs Anstalt verlassen sollte.

Ich war sehr glücklich dort gewesen, hatte eine große Zuneigung zu dem Doktor gefaßt und mir eine hervorragende und ausgezeichnete Stellung in jener kleinen Welt geschaffen. Deshalb schied ich ungern; aus andern, recht unwesentlichen Gründen jedoch war ich froh. Dunkle Vorstellungen über die Wichtigkeit eines selbständig gewordenen jungen Mannes, über die wundervollen Dinge, die so ein hervorragendes Lebewesen vollbringen könnte, die großartigen Wirkungen, die es unfehlbar auf die Gesellschaft ausüben müßte, erfüllten mich ganz. So mächtig waren diese Träume in mir, daß es mir jetzt manchmal vorkommt, als müßte ich die Schule wohl ohne jeden Kummer verlassen haben. Der Abschied machte nicht den Eindruck auf mich, den man hätte erwarten können. Ich glaube, die Aussicht auf die Zukunft verwirrte mich vollständig. Das Leben schien mir wie das große Feenmärchen, das ich damals gerade las.

Meine Tante und ich pflogen manche ernste Beratung, welchen Beruf ich eigentlich einschlagen sollte. Länger als ein Jahr konnte ich keine genügende Antwort auf ihre so oft wiederholte Frage, was ich eigentlich werden wollte, finden. Ich konnte in mir keine besondere Vorliebe zu irgendeinem bestimmten Beruf entdecken. Wenn ich mir mit einem Schlage die Kenntnis der nautischen Wissenschaften und das Kommando über ein schnell segelndes Expeditionsgeschwader hätte aneignen können, so würde ich durch die Aussicht auf die Triumphe großer Entdeckungsreisen, glaube ich, vollständig zufriedengestellt gewesen sein. Da aber etwas dergleichen voraussichtlich nicht geschehen konnte, hätte ich gern einen Beruf gewählt, in dem ich meiner Tante möglichst wenig auf der Tasche zu liegen brauchte.

Mr. Dick wohnte jederzeit mit nachdenklicher und überlegener Miene unseren Beratungen bei. Einmal machte er plötzlich einen Vorschlag und riet, ich sollte Kupferschmied werden. Meine Tante nahm aber diesen Vorschlag so ungnädig auf, daß er nie einen zweiten mehr wagte und sich von da an begnügte, sie gespannt anzusehen und mit seinem Gelde zu klimpern.

»Ich will dir etwas sagen, Trot, mein Liebling«, sagte meine Tante eines Morgens um die Weihnachtszeit. »Da diese schwierige Frage immer noch nicht gelöst ist und wir uns hüten müssen, voreilig einen Entschluß zu fassen, ist es wohl am besten, wir warten noch ein wenig ab. Unterdessen mußt du dich bemühen, die Frage von einem andern Gesichtspunkt als dem eines Schülers aus zu betrachten.«

»Das will ich tun, Tante.«

»Es ist mir eingefallen, daß eine kleine Veränderung in den Verhältnissen und ein Blick auf das Leben draußen dir vielleicht nützlich sein können und dir helfen, zu einem richtigen Urteil zu kommen. Zum Beispiel eine kleine Reise. Wenn du etwa wieder in deine alte Heimat reistest und das sonderbare Weib mit dem heidnischen Namen besuchtest«, sagte meine Tante und rieb sich die Nase.

»Von allem auf der Welt wäre mir das das liebste, Tante.«

»Also gut. Das ist schön und würde auch mir gut passen. Es ist natürlich und vernünftig, daß es dir lieb ist, und ich bin ganz überzeugt, Trot, daß du immer das Natürliche und Vernünftige tun wirst.«

»Das hoffe ich, Tante.«

»Deine Schwester Betsey Trotwood wäre stets das natürlichste und vernünftigste Mädchen auf Erden gewesen, und du wirst dich ihrer gewiß würdig zeigen, nicht wahr?«

»Ich hoffe, ich werde mich deiner würdig zeigen, Tante. Das genügt mir.«

»Aber was ich in dir zu sehen wünsche, Trot, ist ein tüchtiger Mensch. Ein braver, tüchtiger Mensch, der seinen eignen Willen hat. Und Entschlossenheit –« sie nickte mir energisch zu und ballte die Faust. »Und Entschiedenheit. Und Charakter, Trot! Einen starken Charakter, der sich außer mit gutem Grund von niemand und in keinerlei Weise bestimmen läßt. So möchte ich dich sehen. So hätten dein Vater und deine Mutter sein können, Gott weiß es, und es wäre besser für sie gewesen.«

Ich gab meiner Hoffnung Ausdruck, so zu werden, wie sie es wünschte.

»Damit du im kleinen anfängst, selbständig zu beobachten und zu handeln, lasse ich dich allein reisen. Ich hatte zuerst vor, dir Mr. Dick als Begleitung mitzugeben, aber bei näherer Überlegung sehe ich, daß es besser ist, wenn er hier zu meinem Schutze bleibt.«

Mr. Dick sah einen Augenblick etwas unzufrieden drein, aber die hohe Ehre, der wunderbarsten Frau auf der Welt seinen Schutz angedeihen lassen zu dürfen, verbreitete bald wieder Sonnenschein auf seinem Gesicht.

»Außerdem«, sagte meine Tante, »ist ja die Denkschrift da.«

»Ja, natürlich«, stimmte Mr. Dick eilfertig bei. »Ich gedenke sie fertig zu machen, Trotwood. Das muß sofort geschehen, und dann wird sie eingereicht – weißt du, und dann –« er unterbrach und machte eine lange Pause – »kanns losgehen.«

So wurde ich denn von meiner Tante mit einer hübschen Summe Geldes ausgerüstet und zärtlich entlassen.

Sie gab mir beim Abschied viele gute Ratschläge und ebenso viele Küsse und sagte, ich solle mich in jeder Hinsicht ein bißchen umsehen, und empfahl mir zu diesem Zweck, auf der Hin- oder Herreise ein paar Tage in London zu bleiben. Kurz und gut, ich sollte drei oder vier Wochen tun und lassen, was ich wollte; nur mit der einen Bedingung, ich müßte meine Augen offenhalten und dreimal in der Woche getreulich Bericht erstatten.

Zuerst begab ich mich nach Canterbury, um von Agnes, Mr. Wickfield und dem guten Doktor Abschied zu nehmen. Agnes freute sich sehr und sagte, ohne mich sei das Haus gar nicht mehr das alte.

»Ich bin auch nicht mehr der alte, wenn ich nicht hier bin«, sagte ich. »Mir ist, als fehlte mir die rechte Hand, wenn ich dich nicht habe. Jeder, der dich kennt, Agnes, zieht dich zu Rate und läßt sich von dir leiten.«

»Jeder, der mich kennt, verzieht mich, glaube ich«, gab sie lächelnd zur Antwort.

»Nein, es geschieht, weil du ganz anders bist als alle übrigen. Du bist so gut und so mild, du bist so sanft von Natur und hast immer recht.«

»Du sprichst«, sagte Agnes mit einem lieblichen Lächeln, »als ob ich die verblichene Miss Larkins wäre.«

»Es ist gar nicht schön von dir, mein Vertrauen so zu mißbrauchen«, antwortete ich und errötete bei dem Gedanken an meine ehemalige blaue Gebieterin, »aber ich will dir trotzdem noch weiter vertrauen, Agnes; ich kann es mir nicht abgewöhnen. Wenn ich mich einmal verliebe, werde ichs dir immer wieder sagen. Selbst wenn ich mich in allem Ernste verliebe.«

»Aber du warst doch immer ernstlich verliebt«, sagte Agnes und lachte wieder.

»Ach, damals war ich noch ein Kind oder ein Schuljunge«, sagte ich, auch lachend, aber nicht ohne mich ein wenig zu schämen. »Die Zeiten haben sich verändert, und ich vermute, ich werde gelegentlich einmal entsetzlich Ernst machen. Was mich wundert, ist nur, daß du nicht selbst schon Ernst gemacht hast, Agnes.«

Agnes lachte wieder und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß ja, daß es nicht der Fall ist, sonst hättest du es mir mitgeteilt. Oder wenigstens« – ich bemerkte eine leichte Röte auf ihren Wangen – »hättest du es mich erraten lassen. Aber ich kenne niemand, der verdiente, von dir geliebt zu werden, Agnes. Ein Mann von so edlem Charakter, daß er deiner würdig ist, muß erst kommen, bevor ich meine Einwilligung geben kann. Vorderhand werde ich ein scharfes Auge auf alle Bewunderer haben und an den Glücklichen sehr große Anforderungen stellen, das versichere ich dir.«

So hatten wir eine Zeitlang gesprochen, halb im Scherz, halb im Ernst, wie wir es bei unserm Verhältnis von Kindheit an gewöhnt waren. Aber plötzlich sah mich Agnes an und sagte in ganz verändertem Ton:

»Trotwood, etwas möchte ich dich fragen und wollte es schon lang tun. Etwas, was ich sonst niemand gegenüber äußern könnte. Hast du nicht eine gewisse Veränderung an meinem Vater bemerkt?«

Ich hatte sehr wohl etwas bemerkt und mich oft innerlich gefragt, ob es ihr nicht auch auffiele. Ich muß mich durch mein Gesicht verraten haben, denn Agnes‘ Augen standen sofort in Tränen.

»Sage mir, was es ist!« sagte sie mit leiser Stimme.

»Ich glaube – kann ich ganz aufrichtig sein, Agnes? ich liebe ihn doch so sehr.«

»Gewiß.«

»Ich glaube, die Angewohnheit, die er damals schon hatte, als ich das erstemal herkam, tut ihm nicht gut. Er ist oft sehr nervös, oder kommt es mir nur so vor.«

»Es ist wirklich so«, bestätigte Agnes und nickte mit dem Kopf.

»Seine Hand zittert, er spricht undeutlich und sieht verstört aus. Ich habe auch bemerkt, daß gerade zu solchen Zeiten, und wenn er am wenigsten Herr seiner selbst ist, immer in Geschäftssachen nach ihm gefragt wird.«

»Von Uriah«, bestätigte Agnes.

»Ja. Und das Gefühl, der Arbeit nicht gewachsen zu sein oder sie vielleicht nicht richtig erfassen zu können oder seinen Zustand gegen seinen Willen verraten zu haben, scheint ihn so aufzuregen, daß es den nächsten Tag noch schlimmer geht und den nächsten noch schlimmer, bis er zuletzt ganz angegriffen und schwach wird. Beunruhige dich nicht zu sehr, Agnes, über das, was ich dir sage, aber in einem solchen Zustand sah ich ihn neulich abends. Er legte den Kopf auf das Pult und weinte wie ein Kind.«

Agnes legte ihre Hand plötzlich sanft auf meinen Mund und einen Augenblick später hatte sie ihren Vater an der Türe empfangen und lag an seiner Brust. Der Ausdruck ihres Gesichts, als sie mich beide ansahen, ergriff mich sehr. Es lag darin eine so tiefe Zärtlichkeit, eine solche Dankbarkeit für alle seine Liebe und Sorgfalt, sie bat mich mit ihren Blicken so innnig, selbst in meinen innersten Gedanken nicht unzart zu ihm zu sein, sie war so stolz auf ihn, so teilnahmsvoll bekümmert und voll Vertrauen zugleich, daß nichts einen tiefern Eindruck auf mich hätte machen können.

Wir waren bei Doktors zum Tee geladen. Wir gingen zur gewöhnlichen Stunde hin und fanden den Doktor, seine junge Frau und deren Mutter um den Kamin versammelt. Der Doktor, der von meiner Reise so viel Aufhebens machte, als ob ich nach China ginge, empfing mich wie einen Ehrengast und ließ einen Klotz Holz auf das Feuer werfen, damit er bei dem roten Schein noch einmal das Gesicht seines alten Schülers sehen könnte.

»Ich werde nicht viel neue Gesichter mehr an Trotwoods Stelle sehen«, sagte der Doktor und wärmte sich die Hände über dem Feuer. »Ich werde müde und sehne mich nach Ruhe. Noch sechs Monate, dann werde ich von meinen jungen Leuten scheiden und ein ruhigeres Leben führen.«

»Das haben Sie schon zehn Jahre lang gesagt, Doktor«, entgegnete Mr. Wickfield.

»Aber jetzt will ich es wirklich ausführen. Mein erster Lehrer soll mein Nachfolger sein, – ich mache wirklich Ernst – und Sie werden bald die Kontrakte abzufassen und uns fest zu binden haben, wie zwei Halunken.«

»Und Sorge zu tragen haben, daß Sie nicht der Betrogne sind«, sagte Mr. Wickfield, »was unausbleiblich wäre, wenn Sie den Kontrakt allein machten.«

»Na, ich bin bereit. Es gibt in meinem Beruf unangenehmere Arbeiten als diese.«

»Ich werde dann an weiter nichts zu denken haben als an mein Wörterbuch«, sagte der Doktor mit einem Lächeln »und an den andern Kontraktpunkt – an Ännie.«

Als Mr. Wickfield Ännie, die mit Agnes am Teetisch saß, ansah, schien sie seinen Blick mit so besonderer Scheu zu vermeiden, daß er sehr aufmerksam wurde und sichtlich über etwas nachgrübelte.

»Es ist eine Post aus Indien gekommen, bemerke ich eben«, sagte er nach kurzem Schweigen.

»Ja, und Briefe von Mr. Jack Maldon«, sagte der Doktor.

»Wirklich!«

»Der arme gute Jack«, ergriff Mrs. Markleham das Wort und schüttelte den Kopf. »Dieses schreckliche Klima! Man lebt dort, sagt man mir, auf einem Sandhaufen unter einem Brennglas. Er sah kräftig aus, aber nur scheinbar. Mein lieber Doktor, es war sein guter Wille und nicht seine Konstitution, die ihn das Wagnis unternehmen ließ. Liebe Ännie, du mußt sicherlich noch wissen, daß dein Vetter niemals kräftig war. Nie robust, wie man sagt.«

Mrs. Markleham sprach mit großem Nachdruck und sah uns der Reihe nach an. »Schon damals nicht, als meine Tochter und er als Kinder den ganzen Tag lang Arm in Arm miteinander herumliefen.«

Ännie gab keine Antwort.

»Habe ich aus dem, was Sie sagen, Ma’am, zu entnehmen, daß Mr. Maldon krank ist?« fragte Mr. Wickfield.

»Krank!« wiederholte der »General«. »Er ist alles mögliche, bester Herr.«

»Nur nicht wohl?«

»Nur nicht wohl, allerdings! Er hat einen schrecklichen Sonnenstich gehabt, Sumpffieber und, wer weiß, was sonst noch für Krankheiten. Was seine Leber betrifft«, sagte der »General« mit Resignation, »so hat er sie schon bei seiner Abreise von vornherein aufgegeben.«

»Das schreibt er alles?« fragte Mr. Wickfield.

»Schreiben? Bester Herr, Sie kennen meinen armen Jack Maldon schlecht, wenn Sie eine solche Frage tun. Er etwas sagen! Eher läßt er sich von vier wilden Pferden zerreißen.«

»Mama!« sagte Mrs. Strong.

»Liebe Ännie. Ein für allemal muß ich dich bitten, mich nicht zu unterbrechen, außer, wenn du bestätigen willst, was ich sage. Du weißt so gut wie ich, daß dein Vetter Maldon sich von jeder beliebigen Anzahl wilder Pferde zerreißen lassen würde, – warum sollte ich mich auf vier beschränken! Ich will mich nicht auf vier beschränken – acht, sechzehn, zweiunddreißig, ehe er etwas sagen würde, das des Doktors Plänen zuwiderliefe.«

»Wickfields Plänen«, verbesserte der Doktor, indem er sich das Kinn strich und seinen Ratgeber reuig ansah. »Das heißt unsern gemeinsamen Plänen. Ich sagte selbst: im Inland oder im Ausland.«

»Und ich«, fügte Mr. Wickfield ernst hinzu, »im Ausland! Ich wirkte daraufhin, ihn ins Ausland zu schicken. Es geschah auf meine Verantwortung.«

»O Verantwortung! Alles geschah in bester Absicht, liebster Mr. Wickfield, das wissen wir. Aber wenn der gute Junge dort nicht leben kann, so kann er dort nicht leben. Und wenn er dort nicht leben kann, so wird er lieber sterben, als den Plänen des Doktors zuwiderhandeln. Ich kenne ihn«, sagte der »General«, und fächelte sich in einer Art prophetischer Agonie, »und ich weiß, er wird dort eher sterben, als des Doktors Plänen zuwiderhandeln.«

»Nun, nun, Ma’am«, sagte Dr. Strong freundlich. »Ich bin auf meine Pläne nicht versessen und kann sie ja selbst umstoßen. Ich kann sie durch andere ersetzen. Wenn Mr. Jack Maldon wegen Krankheit zurückkommt, so müssen wir uns eben bemühen, ein besseres und passenderes Unterkommen hier für ihn zu finden.«

Mrs. Markleham war von diesem edeln Anerbieten so überwältigt, natürlich hatte sie es nicht im entferntesten erwartet, geschweige denn veranlaßt, – daß sie nur sagen konnte, es sei des Doktors würdig. Und nachdem sie mehrere Male ihren Fächer geküßt hatte, klopfte sie ihm damit auf die Hand. Dann schalt sie Ännie sanft aus, weil sie ihre Dankbarkeit für solche ihretwegen einem alten Spielgefährten erwiesene Güte nicht lebhafter bezeige, und unterhielt uns mit einigen Einzelheiten über verschiedene verdienstliche Mitglieder ihrer Familie, die ebenfalls würdig wären, daß man ihnen auf die Beine hülfe.

Die ganze Zeit über sprach Ännie kein Wort und schlug kein einziges Mal die Augen auf. Ununterbrochen hielt Mr. Wickfield seinen Blick auf sie geheftet. Es schien mir, als ob er gar nicht bedächte, daß das jemand auffallen könnte. Er war so vertieft in seine Gedanken über sie, daß ihn nichts ablenken konnte. Er fragte jetzt, was Jack Maldon geschrieben habe, und an wen.

»Nun, hier«, sagte Mrs. Markleham und nahm einen Brief von dem Kaminsims. »Hier schreibt der gute Junge dem Doktor selbst – wo ist’s nur? ja: – Leider muß ich Sie benachrichtigen, daß meine Gesundheit ernst gelitten hat und ich befürchten muß, genötigt zu sein, als einzige Hoffnung auf Genesung, für einige Zeit nach Hause zurückzukehren. – Armer Kerl! Das ist ziemlich deutlich. Einzige Hoffnung auf Genesung! Der Brief von Ännie spricht noch deutlicher. Ännie zeig einmal den Brief her!«

»Jetzt nicht, Mama«, bat Mrs. Strong leise.

»Meine Liebe, du bist unbedingt in manchen Dingen eine der lächerlichsten Personen in der Welt«, erwiderte die Mutter, »und in deinem Verhalten, wenn es die Ansprüche deiner eignen Familie gilt, direkt widernatürlich. Ich glaube, wir würden gar nichts von dem Brief erfahren haben, wenn ich nicht selbst danach gefragt hätte. Nennst du das auf Doktor Strong bauen, meine Liebe? Ich bin ganz überrascht.«

Ännie brachte zögernd den Brief, und ich sah, wie ihre Hand zitterte.

»Jetzt wollen wir suchen, wo es steht«, sagte Mrs. Markleham und hielt die Lorgnette vor die Augen: »– die Erinnerung an alte Zeiten, geliebteste Ännie – usw. – das ist es nicht. Der liebenswürdige alte Proktor – wer ist denn das? Mein Gott, Ännie, wie undeutlich dein Vetter Maldon schreibt, und wie einfältig ich bin. Doktor heißts natürlich. – Ja, wirklich liebenswürdig.« Sie küßte wieder ihren Fächer und warf die Küsse dem Doktor zu, der uns in stiller Zufriedenheit ansah. »Jetzt habe ich es gefunden: Du wirst nicht erstaunt sein zu hören, Ännie, – nein gewiß nicht, da sie von jeher wußte, daß er nie robust war – sagte ich das nicht eben? – daß ich in diesem fernen Lande viel gelitten habe und daher entschlossen bin, es um jeden Preis zu verlassen – auf Urlaub wegen Krankheit, wenn es geht, und wenn der nicht zu erlangen ist, nach gänzlichem Aufgeben meines Postens. Was ich gelitten habe und hier noch leide, ist unerträglich. Ohne den schnellen Entschluß dieses besten aller Menschen«, fügte Mrs. Markleham hinzu, indem sie wieder mit dem Fächer telegraphierte und den Brief zusammenfaltete, »könnte ich es gar nicht aushalten, daran zu denken.«

Mr. Wickfield sagte kein Wort, obgleich die alte Dame von ihm eine Rede zu erwarten schien. Er beobachtete das strengste Schweigen und sah nicht vom Boden auf. Als die Sache längst fallengelassen war und wir uns über andere Themen unterhielten, saß er immer noch so da und blickte nur von Zeit zu Zeit einmal auf, um mit gedankenvollem finstern Blick seine Augen auf dem Doktor oder seiner Gattin ruhen zu lassen.

Der Doktor liebte Musik außerordentlich. Agnes sang sehr schön und ebenso Mrs. Strong. Sie sangen miteinander und spielten Duetten, und wir hatten ein ordentliches kleines Konzert.

Etwas fiel mir auf: Mr. Wickfield schien Agnes‘ vertrautes Verhältnis zu Mrs. Strong gar nicht zu passen. Ich muß gestehen, auch in mir wurde die Erinnerung an das, was ich am Abend bei Mr. Maldons Abreise bemerkt hatte, wieder lebendig und zwar in einer Bedeutung, die mich jetzt beunruhigte. Die Schönheit Ännies erschien mir jetzt nicht mehr so unschuldsvoll wie früher, ich mißtraute der natürlichen Anmut ihres Benehmens, und wenn ich Agnes neben ihr ansah und dachte, wie gut und wahr sie war, da erwachte in mir ein Zweifel, ob es eine passende Freundschaft sei.

Der Abend schloß mit einem Vorfall, der mir noch deutlich vor Augen steht. Agnes wollte eben Ännie umarmen und küssen, als Mr. Wickfield wie zufällig dazwischentrat und seine Tochter rasch wegzog. Da sah ich auf Mrs. Strongs Gesicht wieder jenen Ausdruck von Entsetzen, der mir an jenem Abschiedsabend schon so einen tiefen Eindruck gemacht hatte.

Ich mußte die ganze Zeit beim Nachhausegehen an diesen Blick denken und hatte das Gefühl, als schwebe über des Doktors Heim eine dunkle Wolke. In das Gefühl meiner Ehrerbietung vor seinem grauen Haupt mischte sich das Mitleid mit seinem kindlichen Vertrauen auf Menschen, die ihn hintergingen, und Zorn gegen die, die ihm Leid antaten. Der drohende Schatten eines schweren Verhängnisses und einer tiefen Schmach, der nur noch keine bestimmte Form angenommen hatte, fiel wie ein Fleck auf das stille Haus, wo ich als Knabe gelernt und gespielt hatte, und entstellte es. Es machte mir keine Freude mehr, an die ernsten breitblättrigen Aloes zu denken und den sorgfältig gepflegten Rasenfleck, an die steinernen Urnen und des Doktors Spaziergang und den so gut dazu passenden Klang der Domglocke. Es war, als ob das stille Heiligtum meiner Kinderzeit zerstört und sein Frieden und seine Ehre in alle Winde zerstoben seien.

Aber mit dem Morgen kam der Abschied von dem alten Haus, das Agnes mit ihrem stillen Wirken so erfüllte, und das beschäftigte mein Gemüt vollauf. Wenn ich auch wahrscheinlich bald wieder zu Besuch kommen würde, so wohnte ich doch nicht mehr dort, und die alte Zeit war vorbei. Wie ich meine Bücher und Kleider einpackte, war mir schwerer ums Herz, als ich Uriah Heep merken lassen wollte, der mir so dienstbereit half, daß ich schlecht genug war, zu glauben, er freue sich über meine Abreise.

Ich verabschiedete mich von Agnes und ihrem Vater mit anscheinender Gleichgültigkeit, die männlich aussehen sollte, und nahm meinen Platz auf dem Bock der Londoner Landkutsche ein.

Ich fühlte mich auf meinem Wege durch die Stadt so gerührt und voll Sanftmut, daß ich am liebsten meinem alten Feind, dem Fleischerburschen, zugenickt und ihm ein Fünfschillingstück als Trinkgeld hingeworfen hätte. Aber er sah so metzgermäßig drein, wie er im Laden den großen Holzblock rein schabte, und sein Aussehen hatte durch den Verlust des Schneidezahns, den ich ihm ausgeschlagen, so wenig gewonnen, daß ich lieber keine Aussöhnungsversuche machte.

Am meisten lag mir am Herzen, als wir erst draußen im Freien waren, dem Kutscher so alt wie möglich zu erscheinen und im tiefsten Baß zu sprechen. Letzteres gelang mir nicht ohne Anstrengung, aber ich hielt daran fest, weil es sich so erwachsen ausnahm.

»Sie fahren durch, Sir?« fragte der Kutscher.

»Ja, William«, sagte ich herablassend – ich kannte ihn nämlich – »ich reise nach London. Und dann gehe ich nach Suffolk.«

»Auf die Jagd, Sir?«

Er wußte so gut wie ich, daß in dieser Jahreszeit von Jagd ebensowenig die Rede sein konnte wie von Walfischfang. Aber ich fühlte mich doch geschmeichelt.

»Ich weiß nicht«, sagte ich und stellte mich unentschlossen, »ob ich die Flinte in die Hand nehmen werde.«

»Die Rebhühner sind jetzt damisch scheu, höre ich«, sagte William.

»Vermutlich«, bestätigte ich.

»Sind Sie aus der Grafschaft Suffolk, Sir?«

»Ja«, sagte ich mit einiger Wichtigkeit. »Ich bin aus Suffolk.«

»Die Knödel sollen dort damisch fein sein, Mordstrümmer.«

Ich wußte es nicht, fühlte aber die Notwendigkeit, die Einrichtungen meiner Grafschaft in Ehren zu halten und mich mit ihnen vertraut zu zeigen.

Ich nickte daher mit dem Kopf, als wollte ich sagen »das will ich meinen!«

»Und die Ponys, das sind Viecher. Ein Suffolker Pony, wenns ein gutes is, is sein Gewicht in Gold wert. Haben Sie mal Suffolker Ponys gezüchtet, Sir?«

»N-nein, nein«, sagte ich, »nicht direkt.«

»Hier. Der Genlmn hinter mich, möcht ich wetten«, sagte William, »hat sie im großen gezüchtet.«

Der erwähnte Gentleman schielte verdächtig, hatte ein vorstehendes Kinn, auf dem Kopf einen hohen weißen Hut mit schmalem Rand und enganliegende helle Hosen, die außen von den Stiefeln an bis zur Hüfte hinauf zugeknöpft waren. Sein Kinn schob sich über des Kutschers Schulter so nahe zu mir hin, daß mich sein Atem am Hinterkopf kitzelte, und als ich mich umdrehte, schaute er mit seinem geraden Auge sehr sachkundig auf die Pferde.

»Oder nicht?« fragte William.

»Was, oder nicht«? fragte der Gentleman hinter mir.

»Suffolkponys im großen gezüchtet.«

»Das will ich meinen«, sagte der Gentleman. »Gibt kein Pferd nicht und keine Hunde nicht, was ich nicht gezüchtet hätt. Was die Pferd sind und die Hundsviecher, ists für viele ein Gaudium. Für mich sind sie Essen und Trinken, – Wohnung, Weib und Kind, Lesen, Schreiben und Rithmetik – Schnupfen, Zigarren und Schlaf.«

»So ein Mann sollte nicht hinter dem Kutschbock sitzen, nicht wahr«? flüsterte mir William ins Ohr.

Ich legte diese Bemerkung als die Andeutung des Wunsches aus, ich möchte dem andern meinen Platz überlassen und machte mich errötend dazu erbötig.

»Na, wenns Ihnen gleich ist, Sir«, sagte William, »ich glaube, es schickt sich so besser.«

Ich habe dies immer als meine erste Niederlage im Leben betrachtet. Als ich mich im Bureau einschreiben ließ, wurde hinter meinem Namen: »Sitz auf dem Kutschbock« vermerkt, und ich hatte dem Buchhalter extra eine halbe Krone gegeben. Ich hatte meinen besondern Überzieher und Schal genommen, um diesem Ehrensitz zu genügen, und war sehr stolz darauf gewesen, der Kutsche zur Zierde zu gereichen. Und jetzt, auf der ersten Station bereits, verdrängte mich ein schäbiger schielender Mensch, der weiter kein Verdienst beanspruchen konnte, als daß er nach Stall roch.

Mein Mißtrauen zu mir selbst, das mich im Leben bei mancherlei Anlässen schon befallen hatte, wurde durch diesen Vorfall im Postwagen noch verschlimmert.

Vergeblich nahm ich zu meiner Baßstimme meine Zuflucht.

Die ganze übrige Reise sprach ich tief wie ein Bauchredner, aber innerlich fühlte ich mich vollständig vernichtet und kam mir furchtbar jung vor.

Dennoch war es merkwürdig und interessant, als wohlerzogener gutgekleideter und reichlich mit Geld versehener junger Mann da oben hinter vier Pferden zu sitzen und Umschau nach allen den Plätzen zu halten, wo ich auf meiner mühseligen Wanderschaft einst gerastet hatte. Jedes auffällige Merkzeichen am Weg gab meinen Gedanken reichliche Nahrung. Wenn ich auf die Landstreicher herabblickte und die wohlbekannten Physiognomien dieser Klasse Menschen heraufschauen sah, war mir, als ob des Kesselflickers geschwärzte Hand mich wieder bei der Brust packte.

Als wir durch die engen Gassen von Chatham rasselten und ich im Vorbeifahren einen flüchtigen Blick in das Gäßchen werfen konnte, wo ich meine Jacke verkauft hatte, steckte ich den Kopf vor, um einen Blick auf den Platz zu erhaschen, wo ich in der Sonne und im Schatten gewartet, ehe mir das alte Ungeheuer mein Geld gab. Und als wir endlich die letzte Station vor London erreichten und am Salemhaus vorbeifuhren, wo Mr. Creakle jähzornig den Stock geführt, da hätte ich alle meine Habe für das Recht hingegeben, hineingehen zu dürfen und ihn durchzuprügeln und alle die Knaben herauszulassen, wie gefangene Sperlinge.

Wir stiegen im »Goldnen Kreuz« in Charing Cross ab, das damals noch ein düsteres altes Haus in einer engen Gasse war.

Ein Kellner wies mich ins Frühstückszimmer und ein Stubenmädchen in meine Schlafkammer, die wie eine Lohnkutsche roch und dunkel war wie eine Familiengruft. Ich litt immer noch an dem qualvollen Bewußtsein meiner großen Jugend, denn niemand hatte Respekt vor mir. Das Stubenmädchen nahm nicht die mindeste Rücksicht auf meine Wünsche, und der Kellner benahm sich familiär und erlaubte sich mir gegenüber Ratschläge.

»Na«, sagte er in vertraulichem Ton. »Was möchten Sie wohl essen? Junge Herren essen gewöhnlich gern Geflügel. Also ein Huhn?«

Ich sagte ihm so majestätisch, wie mir möglich war, daß ich auf ein Huhn keinen Appetit hätte.

»So, so! Junge Herren haben Rinder- und Schöpsenbraten meist satt, also Kalbskotelett?«

Ich nahm diesen Vorschlag an, da mir nichts anderes einfallen wollte.

»Liegt Ihnen was an Kartoffeln?« fragte der Kellner mit einschmeichelndem Lächeln, den Kopf schief haltend. »Junge Herren haben sich meist an Kartoffeln überessen.«

Ich befahl mit meiner tiefsten Stimme, Kalbskoteletten mit Kartoffeln und Beilage zu bestellen und am Schenktisch zu fragen, ob Briefe da wären für Trotwood-Copperfield, Hochwohlgeboren. Ich wußte natürlich, daß das nicht der Fall sein konnte, aber es kam mir erwachsener vor, wenn ich tat, als ob ich welche erwartete.

Er kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß keine da wären, worüber ich mich sehr wunderte – und fing an, für mich den Tisch in einer Box zu decken. Während er damit beschäftigt war, fragte er mich, was ich trinken wolle, und nahm, als ich antwortete: »eine halbe Flasche Sherry«, wie ich fürchte, die Gelegenheit wahr, den Wein aus den abgestandnen Resten mehrerer Karaffen zusammenzuschütten. Ich kam zu dieser Ansicht, weil ich, mit einer Zeitung beschäftigt, ihn hinter der Bretterwand, die seinen Privatraum vorstellte, sehr eifrig den Inhalt mehrerer Flaschen in eine zusammengießen hörte, wie einen Apotheker, der ein Rezept verfertigt. Als der Wein gebracht wurde, kam er mir schal vor, und es waren mehr Semmelbrösel englischer Abkunft darin, als sich mit einem vollkommen reinen ausländischen Wein vertrug; aber ich war blöd genug, ihn zu trinken und nichts zu sagen.

Da ich jetzt heiter gestimmt war, – woraus ich schließe, daß es auch ganz angenehme Vergiftungsmethoden gibt –, beschloß ich, ins Theater zu gehen. Ich wählte das Covent Garden-Theater und sah dort von einem Logenrücksitz »Julius Cäsar« und die neue Pantomime.

Alle diese vornehmen Römer lebendig und zu meiner Unterhaltung auf der Bühne auf- und abgehen zu sehen, während sie mir in der Schule immer nur wie finstere Lehrer erschienen waren, machte einen ganz neuen und wunderbaren Eindruck auf mich. Das Gemisch von Wirklichkeit und Märchen, die Bühne, die Poesie, der Kerzenglanz, die Musik, die Gesellschaft, der wunderbare Szenenwechsel, alles das wirkte so blendend auf mich und eröffnete mir eine so endlose Perspektive von Wonnen, daß es mir vorkam, wie ich um zwölf Uhr nachts auf die beregnete Straße trat, als ob ich aus einem romantischen Leben in Wolkenregionen herab in eine lärmende, plätschernde, regenschirmkämpfende, droschkenrüttelnde, absatzklappernde, schmutzige, erbärmliche, schwelende Welt fiele.

Ich blieb eine kleine Weile versonnen auf der Straße stehen, als ob ich wirklich fremd auf Erden wäre, aber die rücksichtslosen, nüchternen Rippenstöße, die ich im Gedränge bekam, weckten mich bald wieder auf, und ich kehrte in das Hotel zurück, auf dem Weg noch erfüllt von der glänzenden Vision. Sie verließ mich auch nicht, als ich bei Porter und Austern um halb ein Uhr im Gastzimmer am Kamin saß. Das Schauspiel und die Vergangenheit – wie durch einen glänzenden Schleier schien mein früheres Leben mir hindurchzuschimmern nahmen mich so in Anspruch, daß ich die Gestalt eines schönen jungen Mannes, der mit geschmackvoller Nachlässigkeit gekleidet war, nicht gleich bemerkte.

Endlich erhob ich mich, um zu Bett zu gehen, sehr zur Freude des verschlafenen Kellners, der fortwährend mit den Füßen scharrte und sich in seiner kleinen Speisekammer räkelte. Auf dem Weg nach der Tür ging ich an dem neuen Gast vorüber und sah ihn genauer bei dieser Gelegenheit. Ich kehrte sogleich um, ging zurück und sah ihn wieder an. Er erkannte mich nicht, aber ich ihn augenblicklich.

Zu andern Zeiten hätte mir das Selbstvertrauen oder die Entschlossenheit gefehlt, ihn anzureden, und ich hätte es vielleicht auf den nächsten Tag verschoben und so die Gelegenheit versäumt. Aber in meiner damaligen Gemütsstimmung, noch frisch unter dem Eindruck des Theaterstücks, gedachte ich seiner früheren Beschützerrolle mit solcher Dankbarkeit, und meine alte Liebe zu ihm machte sich so mächtig Luft, daß ich mit klopfendem Herzen vor ihn trat und sagte:

»Steerforth. Kennst du mich nicht mehr?«

Er sah mich an, genau so, wie ers früher manchmal getan, aber ich sah kein Zeichen des Erkennens in seinem Gesicht.

»Ich fürchte, du kennst mich wirklich nicht mehr«, sagte ich.

»Mein Gott«, rief er plötzlich aus. »Es ist der kleine Copperfield.«

Ich ergriff seine beiden Hände und konnte sie gar nicht loslassen. Nur aus Scham und Furcht, sein Mißfallen zu erregen, fiel ich ihm nicht um den Hals.

»Nie, nie, nie war ich so froh, lieber Steerforth! Ich bin ganz außer mir vor Freude, dich zu sehen.«

»Auch ich freue mich, dich wiederzusehen«, sagte er und schüttelte mir herzlich die Hand. »Copperfield, alter Junge, komm nur nicht ganz außer Rand und Band.« Trotz dieser Worte freute er sich sichtlich darüber, daß mich das Entzücken ihn wiederzuhaben so rührte.

Ich wischte die Tränen weg, die ich mit der größten Anstrengung nicht hatte zurückhalten können, und versuchte zu lachen, und wir setzten uns nebeneinander an den Tisch.

»Aber wie kommst du hierher?« fragte Steerforth und schlug mir auf die Achsel.

»Ich bin heute mit der Canterburykutsche angekommen. Meine Tante dort unten hat mich adoptiert, und ich habe eben meine Schulstudien absolviert. Aber was machst du hier, Steerforth?«

»Ach, ich bin, was man so einen Oxford-Studenten nennt«, erwiderte er, »das heißt, ich muß mich dort periodisch zu Tode langweilen und bin jetzt auf dem Weg zu meiner Mutter. Du bist ein verwünscht hübscher Bursche geworden, Copperfield! Ganz noch wie früher; wenn ich dich jetzt ordentlich ansehe. Nicht im mindesten verändert.«

»Ich habe dich sofort erkannt«, sagte ich, »aber dich vergißt man auch nicht so leicht.«

Er lachte; während er mit der Hand durch sein reichgelocktes Haar fuhr, und sagte fröhlich:

»Ja. Ich bin auf einer Pflichtreise begriffen. Meine Mutter wohnt in der Umgebung der Stadt, und da die Straßen in scheußlicher Verfassung sind und es bei mir zu Hause recht langweilig ist, beschloß ich, die Nacht über hier zu bleiben. Ich bin noch kaum sechs Stunden in der Stadt und habe mich bereits im Theater gräßlich geödet.«

»Ich war auch im Theater«, sagte ich, »im Covent Garden. Was für eine herrliche, entzückende Unterhaltung, Steerforth!«

Steerforth lachte herzlich.

»Mein lieber junger Davy«, sagte er und schlug mir wieder freundschaftlich auf die Schulter. »Du bist die reinste Daisy. Das reinste Gänseblümchen. Ein Gänseblümchen auf dem Feld bei Sonnenaufgang ist nicht frischer als du. Ich war doch auch im Covent Garden und habe in meinem Leben noch nichts Schauderhafteres gesehen. Hallo, Kellner!«

Der Kellner, der unserer Erkennungsszene von weitem sehr aufmerksam zugesehen hatte, kam jetzt sehr ehrerbietig heran.

»Wo haben Sie meinen Freund Mr. Copperfield hingesteckt?«

»Bitte um Verzeihung, mein Herr?«

»Wo er schläft! Welche Nummer! Verstehen Sie mich denn nicht?« fragte Steerforth.

»Sehr wohl, Sir«, sagte der Kellner, sich entschuldigend. »Mr. Copperfield ist augenblicklich in 44, Sir.«

»Was zum Teufel soll das heißen«, entgegnete Steerforth, »daß Sie Mr. Copperfield in ein kleines Loch über dem Stall bringen?«

»Mein Herr, wir wußten doch nicht«, entschuldigte sich der Kellner ganz zerknirscht, »wer Mr. Copperfield ist. Wir können Mr. Copperfield Nummer 72 geben, wenn es gewünscht wird. Neben Ihnen, Sir.«

»Natürlich wird es gewünscht«, sagte Steerforth, »und zwar sofort.«

Der Kellner entfernte sich augenblicklich, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen.

Steerforth, dem es viel Spaß machte, daß sie mich in Nummer 44 gesteckt hatten, lachte wieder und klopfte mir auf die Schulter und lud mich zum Frühstück für nächsten Morgen um zehn Uhr ein, was ich mit Stolz und Freude annahm.

Da es schon ziemlich spät war, nahmen wir unsere Kerzen und gingen hinauf und trennten uns an der Türe mit größter Herzlichkeit. Mein neues Zimmer, viel schöner als mein erstes, war gar nicht dumpfig und hatte ein ungeheures Himmelbett, so groß wie ein kleines Landgut.

Hier in Kissen, die für sechs Personen genügt hätten, schlief ich bald ein und träumte vom alten Rom und von Steerforth und Freundschaft, und gegen früh, als die Landkutsche durch den Torweg rasselte, mischte sich in meinen Traum der Donner der Götter.

2. Kapitel Ich beobachte


2. Kapitel Ich beobachte

Die ersten Gegenstände, die bestimmte Umrisse vor mir annehmen, wenn ich weit zurück in die Leere meiner Kindheit blicke, sind meine Mutter mit ihrem schönen Haar und den jugendlichen Formen und Peggotty mit überhaupt gar keiner Form und mit so dunkeln Augen, daß sie ihre Umgebung im Gesicht dunkel zu machen scheinen, und mit Armen und Backen so rot, daß ich mich stets wunderte, warum die Vögel nicht lieber an ihnen statt an den Äpfeln herumpickten.

Ich glaube, mich noch daran erinnern zu können, wie die beiden Frauen in kleiner Entfernung voneinander auf dem Boden knieten, und ich unsicher von einer zur andern wankte. Ich habe auch noch eine dunkle Erinnerung an Peggottys Zeigefinger, der von der Nadel so rauh war wie ein Taschenmuskatnußreibeisen.

Das mag Einbildung sein, aber ich glaube, daß das Gedächtnis der meisten Menschen weiter in die Kinderzeit zurückreicht, als man gewöhnlich annimmt; ebenso glaube ich, daß die Beobachtungsgabe bei vielen kleinen Kindern an Schärfe und Genauigkeit ganz wunderbar ist. Ich glaube sogar, daß man von den meisten Erwachsenen, die in dieser Hinsicht bemerkenswert sind, viel eher sagen könnte, sie hätten diese Fähigkeit nicht verloren, als, sie hätten sie erst später erworben; um so mehr, als solche Menschen überdies eine gewisse Frische und Sanftmut und eine Fähigkeit, sich über irgend etwas zu freuen, besitzen, lauter Eigenschaften, die sie ebenfalls aus der Kindheit mit herübergenommen haben.

Wenn ich also, wie gesagt, in die Leere meiner frühesten Jugend zurückblicke, sind die ersten Gegenstände, deren ich mich erinnern kann, und die aus dem Wirrwarr der Dinge hervorstechen, meine Mutter und Peggotty. Was weiß ich sonst noch? Wollen mal sehen.

Es scheidet sich aus dem Nebel unser Haus in seiner mir in frühester Erinnerung vertrauten Gestalt. Im Erdgeschoß geht Peggottys Küche auf den Hinterhof hinaus; da sind: in der Mitte ein Taubenschlag auf einer Stange, aber ohne Tauben; eine große Hundehütte in einer Ecke, aber kein Hund darin, und eine Anzahl Hühner, die mir erschrecklich groß vorkommen, wie sie mit drohendem und wildem Wesen herumstolzieren. Ein Hahn fliegt auf einen Pfosten, um zu krähen, und scheint sein Auge ganz besonders auf mich zu richten, wie ich ihn durch das Küchenfenster betrachte; und ich zittere vor Furcht, weil er so bös ist. Von den Gänsen außerhalb der Seitentür, die mir mit langausgestreckten Hälsen nachlaufen, wenn ich vorbeigehe, träume ich die ganze Nacht, wie ein Mann, den wilde Tiere umgeben, von Löwen träumen würde.

Dann ist ein langer Gang da – für mich eine endlose Perspektive –, der von Peggottys Küche zum Haupttor führt. Eine dunkle Vorratskammer mündet auf diesen Gang; – so recht ein Ort, um des Nachts daran scheu vorbeizulaufen –, denn ich weiß nicht, was zwischen diesen Tonnen und Krügen und alten Teekisten stecken mag –, wenn sich nicht gerade jemand mit einem brennenden Licht in der Kammer befindet. Eine dumpfige Luft, mit der sich der Geruch von Seife, Mixed-Pickles, Pfeffer, Kerzen und Kaffee vermischt, strömt heraus. Dann sind die beiden Wohnzimmer da: Das eine, in dem abends meine Mutter, ich und Peggotty sitzen, – denn Peggotty leistet uns Gesellschaft, wenn wir allein sind, und sie ihre Arbeit gemacht hat, – und das Empfangszimmer, wo wir Sonntags sitzen, prunkvoll, aber nicht so traulich. Für mich hat dieses Zimmer etwas Schwermütiges, denn Peggotty hat mir erzählt, – ich weiß zwar nicht mehr, wann, aber es muß lange her sein – als mein Vater begraben wurde, wären die Trauergäste drin mit schwarzen Mänteln umhergegangen. Dort liest jeden Sonntag abends meine Mutter Peggotty und mir vor, wie Lazarus von den Toten auferweckt wurde. Und ich ängstige mich so sehr darüber, daß sie mich dann aus dem Bette herausnehmen und mir aus dem Schlafzimmerfenster den stillen Kirchhof zeigen müssen, wo die Toten im feierlichen Mondlicht in ihren Gräbern ruhen.

Auf der ganzen Welt, soviel ich weiß, ist nirgends das Gras nur halb so grün wie auf diesem Kirchhof, nirgends sind die Bäume halb so schattig, und nichts ist so still wie die Grabsteine. Die Schafe weiden dort, wenn ich früh morgens in dem kleinen Bett in dem Alkoven hinter meiner Mutter Schlafzimmer knie und hinausschaue, und ich sehe das rötliche Licht auf die Sonnenuhr scheinen und denke bei mir: Freut sich die Sonnenuhr, daß sie die Zeit angeben kann?

Dann ist unser Betstuhl in der Kirche da. Was für ein hochrückiger Stuhl! Daneben ist ein Fenster, von dem aus man unser Haus sehen kann. Und oftmals während des Morgengottesdienstes blickt Peggotty hinaus, um sich zu vergewissern, ob nicht eingebrochen oder etwas in Brand gesteckt wird. Wenn sie selbst auch ihre Augen umherwandern läßt, so wird sie doch böse, wenn ich dasselbe tue, und winkt mir zu, wenn ich auf dem Sitz stehe, daß ich den Geistlichen anblicken solle. Aber ich kann ihn doch nicht immerfort ansehen – ich kenne ihn doch sowieso auch ohne das weiße Ding, das er umhat, und fürchte immer, er könne plötzlich wissen wollen, warum ich ihn so anstaune, und vielleicht gar den Gottesdienst unterbrechen, um mich darüber zu befragen, – und was sollte ich dann tun?

Es ist etwas Schreckliches, zu gähnen. Aber irgend etwas muß ich doch machen. Ich blicke meine Mutter an, aber sie tut, als ob sie mich nicht sähe. Ich schaue einen Jungen im Seitenschiff an; er schneidet mir Gesichter. Ich sehe auf die Sonnenstrahlen, die durch die offne Tür hereinfallen, und da erblicke ich ein verirrtes Schaf, ich meine nicht einen Sünder, sondern einen Hammel, der Miene macht, in die Kirche zu treten. Ich fühle, daß ich nicht länger hinschauen kann, denn ich könnte in Versuchung kommen, etwas laut zu sagen, und was würde dann aus mir werden. Ich blicke auf die Gedächtnistafeln an der Wand und versuche, an den verstorbenen Mr. Bodgers zu denken, und welcher Art wohl Mrs. Bodgers Gefühle gewesen sein mögen, als ihr Mann so lange krank lag und die Kunst der Ärzte vergebens war. Ich frage mich, ob sie auch Mr. Chillip vergeblich gerufen haben und wenn, ob es ihm recht ist, daran jede Woche einmal erinnert zu werden. Ich schaue von Mr. Chillip in seinem Sonntagshalstuch nach der Kanzel hin und denke, was für ein hübscher Spielplatz das sein müßte, und was das für eine feine Festung abgeben würde, wenn ein anderer Junge die Treppen heraufkäme zum Angriff, und man könnte ihm das Samtkissen mit den Troddeln auf den Kopf schmeißen. Und wenn sich nach und nach meine Augen schließen, und ich anfangs den Geistlichen in der Hitze noch ein schläfriges Lied singen höre, vernehme ich bald gar nichts mehr. Dann falle ich mit einem Krach vom Sitze und werde mehr tot als lebendig von Peggotty hinausgetragen.

Und dann wieder sehe ich die Außenseite unseres Hauses, und die Fensterläden des Schlafzimmers stehen offen, damit die würzige Luft hineinströmen kann, und im Hintergrund des Hauptgartens hängen in den hohen Ulmen die zerzausten Krähennester. Jetzt bin ich in dem Garten hinter dem Hof mit dem leeren Taubenschlag und der Hundehütte – ein wahrer Park für Schmetterlinge – mit seinem hohen Zaun und seiner Türe mit Vorhängschlössern, und das Obst hängt dick an den Bäumen, reifer und reicher als in irgendeinem andern Garten, und meine Mutter pflückt die Früchte in ein Körbchen, während ich dabeistehe und heimlich ein paar abgezwickte Stachelbeeren rasch in den Mund stecke und mich bemühe, unbeteiligt auszusehen.

Ein starker Wind erhebt sich, und im Handumdrehen ist der Sommer weg. Wir spielen im Winterzwielicht und tanzen in der Stube herum. Wenn meine Mutter außer Atem ist und im Lehnstuhl ausruht, sehe ich ihr zu, wie sie ihre glänzenden Locken um die Finger wickelt und sich das Leibchen glatt zieht, und niemand weiß so gut wie ich, daß sie sich freut, so gut auszusehen, und stolz ist, so hübsch zu sein.

Das sind so einige von meinen frühesten Eindrücken. Das und ein Gefühl, daß wir beide ein bißchen Angst hatten vor Peggotty und uns in den meisten Fällen ihren Anordnungen fügten, gehört zu den ersten Schlüssen, – wenn ich so sagen darf, – die ich aus dem zog, was ich sah.

Peggotty und ich saßen eines Abends allein in der Wohnstube vor dem Kamin. Ich hatte Peggotty von Krokodilen vorgelesen. Ich muß wohl kaum sehr deutlich gelesen haben, oder die arme Seele muß in tiefen Gedanken gewesen sein, denn ich erinnere mich, als ich fertig war, hatte sie so eine Idee, Krokodile wären eine Art Gemüse. Ich war vom Lesen müde und sehr schläfrig, aber da ich die besondere Erlaubnis bekommen hatte, aufzubleiben, bis meine Mutter von einem Besuch nach Hause käme, wäre ich natürlich lieber auf meinem Posten gestorben als zu Bett gegangen. Ich war bereits auf einem Stadium von Schläfrigkeit angekommen, wo Peggotty mir immer größer und größer zu werden schien. Ich hielt meine Augen mit den beiden Zeigefingern offen und sah sie ununterbrochen an, wie sie auf ihrem Stuhle saß und arbeitete, betrachtete dann das kleine Stückchen Wachslicht, mit dem sie ihren Zwirn wichste – wie alt es aussah mit seinen Runzeln kreuz und quer –, das Hüttchen mit dem Strohdach, worin das Ellenmaß wohnte, das Arbeitskästchen mit dem Schiebedeckel und einer Ansicht darauf von der St.-Pauls-Kirche mit einer purpurroten Kuppel, den messingnen Fingerhut und sie selbst, die mir ungemein schön vorkam. Ich war so müde, daß ich fühlte, ich würde einschlafen, wenn ich nur einen Augenblick meine Augen abwendete.

»Peggotty«, sagte ich dann plötzlich: »Bist du einmal verheiratet gewesen?«

»Herr Gott, Master Davy!« erwiderte Peggotty, »wie kommst du nur aufs Heiraten?«

Sie antwortete so überrascht, daß ich ganz wach wurde. Dann hielt sie inne in ihrer Arbeit und sah mich an, den Faden in seiner ganzen Länge straffgezogen.

»Aber du warst doch einmal verheiratet, Peggotty?« fragte ich. »Du bist doch wunderschön, nicht wahr?« Ich hielt sie allerdings für eine andere Stilart als meine Mutter, aber nach einer andern Schule von Schönheitsbegriff gesehen, kam sie mir als vollkommenes Muster vor. In unserm Empfangszimmer war ein rotsamtenes Fußbänkchen, auf das meine Mutter einen Blumenstrauß gemalt hatte. Dieser Samt und Peggottys Haut schienen mir ganz gleich. Die Fußbank war glatt und weich und Peggotty rauh, aber das machte keinen Unterschied.

»Ich, schön, Davy!« sagte Peggotty. »O Gott, nein, mein liebes Kind. Aber wie kommst du aufs Heiraten?«

»Ich weiß nicht. – Du darfst nicht mehr als einen auf einmal heiraten, nicht wahr, Peggotty?«

»Gewiß nicht«, sagte Peggotty mit größter Entschiedenheit.

»Aber wenn du einen Mann heiratest und er stirbt, dann geht’s, nicht wahr, Peggotty?«

»Es geht schon, wenn man will, liebes Kind«, sagte Peggotty. »Das ist dann eben meine Sache.«

»Aber was ist deine Meinung«, fragte ich.

Bei dieser Frage blickte ich sie neugierig an, weil sie mich so seltsam musterte.

»Meine Meinung ist«, sagte Peggotty, als sie nach kurzem Zögern ihre Augen von mir abgewendet und wieder zu arbeiten begonnen hatte, »daß ich selbst niemals verheiratet gewesen bin, Master Davy, und daß ich auch nicht daran denke. Das ist alles, was ich von der Sache weiß.«

»Du bist doch nicht böse, Peggotty?« fragte ich, nachdem ich eine Weile still gewesen.

Ich glaubte es wirklich, so kurz hatte sie mich abgefertigt, mußte aber wohl im Irrtum sein, denn sie legte ihr Strickzeug weg, öffnete ihre Arme, nahm meinen lockigen Kopf und drückte mich fest an sich. Daß sie mich derb an sich preßte, wußte ich, denn da sie sehr beleibt war, so pflegten stets, wenn sie angekleidet war, bei jeder kleinen Anstrengung ein paar Knöpfe hinten an ihrem Kleid abzuspringen. Und ich erinnere mich, daß zwei Stück in die entgegengesetzte Zimmerecke flogen, als sie mich umarmte.

»Nun lies mir noch etwas von den Krorkingdilen vor«, sagte Peggotty, die in diesem Namen noch nicht recht sattelfest war, »ich habe noch lange nicht genug von ihnen gehört.«

Ich konnte nicht begreifen, warum Peggotty so wunderliche Augen machte und durchaus wieder von den Krokodilen hören wollte. Mit großem Eifer meinerseits kehrten wir jedoch wieder zu den Ungeheuern zurück und ließen die Sonne ihre Eier im Sande ausbrüten, rissen vor ihnen aus und entrannen ihnen durch plötzliches Umkehren, was sie ihres ungeschlachten Baues wegen nicht so rasch nachmachen konnten, verfolgten sie als Eingeborene ins Wasser und steckten ihnen scharfgespitzte Holzstücke in den Rachen, kurz, ließen sie förmlich Spießruten laufen. Ich wenigstens tat es, hatte aber betreffs Peggottys so meine Zweifel, denn ich sah, wie sie sich die ganze Zeit über in Gedanken versunken mit der Nadel in verschiedene Teile ihres Gesichts und ihrer Arme stach. Wir hatten endlich die Krokodile erschöpft und begannen eben mit den Alligatoren, als die Gartenglocke läutete. Wir gingen hinaus und fanden da meine Mutter, die mir ungewöhnlich hübsch vorkam, und bei ihr stand ein Herr mit schönem, schwarzem Haar und Backenbart, der schon am letzten Sonntag mit uns aus der Kirche nach Hause gegangen war.

Als meine Mutter mich auf der Schwelle in ihre Arme nahm und mich küßte, sagte der Herr, ich sei glücklicher als ein König – oder etwas Ähnliches –; ich fühle wohl, daß mir mein späteres Verständnis hier zu Hilfe kommt.

»Was heißt das?« fragte ich ihn über ihre Schulter hinweg.

Er klopfte mich auf den Kopf, aber ich konnte ihn und seine tiefe Stimme nicht leiden und war eifersüchtig, daß seine Hand die meiner Mutter berührte, und ich stieß ihn weg, so gut ich konnte.

»Aber Davy«, ermahnte mich meine Mutter.

»Der liebe Junge«, sagte der Herr. »Ich kann mich über seine Liebe nicht wundern.«

Noch nie hatte ich meiner Mutter Gesicht so schön rot gesehen. Sie schalt mich milde aus wegen meiner Unhöflichkeit und sprach, indem sie mich fest an sich drückte, ihren Dank dem Herrn aus, der so freundlich gewesen, sie nach Hause zu begleiten. Sie reichte ihm ihre Hand hin bei diesen Worten, und als er sie nahm, kam es mir vor, als ob sie mich anblickte.

»Jetzt wollen wir uns gute Nacht wünschen, mein hübscher Junge«, sagte der Herr zu mir, als er sein Gesicht, wie ich wohl bemerkte, auf meiner Mutter kleinen Handschuh neigte.

»Gute Nacht«, sagte ich.

»Wir müssen noch die besten Freunde von der Welt werden«, lachte der Herr, »gib mir die Hand.«

Meine rechte Hand lag in meiner Mutter Linken, und so gab ich ihm die andere.

»Aber das ist ja die falsche, Davy«, sagte er wieder lachend.

Meine Mutter zog meine rechte Hand hervor, aber ich war entschlossen, sie ihm nicht zu geben und tat es auch nicht. So reichte ich ihm die andere und er schüttelte sie und sagte, ich sei ein braver Junge, und ging fort.

Und noch jetzt seh ich ihn, wie er sich im Garten umdrehte und uns einen letzten Blick aus seinen unangenehmen, schwarzen Augen zuwarf, ehe er das Tor schloß.

Peggotty, die kein Wort gesprochen und keinen Finger gerührt hatte, schob sofort den Riegel vor, und wir gingen alle in das Wohnzimmer. Anstatt sich wie gewöhnlich in den Lehnstuhl neben den Kamin zu setzen, blieb meine Mutter am andern Ende des Zimmers und sang vor sich hin.

»– hoffe, Sie haben einen angenehmen Abend verlebt, Ma’am«, sagte Peggotty, die mit einem Leuchter in der Hand steif wie eine Tonne mitten im Zimmer stand.

»Danke schön, Peggotty«, erwiderte meine Mutter sehr aufgeräumt. »Ich habe einen sehr angenehmen Abend verbracht.«

»Eine neue Bekanntschaft ist immer eine angenehme Abwechslung«, bemerkte Peggotty.

»Eine sehr angenehme Abwechslung«, erwiderte meine Mutter.

Peggotty blieb regungslos in der Mitte des Zimmers stehen, meine Mutter fing wieder zu singen an, und ich schlief ein, wenn auch nicht so fest, daß ich nicht noch hätte Stimmen hören können, ohne aber zu verstehen, was sie sagten. Als ich aus diesem unbehaglichen Schlummer halb erwachte, sah ich, daß meine Mutter und Peggotty beide weinten und in großer Aufregung miteinander sprachen.

»So einer wie dieser hätte Mr. Copperfield nicht gefallen«, sagte Peggotty. »Das ist meine Meinung und die beschwör ich.«

»Gott im Himmel!« rief meine Mutter. »Du wirst mich noch wahnsinnig machen. Wurde jemals ein armes Mädchen von seinen Dienstboten so mißhandelt. Warum füge ich mir das Unrecht zu und nenne mich ein Mädchen? War ich vielleicht niemals verheiratet, Peggotty?«

»Gott weiß, daß Sie es waren, Ma’am«, erwiderte Peggotty.

»Wie kannst du es dann wagen«, sagte meine Mutter, »du weißt, ich meine nicht, wie du es wagen kannst, Peggotty, sondern wie du es übers Herz bringen kannst, mich so zu verstimmen und mir so böse Worte zu sagen, wo du doch recht gut weißt, daß ich außer dem Hause nicht einen einzigen guten Freund habe.«

»Um so mehr Grund für mich, Ihnen zu sagen, daß es nicht geht«, entgegnete Peggotty. »Nein, es geht nicht, nein, um keinen Preis. Nein!« Ich dachte schon, Peggotty würde den Leuchter wegwerfen, so energisch schwang sie ihn.

»Wie kannst du es nur so aufbauschen«, sagte meine Mutter und fing von neuem an zu weinen, »und so ungerecht sein. Du tust so, als wenn alles schon abgemacht wäre, Peggotty, und ich sage dir doch immer und immer wieder, du grausames Ding, daß außer den gewöhnlichsten Höflichkeiten nichts vorgefallen ist. Du sprichst von Bewunderung. Was kann ich dafür, wenn die Leute so albern sind, solchen Gefühlen nachzugeben, ist das meine Schuld? Was soll ich denn tun, frage ich dich? Willst du vielleicht, daß ich mir die Haare schneiden oder das Gesicht schwärzen oder mich durch einen Brandfleck oder heißes Wasser oder sonst etwas Ähnliches verunstalten soll? Ich glaube, du wärst es imstande, Peggotty. Ich glaube, du würdest dich sogar drüber freuen.«

Peggotty schien sich diese Zumutung sehr zu Herzen zu nehmen, wie mir vorkam.

»Und mein lieber Junge«, schrie meine Mutter, kam zu mir in den Lehnstuhl und liebkoste mich. »Mein einziger kleiner Davy! Lasse ich es vielleicht an Liebe für mein Herzblatt fehlen? Für den allerbesten kleinen Jungen, den es je gegeben hat?«

»Kein Mensch hat das behauptet«, sagte Peggotty.

»Ja du, Peggotty«, gab meine Mutter zurück, »du weißt es ganz gut. Was soll ich denn anderes aus deinen Worten schließen, du unfreundliches Geschöpf, wo du doch recht gut weißt, daß ich mir bloß seinetwegen keinen neuen Sonnenschirm gekauft habe, obwohl der alte, grüne ganz abgeschoben ist und gar keine Fransen mehr hat. Du weißt es, Peggotty, und kannst es nicht leugnen.« Dann wandte sie sich wieder zärtlich zu mir, legte ihre Wange an meine. »Bin ich dir eine nichtsnutzige Mama, Davy? Bin ich eine hartherzige, grausame, selbstsüchtige, schlechte Mama? Sag Ja, mein Kind, und Peggotty wird dich lieben, und Peggottys Liebe ist viel besser als meine, Davy. Ich liebe dich gar nicht, nicht wahr?«

Darüber fingen wir alle an zu weinen. Ich glaube, ich war der lauteste von ihnen, aber ich weiß sicher, wir meinten es alle gleich aufrichtig. Ich war tief unglücklich und habe, fürchte ich, in der ersten Aufwallung verletzter Zärtlichkeit Peggotty ein »Biest« genannt. Ich erinnere mich noch, das ehrliche Geschöpf geriet in die tiefste Betrübnis und muß bei dieser Gelegenheit ganz knopflos geworden sein, denn eine ganze Salve dieser Geschosse flog ab, als sie vor meinem Stuhle niederkniete, um sich mit meiner Mutter und mir zu versöhnen.

Wir gingen sehr niedergeschlagen zu Bett. Mein Weinen hielt mich lange wach, und wenn mich ein besonders heftiges Schluchzen in die Höhe riß, sah ich, daß meine Mutter auf dem Bettrand saß und sich über mich beugte. Dann schlummerte ich in ihren Armen fest ein.

Ob schon am folgenden Sonntag der Herr wieder kam, oder ob ein längerer Zeitraum dazwischen lag, ist mir nicht mehr erinnerlich. In der Zeitrechnung bin ich meiner nicht ganz sicher. Aber er war in der Kirche und begleitete uns dann nach Hause.

Er trat auch zu uns herein, um ein schönes Geranium anzusehen, das im Fenster stand. Es kam mir nicht so vor, als ob er es besonders beachtete, aber ehe er ging, bat er meine Mutter, ihm eine Blüte davon zu geben. Sie bat ihn, sich selbst eine auszusuchen, aber das wollte er nicht – warum, war mir unbegreiflich –, und so pflückte sie ihm denn eine Blüte und gab sie ihm in die Hand. Er sagte, er werde sich niemals im Leben davon trennen, und ich dachte mir, er müsse sehr dumm sein, weil er nicht wisse, daß die Blätter in ein oder zwei Tagen ausfallen würden.

Peggotty fing an, uns abends weniger Gesellschaft zu leisten als früher. Meine Mutter gab ihr in sehr vielen Dingen nach, mehr noch als gewöhnlich, wie mir schien, und wir blieben alle drei die allerbesten Freunde.

Aber doch war es zwischen uns anders geworden, und es war uns nicht mehr so behaglich zu Mute. Manchmal kam es mir so vor, als ob Peggotty nicht recht zufrieden wäre, wenn meine Mutter die schönen Kleider anzog, die sie im Schrank hängen hatte, und so oft die Nachbarn besuchen ging. Aber ich war ganz froh, daß ich mir keine Gedanken darüber zu machen brauchte.

Allmählich gewöhnte ich mich daran, den Herrn mit dem schwarzen Backenbart zu sehen. Er gefiel mir nicht besser als am Anfang, und ich fühlte immer noch dieselbe unbestimmte Eifersucht. Aber wenn ich später einem instinktiven, kindlichen Widerwillen und dem Gedanken im allgemeinen, daß Peggotty und ich vollkommen ausreichen müßten, meine Mutter ohne weitern Beistand glücklich genug machen zu können, noch einen andern Grund dafür hatte, war es doch gewiß nicht der, den ich im reifern Alter für meine Abneigung herausgefunden hätte. Nichts Derartiges fiel mir ein. Ich konnte wohl stückweise beobachten, aber aus solchen Fäden ein Netz zu machen und darin jemand zu fangen, das ging und geht noch jetzt über mein Können hinaus.

An einem Herbstmorgen stand ich mit meiner Mutter in dem Vorgarten, als Mr. Murdstone, ich kannte jetzt seinen Namen, vorbeigeritten kam. Er hielt sein Pferd an, um meine Mutter zu begrüßen, und sagte, er ritte nach Lowestoft, um einige Freunde zu besuchen, die dort eine Jacht hätten, und machte den lustigen Vorschlag, mich vor sich auf den Sattel zu nehmen, wenn ich reiten wollte.

Das Wetter war so wunderschön, und das Pferd schnaubte und stampfte so munter vor der Gartentür, daß ich große Lust dazu hatte. Meine Mutter schickte mich daher zu Peggotty hinauf zum Anziehen, und mittlerweile stieg Mr. Murdstone ab und schritt, die Zügel über dem Arm, langsam vor der Rosenhecke auf und ab, während meine Mutter an der innern Seite neben ihm herging. Ich erinnere mich noch, wie Peggotty und ich aus dem kleinen Fenster hinabsahen, erinnere mich auch noch, wie eifrig meine Mutter und Mr. Murdstone die Rosenhecke zwischen sich zu betrachten schienen, während sie daran entlangschlenderten, und wie Peggotty, die vorher in wahrer Engelslaune gewesen, plötzlich ganz ärgerlich wurde und mein Haar wütend gegen den Strich bürstete.

Mr. Murdstone und ich waren bald unterwegs und trabten auf dem grünen Rasen neben der Landstraße dahin. Er hielt mich leicht mit einem Arm, und ich glaube nicht, daß ich besonders unruhig war. Aber ich konnte mich nicht enthalten, von Zeit zu Zeit den Kopf zu wenden und ihm ins Gesicht zu sehen.

Er hatte jene Art seichter schwarzer Augen – ich finde keinen bessern Ausdruck dafür –, die, wenn sie nachsinnen, durch irgendeine sonderbare Lichtbrechung zu schielen scheinen. Verschiedene Male, wenn ich ihn ansah, bemerkte ich das mit einer Art Scheu und hätte gern gewußt, worüber er so tief nachdenke. Sein Haar und sein Bart waren in der Nähe noch schwärzer und dichter, als ich geglaubt. Das starke Kinn und die schwarzen Punkte, die von dem sorgfältig rasierten Barte übrig blieben, erinnerten mich an eine Wachsfigur, die vor einem halben Jahr in unserer Gegend gezeigt worden war. Dieses, seine regelmäßigen Augenbrauen und das reiche Weiß, Schwarz und Braun seines Teints verwünscht sei sein Teint und verwünscht sein Andenken – machten, daß ich ihn trotz meiner Abneigung für einen schönen Mann hielt. Ich zweifle nicht, daß meine arme, liebe Mutter ganz derselben Meinung war.

Wir gingen in ein Gasthaus am Meere, wo zwei Herren in einem Zimmer Zigarren rauchten. Jeder von ihnen lag auf mindestens vier Stühlen und hatte eine weite zottige Jacke an. In einer Ecke lagen auf einem Haufen übereinander Röcke und Bootsmäntel und eine Flagge. Beide Herren richteten sich schwerfällig auf, als wir eintraten, und riefen: »Hallo, Murdstone! Wir dachten schon, du wärest tot.«

»Noch nicht«, sagte Mr. Murdstone.

»Was ist das für ein Gelbschnabel?« fragte einer der Gentlemen und faßte mich am Arm.

»Das ist Davy«, antwortete Mr. Murdstone.

»Was für ein Davy?« fragte der Herr Jones.

»Copperfield«, sagte Mr. Murdstone.

»Was? Der himmlischen Mrs. Copperfield Beigabe? Der reizenden kleinen Witwe?«

»Quinion«, sagte Mr. Murdstone, »nimm dich in acht, man ist schlau.«

»Wer denn?« fragte der Gentleman lachend.

Ich blickte rasch auf, denn ich hätte es auch gern gewußt.

»Bloß Brooks von Sheffield«, sagte Mr. Murdstone.

Ich fühlte mich ordentlich erleichtert, daß es bloß Brooks von Sheffield sei, denn anfangs hatte ich wirklich geglaubt, man meine mich.

Mr. Brooks von Sheffield mußte wohl jemand sehr Komisches sein, denn die beiden Gentlemen lachten herzlich, als sein Name fiel, und Mr. Murdstone war auch sehr belustigt. Nach längerem Lachen sagte der Herr, der Quinion hieß: »Und wie ist Mr. Brooks‘ von Sheffield Meinung in betreff des geplanten Geschäftes?«

»Hm, ich weiß nicht, ob Brooks vorderhand viel davon versteht«, entgegnete Mr. Murdstone, »aber ich glaube, im allgemeinen ist er ihm nicht besonders günstig.«

Darüber wurde noch viel mehr gelacht, und Mr. Quinion sagte, er wolle nach Sherry klingeln, um auf Brooks Gesundheit zu trinken. Das tat er dann, und als der Wein kam, gab er mir ein wenig davon und ein Biskuit, und bevor ich trank, stand er auf und sagte: »Verwirrung komme über Brooks von Sheffield.«

Der Toast wurde mit großem Beifall und so herzlichem Gelächter aufgenommen, daß ich selbst mitlachen mußte, worüber sie dann noch mehr lachten. Kurz, es war sehr lustig.

Wir gingen hierauf an den Klippen des Strandes spazieren und setzten uns ins Gras und schauten durch ein Fernrohr – ich konnte nichts sehen, als sie es mir vor das Auge hielten, behauptete aber, ich könnte es – und dann gingen wir zurück in das Hotel, um zeitig zu Mittag zu essen.

Während unseres Spazierganges rauchten die beiden Herren unaufhörlich, was sie – nach dem Geruch ihrer zottigen Röcke zu schließen – wohl seit dem ersten Tage an gemacht haben mußten, seit sie sie vom Schneider bekommen hatten. Ich darf nicht vergessen, daß wir auch an Bord der Jacht gingen, wo sie alle drei in die Kajüte hinunterstiegen und sich eifrig mit verschiedenen Papieren beschäftigten. Ich sah sie angestrengt arbeiten, wenn ich durch das offene Lukenfenster hinunterblickte.

Die ganze Zeit über ließen sie mich in Gesellschaft eines sehr netten Mannes mit einem großen Kopf voll roter Haare und einem sehr kleinen lackierten Hut. Er hatte ein buntgestreiftes Hemd an, mit dem Worte »Feldlerche« in großen Buchstaben quer über der Brust. Ich dachte, es sei sein Name und er schreibe ihn auf die Brust, weil er auf dem Schiffe wohnte und kein Haustor hatte, worauf er ihn hätte anschlagen können. Als ich ihn aber Mr. Feldlerche nannte, sagte er, das Schiff hieße so.

Den ganzen Tag über bemerkte ich, daß Mr. Murdstone ernster und verschlossener war als die beiden andern Herren. Diese waren sehr lustig und ungezwungen, scherzten miteinander, aber selten mit ihm. Er kam mir gescheiter und kühler vor als sie, und sie mochten ziemlich meiner Meinung sein. Ich bemerkte nämlich, daß Mr. Quinion ein- oder zweimal, wenn er sprach, Mr. Murdstone von der Seite ansah, wie um sich zu überzeugen, ob ihm nicht irgend etwas mißfiele, und daß er einmal, als Mr. Passnidge, der andere Herr, besonders ausgelassen war, diesem auf den Fuß trat und ihm heimlich mit den Augen zuwinkte, auf Mr. Murdstone zu achten, der stumm und verdrossen dasaß. Ich erinnere mich auch nicht, daß Mr. Murdstone den ganzen Tag über einmal gelacht hätte, außer über den Sheffield-Witz, den er ja übrigens selber gemacht hatte.

Wir gingen abends zeitig nach Hause. Es war ein sehr schöner Abend, und meine Mutter und Mr. Murdstone gingen wieder an der Rosenhecke auf und ab, während ich hineingeschickt wurde, um meinen Tee zu trinken.

Als er weggegangen war, fragte mich meine Mutter aus über die Tageserlebnisse. Ich erzählte, was sie über sie geäußert hatten, und sie lachte und sagte, es seien unverschämte Burschen, die Unsinn schwatzten, aber ich merkte ganz gut, daß es ihr gefiel. So genau, wie ich es jetzt weiß. Ich benutzte die Gelegenheit, sie zu fragen, ob sie einen gewissen Brooks aus Sheffield kenne, sie erwiderte, nein, aber es müsse ein Messer- und Gabelfabrikant sein.

Kann ich von ihrem Gesicht, sosehr es sich später veränderte, so verblüht ich es weiß, sagen, es sei nicht mehr, wenn es hier in diesem Augenblick so deutlich mir vor Augen tritt, wie jedes beliebige Gesicht, das auf belebter Straße an mir vorbeigeht? Kann ich von ihrer unschuldsvollen, mädchenhaften Schönheit sagen, sie sei verwelkt und dahin, wenn ihr Atem jetzt meine Wange berührt, wie er es an jenem Abend tat? Kann ich sagen, sie habe sich jemals verändert, wenn meine Erinnerungen sie nur mit diesen Zügen ins Leben zurückrufen?

Ich schildere sie genau so, wie sie war, als ich nach dieser Unterhaltung zu Bett gegangen und sie zu mir kam, um mir gute Nacht zu sagen. Sie kniete neben meinem Bett nieder, legte ihr Kinn auf ihre Hände und fragte lachend:

»Was sagten sie, Davy? Sag es noch einmal. Ich kann’s nicht glauben.«

»Der himmlischen –« fing ich an.

Sie legte mir die Hand auf den Mund.

»Himmlisch gewiß nicht«, sagte sie lachend. »Himmlisch kann es nicht gewesen sein, Davy. Jetzt weiß ichs, daß es nicht wahr ist.«

»Doch! Der himmlischen Mrs. Copperfield«, wiederholte ich standhaft, »und der reizenden –«

»Nein, nein, reizend gewiß nicht. Nicht reizend«, unterbrach mich meine Mutter und legte mir wieder die Finger auf die Lippen.

»Ja, es war so. Der reizenden kleinen Witwe.«

»Was für närrische, unverschämte Menschen!« rief meine Mutter lachend und bedeckte ihr Gesicht, »was für alberne Burschen, nicht wahr, mein lieber Davy?«

»Jawohl, Mama.«

»Sag Peggotty nichts. Sie könnte böse drüber werden. Ich bin auch sehr böse drüber, aber es ist besser, Peggotty erfährt nichts davon.«

Ich versprach es natürlich, und wir küßten uns noch viele Male, und bald lag ich in festem Schlaf.

Nach der langen inzwischen vergangenen Zeit kommt es mir jetzt so vor, als ob mir bereits am Tage darauf Peggotty den sonderbaren Vorschlag machte, von dem ich sogleich erzählen will, – aber wahrscheinlich lagen zwei Monate dazwischen.

Wir saßen wieder eines Abends, als meine Mutter auf Besuch war, in Gesellschaft des Strumpfes, des Ellenmaßes, des Wachsstückchens, des Kastens mit der St.-Pauls-Kirche und des Krokodilbuchs beisammen, Peggotty und ich, als sie (nachdem sie mich mehrmals angeblickt und den Mund aufgerissen, als wollte sie sprechen, – ich hielt es für bloßes Gähnen, sonst hätte es mich beunruhigt, –) endlich mit einschmeichelnder Stimme sagte: »Master Davy, wie wäre es, wenn du mit mir auf vierzehn Tage meinen Bruder in Yarmouth besuchtest? Wär das nicht fein?«

»Ist dein Bruder ein angenehmer Mann?« fragte ich vorsichtig.

»O was für ein angenehmer Mann!« rief Peggotty und streckte die Hände in die Höhe. »Und dann ist das Meer da und die Boote und die Schiffe und der Strand und Ham zum Spielen.«

Ham war Peggottys Neffe, wie bekannt. Ich war ganz aufgeregt über die in Aussicht gestellten Freuden von Yarmouth und erwiderte, daß es freilich herrlich sein müßte, aber was wohl die Mutter dazu sagen würde.

»Ich möchte eine Guinee wetten, daß sie uns die Erlaubnis dazu gibt. Wenn du willst, frage ich sie, sobald sie nach Hause kommt. Abgemacht.«

»Aber was wird sie anfangen, wenn wir fort sind?« fragte ich und legte meine Ellbogen auf den Tisch, um die Sache gründlich zu besprechen. »Sie kann doch nicht allein bleiben?«

Wenn Peggotty ganz plötzlich jetzt nach einem Loche in der Strumpfferse spähte, muß es wahrhaftig ganz klein und des Stopfens nicht wert gewesen sein.

»Peggotty! Hör doch. Sie kann doch nicht allein bleiben.«

»Ach Gott, richtig«, sagte Peggotty und sah mich endlich wieder an. »Weißt du es noch nicht? Sie geht auf vierzehn Tage auf Besuch zu Mrs. Grayper. Mrs. Grayper bekommt eine Menge Gäste.«

Da die Sache so stand, war ich ganz bereit zur Reise. In größter Ungeduld wartete ich, bis meine Mutter von Mrs. Grayper, unsrer Nachbarin, nach Hause kam, um sie zu fragen, ob sie mit dem großen Plan einverstanden sei. Gar nicht so überrascht, wie ich vermutet hatte, ging meine Mutter bereitwillig darauf ein, und die Sache wurde diesen Abend noch abgemacht und Wohnung und Kost für mich für die vierzehn Tage bezahlt.

Der Tag unserer Abreise kam bald heran. Er war so nahe angesetzt, daß er selbst für mich bald kam, wo ich doch förmlich vor Erwartung fieberte und immer fürchtete, ein Erdbeben oder ein feuerspeiender Berg oder eine andere große Katastrophe könnte alles hinausschieben.

Wir sollten mit einem Fuhrmann reisen, der diesen Morgen nach dem Frühstück aufbrach. Ich würde etwas darum gegeben haben, wenn man mir erlaubt hätte, mich schon über Nacht in den Mantel wickeln und mit Hut und Stiefeln schlafen zu dürfen. Es erschüttert mich jetzt noch, wenn ich es so leichthin erzähle und bedenke, wie ungeduldig ich mich von dem glücklichen Heim wegsehnte, ohne zu ahnen, was ich für immer verließ.

Es steht wie eine frohe Erinnerung vor mir, als der Wagen vor der Türe hielt und meine Mutter mich küßte, und ich freue mich, daß ich vor zärtlicher Liebe zu ihr und dem alten Hause, das ich noch nie verlassen, weinen mußte, freue mich über die Erinnerung, daß auch meine Mutter weinte und ich ihr Herz an meinem schlagen fühlte.

Und als der Wagen davonfuhr, da kam meine Mutter noch einmal zur Gartentür heraus und ließ halten, um mich noch einmal zu küssen. Ich verweile gern in Gedanken bei der Innigkeit und Liebe, mit der sie mir ins Gesicht blickte und mir noch einen letzten Abschiedskuß gab.

Als sie mitten auf der Straße stand und uns nachsah, trat Mr. Murdstone zu ihr und schien ihr Vorstellungen wegen ihrer großen Rührung zu machen. Ich sah um die Wagenplache herum zurück und war mir nicht klar darüber, was ihn denn eigentlich die ganze Sache anginge.

Peggotty, die auf der andern Seite herausschaute, schien nichts weniger als zufrieden zu sein, wie ihr Gesicht verriet, als sie den Kopf wieder zurückzog.

Ich saß eine Zeitlang stumm neben ihr in Träumerei versunken über die Lösung der Frage: ob ich, ähnlich wie der Däumling im Märchen, wohl imstande sein würde, mit Hilfe ihrer Knöpfe wieder heimzufinden.

14. Kapitel Meine Tante kommt zu einem Entschluß über mich


14. Kapitel Meine Tante kommt zu einem Entschluß über mich

Als ich früh herunterkam, saß meine Tante in so tiefem Sinnen am Frühstückstisch, die Ellbogen auf das Teebrett gestützt, daß sie gar nicht bemerkte, daß der Teekessel übergelaufen war und das ganze Tischtuch unter Wasser gesetzt hatte. Bei meinem Erscheinen kam sie wieder zu sich. Überzeugt, daß sie meinetwegen nachgedacht habe, wünschte ich nichts sehnlicher, als zu wissen, was sie mit mir vorhatte. Doch ich wagte nicht zu fragen, aus Angst, sie zu beleidigen.

Meine Augen jedoch, die ich nicht so im Zaume halten konnte wie meine Zunge, fühlten sich während des Frühstücks sehr oft zu meiner Tante hingezogen. Ich konnte sie kaum ein paar Augenblicke hintereinander ansehen, ohne daß sie mich nicht ebenfalls anblickte, und zwar in einer seltsamen nachdenklichen Art, als ob ich in unendlich weiter Ferne säße und nicht an der andern Seite des kleinen runden Tisches.

Als sie mit dem Frühstück fertig war, lehnte sie sich sehr gedankenvoll in ihren Stuhl zurück, zog die Brauen zusammen, verschränkte die Arme und betrachtete mich mit so unablässiger Aufmerksamkeit, daß ich vor Verlegenheit mir gar nicht mehr zu helfen wußte. Ich war mit meinem Frühstück noch nicht zu Ende und versuchte, durch Essen meine Verlegenheit zu verbergen. Aber mein Messer stolperte über die Gabel, die Gabel warf das Messer um, ich schnellte ein Stückchen Schinken in überraschende Höhe in die Luft empor, anstatt es zurechtzuschneiden, und der Tee kam mir so oft in die unrechte Kehle, daß ich es zuletzt ganz aufgab und errötend still saß und mich mustern ließ.

»Hallo!« sagte meine Tante nach einer langen Zeit.

Ich blickte auf und begegnete mit ehrerbietiger Miene ihren scharfen glänzenden Augen.

»Ich habe an ihn geschrieben«, sagte meine Tante.

»An –?«

»An deinen Stiefvater«, sagte meine Tante. »Ich habe ihm einen Brief geschrieben, er möge hierherkommen, oder er bekäme es mit mir zu tun.«

»Weiß er, wo ich bin, Tante?« fragte ich sehr beunruhigt.

»Ich habe es ihm geschrieben«, nickte meine Tante.

»Wird er – soll er – nimmt er mich wieder mit?« stotterte ich.

»Ich weiß nicht, was er tun wird«, sagte meine Tante. »Wir werden sehen.«

»Ach, ich darf gar nicht daran denken!« rief ich aus. »Ich weiß nicht, was ich anfangen soll, wenn ich wieder zu Mr. Murdstone zurückkehren muß.«

»Ich auch nicht«, sagte meine Tante und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht. Wir werden sehen.«

All mein Mut verließ mich bei diesen Worten, und ich wurde ganz niedergeschlagen und schweren Herzens. Ohne anscheinend darauf zu achten, band sich meine Tante ein große Schürze vor, die sie aus dem Schrank nahm, wusch die Teetassen eigenhändig aus, stellte sie dann auf das Teebrett, faltete das Tischtuch zusammen und klingelte Janet. Dann zog sie ein paar Handschuhe an, kehrte mit einem kleinen Besen die letzten Krumen weg, bis auch kein mikroskopisches Fleckchen mehr auf dem Tisch zu sehen war, staubte ab und ordnete das Zimmer auf das sorgfältigste. Als alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt schien, legte sie Handschuhe und Schürze wieder ab, faltete sie zusammen, legte sie an ihren Platz im Schranke, stellte ihr Arbeitskörbchen auf den Tisch am offnen Fenster und setzte sich nieder, den grünen Schirm zwischen sich und das Licht gerückt.

»Du könntest hinaufgehen«, sagte sie, als sie dann ihre Nadel einfädelte, »mich Mr. Dick empfehlen und ihn fragen, wie er mit seiner Denkschrift vorwärtskommt.«

Ich sprang auf, um den Auftrag auszuführen.

»Ich vermute«, sagte meine Tante und sah mich so scharf an wie vorhin die Nadel beim Einfädeln, »du denkst dir, Mr. Dick ist ein sehr kurzer Name.«

»Er kam mir gestern abends ein wenig kurz vor«, gestand ich.

»Du brauchst nicht zu glauben, daß er keinen längern zur Verfügung hätte, wenn er wollte«, sagte meine Tante, mit einer großartigen Geste. »Babley – Mr. Richard Babley – ist dieses Gentlemans wirklicher Name.«

Ich wollte im Bewußtsein meiner Jugend, und um die Respektlosigkeit, deren ich mich schuldig gemacht zu haben glaubte, wieder gut zu machen, eben bescheiden bemerken, daß ich Mr. Dick von jetzt an seinen vollen Namen wolle zukommen lassen, als meine Tante fortfuhr:

»Aber nenne ihn bei Leibe nicht so! Er kann den Namen nicht ausstehen. Das ist eine seiner Eigenheiten. Es ist bei Licht betrachtet vielleicht nichts Sonderbares dabei! Verwandte, die denselben Namen tragen, haben ihn schlecht behandelt, so daß sein tödlicher Widerwille wohl gerechtfertigt erscheint. Also nimm dich in acht, Kind, daß du ihn nicht anders als Mr. Dick nennst.«

Ich versprach es und ging mit meiner Botschaft hinauf. Unterwegs dachte ich, Mr. Dick müßte wohl mit seiner Denkschrift gut vorwärtskommen, wenn er immer so eifrig an ihr arbeitete, wie ich es heute früh beim Vorbeigehen durch die offne Tür gesehen.

Bei meinem Eintritt schrieb er immer noch höchst eifrig, und sein Kopf lag fast auf dem Papier. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß ich Zeit genug hatte, mir einen großen Papierdrachen in einer Ecke, eine Menge beschriebenes Papier in Bündeln und vor allem die in Dutzenden herumstehenden dicken Tintenkrüge anzusehen, ehe er meiner gewahr wurde.

»Ha! Phöbus!« sagte er dann, die Feder weglegend. »Wie gehts in der Welt?«

»Ich will dir was sagen«, setzte er leiser hinzu, »aber du mußt es für dich behalten«, – er winkte mir und legte seine Lippen dicht an mein Ohr – »es ist eine verrückte Welt, verrückt wie ein Irrenhaus, mein Sohn!« Dann nahm er eine Prise aus einer großen runden Tabaksdose, die auf dem Tische stand, und lachte herzlich.

Ohne mir eine Meinungsäußerung zu erlauben, richtete ich meinen Auftrag aus.

»Gut«, antwortete Mr. Dick. »Bitte, ebenfalls meine Empfehlungen, und ich – ich hätte einen tüchtigen Ansatz gemacht!« Er fuhr mit der Hand durch sein graues Haar und warf einen keineswegs zuversichtlichen Blick auf sein Manuskript.

»Hast du die Schule besucht?«

»Ja, Sir«, erwiderte ich, »kurze Zeit.«

»Kannst du dich an das Datum erinnern«, fragte Mr. Dick, sah mich ernst an und nahm eine Feder, um meine Antwort aufzuschreiben, »wann König Karl I. enthauptet wurde?«

Ich sagte, ich glaubte, es sei das Jahr 1649 gewesen.

»Hm«, entgegnete Mr. Dick, indem er sich mit der Feder hinter dem Ohre kratzte und mich voll Zweifel ansah. »Das sagen die Bücher, aber ich sehe nicht ein, wie das stimmen kann. Wenn das so lange her ist, warum haben da die Leute das Versehen begangen, ein paar Sorgen aus seinem Kopf, nachdem sie ihm ihn abgeschnitten, in meinen zu stecken?«

Ich war sehr verblüfft durch diese Frage, konnte aber keine Antwort finden.

»Es ist sehr sehr seltsam«, meinte Mr. Dick mit einem verzagten Blick auf seine Papiere und sich wieder mit der Hand durch die Haare fahrend, »daß ich nie damit ins reine kommen kann! – Aber schadet nichts, schadet nichts«, sagte er vergnügt und wieder Mut fassend. »Ich habe ja Zeit genug. Meine Empfehlungen an Miss Trotwood und ich käme recht gut vorwärts.«

Ich wollte hinausgehen, als er meine Aufmerksamkeit auf den Drachen lenkte.

»Was sagst du zu diesem Drachen?« fragte er.

Ich antwortete, er sei sehr schön. Man sollte meinen, er müßte sieben Fuß hoch sein.

»Ich habe ihn selbst gemacht, wir wollen ihn mal zusammen steigen lassen. Schau einmal her.«

Er zeigte mir, daß der Drache über und über beschrieben war, und zwar so deutlich, – wenn auch in kleinster Schrift – daß ich beim Überfliegen der Zeilen an ein paar Stellen Anspielungen auf König Karls des Ersten Kopfs zu lesen glaubte.

»Die Schnur ist sehr lang«, sagte Mr. Dick, »und wenn er hoch fliegt, nimmt er die Tatsachen weit fort. Das ist so meine Art, sie zu verbreiten. Ich weiß nicht, wo sie niederfallen, – das hängt von den Umständen und vom Winde ab –, aber ich treffe meine Vorkehrungen darnach.«

Sein gesundes und frisches Gesicht war so sanft und freundlich und hatte etwas so Ehrwürdiges an sich, daß ich vermutete, er treibe einen fröhlichen Scherz mit mir. Daher lachte ich, und er lachte auch, und wir schieden als die besten Freunde.

»Nun, Kind«, fragte meine Tante, als ich die Treppen herunterkam, »was ists mit Mr. Dick heute morgen?«

Ich richtete ihr aus, daß er sich empfehlen lasse und recht gute Fortschritte mache.

»Was hältst du von ihm?« forschte meine Tante.

Ich wollte der Frage dadurch ausweichen, daß ich sagte, er sei ein sehr gewinnender Gentleman. Aber meine Tante ließ sich nicht so leicht abfertigen; sie legte ihre Arbeit in den Schoß, verschränkte die Arme und sagte:

»Schau! Deine Schwester Betsey Trotwood würde mir ohne Ausflüchte gesagt haben, was sie denkt. Sei doch deiner Schwester ähnlich und sprich ganz offen!«

»Ist er – ist Mr. Dick – ich frage, weil ich es nicht wissen kann, Tante, – ist er nicht recht bei Sinnen?« stotterte ich, denn ich fühlte, daß ich mich auf einem gefährlichen Gebiet bewegte.

»O durchaus nicht«, sagte meine Tante.

»O wirklich«, bemerkte ich schüchtern.

»Wenn es irgend jemand in der Welt nicht ist«, sagte meine Tante mit großer Entschiedenheit, »so ist es Mr. Dick.«

Ich wußte nichts Besseres zu erwidern als abermals ein schüchternes »O wirklich.«

»Man hat wohl behauptet, er sei verrückt«, sagte meine Tante. »Mir macht es ein besonderes Vergnügen, daß das geschehen ist, denn ich hätte sonst nicht die Freude seiner Gesellschaft und seines Rates genossen seit den letzten zehn Jahren, oder so. Kurz, seit deine Schwester Betsey Trotwood mich im Stiche gelassen hat.«

»So lange schon«, sagte ich.

»Und nette Leute waren es, die die Frechheit besessen haben, ihn für verrückt zu erklären«, fuhr meine Tante fort. »Mr. Dick ist eine Art entfernter Verwandter von mir; es ist gleichgültig, in welchem Grade. Wäre ich nicht dazwischengetreten, so hätte ihn sein eigner Bruder zeitlebens eingesperrt. So steht die Sache.«

Ich fürchte, es war heuchlerisch von mir, daß ich ein teilnehmendes Gesicht machte, aber ich tat es, weil meiner Tante die Sache offenbar sehr zu Herzen ging.

»Ein hochmütiger Narr dieser Bruder! Weil Mr. Dick ein bißchen eigentümlich ist, – noch lange nicht so eigentümlich wie viele andere Leute – mag er ihn nicht um sich sehen und schickt ihn in ein Privatirrenhaus, trotzdem er ihm von seinem Vater, der ihn auch für närrisch hielt, auf dem Totenbett ausdrücklich zur Pflege auf die Seele gebunden worden war. Muß auch ein weiser Mann gewesen sein, der Vater! Offenbar selber verrückt.«

Da meine Tante sehr überzeugt dreinschaute, bemühte ich mich, ein gleiches Gesicht zu machen.

»Darum mischte ich mich hinein«, fuhr meine Tante fort, »und machte ihm ein Anerbieten. Ich sagte, Ihr Bruder ist vernünftig, hoffentlich viel vernünftiger als Sie sind oder jemals sein werden. Geben Sie ihm sein kleines Einkommen, dann mag er zu mir ziehen. Ich schäme mich seiner nicht, ich bin nicht hochmütig und nehme ihn gern unter meine Obhut. Ich werde ihn auch nicht mißhandeln, wie es gewisse Leute getan haben. Nach einer langen Balgerei bekam ich ihn, und seitdem ist er hier. Er ist das freundlichste und gefügigste Wesen, das es gibt. Und was für ein Ratgeber! Aber niemand außer mir kennt seine Befähigung.«

»Er hatte eine Lieblingsschwester«, fuhr sie fort, »ein sanftes Geschöpf, die sehr gut zu ihm war. Aber sie tat, was sie eben alle tun –, sie nahm einen Mann. Und ihr Mann tat, was sie alle tun: er machte sie unglücklich. Das brachte auf Mr. Dick einen derartigen Eindruck hervor, daß er – die Furcht vor seinem Bruder und das Gefühl, immer unfreundlich behandelt zu werden, kam noch dazu, – in ein heftiges Fieber verfiel. Das geschah, bevor er hierher zog. Aber die Erinnerung daran bedrückt ihn immer noch. – Sagte er dir etwas über König Karl den Ersten, Kind?«

»Ja, Tante.«

»Ach«, sagte meine Tante und rieb sich ein wenig verlegen die Nase, »das ist nur so eine allegorische Art von ihm sich auszudrücken. Seine Krankheit erinnert ihn natürlich an große Aufregungen und Wirrsale, und darum wählt er dieses Bild oder Gleichnis. Warum sollte er auch nicht, wenn er es für gut findet!?«

»Gewiß, Tante.«

»Es ist keine allgemein übliche Ausdrucksweise«, fuhr meine Tante fort, »ich weiß das recht wohl, und deshalb bestehe ich auch darauf, daß kein Wort davon in seine Denkschrift kommen darf.«

»Handelt seine Denkschrift von seiner eignen Lebensgeschichte, Tante?«

»Ja, mein Kind!« Meine Tante rieb sich weiter die Nase. »Er verfaßt eine Bittschrift an den Lordkanzler oder den Lord Dingskirchen, jedenfalls an einen der Männer, die bezahlt werden, um Denkschriften entgegenzunehmen. Ich glaube, er wird nächstens damit fertig sein. Bis jetzt hat er immer wieder sein Gleichnis hineingebracht. Aber das schadet nichts. Er hat wenigstens eine Beschäftigung.«

Tatsächlich fand ich später heraus, daß Mr. Dick sich schon länger als zehn Jahre bemüht hatte, König Karl den Ersten aus der Denkschrift fernzuhalten, aber diese fixe Idee war beständig wieder hineingeraten und befand sich auch jetzt wieder darin.

»Ich sage nochmals, niemand außer mir kennt dieses Mannes Begabung, und er ist das umgänglichste und freundlichste Geschöpf von der Welt. Wenn er manchmal einen Drachen steigen läßt, was tut das? Franklin ließ auch Drachen steigen. Und der war Quäker oder so etwas Ähnliches, wenn ich nicht irre. Und wenn ein Quäker einen Drachen steigen läßt, ist das noch viel lächerlicher, als wenn es ein anderer Mensch tut.«

Wenn ich hätte annehmen können, daß meine Tante mir diese Einzelheiten als einen Beweis ihres Vertrauens erzählte, würde ich mich sehr ausgezeichnet gefühlt und auf meine Zukunft sehr günstig geschlossen haben. Aber leider entging es mir nicht, daß sie nur so viel sprach, um sich selbst zu beruhigen.

Ihr Großmut gegenüber dem armen harmlosen Mr. Dick jedoch erfüllte mein junges Herz nicht nur mit Hoffnung, sondern zog es auch zu ihr hin. Ich begann zu begreifen, daß meine Tante bei allen ihren Wunderlichkeiten und Launen Eigenschaften besaß, die man sehr hoch anschlagen mußte. Sie war heute gerade so schroff wie gestern, machte wieder Ausfälle auf die Esel und geriet in fürchterliche Entrüstung, als ein junger Bursche im Vorbeigehen Janet ansah, eines der ernstesten Vergehen, deren man sich in den Augen meiner Tante schuldig machen konnte, aber sie schien mir mehr Ehrfurcht und weniger Angst einzuflößen.

Meine Furcht in der Zwischenzeit, die bis zum Eintreffen einer Antwort von Mr. Murdstone verlaufen mußte, war außerordentlich, aber ich versuchte, mich zu beherrschen und mich auf stille Art meiner Tante und Mr. Dick so angenehm wie nur möglich zu machen. Er und ich hätten gern den großen Drachen steigen lassen, aber ich besaß keine andern Kleider als diejenigen, in die man mich am ersten Tage meines Hierseins eingehüllt hatte, und die mich beständig an das Haus fesselten, außer eine Stunde nach Dunkelwerden, wo meine Tante mit mir aus Gesundheitsrücksichten auf der Klippe draußen spazierenging.

Endlich traf die Antwort Mr. Murdstones ein, und meine Tante teilte mir zu meinem größten Schrecken mit, daß er morgen selbst kommen werde.

Am nächsten Tag saß ich, immer noch in meine sonderbare Bekleidung gehüllt, herum und zählte die Minuten aufgeregt, in sinkender Hoffnung und immer mehr steigender Angst, und jede Sekunde gewärtig, von dem Anblick des finstern Gesichtes meines Stiefvaters erschreckt zu werden.

Meine Tante sah noch gebieterischer und strenger drein als gewöhnlich, sonst aber konnte ich nicht bemerken, daß sie sich auf den Empfang des von mir so gefürchteten Besuches irgendwie vorbereitete. Bis ziemlich spät am Nachmittag saß sie im Fenster und arbeitete und ich neben ihr, mir in Gedanken alle möglichen und unmöglichen Resultate von Mr. Murdstones Besuch ausmalend.

Unser Mittagessen war auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben worden; aber es wurde so spät, daß eben gedeckt werden sollte, als meine Tante den plötzlichen Alarmruf Esel! ausstieß, und ich zu meiner Bestürzung Miss Murdstone kaltblütig über den heiligen Rasenfleck reiten und vor dem Hause halten sah.

»Marsch fort!« schrie meine Tante und drohte mit der Faust am Fenster. »Sie haben da nichts zu suchen! Wie können Sie sich unterstehen, meinen Rasenfleck zu betreten! Marsch fort! Sie Ding da mit dem frechen Gesicht!«

Meine Tante war so erbost über die Kaltblütigkeit, mit der Miss Murdstone um sich schaute, daß sie nicht imstande war, ein Glied zu rühren und nach ihrer Gewohnheit hinauszustürzen. Ich benutzte die Gelegenheit, um ihr zu sagen, wer es sei, und daß der Herr, der jetzt nachkam, Mr. Murdstone selbst wäre.

»Kümmert mich wenig, wers ist«, rief meine Tante und schüttelte immer noch den Kopf und schnitt nichts weniger als freundliche Gesichter hinter dem Bogenfenster. »Es wird hier nicht herumgeritten. Ich erlaube es nicht. Marsch, fort! Janet dreh ihn herum! Führ ihn fort!«

Ich lugte hinter meiner Tante hervor und gewahrte eine wahre Schlachtszene. Der Esel, die vier Füße fest in den Boden gestemmt, widerstand hartnäckig jedermanns Bemühungen. Janet versuchte ihn mit dem Zaum aus der Richtung zu bringen, Mr. Murdstone ihn anzutreiben, Miss Murdstone schlug mit dem Sonnenschirm auf Janet los, und mehrere Jungen, die als Zuschauer herbeigeeilt waren, jauchzten vor Lust. Als meine Tante unter ihnen plötzlich den jungen Verbrecher erspähte, unter dessen Obhut der Esel stand, und der einer ihrer hartnäckigsten Feinde war, stürzte sie hinaus, fiel über ihn her, fing ihn ein und schleppte ihn in den Garten, daß er, die Jacke über den Kopf gezogen, mit seinen Absätzen Furchen in den Erdboden pflügte. Dort hielt sie ihn fest und befahl Janet, die Polizei und die Richter zu holen, damit er auf der Stelle verhört und abgeurteilt werde. Ihre Freude dauerte jedoch nicht lange. Der junge Bösewicht, in allerlei Listen und Ränken erfahren, von denen meine Tante kein Ahnung hatte, riß sich geschickt los und suchte johlend das Weite, in den Blumenbeeten tiefe Spuren seiner benagelten Schuhe zurücklassend und den Esel im Triumph mit sich nehmend.

Miss Murdstone war gegen Ende des Kampfes abgestiegen und wartete jetzt mit ihrem Bruder vor der Haustür, bis es meiner Tante gefällig wäre, sie zu empfangen. Meine Tante, durch die Schlacht ein wenig aufgeregt, ging mit großer Würde an ihnen vorbei ins Haus und nahm von beiden keine Notiz, bis sie von Janet angemeldet wurden.

»Soll ich hinausgehen, Tante?« fragte ich zitternd.

»Nein, mein Kind, gewiß nicht.« Und damit schob sie mich in eine Ecke neben sich und stellte einen Stuhl vor, daß es aussah wie eine Gerichtsschranke. In dieser Ecke blieb ich während der ganzen Unterredung, und von hier aus sah ich jetzt Mr. und Miss Murdstone in das Zimmer treten.

»O«, nahm meine Tante das Wort. »Ich wußte anfangs nicht, gegen wen ich das Vergnügen hatte, einzuschreiten. Aber ich erlaube niemand, über diesen Rasenfleck zu reiten. Ich mache keine Ausnahme. Ich gestatte es niemand.«

»Ihre Maßnahme ist etwas beschwerlich für Fremde«, entgegnete Miss Murdstone.

»Wirklich?« bemerkte meine Tante.

Mr. Murdstone schien eine Erneuerung der Feindseligkeiten zu befürchten und sagte vermittelnd: »Miss Trotwood.«

»Ich bitte um Verzeihung«, bemerkte meine Tante mit einem schneidenden Blick. »Sie sind der Mr. Murdstone, der die Witwe meines seligen Neffen, David Copperfield, von Blunderstone-Krähenhorst geheiratet hat? Warum eigentlich Krähenhorst, weiß ich nicht.«

»Der bin ich«, sagte Mr. Murdstone.

»Sie werden mir die Bemerkung nicht übelnehmen, Sir«, fuhr meine Tante fort, »aber ich glaube, es hätte sich besser und glücklicher gefügt, wenn Sie das arme Kind in Ruhe gelassen hätten.«

»Ich stimme insofern mit Miss Trotwood überein«, fiel Miss Murdstone gereizt ein, »daß unsere viel beklagte Klara in allen wesentlichen Punkten wirklich das reinste Kind war.«

»Es ist ein Trost für uns beide, Ma’am«, sagte meine Tante, »die wir in die Jahre kommen und schwerlich unserer persönlichen Reize wegen unglücklich gemacht werden können, daß niemand dasselbe von uns sagen kann.«

»Allerdings«, erwiderte Miss Murdstone, wie mir schien, nicht sehr freudig beistimmend. »Sie haben ganz recht, es wäre besser und glücklicher für meinen Bruder ausgefallen, wenn er diese Ehe nie geschlossen hätte. Ich war immer dieser Meinung.«

»Sie gewiß, das glaube ich«, sagte meine Tante. Dann klingelte sie. »Janet, richte meine Empfehlungen an Mr. Dick aus, ich lasse ihn bitten, herunterzukommen.«

Bis er kam, saß meine Tante so kerzengerade da und sah mit gerunzelter Stirn die Wand an. Als er eintrat, stellte sie ihn vor.

»Mr. Dick. Ein alter und vertrauter Freund, auf dessen Urteil«, sie sah Mr. Dick, der an seinem Zeigefinger kaute und ziemlich blöde dreinschaute, mit einem ermahnenden Blick an, »ich mich verlasse.«

Mr. Dick nahm auf diesen Wink den Finger aus dem Mund und stand mit ernstem und aufmerksamem Gesicht unter der Gruppe. Meine Tante verneigte sich gegen Mr. Murdstone, der daraufhin fortfuhr:

»Miss Trotwood, beim Empfang Ihres Briefes hielt ich es, teils um meinen Standpunkt besser vertreten zu können, teils aus Rücksicht für Sie, für besser –«

»Danke«, warf meine Tante hin, Mr. Murdstone unablässig fixierend, »ich beanspruche keine.«

»– trotz der Unannehmlichkeit einer Reise lieber persönlich als brieflich zu antworten. Dieser unglückselige Junge, der von seinen Freunden und seiner Beschäftigung fortgelaufen ist –«

»– und dessen äußere Erscheinung«, unterbrach Miss Murdstone, auf meinen unbeschreiblichen Anzug hindeutend, »eine Schmach und ein wahrer Skandal ist –«

»Jane Murdstone, sei so gut und unterbrich mich nicht! Dieser unglückselige Junge also, Miss Trotwood, hat uns viel häusliches Ungemach und Leidwesen verursacht. Während der Lebzeiten meines verstorbenen geliebten Weibes und nachher. Er hat einen mürrischen, trotzigen Charakter, ein gewalttätiges Temperament und ein verstocktes störrisches Wesen. Meine Schwester wie ich haben uns bemüht, seine Laster ihm abzugewöhnen, aber vergeblich. Darum hielt ich es für das beste, oder vielmehr, wir beide hielten es für das beste, – meine Schwester besitzt mein vollständiges Vertrauen – Sie dieses ernste und unparteiische Urteil aus unserem eigenen Munde hören zu lassen.«

»Ich habe wohl nicht nötig, was aus meines Bruders Mund kommt, noch zu bestätigen«, sagte Miss Murdstone. »Aber ich bitte zu bemerken, daß ich meinerseits ihn von allen Jungen auf der Welt für den allerschlechtesten halte.«

»Stark!« sagte meine Tante kurz.

»Durchaus nicht zu stark den Tatsachen gegenüber«, erwiderte Miss Murdstone.

»Ach was!« sagte meine Tante. »Weiter, Sir!«

»Ich habe meine eignen Ansichten über die beste Art, ihn zu erziehen«, fuhr Mr. Murdstone fort, dessen Gesicht immer finsterer wurde, je mehr meine Tante und er sich gegenseitig fixierten, was mit großer Gewissenhaftigkeit geschah; – »sie gründen sich zum Teil auf meine Kenntnis seines Wesens, teils richten sie sich nach Maßgabe meiner eignen Mittel und Hilfsquellen. Ich bin mir darüber selbst verantwortlich, handle danach und sage deshalb nichts weiter darüber. Es genügt, daß ich diesen Knaben unter die Obhut eines meiner Freunde in ein achtbares Geschäft brachte. Ihm hingegen gefällt das nicht. Er läuft fort, treibt sich als Vagabund herum, bis er endlich in Lumpen zu Ihnen kommt, Miss Trotwood, um sich an Sie zu wenden. Ich möchte Sie ganz offen auf die Folgen, soweit ich diese überblicken kann, aufmerksam machen, die auf Sie fallen, falls Sie seinen Bitten Gehör schenken.«

»Reden wir erst einmal von dem gewissen achtbaren Geschäft«, sagte meine Tante. »Sie hätten wohl Ihren eignen Sohn auch dorthin gebracht?!«

»Meines Bruders eigner Sohn würde einen andern Charakter gehabt haben«, fiel Miss Murdstone ein.

»Wenn seine Mutter, das arme Kind, noch am Leben wäre, hätten Sie ihn dann auch in dieses achtbare Geschäft gegeben?« fragte meine Tante.

»Ich glaube«, sagte Mr. Murdstone und neigte den Kopf ein wenig, »daß Klara keine Maßnahme bestritten hätte, die ich und meine Schwester Jane Murdstone für die beste würden gehalten haben.«

Miss Murdstone bestätigte es mit einem vernehmbaren Murmeln.

»Hm«, sagte meine Tante, »unglückseliges Geschöpf!«

Mr. Dick, der die ganze Zeit über mit seinem Gelde geklimpert hatte, klimperte jetzt so laut damit, daß meine Tante ihm einen ermahnenden Blick zuwerfen mußte, bevor sie fortfuhr:

»Des armen Kindes Leibrente hörte mit ihrem Tode auf?«

»Hörte mit ihrem Tode auf«, bestätigte Mr. Murdstone.

»Und es fand sich keine testamentarische Bestimmung vor, in der der kleine Besitz, das Haus und der Garten – der Krähenhorst ohne Krähen – dem Knaben zufallen sollte?«

»Ihr erster Gatte hatte ihr das Grundstück ohne alle Einschränkung hinterlassen«, wollte Mr. Murdstone seine Rede beginnen, als meine Tante ihn mit größter Heftigkeit und Ungeduld unterbrach.

»Herrgott, Mensch, das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen. Ohne Einschränkungen hinterlassen! Ich kann mir David Copperfield vorstellen, wie er an Einschränkungen irgendeiner Art denkt, trotzdem sie ihm vor der Nase lagen. Natürlich war das Grundstück ohne Einschränkungen vererbt worden. Aber als sie sich wieder verheiratete den höchst unglücklichen Schritt tat, sich mit Ihnen zu verheiraten«, sagte meine Tante, »kurz und gut, hat damals niemand ein Wort für den Knaben eingelegt?«

»Meine selige Gattin liebte ihren zweiten Mann, Ma’am«, sagte Mr. Murdstone, »und verließ sich unbedingt auf ihn.«

»Ihre selige Gattin, Sir, war ein höchst unpraktisches, höchst gutmütiges, höchst unglückliches Kind«, entgegnete meine Tante und schüttelte drohend den Kopf. »Das war sie. Und was haben Sie noch weiter vorzubringen?«

»Nur noch eines, Miss Trotwood. Ich bin hier, um David mit mir zu nehmen. Ihn ohne Bedingung mit mir zu nehmen und über ihn zu verfügen, wie ich es für gut finde. Ich bin nicht hier, um irgend jemand ein Versprechen zu geben oder irgendwelche Verpflichtung zu übernehmen. Sie haben möglicherweise die Absicht, Miss Trotwood, ihm wegen seines Fortlaufens oder in irgendwelchen Beschwerden gegen mich die Stange zu halten. Ihr Benehmen, das, ich muß es gestehen, mir nicht versöhnlich erscheint, veranlaßt mich, das zu glauben. Ich muß Sie aber darauf aufmerksam machen, daß, wenn Sie ihm einmal die Stange halten, Sie es damit für immer tun. Wenn Sie sich zwischen ihn und mich stellen, Miss Trotwood, so müssen Sie das für alle Zeiten tun. Ich kann nicht paktieren und habe keine Lust dazu. Ich bin einmal hergekommen, um ihn mitzunehmen, und tue es ein zweites Mal nicht mehr. Ist er bereit, mitzugehen? Wenn ers nicht ist, und nach Ihren Angaben ist ers nicht, aus welchem Grunde ist mir gleichgültig, so bleibt ihm meine Tür für alle Zeit verschlossen. Ihre, nehme ich an, wahrscheinlich geöffnet.«

Dieser Rede hatte meine Tante mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört. Sie saß kerzengerade da, die Hände über ein Knie gefaltet, und sah den Sprecher grimmig an. Als er fertig war, wandte sie ihre Augen mit einem befehlenden Blick auf Miss Murdstone, ohne ihre Stellung zu verändern.

»Nun, Ma’am? Haben Sie noch etwas zu bemerken?«

»Alles, Miss Trotwood, was ich sagen könnte, hat mein Bruder bereits so gut gesagt, und alles, was ich weiß, so klar dargelegt, daß ich weiter nichts hinzuzufügen habe als – meinen Dank für Ihre Höflichkeit. Für Ihre so außerordentliche Höflichkeit«, sagte Miss Murdstone mit einem Hohn, der meine Tante reizen sollte, sie jedoch so ruhig ließ, wie mich damals die Kanone, neben der ich in Chatham geschlafen hatte.

»Und was sagt der Junge dazu?« wandte sich meine Tante an mich. »Willst du mitgehen, David?«

Ich antwortete: »Nein!« und bat flehentlich, mich nicht fortzuschicken. Ich sagte, daß weder Mr. noch Mrs. Murdstone mich je geliebt hätten oder freundlich zu mir gewesen wären. Daß sie meine Mutter, die mich immer von Herzen lieb gehabt, meinetwegen unglücklich gemacht hätten, wie ich ganz gut wüßte und Peggotty auch. Ich sagte, daß es mir elender ergangen, als man sich angesichts meiner Jugend vorstellen könnte. Und ich bat und flehte meine Tante an, mich um meines Vaters willen zu beschützen und sich meiner anzunehmen.

»Mr. Dick?« fragte meine Tante, »was soll ich mit diesem Kind anfangen.«

Mr. Dick überlegte, schwankte und sagte dann strahlend:

»Lassen Sie ihm sogleich einen Anzug anmessen.«

»Mr. Dick«, sagte meine Tante triumphierend, »geben Sie mir die Hand. Ihr gesunder Menschenverstand ist unschätzbar.« Nachdem sie ihm herzlich die Hand gedrückt, zog sie mich zu sich und sprach zu Mr. Murdstone:

»Sie können jetzt gehen, wenn Sie Lust haben, ich will es mit dem Knaben versuchen. Wenn er wirklich derart ist, wie Sie ihn schildern, kann ich immer noch soviel für ihn tun, wie Sie getan haben. Übrigens glaube ich Ihnen natürlich kein Wort.«

»Miss Trotwood«, entgegnete Mr. Murdstone, stand auf und zuckte die Achseln, »wenn Sie ein Mann wären –«

»Bah! Dummes albernes Geschwätz!« sagte meine Tante. »Kommen Sie mir nicht mit so was.«

»Unendlich höflich!« rief Miss Murdstone aus und stand ebenfalls auf. »Überwältigend. In der Tat!«

»Glauben Sie vielleicht«, sagte meine Tante zu Mr. Murdstone, ohne seine Schwester zu berücksichtigen, »ich weiß nicht, was für ein Leben das arme unglückliche verblendete Kind mit Ihnen geführt hat! Glauben Sie vielleicht, ich weiß nicht, was für ein Unglückstag es für das sanfte Wesen war, als Sie ihr das erstemal begegneten und sie anfeixten und unschuldige Augen machten, als ob Sie zu einer Gans nicht papp sagen könnten!«

»Ich habe noch nie eine so feine Sprache gehört, wahrhaftig«, rief Miss Murdstone.

»Glauben Sie, ich durchschaue Sie nicht?« fuhr meine Tante fort. »Ich sehe und höre Sie, als ob ich dabeigewesen wäre. Ich spreche mit Ihnen ganz frei von der Leber weg, wenn es mir auch kein Vergnügen ist. Gott steh uns bei, wer war so glatt und seidenweich wie Mr. Murdstone zuerst! So einen Mann hat die arme, weichherzige Unschuld noch niemals gesehen. Er bestand nur aus Süßigkeit und betete sie an. Er schwärmte für ihren Knaben, ach, wie zärtlich! Er wollte ihm ein zweiter Vater sein, und sie würden alle zusammen in einem Rosengarten leben! Nicht wahr? Pfui Teufel, gehen Sie mir.«

»So eine Person habe ich noch in meinem ganzen Leben nicht gesehen!« rief Miss Murdstone.

»Und als Sie das arme kleine Närrchen ganz sicher gemacht hatten«, fuhr meine Tante wieder fort, »Gott verzeih mir, daß ich sie so nennen muß, nachdem sie dahingegangen ist, wohin Sie gewiß nicht besonders schnell kommen werden – mußten Sie sie, weil Sie ihr und den ihrigen noch nicht genug Unheil zugefügt hatten, noch ganz brechen, sie abrichten wie einen armen eingesperrten Vogel und sie ihr armes enttäuschtes Leben hinsiechen lassen, damit sie noch zu allem Ihr Lob singen lerne.«

»Sie sind entweder verrückt oder betrunken«, schrie Miss Murdstone in wahrer Verzweiflung, daß sie den Strom der Beredsamkeit meiner Tante nicht auf sich ablenken oder ihn hemmen konnte, »sie muß betrunken sein.«

Ohne die Unterbrechung im mindesten zu beachten, fuhr Miss Betsey fort, bloß zu Mr. Murdstone zu sprechen.

»Mr. Murdstone«, sie deutete mit dem Finger auf ihn, »Sie waren ein Tyrann gegen das unschuldige Kind und – haben ihr das Herz gebrochen. Sie hatte ein liebebedürftiges Herz, das weiß ich und wußte es viele Jahre, bevor Sie sie noch gesehen hatten. Und wegen des besten Teils ihrer Schwächen gaben Sie ihr die Wunden, an denen sie starb. Das ist die Wahrheit zu Ihrer Erbauung. Mag es Ihnen gefallen oder nicht. Und Sie und Ihr Werkzeug können sich getroffen fühlen.«

»Erlauben Sie mir die Frage«, unterbrach Miss Murdstone, »wen Sie in einer Sprache, an die ich nicht gewöhnt bin, mit dem Werkzeug meinen?«

Stocktaub ihr gegenüber und vollständig unbeirrbar setzte Miss Betsey ihre Rede fort. »Es war mir lange klar, schon Jahre, bevor Sie sie sahen, daß das arme, weichherzige, kleine Geschöpf zu irgendeiner Zeit jemand heiraten würde. Warum gerade ihre Wahl so schlecht ausfiel, warum sie Ihnen nach dem unerforschlichen Willen der Vorsehung begegnen mußte, das zu begreifen ist dem Menschen unmöglich. Ich wußte es um die Zeit, wo sie diesen Knaben gebar, das arme Kind. Dieser arme Junge mußte Ihnen später dazu dienen, die unglückliche Mutter zu quälen. Darin liegt eben für Sie die peinliche Erinnerung und das macht Ihnen den Anblick des Knaben verhaßt. – Ja, ja, zucken Sie nur, ich weiß auch ohnedies, daß es wahr ist.«

Mr. Murdstone hatte die ganze Zeit über in der Tür gestanden und mit verzerrtem Gesicht gelächelt. Jetzt sah ich, wie das Lächeln und zugleich die Farbe einen Augenblick aus seinem Gesicht wichen und er nach Atem rang.

»Guten Tag, Sir, und recht glückliche Reise! Auch Ihnen empfehle ich mich, Ma’am«, – wandte sich meine Tante plötzlich an Miss Murdstone – »und wenn ich Sie noch einmal auf einem Esel über meinen Rasenfleck reiten sehe, haue ich Ihnen den Hut vom Kopf und zertrete ihn, so wahr Sie da stehen.«

Nur ein geschickter Maler hätte das Gesicht meiner Tante bei diesem unerwarteten Ausfall und das Miss Murdstones malen können. Der Ton meiner Tante und ihr Benehmen waren so heftig, daß Miss Murdstone, ohne ein Wort zu sagen, den Arm ihres Bruders nahm und mit hochmütiger Miene das Haus verließ. Meine Tante blieb beim Fenster stehen und schaute ihnen nach, ohne Zweifel bereit, ihre Drohung sofort auszuführen, falls der Esel sich wieder zeigen sollte.

Da jedoch jede Herausforderung unterblieb, verschwand allmählich der strenge Ausdruck ihres Gesichtes und wurde so freundlich, daß ich mir ein Herz faßte, sie küßte und mich bei ihr bedankte. Ich tat es mit größter Herzlichkeit und schlang beide Arme um ihren Hals. Dann schüttelten Mr. Dick und ich uns die Hand und er hörte gar nicht wieder auf und begrüßte die glückliche Beendigung der Angelegenheit mit fröhlichem Gelächter.

»Sie haben sich jetzt mit mir zusammen als Vormund dieses Kindes zu betrachten, Mr. Dick«, sagte meine Tante.

»Es soll mich freuen«, sagte Mr. Dick, »der Vormund von Davids Sohn zu sein.«

»Also, das wäre abgemacht. Wissen Sie, Mr. Dick, daß ich auf den Gedanken gekommen bin, ihn Trotwood zu nennen?«

»Sehr gut, sehr gut. Nennen Sie ihn Trotwood«, stimmte Mr. Dick bei, »Davids Sohn Trotwood.«

»Trotwood-Copperfield, glauben Sie?«

»Ja. Allerdings. Ja, Trotwood-Copperfield«, gab Mr. Dick etwas beschämt zu.

Meine Tante griff diesen Gedanken mit solcher Lebhaftigkeit auf, daß einige noch an diesem Nachmittag für mich fertig gekaufte Kleidungsstücke von ihr mit eigner Hand und mit unverlöschlicher Tinte sofort Trotwood-Copperfield gezeichnet wurden und man den Beschluß faßte, die andern Kleider, die für mich gemacht werden sollten, – an diesem Nachmittag wurde eine ganze Aussteuer für mich bestellt – in gleicher Weise zu zeichnen.

So begann ich ein neues Leben mit einem neuen Namen, und alles war neu rings um mich her. Jetzt, wo jeder Zweifel vorbei, kam ich mir Tage hindurch wie ein Träumender vor. Ich konnte gar nicht mehr ordentlich klar denken. Nur zweierlei stand mir als Gewißheit vor der Seele –, daß das alte Leben in Blunderstone weit in die Ferne gerückt schien, und daß für immer ein Vorhang über meine Stellung bei Murdstone & Grinby gefallen war.

Niemand hat seitdem diesen Vorhang wieder gehoben. Ich selbst tat es in dieser Erzählung nur mit widerstrebender Hand, um ihn gern wieder fallen zu lassen.

Die Erinnerung an dieses Leben ist für mich mit solchem Schmerz verknüpft, mit so viel Seelenleid und Hoffnungslosigkeit, daß ich nie den Mut gehabt habe, genau nachzurechnen, wie lange diese Zeit gedauert hat. Ob ein Jahr, ob länger oder kürzer, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es einst gewesen ist und aufgehört hat zu sein. Das habe ich geschrieben und lasse es stehen.