43. Kapitel Wieder ein Rückblick


43. Kapitel Wieder ein Rückblick

In schemenhaftem Zug wandern die Phantome jener Tage an mir vorüber. Wochen und Monate verrauschen. Sie kommen mir wenig länger vor als ein Sommertag und ein Winterabend. Jetzt ist die Haide, wo ich mit Dora wandle, ein Blumenfeld so hell wie Gold, und dann liegt wieder alles unter einer Decke von Schnee. Im Augenblick wälzt der Fluß, der eben noch in der Sommersonne glänzte, bewegt von Winterstürmen, dicke Eisschollen vor sich her.

Nicht das mindeste ändert sich im Haus der beiden kleinen vogelähnlichen Damen. Die Uhr tickt über dem Kamin, das Wetterglas hängt in der Vorhalle. Weder Uhr noch Wetterglas zeigen jemals richtig, aber sie genießen das allgemeine Vertrauen.

Ich bin mündig geworden. Ich habe die Würde des Einundzwanzigjährigen erlangt. Aber es ist eine Würde, die jeder erlangen kann. Was habe ich also vollbracht?

Ich habe das schreckliche stenographische Geheimnis bemeistert. Ich beziehe ein anständiges Einkommen infolgedessen. Ich stehe bei allen Genossen der Kunst wegen meiner Fertigkeit in hohem Ansehen und bin, neben elf andern, Parlamentberichterstatter für eine Morgenzeitung. Abend für Abend schreibe ich Voraussagungen nieder, die niemals eintreffen, Glaubensbekenntnisse, nach denen nie ein Mensch handelt, und Aufklärungen, die nur irreführen sollen. Ich wate in Worten. Britannia, dieses unglückliche Frauenzimmer, liegt immer vor mir wie ein zugerichtetes Huhn, über und über gespickt mit Bureaufedern und an Händen und Füßen mit rotem Band festgebunden. Ich sehe genügend tief hinter die Kulissen, um den Wert des politischen Lebens zu durchschauen. Ich bin in dieser Hinsicht ein Ketzer durch und durch und werde mich niemals bekehren lassen.

Mein guter alter Traddles hat die Sache auch versucht, aber sie liegt ihm nicht. Er ist trotz des Mißlingens gut aufgelegt und erinnert mich daran, daß er sich von jeher für einen Menschen von langsamen Begriffen gehalten habe. Gelegentlich ist er bei derselben Zeitung damit tätig, Tatsachen über trockene Themen zusammenzustellen, damit fruchtbarere Geister sie weiter ausführen können. Er ist bei Gericht angestellt und hat sich mit bewunderungswürdigem Fleiß und großer Selbstverleugnung wieder hundert Pfund zusammengescharrt, um einen Conveyancer zu bezahlen, in dessen Kanzlei er mitarbeitet. Wir tranken sehr viel Glühwein zur Feier seines Antritts.

Ich habe mich auch in andern Richtungen versucht. Mit Furcht und Zittern bin ich ans Schriftstellern gegangen. Ich schrieb insgeheim eine Kleinigkeit und schickte sie an eine Zeitschrift, und sie wurde angenommen. Seitdem habe ich den Mut gehabt, ziemlich viele derartige Kleinigkeiten zu schreiben. Jetzt werde ich dafür regelmäßig bezahlt. Im ganzen stehe ich mich recht gut dabei. Wenn ich mein Einkommen an den Fingern meiner linken Hand abzähle, komme ich über den dritten Finger hinaus bis zum Mittelglied des vierten.

Wir sind aus der Buckingham Straße weggezogen und wohnen in einem hübschen kleinen Häuschen nicht weit von dem, wo mich die Begeisterung zuerst ergriff. Aber meine Tante, die ihr Haus in Dover mit gutem Gewinn verkauft hat, bleibt nicht und gedenkt in ein noch niedlicheres Häuschen dicht daneben zu ziehen. Was hat das zu bedeuten? Meine Verheiratung? Ja!

Ja! Ich stehe im Begriff, mich mit Dora zu verheiraten. Miss Lavinia und Miss Clarissa haben ihre Einwilligung gegeben, und wenn jemals Kanarienvögel aufgeregt waren, so sind sie es. Miss Lavinia, die die Oberaufsicht über die Garderobe meines Lieblings an sich gerissen hat, schneidet beständig Brustharnische aus braunem Papier aus und streitet sich beständig mit einem hochrespektablen jungen Mann mit einem Ellenmaß unter dem Arm herum. Eine Nähterin, in deren Brust stets eine Nadel mit Faden eingestochen ist, wohnt und ißt im Hause und scheint weder beim Essen noch beim Trinken oder Schlafen den Fingerhut abzulegen. Sie machen aus meinem Herzensschatz eine Gliederpuppe. Sie lassen sie immerwährend holen, um ihr etwas anzuprobieren. Des Abends können wir nicht fünf Minuten zusammen glücklich sein, ohne daß nicht irgendein zudringliches Frauenzimmer an die Türe klopft und ruft: »Ach bitte, Miss Dora, möchten Sie nicht einmal heraufkommen?«

 

Miss Clarissa und meine Tante machen ganz London unsicher, um für Dora und mich Möbel zu besichtigen. Es wäre viel besser, wenn sie blind drauflos kauften; denn als wir uns einmal einen Speiseschrank besichtigen, erblickt Dora ein chinesisches Hundehaus für Jip mit kleinen Glöckchen auf dem Dach und zieht dieses allem andern vor. Wir kaufen es, und es dauert lange Zeit, ehe sich Jip an sein neues Heim gewöhnt. So oft er aus- und eingeht, läuten die kleinen Glocken und er gerät außer sich vor Angst.

Peggotty kommt auch, um sich nützlich zu machen, und stürzt sich sofort kopfüber in die Arbeit. Ihr Departement scheint es zu sein, alles wieder und wieder zu reinigen. Sie reibt alles ab, was sich abreiben läßt, bis es glänzt wie ihr ehrliches Gesicht. Und jetzt sehe ich wieder ihren Bruder, einsam des Nachts durch die dunklen Straßen wandern und die vorüberstreifenden Gesichter mustern. Ich rede ihn nie in solcher Stunde an. Ich weiß zu gut, was er sucht und was er zu finden fürchtet.

Warum nimmt Traddles eine so wichtige Miene an, als er mich eines Nachmittags in den Commons abholt, – wohin ich immer noch der Form wegen gehe, wenn ich Zeit habe? Meine knabenhaften Träume werden zur Wirklichkeit. Ich will mir den Trauschein holen. Es ist ein kleiner Zettel trotz seiner Wichtigkeit. Und Traddles betrachtet ihn, wie er auf meinem Pult liegt, voll Bewunderung und Ehrfurcht. Da stehen die Namen in der schönen alten geträumten Verbindung, David Copperfield und Dora Spenlow; und dort in der Ecke sieht das väterliche Institut, das Stempelamt, das an den verschiednen Verhandlungen des menschlichen Lebens so wohlwollend Anteil nimmt, auf unsern Bund herab, und dort bittet der Erzbischof von Canterbury gedruckt um Segen für uns und tut es so preiswert, als man es billigerweise erwarten darf.

Aber dennoch bin ich wie im Traum; in einem hastigen, aufgeregten, glücklichen Traum! Ich kann gar nicht fassen, daß es wirklich sein kann, und doch bilde ich mir ein, jeder Vorübergehende müßte irgendwie gewahr werden, daß ich übermorgen Hochzeit halten will. Der Beamte kennt mich, als ich zum Schwur zu ihm komme, und macht die Sache so schnell und selbstverständlich ab, als ob ein freimaurerisches Einverständnis zwischen uns herrsche. Traddles ist gar nicht notwendig, sondern begleitet mich nur der Form wegen.

»Ich hoffe, das nächste Mal stehst du hier, lieber Freund«, sage ich zu Traddles, »und ich hoffe, es wird recht bald sein.«

»Ich danke dir für deine guten Wünsche, lieber Copperfield. Ich hoffe es auch. Es ist so beruhigend zu wissen, daß sie geduldig auf mich wartet. Sie ist wirklich ein so liebes Mädchen –«

»Wann sollst du sie an der Landkutsche abholen?« frage ich.

»Um sieben«, sagt Traddles und schaut auf seine alte, silberne Uhr dieselbe Uhr, aus der er in der Schule einmal ein Rad herausnahm, um eine Mühle zu bauen. »Das ist fast dieselbe Zeit, wo Miss Wickfield ankommt, nicht wahr?«

»Ein wenig früher. Sie kommt erst um halb neun.«

»Ich kann dir versichern«, sagt Traddles, »ich freue mich fast ebenso sehr, wie wenn ich selbst zur Hochzeit ginge. Ich empfinde es aufs tiefste, daß du Sophie zu diesem Freudenfest zusammen mit Miss Wickfield als Brautjungfer eingeladen hast.«

Ich höre ihn an und schüttle ihm die Hand. Wir reden und gehen und essen, und doch kann ich nicht begreifen, daß es Wirklichkeit ist. Sophie kommt in die Wohnung von Doras Tanten. Sie hat das angenehmste Gesicht von der Welt, ist nicht gerade schön, aber außerordentlich gewinnend. Sie ist das natürlichste, freundlichste, ungezierteste Wesen, das ich je gesehen habe. Traddles ist sehr stolz, als er sie uns vorstellt, und reibt sich genau nach der Uhr zehn Minuten lang die Hände, und jedes einzelne Haar auf seinem Kopf steht auf der Zehenspitze, als ich ihn in einer Ecke zu seiner Wahl beglückwünsche.

Ich habe Agnes von der Canterbury-Kutsche abgeholt. Agnes hat eine große Neigung für Traddles gefaßt, und es ist herrlich anzusehen, wie sie sich begrüßen, und mit welch stolzer Freude er ihr seine Braut vorstellt.

Aber immer noch kann ich es nicht glauben. Der Abend ist wundervoll, und wir sind unendlich glücklich. Aber ich kann es noch nicht glauben. Ich kann es nicht fassen. Ich bin wie in einem halben Rausch, als ob ich seit vierzehn Tagen nicht schlafen gegangen wäre. Ich kann nicht herausbringen, wann gestern war. Mir ist, als ob ich den Trauschein schon monatelang in der Tasche herumtrüge.

Und auch, als wir am folgenden Tage alle zusammen das Haus besichtigen gehen, ist es mir ganz unmöglich, mich dort als seinen Herrn zu sehen. Ich erwarte, der wirkliche Eigentümer werde jeden Augenblick nach Haus kommen und über meinen Besuch erfreut sein. Das Häuschen ist wunderschön. Es sieht so glänzend und neu aus mit den Blumen auf den Teppichen, die wie frisch gepflückt sind, und den grünen Blättern auf den Tapeten. Und die fleckenlosen Musselinvorhänge! Die rosafarbenen Möbel sehen aus, als erröteten sie, und Doras Gartenhut mit dem blauen Band, in dem ich sie das erste Mal erblickte, hängt wirklich und wahrhaftig hier an seinem Haken. Das Gitarrenfutteral steht in einer Ecke, und jeder stolpert über Jips Pagode, die viel zu groß für das Haus ist.

 

Noch ein zweiter glücklicher Abend, ebenso traumhaft wie der erste, und ich trete verstohlen ins Zimmer, ehe ich weggehe. Dora ist nicht da. Ich vermute, sie sind noch nicht mit Anprobieren fertig. Miss Lavinia äugt herein und sagt mir geheimnisvoll, daß sie nicht lang bleiben werde. Aber doch bleibt sie recht lang. Endlich höre ich ein Rauschen vor der Tür und es klopft.

Ich rufe »herein«, aber wieder klopft es. Ich gehe zur Türe und öffne neugierig; dort begegne ich ein paar glänzenden Augen und einem errötenden Gesicht; es ist Dora, und Miss Lavinia hat ihr das Brautkleid angezogen, damit ich es sehe. Ich drücke mein kleines Weibchen ans Herz, und Miss Lavinia schreit vor Schreck auf, weil ich den Hut verderbe; und Dora lacht und weint zu gleicher Zeit, weil ich mich so freue. Alles kommt mir weniger glaubhaft vor als je.

»Sieht es hübsch aus, Doady?« fragt Dora.

»Hübsch! Das will ich meinen.«

»Und weißt du gewiß, daß du mich sehr liebst?«

Die Antwort ist gefahrdrohend für den Hut, so daß Miss Lavinia wieder aufschreit und mir zu verstehen gibt, daß Dora nur zum Ansehen da ist. Dora bleibt in allerliebster Verlegenheit ein paar Minuten, um sich bewundern zu lassen; dann nimmt sie ihren Hut ab, läuft davon und kommt in ihrem gewöhnlichen Kleid in ein paar Minuten wieder heruntergetanzt und fragt Jip, ob die kleine Gattin, die ich bekomme, wirklich hübsch sei und ob er ihr verzeihe, daß sie heiratet. Dann kniet sie nieder, damit er zum letzten Mal in ihrem Mädchenleben auf dem Kochbuch aufwarte.

Ich verfüge mich, immer noch ungläubig, in meine Wohnung in der Nähe und stehe zeitig morgens auf, um nach Highgate zu fahren und meine Tante abzuholen.

In solchem Staat habe ich meine Tante noch nie gesehen. Sie trägt ein lavendelfarbiges Seidenkleid und einen weißen Hut. Es ist zum Erstaunen. Janet hat sie angekleidet und ist noch da, um mich zu sehen. Peggotty hat sich fertig gemacht, um in die Kirche zu gehen, denn sie will die Feierlichkeit von der Galerie aus mitansehen. Mr. Dick, der Brautführer sein soll, hat sich das Haar brennen lassen. Traddles, den ich der Verabredung gemäß am Schlagbaum getroffen habe, stellt eine blendende Zusammenstellung von Creme und Hellblau dar. Er und Mr. Dick sehen aus, als wären sie ganz Handschuh.

Ich sehe das alles, weil ich weiß, es ist so, aber ich bin ganz wirr und mir ist, als sähe ich nichts. Aber doch ist der Traum wirklich genug, um mich, als wir in einem offnen Wagen durch die Straßen fahren, mit verwundertem Mitleid für die unglücklichen Leute zu erfüllen, die keinen Anteil an dieser Feenhochzeit haben, sondern die Läden auskehren und ihrer täglichen Beschäftigung nachgehen.

Während der ganzen Fahrt hält meine Tante meine Hand in der ihrigen. Als wir in der Nähe der Kirche anhalten, um Peggotty, die auf dem Bock mitgefahren ist, abzusetzen, drückt sie mir die Hand und gibt mir einen Kuß.

»Gott segne dich, Trot! Mein eigner Sohn könnte mir nicht lieber sein! Ich muß immerwährend an das arme, liebe Kind, deine Mutter, denken.«

»Ich auch! Und an alles, was ich dir verdanke, liebe Tante!«

»Still, Kind«, sagt meine Tante und gibt ihre Hand in überströmender Herzlichkeit Traddles. Allgemeines Händeschütteln. So kommen wir ans Portal.

Die Kirche ist ruhig genug, aber mir kommt sie vor wie eine Webfabrik in voller Tätigkeit, so aufgeregt bin ich.

Das übrige ist ein mehr oder weniger unzusammenhängender Traum. Sie kommen mit Dora herein, die Beschließerin ordnet uns vor dem Altargeländer wie ein Unteroffizier, und ich frage mich verwundert, warum die Schließerinnen immer die denkbar unangenehmsten Frauenzimmer sein müssen und ob es denn notwendig ist, den Weg zum Himmel mit Essigtöpfen zu flankieren.

Es ist ein Traum, in dem der Geistliche und der Küster erscheinen, ein paar Fährleute und andere hereinkommen, ein alter Seemann, die Kirche mit Rum durchduftend, hinter mir steht. Der Gesang beginnt mit einem Baß, und wir alle sind sehr aufmerksam.

Miss Lavinia, der die Rolle einer Vizeersatzbrautjungfer zugefallen ist, fängt zuerst zu weinen an und bringt, wie ich vermute, dem Gedächtnis Mr. Pidgers in Schluchzen eine Huldigung dar; Miss Clarissa greift zum Riechfläschchen; Agnes nimmt sich Doras schützend an; meine Tante bemüht sich, ein Muster von Ungerührtheit zu sein, während ihr Tränen die Wangen herabrinnen, und meine kleine Dora zittert sehr und flüstert kaum hörbar die Responsen.

Ich träume, daß wir nebeneinander knien. Dora zittert immer weniger und weniger, hält aber immer noch Agnes fest bei der Hand. Die Feierlichkeit ist still und ernst vorübergegangen, und wir alle sehen uns an in einer Aprillaune von Tränen und Lächeln, dann liegt meine junge Frau halb ohnmächtig in der Sakristei und ruft nach ihrem armen, ihrem guten Papa.

Sie ist schnell getröstet, und wir schreiben nacheinander unsere Namen in das Kirchenbuch ein. Ich gehe auf die Galerie hinauf zu Peggotty, damit sie sich ebenfalls einschreibe, und sie umarmt mich in einer Ecke und sagt mir, sie habe auch der Trauung meiner armen Mutter beigewohnt.

Ich gehe im Traum stolz und zärtlich mit meinem geliebten Weib am Arm durch die Kirche, durch einen Nebel von halb unsichtbaren Leuten, Kerzen, Taufsteinen, Grabplatten, Kirchenstühlen, Orgeln und farbigen Fenstern, und eine leise Erinnerung an die alte Kirche meiner Kinderzeit schwebt an mir vorüber.

Ich höre im Traum die Leute flüstern, was für ein junges Paar wir seien und wie hübsch meine kleine Gattin aussähe.

Auf der Rückfahrt sind wir alle sehr lustig und gesprächig. Sophie erzählt uns, daß sie fast in Ohnmacht gefallen sei, als man von Traddles, dem wir den Trauschein anvertraut hatten, dieses Dokument verlangte, denn sie sei überzeugt gewesen, er habe es verloren oder sich die Brieftasche stehlen lassen.

Ich genieße wie im Traum ein Frühstück mit einer Überfülle von Speise und Trank, ohne das mindeste zu schmecken; ich halte eine Rede in derselben traumhaften Weise, ohne den geringsten Begriff von dem zu haben, was ich sagen will. Und Jip wird mit Hochzeitskuchen gefüttert, der ihm nicht gut bekommt.

Ein paar Postpferde stehen bereit, und Dora geht hinauf, sich umzukleiden.

Sie kommt wieder herunter, umhüpft von Miss Lavinia, die so ungern das hübsche Spielzeug verliert, das ihr So viel Freude gemacht hat.

Alles drängt sich um Dora nach langem Umherrennen nach vergessenen Kleinigkeiten, und alle sehen in ihren hellen Farben und Bändern wie ein Gartenbeet aus. Mein Liebling wird fast von Blumen erdrückt und kommt endlich, halb lachend, halb weinend in meine eifersüchtigen Arme.

Ich will Jip tragen, doch Dora muß es selbst tun, sonst würde er denken, sie habe ihn nicht mehr gern, seit sie verheiratet ist, und das würde ihm das Herz brechen.

Arm in Arm gehen wir fort, und Dora bleibt noch einmal stehen, sieht sich um und sagt: »Wenn ich je unfreundlich oder undankbar gewesen bin, so laßt es vergessen sein.« Und sie bricht in Tränen aus.

Und noch einmal bleiben wir stehen, sie sieht sich um, eilt zu Agnes und gibt ihr vor allen andern die letzten Küsse und Abschiedsworte.

Wir fahren zusammen fort, und ich erwache aus dem Traum. Endlich glaube ich es. Ich habe wirklich meine teure kleine Gattin neben mir, die ich so sehr liebe.

»Bist du jetzt glücklich, du närrischer Junge«, fragt Dora, »und wirst du es auch nicht bereuen?«

44. Kapitel Unser Haushalt


44. Kapitel Unser Haushalt

Es war so seltsam, als die Flitterwochen vorbei und die Brautjungfern heimgereist waren und ich in meinem eigenen Häuschen allein mit Dora saß, ganz aus der Bahn gebracht, sozusagen, aus der Bahn der alten, herrlichen Beschäftigung der Brautwerbung.

Wie merkwürdig, daß Dora immer da war! Ich konnte es gar nicht fassen, daß ich nicht mehr ausgehen mußte, um sie zu sehen, und mich ihretwegen zu peinigen brauchte oder nur den Kopf zu zermartern, um Gelegenheiten, mit ihr allein sein zu können, auszuhecken. Manchmal abends, wenn ich von meinem Schreibtisch aufblickte und sie mir gegenübersitzen sah, lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und dachte bei mir, wie seltsam es sei, daß wir so ganz selbstverständlich allein beisammen wären, daß die ganze Romantik unseres Verhältnisses weggelegt war, um zu rosten, – daß wir niemand anders mehr zu gefallen hatten als uns selbst fürs ganze Leben.

Wenn Parlamentsdebatten stattfanden und ich erst spät heimkam, war es so sonderbar, daß Dora zu Hause wartete; so wunderlich am Anfang, wenn sie leise herabkam, um mit mir zu plaudern, während ich mein Abendessen verzehrte. Es war so wunderbar zu wissen, daß sie ihr Haar in Papilloten wickelte, und noch wunderbarer, ihr dabei zuzusehen.

Ich weiß nicht, ob zwei junge Vögel weniger vom Haushalten wissen konnten als ich und meine hübsche Dora. Wir hielten natürlich eine Dienstmagd. Sie besorgte für uns das Hauswesen. Ich kann mich immer noch nicht von dem Verdachte losmachen, daß sie eine verkleidete Tochter Mrs. Crupps war, so Schreckliches hatten wir von Mary Anne auszustehen.

Sie hieß Mary Anne Vorbild. Ihr Name wäre, sagte man uns, als wir sie aufnahmen, nur ein schwaches Abbild ihres Charakters. Sie besaß ein Zeugnis so lang wie eine Proklamation und konnte laut diesem Dokument in häuslichen Dingen alles vollbringen, wovon ich jemals gehört hatte, und noch vieles andere, was mir gänzlich unbekannt war. Sie stand in der Blüte der Jahre, war von strengem Gesichtsausdruck und, vorzüglich auf den Armen, einer Art beständiger Masern unterworfen. Sie hatte einen Vetter in der Leibgarde mit so langen Beinen, daß er wie der Nachmittagschatten eines gewöhnlichen Menschen aussah. Sein Uniformrock war ihm um so viel zu klein, wie er zu groß für das Haus war. Da überdies die Wände nicht besonders dick waren, vernahmen wir, wenn er abends immer in der Küche weilte, ein beständiges Brummen.

Da unser Hausgeist verbürgtermaßen nüchtern und ehrlich war, muß sie wohl krank gewesen sein, als wir sie einmal bewußtlos unter dem Herd liegen fanden, und offenbar trug an dem Fehlen der Teelöffel der Kehrichtmann die Schuld.

Unsere Seelenruhe fiel ihr in erschreckender Weise zum Opfer. Wir fühlten unsere Unerfahrenheit und sahen uns außerstande, uns selbst zu helfen. Wir waren ihr völlig preisgegeben, und sie trug die Schuld an unserm ersten kleinen Zwist.

 

»Herzensschatz«, sagte ich eines Tages zu Dora, »glaubst du, Mary Anne hat einen Begriff von der Zeit?«

»Warum, Doady?« fragte Dora und sah unschuldig von ihrem Zeichenbrett auf.

»Weil es fünf Uhr ist, Liebling, und wir um vier Uhr essen wollten.«

Dora sah betroffen auf die Wanduhr und meinte, sie ginge vor.

»Im Gegenteil, Liebling«, sagte ich und zog meine Uhr heraus, »sie geht ein paar Minuten nach.«

Mein kleines Frauchen setzte sich mir auf den Schoß, um mich schmeichelnd zu besänftigen, und zog mit dem Bleistift eine Linie auf der Mitte meiner Nase; aber davon konnte ich nicht zu Mittag essen, so angenehm es auch war.

»Meinst du nicht, Schatz, es wäre besser, wenn du Mary Anne deshalb Vorstellungen machtest?«

»O nein! Das könnte ich nicht, Doady!«

»Warum nicht, Liebling?« fragte ich sanft.

»Ach, weil ich so eine kleine Gans bin«, sagte Dora, »und weil sie das genau weiß.«

Mir erschien diese Ansicht so unvereinbar mit irgendeinem System, Mary Anne zu bändigen, daß ich die Stirn ein wenig kraus zog.

»Was das für häßliche Falten auf der Stirn meines bösen Jungen sind!« sagte Dora und zeichnete sie mit dem Bleistift nach, und ich mußte wider Willen lachen.

»So. Jetzt ist das Kind wieder gut«, sagte Dora. »Das Gesicht sieht viel hübscher aus, wenn es lacht.«

»Aber mein Liebling!«

»Nein, nein, ich bitte dich«, rief Dora und gab mir einen Kuß. »Sei kein böser Blaubart. Sei nicht ernsthaft!«

»Mein Herzensschatz«, sagte ich, »wir müssen manchmal ernsthaft sein. Komm! Setz dich hier neben mich! Gib mir den Bleistift! So! Nun wollen wir einmal vernünftig miteinander reden. Du weißt, liebes Kind, wie hübsch die kleine Hand mit dem allerliebsten Trauring war, du weißt, Schatz, es ist nicht sehr angenehm, ohne Mittagessen fortgehen zu müssen, nicht wahr?«

»N-n-nein«, erwiderte Dora beklommen.

»Aber liebes Kind, wie du zitterst!«

»Weil ich weiß, daß du mich ausschelten willst«, rief Dora mit kläglicher Stimme aus.

»Aber ich will doch bloß vernünftig mit dir sprechen!«

»Vernünftig sprechen ist noch viel schlimmer als ausschelten«, rief Dora voll Verzweiflung. »Ich habe doch nicht geheiratet, um vernünftig zu sprechen. Wenn du mit so einem armen kleinen Geschöpf wie ich vernünftig zu sprechen beabsichtigtest, hättest du es mir vorher sagen sollen, du grausamer Junge.«

Ich versuchte Dora zu beruhigen, aber sie wandte ihr Gesicht weg und schüttelte ihre Locken und sagte: »Du grausamer, grausamer Junge« so oft, daß ich wirklich nicht wußte, was ich tun sollte. Ich ging in meiner Hilflosigkeit ein paar Mal im Zimmer auf und ab und trat wieder vor sie hin.

»Dora, mein Liebling!«

»Nein, ich bin nicht dein Liebling. Denn es muß dir leid tun, mich geheiratet zu haben, sonst würdest du nicht vernünftig mit mir reden.«

Ich fühlte mich so verletzt von der Inkonsequenz dieser Beschuldigung, daß ich Mut faßte, ernsthaft zu sein.

»Meine liebste Dora«, sagte ich, »du bist sehr kindisch und redest dummes Zeug. Du wirst dich gewiß erinnern, daß ich gestern schon fort mußte, ehe ich mit dem Mittagessen halb fertig war, und daß es mir am Tag vorher ganz übel wurde, weil ich halbgares Kalbfleisch mit aller Hast herunterschlingen mußte. Heute kann ich gar nichts essen, und wie lange wir auf das Frühstück warten mußten, während das Wasser nicht einmal kochte, will ich gar nicht erwähnen. Ich mache dir gewiß keine Vorwürfe darüber, Liebling, aber angenehm ist es wahrhaftig nicht.«

»O du grausamer, grausamer Junge; zu sagen, ich wäre ein garstiges Weib«, jammerte Dora.

»Aber liebste Dora, das habe ich doch niemals gesagt.«

»Du sagtest, ich sei nicht angenehm.«

»Ich sagte, dieses Wirtschaften sei nicht angenehm.«

»Das ist doch genau dasselbe«, rief Dora aus. Offenbar glaubte sie es auch, denn sie weinte bitterlich.

 

Ich ging noch einmal im Zimmer auf und ab, erfüllt von Liebe für mein hübsches Frauchen und gequält von Selbstanklagen und dem Wunsch mit dem Kopf an die Tür zu rennen. Ich setzte mich wieder nieder und sagte: »Ich mache dir gewiß keine Vorwürfe, Dora. Wir haben beide noch viel zu lernen. Ich versuche nur, dir klarzumachen, daß du dich gewöhnen mußt – wirklich mußt –, ein wenig hinter Mary Anne herzusein und auch selbst etwas für dich und mich zu tun.«

»Daß du nur so undankbare Reden führen kannst«, schluchzte Dora, »wo du doch weißt, daß ich neulich, als du gern Fisch essen wolltest, selber meilenweit ging, um dich zu überraschen.«

»Und das war sehr lieb von dir, Herzensschatz«, sagte ich; ich fühlte es so innig, daß ich um keinen Preis erwähnt hatte, daß der Lachs viel zu groß für uns beide war und daß ein Pfund und sechs Schillinge, die er kostete, mehr waren, als wir ausgeben konnten.

»Und du freutest dich noch so sehr darüber«, schluchzte Dora, »und nanntest mich eine Maus.«

»Das werde ich noch tausendmal wieder sagen, Liebste!«

Aber ich hatte Doras weiches Herzchen verletzt, und sie ließ sich nicht trösten. Sie sah so rührend in ihrem Schluchzen und Klagen aus, daß ich das Gefühl hatte, sie schwer verletzt zu haben. Ich mußte forteilen, kam erst spät nach Hause und wurde die ganze Zeit von solchen Gewissensbissen gefoltert, daß ich mich ganz elend fühlte. Mir war zumute wie einem Mörder, und ein unbestimmtes Gefühl maßloser Verderbtheit wollte mich nicht verlassen.

Ich kam erst zwei oder drei Stunden nach Mitternacht nach Hause. Meine Tante wartete auf mich.

»Ist etwas vorgefallen, Tante?« fragte ich voll Unruhe.

»Nichts, Trot«, gab sie zur Antwort. »Setz dich doch, setz dich doch! Blümchen ist etwas betrübt gewesen, und ich habe ihr Gesellschaft geleistet. Das ist alles.«

Ich stützte den Kopf in die Hand und fühlte mich bedrückter und niedergeschlagener, wie ich in das Feuer blickte, als ich es so kurz nach der Erfüllung meiner schönsten Hoffnungen für möglich gehalten hätte. Wie ich nachdenklich so dasaß, begegnete ich zufällig den Augen meiner Tante, die auf meinem Gesicht ruhten. Sie hatten einen besorgten Ausdruck, der aber sogleich wieder verschwand.

»Ich versichere dir, Tante«, sagte ich, »der Gedanke, daß Dora betrübt ist, hat mich die ganze Nacht unglücklich gemacht. Aber ich beabsichtigte weiter nichts, als mit ihr in aller Liebe über unsere häuslichen Angelegenheiten zu sprechen.«

Meine Tante nickte mir ermutigend zu.

»Du mußt Geduld haben, Trot«, sagte sie.

»Natürlich. Der Himmel weiß, daß ich nicht unverständig sein wollte, Tante.«

»Nein, nein«, sagte meine Tante, »aber Blümchen ist eine sehr zarte kleine Blüte, und der Wind muß sanft mit ihr umgehen.«

Ich dankte meiner guten Tante im Herzen für ihre Zärtlichkeit gegen meine Gattin, und ich bin überzeugt, sie wußte, was ich fühlte.

»Meinst du nicht, Tante«, sagte ich, nachdem ich eine Weile ins Feuer geblickt hatte, »daß du dann und wann zu unserm gemeinsamen Vorteil Dora einen kleinen Rat geben könntest.«

»Trot«, antwortete meine Tante bewegt, »nein! verlange das nicht von mir!«

Sie sprach in so ernstem Ton, daß ich überrascht aussah.

»Ich blicke auf mein Leben zurück, Kind, und denke an so manche, die in ihren Gräbern liegen, mit denen ich auf freundlicherem Fuße hätte stehen können. Wenn ich die Irrtümer anderer Leute bei ihren Heiraten hart beurteilte, so kam dies vielleicht daher, daß ich selbst leider Grund genug hatte, meine eignen hart zu beurteilen. Schweigen wir davon. Ich bin eine launische, mürrische Frau seit vielen Jahren und werde es immer sein. Aber du und ich haben einander einiges Gute getan, Trot, – jedenfalls hast du mir viel Liebe entgegengebracht, mein Sohn, und es darf keine Uneinigkeit zwischen uns entstehen.«

»Eine Uneinigkeit zwischen uns, Tante?!«

»Kind, Kind«, sagte meine Tante und strich ihr Kleid glatt. »Wie bald sie entsteht, oder wie unglücklich ich unser liebes Blümchen machen würde, wenn ich mich in irgend etwas dreinmischte, vermag nicht einmal ein Prophet voraussagen. Ich will, daß unser Liebling mich gern hat und so sorglos ist wie ein Schmetterling. Denke an dein eignes Vaterhaus nach jener zweiten Heirat und tue niemals mir und dir zum Schaden, was du erwähnt hast.«

Ich begriff sofort, daß meine Tante recht hatte und verstand ihre Fürsorge für meine liebe Gattin in ihrer ganzen Fülle.

»Ihr seid noch nicht lange verheiratet, Trot, und Rom wurde nicht in einem Tag erbaut und auch nicht in einem Jahre. Du hast frei gewählt!« – Mir kam es vor, als ob für einen Augenblick ein Schatten ihr Gesicht überfliege – »Und du hast ein sehr hübsches und dich zärtlich liebendes Mädchen gewählt. Es ist deine Pflicht und wird auch deine Freude sein das weiß ich natürlich, und ich will dir keine Vorlesung halten –, sie gemäß den Eigenschaften zu schätzen, die sie hat, und nicht nach denen, die ihr fehlen. Die letzteren mußt du in ihr entwickeln, wenn du kannst. Und wenn du es nicht kannst, Kind«, – hier rieb sich meine Tante die Nase – »so mußt du dich eben gewöhnen, auch so auszukommen. Niemand kann euch beistehen, und ihr müßt euch eure Zukunft selber schaffen. So ist die Ehe, Trot, und der Himmel segne die eure, ihr beiden armen Kinderchen im Walde.«

Meine Tante sagte dies in einem fast heitern Tone und gab mir einen Kuß, um ihren Segen zu bekräftigen.

»Jetzt zünde mir meine Laterne an und bring mich durch den Garten in mein Putzkästchen. Grüße unser Blümchen von Betsey Trotwood, wenn du zurückkommst, und was du immer tun magst, Trot, niemals denke daran, Betsey als Vogelscheuche aufzustellen, denn wenn der Spiegel recht hat, sieht sie grimmig und abschreckend genug auch sowieso aus.«

Damit wickelte sie ihren Kopf in ein Taschentuch, machte wie immer bei solchen Gelegenheiten ein Bündel daraus, und ich geleitete sie nach Hause. Als sie in ihrem Garten stand und ihre Laterne, um mir zurückzuleuchten, in die Höhe hielt, glaubte ich wieder jenen bekümmerten Ausdruck in ihrem Auge zu erkennen.

 

Dora kam in ihren Pantöffelchen heruntergeschlichen, um mich zu begrüßen, und sank weinend an meine Schulter und sagte, ich sei hartherzig und sie nichtsnutzig, und ich glaube, ich sagte dasselbe, und wir söhnten uns aus und kamen überein, daß unser erster kleiner Zwist auch unser letzter sein sollte. Und wenn wir hundert Jahre alt würden.

 

Unsere nächste häusliche Prüfung war die Feuertaufe der Dienstboten. Mary Annes Vetter desertierte und wurde von einem Piquet seiner Kameraden mit Handschellen aus unserer Kohlenkammer geholt und in einer Prozession, die unsern Hausgarten mit Schmach bedeckte, abgeführt. Das gab mir den Mut, mich von Mary Anne loszumachen, die nach Empfang ihres Lohnes so sanft schied, daß ich mich wunderte, bis ich die Geschichte mit den Teelöffeln entdeckte und dahinterkam, daß sie kleine Summen in meinem Namen bei den Kaufleuten in der Nachbarschaft schuldig geblieben war. Nach einem Interregnum der Mrs. Kidgerbury – der ältesten Einwohnerin von Kentish Town, die sich als Zugeherin vermietete, aber zu schwach war, um diese Kunst auszuüben, – gewannen wir ein anderes Kleinod, ein außerordentlich liebenswürdiges Frauenzimmer, das es sich aber für gewöhnlich zur Aufgabe machte, mit dem Präsentierbrett die Küchentreppe hinauf- oder herunterzufallen, und sich stets mit dem Teeservice in das Zimmer wie in ein Bad stürzte. Nachdem die Verwüstungen, die diese Unglückliche anrichtete, ihre Entlassung notwendig gemacht hatten, folgte ihr – wieder nach einem Interregnum der Mrs. Kidgerbury – eine lange Reihe gänzlich Unfähiger, deren Schluß ein junges Mädchen von feinem Aussehen bildete, das schließlich mit Doras Hut auf den Jahrmarkt von Greenwich ging. Nach diesem Vorfall weiß ich nur von einer durchschnittlichen Gleichförmigkeit von Mißgriffen zu berichten.

Jedermann, der mit uns in Berührung kam, schien uns zu betrügen. Unser Eintritt in einen Laden gab das Signal, auf das alle verdorbenen Waren sogleich herbeigeschleppt wurden. Wenn wir einen Hummer kauften, war er voll Wasser. Unser Fleisch war immer zäh und auf dem Brot niemals Rinde. Um das Prinzip herauszufinden, nach dem eine Keule gebraten werden mußte, um gerade richtig gar zu sein, sah ich selbst im Kochbuch nach und fand dort eine Viertelstunde für jedes Pfund angegeben. Aber das Prinzip gelangte durch seltsames Mißgeschick niemals in Anwendung, und niemals konnten wir den Mittelweg zwischen rohem Fleisch und Kohle treffen.

Ich glaube, daß wir bei all diesen Fehlschlägen teuerer lebten, als wenn wir jeden Tag ein Siegesgepränge veranstaltet hätten. Wenn ich die Rechnungen durchsah, kam es mir vor, als ob wir das ganze untere Stockwerk mit Butter hätten pflastern können, so entsetzlich viel verbrauchten wir von diesem Artikel. Ich weiß nicht, ob die Steuerberichte dieser Zeit eine vermehrte Nachfrage nach Pfeffer nachgewiesen haben; aber wenn unser Konsum wirklich keinen Einfluß auf den Markt ausübte, so müssen wahrscheinlich zahllose Familien gleichzeitig die Verwendung von Pfeffer ganz aufgegeben haben.

Und das Allerwunderbarste war, daß wir nie etwas im Hause hatten.

Daß die Waschfrau unsere Kleider versetzte und in reuiger Betrunkenheit uns um Verzeihung bitten kam, will ich nicht erwähnen, ebenso nichts über den Schornsteinbrand und die Kirchspielspritze und den Amtsmeineid des Ortsdieners.

 

Eine unserer ersten Niederlagen bildete ein kleines Mittagessen für Traddles. Ich traf ihn in der Stadt und lud ihn ein, zum Essen mit mir zu kommen. Da er annahm, schrieb ich an Dora, daß ich ihn mitbringen würde. Mein häusliches Glück bildete unterwegs unser Gesprächsthema. Traddles war ganz benommen davon und sagte, er könne sich keine größere Wonne denken, als sich eine solche Häuslichkeit mit Sophie auszumalen.

Ich konnte mir kein hübscheres Frauchen am Tisch wünschen, hätte aber gern mehr Platz gehabt, als wir uns hinsetzten. Ich weiß nicht, wie es kam, selbst wenn wir nur zu zweit aßen, waren wir wie eingezwängt, und doch fehlte es nie an Platz, wenn es galt, etwas zu verlieren. Ich vermute, die Ursache war, daß nie etwas an seinem richtigen Orte stand, außer daß Jips Pagode stets den Eingang versperrte. Diesmal saß Traddles so eingeklemmt zwischen der Pagode, dem Gitarrenfutteral, Doras Staffelei und meinem Schreibtisch, daß ich wirklich zweifelte, ob er Messer und Gabel würde gebrauchen können. Aber er wollte es mit der ihm eigenen guten Laune nicht eingestehen. »Ein Weltmeer von Platz, Copperfield. Ich versichere dir, ein Weltmeer.«

Noch etwas anderes hätte ich gerne gesehen, nämlich daß Jip nicht während des Essens auf dem Tischtuch hätte herumlaufen dürfen. Es kam mir so vor, als ob sich das überhaupt nicht gehörte, selbst wenn er nicht die Gewohnheit gehabt hätte, mit dem Fuß in das Salzfaß oder in die zerlassene Butter zu treten. Diesmal schien er sich ausdrücklich für berufen zu halten, Traddles einzuschüchtern, denn er bellte meinen alten Freund an und machte mit solcher Hartnäckigkeit Ausfälle gegen seinen Teller, daß er die Unterhaltung fast allein in Anspruch nahm.

Da ich aber wußte, wie schmerzlich meine liebe Dora jede Beeinträchtigung ihres Lieblings empfand, wagte ich keinen Einwand. Ich konnte auch nicht umhin mich zu fragen, als ich die Schöpsenkeule tranchierte, warum unsere Fleischstücke immer so seltsam geformt seien; – als ob unser Fleischer alle mißgestalteten Hammel, die auf die Welt kamen, zusammenkaufte. Aber ich behielt meine Gedanken für mich.

»Liebling«, sagte ich zu Dora, »was ist in dieser Schüssel?«

Ich verstand nicht, warum Dora mir immer ein Gesichtchen schnitt, als ob sie mich küssen wollte.

»Austern, Schatz!« sagte Dora schüchtern.

»Bist du auf den Einfall gekommen?« fragte ich ganz erfreut.

»J-ja, Doady.«

»Ein brillanter Einfall!« rief ich aus und legte das Tranchiermesser hin. »Traddles ißt sie außerordentlich gern.«

»J-ja, Doady. Ich habe ein kleines Fäßchen gekauft, und der Mann sagte, sie wären sehr gut. Aber ich – ich fürchte, es ist etwas nicht ganz in der Ordnung damit.« Sie senkte den Kopf, und Diamanten glitzerten in ihren Augen.

»Man muß sie aufmachen«, sagte ich. »Nimm die oberste Schale weg, Liebling.«

»Aber sie geht nicht auf«, sagte Dora, machte mit großer Anstrengung einen Versuch und sah sehr betrübt drein.

»Weißt du was, Copperfield«, lachte Traddles fröhlich, »die Ursache ist – es sind vortreffliche Austern, aber ich glaube die Ursache ist –, sie sind noch nicht aufgebrochen worden.«

So war es. Wir hatten kein Austernmesser und hätten es auch nicht zu gebrauchen verstanden. So sahen wir denn die Austern bloß an und aßen das Schöpsenfleisch. Das heißt den Teil, der nicht roh war, und vervollständigten das Mahl mit Kapern. Wenn ich es gestattet hätte, würde Traddles aus sich einen wahren Wilden gemacht und einen Teller rohen Fleisches gegessen haben, um die Schmackhaftigkeit des Gerichtes zu beweisen; aber ein solches Opfer auf dem Altar der Freundschaft wollte ich nicht dulden, und zum Glück fand sich zufällig Schinken in der Speisekammer.

Mein armes kleines Frauchen war so betrübt, als es glaubte, ich ärgere mich, und so erfreut, als es sah, daß es nicht der Fall war, daß die Mißstimmung bald verschwand und wir einen sehr fröhlichen Abend verlebten. Während Traddles und ich ein Glas Wein tranken, ergriff sie jede Gelegenheit, um mir zuzuflüstern, es sei hübsch von mir, daß ich mich nicht wie ein alter, böser, zänkischer Mann benähme. Später goß sie Tee für uns auf und sah dabei so hübsch aus, daß ich mich um die Beschaffenheit des Getränks nicht sehr kümmerte. Dann spielte ich mit Traddles eine Partie Cribbage, und Dora sang dabei zur Gitarre, und mir war, als ob unser Brautstand und unsere Heirat nur ein schöner Traum seien und ich immer noch wie damals an jenem ersten Abend ihrer Stimme lauschte.

Als Traddles fort war, setzte sie sich dicht neben mich und sagte:

»Ich bin so unglücklich; möchtest du nicht versuchen, Doady, mir etwas beizubringen?«

»Ich muß selbst erst lernen, Dora«, sagte ich. »Ich bin auch nicht klüger als du, Schatz.«

»Aber du kannst lernen und bist ein sehr, sehr gescheiter Mann.«

»Unsinn, meine kleine Maus!«

»Ich wollte«, begann sie nach einem langen Schweigen wieder, »ich hätte einige Jahre aufs Land gehen und mit Agnes zusammenwohnen können.«

Ihre Hände lagen gefaltet auf meiner Schulter, ihr Kinn ruhte darauf, und ihre blauen Augen sahen still in die meinen.

»Warum?« fragte ich.

»Ich glaube, es hätte mir viel nützen können, und ich hätte viel von ihr gelernt.«

»Du mußt bedenken«, sagte ich, »daß Agnes viele Jahre für ihren Vater die Wirtschaft führte. Als Kind schon war sie die Agnes, die wir kennen.«

»Willst du mir einen Namen geben, den ich gerne haben möchte, Doady?«

»Was für einen Namen?« fragte ich lächelnd.

»Es ist ein dummer Name«, sagte sie und schüttelte einen Augenblick die Locken: »kindisches Frauchen.«

Ich fragte sie lachend, was sie sich bei diesem Wunsche denke.

»Ich meine nicht etwa, du närrischer Junge, daß du mich so rufen sollst, anstatt Dora. Ich will nur, daß du so an mich denken sollst. Wenn du mir bös bist, so denk dir: ich wußte schon lange, daß sie auch als Gattin nur ein kindisches Frauchen sein wird. Wenn du an mir vermissest, was ich gern sein möchte und vielleicht nie werden kann, so sag dir nur: mein kindisches Frauchen liebt mich doch.«

Ich hatte nicht ernsthaft mit ihr gesprochen, denn ich ahnte nicht, daß sie selbst in vollem Ernste war. Aber ihr weiches Gemüt war so glücklich über das, was ich ihr jetzt aus vollem Herzen sagte, daß ihr Gesicht vor Freude strahlte, ehe noch ihre Augen trocken wurden. Sie war bald wieder das kindische Frauchen und setzte sich auf den Fußboden neben die Pagode und läutete nacheinander alle die kleinen Glocken, um Jip für eine Unfolgsamkeit zu bestrafen, während er blinzelnd auf dem Boden lag, zu träge, um sich necken zu lassen.

 

Doras Bitte machte einen großen Eindruck auf mich. Ich blickte auf die Zeit zurück, von der ich schreibe; ich beschwöre die unschuldvolle Gestalt, die ich so innig liebte, herauf aus dem Schatten der Vergangenheit, damit das sanfte Antlitz sich noch einmal mir zuwende, und immer noch leben ihre Worte in meinem Gedächtnis. Ich habe sie mir vielleicht nicht so sehr zu Herzen genommen, wie ich sollte – ich war jung und unerfahren –, aber niemals blieb mein Ohr taub gegen die schlichte Bitte.

Kurz darauf sagte mir Dora, daß sie auf dem besten Wege sei, eine ausgezeichnete Hausfrau zu werden. Wirklich polierte sie die Schreibtäfelchen blank, spitzte den Bleistift, kaufte ein ungeheures Rechenbuch, nähte sorgfältig die Blätter des Kochbuchs, die Jip zerrissen hatte, wieder zusammen und nahm einen geradezu verzweifelten Anlauf »gut zu sein«, wie sie es nannte. Aber die Ziffern blieben störrisch wie früher und »wollten sich nicht addieren lassen.« Wenn sie mit großer Mühe zwei oder drei Posten in das Rechnungsbuch eingetragen hatte, geruhte Jip mit wedelndem Schweif über die Seite zu schreiten und alles zu verwischen. Doras kleiner Mittelfinger war bis zur Wurzel schwarz von Tinte, und ich glaube, das war der einzig bleibende Erfolg des Unternehmens.

Manchmal abends, wenn ich zu Hause war und arbeitete – denn ich schrieb jetzt viel und mein Ruf als Schriftsteller wuchs, – legte ich die Feder hin und sah zu, wie mein kindisches Frauchen versuchte, »gut zu sein«. Zuerst holte sie das große Rechnungsbuch hervor und legte es mit einem tiefen Seufzer auf den Tisch. Dann schlug sie die Stellen auf, die Jip am Abend vorher unleserlich gemacht hatte, und er mußte seine Missetat selbst ansehen. Das verursachte eine Abschweifung zu Jips Gunsten und brachte ihm schlimmstenfalls als Strafe einen Tintenstrich auf die Nase ein. Dann befahl sie ihm, sich sofort auf den Tisch zu legen »wie ein Löwe«, – eins seiner Kunststücke, wenn auch die Ähnlichkeit nicht sehr groß war –; und wenn er gelaunt war, gehorchte er. Dann nahm sie eine Feder, um anzufangen, und fand ein Haar drin. Dann nahm sie eine andere Feder und fing wieder an zu schreiben und fand, daß sie spritzte. Dann nahm sie eine dritte, fing an zu schreiben und sagte leise: die hört man und das stört Doady. Und dann gab sie es als ein schlechtes Geschäft auf und legte das Rechnungsbuch weg, nachdem sie vorher noch getan hatte, als wollte sie den »Löwen« damit erdrücken.

Einmal, als sie sehr ernst und pflichteifrig gestimmt war, setzte sie sich mit der Schreibtafel und einem kleinen Korb voll Rechnungen und andern Papieren, die mehr wie Lockenwickel als sonst etwas aussahen, hin und bestrebte sich, ein Resultat herauszubekommen. Nachdem sie alles aufmerksam miteinander verglichen, Notizen auf die Täfelchen geschrieben, sie wieder weggewischt und alle Finger ihrer linken Hand vorwärts und rückwärts gezählt hatte, machte sie ein so verdrießliches und entmutigtes Gesicht und sah so unglücklich drein, daß es mich ordentlich schmerzte und ich leise zu ihr ging und sagte: »Was ist denn, Dora?«

Dora blickte mit hoffnungsloser Miene auf und antwortete: »Sie wollen nicht stimmen. Sie machen mir Kopfweh. Sie tun nicht, was ich will.«

»Wir wollen es zusammen versuchen, ich will dirs zeigen, Dora«, tröstete ich sie.

Ich fing einen praktischen Kursus an, dem Dora vielleicht fünf Minuten lang mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörte; aber dann wurde es ihr zu langweilig, und sie brachte Abwechslung in das trockne Thema, indem sie mir die Locken drehte oder versuchte, wie mein Gesicht mit umgeschlagnem Hemdkragen aussähe. Wenn ich ihr stillschweigend wehrte und im Rechnen fortfuhr, machte sie ein so erschrockenes und unglückliches Gesicht, daß die Erinnerung an ihre Worte wie ein Vorwurf über mich kam und ich den Bleistift hinlegte und sie um die Gitarre bat.

Ich hatte viel zu tun und manche Sorge, doch dieselben Rücksichten veranlaßten mich, sie für mich zu behalten. Aber es verbitterte mein Leben nicht. Wenn ich bei schönem Wetter allein meine täglichen Wege ging und an die Sommertage dachte, wo die ganze Luft erfüllt gewesen war mit dem Zauber meiner Kinderjahre, da fehlte mir wohl etwas an der Verwirklichung meiner Träume, aber ich glaubte, es sei der mildernde Glanz der Vergangenheit, den nichts in die Gegenwart herüberbringen kann. Manchmal wünschte ich mir fast, meine Gattin wäre meine Beraterin und besäße mehr Selbständigkeit und Charakter, mich aufrechtzuerhalten und mir beizustehen, – besäße die Kraft, die Leere auszufüllen, die, ich weiß nicht wie, in mir zu wohnen schien.

Ich war den Jahren nach ein fast knabenhafter Ehemann. Wenn ich manchmal etwas Unrechtes getan habe, so geschah es aus mißverstandner Liebe und aus Mangel an Einsicht.

So hatte ich denn die Mühen und Sorgen unseres Lebens auf mich allein genommen, und niemand half mir dabei. Wir lebten fast ganz wie zuvor hinsichtlich der Unordnung unseres Haushaltes, aber ich hatte mich daran gewöhnt und es freute mich, jetzt Dora selten betrübt zu sehen. Sie war in ihrer alten, kindischen Art lustig und heiter, liebte mich zärtlich und fühlte sich glücklich bei ihren gewohnten Spielereien.

Wenn die politischen Debatten von Bedeutung waren ? nämlich der Länge nach, nicht der Qualität – und ich spät nach Hause kam, schlief Dora nicht, sondern kam stets die Treppe herab, wenn sie meine Schritte hörte. War ich abends frei und arbeitete zu Hause, saß sie ruhig neben mir, wie spät es auch immer werden mochte, und verhielt sich so still, daß ich oft glaubte, sie sei eingeschlafen. Aber fast immer, wenn ich aufblickte, sah ich ihre blauen Augen mit ruhiger Aufmerksamkeit auf mich gerichtet.

»O, wie müde du sein mußt, Liebling«, sagte sie eines Nachts, als ich meine Schreibmappe zumachte und ihren Blicken begegnete.

»O, wie müde mein Herzensschatz sein muß«, sagte ich. »Das paßt besser. Ein anderes Mal mußt du zu Bett gehen. Es ist viel zu spät für dich geworden.«

»Nein, schicke mich nicht zu Bett«, bat Dora und schmiegte sich an mich. »Bitte, tu das nicht!«

»Dora!« Zu meinem Erstaunen schluchzte sie an meiner Schulter.

»Bist du nicht wohl, Liebling? nicht glücklich?«

»Ja! Ganz wohl und sehr glücklich. Aber laß mich immer bei dir bleiben und dir zusehen, wenn du schreibst.«

»Aber was ist das für so helle Augen um Mitternacht für ein Anblick!«

»Sind sie wirklich hell?« fragte Dora lächelnd. »Ich bin so froh, wenn sie hell sind.«

»Kleine Eitelkeit!« sagte ich.

Aber es war nicht Eitelkeit, es war bloß harmlose Freude an meiner Bewunderung. Ich wußte das genau, und sie hätte es mir nicht erst versichern brauchen.

»Wenn du meinst, sie sind hübsch, so laß mich doch dableiben und dir beim Schreiben zusehen«, sagte sie. »Meinst du wirklich, sie sind hübsch?«

»Sehr hübsch!«

»Dann laß mich dableiben und dir beim Schreiben zusehen.«

»Ich fürchte sehr, daß das zu ihrem Glanz nicht beiträgt, Dora.«

»Doch! Doch! Weil du mich dann nicht vergessen wirst, du gescheiter Mann, während du von stillen Phantasien erfüllt bist. Wirst du böse sein, wenn ich etwas sehr, sehr Albernes sage?« fragte Dora, mir über die Schulter ins Gesicht blickend.

»Was denn?«

»Bitte laß mich die Federn halten, Doady. Ich möchte etwas zu tun haben während der vielen Stunden, wo du so fleißig bist. Darf ich die Federn halten?«

Die Erinnerung an ihren allerliebsten Freudenausbruch, als ich Ja sagte, treibt mir die Tränen in die Augen. Schon beim nächsten Mal und von da an jeden Abend, wenn ich schrieb, saß sie auf ihrem alten Platze mit einem Bündel Federn neben sich. Ihr Triumph, auf diese Art an meiner Arbeit teilzunehmen, und ihre Freude, wenn ich eine neue Feder brauchte, brachte mich auf einen neuen Gedanken. Ich tat, als müßte ich ein paar Seiten Manuskript abschreiben lassen. Und dann strahlte Dora. Die Vorbereitungen, die sie zu solchen großen Arbeiten traf, sind für mich liebe rührende Erinnerungen. Die Schürzen, die sie vornahm, die Lätzchen, die sie aus der Küche borgte, um sich nicht Tintenflecke zu machen, die Zeit, die sie dazu brauchte! Die unzähligen Pausen, die sie einflocht, um Jip anzulachen, als ob er alles verstünde, – wie sie überzeugt war, daß die Arbeit nicht fertig sei, wenn nicht ihr voller Name darunter stünde! Und die Art, mit der sie mir die Schrift überreichte, als wäre es eine Schularbeit, und mir dann, wenn ich sie lobte, um den Hals fiel!

Nicht lange später nahm sie eines Tages die Schlüssel in Besitz und klimperte mit dem ganzen Bund in einem kleinen Körbchen an ihrer schlanken Taille im Hause herum. Nur selten fand ich die Schränke verschlossen und nur selten waren sie zu etwas anderm gut als zu einem Spielzeug für Jip; aber Dora hatte ihre Freude dran, und das machte auch mir Freude. Sie war fest überzeugt, daß durch dieses Spiel viel für die Wirtschaft geschähe, und war so fröhlich, als ob wir zum Spaß haushielten und eine Puppenwirtschaft führten.

So lebten wir fort. Dora war gegen meine Tante kaum weniger zärtlich als gegen mich und erzählte ihr oft, wie sie sich einst vor ihr gefürchtet habe als vor einer mürrischen alten Frau. Noch nie habe ich meine Tante so systematisch milde gegen jemand auftreten sehen wie gegen Dora. Sie hätschelte Jip, obgleich er es ihr nie vergalt, hörte Tag für Tag dem Gitarrenspiel zu, obgleich sie, fürchte ich, keinen Sinn für Musik hatte. Nie fiel sie über unsere unfähigen Dienstboten her, so stark die Versuchung gewesen sein muß. Sie legte erstaunliche Strecken zurück, um Dora mit manchen nötigen Kleinigkeiten zu überraschen, und kam nie, ohne unten an der Treppe mit einer Stimme, die fröhlich durch das ganze Haus klang, zu rufen:

»Wo ist das kleine Blümchen?«

45. Kapitel Mr. Dick erfüllt die Prophezeiung meiner Tante


45. Kapitel Mr. Dick erfüllt die Prophezeiung meiner Tante

Ich hatte meine Stellung bei Doktor Strong schon seit geraumer Zeit aufgegeben. Da ich in seiner Nähe wohnte, sah ich ihn häufig, und wir alle kamen hie und da zum Mittagessen oder zum Tee zu ihm. Der »General« hatte bei dem Doktor seinen beständigen Wohnsitz aufgeschlagen. Sie war noch ganz die alte, und die unsterblichen Schmetterlinge schwebten immer noch über ihrem Hut.

Mrs. Markleham war, wie das oft vorkommt, viel vergnügungsüchtiger als ihre Tochter. Sie beanspruchte viel Zerstreuung und gab als alter, schlauer Soldat vor, sich für ihr Kind aufzuopfern, während sie nur ihren eignen Neigungen frönte. Des Doktors Wunsch, Ännie zu zerstreuen, kam deshalb dieser vortrefflichen Mutter besonders gelegen, und sie stimmte seinen Vorschlägen auf das Entschiedenste bei.

»Lieber Doktor«, sagte sie zu ihm einmal in meiner Gegenwart, »es wäre wirklich etwas langweilig für Ännie, wenn sie immer hier eingesperrt sein müßte.«

Der Doktor nickte wohlwollend mit dem Kopf.

»Wenn sie einmal in den Jahren ist wie ihre Mutter«, sagte Mrs. Markleham mit einem Fächerschlag, »wird es anders sein. Mich könnte man in einen Kerker sperren mit angenehmer Gesellschaft und einer Whistpartie, und ich würde gar nicht daran denken, auszugehen. Aber ich bin nicht Ännie, sehen Sie, und Ännie ist nicht ihre Mutter.«

»Ganz gewiß, ganz gewiß«, stimmte der Doktor bei.

»Sie sind der beste Mensch von der Welt … Nein, ich bitte um Verzeihung!« – Der Doktor machte eine abwehrende Bewegung. – »Ich muß es Ihnen ins Gesicht sagen, wie ich es immer hinter ihrem Rücken tue: Sie sind der beste Mensch von der Welt, aber naturgemäß können Sie nicht auf die Geschmackrichtung und Neigungen Ännies eingehen.«

»Nein«, sagte der Doktor mit bekümmertem Ton.

»Naturgemäß nicht. Nehmen Sie zum Beispiel Ihr Lexikon! Wie nützlich ist so ein Lexikon! Wie notwendig! Die Bedeutung der Worte! Ohne Doktor Johnson oder sonst jemand der Art würden wir heute noch ein Brenneisen eine Bettstelle nennen. Aber wir können nicht erwarten, daß ein Lexikon, besonders wenn es noch nicht fertig ist, Ännie interessiert, nicht wahr?«

Der Doktor nickte.

»Und deshalb billige ich so sehr Ihre kluge Einsicht«, sagte Mrs. Markleham und schlug Dr. Strong mit dem zugemachten Fächer auf die Schulter. »Es beweist, daß Sie nicht, wie so viele bejahrte Leute, alte Gesichter auf jungen Schultern zu sehen wünschen. Sie haben Ännies Charakter studiert und verstehen ihn. Das finde ich so bewunderungswert.«

Selbst das ruhige und geduldige Gesicht Dr. Strongs zeigte sich, wie mir vorkam, peinlich berührt von derartigen Komplimenten.

»Deshalb, lieber Doktor«, fuhr der »General« liebreich fort, »können Sie zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten über mich verfügen. Ich stehe ganz zu Ihren Diensten. Ich bin bereit, mit Ännie in die Oper, ins Konzert, in die Ausstellung und überall hinzugehen, und nie sollen Sie sehen, daß ich müde bin. Die Pflicht, lieber Doktor, geht allem in der Welt vor.«

Sie hielt Wort. Sie gehörte zu den Leuten, die sehr viel Zerstreuung vertragen können, und ihre Ausdauer in dieser Hinsicht war nicht zu ermüden. Selten legte sie eine Zeitung aus der Hand, ohne etwas zu finden, was Ännie gewiß sehr gerne sehen würde. Vergebens wendete Ännie in solchen Fällen ein, daß sie derlei Dinge satt habe. Immer wieder kam ihre Mutter mit Vorstellungen wie: »Liebe Ännie, du wirst es wohl besser wissen, aber ich muß dir schon sagen, mein Kind, daß du durchaus nicht die gehörige Dankbarkeit für die Güte Dr. Strongs beweisest.«

Das sagte sie immer in der Anwesenheit des Doktors und schien damit ihre Tochter am ehesten zu bewegen, keine Einwendungen mehr zu machen.

 

Es kam jetzt nur selten vor, daß Mr. Maldon Ännie begleitete. Manchmal wurden meine Tante und Dora zu den Spaziergängen eingeladen und nahmen immer an. Manchmal Dora allein. In früherer Zeit wäre mir das nicht ganz recht gewesen, aber näheres Nachdenken über jenen Vorfall in des Doktors Studierzimmer hatte meinem Mißtrauen eine andere Richtung gegeben. Ich glaubte, daß der Doktor recht habe, und hegte keinen Argwohn mehr.

Meine Tante rieb sich manchmal die Nase, wenn wir darüber sprachen, und sagte, sie könnte nicht klug daraus werden; sie möchte den beiden wünschen, sie wären glücklicher, und sie glaube nicht, daß unser militärischer Freund – wie sie immer den »General« nannte ? die Sache besser mache. Wenn Mrs. Markleham nur wenigstens die Schmetterlinge abschneiden und sie den Rauchfangkehrern zum Maifest schenken wollte, würde sie wenigstens den guten Willen, wieder zur Vernunft zurückzukehren, damit zeigen, meinte sie.

Aber ihre feste Zuversicht war und blieb Mr. Dick. Der Mann habe offenbar eine Idee im Kopf, sagte sie, und wenn er sie erst einmal in einer Ecke festfahren könnte, was die Hauptschwierigkeit bei ihm sei, so werde er sich in ganz außerordentlicher Weise auszeichnen.

Ohne etwas von dieser Prophezeiung zu wissen, schien Mr. Dick in seinem alten Verhältnis zu dem Doktor und seiner Gattin weder einen Schritt vorwärts noch rückwärts zu machen. Wie ein Gebäude verharrte er unbeweglich auf seinem ursprünglichen Grund, und ich muß gestehen, mein Glaube, er werde jemals einen Schritt vorwärts machen, war nicht größer, als wenn er wirklich ein Gebäude gewesen wäre.

Eines Abends nun, als meine Tante mit Dora zu den beiden kleinen Vögeln zum Tee gegangen war und ich allein an meinem Schreibtisch saß, steckte Mr. Dick den Kopf zur Tür herein, hustete bedeutsam und fragte:

»Könnte ich mit dir wohl ein Wort sprechen, ohne dich zu stören, Trotwood?«

»Gewiß, Mr. Dick«, sagte ich, »nur herein.«

»Trotwood«, sagte Mr. Dick und legte den Finger an die Nase, nachdem er mir die Hand geschüttelt. »Ehe ich mich setze, möchte ich eine Bemerkung machen. Du kennst deine Tante?«

»Ein wenig.«

»Sie ist die wunderbarste Frau auf der Welt.«

Nach dieser Mitteilung, mit der er herausplatzte, als ob sie ganz neu wäre, setzte er sich mit größerm Ernst als gewöhnlich hin und sah mich an.

»Jetzt, mein Sohn, will ich dir eine Frage vorlegen.«

»Bitte, nur zu.«

»Wofür hältst du mich?« fragte Mr. Dick und verschränkte die Arme.

»Für einen lieben; alten Freund.«

»Ich danke dir, Trotwood«; gab Mr. Dick lachend zur Antwort und reichte mir fröhlich die Hand hin. »Aber ich meine«, sagte er wieder mit seinem vorigen Ernst, »was hältst du von mir in dieser Hinsicht?« und deutete auf seine Stirn.

Ich war verlegen und suchte nach einer Antwort. Aber er half mir mit einem Wort:

»Schwach?«

»Nun ja«, entgegnete ich zögernd, »ein klein wenig.«

»Ganz richtig«, rief Mr. Dick, den meine Antwort ordentlich zu entzücken schien. »Nämlich, Trotwood, als sie einige von den Sorgen aus seinem Kopf – du weißt schon wessen – nahmen und in meinen taten, da entstand eine …« Er drehte seine beiden Hände rasch umeinander, um eine Verwirrung auszudrücken. »Da geschah mir das auf irgendeine Weise, nicht wahr?«

Ich bejahte, und er nickte wieder.

»Kurz, mein Sohn«, und er dämpfte seine Stimme bis zum Flüstern, »ich bin schwachsinnig.«

Ich wollte dagegen Einwendungen erheben, aber er verhinderte mich daran.

»Ja, das bin ich. Sie behauptet auch, ich wäre es nicht. Aber ich weiß, daß ichs bin. Wenn sie mir nicht als Freund beigestanden hätte, so wäre ich heute noch eingesperrt und hätte die langen Jahre hindurch ein schreckliches Leben führen müssen. Aber ich werde für sie sorgen. Ich greife nie das Geld für das Abschreiben an. Ich tue es in eine Sparbüchse. Ich habe ein Testament gemacht und will ihr alles hinterlassen. Sie soll reich werden! – Vornehm!«

Mr. Dick zog sein Taschentuch heraus und wischte sich die Augen. Dann legte er es mit großer Sorgfalt zusammen, strich es glatt und steckte es in die Tasche und schien damit auch das Thema weggesteckt zu haben.

»Du bist ein Gelehrter, Trotwood«, fuhr er dann fort. »Ein bedeutender Gelehrter! Du weißt, was für ein großer hervorragender Mann der Doktor ist. Du weißt, wieviel Ehre er mir immer erwiesen hat. Nie ist er stolz in seiner Weisheit! Bescheiden, bescheiden ? herablassend selbst gegen den armen Dick, der schwachsinnig ist und nichts weiß! Ich habe seinen Namen auf einem Papierzettel an der Schnur entlang hinauf zu dem Drachen geschickt, als er hoch im Himmel war bei den Lerchen. Der Drache hat ihn entgegengenommen, und der Himmel ist lichter davon geworden.«

Er war entzückt, als ich ihm auf das herzlichste versicherte, daß der Doktor unsere größte Achtung verdiene.

»Und seine schöne Frau ist ein Stern. Ein glänzender Stern. Ich habe ihn leuchten sehen. Aber –« er rückte mit dem Stuhle näher und legte mir die Hand aufs Knie »– Wolken, Trot, – Wolken!«

Ich nickte.

»Was sind das für Wolken?« fragte er.

Er sah mir so besorgt fragend ins Gesicht und sah mich so angestrengt nach Verständnis ringend an, daß ich mir die größte Mühe gab, ihm langsam und deutlich alles zu erklären wie einem Kinde.

»Es ist ein unglücklicher Zwiespalt zwischen ihnen entstanden. Irgend etwas, was sie voneinander fernhält. Ein Geheimnis. Es ist vielleicht unzertrennlich von der Verschiedenheit ihres Alters. Es ist vielleicht aus fast nichts entstanden.«

Mr. Dick, der bei jedem Satz gedankenvoll genickt hatte, schwieg, als ich fertig war, und dachte nach, die Augen auf mein Gesicht geheftet und die Hände auf mein Knie gelegt.

»Der Doktor ist ihr nicht bös, Trotwood?« fragte er nach einer Weile.

»Nein, er liebt sie aufs innigste.«

»Dann habe ichs, mein Sohn!«

Die plötzliche Freude, mit der er mir aufs Knie schlug und sich in den Stuhl zurücklehnte, die Augenbrauen so hoch wie nur irgend möglich in die Höhe gezogen, ließ mich glauben, daß er weniger zurechnungsfähig als je sei. Ebenso schnell wurde er wieder ernst, holte das Taschentuch hervor und sagte wieder, als ob er damit das alte Thema hervorgeholt habe:

»Die wunderbarste Frau auf der Welt, Trotwood! Warum hat sie eigentlich nichts getan, um die Sache in Ordnung zu bringen?«

»Es ist ein zu delikater Gegenstand, um sich hineinzumischen.«

»Großer Gelehrter!« sagte Mr. Dick und tupfte mir mit dem Finger auf die Brust. »Warum hast du nichts getan?«

»Aus demselben Grund.«

»Dann hab ichs«, und Mr. Dick stellte sich vor mich hin, noch erfreuter, nickte mit dem Kopf und schlug sich wiederholte Male so stark auf die Brust, als wolle er sich allen Atem aus dem Leibe hämmern.

»Ein armer, halb verrückter Kerl!« sagte er. »Ein Einfaltspinsel, einer, der den Verstand verloren hat … Schau mich an!« und er schlug sich wieder auf die Brust – »kann vollbringen, was wundervolle Leute nicht imstande sind. Ich will sie zusammenbringen, mein Sohn! Ich wills versuchen. Mir kann niemand einen Vorwurf machen! Ich kann keinen Schaden anrichten, wenn ich etwas Unrechtes tue. Ich bin nur Mr. Dick! Dick ist niemand! Hui!« Er spitzte den Mund, als ob er etwas wegblasen wollte.

Es traf sich glücklich, daß er mit seiner Enthüllung so weit gekommen war, denn soeben hielt der Wagen mit meiner Tante und Dora an der Gartentüre.

»Kein Wort, mein Junge«, flüsterte er. »Überlasse alles dem Dick dem schwachsinnigen Dick ? dem verrückten Dick. Ich habe schon seit einiger Zeit gehofft, daß ichs finden würde, und jetzt habe ichs gefunden. Nach dem, was du mir gesagt hast, bin ich gewiß, daß ich es gefunden habe.«

Nicht eine Silbe mehr ließ Mr. Dick über die Sache fallen, benahm sich aber während der nächsten halben Stunde zur größten Beunruhigung meiner Tante wie ein lebendiger Telegraphenzeiger, um mir das unverbrüchlichste Schweigen einzuschärfen.

Zu meiner Verwunderung hörte ich die nächsten paar Wochen nichts wieder davon, obgleich mich die Sache höchlichst interessierte. Endlich fing ich an zu glauben, daß Mr. Dick entweder seinen Plan aufgegeben oder ihn vergessen habe.

 

An einem schönen Abend machten meine Tante und ich, da Dora keine Lust zum Spazierengehen hatte, einen Besuch bei dem Doktor. Es war Herbst, und keine Parlamentsdebatte verdarb die Abendstimmung. Die Blätter dufteten wie einst unser Garten, in Blunderstone, als sie unter unserm Fuße rauschten, und das alte Gefühl der Unbefriedigung lebte wieder in meiner Brust. Es dämmerte, als wir das Landhaus erreichten. Mrs. Strong kam gerade aus dem Garten, und Mr. Dick half dem Gärtner einige Stäbe zuspitzen. Der Doktor war mit jemand in seinem Studierzimmer beschäftigt; aber der Besuch würde gleich gehen, sagte Mrs. Strong und bat uns zu bleiben. Wir traten mit ihr in das Besuchszimmer und setzten uns ans Fenster.

Es waren kaum ein paar Minuten verstrichen, als Mrs. Markleham, die es immer zustande brachte über irgend etwas in Aufregung zu sein, mit der Zeitung in der Hand hastig hereintrat und ganz außer Atem sagte: »Gott im Himmel, Ännie, warum machst du mich nicht darauf aufmerksam, daß jemand im Studierzimmer ist.«

»Liebe Mama«, erwiderte Mrs. Strong ruhig, »wie konnte ich denn wissen, daß du es zu wissen wünschtest.«

»Zu wissen wünschtest!« – Mrs. Markleham sank auf das Sofa. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so erschrocken.«

»Du bist in der Studierstube gewesen, Mama?« fragte Ännie.

»In der Studierstube gewesen? Allerdings, ja. Ich bin dort gewesen! Ich überraschte den vortrefflichen Mann – denken Sie sich meine Empfindungen, Miss Trotwood und David – beim Aufsetzen seines Testamentes!«

Ännie blickte schnell auf.

»Beim Aufsetzen seines letzten Willens«, wiederholte Mrs. Markleham, indem sie die Zeitung auf ihren Schoß wie eine Serviette ausbreitete und mit den Händen draufpatschte. »Nein, die Vorsicht und Liebe des Trefflichen! Ich muß Ihnen erzählen, wie es war, um dem wundervollen Mann Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie wissen vielleicht, Miss Trotwood, daß in diesem Hause nie ein Licht angezündet wird, ehe einem nicht die Augen buchstäblich aus dem Kopfe fallen, von der Anstrengung des Zeitunglesens, und daß kein Stuhl im Hause ist, in dem man eine Zeitung lesen könnte, was ich lesen nenne, außer einem einzigen im Studierzimmer. Das führte mich dorthin, zumal ich Licht drin sah. Ich öffnete die Tür. Bei dem lieben Doktor waren zwei Herren, offenbar Advokaten, und alle drei standen am Tisch ? der gute Doktor mit der Feder in der Hand. ›Damit drücke ich mit einfachen Worten aus‹, sagte er, ›meine Herrn, daß ich das größte Vertrauen in Mrs. Strong setze und ihr hiermit alles bedingungslos verschreibe.‹ Und einer der beiden Herren wiederholte: ›bedingungslos verschreibe.‹

Darauf sagte ich, von meinem mütterlichen Gefühl überwältigt: ›Guter Gott, ich bitte um Entschuldigung‹, stolperte über die Türschwelle und kam hierher durch den kleinen Gang an der Speisekammer vorbei.«

Mrs. Strong öffnete die Glastür, ging auf die Veranda hinaus und lehnte sich an eine Säule.

»Sagen Sie, Miss Trotwood, und Sie, David, ist es nicht eine wahre Herzensstärkung, wenn ein Mann in Dr. Strongs Alter noch so viel Geistesstärke hat, so etwas zu tun?« fragte Mrs. Markleham. »Es beweist wieder, wie recht ich hatte. Ich sagte damals schon zu Ännie, als er um sie anhielt: Liebe Tochter, sagte ich, es läßt sich meiner Meinung nach gar nicht daran zweifeln, wenn wir von einer passenden Versorgung für dich sprechen, daß Dr. Strong noch weit mehr tun wird, als er verspricht.«

Man hörte die Klingel gehen und den Besuch sich entfernen.

»Jetzt ist alles vorüber«, sagte der General. »Der Treffliche hat unterschrieben, und sein Gemüt ist beruhigt. Liebe Ännie, ich gehe jetzt mit der Zeitung in das Studierzimmer, denn ohne Neuigkeiten bin ich ein geschlagenes Geschöpf. Miss Trotwood, David, bitte, kommen Sie mit zum Doktor.«

Ich war mir bewußt, daß Mr. Dick im dunklen Hintergrund des Zimmers stand und sein Messer zuklappte, als wir ihr in das Studierzimmer folgten, auch daß meine Tante unterwegs ihre Nase heftig rieb, um ihrem Ärger über unsern militärischen Freund Luft zu machen. Aber wer zuerst eintrat, oder wie Mrs. Markleham in einem Nu es sich im Lehnstuhl bequem gemacht hatte, oder wie es kam, daß meine Tante und ich an der Tür stehenblieben, das habe ich vergessen, wenn ich es jemals gewußt habe. Das eine weiß ich, daß wir den Doktor, ehe er uns bemerkte, an seinem Tisch unter den Folianten sitzen sahen, die ihm so viel Freude machten, und daß er den Kopf auf die Hand gestützt hatte, und daß in demselben Augenblick Mrs. Strong bleich und zitternd hereintrat. Mr. Dick stützte sie, mit der andern Hand berührte er den Arm des Doktors, so daß dieser mit zerstreuter Miene aufblickte.

Im selben Augenblick war Ännie vor ihrem Gatten auf die Knie gesunken, die Hände flehend emporgehoben und wieder mit dem Ausdruck in den Mienen, den ich nie vergessen hatte. Bei diesem Anblick ließ Mrs. Markleham die Zeitung fallen und sah mit aufgerissenen Augen dem Gallionenbild eines Schiffes »Das große Erstaunen« ähnlicher als irgend etwas anderem.

»Doktor«, sagte Mr. Dick, »woran fehlts hier? Sehen Sie her!«

»Ännie«, rief der Doktor, »steh doch auf, liebe Ännie!«

»Ich bitte Sie alle, bleiben Sie hier! Und du, mein Gatte und Vater, brich endlich dies lange Schweigen. Laß uns beide wissen, was zwischen uns getreten ist.«

Mrs. Markleham, die unterdessen die Sprache wiedergefunden hatte und von Familienstolz und mütterlicher Entrüstung überfloß, rief: »Ännie, sogleich stehe auf und verunehre nicht deine ganze Familie, indem du dich so demütigst, wenn du nicht willst, daß ich auf der Stelle den Verstand verliere.«

»Mama«, entgegnete Ännie, »verschwende keine Worte an mich, denn ich richte meine Bitte an meinen Gatten, und selbst du giltst hier nichts.«

»Nichts!« rief Mrs. Markleham aus. »Ich nichts! Das Kind ist verrückt geworden! Ich bitte um ein Glas Wasser!«

Meine Aufmerksamkeit war zu sehr von dem Doktor und Ännie in Anspruch genommen, als daß ich dem Wunsche Beachtung hätte schenken können. Auf die andern machte es ebenfalls keinen Eindruck, und so blieb Mrs. Markleham nichts übrig als zu pusten, große Augen zu machen und sich Luft zuzufächeln.

»Ännie«, sagte der Doktor und ergriff zärtlich die Hände seiner Gattin, »liebe Ännie! Wenn eine unvermeidliche Veränderung im Verlauf der Zeit in unserm Eheleben eingetreten ist, so trägst du nicht die Schuld daran. Es ist mein Fehler und nur meiner. In meiner Liebe und Bewunderung und in meiner Achtung hat sich nichts geändert. Ich wünsche dich glücklich zu machen. Ich liebe und halte dich hoch von ganzem Herzen. Stehe auf, Ännie, ich bitte dich!«

Aber Mrs. Strong stand nicht auf. Sie blickte ihn eine kleine Weile an, legte ihren Arm auf sein Knie, ließ ihren Kopf darauf sinken und sagte:

»Wenn ich einen Freund hier habe, der ein Wort für mich oder meinen Gatten sprechen oder dem Verdacht, den mir mein Herz zugeflüstert hat, Worte geben kann, – einen Freund, der meinen Gatten schätzt oder jemals auf mich etwas gegeben hat, so möge er sprechen, ich flehe ihn an –, wenn er etwas weiß, was immer es sein möge, was zur Vermittlung zwischen uns helfen kann.«

Eine tiefe Stille folgte. Nach einigen Augenblicken peinlichen Zögerns brach ich das Schweigen.

»Mrs. Strong«, sagte ich, »ich weiß von etwas, was zu verbergen Ihr Gatte mich ernstlich ersucht hat und ich bis jetzt verschwiegen habe, aber ich glaube, die Zeit ist da, wo es ein falsches Zartgefühl wäre, es länger zu verheimlichen, zumal Ihr Wunsch mich meines Wortes entbindet.«

Sie wendete mir einen Augenblick das Gesicht zu, und ich erkannte, daß ich recht hatte.

»Unser zukünftiger Frieden«, sagte sie, »liegt vielleicht in Ihren Händen. Und ich bitte Sie, nichts zu verschweigen. Ich weiß im voraus, daß weder Sie, noch irgend jemand anders etwas sagen kann, was meines Gatten Hochherzigkeit in einem andern Lichte als bisher erscheinen lassen könnte. Kümmern Sie sich nicht darum, ob es mich verletzen mag.«

So ernstlich gebeten, glaubte ich mich nicht erst vom Doktor meines Wortes entbinden lassen zu müssen, sondern erzählte ohne Umschweife, nur die Roheiten Uriah Heeps abschwächend, was an jenem Abend geschehen war. Mrs. Marklehams erstaunte Blicke und die schrillen Ausrufe, mit denen sie mich gelegentlich unterbrach, spotten jeder Beschreibung.

Ännie verblieb einige Augenblicke in ihrer Stellung, dann ergriff sie des Doktors Hand, drückte sie an ihre Brust und küßte sie. Mr. Dick hob sie sanft auf, und sie stützte sich auf ihn, als sie zu ihrem Gatten sprach.

»Alles was ich gedacht und gefühlt habe, seit wir verheiratet waren«, sagte sie mit milder und zärtlicher Stimme, »will ich dir ohne Rückhalt offenbaren. Ich könnte nicht leben und einen Gedanken vor dir verbergen, seit ich weiß, was ich soeben erfahren habe.«

»Nein! Ännie«, sagte der Doktor liebevoll, »ich habe nie an dir gezweifelt, mein Kind! Es bedarf dessen nicht. Es bedarf dessen wirklich nicht, meine Liebe.«

»Doch, doch! Es bedarf dessen sehr wohl! Ich muß mein ganzes Herz auftun vor der edlen und treuen Seele, die ich Jahr um Jahr und Tag für Tag mehr geliebt und verehrt habe, Gott weiß es.«

»Wahrhaftig«, unterbrach Mrs. Markleham, »wenn ich überhaupt Taktgefühl habe ?«

»Sie haben es eben nicht, Sie Störenfried«, verwies sie meine Tante mit einem entrüsteten Flüstern.

»– so möchte ich mir zu bemerken erlauben, daß es wohl nicht notwendig wäre, auf diese Einzelheiten einzugehen.«

»Das kann nur mein Gatte beurteilen, Mama«, sagte Ännie, ohne ihre Augen von seinem Gesicht abzuwenden, »und ich bitte ihn, mich bis zu Ende anzuhören. Wenn ich etwas sage, was dir Schmerz bereitet, Mama, so verzeihe mir. Ich habe den Gram lange mit mir herumgetragen.«

»O Gott!« ächzte Mrs. Markleham.

»Als ich noch ein kleines Kind war«, begann Ännie wieder, »waren schon die ersten Anfänge meiner Erkenntnisse unzertrennlich mit dem geduldigen Freund und Lehrer, dem Freunde meines verstorbenen Vaters, verbunden. Ich kann an nichts denken, was ich weiß, ohne nicht auch an ihn zu denken. Er gab meinem Geist seinen ersten Inhalt.«

»Sie macht ihre Mutter zu einem Nichts!« rief Mrs. Markleham aus.

»Gewiß nicht, Mama«, sagte Ännie; »aber ich mache ihn zu dem, was er war. Ich muß das tun. – Als ich aufwuchs, nahm er noch immer dieselbe Stelle ein. Ich war stolz auf ihn und hing zärtlich und dankbar an ihm. Ich blickte zu ihm auf wie zu einem Vater, zu einem Führer, zu einem, der über jedes Lob erhaben ist, zu einem, auf den ich vertraut haben würde, wenn ich an der ganzen Welt hätte zweifeln müssen. Du weißt, Mama, wie jung und unerfahren ich war, als du ihn mir ganz unerwartet als Bewerber vorstelltest.«

»Das habe ich jedem hier schon mindestens fünfzig Mal erzählt«, sagte Mrs. Markleham.

»Dann halten Sie um Himmelswillen schon endlich den Mund und erwähnen Sie es nicht weiter«, brummte meine Tante.

»Das bedeutete für mich eine so große Umwälzung, einen so großen Verlust im Anfang«, fuhr Ännie fort, »daß ich mich erregt und bekümmert fühlte. Ich war fast noch ein Kind, und als ich eine so große Veränderung in seiner Stellung zu mir eintreten sah, tat es mir fast leid. Aber nichts hätte ihn wieder zu dem machen können, was er mir früher gewesen, und ich war stolz darauf, daß er mich seiner für wert hielt, und wir wurden getraut.«

»In der St.-Alphagius-Kirche in Canterbury«, bemerkte Mrs. Markleham.

»Verwünschtes Frauenzimmer!« murrte meine Tante. »Ob sie nicht endlich den Mund halten kann!«

»Ich habe nie«, fuhr Ännie fort, und ihr Gesicht färbte sich röter, »an einen irdischen Vorteil, als ich heiratete, gedacht. Mein junges Herz hatte in seiner Liebe keinen Platz für einen so armseligen Gedanken. Mama, verzeihe mir, wenn ich sage, daß du es warst, die mich zuerst auf die Vermutung brachte, irgend jemand könne ihn und mich in einem so gemeinen Verdacht haben.«

»Ich!« rief Mrs. Markleham.

»Ja, ja! Natürlich!« brummte meine Tante. »Sie können das nicht wegfächeln, mein militärischer Freund!«

»Das war das erste Leid auf meiner neuen Lebensbahn. Es gab die erste Veranlassung zu jedem unglücklichen Augenblick, den ich gekannt habe. Solcher Augenblicke sind in der letzten Zeit mehr geworden, als ich zählen kann; aber nicht, mein hochherziger Gatte, aus dem Grund, den du annehmen magst, denn in meinem Herzen lebt nicht ein Gedanke, nicht eine Erinnerung oder Hoffnung, die irgendeine Macht jemals von deiner Person trennen könnte!«

Sie faltete die Hände und sah so schön und rein aus wie ein Engelsbild. Der Doktor sah ihr von jetzt an so fest in die Augen, wie sie ihm.

»Mama darf man keinen Vorwurf machen«, fuhr Ännie fort, »daß sie jemals für sich selbst etwas erbeten hätte, und sie ist gewiß nicht anzuklagen, irgend etwas mit Berechnung getan zu haben, aber als ich sah, wieviel zudringliche und unberechtigte Ansprüche in meinem Namen gemacht wurden, wie man dich ausnützte, und wie hochherzig und aufopfernd du dich benahmst, und wie Mr. Wickfield, der dich immer so hoch hielt, aufgebracht darüber war, da beschlich mich die Furcht, man könne den Verdacht hegen, meine Liebe sei dir verkauft worden, – ich könnte gezwungen worden sein, an dieser Schmach teilzunehmen. Ich kann dir nicht sagen, was es hieß – und auch Mama kann es sich nicht vorstellen –, immer in dieser Befürchtung und Unruhe zu leben und doch im innersten Herzen zu wissen, daß mein Hochzeitstag der Weihe- und Ehrentag für mein Leben war.«

»Solchen Dank erntet man«, rief Mrs. Markleham weinend aus, »wenn einem die Familie am Herzen liegt! Ich wollte, ich wäre ein Türke!«

»Und zwar weit weg in der Türkei!« sagte meine Tante.

»Das war zu jener Zeit, wo meine Mutter so besorgt war um meinen Vetter Maldon. Ich habe ihn sehr gern gehabt«, sagte Ännie leise, aber ohne jedes Stocken. »Wir waren einst als Kinder ein kleines Liebespaar gewesen. Wenn es nicht anders gekommen wäre, hätte ich mir vielleicht eingeredet, ihn wirklich zu lieben, – hätte ihn geheiratet und würde höchst unglücklich geworden sein, denn es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen.«

Mir fielen diese Worte aufs Herz wie etwas, was auch auf mich paßte.

»Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen!«

»Wir haben nichts gemein miteinander, das habe ich längst erkannt. Wenn ich meinem Gatten weiter nichts als diese Erkenntnis zu verdanken hätte, so würde ich ihm dafür dankbar sein, daß er mich vor der ersten mißverstandenen Regung meines unerfahrenen Herzens gerettet hat.«

Sie stand ruhig vor dem Doktor und sprach mit einer Innigkeit, die mir tief in die Seele drang.

»Als mein Vetter Maldon darauf rechnete, durch deine Freigebigkeit versorgt zu werden, die ihm auch um meinetwillen so reichlich zuteil wurde, und ich mich unglücklich fühlte in der habgierigen Rolle, die mir aufgedrungen wurde, da dachte ich, es stünde ihm besser an, wenn er sich durch eigne Kraft emporarbeitete. Ich glaube, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, würde ich es versucht haben, und hätte es gekostet, was es wollte. Aber bis zum Abend seiner Abreise nach Indien dachte ich nichts Schlimmes von ihm. An diesem Abend erst erfuhr ich, daß er ein falsches und undankbares Herz hat. Ich las damals in Mr. Wickfields forschendem Blick den Verdacht, der mein Leben verfinstern sollte.«

»Verdacht, Ännie!« sagte der Doktor. »Nein, nein, nein!«

»Du hegtest keinen, das weiß ich! Und als ich an jenem Abend zu dir kam, um meine ganze Last von Scham und Schmerz zu deinen Füßen niederzulegen, und fühlte, ich hätte dir zu beichten, daß unter deinem Dach einer meiner eignen Verwandten, dem du mir zuliebe ein Wohltäter gewesen warst, Worte zu mir gesprochen, die nie hätten fallen dürfen, selbst wenn ich das schwache und selbstsüchtige Geschöpf gewesen wäre, für das er mich hielt, – da schauderte ich vor der Befleckung zurück, die mir schon das bloße Erzählen hätte bringen müssen. Es starb auf meinen Lippen, und bis zu dieser Stunde habe ich es verschwiegen.«

Mit einem kurzen Stöhnen lehnte sich Mrs. Markleham in ihren Sessel zurück und flüchtete sich hinter ihren Fächer, als wollte sie nie wieder dahinter hervorkommen.

»Von jener Zeit an habe ich nie wieder ein Wort mit ihm darüber gesprochen. Jahre sind inzwischen vergangen. Alles, was du insgeheim für seine Beförderung tatest und mir dann erzähltest, um mich damit zu überraschen und zu erfreuen, war, das kannst du mir glauben, nur eine neue, schwere Bürde für mich.«

Sie sank zu den Füßen des Doktors hin, obgleich er alles tat, um sie daran zu verhindern, und sagte mit Augen voll Tränen:

»Unterbrich mich noch nicht. Nur noch ein paar Worte. Mag es Recht oder Unrecht gewesen sein, aber wenn es wieder geschehen würde, ich glaube, ich müßte abermals so handeln. Ich kann dir nicht sagen, was es hieß, dich zu lieben und dabei glauben zu müssen, man habe mich im Verdacht, dir meine Liebe verkauft zu haben. Ich war sehr jung und hatte keinen Berater. Zwischen Mama und mir lag in allem, was dich betraf, eine weite Kluft. Wenn ich mich in mich selbst zurückzog und die Geringschätzung, die mir widerfuhr, verbarg, so geschah es nur, weil ich dich so hoch hielt und so sehr wünschte, daß du mich in Ehren hieltest.«

»Ännie, mein reines, treues Herz!« sagte der Doktor. »Mein liebes Kind!«

»Nur ein paar Worte, ein paar Worte noch! Ich dachte oft, es gäbe so viele, die dir weniger Last und Unruhe gebracht und dein Heim zu einem würdigeren hätten machen können. Ich dachte mir manchmal, es wäre vielleicht besser gewesen, ich wäre deine Schülerin und Tochter geblieben. Ich fürchtete manchmal, ich paßte nicht zu deiner Gelehrtheit und zu deinem Wissen. Wenn ich alles über mich ergehen ließ, so tat ich es nur, weil ich dich so hoch hielt und hoffte, daß auch du mich eines Tages erkennen würdest.«

»Dieser Tag ist längst gekommen, Ännie«, sagte der Doktor.

»Ich wollte mit Standhaftigkeit allein die Last tragen, um die Unwürdigkeit eines Menschen zu verwischen, für den du so viel Gutes getan. Und jetzt ein letztes Wort, liebster und bester aller Freunde. Die Ursache der Veränderung, die ich mit so viel Schmerz und Kummer an dir bemerkt habe und die ich manchmal meiner alten Befürchtung zuschrieb und dann wieder Gründen, die der Wahrheit näherkamen, ist heute abends aufgeklärt worden, und durch einen Zufall habe ich auch heute die ganze Größe des hochherzigen Vertrauens, das du selbst in dieser Zeit des Mißverständnisses auf mich setztest, kennengelernt. Und mit dieser neuen Erfahrung kann ich zu diesem geliebten Gesicht emporschauen, das ich verehre als das Antlitz eines Vaters, liebe wie das eines Gatten und das mir heilig war in meiner Kindheit wie das eines Freundes, und feierlich erklären, daß ich, auch mit den leisesten Gedanken nicht, in der Liebe und Treue, die ich dir schulde, gewankt habe.«

Sie hatte ihre Arme um den Nacken des Doktors geschlungen, und er beugte sein Haupt über sie, und sein graues Haar vermischte sich mit ihren dunkelbraunen Flechten! »Drücke mich an dein Herz, mein Gatte, meine Liebe ist auf einen Felsen gebaut und sie dauert ewig.«

 

In dem Schweigen, das hierauf folgte, ging meine Tante ernsthaft und gemessen auf Mr. Dick zu, umarmte ihn und gab ihm einen schallenden Kuß. Es war ein Glück für sein Ansehen, daß sie das tat, denn ich weiß ganz bestimmt, daß er sich in diesem Augenblick gerade anschickte, in seinem Entzücken auf einem Bein zu balancieren.

»Sie sind ein höchst bemerkenswerter Mann, Dick«, sagte meine Tante mit einer Miene unbeschränkter Billigung, »und tun Sie nie, als ob Sie etwas anderes wären, denn ich weiß es besser!«

Damit zupfte sie ihn am Ärmel, nickte mir zu, und wir drei schlichen uns still aus dem Zimmer.

»Das ist jedenfalls eine gesunde Kur für unsern militärischen Freund«, sagte sie auf dem Nachhausewege, »schon deswegen würde ich heute fröhlich schlafen gehen.«

»Ich fürchte, sie war ganz vernichtet und gerührt«, wandte Mr. Dick voll Mitgefühl ein.

»Was! haben Sie jemals ein Krokodil gerührt gesehen?«

»Ich habe überhaupt noch kein Krokodil gesehen«, entschuldigte sich Mr. Dick mit Milde.

»Es wäre überhaupt nie etwas schiefgegangen, wenn nicht dieses alte Biest gewesen wäre«, sagte meine Tante mit starkem Nachdruck. »Es wäre sehr zu wünschen, daß manche Mütter ihre Töchter nach der Heirat in Frieden ließen und nicht so entsetzlich zärtlich gegen sie täten. Sie scheinen zu glauben, sie hätten das Recht, ein unglückliches Mädchen zu Tode peinigen zu dürfen, bloß weil sie es in die Welt gesetzt haben. Woran denkst du, Trot?«

Ich hatte darüber nachgedacht, was alles geschehen war. Die Worte Mrs. Strongs klangen mir noch in den Ohren: »Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen und die erste mißverstandne Regung eines unerfahrenen Herzens.«

 

Wir waren zu Hause, und die welken Blätter lagen unter unsern Füßen, und der Herbstwind wehte.

46. Kapitel Nachricht


46. Kapitel Nachricht

Ich muß etwa ein Jahr verheiratet gewesen sein, als ich an einem Abend, von einem Spaziergang zurückgekehrt, über den Roman, den ich damals schrieb, nachdenkend, an Mrs. Steerforths Haus vorüberkam. Da ich in der Nachbarschaft wohnte, war ich zuweilen diesen Weg, wenn auch nie gerne, gegangen.

Ich hatte nie mehr als einen flüchtigen Blick auf dieses Haus geworfen, und immer war es ziemlich düster und still gewesen. Keines der bessern Zimmer ging auf die Straße hinaus, und die kleinen altmodischen Fenster, immer fest zugemacht und mit zugezogenen Gardinen, machten einen unheimlichen Eindruck. Ich wüßte nicht, daß ich jemals ein Licht dahinter gesehen hätte.

An diesem Abend stiegen die Erinnerungen aus der Kinderzeit und den spätem Jahren, die Gespenster halb geborner Hoffnungen, die flüchtigen Schatten kaum gesehener und verstandner Täuschungen wieder vor mir auf. Ich war in tiefes Träumen versunken, als ich weiterging, da machte eine Stimme neben mir mich aufschrecken.

Es war eine Frauenstimme. Ich erkannte bald Mrs. Steerforths kleines Dienstmädchen wieder, das mich ansprach.

»Würden Sie so gut sein, Sir, hereinzukommen, um mit Miss Dartle zu sprechen?«

»Hat Miss Dartle zu mir geschickt?« fragte ich.

»Heute abend nicht, aber es ist ganz gleich. Miss Dartle sah Sie gestern und vorgestern vorbeigehen, und ich sollte Sie gelegentlich hereinrufen.«

Ich kehrte um und fragte meine Begleiterin unterwegs nach Mrs. Steerforths Befinden. Sie sagte, ihre Herrschaft befände sich nicht besonders wohl und hütete meistens das Zimmer.

Als ich in den Garten kam, sah ich Miss Dartle auf einer Bank am Ende einer Art Terrasse, die auf die große Stadt herabsah, sitzen. Es war ein dunkler Abend, und ein fahles Licht lag am Himmel, und wie ich den düstern Horizont ansah, aus dem hie und da ein größeres Gebäude in den unheimlichen Schimmer emporragte, da kam es mir vor, als sei es eine passende Umgebung für dieses leidenschaftliche Weib.

Sie bemerkte mich, als ich auf sie zukam, und stand einen Augenblick auf, um mich zu empfangen. Sie kam mir noch bleicher und hagerer vor als damals, als ich sie zuletzt gesehen, ihre Augen flackerten noch mehr, und die Narbe war noch deutlicher.

Unsere Begrüßung fiel keineswegs herzlich aus. Wir waren das letzte Mal im Zorn voneinander geschieden, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Verachtung, den zu verhehlen sie sich keine Mühe gab.

»Ich höre, Sie wünschten mit mir zu sprechen, Miss Dartle«, sagte ich, die Hände auf eine Stuhllehne gestützt, und lehnte ihre Einladung, mich zu setzen, ab.

»Allerdings, Mr. Copperfield. Sagen Sie, ist das Mädchen gefunden worden?«

»Nein.«

»Und doch ist sie weggelaufen!«

Ich sah, wie ihre schmalen Lippen sich zuckend bewegten, als ob sie danach lechzten, Emily mit Vorwürfen zu überhäufen.

»Weggelaufen?«

»Ja! Von ihm«, sagte Rosa Dartle mit einem kurzen Lachen. »Wenn sie noch nicht gefunden ist, wird man sie vielleicht überhaupt nicht finden. Vielleicht ist sie tot.«

Eine herausfordernde Grausamkeit lag in ihren Augen.

»Ihr den Tod zu wünschen«, sagte ich, »ist vielleicht der freundlichste Wunsch, den ein Wesen ihres eignen Geschlechts aussprechen kann. Es freut mich, daß die Zeit Sie so versöhnlich gestimmt hat.«

Miss Dartle ließ sich zu keiner Antwort herab, lächelte wieder höhnisch und sagte:

»Die Freunde dieser vortrefflichen und schwergekränkten jungen Dame sind ja auch Ihre Freunde; Sie verteidigen sie und verfechten ihre Rechte. Wollen Sie erfahren, was man von ihr weiß?«

»Ja.«

Sie stand mit einem bösen Lächeln auf, ging auf eine Hecke von Immergrün zu, die den Garten von den Gemüsebeeten trennte, und rief: »Herkommen!« – wie wenn sie ein unreines Tier riefe.

»Sie werden sich natürlich jeder demonstrativen Äußerung oder Rache enthalten, Mr. Copperfield?!« sagte sie und sah mich mit demselben höhnischen Ausdruck fragend an.

Ich verbeugte mich, ohne zu verstehen, was sie meinte, und wieder rief sie: »Herkommen!« und kehrte dann auf ihren Platz zurück, gefolgt von dem respektablen Mr. Littimer, der mir mit unverminderter Respektabilität eine Verbeugung machte und sich hinter ihr aufstellte. Die Miene dämonischer Grazie und des Triumphs, in dem, so seltsam es klingt, doch etwas Weibliches und Verführerisches lag, während sie ihren Platz zwischen uns einnahm und mich ansah, wäre einer grausamen Märchenprinzessin würdig gewesen.

»Erzählen Sie Mr. Copperfield von der Flucht«, sagte sie gebieterisch und legte den Finger diesmal eher aus Freude als aus Schmerz auf die alte Narbe.

»Mr. James und ich, Madam –«

»Sprechen Sie nicht zu mir«, unterbrach sie Littimer mit gerunzelter Stirn.

»Mr. James und ich, Sir –«

»Auch nicht zu mir gefälligst!« sagte ich.

Ohne im mindesten aus der Fassung zu kommen, gab Mr. Littimer mit einer leichten Verbeugung zu erkennen, daß alles, was uns genehm, auch ihm angenehm wäre, und fing von neuem an.

»Mr. James und ich waren mit dem Mädchen auf Reisen, seit sie unter Mr. James‘ Schutz Yarmouth verließ. Wir hielten uns an vielen Orten auf und haben vielerlei Länder gesehen. Wir waren in Frankreich, in der Schweiz, in Italien – kurz, fast überall.« Er sah die Stuhllehne an, als ob er zu ihr spräche, und spielte darauf leise mit den Fingern wie auf einem stummen Piano.

»Mr. James hing ganz ungewöhnlich an dem Mädchen und war lange Zeit beständiger, als ich ihn gekannt habe, seit ich in seine Dienste getreten bin. Das Mädchen zeigte sich sehr bildungsfähig und erlernte mehrere Sprachen, und niemand würde in ihr das einfache Fischermädchen wiedererkannt haben. Es fiel mir auf, daß sie überall, wohin wir kamen, sehr bewundert wurde.«

Miss Dartle legte ihre Hand an ihre Seite. Ich sah Littimer einen flüchtigen Blick auf sie werfen und verstohlen lächeln.

»Wirklich, außerordentlich bewundert wurde das Mädchen. War es ihre Toilette oder die sonnige Umgebung oder dies oder das, kurz, ihre Vorzüge erregten die allgemeine Aufmerksamkeit.«

Er machte eine kurze Pause. Miss Dartles Augen wanderten ruhelos über den fernen Horizont, und sie biß sich auf die Unterlippe, als ob sie dadurch die vorlaute Narbe zum Schweigen bringen wollte.

Mr. Littimer wechselte die Hände auf der Stuhllehne und fuhr mit niedergeschlagnen Armen, den respektablen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, fort:

»In dieser Weise lebte das Mädchen einige Zeit dahin, wobei sie dann und wann sehr niedergeschlagen war, bis sie Mr. James, wie ich glaube, durch ihre Gedrücktheit und schlechte Laune zu langweilen begann. Wenigstens stand die Sache nicht mehr so gut zwischen ihnen. Mr. James fing wieder an ruhelos zu werden, und je unruhiger er wurde, desto schlimmer wurde es mit ihr, und was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich wirklich zwischen den beiden ein recht schweres Leben hatte. Aber immer wieder kam die Sache ins Geleise, und die Geschichte dauerte länger, als man hätte erwarten sollen.«

Miss Dartle sah mich jetzt wieder mit ihrer frühern Miene an. Mr. Littimer räusperte sich mit vorgehaltner Hand, stützte sich auf das andre Bein und fuhr fort:

»Endlich, als im ganzen großen ziemlich viel Worte und Vorwürfe zwischen beiden gewechselt worden waren, machte sich Mr. James eines Morgens aus der Nähe von Neapel, wo wir eine Villa hatten ? das Mädchen liebte das Meer sehr –, auf und überließ es, unter dem Vorwand, in einigen Tagen zurückkehren zu wollen, mir, ihr zu eröffnen, er wäre in Berücksichtigung des Wohlseins aller Beteiligten abgereist. Mr. James benahm sich höchst ehrenhaft, denn er ließ dem Mädchen das Anerbieten machen, daß es eine sehr respektable Person heiraten sollte, die bereit war, das Geschehene zu vergessen, und zum mindesten eine ebenso gute Partie war wie irgendeine andere, die das Mädchen im gewöhnlichen Lauf der Dinge hätte erwarten können, denn sie stammte doch von sehr niederer Herkunft.«

Er stützte sich wieder auf das andere Bein und befeuchtete seine Lippen. Ich war überzeugt, daß der Schuft von sich sprach, und ich sah meine Überzeugung auch auf Miss Dartles Gesicht ausgeprägt.

»Dies also war ich beauftragt ihr mitzuteilen. Ich war bereit, alles zu tun, um Mr. James aus einer peinlichen Verlegenheit zu befreien und die Eintracht zwischen ihm und seiner zärtlichen Mutter, die seinetwegen so viel ausgestanden hatte, wiederherzustellen. Deshalb übernahm ich den Auftrag. Die Leidenschaftlichkeit des Mädchens, als ich ihr seine Abreise mitteilte, überstieg alle Erwartungen. Sie gebärdete sich wie wahnsinnig und mußte mit Gewalt festgehalten werden, sonst hätte sie sich den Kopf an dem Marmorfußboden eingeschlagen oder sich auf eine andere Weise getötet.«

In ihrem Sessel zurückgelehnt, schien Miss Dartle mit einem Glanz des Frohlockens in ihren Mienen fast die Töne zu liebkosen, wie sie aus dem Munde dieses Menschen kamen.

»Als ich zu dem zweiten Teil meines Auftrags kam«, sagte Mr. Littimer und rieb sich unruhig die Hände, »den doch jedermann als gut gemeint aufgefaßt hätte, da zeigte sich das Mädchen in ihrem wahren Licht. Eine heftigere Person ist mir noch nie vorgekommen! Ihr Benehmen war über die Maßen schlecht. Sie bewies nicht mehr Dankbarkeit, Gefühl, Geduld oder Verstand als ein Stock oder ein Stein. Wenn ich nicht auf der Hut gewesen wäre, ich bin überzeugt, es hätte mir das Leben gekostet.«

»Um so besser denke ich von ihr«, rief ich entrüstet.

Mr. Littimer senkte den Kopf, als wollte er sagen: »Meinen Sie wirklich? aber Sie sind wirklich noch sehr jung«, und fuhr in seinem Berichte fort. »Kurz, wir mußten eine Zeitlang alles aus ihrer Nähe entfernen, womit sie sich und andere Leute hätte verletzen können, und sie einsperren. Dennoch befreite sie sich eines Nachts, brach einen Fensterladen auf, den ich selbst zugenagelt hatte, ließ sich an einem Rebengeländer hinab, und seitdem hat man, soviel ich weiß, nichts wieder von ihr gehört.«

»Sie ist vielleicht tot«, sagte Miss Dartle mit einem Lächeln, als ob sie am liebsten die Leiche des armen Mädchens mit Füßen getreten hätte.

»Sie hat sich vielleicht ertränkt, Miss«, sagte Mr. Littimer, die Gelegenheit benützend, jemand anzureden. »Das ist sehr leicht möglich. Oder vielleicht haben ihr die Fischer und deren Frauen und Kinder beigestanden. Sie hatte ordinäre Leute gern und unterhielt sich sehr oft mit ihnen am Strande, Miss Dartle, und saß bei ihren Booten. Ich weiß, daß sie das manchmal, wenn Mr. James abwesend war, ganze Tage getan hat. Mr. James wurde sehr böse, als er einmal erfuhr, sie hätte den Kindern erzählt, sie sei eines Fischers Tochter und wäre vor langer, langer Zeit in ihrem Vaterlande wie sie am Strande umhergelaufen. Als es unzweifelhaft erschien, daß nichts mehr getan werden konnte, Miss Dartle –«

»Sagte ich Ihnen nicht, Sie sollten mich nicht anreden!« sagte Miss Dartle verächtlich.

»Sie sprachen zu mir, Miss«, entgegnete Littimer. »Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist meine Schuldigkeit zu gehorchen.«

»So tun Sie Ihre Schuldigkeit, erzählen Sie Ihre Geschichte zu Ende und gehen Sie.«

»Als es unzweifelhaft war«, fuhr Littimer mit unsäglicher Respektabilität und einer gehorsamen Verbeugung fort, »daß man sie nicht mehr auffinden konnte, begab ich mich zu Mr. James an den Ort, wohin ich ihm hätte schreiben sollen, und unterrichtete ihn von dem Vorfall. Infolgedessen kam es zu einem Wortwechsel zwischen uns, und ich glaubte es meinem Charakter schuldig zu sein, ihn zu verlassen. Ich konnte viel von Mr. James ertragen, doch er beleidigte mich zu sehr. Er verletzte mich. Da ich von dem unglücklichen Zwiespalt zwischen ihm und seiner Mutter wußte und mir vorstellen konnte, wie groß Mrs. Steerforths Sorge sein mußte, nahm ich mir die Freiheit, nach England zurückzukehren und zu berichten ?«

»Für Geld, das ich ihm bezahlte«, sagte Miss Dartle zu mir.

»Ganz recht, Madam, – und zu erzählen, was ich wußte. Ich glaube nicht«, sagte Mr. Littimer nach kurzem Nachdenken, »daß noch etwas zu berichten wäre. Ich bin augenblicklich ohne Beschäftigung und würde mich glücklich schätzen, eine respektable Stellung zu finden.«

Miss Dartle blickte mich fragend an, ob ich noch etwas zu wissen wünschte. Da mir eine Frage sehr auf dem Herzen lag, sagte ich:

»Ich möchte von dieser Kreatur« – ich konnte kein milderes Wort finden – »wissen, ob man einen Brief, der von ihrer Heimat aus an sie geschrieben wurde, unterschlagen hat, oder ob er angekommen ist.«

Littimer blieb ruhig und stumm stehen, die Augen auf den Boden geheftet, und paßte sorgfältig die Fingerspitzen der rechten Hand auf die seiner linken.

Miss Dartle drehte sich verächtlich nach ihm um.

»Ich bitte um Verzeihung, Miss«, sagte er, wie aus Nachdenken erwachend, »aber so untertänigst ich zu Ihren Diensten stehe, so habe ich doch eine gewisse Position zu wahren, wenn ich auch nur ein Bedienter bin. Mr. Copperfield und Sie, Miss, sind zwei ganz verschiedene Personen, und wenn Mr. Copperfield etwas von mir zu wissen wünscht, so möchte ich mir erlauben, Mr. Copperfield daran zu erinnern, daß er in diesem Fall eine Frage an mich zu richten hat. Ich muß meine Stellung wahren.«

Nach einiger Überwindung sah ich ihn an und sagte: »Sie haben meine Frage gehört. Nehmen Sie an, sie wäre an Sie gerichtet gewesen. Welche Antwort haben Sie darauf zu geben?«

»Sir«, entgegnete er und spielte wieder mit den Fingerspitzen, »meine Antwort kann keine direkte sein, denn es ist zweierlei, Mr. James an seine Mutter oder an Sie zu verraten. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß Mr. James den Empfang von Briefen, die leicht Niedergeschlagenheit und schlechte Stimmung erzeugt haben würden, begünstigt hätte; aber mehr als das möchte ich nicht gerne sagen.«

»Ist das alles?« fragte mich Miss Dartle.

Ich gab ihr zu verstehen, daß ich nichts weiter zu sagen hätte. Nur noch das eine setzte ich hinzu, als ich bemerkte, daß Littimer fortgehen wollte, nämlich, daß ich ihm bei der leicht zu durchschauenden Rolle, die er bei diesem Schurkenstreich gespielt habe, raten würde, sich nicht zu viel öffentlich blicken zu lassen, da ich dem Ehrenmann, unter dessen Obhut Emly seit Kindheit an gestanden, alles was ich erfahren, mitteilen würde.

Littimer war bei meinen Worten stehengeblieben und hatte mit seiner gewohnten Ruhe zugehört.

»Ich danke Ihnen, Sir, aber Sie werden entschuldigen, wenn ich Ihnen bemerke, Sir, daß es hierzulande weder Sklaven noch Sklavenaufseher gibt und daß es niemand erlaubt ist, sich auf eigene Faust Recht zu verschaffen. Wer es tut, tut es mehr auf seine als auf anderer Leute Kosten glaube ich. Ich kann daher ruhig sagen, daß ich mich durchaus nicht fürchte überall hinzugehen, wohin es mir beliebt.«

Mit diesen Worten machte er mir eine höfliche Verbeugung und eine zweite Miss Dartle und verschwand durch die Öffnung in der grünen Hecke, durch die er eingetreten war.

Miss Dartle und ich sahen einander eine Weile schweigend an; ihr Gesichtsausdruck war unverändert. »Er erzählte noch«, begann sie leicht ihre Lippen verziehend, »daß sein Herr an der spanischen Küste herumsegelt und dieses Schifferleben weiter führen will, bis er es satt hat. Aber das wird Sie wohl nicht interessieren. Zwischen diesen beiden stolzen Personen, Mutter und Sohn, besteht eine tiefere Kluft als je vorher, und es ist wenig Aussicht, daß sie sich je versöhnen werden, denn ihr Charakter ist im Grunde ein und derselbe und die Zeit macht beide nur hartnäckiger und schroffer. Auch das kann Ihnen gleich sein, aber es dient als Einleitung zu dem, was ich Ihnen noch zu sagen habe. Diese Kreatur, aus der Sie einen Engel machen wollen, ich meine das gemeine Mädchen, das er aus dem Schmutz des Strandes aufgelesen hat«, – sie sah mich mit ihren schwarzen Augen fest an – »ist vielleicht noch am Leben, – denn ich glaube, so niedrige Geschöpfe sterben schwer. Wenn sie noch am Leben ist, werden Sie wohl wünschen, diese unschätzbare Perle zu finden und zu beschirmen. Auch wir wünschen das, damit er nicht durch einen Zufall wieder ihre Beute wird. So weit vereinigt uns ein gemeinsames Interesse, und deshalb habe ich nach Ihnen geschickt, um Ihnen zu berichten, was Sie eben gehört haben.«

Ich bemerkte an der veränderten Miene ihres Gesichtes, daß jemand hinter mir stand. Es war Mrs. Steerforth.

Sie reichte mir ihre Hand mit größerer Kälte als früher und mit noch mehr Förmlichkeit, aber immer noch, wie ich zu meiner Rührung merkte, mit einer unauslöschlichen Erinnerung an meine alte Liebe zu ihrem Sohn. Sie hatte sich sehr verändert. Ihre vornehme Gestalt war nicht mehr so aufrecht, in ihrem schönen Gesicht lagen tiefe Furchen, und ihr Haar war fast weiß. Aber als sie Platz genommen hatte, sah sie immer noch schön aus, und ich erkannte das helle Auge mit dem stolzen Blick wieder, das mir schon in meinen Schulträumen ein Licht gewesen war.

»Weiß Mr. Copperfield alles, Rosa?«

»Ja.«

»Und hat er Littimer selbst gehört?«

»Ja, ich habe ihm gesagt, warum du es wünschtest.«

»Das ist schön von dir.«

»Ich habe einige flüchtige Briefe mit Ihrem früheren Freund gewechselt, Sir«, sagte sie jetzt zu mir, »aber er hat sich dadurch nicht bewogen gefühlt, seinen natürlichen Verpflichtungen nachzukommen. Deshalb nehme ich an der Angelegenheit nicht im größeren Maße teil, als Ihnen Rosa bereits gesagt hat. Wenn dadurch mein Sohn vor der Gefahr bewahrt werden kann, wieder in die Schlingen einer schlauen Gegnerin zu fallen, und es gleichzeitig das Herz des rechtschaffenen Mannes, den Sie hierherbrachten und der mir sehr leid tut – mehr kann ich nicht sagen –, erleichtern wird, so ist es gut.«

Sie richtete sich auf und sah gerade vor sich hin in die Ferne.

»Maam«, sagte ich respektvoll, »ich verstehe. Ich versichere Ihnen, daß Sie nicht in Gefahr kommen, Ihre Beweggründe falsch ausgelegt zu sehen. Aber ich, der diese schwergekränkte Familie von Kindheit an gekannt hat, muß hier doch bemerken, wenn Sie glauben, das so grausam betrogene Mädchen sei nicht auf das schmählichste hintergangen worden und würde nicht lieber hundert Mal sterben als jetzt ein Glas Wasser von der Hand Ihres Sohnes annehmen, so täuschen Sie sich entsetzlich.«

»Laß sein, Rosa, laß sein«, wehrte Mrs. Steerforth ab, als sich Miss Dartle hineinmischen wollte. »Es hat nichts zu sagen. Laß sein.«

»Ich höre, Sie sind verheiratet, Sir?«

Ich bejahte.

»Und Sie befinden sich wohl? Ich höre in meinem einsamen Leben wenig, aber ich habe vernommen, daß Sie auf dem besten Wege sind berühmt zu werden.«

»Ich habe sehr viel Glück gehabt und höre meinen Namen mit einigem Lobe nennen.«

»Sie haben keine Mutter mehr?« fragte sie mit milder Stimme.

»Nein.«

»Das ist schade. Sie würde stolz auf Sie sein. Gute Nacht!«

Ich ergriff ihre Hand, die sie mir mit würdevoller, kühler Miene darbot, und sie zitterte so wenig, als ob der stillste Friede in ihrer Brust geherrscht hätte. Die Frau konnte in ihrem Stolze selbst den Schlag ihres Pulses regeln und den Schleier der Ruhe über ihr Antlitz breiten.

Als ich über die Terrasse schritt, fiel mir auf, wie starr die beiden hinaus auf die Aussicht blickten und wie der Horizont immer trüber und dunkler wurde. Hier und da fingen einige Lichter in der fernen Stadt vorzeitig an zu blinken, und am westlichen Himmel erhielt sich immer noch der fahle Schein. Aber aus dem größeren Teil des breiten Tales dazwischen stieg ein Nebel empor gleich einem Meer, der, sich mit der Finsternis vermischend, aussah wie anschwellende Wogen. Ich habe Grund mich daran zu erinnern und denke daran mit Grauen, denn als ich die beiden später wiedersah, hatte sich rings um sie eine stürmische See erhoben.

 

Ich fühlte bald bei näherem Nachdenken, daß ich Mr. Peggotty von dem Erfahrenen Mitteilung machen müßte.

Am nächsten Abend ging ich nach London, um ihn aufzusuchen. Er wanderte immer noch von Ort zu Ort, um seine Nichte wiederzufinden, aber er hielt sich öfter in London als anderswo auf. Zuweilen hatte ich ihn in stiller Nacht durch die Straßen wandern sehen, wo er unter den wenigen Gesichtern, die in so später Stunde noch unterwegs waren, das suchte, was zu finden er sich fürchtete.

Er hatte noch immer seine Wohnung über dem kleinen Wachszieherladen auf dem Hungerford Market inne.

Als ich dort nach ihm fragte, erfuhr ich von den Hausleuten, daß er noch nicht ausgegangen sei und oben in seinem Zimmer säße.

Ich fand ihn mit Lesen beschäftigt an einem Fenster sitzen, vor dem einige Topfpflanzen standen.

Das Zimmer war sehr sauber und ordentlich gehalten. Ich sah im Augenblick, daß er immer zu Emlys Aufnahme bereit war und wohl nie ohne den Gedanken ausging, sie möglicherweise heimbringen zu können.

Er hatte mein Klopfen überhört und blickte erst auf, als ich die Hand auf seine Schulter legte.

»Masr Davy! Danke Ihnen, Sir. Danke Ihnen herzlich für diesen Besuch. Setzen Sie sich. Sie sind willkommen, Sir!«

»Mr. Peggotty«, sagte ich und nahm den Stuhl an, den er mir anbot, »machen Sie sich nicht auf viel gefaßt, aber ich habe Nachricht.«

»Von Emly!«

Er legte die Hand krampfhaft auf den Mund und wurde blaß.

»Sie gibt uns zwar keinen Anhalt über ihren Aufenthaltsort, aber Emly ist nicht mehr – bei ihm.«

Er setzte sich nieder und hörte im tiefsten Schweigen meine Erzählung an. Ich erinnere mich noch gut des Eindrucks von Würde und sogar von Schönheit, den der geduldige Ernst seines Gesichtes auf mich machte, als er vor sich niedersah, die Stirn auf die Hand gestützt. Er unterbrach mich nicht mit einem Wort. Er schien Emlys Gestalt durch meine Erzählung hindurch zu verfolgen und jede andere achtlos vorbeigehen zu lassen. Als ich fertig war, hielt er die Hände vors Gesicht und blieb stumm. Ich sah eine kurze Weile aus dem Fenster und beschäftigte mich mit den Topfpflanzen.

»Was ist Ihre Meinung darüber, Masr Davy?« fragte er endlich.

»Ich glaube, sie ist am Leben.«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht war der erste Schlag zu hart, und in der Verzweiflung ihres Herzens –! Das blaue Meer, von dem sie so oft sprach –! Hat es ihr vielleicht so viele Jahre deswegen im Kopfe gespukt, weil es ihr Grab werden sollte? –«

Er sagte dies nachdenklich mit leiser erschrockener Stimme und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab.

»Und doch, Masr Davy, habe ich so bestimmt im Wachen und im Schlaf gewußt, daß ich sie finden werde, und der Gedanke hat mich so aufrechterhalten und gestärkt, daß ich nicht glauben kann, ich hätte mich geirrt. Nein! Emly lebt!«

Er legte die Hand fest auf den Tisch, und sein sonnverbranntes Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an.

»Meine Nichte Emly lebt, Sir«, sagte er in bestimmtem Tone. »Ich weiß nicht, woher es kommt oder wie es ist, aber etwas sagt mir jetzt wieder, sie lebt!«

Er sah fast wie ein Inspirierter aus bei diesen Worten. Ich wartete einige Augenblicke, bis er mir ungeteilte Aufmerksamkeit schenken konnte, und dann setzte ich ihm auseinander, welche Vorsichtsmaßregeln wir ergreifen müßten, wenn wir sie aufsuchten. »Zuerst, alter Freund«, fing ich an –

»Ich danke Ihnen so sehr, lieber Herr«, unterbrach er mich und faßte meine Hand.

»– wenn sie nach London kommen sollte, was sehr wahrscheinlich ist – denn wo könnte sie sich besser verbergen als in dieser Ungeheuern Stadt und was sollte sie anders tun, als sich verbergen, wenn sie nicht nach Haus geht –«

»Und sie wird nicht nach Hause gehen«, fiel er ein und schüttelte traurig den Kopf. »Wenn sie aus eignem freien Willen zurückgekommen wäre, ja, vielleicht; aber so nicht!«

»Wenn sie hierher kommt, so glaube ich, daß eine ganz bestimmte Person sie leichter auffinden kann als jede andere in der Welt. Erinnern Sie sich – hören Sie mich mit Fassung an und denken Sie an Ihr großes Ziel – erinnern Sie sich an Marta?«

»Aus unserer Stadt?«

Ich bedurfte keiner andern Antwort als seines Gesichtsausdruckes.

»Wissen Sie, daß sie in London ist, Mr. Peggotty?«

»Ich habe sie auf der Straße gesehen«, antwortete er mit einem Schauer.

»Aber Sie wissen nicht, daß Emly mit Hams Hilfe ihr eine Wohltat erwies. Auch nicht, daß Marta an der Tür lauschte an jenem Abend, als wir im Gasthaus miteinander sprachen!«

»Masr Davy«, entgegnete er erstaunt. »An jenem Abend, als es so stark schneite?«

»An jenem Abend. Ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen. Als Sie gegangen waren, wollte ich sie aufsuchen, aber sie war fort. Ich wollte damals Ihnen gegenüber nichts davon erwähnen und tue es auch heute nicht gern, aber ich glaube, wir sollten uns mit ihr in Verbindung setzen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Nur zu gut, Sir!«

Wir hatten unsere Stimmen fast bis zum Flüstern gedämpft und sprachen leise weiter.

»Sie sagen, Mr. Peggotty, Sie hätten sie gesehen. Glauben Sie wohl, Sie könnten sie auffinden?«

»Ich glaube, ich weiß, wo sie zu suchen ist, Masr Davy.«

»Es ist dunkel. Wollen wir nicht, da wir schon einmal beisammen sind, miteinander fortgehen und den Versuch machen, sie zu finden?«

Er stimmte bei und machte sich fertig, mit mir zu gehen. Ohne es merken zu lassen, beobachtete ich, wie sorgfältig er das Zimmer in Ordnung brachte, das Bett glattstrich und zuletzt aus einem Kasten eins von Emlys Kleidern herausnahm und es nebst andern und einem Hut auf einen Stuhl legte. Er sagte nichts weiter darüber und auch ich nicht. Wohl so manchen Abend mochten sie schon auf Emly gewartet haben, diese Kleider!

»Es gab einmal eine Zeit, Masr Davy«, sagte er, als wir die Treppe hinuntergingen, »wo mir diese Marta wie Schlamm unter meiner Emly Füßen vorkam. Gott verzeih mir, wie anders ist das jetzt!«

Als wir die Straße entlanggingen, fragte ich ihn nach Ham, teils, um ihn im Gespräch zu erhalten, teils aus Bedürfnis. Er sagte mir fast mit denselben Worten, wie einstmals, daß Ham immer noch das gleiche Leben führe.

Ich fragte ihn, ob er wisse, wie Ham über die Urheber seines Unglücks denke und was er wohl tun würde, wenn er jemals mit Steerforth zusammentreffen sollte.

»Das weiß ich nicht, Sir. Ick hew manchmal drüwer nachdacht, awer ick weet dat nich.«

»Entsinnen Sie sich noch«, fragte ich, »wie verstört und aufgeregt er damals an jenem Morgen nach Emlys Flucht auf das Meer hinausblickte und von einem Ende sprach?«

»Gewiß, gewiß, Sir.«

»Was meinen Sie wohl, wollte er damit sagen?«

»Masr Davy, ich habe mich das schon viele Male selber gefragt und keine Antwort darauf gefunden. Er hat nie anders zu mir gesprochen, als wie es sich für einen gehorsamen Sohn gehört, aber wo diese Gedanken in seiner Seele liegen, da ist tiefes Wasser, Sir, und ich kann nicht auf den Grund sehen.«

»Sie haben recht«, sagte ich, »und das hat mich manchmal besorgt gemacht.«

»Auch mich, Masr Davy! Mehr noch als die sonstige Veränderung in seinem Wesen. Ich weiß nicht, ob er ihm etwas antun würde, aber ich hoffe, die beiden werden nie mehr zusammenkommen.«

 

Wir waren in der innern Stadt angelangt. Stumm neben mir herschreitend, gab er sich ganz dem einen Ziel seines Lebens hin und ging seines Wegs mit einer Konzentration seiner Gedanken, die ihn auch mitten im Menschengewühl zum einsamen Wanderer gemacht haben würde. Wir waren nicht weit von der Blackfriars-Brücke entfernt, als er mich ansah und auf eine einsame weibliche Gestalt deutete, die auf der andern Seite langsam die Straße entlangging. Ich erkannte sie sofort als die Gesuchte. Wir gingen über die Straße hinüber auf sie zu, als mir einfiel, daß ihr es vielleicht lieber wäre, wenn wir sie an einem stillen Ort, wo wir weniger beobachtet sein würden, anredeten. Ich riet daher meinem Gefährten, daß wir sie jetzt nicht ansprechen, sondern ihr nachgehen sollten; dabei bestimmte mich zugleich etwas wie ein unklarer Wunsch, zu erfahren, wohin sie wohl ginge.

Wir folgten ihr in einiger Entfernung und trugen Sorge, sie nie aus den Augen zu verlieren, da wir ihr nicht zu nahe kommen durften und sie sich öfters umsah.

Einmal blieb sie stehen, um einer Musikbande zuzuhören. Dann wanderte sie durch viele viele Straßen, aber unermüdlich folgten wir ihr.

Aus der Art ihres Ganges war leicht zu erkennen, daß sie ein bestimmtes Ziel vor sich hatte. Dies, dann der Umstand, daß sie in den belebten Straßen blieb, und vielleicht auch eine seltsame Freude an der geheimnisvollen Weise, mit der wir ihr folgten, ließen mich auf meinem ersten Vorsatz beharren.

Endlich lenkte sie in eine dunkle stille Straße ein, wo weder Lärm noch Gedränge war, und ich sagte: »Hier können wir sie anreden.«

Wir beschleunigten unsere Schritte.

47. Kapitel Marta


47. Kapitel Marta

Wir befanden uns jetzt in Westminster. Wir hatten umkehren müssen, da sie uns entgegengekommen war. Bei der Westminster-Abtei hatte sie das Licht und das Geräusch der Hauptstraßen verlassen. Sie ging so rasch, als sie aus dem Menschenstrom, der von der Brücke kam, heraus war, daß wir sie erst am engen Flußarm bei Millbank erreichten. In diesem Augenblick bog sie über die Straße hinüber, als ob sie vor den Schritten fliehen wollte, die sie so dicht hinter sich hörte, und ging, ohne sich umzusehen, noch schneller.

Durch einen finstern Torweg, in dem einige Frachtwagen standen, konnte ich plötzlich den Fluß sehen, und ich hatte die Empfindung stehenbleiben zu müssen. Ich legte die Hand auf den Arm meines Gefährten, und wir beide hielten uns stumm auf der andern Seite der Straße und im Schatten der Häuser.

Zu jener Zeit stand am Ende dieser tief am Fluß unten liegenden Straße ein halbverfallenes kleines Holzgebäude; wahrscheinlich ein altes Fährhaus. Als sie dort angekommen war, blieb sie stehen, als sei sie am Ziele, und ging langsam am Ufer hin und blickte in die Wellen.

Bis jetzt hatte ich immer geglaubt, sie ginge in eine Wohnung, und die dunkle Hoffnung gehegt, daß das Haus mit der, die wir suchten, in irgendeiner Beziehung stehen könnte. Aber der eine Blick auf den dunkeln Fluß durch den Torweg hindurch hatte mich unwillkürlich darauf vorbereitet, daß Marta nicht weitergehen werde.

Die Umgebung war zu jener Zeit höchst öde, – so unheimlich, traurig und einsam bei Nacht wie irgendeine um London herum. Weder Werften noch Häuser lagen auf dem unheimlich wüsten Weg in der Nähe des großen Gefängnisses. Ein schmutziger Graben lief an der Mauer entlang, schilfartiges Gras und Unkraut überwucherten das sumpfige Land in der Nähe. Auf einer Seite zerfallene Häuserleichen, die, unter ungünstigen Verhältnissen begonnen, nie zu Ende gebaut worden waren, dann wieder der Boden bedeckt mit verrosteten eisernen Ungeheuern von Dampfkesseln, Rädern, Kurbeln, Röhren, Ankern, Taucherglocken. Windmühlflügel und andere fremdartige Gegenstände, von einem Spekulanten hier aufgehäuft, lagen in Schmutz und Staub herum und schienen sich, durch ihr Gewicht halb eingesunken, in dem nassen Boden verstecken zu wollen. Gerassel und die rote Lohe von verschiedenen Schmiedewerken am Ufer störten den nächtlichen Frieden und alles, ausgenommen den schweren dicken Rauch, der sich aus ihren Essen wälzte. Schlüpfrige Gänge und Fußpfade, die sich zwischen alten hölzernen Pfeilern hindurchwanden, an denen widerliche schlammige Gewächse hingen wie grünes Haar, und die Fetzen alter Plakate, die Finderlohn für Ertrunkene aussetzten, führten durch Schlamm und Kot zum Wasserspiegel, wenn Ebbe war. Es ging die Sage, daß eine große Pestgrube sich hier befände, und schon die Nähe derselben schien einen giftigen Hauch über den ganzen Ort zu verbreiten.

Marta ging zögernd hinunter zum Rande des Flusses und stand inmitten dieses Nachtbildes, als wäre sie ein Teil des Auswurfes, den der Strom zu Verfall und Verwesung ans Ufer geschwemmt, einsam und stumm da und schaute auf das Wasser. Einige Boote und Jollen lagen im Schlamm, und ihre Schatten setzten uns instand, ihr auf wenige Schritte nahe zu kommen, ohne gesehen zu werden. Ich gab Peggotty ein Zeichen, stehenzubleiben, und trat hervor, um sie anzureden. Ich näherte mich der einsamen Gestalt nicht ohne ein gewisses Bangen, denn dieses düstere Ziel ihres entschlossenen Ganges und die Art, wie sie dastand, fast eingehüllt in den höhlenartigen Schatten der eisernen Brücke, und auf die in der starken Strömung kraus zitternden Lichter sah, flößten mir Angst ein.

Sie schien mit sich selbst zu sprechen. Der Schal war von ihren Schultern gefallen, und sie rang und knotete ihn in der Hand in einer sonderbaren verstörten Weise, fast wie eine Nachtwandlerin. Es lag etwas in ihrem Wesen, was mir die Furcht einflößte, sie könnte vor meinen Augen versinken, ehe es mir gelingen würde ihren Arm zu fassen.

In diesem Augenblick rief ich: »Marta!«

Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus und rang mit mir mit solcher Kraft, daß ich kaum glaube, ich hätte sie allein bewältigen können. Aber eine stärkere Hand als die meine faßte sie an der Schulter, und als sie erschrocken aufblickte und sah, wer es war, machte sie nur noch einen schwachen Versuch und sank dann zwischen uns zusammen. Sie weinte und stöhnte, und wir trugen sie weg vom Wasser zu einigen trockenen Steinen hin. Nach einer kleinen Weile setzte sie sich aufrecht und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Ach der Strom!« rief sie leidenschaftlich. »Ach der Strom!«

»Still, still«, sagte ich, »beruhigen Sie sich!«

Aber sie wiederholte immer wieder und wieder die Worte: »Ach der Strom!«

»Ich weiß wohl, er gleicht mir«, rief sie aus. »Ich weiß, daß ich ihm angehöre. Ich weiß, daß er die natürliche Zuflucht von solchen Geschöpfen ist, wie ich bin. Er kommt vom frischen grünen Lande her, wo nichts Schlechtes in ihm war, und jetzt schleicht er durch die dunklen Straßen, besudelt und elend, – und verschwindet wie mein Leben in einem großen Meer, das nie zur Ruhe kommt, – und ich fühle, daß ich mit ihm gehen muß.«

Ich habe nie in Worten eine tiefere Verzweiflung gehört als in diesen.

»Ich kann mich nicht fern von ihm halten, ich muß an ihn denken Tag und Nacht. Er ist das einzige auf der Welt, für das ich passe und das für mich paßt. Ach, der schreckliche Strom!« jammerte sie.

Als ich auf das Gesicht meines Begleiters, das stumm und bewegungslos auf sie herabsah, blickte, hätte ich darin die Geschichte seiner Nichte lesen können, auch wenn ich ein Fremder gewesen wäre. Noch niemals habe ich in einem Antlitz Entsetzen und Mitleid so deutlich ausgeprägt gesehen. Er zitterte, als wollte er zusammenbrechen; sein Aussehen beunruhigte mich, ich faßte seine Hand, und sie war totenkalt.

»Sie ist nicht bei sich!« flüsterte ich ihm zu. »In einer kurzen Weile wird sie anders sprechen.«

Ich weiß nicht, was er mir antworten wollte. Seine Lippen bewegten sich, und er schien zu glauben, er habe gesprochen; aber er hatte nur mit seiner ausgestreckten Hand auf sie gedeutet.

Marta fing wieder heftig zu weinen an und verbarg das Gesicht auf den Steinen und lag vor uns, ein Bild der Erniedrigung und des Elends. Wir standen schweigend neben ihr, bis sie ruhiger wurde. Dann schien sie aufstehen und fortgehen zu wollen, und ich half ihr; aber sie war zu schwach und mußte sich an ein Boot lehnen.

»Wissen Sie, wer mein Begleiter ist?« fragte ich.

»Ja«, sagte sie mit matter Stimme.

»Wissen Sie, daß wir Ihnen heute abend schon lange nachgegangen sind?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie sah weder ihn noch mich an, sondern stand demütig vor uns, Hut und Schal in der einen Hand, die andere geballt an die Stirn gedrückt.

»Sind Sie gefaßt genug«, fragte ich, »über den Gegenstand zu sprechen, der Sie an jenem Abend, als es so schneite, so interessierte?«

Sie fing von neuem an zu schluchzen und gab mit einigen unartikulierten Tönen ihrem Dank Ausdruck, daß ich sie damals nicht von der Türe gewiesen hatte.

»Ich will nicht für mich sprechen«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »ich bin verdorben und verloren. Ich habe keine Hoffnung mehr. Aber sagen Sie ihm, Sir«, – sie war scheu vor Mr. Peggotty zurückgewichen »wenn Sie mich nicht zu sehr verachten, daß ich in keiner Weise die Ursache seines Unglücks gewesen bin.«

»Es ist Ihnen nie zugeschrieben worden«, erwiderte ich mit gleichem Ernst wie sie.

»Sie waren es, wenn ich mich nicht irre«, fuhr sie mit gebrochener Stimme fort, »der an jenem Abend, wo sie sich meiner so erbarmte, in die Küche kam, wo sie so freundlich zu mir war und nicht vor mir zurückschreckte wie die übrigen und mich so voll Liebe unterstützte; waren Sie das nicht, Sir?«

»Ja.«

»Ich hätte mich längst in den Fluß gestürzt«, sagte sie mit einem Blick voll Entsetzen auf die Wellen, »wenn ein Unrecht gegen sie mir auf der Seele gelegen hätte.«

»Die Ursache ihrer Flucht ist nur zu gut bekannt«, sagte ich, »Sie tragen nicht die geringste Schuld, das glauben wir und wissen wir.«

»Sie sprach nie ein Wort zu mir, das nicht gut und recht war. Wie hätte ich je versuchen sollen, sie zu meinesgleichen zu machen, wo ich nur zu gut weiß, was ich selbst bin. Als ich alles verlor, was das Leben kostbar macht, da war der grausamste aller meiner Gedanken der, daß ich jetzt auf ewig von ihr getrennt sein müßte.«

Mr. Peggotty, auf den Bord des Bootes gestützt und die Augen niedergeschlagen, bedeckte sein Gesicht.

»Als ich damals von Leuten aus unserer Stadt von dem Unglück erfuhr, da war mein allerbitterster Gedanke der, man würde sich daran erinnern, daß sie einst mit mir verkehrte, und sagen, ich hätte sie verdorben, während ich doch, der Himmel weiß es, gern gestorben wäre, wenn ich ihr damit ihren guten Namen hätte wiedergeben können.«

Der Ausbruch ihrer Reue und ihres Schmerzes war schrecklich anzusehen.

»Zu sterben hätte für mich nicht viel bedeutet – was sage ich – ich wäre leben geblieben. Ich hätte mein Leben zu Ende gelebt in den schmutzigen Straßen, um, von allen gemieden, in der Nacht umherzustreifen und den Tag anbrechen zu sehen über den grauen Dächern und zu denken, daß dieselbe Sonne einst in mein Zimmer schien und mich einst aufweckte; selbst das hätte ich getan, um sie zu retten.«

Wieder zusammengesunken nahm sie ein paar Steine in jede Hand und quetschte sie zusammen, als wollte sie sie zermalmen. Und immer wieder veränderte sie wie in Krämpfen ihre Stellung: Sie streckte die Arme von sich, rang sie vor dem Gesicht, als wollte sie von ihren Augen die wenigen Lichtstrahlen ausschließen, und senkte den Kopf wie unter der Last unerträglicher Erinnerungen.

»Was soll ich nur anfangen«, rief sie, mit ihrer Verzweiflung kämpfend. »Wie kann ich fortleben, wie ich bin, ein Fluch für mich selbst, eine lebende Schmach für jeden, dem ich zu nahe komme!«

Plötzlich wendete sie sich an Mr. Peggotty: »Zertreten Sie mich, erschlagen Sie mich! Als sie Ihr Stolz war, hätten Sie geglaubt, ich besudle sie, wenn ich sie auf der Straße mit meinem Kleide gestreift hätte. Sie können ja keine Silbe glauben, die ich spreche! … Sie können es nicht! Selbst jetzt würden Sie es wie eine brennende Schmach empfinden, wenn sie und ich ein Wort miteinander sprächen. Ich beklage mich nicht! Ich sage nicht, daß sie und ich etwas miteinander gemein haben, – ich weiß, daß ein großer, großer Abstand zwischen uns liegt. Ich sage nur mit der ganzen Last meiner Verkommenheit auf dem Herzen, daß ich ihr dankbar bin von ganzer Seele und sie liebe. O, glauben Sie nicht, daß die Kraft, ein Wesen zu lieben, ganz ausgestorben in mir ist. Stoßen Sie mich von sich, wie es die ganze Welt tut. Erschlagen Sie mich, weil ich so verkommen bin und sie jemals gekannt habe, aber denken Sie das nicht von mir!«

Wie sie so flehentlich bat, sah er sie mit wildem, verstörtem Blick an und hob sie sanft auf, als sie schwieg.

»Marta!« sagte er, »Gott verhüte, daß ich mich zu Ihrem Richter aufwerfen sollte, liebes Kind. Sie wissen nicht zur Hälfte, wie ich im Lauf der Zeit anders geworden bin, wenn Sie das für möglich halten.«

Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Sie wissen nicht, warum dieser Herr und ich mit Ihnen sprechen möchten. Sie wissen nicht, was wir damit bezwecken. Hören Sie mich an!«

Sein Einfluß bannte sie vollständig. Sie stand demütig vor ihm und fürchtete sich, ihm in die Augen zu sehen, aber ihr leidenschaftlicher Schmerz hatte sich gelegt, und sie schwieg.

»Wenn Sie an jenem Abend, wo es schneite, etwas von dem gehört haben, was ich Master Davy erzählte, so wissen Sie, daß ich weit, weit weggewesen bin, um meine liebe Nichte zu suchen. Meine liebe Nichte«, wiederholte er mit fester Stimme. »Denn ich liebe sie jetzt mehr, Marta, als je zuvor!«

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und sprach kein Wort.

»Ich weiß noch, sie hat von Ihnen erzählt«, sagte Mr. Peggotty, »da Sie von Kindheit an eine Waise gewesen sind und kein Freund sich Ihrer in rauher Seemannsweise annahm. Vielleicht können Sie fühlen, wenn Sie einen Freund gehabt haben würden, daß Sie ihn im Lauf der Zeit lieb gewonnen hätten, und daß meine Nichte mir wie eine Tochter war.«

Wie Marta stumm und zitternd dastand, hüllte er sie sanft in ihren Schal ein, den er zu diesem Zweck aufgehoben hatte.

»Ich weiß«, sagte er, »daß sie bis ans Ende der Welt mit mir ginge, wenn sie mich wiedersehen würde, aber auch bis ans fernste Ende der Welt fliehen würde, um sich vor mir zu verbergen. Wenn sie auch gewiß nicht an mir zweifelt – nein, das tut sie nicht –« wiederholte er mit einem ruhigen Vertrauen, »so mischt sich doch die Scham hinein und hält uns auseinander.«

Ich sah in jedem Worte seiner einfachen eindrucksvollen Rede einen Beweis, wie gründlich und von jedem Gesichtspunkte aus er alles überdacht und sich überlegt hatte.

»Nach Masr Davys und meinem Dafürhalten muß sie einmal ihr einsamer Weg nach London führen. Wir wissen, Masr Davy, ich und wir alle, daß Sie so unschuldig an ihrem Unglück sind wie ein neugebornes Kind. Sie sagten vorhin, daß sie gut und freundlich und herzlich gegen Sie war. Gott segne sie! So war sie! So war sie immer gegen alle. Sie sind ihr dankbar und lieben sie. Helfen Sie uns, sie zu finden, und der Himmel wird es Ihnen lohnen.«

Marta sah ihn hastig an, als ob sie an der Richtigkeit dessen, was sie hörte, zweifle.

»Sie wollen mir vertrauen?« fragte sie mit leiser erstaunter Stimme.

»Ganz und gar«, sagte Mr. Peggotty.

»Ich soll sie anreden, wenn ich sie finden sollte, sie zu mir nehmen, wenn ich selbst ein Obdach habe, und dann, ohne daß sie es erfährt, zu Ihnen kommen und Sie zu ihr führen?« fragte sie hastig.

»Ja«, antworteten wir beide.

Sie erhob die Augen und erklärte feierlich, daß sie sich mit allem Eifer und getreulichst dieser Aufgabe widmen wolle und darin ausharren, solange noch eine Spur von Hoffnung vorhanden sei. Und wenn sie diesem Vorsatz nicht treu bliebe, so möge alle Hilfe, menschliche und göttliche, sie für alle Zeiten verlassen.

Sie hauchte es so leise, daß man es kaum hören konnte, und sprach nicht zu uns, sondern zu dem Nachthimmel empor; dann blieb sie ruhig und stumm stehen und blickte auf das dunkle Wasser hinaus.

Wir hielten es für angezeigt, ihr alles, was wir wußten, ausführlich zu erzählen. Sie hörte mit größter Aufmerksamkeit zu. Ihre Augen füllten sich manchmal mit Tränen, aber sie beherrschte sich. Es schien, als wäre ihr Geist ganz verändert und voll tiefster Ruhe.

Als wir ihr alles erzählt hatten, fragte sie, wohin sie uns Mitteilungen machen könnte, wenn sich Veranlassung dazu ergeben sollte. Unter einer trüben Laterne am Weg schrieb ich unsere beiden Adressen auf ein Blatt meines Taschenbuchs, riß es heraus, und sie steckte es hinter ihr ärmliches Busentuch. Ich fragte sie, wo sie wohne. Nach einer kurzen Pause sagte sie, an keinem Orte lange. Es sei besser für uns, es nicht zu wissen.

Da Mr. Peggotty mir etwas zuflüsterte, was mir selbst auch schon eingefallen war, zog ich meine Börse heraus; aber ich konnte sie nicht bewegen, Geld anzunehmen und ihr auch kein Versprechen abringen, daß sie es ein andermal tun wollte. Ich stellte ihr vor, daß Mr. Peggotty für einen Mann seines Standes nicht arm genannt werden könnte, und daß der Gedanke, ihr diesen Auftrag zu geben, während sie ganz hinsichtlich ihres Erwerbes auf ihre eignen Kräfte angewiesen sei, uns beide verletzte. Sie blieb unerbittlich. In dieser Hinsicht war Mr. Peggottys Einfluß auf sie nicht größer als meiner. Sie dankte ihm herzlich, blieb aber fest.

»Vielleicht bekomme ich Arbeit«, sagte sie. »Ich will es versuchen.«

»Nehmen Sie wenigstens inzwischen eine Hilfe an«, drängte ich.

»Ich könnte das, was ich versprochen habe, nicht um Geld tun! Ich könnte es nicht annehmen, und wenn ich verhungern müßte! Mir Geld geben, hieße mir Ihr Vertrauen entziehen, das Ziel wegnehmen, das Sie mir vorgesteckt haben, den einzigen Halt wegnehmen, der mich noch vor dem Flusse rettet.«

»Im Namen des großen Richters«, sagte ich, »vor dem wir alle einst stehen müssen, geben Sie Ihren entsetzlichen Gedanken auf. Wir alle können Gutes tun, wenn wir wollen.«

Sie zitterte und ihre Lippen bebten und ihr Gesicht wurde noch blässer, als sie antwortete: »Ihnen ist es vielleicht ins Herz gelegt worden, ein unglückliches Geschöpf zu retten, aber ich kann den Gedanken nicht fassen; es kann doch gar nicht sein. Wenn ich noch etwas Gutes tun könnte, dürfte ich wieder hoffen. Von meinen Taten ist bis jetzt nur Unheil gekommen. Das erste Mal wird mir jetzt etwas anvertraut. Ich sage weiter nichts und kann weiter nichts sagen.«

Sie unterdrückte ihre Tränen, streckte ihre zitternde Hand aus und berührte Mr. Peggotty, als ob eine heilende Kraft von ihm ausginge.

Wahrscheinlich war sie lange krank gewesen. Wie ich sie näher ansah, bemerkte ich, daß sie elend und abgemagert war und ihre tief eingesunkenen Augen von Entbehrung und Mangel Zeugnis ablegten.

Wir folgten ihr eine kleine Strecke, denn unser Weg führte uns in derselben Richtung, bis wir in die helleren und belebten Straßen kamen. Ich setzte so unbedingtes Vertrauen in sie, daß ich jetzt Mr. Peggotty fragte, ob es nicht wie Mißtrauen aussähe, wenn wir ihr länger folgten. Er war derselben Meinung, und so ließen wir sie ihres Weges gehen und schlugen die Straße nach Highgate ein. Er begleitete mich eine Strecke, und als wir mit einem Gebet um den Erfolg dieses neuen Versuchs schieden, lag ein Ausdruck gedankenvoller Teilnahme auf seinem Gesicht, den ich mir wohl zu deuten wußte.

 

Es war Mitternacht, als ich zu Hause ankam. Ich stand an meiner Gartentür und horchte auf die tiefen Töne der Glocken der St.-Pauls-Kirche, die lauter als die andern dröhnten, als ich zu meiner Überraschung das Gartentor meiner Tante offenstehen und ein schwaches Licht über den Weg scheinen sah.

Ich glaubte, meine Tante sei vielleicht wieder in Angst wegen einer eingebildeten Feuersbrunst und wollte sie beruhigen gehen. Zu meinem großen Erstaunen sah ich aber einen Mann in ihrem kleinen Garten stehen.

Er hatte ein Glas und eine Flasche in der Hand und trank. Ich hielt mich hinter der dichten Hecke, denn der Mond schien jetzt hinter den Wolken hervor, und ich erkannte den Mann, den ich früher für ein Phantasiegebilde Mr. Dicks gehalten und später mit meiner Tante in den Straßen der City gesehen hatte. Er aß und trank und schien hungrig zu sein. Auch das Landhaus schien seine Neugierde rege zu machen, als ob er es zum ersten Mal sähe. Dann blickte er zu den Fenstern hinauf und sah sich um mit einer scheuen und ungeduldigen Miene, unschlüssig, ob er gehen oder bleiben sollte.

Der lichte Schein auf dem Weg verschwand einen Augenblick, und meine Tante trat heraus. Sie war sehr aufgeregt und zählte Geld in seine Hand. Ich hörte es klimpern.

»Was soll ich damit?« fragte er.

»Ich kann nicht mehr entbehren«, entgegnete meine Tante.

»Dann kann ich nicht fort. Hier! Nimm es zurück.«

»Du schlechter Mensch«, antwortete meine Tante in großer Erregung. »Wie kannst du mich so ausnützen! Aber warum frage ich? Weil du weißt, wie schwach ich bin. Brauche ich etwas anderes zu tun, um mich auf immer von deinen Besuchen zu befreien, als dich deinem verdienten Schicksal zu überlassen?«

»Und warum tust du es denn nicht?«

»Du fragst noch, warum? Was für ein Herz du haben mußt!«

Er klimperte unschlüssig und mürrisch mit dem Geld.

»Du willst mir also weiter nichts geben?«

»Es ist alles, was ich dir geben kann. Du weißt, daß mich Verluste betroffen haben und daß ich arm bin. Ich habe es dir bereits gesagt. Warum bereitest du mir den Schmerz, noch einen Augenblick länger ansehen zu müssen, was aus dir geworden ist!«

»Ich sehe genügend herabgekommen aus, wenn du das meinst«, sagte er. »Ich lebe wie eine Eule«.

»Du hast mir den größten Teil alles dessen, was ich besaß, genommen. Du hast für lange Jahre mein Herz gegen die ganze Welt verschlossen. Du hast mich treulos, undankbar und grausam behandelt. Geh und bereue es! Füge nicht noch neues Unrecht zu dem, was du mir bereits angetan hast!«

»Ja«, sagte er, »das ist alles recht schön; – nun, ich muß mich wohl vorderhand einrichten, so gut es geht.«

Gegen seinen Willen schienen ihn die Tränen meiner Tante zu beschämen, und er schlüpfte aus dem Garten. Mit zwei oder drei raschen Schritten, als ob ich eben des Weges käme, begegnete ich ihm in der Türe. Wir sahen uns im Vorbeigehen an und nicht mit freundlichen Blicken.

»Tante«, sagte ich hastig, »schon wieder verfolgt dich dieser Mann? Laß mich mit ihm sprechen.«

Sie faßte mich beim Arm. »Kind, komm herein und rede zehn Minuten lang nicht mit mir.«

Wir setzten uns in dem kleinen Wohnzimmer nieder. Meine Tante zog sich hinter den runden grünen Schirm, der jetzt auf die Lehne eines Stuhls geschraubt war, zurück und wischte sich während einer Viertelstunde von Zeit zu Zeit die Augen. Dann setzte sie sich neben mich.

»Trot«, sagte sie ruhig, »es war mein Mann.«

»Dein Mann, Tante? Ich glaubte, er wäre tot?«

»Für mich ist er tot, aber er lebt.«

Ich saß in stummer Verwunderung da.

»Betsey Trotwood sieht nicht wie der Gegenstand einer zärtlichen Leidenschaft aus«, sagte sie ruhig, »aber es gab eine Zeit, Trot, wo sie an diesen Mann von ganzem Herzen glaubte, Trot. Es gibt keinen Beweis von Zuneigung und Liebe, den sie ihm nicht abgelegt hätte. Dafür dankte er ihr, indem er ihr Vermögen vergeudete und ihr fast das Herz brach. Darum legte sie alle solche Gefühle ein für allemal ins Grab und schüttete es zu.«

»Meine liebe gute Tante!«

»Ich schied großmütig von ihm«, fuhr sie fort und legte ihre Hand in ihrer gewohnten Weise auf die meine. »Nach so langer Zeit, Trot, darf ich wohl sagen, großmütig. Er hatte so schlecht an mir gehandelt, daß ich mich wohl unter leichteren Bedingungen hätte von ihm scheiden lassen können, aber ich tat es nicht. Er vergeudete bald, was ich ihm gegeben, sank immer tiefer und tiefer, heiratete, glaube ich, noch einmal, – wurde ein Abenteurer, ein Spieler und ein Schwindler. Was er jetzt ist, hast du selbst gesehen. Aber als ich ihn heiratete, war er ein schöner Mann«, sagte sie mit einem Widerhall des Stolzes und der Bewunderung alter Zeiten in ihrer Stimme. »Ich glaubte an ihn und hielt ihn in meiner Blindheit für einen vollkommenen Ehrenmann.«

Sie drückte mir die Hand und schüttelte den Kopf.

»Er gilt mir jetzt nichts mehr, Trot, weniger als nichts. Aber ich gebe ihm lieber mehr Geld, als ich entbehren kann, wenn er von Zeit zu Zeit zu mir kommt, als daß ich ihn wegen seiner Vergehen bestraft sehen möchte, – und das würde geschehen, wenn er sich im Lande herumtreibt. Ich war verblendet, als ich ihn heiratete, und bin selbst heute noch so verblendet, daß ich um dessentwillen, was ich einst in ihm sah, diesen Schatten eines nichtigen Jugendtraums vor Schande schützen möchte. Denn ich fühlte es ehrlich, Trot, wenn jemals ein Weib ehrlich gefühlt hat.«

Meine Tante ließ das Thema mit einem tiefen Seufzer fallen und strich sich das Kleid glatt.

»So, liebes Kind«, sagte sie, »jetzt kennst du den Anfang, die Mitte, das Ende und alles, was damit zusammenhängt. Wir wollen nicht weiter von der Sache sprechen. Natürlich wirst du auch nicht zu andern Leuten davon reden. Das ist meine schlimme dumme Geschichte, und wir wollen sie für uns behalten, Trot.«

32. Kapitel Der Anfang einer langen Reise


32. Kapitel Der Anfang einer langen Reise

Eine natürliche Empfindung ist nichts Beschämendes, und deshalb scheue ich mich auch nicht zu gestehen, daß ich meine Liebe zu Steerforth niemals stärker empfand als zu der Zeit, wo sich die Banden, die mich an ihn knüpften, lösten. In dem bittern Schmerz der Erkenntnis seiner Unwürdigkeit sah ich seine Eigenschaften in einem glänzenderen Licht als je, ließ seinen Fähigkeiten, die ihn zu einem großen bedeutenden Menschen hätten machen können, mehr Gerechtigkeit widerfahren als damals, wo ich ihm am meisten ergeben gewesen. So tief ich darunter litt, mit an seiner Schuld zu tragen, glaube ich doch, ich hätte ihm ins Gesicht keinen Vorwurf schleudern können. Aber, wie wohl auch er, fühlte ich, daß zwischen uns beiden alles zu Ende war. Wie er an mich zurückdachte, habe ich nie erfahren – wahrscheinlich leicht und oberflächlich genug –, aber ich mußte an ihn denken wie an einen teuern Toten.

Ja, Steerforth, der du längst vom Schauplatze dieser Geschichte abgetreten bist, vielleicht tritt mein Gram dereinst gegen dich vor dem ewigen Gericht als Zeuge auf, aber ein Ankläger will ich dir niemals sein!

 

Die Kunde von dem Geschehenen verbreitete sich bald durch die Stadt, und am nächsten Morgen hörte ich in den Straßen die Leute vor ihren Türen davon sprechen. Viele ließen sich sehr bitter über sie aus, nur wenige über ihn, aber für ihren zweiten Vater und ihren Bräutigam herrschte bloß ein Gefühl; überall legte man vor ihrem Schmerz eine Achtung voll Zartgefühl und Rücksicht an den Tag. Die Schiffer hielten sich fern, als die beiden am frühen Morgen langsam am Strande auf- und abgingen, standen in Gruppen beisammen und sprachen voll Mitleid miteinander.

Ich fand Mr. Peggotty und Ham an der Küste dicht am Meer. Sie hatten die ganze Nacht über nicht geschlafen und noch bei Tagesanbruch zusammengesessen, wie Peggotty mir sagte, und sahen sehr ermattet aus. Mr. Peggotty schien mir mehr gealtert zu sein in einer Nacht als in den vielen Jahren, seit ich ihn kannte. Aber beide waren so ernst und ruhig wie das Meer, das leise bewegt, als ob es im Schlummer atme, doch ohne Wellenschlag unter dem dunkeln Himmel lag, – der Horizont beleuchtet von einem Sonnenstreifen silberhellen Lichtes.

»Wir haben viel beraten über das, was zunächst zu geschehen hat«, sagte Mr. Peggotty zu mir, nachdem wir eine Weile stumm nebeneinander hergeschritten waren. »Aber jetzt sehen wir unsern Weg klar vor uns.«

Ich warf heimlich einen Blick auf Ham, der jetzt auf den fernen Sonnenschimmer auf dem Meer hinausblickte, und ein furchtbarer Gedanke beschlich mich – nicht, daß sein Gesicht voll Ingrimm gewesen wäre, – ich konnte nur den Ausdruck finstrer Entschlossenheit darin erkennen – der Gedanke, daß er Steerforth töten würde, wenn er ihm begegnen sollte.

»Mien Flicht is dohn, Sir«, sagte Mr. Peggotty, »ick will mien – « er hielt inne und fuhr dann mit festerer Stimme fort – »ick will sie suchen. Dat is mien Flicht von nun an.«

Er schüttelte den Kopf, als ich ihn fragte, wo er sie suchen wollte und ob er morgen nach London zu reisen gedenke. Ich sagte ihm, ich sei heute noch hiergeblieben, um ihm vielleicht beistehen zu können, aber ich sei bereit zu fahren, sobald er es wünschte.

»Ich werde Sie begleiten, Sir«, erwiderte er, »wenn es Ihnen recht ist, morgen.«

Wieder gingen wir eine Weile stumm nebeneinander her.

»Ham«, fuhr er fort, »wird seinem jetzigen Beruf treu bleiben und mit meiner Schwester zusammenwohnen. Das alte Boot dort – «

»Sie wollen das alte Boot verlassen, Mr. Peggotty?« fragte ich leise.

»Mein Platz ist dort nicht mehr, Mr. Davy, und wenn jemals ein Boot, als die Nacht über der Tiefe schwebte, unterging, ist es dieses. Aber nein, Sir, nein, ich will nicht sagen, daß es verlassen sein soll. Das sei fern von mir.«

Wieder gingen wir stumm eine Strecke zusammen, bis er abermals anfing:

»Mien Wunsch is, Sir, daß es Tag und Nacht, Sommer und Winter so aussehen soll wie damals, als sie es zuerst betrat. Wenn sie jemals zurückkehren sollte, darf das alte Haus nicht aussehen, als ob es für sie verschlossen sei, sondern soll sie locken, immer näher und näher zu kommen und draußen aus Wind und Regen durch das alte Fenster mit einem Gruß nach dem verlassenen Sitz neben dem Feuer zu blicken. Und wenn sie dann niemand drin sieht als Mrs. Gummidge, so faßt sie sich vielleicht ein Herz und tritt zitternd ein und legt sich hin auf ihr altes Bett und läßt ihr Haupt müde ausruhen, wo sie einst so fröhlich war.«

Ich konnte ihm nicht antworten, obgleich ich es versuchte.

»Jede Nacht, so regelmäßig wie die Flut, muß das Licht in dem alten Fenster stehen, damit es ihr winkt: Komm zurück, mein Kind, komm zurück! Wenn es jemals wieder leise an die Tür deiner Tante klopft, Ham, nach Dunkelwerden, so geh du nicht hinaus. Nur sie, nicht dich, darf mein verirrtes Kind sehen.«

Er ging ein wenig voraus und schritt vor uns her. Ich warf einen Blick auf Ham und sah immer noch denselben Ausdruck auf seinem Gesicht. Seine Augen starrten immer noch wie gebannt auf das ferne Licht. Ich faßte seinen Arm.

Zweimal rief ich ihn beim Namen so laut, wie man einen Schlafenden zu wecken sucht, ehe er auf mich achtete. Als ich ihn fragte, womit sich seine Gedanken so eifrig beschäftigten, gab er zur Antwort:

»Mit dem, was vor mir ist, Masr Davy, und dort droben.«

»Mit dem, was vor Ihnen liegt, meinen Sie?« Er hatte mit der Hand aufs Meer hinausgedeutet.

»Woll, Masr Davy. Ich weiß nicht recht, wie es ist, aber von dort drüben scheint es mir zu kommen – das Ende, meine ich«; er sah mich an mit wachen Augen, doch der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich nicht.

»Welches Ende?« fragte ich, noch ganz unter dem Eindruck meiner Bestürzung.

»Ich weiß es nicht«, sagte er gedankenvoll; »ich dachte eben darüber nach, daß der Anfang vor allem hier war, – und hier muß auch das Ende sein. Aber jetzt ists fort, Masr Davy,« setzte er hinzu, wohl als Antwort auf meine besorgten Blicke, mit denen ich ihn maß. »Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten, – awer ick bün so wirr im Kopp, – ich bin ganz gefühllos geworden.«

Mr. Peggotty stand jetzt still und wartete auf uns. Die Erinnerung an diese Szene und meine Besorgnisse traten mir in spätern Zeiten immer wieder vor die Seele, bis das unerbittliche Ende kam. Wir gingen auf das alte Boot zu und traten ein. Mrs. Gummidge saß nicht mehr grämlich in ihrer Ecke, sondern machte sich emsig um das Frühstück zu schaffen. Sie nahm Mr. Peggotty den Hut ab, schob ihm seinen Stuhl hin und sprach so sanft und zärtlich zu ihm, daß ich sie kaum wiedererkannte.

»Mein guter Daniel«, sagte sie. »Du mußt essen und trinken und dich aufrecht erhalten, denn sonst kannst du nichts tun. Versuchs nur, liebe, gute Seele. Und wenn ich dich mit meinem Gerede störe, so sags nur, Daniel, und ich schweig schon still.«

Als sie uns alle bedient hatte, setzte sie sich an das Fenster, wo sie sich emsig mit dem Ausbessern der Hemden und Kleider für Mr. Peggotty beschäftigte und alles dann sorgfältig zusammenlegte und in einen alten Sack aus Ölzeug, wie ihn die Matrosen haben, packte. Dabei fuhr sie in derselben ruhigen Weise zu sprechen fort.

»Immer und zu jeder Zeit, Danl, will ich hier sein, und alles soll so eingerichtet werden, wie du es wünschst. Es wird mir sauer werden, aber ich will viele, viele Male an dich schreiben, wenn du fort bist, und meine Briefe an Master Davy schicken. Vielleicht schreibst du auch an mich, Daniel, von Zeit zu Zeit, und schreibst mir von deinen einsamen Reisen.«

»Du wirst dich hier recht verlassen fühlen«, sagte Mr. Peggotty.

»Nein, nein, Danl, gewiß nicht. Sorge dich nicht meinetwegen. Ich werde genug zu tun haben, um das Haus in Ordnung zu halten, bis du zurückkehrst, Danl. Bei schönem Wetter will ich mich vor die Türe setzen wie früher, und kommt jemand in die Nähe, soll er schon von weitem sehen, daß die alte Wittfrau treu hier aushält.«

Wie hatte sich Mrs. Gummidge in der kurzen Zeit verändert! Sie war eine ganz andere geworden. Sie legte so viel Feingefühl an den Tag, wenn sie etwas sagen wollte oder eine Bemerkung vermied, vergaß so sehr sich selbst und zeigte sich so rücksichtsvoll gegen all den Kummer um sich her, daß ich fast mit Verehrung zu ihr aufblickte. Und was sie an diesem Tag alles zustande brachte! So vielerlei Dinge mußten vom Strande herauf in den Schuppen geschafft werden – Ruder, Netze, Segel, Tauwerk, Spieren, Hummerkörbe, Ballastsäcke und anderes, und obgleich helfende Hände genug da waren, denn keiner hätte sich geweigert, für Mr. Peggotty Hand anzulegen, und alle hätten sich mit einem bloßen »danke« für bezahlt gehalten, – so wurde sie doch den ganzen Tag nicht müde, die schwersten Lasten heraufzuschleppen. Sie schien ganz vergessen zu haben, über ihr altes Mißgeschick zu klagen. Die ganze Zeit über bewahrte sie eine sich stets gleichbleibende Ruhe; gewiß eine wunderbare Veränderung bei ihrem Charakter. Bis zur Dämmerung bebte ihre Stimme kein einziges Mal, und keine Träne trat ihr in die Augen; erst als sie und ich und Mr. Peggotty allein beisammen saßen und er aus Erschöpfung eingeschlafen war, da fing sie an, leise zu schluchzen und zu weinen, begleitete mich an die Türe und sagte: »Gott segne Sie, Masr Davy, bleiben Sie dem Armen immer ein Freund!« Dann lief sie hinaus, um sich das Gesicht zu waschen, damit er ihr nichts anmerken sollte, wenn er aufwachte.

Kurz, als ich abends fortging, ließ ich sie als Stütze und Stab für Mr. Peggotty in seinem Schmerz zurück und konnte nicht genug über die Lehre, die ich aus all dem zog, nachdenken.

Es war zwischen neun und zehn Uhr, als ich, in trübem Sinnen durch die Stadt schlendernd, vor Mr. Omers Tür ankam. Der Alte hatte es sich so sehr zu Herzen genommen, wie mir seine Tochter erzählte, daß er den ganzen Tag sehr niedergedrückt gewesen war und sich, ohne seine Pfeife geraucht zu haben, zu Bett gelegt hatte.

»Ein falschherziges, schlechtes Mädchen!« sagte Mrs. Joram. »Es ist nie etwas Gutes an ihr gewesen.«

»Sagen Sie das nicht«, wehrte ich ab. »Sie meinen es nicht so.«

»Ja, ich meine es gewiß so!« rief Mrs. Joram ärgerlich.

»Nein, nein!«

Mrs. Joram warf den Kopf zurück und wollte sehr gereizt werden. Aber sie konnte es nicht übers Herz bringen und fing zu weinen an. Ich war damals freilich noch jung, aber ich dachte in ihrer Weichheit besser von ihr, und es kam mir vor, als ob die Rührung ihr, der tugendhaften Gattin und Mutter, sehr gut stünde.

»Was wird sie nur anfangen?« schluchzte Minnie. »Wie wird es ihr gehen? Was wird aus ihr werden! O, wie konnte sie nur so grausam handeln!«

Ich gedachte der Zeit, wo Minnie ein junges und hübsches Mädchen gewesen, und es freute mich, daß sie sich ebenfalls mit tiefem Gefühl daran erinnerte.

»Meine kleine Minnie ist eben eingeschlafen«, sagte sie. »Selbst im Schlaf schluchzt sie nach Emly. Den ganzen Tag lang hat sie beständig geweint und mich immer und immer wieder gefragt, ob Emly ein schlechtes Mädchen sei. Was kann ich zu ihr sagen, wo doch Emly ihr gestern abend ein Band von ihrem Hals umgebunden und ihren Kopf neben sie auf das Kissen gelegt hat, bis sie einschlief? Meine kleine Minnie hat jetzt noch das Band um. Es sollte vielleicht nicht sein, aber was soll ich tun? Emly ist sehr schlecht, aber sie hatten einander so lieb. Und das Kind versteht es doch nicht!«

Mrs. Joram fühlte sich so unglücklich, daß ihr Mann herauskommen mußte, um sie zu beruhigen. Ich ließ die beiden allein, um zu Peggotty zu gehen, und fühlte mich womöglich noch trauriger als bisher.

Die gute Peggotty war trotz ihres Kummers und der schlaflosen Nächte der letzten Zeit bei ihrem Bruder geblieben, um bei ihm die Nacht zuzubringen. Eine alte Frau, die in den letzten Wochen für sie die Wirtschaft besorgte, war mit mir allein im Hause. Da ich ihrer nicht bedurfte, schickte ich sie zu Bett und setzte mich eine Weile lang vor das Küchenfeuer, um über das Geschehene nachzudenken.

In meine Vorstellungen mischte sich das Sterbebett des seligen Mr. Barkis, und ich trieb mit der Ebbe hinaus in die schimmernde Ferne, auf die heute morgen Ham so seltsam gestarrt hatte, als mich aus meinem Nachsinnen ein Pochen an der Tür weckte. Es hing ein Klopfer an der Tür, aber der Schall ging von einer Hand aus, tief unten am Holz, als ob er von einem Kinde herrühre.

Ich machte überrascht die Türe auf und sah zu meinem Erstaunen anfangs weiter nichts als einen großen Regenschirm, der sich allein fortzubewegen schien. Aber gleich darauf entdeckte ich Miss Mowcher darunter.

Ich hätte das kleine Geschöpf wahrscheinlich nicht sehr freundlich empfangen, wenn sie beim Weglegen ihres Regenschirms, den sie mit der größten Mühe nicht zumachen konnte, noch jenes fidele Gesicht von damals gezeigt hätte. Aber, als ich sie von ihrem Schirm erlöste und sie zu mir aufsah, waren ihre Mienen so ernst, und sie rang die kleinen Hände so betrübt, daß ich mich fast zu ihr hingezogen fühlte.

»Miss Mowcher« sagte ich, nachdem ich auf die leere Straße hinausgesehen, ohne eigentlich zu wissen, warum, »wie kommen Sie hierher? Was gibts?«

Sie winkte mir mit ihrem kurzen Arm, ihr Parapluie zuzumachen, und ging rasch an mir vorbei in die Küche. Ich konnte kaum die Türe schließen, da saß sie schon auf der Ecke des Herdvorsetzers im Schatten der Kochgefäße, schaukelte sich hin und her und rieb sich kummervoll die Hände auf den Knien.

Ganz beunruhigt über den seltsamen Besuch zu solch ungewöhnlicher Stunde rief ich wieder aus: »Ich bitte Sie, Miss Mowcher, was gibt es denn? Sind Sie krank?«

»Mein liebes, gutes Kind«, sie drückte beide Hände auf ihr Herz. »Ich bin hier krank. – Sehr krank. Daran denken zu müssen, daß es so weit kommen mußte, während ich es doch hätte wissen und verhüten können, wenn ich nicht eine so gedankenlose Närrin gewesen wäre!«

Wieder schaukelte sich ihr unverhältnismäßig großer Hut mit ihrem kleinen Körper hin und her, und sein riesenhafter Schatten hielt an der Wand Takt mit ihr.

»Es überrascht mich, Sie in so erregter und ernster Stimmung –« fing ich an.

»Ja. So ists immer«, unterbrach sie mich. »Sie wundern sich alle, diese unüberlegten jungen Leute, die hübsch und groß gewachsen sind, daß ein kleines Ding wie ich noch Gefühl hat. Sie halten mich für ein Spielzeug und lachen über mich, werfen mich weg, wenn sie meiner müde sind, und wundern sich, daß ich mehr Gefühl habe als ein Schaukelpferd oder ein hölzerner Soldat! Ja, ja, so ists. Immer die alte Geschichte!«

»Das mag vielleicht bei andern so sein«, entgegnete ich, »aber bei mir nicht. Ich versichere es Ihnen. Vielleicht dürfte ich mich gar nicht wundern, Sie hier zu sehen. Aber ich kenne Sie doch zu wenig!«

»Was kann ich tun?« Die kleine Frau stand auf und zeigte mit beiden Händen auf sich. »Schauen sie her! So wie ich bin, war mein Vater und sind meine Schwester und mein Bruder noch heute. Für sie habe ich seit vielen Jahren Tag für Tag auf das angestrengteste gearbeitet, Mr. Copperfield. Ich muß doch leben! Ich tue niemand etwas zuleide! Wenn es Menschen gibt, die so leichtsinnig und grausam sind, Scherz mit mir zu treiben, was bleibt mir dann anderes übrig, als mich ihnen gegenüber auch so zu benehmen? Wessen Fehler ist es, wenn ich dies tue. Meiner?«

»Nein, Miss Mowcher, Ihrer gewiß nicht.«

»Wenn ich mich gegen Ihren falschen Freund als sentimentale Zwergin benommen hätte«, fuhr die kleine Person fort und schüttelte mit vorwurfsvollem Ernst den Kopf, »glauben Sie, daß er mir jemals geholfen oder mich empfohlen haben würde? Wenn sich die kleine Mowcher, die, um auf die Welt zu kommen, gewiß keine Hand gerührt haben würde, an ihn oder seinesgleichen in ihrem Unglück gewendet hätte, glauben Sie, daß er auf ihr dünnes Stimmchen gehört haben würde? Die kleine Mowcher müßte auch leben, selbst wenn sie die verbittertste und dümmste aller Zwerginnen wäre, aber sie könnte es nicht. Nein. Sie könnte nach Brot und Butter pfeifen, bis sie verhungerte!«

Miss Mowcher setzte sich wieder auf den Ofenvorsetzer, zog ihr Taschentuch heraus und wischte sich die Augen.

»Danken Sie Gott für mich, wenn Sie ein so gutes Herz haben, wie ich glaube, daß ich bei meinem Mißgeschick noch heiter alles zu ertragen imstande bin. Ich wenigstens bin dankbar, daß ich meinen schmalen Weg durch die Welt finden kann, ohne jemand verpflichtet zu sein, und daß ich auf alles, was man mich leichtsinnig oder gedankenloserweise leiden läßt, noch mit Narrenpossen zu antworten vermag. Wenn ich über meine Mängel nachdenke, so ist es mir zum Nutzen und niemand zum Schaden. Wenn ich euch Riesen schon zum Spielzeug diene, so gehet wenigstens behutsam mit mir um!«

Miss Mowcher steckte das Taschentuch wieder ein, blickte mich sehr aufmerksam an und fuhr dann fort:

»Ich sah Sie soeben auf der Straße. Sie können sich denken, daß ich mit meinen kurzen Beinen und meinem kurzen Atem Sie nicht einholen konnte, aber ich erriet, woher Sie kamen, und ging Ihnen nach. Ich bin heute schon einmal hier gewesen, aber die gute Alte war nicht zu Hause.«

»Kennen Sie sie?« fragte ich.

»Nicht persönlich, habe aber von Omer & Joram oft von ihr gehört. Ich war heute früh um sieben Uhr dort. Wissen Sie noch, was Steerforth damals, als ich Sie das erste Mal im Gasthof sah, über das unglückliche Mädchen sagte?«

Der große Hut auf Miss Mowchers Kopf und sein noch größerer Schatten an der Wand schwankten wieder hin und her, als sie die Frage stellte.

Ich erinnerte mich recht gut daran, denn es war mir heute schon oft eingefallen.

»Möge der Vater alles Übels ihn verderben!« sagte die kleine Frau und hob mit funkelnden Augen ihren Zeigefinger in die Höhe, »und zehnmal mehr noch seinen schurkischen Bedienten. Ich glaubte damals, Sie hätten sich in sie verliebt.«

»Ich?!«

»Kind, Kind! O über meine Blindheit!« rief Miss Mowcher, rang leidenschaftlich die Hände und ging vor dem Ofenvorsetzer auf und ab. »Warum flossen Sie nur so über von ihrem Lob und wurden so rot und verlegen!«

Allerdings war das der Fall gewesen, aber aus einem ganz andern Grund, als es ihr geschienen hatte.

»Was wußte ich!« Miss Mowcher zog ihr Taschentuch heraus und stampfte jedesmal mit dem Fuß auf den Boden, wenn sie es mit beiden Händen an ihre Augen drückte. »Er schmeichelte Ihnen und beschwatzte Sie, das sah ich wohl, und Sie waren wie weiches Wachs in seinen Händen. Kaum hatte ich das Zimmer eine Minute verlassen, als mir sein Bedienter sagte, daß die ›junge Unschuld,‹ – so nannte er Sie, und Sie können ihn in Zukunft die ›alte Sünde‹ nennen, – sich in sie verliebt hätte, daß sie aber leichtsinnig sei und Steerforth gern habe. Doch sei sein Herr entschlossen, es zu nichts Schlimmem kommen zu lassen – mehr um Ihret- als um des Mädchens willen. Und daß er und sein Herr deshalb in Yarmouth wären. Mußte ich ihm nicht glauben? Ich sah, wie Steerforth sie Ihretwegen lobte. Sie nannten zuerst ihren Namen. Sie gaben zu, früher einer ihrer Bewunderer gewesen zu sein, und wurden abwechselnd rot und blaß, wenn ich nur von ihr sprach. Konnte ich etwas anderes denken, als daß Sie ein junger Lebemann seien, wenn auch ohne Erfahrung, aber bereits in richtigen Händen? O! O! O! – Die beiden befürchteten, ich möchte der Wahrheit auf den Grund kommen!« rief Miss Mowcher aus, streckte die kurzen Arme gen Himmel und ging in tiefem Schmerz in der Küche auf und ab. »Weil ich ein kleines, schlaues Ding bin – muß ich es doch sein, wenn ich überhaupt bestehen will, – und sie führten mich ganz und gar hinters Licht und gaben mir an das arme Mädchen einen Brief mit, der die erste Veranlassung war, daß sie mit Littimer sprach.«

Ich war ganz betäubt bei der Enthüllung solcher Perfidie und konnte bloß Miss Mowcher ansehen, wie sie in der Küche auf und ab ging, bis sie ganz außer Atem war. Dann setzte sie sich wieder auf den Ofenvorsetzer, wischte sich die Augen und schüttelte lange, ohne ein Glied zu rühren, den Kopf, und ohne ein einziges Wort zu sprechen.

»Meine Reisen«, fing sie endlich wieder an, »führten mich vorgestern abend nach Norwich. Was ich dort von dem heimlichen Kommen und Gehen der beiden, ohne daß Sie seltsamerweise dabei waren, erfuhr, ließ mich Schlimmes ahnen. Ich setzte mich vorige Nacht in die Landkutsche und bin heute morgen hier eingetroffen. Ach! Zu spät!«

Der armen kleinen Mowcher war bei all dem Weinen und Klagen so kalt geworden, daß sie sich dem Feuer zudrehte und ihre kleinen, nassen Füße in die Asche steckte, um sie zu wärmen, und still vor dem Herd saß wie eine große Puppe. Ich lehnte an einem Stuhl auf der andern Seite des Ofens, in trübe Gedanken verloren, sah ins Feuer und warf manchmal einen Blick auf sie.

»Ich muß jetzt gehen«, seufzte sie nach einer Weile und stand auf. »Es ist schon spät, nicht wahr? Sie haben doch kein Mißtrauen mehr gegen mich?«

Als ich ihrem durchdringenden Blick begegnete, konnte ich es nicht übers Herz bringen, ganz offen ja zu sagen.

»Schauen Sie«, sagte sie und nahm meine Hand, um über den Ofenvorsetzer steigen zu können, und sah mir betrübt ins Gesicht, »Sie würden mir sicher nicht mißtrauen, wenn ich ein Weib von natürlicher Größe wäre.«

Ich fühlte, wieviel Wahres in ihren Worten lag, und war beschämt.

»Sie sind ein sehr junger Mann. Nehmen Sie einen Rat von mir an, wenn ich auch nur ein Dreikäsehoch bin! Verbinden Sie bei einem Anblick körperlichen Mangels nie damit die Voraussetzung eines geistigen, wenn Sie nicht sehr guten Grund dazu haben!«

Ich ließ sogleich jeden Argwohn fallen. Ich versicherte, daß ich ihr vollständig vertraue und daß wir beide blinde Werkzeuge in arglistigen Händen gewesen wären. Sie dankte mir dafür und sagte, ich sei ein guter Junge.

»Jetzt geben Sie acht!« rief sie aus, indem sie sich auf dem Weg nach der Tür umdrehte und mich mit emporgehaltnem Zeigefinger schlau ansah. »Ich habe Grund anzunehmen – ich habe so etwas gehört, und meine Ohren sind fein –, daß sie ins Ausland gegangen sind. Wenn sie jemals zurückkehren, einzeln oder zusammen, und ich bin noch am Leben, so kann ich, die ich immerwährend unterwegs bin, ihnen eher als irgendein anderer begegnen. Was auch immer ich erfahre, werde ich Sie wissen lassen. Wenn ich jemals irgend etwas für das arme verführte Mädchen tun kann, so werde ich es, so Gott will, getreulich vollbringen. Und für Littimer wäre es besser, ein Bluthund wäre ihm auf den Fersen als die kleine Mowcher!«

Ich schenkte, als ich den Blick bemerkte, mit dem sie diese Worte sprach, ihrer Versicherung unbedingten Glauben.

»Trauen Sie mir nicht mehr, aber auch nicht weniger zu als einer Frau von natürlicher Größe«, sagte sie und erfaßte bittend meine Hand. »Wenn Sie mich jemals wiedersehen und ich mich wieder so benehme wie damals, so denken Sie daran, in welcher Gesellschaft ich mich befinde. Vergessen Sie nicht, daß ich ein hilf- und wehrloses, kleines Geschöpf bin. Stellen Sie sich mich vor mit einem Bruder oder einer Schwester, die gleich mir Zwerge sind und mit denen ich abends nach geschehener Arbeit beisammen bin. Vielleicht werden Sie dann nicht so sehr zweifeln, daß auch ich ernst und bekümmert sein kann. Gute Nacht!«

Ich gab Miss Mowcher mit einer ganz andern Meinung als früher die Hand und öffnete die Tür, um sie hinauszulassen. Es war keine Kleinigkeit, ihr den großen Regenschirm so in die Hand zu geben, daß er das gehörige Gleichgewicht behielt, aber es gelang mir endlich, und ich sah ihn durch den Regen die Straße hinabschwanken, ohne daß man im geringsten merkte, daß jemand darunter ging, außer wenn ein ungewöhnlich starker Guß aus einer Dachrinne ihn auf die Seite drückte und Miss Mowcher in angestrengtem Bemühen, ihn wieder aufzurichten, sehen ließ. Nach ein oder zwei Ausfällen, die ich zu ihrer Unterstützung machte, die aber jedesmal durch das unbeirrte Weiterhüpfen des Regenschirms unnütz erschienen, begab ich mich wieder in das Haus, ging zu Bett und schlief bis zum Morgen.

Früh kamen Mr. Peggotty und meine alte Kindsfrau zu mir, und wir gingen zusammen auf die Station, wo Mrs. Gummidge und Ham zum Abschied auf uns warteten.

»Masr Davy«, flüsterte Ham und zog mich beiseite, während Mr. Peggotty seinen Ölzeugsack verstaute. »Es ist ganz aus mit ihm. Er weiß nicht, wo er hingeht, er weiß nicht, was vor ihm liegt, er tritt eine Wanderung an bis zum Ende seiner Tage, wenn er nicht findet, was er sucht. Ich weiß, Sie werden sein Freund sein, Masr Davy!«

»Verlassen Sie sich darauf«, sagte ich und schüttelte ihm ernst die Hand.

»Danke, danke, Sir! Nur noch eins! Ich habe gute Arbeit, das wissen Sie ja, Masr Davy, und weiß jetzt nicht, was ich mit meinem Verdienst anfangen soll. Geld ist für mich von keinem Nutzen mehr. Wenn Sie es für ihn anwenden könnten, würde ich mit leichterem Herzen an die Arbeit gehen. Sie dürfen dabei nicht denken, Sir«, – er sprach dies sehr ruhig und gelassen – »daß ich nicht auch sonst immer wie ein Mann nach besten Kräften arbeiten würde.«

Ich sagte ihm, ich sei davon durchdrungen und deutete sogar auf die Möglichkeit hin, daß er doch einmal noch das einsame Leben, an das er jetzt natürlich immer denken müßte, aufgeben werde.

»Nein, Sir!« Er schüttelte den Kopf. »Damit ists vorbei. Niemand kann den Platz ausfüllen, der leer ist. Aber Sie werden das von dem Geld doch nicht vergessen? Es wird immer etwas für ihn zurückgelegt sein.«

Ich machte Ham darauf aufmerksam, daß doch Mr. Peggotty ein sicheres, wenn auch bescheidenes Einkommen aus der Hinterlassenschaft seines verstorbenen Schwagers beziehe, gab ihm aber zu gleicher Zeit das gewünschte Versprechen. Dann nahmen wir Abschied von einander. Selbst jetzt noch kann ich nicht ohne Schmerz zurückdenken, mit welcher Fassung er seinen tiefen Kummer trug.

Es läßt sich kaum schildern, wie Mrs. Gummidge neben dem Wagen herlief und durch die Tränen, die sie zu unterdrücken suchte, nichts als Mr. Peggotty sah und immer mit den Leuten, die des Weges kamen, zusammenrannte. Sie setzte sich schließlich auf die Türstufe eines Bäckerladens nieder, ganz außer Atem, den Hut bis zur Formlosigkeit zerdrückt und nur einen Schuh an; der andere lag in ziemlicher Entfernung auf dem Pflaster.

Als wir unser Reiseziel erreicht hatten, war unser erster Schritt, uns nach einer kleinen Wohnung für Peggotty, wo auch ihr Bruder schlafen könnte, umzusehen. Wir hatten das Glück, bald eine sehr reinliche und billige, nur zwei Straßen weit von mir oberhalb eines Wachszieherladens, zu finden. Dann kaufte ich etwas kaltes Fleisch in einem Eßwarengeschäft und nahm meine Reisegefährten mit nach Haus zum Tee; ein Schritt, der, wie ich zu meinem Bedauern konstatieren mußte, durchaus nicht Mrs. Crupps Billigung fand. Offenbar fühlte sie sich sehr gekränkt, weil Peggotty, bevor sie noch zehn Minuten bei mir war, ihr Witwenkleid aufschürzte und mein Schlafzimmer auszukehren begann. Das betrachtete Mrs. Crupp als eine Freiheit, die sich Peggotty herausnahm, und sie werde nie gestatten, sagte sie, daß sich irgend jemand etwas herausnähme.

Mr. Peggotty hatte mir während der Reise nach London etwas gesagt, was mir nicht ganz unerwartet kam. Er wollte nämlich vor allen Dingen Mrs. Steerforth aufsuchen. Da ich mich verpflichtet fühlte, ihm darin beizustehen und zwischen den beiden zu vermitteln, andererseits Mrs. Steerforths mütterliche Gefühle soviel wie möglich schonen wollte, so schrieb ich noch am Abend an sie. In so milden Ausdrücken wie möglich teilte ich ihr mit, was ihr Sohn getan, und inwieweit ich selbst die Mitschuld trug. Ich schrieb, daß Mr. Peggotty wohl ein Mann von niederem Stande, aber von redlichster und vornehmster Denkungsweise sei und daß ich zu hoffen wagte, sie werde ihm in seinem schweren Leid eine Zusammenkunft nicht versagen. Ich bestimmte zwei Uhr nachmittags als die Stunde unseres Kommens und schickte den Brief mit der ersten Frühpost ab.

Zur bestimmten Stunde standen wir an der Tür – an der Tür des Hauses, wo ich noch vor wenigen Tagen so glücklich gewesen, wo mein junges Herz so warm und vertrauensvoll geschlagen hatte und das, mir von nun für immer verschlossen, eine Ruine und eine Wüste für mich war.

Kein Littimer zeigte sich. Das angenehme Gesicht, das ich statt des seinigen schon bei meinem letzten Besuch erblickt hatte, erschien auf unser Klopfen und führte uns in den Salon. Dort saß Mrs. Steerforth, Rosa Dartle glitt, als wir eintraten, aus einer Zimmerecke zu ihr und stellte sich hinter ihren Stuhl.

Ich sah sogleich an dem Gesicht der Mutter, daß James ihr selbst alles gesagt hatte. Es war sehr blaß und trug die Spuren einer tiefern Bewegung, als mein Brief, der in ihr gewisse Zweifel zugelassen haben würde, hätte erzeugen können. Sie sah ihm ähnlicher als je. Ich fühlte mehr, als ich es sah, daß diese Ähnlichkeit auch meinem Begleiter nicht entging. Sie saß aufrecht in ihrem Lehnstuhl, mit unbeweglichem, leidenschaftslosem Gesicht, als ob sie nichts aus der Fassung bringen könnte. Sie sah Mr. Peggotty, als er vor ihr stand, sehr fest an, und auch er zuckte mit keiner Wimper. Rosa Dartles scharfer Blick ruhte auf uns allen. Einige Augenblicke lang wurde kein Wort gesprochen.

Mrs. Steerforth bot Mr. Peggotty einen Stuhl an. Er sagte mit leiser Stimme: »Ich würde es für unnatürlich halten, Maam, mich hier in diesem Hause niederzusetzen. Ich möchte lieber stehen bleiben.«

Darauf folgte wieder eine Pause, die Mrs. Steerforth mit den Worten unterbrach:

»Ich weiß zu meinem tiefen Bedauern, was Sie hierher führt. Was wünschen Sie von mir? Was soll ich für Sie tun?«

Er nahm den Hut unter den Arm, zog Emlys Brief aus der Tasche, faltete ihn auf und überreichte ihn ihr.

»Bitte, lesen Sie das, Maam. Er ist von meiner Nichte.«

Sie las den Brief in derselben leidenschaftslosen Weise – ungerührt, wie es schien, von seinem Inhalt – und gab ihn zurück.

»Wenn er mich nicht als seine Gattin zurückbringt«, – sagte Mr. Peggotty und wies mit dem Finger auf die Stelle. »Ich will wissen, Maam, ob er sein Wort halten wird.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Es ist unmöglich! Er würde sich damit unheilbar kompromittieren. Sie wissen doch, daß sie weit unter seinem Stande ist.«

»So erheben Sie sie!« sagte Mr. Peggotty.

»Sie hat weder Erziehung noch Bildung.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Mr. Peggotty. »Ich glaube es nicht, Maam, aber ich habe kein Urteil in solchen Dingen. Erziehen Sie sie!«

»Da Sie mich schon zwingen, offner zu reden, was ich sehr ungern tue, so muß ich sagen, daß ihre niedrigen verwandtschaftlichen Beziehungen es unmöglich machen.«

»Hören Sie, Maam«, erwiderte Peggotty leise und ruhig. »Sie wissen, was es heißt, sein Kind zu lieben! Ich weiß es auch! Wenn sie hundertmal mein eignes Kind wäre, könnte ich sie nicht mehr lieben. Sie wissen nicht, was es heißt, sein Kind verlieren. Ich weiß es! Alle Reichtümer der Welt wären mir nicht zu viel, sie zurückzukaufen. Aber retten Sie sie vor der Schmach, und wir werden ihr nie zur Schande gereichen. Keiner von all denen, unter denen sie aufgewachsen ist und denen sie so viele Jahre alles war, soll ihr liebes Gesicht wiedersehen. Wir werden zufrieden sein, an sie denken zu können, als ob sie weit weg von uns unter einem andern Himmel und unter einer andern Sonne wäre; wir werden sie mit ihrem Gatten und – vielleicht – der Sorge für ihre Kleinen allein lassen und die Zeit erwarten, wo wir alle gleich sind vor Gott.«

Seine schlichte Beredsamkeit blieb nicht ohne Wirkung. Mrs. Steerforth behielt ihr stolzes Wesen bei, aber in ihrer Stimme lag eine gewisse Milde, als sie antwortete:

»Ich suche nichts zu beschönigen. Ich erhebe keine Gegenanklage, aber es tut mir leid wiederholen zu müssen, es ist unmöglich. Eine solche Heirat würde die Zukunft meines Sohnes und alle seine Aussichten unwiederbringlich vernichten. Nichts ist gewisser, daß sie nie stattfinden kann und nie stattfinden wird. Wenn ich es auf eine andre Art gutmachen kann –«

»Ich sehe das Ebenbild des Gesichtes vor mir«, unterbrach sie Mr. Peggotty, und seine Augen flammten auf, – »das mich angesehen hat in meinem Haus, an meinem Kamin, in meinem Boot – und wo nicht sonst noch –, lächelnd und freundlich, während er auf Verrat sann, – ich könnte bei dem bloßen Gedanken daran wahnsinnig werden. Wenn das Ebenbild dieses Gesichtes nicht zu brennendem Feuer wird bei dem Einfall, mir für die Schande und das Verderben meines Kindes Geld anzubieten, so ist das schlimm genug. Ich weiß nicht, da ich jetzt doch eine Dame vor mir habe, welcher von beiden Fällen der schlimmere ist.«

Mrs. Steerforths Ausdruck veränderte sich im Augenblick.

Eine jähe Röte überflog ihr Gesicht, und sie sagte heftig, die Armlehnen des Stuhles mit den Fingern umklammernd:

»Und welche Entschädigung können Sie mir geben, daß Sie eine solche Kluft geöffnet haben zwischen mir und meinem Sohn? Was ist Ihre Liebe gegen die meine? Was ist Ihr Verlust gegen den unsern?« Miss Dartle legte leise die Hand auf ihre Schulter und flüsterte ihr etwas zu, aber sie wollte nicht hören.

»Nein, Rosa, kein Wort weiter: Soll er hören, was ich ihm zu sagen habe. Mein Sohn, der der einzige Zweck meines Lebens war, dem jeder meiner Gedanken galt, dem ich jeden Wunsch erfüllte von Kindheit an, von dem ich nie getrennt war seit seiner Geburt, läuft jetzt mit einem elenden Mädchen davon und meidet mich. Er lohnt mein Vertrauen mit systematischer Täuschung ihretwegen und verläßt mich ihretwegen. Er wirft eine tolle Laune in die Waagschale und opfert seine Mutter, seine Pflicht, seine Liebe, seine Dankbarkeit – alle meine Ansprüche an ihn, die jeder Tag und jede Stunde seines Lebens zu immer festeren Banden hätte machen müssen. Ist mir damit vielleicht kein Unrecht zugefügt?«

Abermals bemühte sich Rosa Dartle, sie zu besänftigen, doch umsonst.

»Nicht ein Wort, Rosa, sage ich! Wenn James sein Alles auf das geringste Etwas setzen kann, so kann ich mein Alles auf Wichtigeres setzen. Er mag mit den Mitteln, die ihm meine Liebe gegeben hat, gehen, wohin er will. Glaubt er, er werde durch lange Abwesenheit meinen Sinn brechen, dann kennt er seine Mutter sehr schlecht! Wenn er jetzt noch seine Laune fallenläßt, so soll er mir willkommen sein. Tut er es nicht, so soll er nie lebend oder sterbend in meine Nähe kommen, solange ich meine Hand abwehrend bewegen kann. Ehe er sich nicht von ihr für immer losgesagt hat und mich demütig um Verzeihung bittet, soll er nie mehr in meine Nähe kommen. Das ist mein Recht. Das verlange ich von ihm. Das ist die Kluft, die zwischen uns liegt … Und ist mir damit kein Unrecht geschehen?« setzte sie hinzu und sah Mr. Peggotty mit demselben stolzen, unduldsamen Blick an wie vorhin.

Als ich die Mutter diese Worte sprechen hörte, da war mir, als stünde ihr Sohn vor mir. Seine ganze eigenwillige Starrköpfigkeit sah ich in ihr. Alles, was ich von seiner irregeleiteten Energie kannte, sah ich auch jetzt in ihrem Charakter und begriff, daß er in seinen stärksten Eigenheiten derselbe war.

Sie sagte jetzt zu mir, so maßvoll wie vorhin, daß es nutzlos sei, mehr darüber anzuhören oder zu äußern, und daß sie den Besuch beendigt zu sehen wünsche.

Sie stand mit würdevoller Miene auf, um das Zimmer zu verlassen, als Mr. Peggotty ihr bedeutete, das sei unnötig.

»Befürchten Sie nicht, daß ich Ihnen noch länger lästig fallen werde, denn ich habe nichts weiter zu sagen, Maam«, sprach er und ging langsam zur Tür. »Ich kam ohne Hoffnung hierher und nehme keine mit. Ich habe getan, was ich für meine Schuldigkeit hielt, aber nicht auf Erfolg gerechnet. Dieses Haus ist für mich und die Meinigen zu unheilvoll gewesen, als daß ich vernünftigerweise anderes hätte erwarten können.«

Mit diesen Worten schieden wir, und Mrs. Steerforth blieb, ein Bild vornehmen Wesens, neben ihrem Lehnstuhl stehen.

Wir hatten über einen gepflasterten Vorhof mit gläsernen Wänden und gläsernem Dach, von Reben umrankt, zu gehen. Der Tag war schön, und die nach dem Garten führende Glastür stand offen. Als wir schon nahe dem Ausgang waren, trat Rosa Dartle mit geräuschlosem Schritt an mich heran und sprach:

»Ein schöner Einfall, diesen Menschen herzubringen!« Eines so konzentrierten Ausdrucks von Wut und Verachtung, wie er jetzt ihr Gesicht verdunkelte und in ihren jettschwarzen Augen flammte, hätte ich sie nicht für fähig gehalten. Wie immer bei großen Aufregungen trat die alte Narbe von dem Hammerwurf auffällig hervor. Als das Zucken darin jetzt wieder deutlich wurde, erhob sie die Hand und schlug darauf.

»So, der richtige Bursche, um ihn als Fürsprecher mitzubringen! Sie sind mir ein echter Mann«, sagte sie.

»Miss Dartle, Sie können doch nicht so ungerecht sein, mir die Schuld beizumessen!«

»Warum säen Sie Zwietracht zwischen diesen beiden Wahnsinnigen. Sehen Sie denn nicht, daß sie beide vor Eigenwillen und Stolz verrückt sind?«

»Tue ich denn das?«

»Ja, Sie tun es«, antwortete sie. »Warum bringen Sie diesen Menschen her?«

»Es hat ihn ins Herz getroffen, Miss Dartle. Sie wissen es vielleicht nicht.«

»Ich weiß, daß James Steerforth«, sagte sie und legte die Hand auf die Brust, wie um einen Sturm, der darin raste, niederzuhalten, »ein verderbtes Herz hat und ein Verräter ist. Aber was geht mich dieser Mensch da an und seine ordinäre Nichte.«

»Miss Dartle!« sagte ich. »Sie machen das Unrecht nur noch schlimmer. Es ist genug jetzt. Ich will nur noch das eine zum Abschied sagen, daß Sie ihm sehr unrecht tun.«

»Ich tue ihm kein Unrecht. Es ist ein schlechtes, nichtswürdiges Pack. Ich wollte, ich könnte diese Leute auspeitschen lassen.«

Mr. Peggotty ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihr vorüber und zur Türe hinaus.

»Pfui, Miss Dartle, pfui!« sagte ich entrüstet. »Wie können Sie seinen unverdienten Schmerz so mit Füßen treten!«

»Ich möchte sie alle mit Füßen treten. Ich möchte sein Haus niederreißen lassen, und sie möchte ich brandmarken auf der Stirne, sie in Lumpen kleiden und auf die Straße werfen, daß sie verhungert! Wenn ich zu richten hätte, so müßte ich sie so sehen. Ja, mit eigner Hand würde ich es tun. Ich verabscheue sie! Wenn ich ihr jemals ihre Schande vorwerfen könnte, ich würde es tun, wo immer es ist. Wenn ich sie zu Tode hetzen könnte, würde ichs tun. Und wenn ein einziges Wort des Trostes ihr eine Erquickung in ihrer Sterbestunde wäre, und nur ich könnte es sagen, so würde ich es verschweigen, und wenn es mir das Leben kostete.«

Die Worte allein gaben nur ein schwaches Abbild von dem Haß, der sie erfüllte und der sich in ihrer ganzen Gestalt und in ihrer verhaltenen Stimme verriet. Ich habe Leidenschaft in mancherlei Form gesehen, aber niemals mehr als in dieser.

Als ich Mr. Peggotty wieder einholte, ging er langsam und nachdenklich den Hügel hinab. Er wolle noch heute abend, jetzt, wo er alles in London erledigt, was er sich vorgenommen, seine Reise antreten. »Ich will meine Nichte suchen«, sagte er.

Wir gingen in die bescheidne Wohnung über dem Wachszieherladen, und ich sprach mit seiner Schwester über seine Absicht. Sie wußte von seinem Reiseziel nicht mehr als ich und glaubte, er habe bereits einen festen Plan im Sinn.

Ich wollte ihn in seiner Verfassung nicht allein lassen, und wir aßen alle drei zusammen eine Beefsteak-Pastete – eine der vielen guten Dinge, die Peggotty ausgezeichnet zu bereiten verstand. Nach dem Essen saßen wir ein paar Stunden ziemlich wortkarg am Fenster, dann stand Mr. Peggotty auf, holte seinen Reisesack und seinen derben Stock herbei und legte beides auf den Tisch. Er nahm von dem Bargeld seiner Schwester eine kleine Summe als Abschlag auf seine Erbschaft an, so wenig, daß es meines Erachtens kaum auf einen Monat reichen konnte. Er versprach mir zu schreiben, wenn ihm etwas zustieße, hängte sich den Reisesack um, nahm Hut und Stock und sagte uns beiden Lebewohl.

»Und allen Segen auf dein Haupt, meine gute Alte!« sagte er und umarmte Peggotty, »und auf Ihres, Masr Davy«, setzte er hinzu, mir die Hand schüttelnd. »Ich will sie suchen nah und fern. Wenn sie zurückkommen sollte, während ich abwesend bin – es wird wohl nicht der Fall sein –, oder wenn ich sie zurückbringen kann, dann will ich mit ihr leben und sterben, wo niemand ihr Vorwürfe machen darf. Wenn mir etwas zustoßen sollte, so vergeßt nicht, daß meine letzten Worte für sie waren, ›meine unveränderte Liebe gehört immer noch meinem teuern Kind, und ich verzeihe ihr‹.«

Er sprach die Worte feierlich und mit entblößtem Haupt. Dann setzte er den Hut auf und ging fort. Wir begleiteten ihn bis ans Haustor. Es war ein warmer staubiger Abend und um eine Stunde, wo in der großen Verkehrsstraße, in die das Nebengäßchen mündete, vorübergehend Stille in dem ewigen Geräusch der Schritte auf dem Pflaster eintrat und die Sonne rot und abendlich glänzte. Er bog um die Ecke in ein Lichtmeer, in dem wir ihn bald aus den Augen verloren.

Oft in solchen Abendstunden mußte ich an ihn auf seiner mühevollen Pilgerfahrt und an seine Worte denken: »Ich werde sie suchen, nah und fern, und wenn mir etwas zustoßen sollte, so vergeßt nicht, daß meine letzten Worte für sie waren: ›Meine unwandelbare Liebe gehört immer noch meinem teuern Kind, und ich verzeihe ihr.‹«

41. Kapitel Doras Tanten


41. Kapitel Doras Tanten

Endlich kam eine Antwort von den beiden alten Damen. Sie empfahlen sich bestens Mr. Copperfield und ließen ihm sagen, daß sie seinen Brief in reiflichste Erwägung gezogen hätten, und zwar mit Rücksicht auf »das Glück beider Teile«.

Der Ausdruck kam mir recht beunruhigend vor, nicht nur, weil sie ihn schon einmal bei ihrer Zwistigkeit mit ihrem Bruder gebraucht, sondern auch, weil bekanntlich herkömmliche Phrasen wie ein Feuerwerk sind, das leicht losgeht und die verschiedensten Gestalten und Formen annimmt, die man seinem ursprünglichen Aussehen nach nie vermutet hätte.

Die beiden Misses Spenlow fügten hinzu, sie müßten sich enthalten, auf »brieflichen Verkehr« hin ein Urteil über den Gegenstand von Mr. Copperfields Mitteilungen auszusprechen, aber daß sie sich glücklich schätzen würden, mit Mr. Copperfield über diesen Punkt persönlich zu sprechen, wenn er ihnen an einem bestimmten Tage, am liebsten in Begleitung eines vertrauenswürdigen Freundes, die Ehre seines Besuches erweisen wollte.

Auf dieses wertgeschätzte Schreiben antwortete Mr. Copperfield sofort mit der größten Ergebenheit, daß er sich die Ehre nehmen werde, an dem bestimmten Tag den Misses Spenlow seine Aufwartung zu machen, und zwar mit ihrer gütigen Erlaubnis in Gesellschaft seines Freundes Mr. Thomas Traddles vom innern Juristenkollegium.

Nach Absendung dieser Botschaft geriet Mr. Copperfield in die größte Gemütserregung und verblieb in derselben, bis der Tag gekommen war.

 

Meine Bedrängnisse wurden nicht wenig dadurch vermehrt, daß ich in dieser Krisis die unschätzbaren Dienste der Miss Mills entbehren mußte. Mr. Mills, der mir immer etwas zum Tort tat – wenigstens schien es mir so –, hatte seinem Benehmen die Krone aufgesetzt und den Entschluß gefaßt nach Ostindien zu reisen. Was wollte er in Indien! Nur mir zum Verdruß fuhr er nach Indien! Allerdings hatte er mit keinem andern Weltteil so viel zu tun wie mit diesem, denn er ging ganz im indischen Handel auf. Ich wußte weiter nichts vom indischen Handel und machte mir so eine phantastische Vorstellung von goldnen Schals und Elefantenzähnen.

Mr. Mills war in seiner Jugend in Kalkutta gewesen und wollte sich jetzt dort als Teilhaber eines Handelshauses niederlassen. Aber was ging das mich an! Julia sollte mit ihm gehen und war über Land gefahren, um von ihren Verwandten Abschied zu nehmen. Das Haus trug förmlich einen Mantel von Anzeigen, auf denen stand, was alles vermietet, verkauft oder versteigert werden sollte (auch der Hausrat, die Mangel mit eingeschlossen!).

So wurde ich abermals das Opfer eines Erdbebens, ehe ich mich noch von den Erschütterungen des ersten erholt hatte.

Ich schwankte, was ich an diesem wichtigen Tage anziehen sollte. Einesteils wollte ich einen möglichst vorteilhaften Eindruck machen, andererseits befürchtete ich etwas anzuziehen, was das Streng-Praktische meines Aussehens in den Augen der beiden Misses Spenlow hätte beeinträchtigen können. Ich bemühte mich, einen glücklichen Mittelweg ausfindig zu machen. Meine Tante billigte den Anzug, und Mr. Dick warf mir der guten Vorbedeutung wegen einen Schuh nach.

Ich kannte Traddles als vortrefflichen Freund und war ihm herzlich zugeneigt. Dennoch hätte ich bei dieser delikaten Gelegenheit gewünscht, daß er sich nie gewöhnt hätte, sein Haar so unglaublich in die Höhe zu bürsten. Es gab ihm ein so verwundertes Aussehen – ich möchte fast sagen, etwas Besenhaftes –, was, wie ich fürchtete, uns zum Unglück ausschlagen könnte.

Ich nahm mir die Freiheit, Traddles auf dem Wege nach Putney darauf aufmerksam zu machen und ihn zu bitten, ob er es nicht nur ein ganz klein wenig glattstreichen wollte.

»Mein lieber Copperfield«, sagte Traddles, indem er den Hut abnahm und sein Haar in allen Richtungen rieb, »nichts würde mir mehr Vergnügen bereiten, aber es will nicht.«

»Es will sich nicht glätten lassen?«

»Nein. Es läßt sich durch nichts dazu bewegen. Und wenn ich den ganzen Weg nach Putney einen halben Zentner drauf trüge, so würde es sich in demselben Augenblick wieder aufrichten, in dem man das Gewicht entfernt. Du kannst dir keine Vorstellung machen, wie eigenwillig mein Haar ist, Copperfield! Ich sehe immer aus wie ein gereiztes Stachelschwein.«

Ich muß gestehen, ich war ein wenig verdrießlich, obgleich mich seine Gutherzigkeit versöhnte. Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn schätzte, und daß sein Haar offenbar allen Eigensinn aus seinem Charakter an sich gezogen haben müßte, da er so gar keine Spur davon besitze.

»Ja, das ist eine alte Geschichte mit meinem unglückseligen Haar«, lachte Traddles. »Die Frau meines Onkels konnte es schon nicht ausstehen. Sie sagte, es brächte sie zur Verzweiflung. Auch bei meiner Werbung um Sophie war es mir anfangs sehr hinderlich. Sogar außerordentlich.«

»Hatte sie etwas dagegen?«

»Sie nicht, aber ihre älteste Schwester – die Schönheit – machte sich immer darüber lustig. Alle Schwestern lachen darüber.«

»Recht angenehm!« meinte ich.

»Ja«, bestätigte Traddles mit größter Harmlosigkeit. »Es ist für uns alle ein wahrer Spaß. Sie behaupten, Sophie besäße eine Locke davon in ihrem Schreibtisch und habe an dem Buch ein Schloß anbringen müssen, da es sonst nicht zuginge. Wir scherzen immer darüber.«

»Übrigens, lieber Traddles, vielleicht könnte deine Erfahrung mir von Nutzen sein. Als du dich verlobtest, machtest du da in der Familie einen regelrechten Heiratsantrag? Kam so etwas vor, wie wir zum Beispiel heute vorhaben?« fragte ich nervös.

»Die Wahrheit zu gestehen«, entgegnete Traddles, über dessen aufmerksames Gesicht sich jetzt ein Schatten von Nachdenklichkeit verbreitete, »war es bei mir eine ziemlich unangenehme Geschichte, Copperfield. Siehst du, Sophie ist für die Familie so unentbehrlich, daß niemand sich mit dem Gedanken, sie könne jemals heiraten, vertraut machen wollte. Sie hatten es geradezu unter sich abgemacht, daß sie niemals heiraten dürfte, und nannten sie nur die alte Jungfer. Als ich es daher mit der größten Vorsicht gegen Mrs. Crewler zur Sprache brachte – der Vater ist Reverend Horace Crewler –, schrie sie laut auf und fiel in Ohnmacht. Monatelang durfte ich das Thema nicht wieder berühren.«

»Aber endlich brachtest du es doch wieder zur Sprache?«

»Das tat Seine Ehrwürden selbst. Er ist ein ganz vortrefflicher Mann, musterhaft in jeder Hinsicht und er hielt seiner Gattin vor, daß sie sich als Christin mit dem Gedanken an das Opfer versöhnen müsse – um so mehr, als es ungewiß sei – und kein unchristliches Gefühl gegen mich hegen dürfte. Was mich betrifft, Copperfield, ich gebe dir mein Wort, ich kam mir der Familie gegenüber wie ein Raubvogel vor.«

»Aber die Schwestern nahmen doch deine Partei, hoffe ich, Traddles?«

»Nun, das kann ich gerade nicht sagen. Als wir Mrs. Crewler so halb und halb versöhnlich gestimmt hatten, mußten wir es Sara beibringen. Du weißt wohl noch, – Sara, die am Rückenmark leidet.«

»Ja, ich weiß.«

»Sie ballte beide Hände«, sagte Traddles, »sah mich zornig an, schloß die Augen, wurde bleifarben, dann ganz steif und genoß zwei Tage lang nichts als teelöffelweise Toast mit Wasser.«

»Was für ein unliebenswürdiges Mädchen, Traddles.«

»O nein. Ich bitte um Entschuldigung, Copperfield. Sie ist ein ganz entzückendes Mädchen und hat nur zu viel Gefühl. Das haben sie überhaupt alle! Sophie gestand mir später, daß die Selbstvorwürfe, die sie sich gemacht, als sie Sara pflegte, unbeschreiblich gewesen seien. Daß sie schmerzlich gewesen sein mußten, verrieten mir meine eignen Empfindungen, Copperfield, die denen eines Verbrechers glichen. Als Sara von dem Schlag wieder genesen war, hatten wir es noch den andern acht beizubringen, und es brachte auf sie die verschiedenartigsten Wirkungen rührendster Art hervor. Die beiden Kleinen, die Sophie erzieht, haben erst vor kurzem aufgehört mich zu verabscheuen.«

»Hoffentlich haben sie sich jetzt vollständig damit ausgesöhnt?«

»J-ja«, gab Traddles zögernd zu. »Im großen ganzen scheinen sie sich darein ergeben zu haben. Wir sprechen weiter nicht von der Sache, und die Ungewißheit meiner Aussichten ist für sie alle ein großer Trost. Wenn wir einmal heiraten, wird es eine klägliche Szene geben. Sie wird einem Leichenbegängnis eher ähnlicher sehen als einer Hochzeit. Und hassen werden sie mich alle, wenn ich sie mit fortnehme.«

Sein ehrliches Gesicht, wie er halb ernst, halb komisch den Kopf schüttelte, macht jetzt in der Erinnerung einen größern Eindruck auf mich als damals in Wirklichkeit, denn ich war in einen Zustand so übermäßiger Angst und Gedankenflucht geraten, daß ich meine Aufmerksamkeit nicht lange auf ein und denselben Gegenstand richten konnte. Als wir in die Nähe der Wohnung der Misses Spenlow kamen, stand es mit meinem Aussehen und meiner Geistesgegenwart so schlimm, daß Traddles ein Glas Ale als sanftes, mutbildendes Mittel in Vorschlag brachte. Nachdem ich einige Schlucke in einem benachbarten Wirtshaus genossen, ging ich, von ihm geleitet, schwankenden Schrittes zu den Misses Spenlow.

Ich hatte die unbestimmte Empfindung beobachtet zu werden, als das Mädchen die Tür öffnete und ich durch eine Vorhalle mit einem Wetterglas in ein stilles kleines Parterrezimmer mit der Aussicht auf einen niedlichen Garten wankte. Es kam mir so vor, als setzte ich mich auf ein Sofa, glaubte Traddles Haar, wie er seinen Hut abnahm, aufschnellen zu sehen gleich einer der gewissen kleinen Schreckfiguren, die aus Schnupftabakzauberdosen hervorspringen. Ich glaube, ich hörte eine altmodische Uhr auf dem Kaminsims ticken, und versuchte, das Geräusch mit meinem Herzklopfen in Takt zu bringen, aber es gelang nicht. Ich sah mich, glaube ich, im Zimmer nach einem Zeichen von Doras Anwesenheit um und erblickte nichts. Mir scheint, Jip bellte einmal in der Ferne und wurde sofort von jemand beschwichtigt.

Zuletzt fand ich mich in einer Situation wieder, in der ich Traddles rücklings in den Kamin drängte und mich in großer Verwirrung vor zwei vertrockneten ältlichen Damen verbeugte, die, schwarz gekleidet, auch in ihrem übrigen Aussehen lebhaft an den verstorbenen Mr. Spenlow erinnerten.

»Ich bitte«, sagte eine der beiden kleinen Damen, »nehmen Sie Platz.«

Als ich aufgehört hatte, über Traddles zu stolpern, und mich auf etwas gesetzt hatte – es war keine Katze, wie das erste Mal –, hellten sich meine Augen wenigstens so weit auf, um sehen zu können, daß die jüngere der beiden Schwestern, die sechs bis acht Jahre älter als Mr. Spenlow sein mochten, mit der Leitung der Konferenz beauftragt zu sein schien, denn sie hielt meinen Brief in der Hand und betrachtete ihn von Zeit zu Zeit durch ein Augenglas.

Beide waren gleich gekleidet, aber diese Dame trug sich etwas jugendlicher; ein wenig mehr Fransen, eine Brosche oder ein Armband oder andere Kleinigkeiten der Art verliehen ihr ein etwas lebhafteres Aussehen. Beide hielten sich sehr steif, waren zeremoniell, gefaßt und ruhig. Die ältere hatte die Arme verschränkt und saß da wie ein Götzenbild.

»Mr. Copperfield vermute ich«, sagte die Schwester mit dem Brief zu Traddles.

Das war ein schrecklicher Anfang. Traddles mußte auseinandersetzen, daß ich Mr. Copperfield wäre, stellte mich vor, und die Damen hatten sich von ihrer vorgefaßten Meinung, Traddles sei Mr. Copperfield, freizumachen, und alles war in trefflicher Konfusion. Um das Maß vollzumachen, hörte man Jip draußen deutlich bellen und wieder beschwichtigt werden.

»Mr. Copperfield!« wandte sich jetzt die Schwester mit dem Brief an mich.

Ich tat irgend etwas – verbeugte mich vermutlich – und war ganz Ohr, als die andere Dame einfiel:

»Meine Schwester Lavinia, die in Dingen dieser Art bewandert ist, wird klarlegen, was wir zur Förderung des Glückes beider Teile für das Geeignetste erachten.«

Ich entdeckte später, daß Miss Lavinia als Autorität in Herzensangelegenheiten galt, weil früher einmal ein gewisser Mr. Pidger im Hause einen kurzen Whist gespielt und sich angeblich dabei in sie verliebt haben sollte.

Meiner Meinung nach war dies eine willkürliche Annahme gewesen, denn Mr. Pidger hatte niemals ein Wort darüber verlauten lassen. Aber Miss Lavinia und Miss Clarissa lebten in dem Glauben, er sei nur deshalb von einer Liebeserklärung abgehalten worden, weil er durch den Tod in der Blüte seiner Jahre, nämlich im sechzigsten, infolge übermäßigen Trinkens und darauffolgenden massenhaften Genusses der Heilquellen von Bath, der Welt entrissen wurde. Sie hegten den Verdacht, er sei an unterdrückter Liebe gestorben. Sein Porträt im Hause stellte ihn mit einer leuchtendroten Nase dar, und ich vermochte darin nicht das Zeichen heimlicher Liebesleidenschaft zu sehen.

»Wir wollen nicht von der Vergangenheit sprechen«, sagte Miss Lavinia. »Der Tod unseres armen Bruders Francis enthebt uns dessen.«

»Wir standen mit unserm Bruder Francis nicht in häufigem Verkehr«, unterbrach Miss Clarissa, »aber ausgesprochene Uneinigkeit herrschte nie zwischen uns. Francis schlug seinen Weg ein, und wir den unsrigen. Wir erachteten das für das Glück aller Beteiligten als das beste. Und das war es auch.«

Jede der beiden Schwestern bog sich stets ein wenig beim Sprechen vor, nickte dann und saß wieder steif aufrecht, wenn sie schwieg. Miss Clarissa bewegte die Arme nie. Manchmal trommelte sie mit ihren Fingern – Menuette und Märsche, wie es schien.

»Die Lage unserer Nichte oder besser gesagt, ihre vermeintliche Lage, hat sich durch das Ableben unseres Bruders Francis sehr verändert«, sagte Miss Lavinia, »und deshalb erachten wir die Meinung unseres Bruders über ihre Lage ebenfalls für verändert. Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, Mr. Copperfield, daß Sie ein junger Gentleman von guten Eigenschaften und ehrenwertem Charakter sind, noch auch, daß Sie eine Neigung – wenigstens Ihrer Überzeugung nach – zu unserer Nichte gefaßt haben.«

Ich erwiderte wie immer, wenn sich Gelegenheit dazu bot, daß noch nie ein Mensch so geliebt habe wie ich. Traddles kam mir mit einem bekräftigenden Gemurmel zu Hilfe.

Miss Lavinia wollte fortfahren, aber Miss Clarissa, immerwährend von dem Verlangen beseelt, über ihren Bruder Francis zu sprechen, fiel ihr ins Wort:

»Wenn Doras Mama gleich bei ihrer Verheiratung mit unserm Bruder Francis festgestellt hätte, daß für die Familie kein Platz am Mittagstisch sei, wäre es für das Glück aller Beteiligten besser gewesen!«

»Schwester Clarissa«, sagte Miss Lavinia. »Vielleicht brauchen wir davon jetzt nicht zu sprechen.«

»Liebe Schwester Lavinia, es gehört zur Sache! In den Teil der Angelegenheit, von dem du allein zu sprechen berechtigt bist, nehme ich mir nicht heraus dreinzureden. Aber in dem eben erwähnten habe ich eine Stimme und eine Meinung. – Es wäre besser gewesen für das Wohl aller Beteiligten, wenn Doras Mama gleich bei ihrer Verheiratung mit unserm Bruder Francis ihre Ansicht offen herausgesagt hätte. Wir wären informiert gewesen und hätten gesagt: Bitte, dann ladet uns überhaupt nicht ein, und jede Möglichkeit eines Mißverständnisses wäre unterblieben.«

Als Miss Clarissa mit Kopfnicken fertig war, fing Miss Lavinia wieder an, nachdem sie meinen Brief abermals durch ihr Augenglas betrachtet hatte.

Sie hatten beide kleine, helle, runde, funkelnde Augen und überhaupt ganz das Wesen von lebhaften, putzigen, federschüttelnden Kanarienvögeln.

Miss Lavinia fuhr also fort:

»Sie bitten meine Schwester und mich um Erlaubnis, Mr. Copperfield, als erklärter Bewerber unserer Nichte hier verkehren zu dürfen.«

»Wenn unser Bruder Francis«, fiel Miss Clarissa ein, »sich schon mit einer Atmosphäre von Doctors‘ Commons und nur von Doctors‘ Commons zu umgeben wünschte, wie konnten wir etwas dagegen einwenden? Wir hatten kein Recht dazu und sind immer weit entfernt gewesen, uns jemand aufdrängen zu wollen. Aber warum sagte er es nicht offen heraus? Unser Bruder Francis und seine Gattin sollen sich ihre Gesellschaft ruhig aussuchen. Meine Schwester Lavinia und ich finden unsern Verkehr auch ohne ihn, hoffe ich.«

Da sie sich mit diesen Worten an Traddles und mich zu wenden schien, gaben sowohl er als ich eine Art Antwort. Traddles Worte waren unhörbar. Ich glaube, ich äußerte mich, daß es für alle Teile höchst ehrenvoll sei. Was ich damit sagen wollte, wußte ich selbst nicht.

»Liebe Schwester Lavinia«, sagte Miss Clarissa, die jetzt ihr Herz erleichtert hatte, »bitte weiter.«

Miss Lavinia fuhr fort:

»Mr. Copperfield, meine Schwester Clarissa und ich haben Ihren Brief in sorgfältigste Erwägung gezogen und haben es nicht getan, ohne auch schließlich mit unserer Nichte darüber zu sprechen. Wir bezweifeln nicht, daß Sie sie sehr zu lieben glauben.«

»O, glauben! Maam«, hob ich ganz begeistert an. »O –«

Aber da mir Miss Clarissa einen vogelartigen Blick zuwarf, als wolle sie nicht, daß ich das Orakel unterbräche, so bat ich um Verzeihung.

»Liebe«, sagte Miss Lavinia und ersuchte ihre Schwester mit einem Blick um Beistimmung, die diese auch mit einem Kopfnicken nach jedem Satz erteilte, »Liebe, gereifte Zuneigung, Hingebung, Verehrung sprechen nicht mit lautem Ton! Ihre Stimmen sind leise. Sie sind bescheiden, liegen sozusagen im Hinterhalt und warten und warten. So sind die gereiften Früchte. Manchmal gleitet ein Leben hinweg, und immer noch reifen sie im Schatten.«

Natürlich verstand ich damals noch nicht diese Anspielung auf den unglücklichen Mr. Pidger, aber ich erkannte aus dem Ernst, mit dem Miss Clarissa mit dem Kopf nickte, daß Großes in diesen Worten verborgen lag.

»Die leichten – denn ich nenne sie im Vergleich mit solchen Empfindungen leicht – die leichten Neigungen der ganz jungen Leute«, fuhr Miss Lavinia fort, »sind dagegen wie Staub, verglichen mit Felsen. Weil es nun so schwer ist zu erkennen, ob sie von Dauer sind oder auf echtem Grunde stehen, waren meine Schwester Clarissa und ich lange unentschlossen, Mr. Copperfield, und Mr. –«

»Traddles«, ergänzte mein Freund, als er den Blick der Dame auf sich ruhen fühlte.

»Ich bitte um Entschuldigung. Vom innern Juristenkollegium, glaube ich?« Sagte Miss Clarissa und sah wieder in den Brief.

»So ist es«, bestätigte Traddles und wurde ziemlich rot.

Obwohl ich bisher noch keinerlei Aufmunterung zu hören bekommen hatte, so glaubte ich doch in den beiden kleinen Schwestern und vornehmlich in Miss Lavinia eine große Neigung zu erkennen, dieses neue vielversprechende Thema häuslichen Interesses zu genießen und nach Möglichkeit auszuspinnen, was mir ziemlich viel Hoffnung erweckte. Mir schien es, als ob Miss Lavinia außerordentliche Lust darin fände, zwei junge Liebende wie Dora und mich am Gängelbande zu führen, und es Miss Clarissa nicht weniger Genuß bereitete, diese Leitung mitanzusehen und sich in ihrer Art einzumischen, je nachdem sie der Geist dazu trieb.

Die Wahrnehmung flößte mir den Mut ein auf das lebhafteste zu beteuern, daß ich Dora mehr liebe, als ich sagen könnte; daß alle meine Freunde wüßten, wie sehr es der Fall sei; daß meine Tante, Agnes, Traddles und jeder, der mich kenne, wüßten, wie sehr ich Dora liebte und wie ernst mich diese Liebe gemacht hätte. Zur Bestätigung wandte ich mich immer an Traddles. Und Traddles wurde so lebhaft, als ob er mitten in einer parlamentarischen Debatte stünde, und benahm sich geradezu großartig. Er bestätigte meine Rede in festen, klaren Worten und mit einer einfachen, verständigen Art, die offenbar einen günstigen Eindruck machte.

»Ich spreche wie jemand, der eine gewisse Erfahrung in solchen Dingen hat«, sagte Traddles, »denn ich selbst bin mit einer jungen Dame verlobt – einer von zehn Schwestern unten in Devonshire – und sehe bis jetzt noch keine Möglichkeit, wann unser Brautstand zu einem Abschluß kommen kann.«

»Sie werden also gewiß bestätigen können, Mr. Traddles, was ich vorhin sagte von der Liebe, die bescheiden und zurückhaltend wartet und wartet«, bemerkte Miss Lavinia, meinen Freund mit erneutem Interesse ansehend.

»Vollkommen, Maam!«

Miss Clarissa warf Miss Lavinia einen Blick zu und nickte ernst mit dem Kopf. Miss Lavinia erwiderte den Blick mit Selbstbewußtsein und seufzte leise.

»Liebe Schwester Lavinia«, sagte Miss Clarissa, »nimm mein Riechfläschchen.«

Miss Lavinia belebte sich mit ein paar Zügen an dem Fläschchen, während Traddles und ich mit großer Teilnahme zusahen, und fuhr dann mit etwas schwacher Stimme fort:

»Meine Schwester und ich haben lange geschwankt, Mr. Traddles, was wir angesichts der Neigung – der vielleicht bloß eingebildeten Neigung – von zwei so ganz jungen Leuten, wie Ihr Freund Mr. Copperfield und unsere Nichte sind, tun sollten.«

»Unseres Bruders Francis Kind!« fiel Miss Clarissa wieder ein. »Wenn unseres Bruders Francis Gattin es zu ihren Lebzeiten für passend gefunden hätte – sie konnte doch selbstverständlich ganz nach Belieben handeln –, die Familie zu ihrer Mittagstafel einzuladen, so würden wir unseres Bruders Francis Kind gegenwärtig besser kennen. Liebe Schwester Lavinia, bitte weiter.«

Miss Lavinia drehte meinen Brief um und blickte durch ihr Augenglas auf ein paar Notizen, die sie dort aufgeschrieben hatte.

»Ich glaube, wir tun gut, Mr. Traddles, es auf eine Beobachtungsprobe ankommen zu lassen. Deshalb sind wir geneigt, insoweit auf Mr. Copperfields Vorschlag einzugehen, daß wir seine Besuche hier gestatten.«

»Niemals werde ich Ihnen Ihre Güte vergessen, meine verehrten Damen!« rief ich. Es war mir ein Stein vom Herzen gefallen.

»Aber«, fuhr Miss Lavinia fort, »wir wünschen, daß diese Besuche vorderhand so angesehen werden, Mr. Traddles, als ob sie uns gälten. Wir müssen uns hüten, eine formelle Verlobung zwischen Mr. Copperfield und unserer Nichte anzuerkennen, ehe wir nicht Gelegenheit gehabt haben –«

»Ehe du nicht Gelegenheit gehabt hast, liebe Schwester Lavinia!«

»Sei es«, stimmte Miss Lavinia mit einem Seufzer bei. »Ehe ich nicht Gelegenheit gehabt habe sie zu beobachten.«

»Copperfield«, wandte sich Traddles zu mir, »du siehst gewiß ein, daß nichts verständiger oder billiger sein kann.«

»Nichts!« rief ich aus. »Ich bin unendlich dankbar dafür.«

»Bei dieser Sachlage«, fuhr Miss Lavinia fort und zog weiter ihre Notizen zu Rate, »und da wir seine Besuche unter einer andern Bedingung nicht gestatten können, müssen wir von Mr. Copperfield die bestimmte Zusage auf Ehrenwort verlangen, daß er mit unserer Nichte in keiner andern Weise und ohne unser Wissen in Verkehr tritt, – daß kein Plan, wie beschaffen er auch immer sei, in bezug auf unsere Nichte entworfen wird, ohne daß man ihn zuerst uns unterbreitet.«

»Dir, Schwester Lavinia!«

»Sei es so, Clarissa, –« sagte Miss Lavinia mit Resignation, »– also mir! Wir müssen dies zu einer ausdrücklichen und ernstlichen Bedingung machen, die um keinen Preis verletzt werden darf. Wir wünschten Mr. Copperfield heute mit einem vertrauten Freunde bei uns zu sehen«, – mit einer Verbeugung gegen Traddles, der sie erwiderte, – »damit über diese Sache kein Zweifel oder Mißverständnis entsteht. Wenn Mr. Traddles oder Sie, Mr. Copperfield, den mindesten Anstand nehmen dieses Versprechen zu geben, so bitte ich Sie, sich die Sache erst zu überlegen.«

In höchster Begeisterung rief ich aus, daß keine Sekunde Überlegung nötig sei. Ich legte das verlangte Versprechen in der leidenschaftlichsten Weise ab, rief Traddles zum Zeugen an und nannte mich den verabscheuungswürdigsten Menschen, wenn ich es jemals auch nur im mindesten verletzte.

»Halt!« rief Miss Lavinia und hielt abwehrend die Hand empor. »Ehe wir das Vergnügen hatten die beiden Herren zu empfangen, beschlossen wir, sie zur Erwägung dieses Punktes eine Viertelstunde allein zu lassen. Gestatten Sie, daß wir uns zurückziehen.«

Vergebens beteuerte ich, daß keine Überlegung notwendig sei. Die Damen bestanden darauf, sich auf eine Viertelstunde zu entfernen.

Dann hüpften die beiden kleinen Vögel mit großer Würde hinaus und ließen mich mit Traddles im Zimmer zurück.

Ich nahm die Glückwünsche meines Freundes entgegen und schwebte in einem Gefühl, als wäre ich in die Regionen ewiger Glückseligkeit versetzt. Genau nach Ablauf einer Viertelstunde traten die Damen mit Würde wieder ein. Sie waren fortgerauscht, als ob ihre Kleider aus Herbstblättern bestünden, und rauschten in derselben Weise wieder herein.

Ich verpflichtete mich feierlich von neuem, an den vorgeschriebenen Bedingungen festzuhalten.

»Liebe Schwester Clarissa«, sagte Miss Lavinia, »das Übrige ist deine Sache.«

Miss Clarissa löste jetzt zum ersten Mal ihre verschränkten Arme, ergriff den Brief und warf einen Blick auf die Notizen.

»Wir werden uns glücklich schätzen«, sagte sie, »Mr. Copperfield jeden Sonntag zum Essen bei uns zu sehen, wenn es ihm paßt. Wir speisen um drei Uhr.«

Ich verbeugte mich.

»Im Lauf der Woche«, fuhr Miss Clarissa fort, »werden wir uns glücklich schätzen, Mr. Copperfield beim Tee zu sehen. Unsere Stunde ist halb sieben.«

Ich verbeugte mich abermals.

»Zweimal in der Woche als Regel, nicht öfter.«

Ich verbeugte mich wiederum.

»Miss Trotwood, von der in Mr. Copperfields Briefe Erwähnung geschieht, wird uns vielleicht auch besuchen. Wenn Besuche für das Glück aller Beteiligten angezeigt erscheinen, empfangen wir gern Besuche und erwidern sie auch. Wenn es besser ist für das Glück aller Beteiligten, daß keine stattfinden – wie es bei unserm Bruder Francis und seiner Familie der Fall war –, so ist das etwas ganz anderes.«

Ich beteuerte, daß meine Tante sich stolz und glücklich schätzen würde, die Bekanntschaft der Damen zu machen, – obgleich ich nicht ganz sicher war, daß sie gut zusammenpassen würden. Da die Bedingungen jetzt festgestellt waren, sprach ich meinen Dank in der wärmsten Weise aus und ergriff zuerst Miss Clarissas und hierauf Miss Lavinias Hand und drückte sie an die Lippen.

Miss Lavinia stand dann auf, bat Mr. Traddles, uns einen Augenblick zu entschuldigen, und forderte mich auf, ihr zu folgen. Ich gehorchte zitternd vor Aufregung und trat mit ihr in das anstoßende Zimmer. Dort fand ich meinen kleinen Liebling hinter der Tür, sich die Ohren zuhaltend und das liebliche Gesichtchen der Wand zugekehrt, während Jip im Tellerwärmer saß, den Kopf mit einem Handtuch zugebunden.

O, wie schön war sie in ihrem schwarzen Hauskleid! Wie schluchzte sie anfangs und weinte und wollte nicht hinter der Türe hervor. Und wie lieb wir einander hatten, als sie endlich hervorkam, und wie selig ich war, als wir Jip aus dem Tellerwärmer herausholten und ihn, stark niesend, dem Lichte wieder schenkten und dann alle drei beisammen saßen.

»Liebste Dora! Jetzt bist du für immer mein!«

»O, bitte nicht«, flehte Dora, »bitte.«

»Bist du denn nicht für immer mein, Dora?«

»O ja, natürlich! Aber ich bin so erschrocken.«

»Erschrocken, mein Herz?«

»O ja. Ich kann ihn nicht ausstehn. Warum geht er nicht fort.«

»Wer denn, Herzensschatz?«

»Dein Freund. Es geht ihn doch gar nichts an! Wie dumm er sein muß!«

»Aber liebe Dora« – nichts konnte entzückender sein als ihre kindische Art – »er ist das beste Geschöpf von der Welt.«

»Aber wir brauchen keine besten Geschöpfe«, schmollte Dora.

»Du wirst ihn bald besser kennenlernen, Liebling, und er wird dir gefallen. Und meine Tante kommt auch bald her, und auch an ihr wirst du viel Gefallen finden, sobald du sie näher kennst.«

»O, bitte nein, bringe sie nicht her«, sagte Dora, gab mir schnell und erschrocken einen Kuß und faltete die Hände. »O, bitte nicht! Ich weiß, sie ist eine böse, Unheil stiftende, alte Frau. Bringe sie nicht her –, Doady!« was eine Abkürzung für David sein sollte.

Ich sah wohl, Vorstellungen halfen jetzt nichts. So lachte ich und war sehr verliebt und sehr glücklich. Sie zeigte mir Jips neuestes Kunststück, wie er in einer Ecke auf den Hinterbeinen stehen konnte; – er tat es etwa so lange, wie ein Blitz aufleuchtet, und fiel dann wieder zusammen, und ich weiß nicht, wie lange ich dageblieben wäre, ohne an Traddles zu denken, wenn Miss Lavinia mich nicht holen gekommen wäre.

Miss Lavinia hatte Dora sehr gern (sie sähe ganz so aus, wie sie selbst einst in diesem Alter ? Miss Lavinia mußte sich unglaublich verändert haben) und behandelte sie immer wie ein Spielzeug. Ich wollte Dora überreden sich Traddles vorstellen zu lassen, aber kaum brachte ich es heraus, da lief sie fort in ihr Zimmer und schloß sich ein. So begab ich mich wieder zu Traddles ohne sie und ging mit ihm fort wie auf Wolken wandelnd.

 

»Befriedigender konnte es nicht ausfallen«, sagte Traddles. »Es sind wirklich ein paar sehr angenehme alte Damen. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn du Jahre vor mir heiratest, Copperfield.«

»Spielt deine Sophie ein Instrument, Traddles?« fragte ich, Stolz im Herzen.

»Sie spielt Piano grade gut genug, um es ihren kleinen Schwestern lehren zu können«, sagte Traddles.

»Singt sie auch?«

»Manchmal singt sie Balladen, um die andern etwas aufzuheitern, wenn sie schlechter Laune sind. Aber sie hat keine geschulte Stimme.«

»Begleitet sie sich mit der Gitarre?« fragte ich.

»O Gott, nein.«

»Malt sie?«

»Auch das nicht.«

Ich versprach Traddles, daß er Dora singen hören und ihre Blumenmalerei sehen sollte. Er sagte, es würde ihm viel Freude machen, und wir gingen in der vortrefflichsten Stimmung Arm in Arm nach Haus. Ich ermunterte ihn, mir von Sophie zu erzählen, und sah, mit welcher Liebe er auf sie vertraute. Ich verglich sie innerlich mit Dora und fühlte mich bei dem Vergleich nicht wenig befriedigt. Aber ich begriff auch, was für ein vortreffliches Mädchen sie für Traddles sein mußte.

Natürlich setzte ich meine Tante sofort von dem erfolgreichen Ausgang der Konferenz mit allen Details in Kenntnis. Sie war froh, mich so glücklich zu sehen, und versprach, unverzüglich Doras Tanten einen Besuch abzustatten. Aber sie machte an diesem Abend einen so langen Spaziergang durch unser Zimmer, während ich an Agnes schrieb, daß es schien, als sollte er bis zum Morgen dauern.

Mein Brief an Agnes war innig und dankbar, und ich erzählte ihr, welche gute Wirkungen ihr Rat für mich gehabt hatte. Sie antwortete umgehend, und ihr Brief war hoffnungsvoll, innig und heiter.

 

Ich hatte jetzt mehr zu tun als je. Mit Rücksicht auf meine täglichen Wanderungen nach Highgate bedeutete Putney einen weiteren Ausflug, und ich wünschte natürlich so oft wie möglich dort zu sein. Da die vorgeschlagnen Teebesuche ganz unausführbar waren, erhielt ich von Miss Lavinia die Erlaubnis, statt dessen jeden Samstagnachmittag einen langen Besuch machen zu dürfen. So wurde mir der Schluß jeder Woche eine köstliche Zeit, und die sehnsüchtige Erwartung half mir über die übrigen Tage hinweg.

Einen großen Trost gewährte es mir, daß meine Tante mit den zwei Damen viel besser auskam, als ich erwartet hatte. Sie stattete ihren versprochenen Besuch wenige Tage nach der Konferenz ab, und nicht lange später besuchten Doras Tanten sie in aller Form. Ähnliche Zusammenkünfte freundschaftlichen Charakters fanden später jedesmal in Zwischenräumen von drei bis vier Wochen statt.

Allerdings entsetzte meine Tante die beiden Damen sehr dadurch, daß sie alle Fiaker verschmähte und zu den ungewöhnlichsten Zeiten nach Putney ging oder ihren Hut so trug, wie es ihr gerade beliebte, ohne sich im geringsten um die Vorurteile der Zivilisation zu bekümmern. Doras Tanten waren sich bald darüber einig, in Miss Trotwood eine exzentrische und etwas männliche, mit einem starken Verstände ausgestattete Dame zu sehen, und wenn sie auch gelegentlich durch ketzerische Meinungsäußerung über verschiedne Punkte der Etikette gekränkt waren, so kam doch immer wieder eine allgemeine Harmonie zustande, da meine Tante aus Liebe zu mir einige ihrer kleinen Eigenheiten aufopferte.

Jip war das einzige Mitglied unserer kleinen Gesellschaft, das sich durchaus den Umständen nicht anpassen wollte. Sooft er meine Tante sah, ließ er sofort jeden Zahn im Maule sehen, zog sich unter einen Stuhl zurück und knurrte rastlos. Nur dann und wann unterbrach er sich mit einem kläglichen Geheul, als ob wirklich seinen Gefühlen zu viel zugemutet würde.

Alles wurde an ihm versucht, Liebkosen, Schelten, Schläge, und einmal brachte man ihn sogar in die Buckingham-Straße, wo er zum Schrecken aller Zusehenden sofort auf die beiden Katzen losfuhr. Aber nie konnte er sich überwinden die Gesellschaft meiner Tante zu ertragen. Manchmal schien es, als habe er seine Abneigung überwunden; dann war er ein paar Minuten ganz liebenswürdig, aber plötzlich schnupperte er mit seinem Stumpfnäschen in die Luft und heulte so jämmerlich, daß nichts übrigblieb, als ihm die Augen zu verbinden und ihn in den Tellerwärmer zu setzen. Später band ihn Dora regelmäßig in ein Tuch ein und steckte ihn in den Tellerwärmer, sooft sie meine Tante von weitem kommen sah.

 

Etwas machte mir große Sorge, als wir so in stillem Glück dahinlebten. Nämlich, daß Dora, wie auf allgemeinen Beschluß, wie ein hübsches Spielzeug behandelt wurde. Meine Tante, mit der sie nach und nach vertraut wurde, nannte sie immer nur »Blümchen«, und Miss Lavinia fand ihr einziges Vergnügen darin, sie zu verhätscheln, ihr das Haar zu locken, Putz für sie zu nähen und sie wie ein Schoßkind zu behandeln. Und die Schwester folgte natürlich Miss Lavinias Beispiel.

Ich nahm mir vor, mit Dora darüber zu sprechen, als wir einmal zusammen spazierengingen. Wir hatten nämlich nach einiger Zeit die Erlaubnis bekommen, allein auszugehen.

»Mein Liebling«, stellte ich ihr vor, »du bist doch kein kleines Kind!«

»Da haben wirs«, sagte Dora. »Jetzt wirst du wild.«

»Wild, meine Liebe?«

»Sie sind doch so gut gegen mich«, sagte Dora, »und ich fühle mich so glücklich!«

»Das ist herrlich, aber mein Liebling«, sagte ich, »du könntest doch sehr glücklich sein und dabei vernünftig behandelt werden.«

Dora warf mir einen allerliebsten vorwurfsvollen Blick zu, fing dann an zu schluchzen und fragte, warum ich mich denn mit ihr verlobt hätte, wenn ich sie nicht ausstehen könnte.

Was konnte ich anderes tun, als ihr die Tränen wegküssen und ihr beteuern, wie sehr ich sie liebte.

»Ich bin so liebebedürftig«, sagte Dora, »und du solltest nicht so hart gegen mich sein, Doady.«

»Ich hart, Herzensschatz? Als ob ich um eine ganze Welt hart gegen dich sein wollte oder könnte.«

»Dann schilt mich nicht immer aus!« sagte Dora und machte eine Rosenknospe aus ihren Lippen, »und ich will wieder gut sein.«

Es freute mich unendlich, daß sie mich gleich darauf aus freien Stücken bat, ihr das früher erwähnte Kochbuch zu bringen und ihr zu zeigen, wie man Rechnung führte.

Ich brachte bei meinem nächsten Besuch das Buch mit und ließ es vorher hübsch einbinden, damit es einladender aussähe. Und beim Spaziergang zeigte ich ihr ein altes Haushaltungsbuch meiner Tante und schenkte ihr einen Satz Schreibtäfelchen und ein Kästchen Bleistifte, damit sie sich üben könnte.

Aber das Kochbuch machte Dora Kopfweh und die Zahlen brachten sie zum Weinen. Sie gingen nicht zu addieren, sagte sie; deshalb löschte sie sie aus und zeichnete die Täfelchen mit lauter kleinen Sträußchen und Porträts von mir und Jip voll.

Dann versuchte ich wie im Scherz, einen mündlichen Unterricht in Haushaltungssachen zu beginnen. Wenn wir an einem Fleischerladen vorübergingen, fragte ich zum Beispiel: »Denke einmal, Schatz, wir wären verheiratet, und du wolltest zum Mittagessen eine Hammelkeule kaufen. Wie würdest du das wohl machen?« Das Gesicht meiner hübschen, kleinen Dora wurde betrübt, und sie machte wieder eine Rosenknospe aus ihrem Munde.

»Würdest du wissen, wie man sie kauft?« wiederholte ich dann vielleicht, wenn ich besonders unbeugsam gestimmt war.

Dora pflegte in einem solchen Fall ein wenig nachzudenken und triumphierend zu antworten:

»Aber der Fleischer weiß doch, wie er sie zu verkaufen hat, was brauche ich es da zu wissen! O Gott, was bist du für ein närrischer Junge!«

Ein ander Mal, als ich Dora fragte, was sie wohl tun würde, wenn wir verheiratet wären und ich möchte gern ein delikates irisches Ragout, gab sie zur Antwort, sie würde der Köchin auftragen es zu bereiten. Und dann faltete sie ihre kleinen Hände auf meinem Arm und lachte so entzückend, daß sie bezaubernder war als je.

Die Hauptverwendung des Kochbuchs bestand darin, daß Dora es in eine Ecke legte, damit Jip darauf aufwarten könnte. Sie freute sich unendlich, als er das schließlich erlernt hatte und dabei den Bleistift im Maul hielt.

Wir kamen schließlich wieder auf die Gitarre zurück und das Blumenmalen und die Lieder vom unaufhörlichen Tanzen – tarala – und waren so glücklich, wie die Woche lang war. Manchmal wünschte ich, ich könnte mir das Herz fassen, Miss Lavinia zu sagen, sie behandle das Kleinod meines Herzens zu sehr wie ein Spielzeug. Und dann ertappte ich mich immer wieder, daß ich es selber nicht anders gemacht hatte.

42. Kapitel Unheil


42. Kapitel Unheil

Es kommt mir fast unziemlich vor, selbst in diesem nur für mich bestimmten Manuskript niederzuschreiben, wie angestrengt ich mich in meinem Pflichtgefühl Dora und ihren Tanten gegenüber mit der Erlernung der schrecklichen Stenographie abquälte, aber ich kann nur sagen, gerade aus der Ausdauer, die ich dadurch noch stärkte, entsprang die Quelle aller meiner Erfolge im Leben. Ich habe viel Glück in irdischen Dingen gehabt, und andere Menschen, die sich viel mehr anstrengten, haben es nicht halb soweit gebracht.

Alle meine Erfolge verdankte ich nur dem Umstand, daß ich Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß bei jeder Gelegenheit übte. Ich schreibe dies nicht nieder, um mich selbst zu loben. Ich meine einfach, daß ich alles, was ich im Leben zu tun versucht habe, bemüht war mit ganzem Herzen zu vollbringen und daß ich in großen wie in kleinen Dingen stets den gleichen Ernst anwandte.

Ich brauche hier nicht zu wiederholen, wie viel ich in dieser Hinsicht Agnes verdankte.

 

Ich wende mich jetzt mit dankbarer Liebe wieder zu Agnes.

Sie kam auf vierzehn Tage zu Besuch zu Dr. Strong. Mr. Wickfield war ein alter Freund des Doktors, und Dr. Strong hätte gerne mit ihm gesprochen und ihm beigestanden. Agnes und ihr Vater kamen zusammen zu Besuch. Ich war nicht überrascht, als ich von ihr hörte, sie habe in der Nähe eine Wohnung für Mrs. Heep gesucht, deren Rheumatismus eine Luftveränderung erfordere. Ebensowenig wunderte es mich, als schon am nächsten Tage Uriah als liebevoller Sohn seine würdige Mutter begleitete.

»Ja, sehen Sie, Master Copperfield«, sagte er, als er sich mir im Garten des Doktors aufdrängte. »Wenn man liebt, so ist man ein wenig eifersüchtig. Wenigstens hat man gern ein Auge auf der Geliebten.«

»Auf wen sind Sie denn jetzt eifersüchtig?« fragte ich.

»Ihnen zum Dank, Master Copperfield, für jetzt auf niemand Besondern – wenigstens auf keine männliche Person.«

»Vielleicht gar auf eine weibliche?«

Er warf mir aus seinen tückischen roten Augen einen Seitenblick zu und grinste.

»Wahrhaftig, Master Copperfield, ? wollt ich sagen, Mister, ? ich weiß, Sie entschuldigen schon die alte Angewohnheit ?, aber Sie sind so liebenswürdig, daß Sie mich ausholen können wie ein Korkzieher. Nun, ich will Ihnen nur sagen«, fuhr er fort, indem er seine fischkalte Hand auf meine legte, »ich bin im allgemeinen bei Damen nicht beliebt, Sir, und bin es bei Mrs. Strong nie gewesen.«

Seine Augen hatten einen grünen Schimmer, wie sie mich mit schurkischer List beobachteten.

»Was meinen Sie damit?«

»Nun, obgleich ich ein Jurist bin, Master Copperfield«, gab er mit einem leichten Grinsen zur Antwort, »so meine ich doch jetzt, was ich sage.«

»Und was wollen Sie mit Ihrem Blick sagen?« fragte ich ruhig weiter.

»Mit meinem Blick? Gott, nehmen Sie es aber scharf, Copperfield! Was ich mit meinem Blick meine?«

»Ja. Mit Ihrem Blick.«

Das schien ihm ungemein zu gefallen, und er lachte so herzlich, wie es ihm überhaupt möglich war. Er senkte die Augen zu Boden, schabte sich langsam das Kinn mit dem Daumen und sagte:

»Als ich noch ein niedriger Schreiber war, sah sie immer auf mich herab. Meine Agnes mußte immer um sie herum sein, und auch gegen Sie, Master Copperfield, war sie immer freundlich. Aber ich stand viel zu tief unter ihr, um beachtet zu werden.«

»Nun?« sagte ich. »Angenommen. Und weiter?«

»… Und unter ihm auch«, fuhr Uriah sehr deutlich und in nachdenklichem Tone fort, sich immer noch das Kinn schabend.

»Kennen Sie den Doktor nicht besser«, sagte ich, »daß Sie glauben können, er wisse überhaupt etwas von Ihrem Dasein, wenn Sie nicht dicht vor ihm stehen?«

Er sah mich wieder mit seinem alten Seitenblick an und zog sein Gesicht ganz lang, um sich besser schaben zu können, als er fortfuhr:

»Ach Gott, ich spreche nicht vom Doktor. Der Arme! Ich meine Mr. Maldon.«

Mir stockte das Blut in den Adern. Alle meine alten Zweifel und Befürchtungen standen wieder vor mir. Des Doktors Glück und Frieden, die ganze Reihe von Möglichkeiten von Schuld und Unschuld, die ich nicht enträtseln konnte, sah ich im Handumdrehen diesem Menschen preisgegeben.

»Er kam nie in die Kanzlei, ohne mich herumzukommandieren«, sagte Uriah. »Einer von den feinen Gentlemen! Ich war sehr demütig und niedrig und bin es noch. Aber das gefiel mir nicht, und jetzt kann ichs erst recht nicht leiden.«

Er hörte auf, sich am Kinn zu kratzen, saugte die Wangen ein, bis sie sich innen zu berühren schienen, und sein Seitenblick haftete immer noch auf mir.

»Sie ist eine von den schönen Frauen«, fuhr er fort, als er seinem Gesicht langsam seine natürliche Form wiedergegeben hatte, »die Leuten, wie ich bin, nicht freundlich gesinnt sind. Sie ist gerade die Person danach, die meiner Agnes Rosinen in den Kopf setzen könnte. Ich bin kein Mann für die Damen, Master Copperfield, aber ich habe Augen im Kopf und schon hübsch lange. Mir niedrigen Leute haben meistens Augen und mir können damit sehen.«

Ich bemühte mich unbefangen zu erscheinen, aber, wie ich an seinem Gesicht sah, mit wenig Erfolg.

»Ich laß mich aber nicht unterkriegen, Copperfield«, fuhr er fort und zog mit tückischem Frohlocken seine haarlosen Augenbrauen in die Höhe, »und ich werde mein möglichstes tun, dieser Freundschaft ein Ende zu machen. Ich billige sie nicht. Ich will Ihnen gar nicht verhehlen, daß ich etwas neidisch bin und alle Eindringlinge fernhalten will. Wenn ich mirs leisten kann, setze ich mich nicht der Gefahr aus, Komplotte gegen mich schmieden zu lassen.«

»Sie schmieden eben immer Komplotte und haben andere im selben Verdacht.«

»Vielleicht, Master Copperfield, aber ich habe einen Beweggrund, wie mein Kompagnon immer sagt, und gehe mit Zähnen und Nägeln ans Werk. Wenn ich auch ein niedriger Mensch bin, so lasse ich mir doch nichts gefallen. Es darf mir niemand im Weg stehen. Sie müssen aus dem Wagen raus.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Wirklich nicht?« sagte Uriah mit einer seiner gewohnten schnellenden Bewegungen. »Das wundert mich, Master Copperfield, da Sie doch sonst so gescheit sind! Das nächste Mal werd ich versuchen, mich deutlicher auszudrücken. Ist das übrigens nicht Mr. Maldon zu Pferd, der dort an der Tür klingelt, Sir?«

»Er sieht beinahe so aus«, entgegnete ich so unbefangen wie möglich.

Uriah blieb stehen, steckte die Hände zwischen seine knorrigen Knie und krümmte sich vor Lachen. Vor ganz lautlosem Lachen. Kein Ton kam aus seinem Munde. Mir war sein Benehmen so zuwider, daß ich mich ohne Umstände von ihm abwandte und ihn in der Mitte des Gartens, halb sitzend wie eine Vogelscheuche, der die Stütze umgefallen ist, zurückließ.

 

An diesem Abend war es nicht, aber wie ich mich wohl erinnere, an dem zweitnächsten, am Samstag, daß ich Agnes mit zu Dora nahm.

Ich hatte den Besuch vorher mit Miss Lavinia verabredet, und Agnes wurde zum Tee erwartet.

Ich war ganz aufgeregt vor Stolz und Besorgnis; stolz auf meine liebe kleine Braut und besorgt, wie sie Agnes gefallen würde. Auf dem ganzen Weg nach Putney, wo Agnes in der Landkutsche saß und ich außen, malte ich mir Dora immerwährend aus. Einmal wünschte ich mir, sie möchte am liebsten so aussehen wie damals, dann wieder wie ein anderes Mal, und litt durch solche Sorgen ordentlich wie unter einem Fieber.

Ich hatte natürlich keinen Zweifel, daß sie sehr hübsch aussehen würde, aber es traf sich, daß sie gerade damals vielleicht am allerschönsten war.

Als ich Agnes ihren Tanten vorstellte, hielt sie sich schüchtern versteckt. Ich wußte jetzt, wo ich sie zu suchen hatte, und fand sie richtig wieder hinter der Tür mit zugehaltnen Ohren.

Anfangs wollte sie gar nicht kommen, und dann bat sie um fünf Minuten Frist. Als sie mir endlich ihren Arm gab, um sich ins Zimmer führen zu lassen, war ihr liebliches Gesichtchen ganz rot und hatte nie so hübsch ausgesehen. Aber als wir in das Zimmer traten und sie blaß wurde, war sie noch zehntausendmal schöner.

Sie fürchtete sich vor Agnes. Sie hatte mir gesagt, sie wüßte schon, Agnes wäre »viel zu gescheit«. Aber als sie das heitere, dabei so ernste, gedankenvolle und doch so gute Gesicht erblickte, ließ sie einen leisen Schrei fröhlicher Überraschung hören, legte ihre Arme zärtlich um Agnes‘ Hals und drückte ihre unschuldige Wange an ihr Gesicht.

Ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt, noch nie so gefreut wie damals, als ich die beiden so nebeneinander sitzen und meine Geliebte so befreit in diese herzlichen Augen blicken sah. Miss Lavinia und Miss Clarissa teilten in ihrer Weise meine Freude. Es war der angenehmste Teeabend von der Welt. Miss Clarissa führte den Vorsitz. Ich zerschnitt den süßen Aniskuchen und reichte ihn herum – die kleinen Schwestern hatten eine vogelartige Vorliebe für das Picken von Aniskörnern und Zucker –, und Miss Lavinia sah mit wohlwollender Gunst auf uns, als ob alles ihr Werk wäre.

Die sanfte Heiterkeit Agnes‘ gewann alle Herzen. Ihr ruhiges Interesse an allem, was Dora betraf, ihre Art mit Jip Bekanntschaft zu schließen, der es sofort freundlich aufnahm, ihr geschicktes Benehmen, als Dora sich schämte, sich auf ihren gewohnten Platz neben mich zu setzen, ihre bescheidne Anmut, mit der sie eine Menge schüchterner kleiner Vertrauensbeweise von Dora hervorlockte, schien unsern Kreis erst ganz vollkommen zu machen.

»Es freut mich so sehr«, sagte Dora nach dem Tee, »daß Sie mich gern haben. Ich hielt es nicht für möglich und brauche jetzt, wo Julia Mills fort ist, mehr als je eine Freundin.«

Miss Mills war nämlich abgesegelt, und Dora und ich waren an Bord eines großen Ostindienfahrers im Hafen von Gravesend gegangen, um Abschied zu nehmen. Wir hatten eingemachten Ingwer und Guava und andere Delikatessen dieser Art zum Frühstück genossen und Miss Mills, weinend auf einem Feldstuhl auf dem Quarterdeck sitzend, mit einem großen, neuen Tagebuch unter dem Arm, verlassen, in dem die bei der Betrachtung des Ozeans erwachenden Originalgedanken unter Schloß und Riegel gebracht werden sollten.

 

Agnes sagte, ich müßte sie wohl zu schwarz geschildert haben, aber Dora berichtigte dies sogleich.

»O nein«, sagte sie mit einem Blick auf mich und schüttelte ihre Locken. »Ich habe nichts als Lob über Sie gehört. Er hält so viel auf Sie, daß ich mich ordentlich vor Ihnen gefürchtet habe.«

»Meine Zuneigung ist aber kaum des Gewinnens wert«, sagte Agnes lächelnd.

»Aber bitte, schenken Sie sie mir«, sagte Dora in ihrer schmeichelnden Art, »wenn es sein kann.«

Wir scherzten über Doras Wunsch, noch mehr geliebt zu werden, und sie sagte, ich sei eine Gans und sie könne mich überhaupt nicht leiden, und der kurze Abend flog dahin auf Schwingen wie aus Sommerfäden.

Die Stunde rückte heran, wo die Kutsche uns abholen sollte. Ich stand allein vor dem Kamin, als Dora leise hereinschlich, um mir den gewohnten allerliebsten Abschiedskuß zu geben.

»Meinst du nicht, Doady, wenn ich sie schon länger zur Freundin gehabt hätte«, sagte sie, die hellen Augen noch heller glänzend und mit ihrer kleinen Hand an dem Knopfe meines Rockes spielend, »daß ich dann hätte gescheiter sein können?«

»Lieber Schatz, was für ein Unsinn!«

»Meinst du, es sei Unsinn«? fragte Dora, ohne mich anzusehen. »Weißt du das gewiß?«

»Natürlich.«

»Ich habe vergessen, wie nahe Agnes mit dir verwandt ist, du nichtsnutziger Junge«, fuhr Dora fort, immer noch mit dem Knopf beschäftigt.

»Sie ist keine Verwandte von mir, wir wurden nur zusammen erzogen wie Bruder und Schwester.«

»Ich möchte nur wissen, wieso du dich eigentlich dann in mich verliebt hast«, sagte Dora und fing mit einem andern Knopfe an.

»Vielleicht weil ich dich nicht sehen konnte, ohne dich zu lieben, Dora.«

»Aber wenn du mich nun gar nicht gesehen hättest«, sagte Dora und nahm wieder einen andern Knopf.

»Aber wenn wir nun gar nicht geboren worden wären?« sagte ich scherzend.

 

Ich hätte gerne gewußt, worüber sie nachdachte, während ich in stiller Bewunderung die kleine weiche Hand, die an den Knöpfen meines Rockes spielte, das lockige Haar, das an meiner Brust ruhte, und die Wimpern ihrer niedergeschlagenen Augen, die auf die spielenden Finger sahen, betrachtete. Endlich blickte sie auf und stellte sich auf die Zehen, um mich nachdenklicher als gewöhnlich zu küssen – einmal, zweimal, dreimal –, und verließ dann das Zimmer.

Fünf Minuten später traten alle zusammen wieder herein, und Doras ungewöhnliche Nachdenklichkeit war ganz verschwunden. Sie bestand lachend darauf, ehe die Kutsche kam, Jip alle seine Kunststücke vormachen zu lassen. Das beanspruchte einige Zeit; nicht wegen ihrer großen Anzahl, sondern wegen Jips Sträuben, und als wir die Kutsche kommen hörten, waren wir noch lange nicht fertig. Zärtlich nahmen die beiden jungen Damen voneinander Abschied. Dora sollte Agnes schreiben, doch dürfte Agnes es nicht übelnehmen, wenn die Briefe kindisch ausfielen, und sollte jedes Mal antworten. Dann nahmen sie zum zweiten Mal Abschied am Kutschenschlag und zum dritten Mal, als Dora trotz der Vorstellungen Miss Lavinias noch einmal herausgelaufen kam, um Agnes am Kutschenfenster an das Schreiben zu erinnern und gegen mich auf dem Dach die Locken zu schütteln.

Der Wagen sollte uns in der Nähe von Covent Garden absetzen, von wo wir einen andern Weg nach Highgate nehmen wollten.

Ich sehnte mich schon danach, Doras Lob aus Agnes‘ Munde zu hören. Und, o, wie dieses Lob ausfiel! Wie liebreich und innig empfahl sie das anmutige Wesen meiner zärtlichsten Fürsorge. Wie gedankenvoll prägte sie mir mit ihrer ungekünstelten Anspruchslosigkeit ein, wie sehr ich für das verwaiste Kind zu sorgen habe.

Niemals liebte ich Dora so tief und wahr wie an jenem Abend. Als wir ausstiegen und in der sternenhellen Nacht nach dem Hause des Doktors gingen, sagte ich Agnes, daß alles ihr Werk sei.

»Du bist nicht weniger ihr Schutzengel wie der meinige, Agnes!«

»Ein armer Engel«, antwortete sie, »aber treu.«

Der klare Ton ihrer Stimme ging mir so zu Herzen, daß ich fragen mußte:

»Die heitere Ruhe, die dir so eigen ist, Agnes, wie niemand anders, den ich kenne, ist soweit wiederhergestellt, wie ich sehe, daß ich hoffen kann, du bist glücklicher zu Haus?«

»Ich bin innerlich glücklicher«, sagte sie und war ganz heiter und guten Mutes.

»Es ist keine Veränderung zu Hause eingetreten«, fügte sie nach einer Pause hinzu.

»Keine neue Anspielung auf – ich möchte dich nicht verletzen, Agnes, aber ich muß doch fragen – auf das, wovon wir bei unserm letzten Abschied sprachen?«

»Nein, keine!«

»Ich habe sehr viel darüber nachgedacht.«

»Du mußt nicht soviel daran denken. Vergiß nicht, daß ich mein Vertrauen auf schlichte Liebe und Wahrheit setze.«

»Fürchte nichts um mich, Trotwood«, setzte sie nach einer Pause hinzu, »was du befürchtest, werde ich nie tun.«

Obgleich ich es bei kalter Überlegung niemals für möglich gehalten hatte, so war es doch eine unaussprechliche Beruhigung für mich, die Versicherung von ihren eignen Lippen zu hören. Ich sagte ihr das.

»Und wenn dieser Besuch vorbei ist, denn wir sind jetzt vielleicht zum letzten Mal allein beisammen, wann wirst du dann wieder nach London kommen, liebe Agnes?«

»Wahrscheinlich auf lange nicht. Ich halte es für das beste, um Papas willen zu Hause zu bleiben. In der nächsten Zeit können wir uns wahrscheinlich nicht oft sehen, aber ich will fleißig an Dora schreiben, und auf diesem Wege werden wir viel voneinander hören.«

Wir standen jetzt in dem kleinen Hof vor dem Landhause des Doktors. Es war schon spät. Im Fenster von Mrs. Strongs Zimmer schien ein Licht, und Agnes deutete darauf hin und wünschte mir gute Nacht.

»Mache dir keine Sorgen«, sagte sie und gab mir ihre Hand, »über unser Unglück und über unsre Trübsal! Ich kann über nichts froher sein als über dein Glück. Wenn du mir einmal solltest helfen können, so verlaß dich drauf, daß ich dich darum bitten werde. Und Gottes Segen sei mit dir!«

Bei ihrem strahlenden Lächeln und den letzten Tönen ihrer lieben Stimme war es mir, als sähe und hörte ich wieder meine kleine Dora in ihrer Gesellschaft. Ich blieb eine Weile stehen, sah mit einem Herzen voll Liebe und Dankbarkeit zu den Sternen auf und ging dann langsam fort. Ich hatte ein Bett in einem säubern Wirtshaus in der Nähe bestellt und ging gerade zur Gartenpforte hinaus, als ich, mich zufällig umdrehend, Licht in des Doktors Studierzimmer wahrnahm. Der vorwurfsvolle Gedanke kam mir, daß er ohne meine Beihilfe an dem Wörterbuch arbeiten könnte. Um mich zu überzeugen und jedenfalls um ihm gute Nacht zu sagen, kehrte ich um, ging durch die Vorhalle, öffnete langsam die Tür und sah hinein.

Die erste Person, die ich zu meinem Erstaunen bei dem gedämpften Lichte der Studierlampe erblickte, war Uriah. Er stand dicht neben der Lampe auf den Tisch gestützt, seine andre Totenhand auf den Mund gelegt. Der Doktor saß in seinem Lehnstuhl und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. Mr. Wickfield, in großer schmerzlicher Aufregung, beugte sich unentschlossen über ihn und schüttelte ihn am Arm.

Im ersten Augenblick glaubte ich, der Doktor sei krank. Hastig trat ich einen Schritt vor, als ich Uriahs Blick begegnete und begriff, was vorgegangen war. Ich wollte mich zurückziehen, aber der Doktor winkte mir und ich blieb.

»Jedenfalls könnten mir die Tür zumachen«, bemerkte Uriah, sich krümmend. »Mir brauchen es nicht der ganzen Stadt wissen zu lassen.«

Damit ging er auf den Zehen nach der Tür, die ich offengelassen hatte, und schloß sie sorgfältig ab. Dann kehrte er zurück und nahm seine frühere Stellung wieder ein.

Es lag ein aufdringliches Zurschautragen von mitleidigem Eifer in seiner Stimme und seinem Wesen, das mir noch unleidlicher war als sein früheres Benehmen.

»Ich hab es für meine Pflicht gehalten, Master Copperfield«, sagte er, »Dr. Strong auf das aufmerksam zu machen, was mir schon kürzlich zusammen besprochen haben. Sie schienen mich aber nicht recht zu verstehen.«

Ich warf ihm einen Blick zu, gab aber keine Antwort, trat dann zu meinem guten, alten Lehrer und sprach ein paar Worte des Trostes und der Ermutigung zu ihm. Er legte seine Hand auf meine Schulter, wie er es gewohnt gewesen, als ich noch ein kleiner Junge war, erhob aber sein graues Haupt nicht.

»Da Sie mich damals nicht verstanden, Master Copperfield«, fuhr Uriah in derselben zudringlichen Weise fort, »so derf ich mir wohl die Freiheit nehmen, untertänigst zu bemerken, da mir unter Freunden sind, daß ich Dr. Streng auf das Benehmen seiner Gattin aufmerksam gemacht habe. Es ging mir eigentlich sehr gegen den Strich, Copperfield, mich in so eine unangenehme Sache einzumengen, aber mir können es nun einmal nicht lassen und müssen uns immer in Dinge mischen, die was uns nichts angehen.«

Wenn ich an seinen höhnisch schielenden Blick zurückdenke, wundere ich mich jetzt noch, daß ich ihn nicht an der Gurgel packte und ihm den Atem aus dem Leibe schüttelte.

»Ich glaube wohl, ich drückte mich nicht ganz deutlich aus«, fuhr er fort. »Natürlich waren mir beide bestrebt, ein solches Thema möglichst zu vermeiden. Aber endlich hab ich mich doch entschlossen offen herauszureden, und Dr. Strong erzählt, daß … Haben Sie etwas gesagt, Sir?«

Das galt dem Doktor, der aufstöhnte. Der Schmerzenslaut hätte jedes Herz gerührt, aber auf Uriah brachte er keine Wirkung hervor.

»Ich sagte zu Dr. Strong«, fuhr er fort, »daß jeder sehen müßte, wie Mr. Maldon und die liebenswürdige und gewinnende Dame, was Mrs. Strong ist, zu zärtlich miteinander sind. Die Zeit ist jetzt wahrhaftig gekommen, wo es Dr. Strong gesagt werden muß. Es war doch jedermann klar wie die Sonne, ehe noch Mr. Maldon nach Indien ging, warum er Gründe suchte, wiederzukommen. Als Sie hier eintraten, Master Copperfield, schlug ich meinem Kompagnon grade vor, Dr. Strong auf Wort und Ehre zu sagen, ob er dieser Meinung nicht schon längst war. Kommen Sie, Mr. Wickfield, möchten Sie nicht so gut sein, das zu sagen. Ja oder nein, Sir? Kommen Sie, Kompagnon!«

»Um Gottes willen, lieber Doktor«, sagte Mr. Wickfield, »legen Sie nur nicht zuviel Gewicht auf den Verdacht, den ich vielleicht gehegt habe.«

»Da haben wirs«, rief Uriah. »Welch traurige Bestätigung, was? Er ? so ein alter Freund! Meiner Seel, als ich bloß ein Schreiber bei ihm war, Copperfield, hab ich es mindestens zwanzigmal gesehen, wie er ganz außer sich darüber war ? ganz außer sich, und wie natürlich, ist er doch selbst Vater und konnte er doch nicht zusehen, daß Miss Agnes in die Geschichte noch am Ende verwickelt wird.«

»Mein lieber Strong«, sagte Mr. Wickfield mit bebender Stimme, »mein guter Freund, ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß es mein Fehler war, immer und bei jedem nach versteckten Motiven zu suchen. Dieser Irrtum mag mir Veranlassung zu meinem Argwohn gegeben haben.«

»Sie haben geargwöhnt, Wickfield!« sagte der Doktor, ohne das Haupt zu erheben. »Sie haben geargwöhnt!«

»Raus mit der Sprache, Kompagnon«, drängte Uriah.

»Ja, damals habe ich geargwöhnt. Ich – Gott verzeih mir – glaubte, auch Sie hegten einen Argwohn.«

»Nein, nein, nein!« rief der Doktor in einem Ton ergreifendsten Schmerzes.

»Ich glaubte einmal, daß Sie Maldon nach Indien zu schicken wünschten, um eine Trennung herbeizuführen.«

»Nein, nein, nein! Ich wollte Ännie eine Freude machen, indem ich für ihren Jugendgespielen sorgte. Weiter nichts!«

»Das wurde mir später klar. Ich konnte nicht daran zweifeln, als Sie mir es sagten, aber ich glaubte, – ich bitte Sie, die Kurzsichtigkeit zu bedenken, die bei meinem engen Horizont mein Hauptfehler gewesen ist – daß in einem Falle, wo eine so große Verschiedenheit im Alter herrscht –«

»Sehen Sie, das ist die rechte Art, es auseinanderzusetzen, Master Copperfield«, fiel Uriah ein mit kriecherischem, grinsend zur Schau getragnem Mitleid.

»– eine Dame von so jugendlicher Schönheit bei aller aufrichtigen Achtung vor Ihnen sich bei einer Heirat weniger vom Gefühl als vom Verstände hätte bewegen lassen können. Die übrigen unzähligen Umstände und Empfindungen, die in die gegenteilige Waagschale hätten fallen müssen, zog ich leider nicht in Betracht. Um Himmels willen, bedenken Sie das!«

»Wie schonend er es auseinandersetzt«, hob Uriah hervor.

»Bei allem, was Ihnen teuer ist, alter Freund«, fuhr Mr. Wickfield fort, »bitte ich Sie das zu erwägen! Ich muß jetzt gestehen, da ich nicht anders kann –«

»Nein, Sie können nicht anders, Mr. Wickfield«, echote Uriah, »wenn es einmal soweit ist.«

»– daß ich ihr allerdings mißtraute und es mir manchmal, wie ich bekennen muß, unangenehm war, Agnes so vertraut mit ihr zu sehen. Ich habe nie mit jemand davon gesprochen und werde nie gegen irgend jemand darüber ein Wort fallenlassen. Es ist schrecklich für Sie, so etwas zu hören«, sagte Mr. Wickfield tief erschüttert, »aber wenn Sie erst wüßten, wie schrecklich es für mich ist, so etwas über die Lippen zu bringen, so würden Sie Mitleid mit mir haben.«

In der unerschöpflichen Güte seines Herzens streckte der Doktor seine Hand aus, und Mr. Wickfield hielt sie eine Weile mit gebeugtem Haupte fest.

»Gewiß ist das für jeden Menschen ein sehr unangenehmes Thema«, mischte sich Uriah ein, der sich während des Schweigens wie ein Aal wand, »aber da mir einmal soweit sind, muß ich mir die Freiheit nehmen zu erwähnen, daß es Copperfield auch gemerkt hat.«

Ich wandte mich zu ihm und fragte ihn, wie er es wagen könnte, sich auf mich zu beziehen.

»O, es ist sehr schön von Ihnen, Copperfield«, entgegnete Uriah, »und mir wissen alle, was für ein liebenswürdiger Charakter Sie sind Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie in dem Augenblick, wo ich neulich abends mit Ihnen davon sprach, gut verstanden, was ich meinte, Copperfield! Sie können es nicht leugnen. Wenn Sie es leugnen, geschieht es gewiß mit der besten Absicht. Aber tun Sie es nicht, Copperfield!«

Das sanfte, milde Auge des Doktors ruhte einen Augenblick auf mir, und ich fühlte, daß das Geständnis meiner alten bösen Ahnungen klar auf meinem Gesicht geschrieben stand. Leugnen half nichts. Ich konnte nichts mehr ändern. Mochte ich sagen, was ich wollte, ich konnte mich nicht verstellen.

Wir verstummten und sprachen kein Wort mehr. Der Doktor stand auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann lehnte er sich an den Rücken seines Stuhls und sprach, von Zeit zu Zeit das Taschentuch an die Augen drückend, mit einer schlichten Offenheit, die ihm mehr Ehre machte, als wenn er seinen Schmerz verheimlicht hätte:

»Ich bin schwer zu tadeln. Ich glaube, ich bin sehr schwer zu tadeln. Ich habe ein Wesen, dessen Bild ich voll Liebe im Herzen bewahre, Versuchungen und Verleumdungen ausgesetzt – denn ich nenne sie Verleumdungen, und selbst wenn sie in dem innersten Denken des Betreffenden geblieben sind –, deren Zielscheibe dieses Wesen ohne mich nie hätte werden können.«

Uriah Heep ließ eine Art Näseln hören.

»… Deren Zielscheibe meine Ännie ohne mich«, fuhr der Doktor fort, »nie hätte werden können. Meine Herren, ich bin jetzt alt, das wissen Sie; ich wüßte heute abend nicht, was mir das Leben noch teurer machen sollte. Aber mein Leben für die Treue und Ehrenhaftigkeit der Dame, die der Gegenstand dieses Gesprächs gewesen ist!«

Ich glaube nicht, daß die edelste Verkörperung von Ritterlichkeit, die Verwirklichung der schönsten und romantischsten Gestalt, die je ein Dichter geschaffen hat, dies in ergreifendere und rührendere Worte hätte fassen können, als der schlichte, alte Doktor es tat.

»Ich fühle mich nicht imstande zu leugnen«, fuhr er fort, »und habe nur nie viel darüber nachgedacht, daß ich diese Dame, ganz unwissentlich, vielleicht zu einer unglücklichen Ehe verleitet habe. Ich bin des Beobachtens gänzlich ungewohnt und muß daher glauben, daß in diesem Punkte die Augen anderer Leute schärfer sahen als die meinigen.«

Ich hatte schon oft des Doktors gütige Art seiner jungen Frau gegenüber bewundert, aber die Hochachtung und Zärtlichkeit, mit der er jetzt von ihr sprach, und die ehrerbietige Weise, mit der er auch den leisesten Zweifel an ihrer Schuldlosigkeit abwies, erhoben ihn in meinen Augen über alle Beschreibung.

»Ich heiratete diese Dame, als sie noch sehr jung war«, fuhr er fort. »Ich nahm sie zur Frau, als ihr Charakter sich kaum gebildet hatte. Soweit er entwickelt war, hatte ich das Glück gehabt, ihn zu formen. Ich kannte ihren Vater gut. Ich kannte sie gut. Ich hatte ihr alles gelehrt, was ich konnte, um ihrer schönen und vortrefflichen Eigenschaften willen. Wenn ich ihr ein Unrecht zugefügt habe – und ich fürchte, es ist der Fall gewesen, indem ich, ohne es zu wissen, ihre Dankbarkeit und freundschaftliche Zuneigung ausnützte –, so bitte ich sie jetzt in meinem Herzen um Verzeihung.«

 

Er ging im Zimmer einmal auf und nieder und faßte dann den Stuhl wieder mit einer Hand, die wie seine niedergehaltene Stimme vor tiefer Bewegung zitterte.

»Ich betrachtete mich als eine Zuflucht für sie vor den Gefahren und Wechselfällen des Lebens, redete mir die Hoffnung ein, daß sie bei aller Ungleichheit an Jahren ruhig und zufrieden mit mir leben würde. Ich ließ die Zeit, wo sie immer noch jung und schön, aber mit gereifterem Urteil wieder frei sein würde, nicht unerwogen. Nein, meine Herren, bei meiner Ehre!«

Seine schlichte Gestalt schien fast zu strahlen von Treue und Hochherzigkeit, und in jedem seiner Worte lag eine tiefe Kraft.

»Ich habe sehr glücklich mit dieser Dame gelebt. Bis heute abend habe ich ununterbrochen Veranlassung gehabt, den Tag zu segnen, an dem ich ihr, wie ich jetzt sehe, so großes Unrecht zufügte.«

Seine Stimme, die während der letzten Worte immer mehr und mehr gezittert hatte, versagte für einige Augenblicke; dann fuhr er fort:

»Einmal aus meinem Traum erwacht – ich bin mein ganzes Leben lang in jeder Hinsicht ein armer Träumer gewesen –, sehe ich jetzt ein, wie natürlich es ist, daß sie nicht ohne Schmerz an ihren alten Gespielen und Altersgenossen denken kann. Daß sie mit einem Bedauern, aber einem schuldlosen, und mit untadeligen Gedanken auf das, was ohne mich hätte werden können, zurücksieht, ist, fürchte ich, nur zu wahr. Manches, was ich wohl bemerkt, aber nicht beachtet habe, ist mir in dieser letzten Prüfungsstunde mit neuer Bedeutung klargeworden. Aber darüber hinaus, meine Herren, darf der Name dieser Dame mit keinem Wort, keinem Hauch eines Zweifels befleckt werden.«

Einen Augenblick flammte sein Auge und seine Stimme war fest. Dann schwieg er wieder eine Weile und fuhr endlich fort:

»Es bleibt mir nur noch übrig, die Erkenntnis des Unglücks, das ich verschuldet habe, so ergeben wie ich kann zu tragen. Sie sollte mir Vorwürfe machen, nicht ich ihr. Sie vor Mißdeutungen, die selbst meine Freunde nicht haben vermeiden können, zu schützen, ist jetzt meine Pflicht. Ich werde sie um so besser erfüllen, je zurückgezogener wir leben. Und wenn die Zeit kommt – möge sie bald kommen – wenn es Seine Barmherzigkeit beschließt –, wo mein Tod sie frei macht, so werden meine brechenden Augen mit unbegrenztem Vertrauen und unwandelbarer Liebe auf ihrem treuen Antlitz ruhen, und sie wird dann ohne Kummer glücklichere und schönere Tage erleben.«

Ich konnte meinen alten Lehrer nicht sehen vor den Tränen, die sein tiefer Ernst und seine Güte und die Schlichtheit seines ganzen Wesens mir in die Augen trieben. Er stand an der Tür, als er hinzusetzte:

»Meine Herren, ich habe Sie in mein Herz blicken lassen. Ich bin überzeugt, Sie werden meinen Schmerz respektieren. Was heute abend gesprochen wurde, muß zwischen uns begraben sein. Wickfield, geben Sie einem alten Freunde den Arm und führen Sie mich hinauf!«

Mr. Wickfield eilte zu ihm. Ohne ein Wort zu wechseln, verließen beide langsam das Zimmer, und Uriah sah ihnen nach.

»Ach Master Copperfield«, sagte er und wendete sich ein wenig bestürzt an mich, »die Sache hat nicht ganz die Wendung genommen, die man hätte erwarten können, denn der alte Gelehrte – so ein vortrefflicher Mann er ist – ist blinder als ein Maulwurf. Aber seine Familie ist wohl, dächte ich, aus dem Wagen draußen.«

Schon der Ton seiner Stimme versetzte mich in eine unbeschreibliche Wut.

»Sie Schuft, Sie!« sagte ich. »Was bezwecken Sie damit, daß Sie mich in Ihre Pläne verwickeln? Wie können Sie sich unterstehen sich auf mich zu berufen, Sie falsche Kanaille, als wenn wir die Sache zusammen besprochen hätten!«

Als wir Auge in Auge einander gegenüberstanden, sah ich nur zu deutlich an seiner Schadenfreude, daß er mir sein Vertrauen aufgedrängt hatte in der Absicht mich zu kränken und mir überhaupt eine Falle zu stellen. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Seine lange hagere Wange lag so einladend vor mir, daß ich zuschlug, und mit solcher Kraft, daß mir die Finger brannten.

Er faßte meine Hand, und wir standen so einander gegenüber und sahen uns an. Wir blieben eine lange Weile so, lange genug, daß ich sehen konnte, wie die weißen Zeichen meiner Finger aus dem tiefen Rot seiner Wange verschwanden und ein noch tieferes Rot hinterließen.

»Copperfield«, sagte er endlich mit atemloser Stimme, »haben Sie den Verstand verloren?«

»Lassen Sie mich«, sagte ich und entrang ihm meine Hand. »Sie Hund! Ich will nichts mehr von Ihnen wissen!«

»Wirklich nicht?« sagte er, von den Schmerzen in der Wange gezwungen, die Hand darauf zu legen. »Vielleicht können Sie doch nicht anders. Das war nicht recht von Ihnen.«

»Ich habe Ihnen oft genug gezeigt, wie ich Sie verabscheue. Ich habe es Ihnen jetzt noch deutlicher gezeigt. Warum sollte ich Sie fürchten, da Sie allen, in deren Nähe Sie kommen, sowieso schon das Schlimmste zufügen.«

Er verstand vollkommen die Anspielung auf die Rücksicht, die mich bisher in Schranken gehalten hatte.

Eine zweite lange Pause folgte. Seine Augen schienen jede Färbung anzunehmen, die überhaupt Augen häßlich machen kann.

»Copperfield«, sagte er und nahm die Hand von der Wange, »Sie sind immer gegen mich gewesen. Ich weiß, bei Mr. Wickfield waren Sie immer gegen mich.«

»Denken Sie sich, was Sie wollen«, sagte ich immer noch in größter Wut, »und wenn es zufällig nicht wahr ist, so ist das nicht Ihr Verdienst.«

»Und doch hab ich Sie immer gern gehabt, Copperfield!«

Ich würdigte ihn keiner Antwort, nahm meinen Hut und wollte fortgehen, aber er stellte sich zwischen mich und die Türe.

»Copperfield«, sagte er, »es gehören zwei Leute zu einem Zank. Ich will nicht dabeisein!«

»Sie können zum Teufel gehen!«

»Sagen Sie das nicht«, erwiderte er. »Ich weiß, es wird Ihnen später leid tun. Wie können Sie sich so unter mich erniedrigen, indem Sie sich so hinreißen lassen? Aber ich verzeihe Ihnen.«

»Sie mir verzeihen!« erwiderte ich voll Verachtung.

»Ich tue es aber, und Sie können sich dagegen nicht wehren. So etwas! Über mich herzufallen, der ich immer Ihr Freund gewesen bin! Aber zu einem Zanke gehören zwei Leute, und ich will nicht dabeisein. Ich will Ihr Freund bleiben! Ihnen zum Trotz!«

Die Notwendigkeit, das Gespräch wegen der späten Stunde sehr leise zu führen, trug nichts zur Verbesserung meiner Stimmung bei, obgleich sich meine Leidenschaftlichkeit abkühlte. Ich verließ das Haus. Aber Uriah schlief ebenfalls außer Hause, und ehe ich einige hundert Schritt weit weg war, holte er mich ein.

»Sie spüren ganz gut, Copperfield«, sagte er an meiner Seite, denn ich wendete ihm mein Gesicht nicht zu, »daß Sie in eine schiefe Stellung geraten sind!«

Ich fühlte die Wahrheit seiner Worte genau und geriet nur noch mehr in Zorn.

»Sie können die Sache zu keiner Heldentat machen und mir nicht verwehren, daß ich Ihnen verzeihe. Ich werde es weder gegen Mutter noch gegen sonst jemand erwähnen. Ich bin fest entschlossen Ihnen zu verzeihen! Ich muß mich nur wundern, daß Sie Ihre Hand gegen eine so demütige Person, wie ich bin, aufgehoben haben.«

Ich kam mir ordentlich gemein vor. Er kannte mich besser als ich mich selbst. Wenn er zurückgeschlagen hätte oder heftig geworden wäre, es wäre mir ein Genuß und eine Rechtfertigung gewesen; aber er legte mich auf ein langsames Feuer, auf dem ich mich die halbe Nacht herumquälte.

Als ich am nächsten Morgen ausging, läutete die Frühglocke, und er ging mit seiner Mutter auf und ab. Er redete mich an, als ob nichts vorgefallen wäre, und ich konnte einer Antwort nicht ausweichen. Ich hatte ihn so stark geschlagen, daß er offenbar Zahnweh hatte. Jedenfalls war sein Gesicht mit einem schwarzen Seidentuch verbunden, was ihn keineswegs verschönte.

Ich hörte, daß er sich am Montag morgens in London einen Zahn reißen ließ. Hoffentlich war es ein doppelter.

Dr. Strong gab vor, nicht ganz wohl zu sein, und blieb während der ganzen Zeit des Besuchs den größten Teil des Tages über allein.

Agnes und ihr Vater waren schon eine Woche fort, ehe wir unsere gewöhnlichen Arbeiten wiederaufnahmen. Am Tag vor ihrer Abreise übergab mir der Doktor einen verschlossenen Brief. Er bat mich darin mit eindringlichen und liebevollen Worten, niemals auf den Vorfall jenes Abends zurückzukommen. Ich hatte bereits meiner Tante davon erzählt, aber sonst niemand. Es war kein Thema, das ich mit Agnes hätte besprechen können, und sie ahnte sicherlich nicht das geringste von dem Vorfall.

Auch Mrs. Strong nicht, wie ich überzeugt bin.

 

Wochen vergingen, bevor ich die mindeste Veränderung an ihr bemerkte. Aber sie kam langsam wie eine Wolke bei Windstille. Anfangs schien sie sich über das zärtliche Mitleid zu wundern, mit dem der Doktor zu ihr sprach, und über seinen Wunsch, sie möge ihre Mutter zu sich nehmen, um einige Abwechslung in ihr eintöniges Leben zu bringen. Oft, während wir arbeiteten und sie bei uns saß, bemerkte ich, wie sie ihre Arbeit hinlegte und ihn wieder mit dem merkwürdigen Gesichtsausdruck von damals ansah. Manchmal verließ sie, die Augen voll Tränen, das Zimmer. Allmählich verbreitete sich ein Schatten von Trauer über ihre Schönheit, der Tag für Tag tiefer wurde. Mrs. Markleham war jetzt in das Landhaus gezogen, aber sie schwatzte und schwatzte und sah nichts.

Als diese Veränderung über Ännie, die früher im Hause der Sonnenschein gewesen war, kam; wurde auch der Doktor in seinem Äußern gebeugter und ernster. Aber die ruhige Herzlichkeit seines Wesens und seine wohlwollend schonende Art, mit der er seine Gattin behandelte, schien womöglich noch zuzunehmen. Einmal, ganz früh am Morgen ihres Geburtstags, als sie sich an das Fenster setzte, faßte er ihren Kopf mit beiden Händen, küßte sie auf die Stirn und verließ eilig das Zimmer, zu gerührt, um zu bleiben. Sie stand da wie eine Bildsäule, dann senkte sie das Haupt, schlug die Hände zusammen und weinte vor unsäglichem Schmerz.

Nach diesem Vorfall kam es mir zuweilen vor, als wollte sie mich anreden, wenn wir allein waren. Aber sie brachte nie ein Wort heraus. Der Doktor machte immer nur Vorschläge, sie möge sich mit ihrer Mutter außer Haus Zerstreuung verschaffen, und Mrs. Markleham, der das sehr paßte, strömte vor Lob über. Aber Ännie ging stets ganz teilnahmslos mit und schien an nichts Freude zu finden.

Ich wußte nicht, was ich mir denken sollte. Ebensowenig meine Tante, die in ihrer Ungewißheit wohl schon hundert Meilen abmarschiert haben mußte. Das Seltsamste aber war, daß der einzig wirkliche Troststrahl, der in das Geheimnis dieses häuslichen Unglücks fiel, von Mr. Dick ausging.

Welche Gedanken er sich über die Sache machte oder wie viel er davon in Erfahrung gebracht, weiß ich nicht. Aber seine Verehrung für den Doktor war von jeher grenzenlos gewesen, und wahre Zuneigung, selbst wenn sie von einem Tiere dem Menschen gegenüber ausgeht, besitzt eine Feinheit der Beobachtung, hinter der der schärfste Verstand zurückbleibt. In diesen Herzenssinn, wenn ich es so nennen darf, fielen bei Mr. Dick einige helle Strahlen der Wahrheit.

Mit Stolz hatte er wieder von seinem alten Vorrecht, in seinen freien Stunden mit dem Doktor im Garten auf- und abzugehen wie damals in Canterbury, Gebrauch gemacht. Aber kaum war die Krisis eingetreten, widmete er seine ganze freie Zeit vom frühesten Morgen an diesen Spaziergängen. Er hatte immer schon vor Freude gestrahlt, wenn ihm der Doktor aus seinem wunderbaren Werke, dem Wörterbuch, vorlas, jetzt aber war er schwer unglücklich, wenn es nicht geschah. Während der Doktor und ich miteinander arbeiteten, hatte er sich jetzt mit Mrs. Strong auf- und abzugehen und ihr bei der Pflege ihrer Lieblingsblumen oder beim Jäten der Beete zu helfen angewöhnt. Er sprach wohl kaum ein Dutzend Worte in der Stunde. Aber seine stille Teilnahme und sein aufmerksames Gesicht fanden Widerhall im Herzen beider. Und so wurde er ein Bindeglied, ein einigendes Band zwischen ihnen, was niemand sonst hätte werden können.

Wenn ich daran denke, wie er mit unsäglich weisem Gesicht neben dem Doktor herschritt, entzückt, mit den schweren Worten des Wörterbuchs beschossen zu werden, hinter Ännie große Gießkannen hertrug, auf den Beeten niederkniete und geduldig mit wahren Tatzen von Handschuhen seine Arbeit unter den kleinen Blättern verrichtete und in allem, was er tat, ein zartes Bestreben an den Tag legte, Mrs. Strongs Freund zu sein, – wie er niemals in seinem Dienste erlahmte, niemals den unglücklichen König Karl mit in den Garten brachte –, immer begreifend, daß etwas nicht in Ordnung sei und wiedergutgemacht werden müßte, – so schäme ich mich fast, ihn für nicht geistig normal gehalten zu haben, wenn ich daran denke, wie wenig ich mit meinem Verstände ausgerichtet habe.

»Niemand als ich kennt diesen Mann, Trot«, sagte meine Tante voll Stolz, wenn wir darüber sprachen. »Dick wird sich noch auszeichnen.«

 

Ehe ich dieses Kapitel schließe, muß ich noch von einem andern Vorfall sprechen. Während der Besuch noch bei Dr. Strong war, bemerkte ich, daß der Postbote jeden Morgen Uriah Heep, der die ganze Zeit über in Highgate geblieben war, zwei oder drei Briefe brachte. Sie waren von Mr. Micawber, der sich jetzt eine ausgeschriebene Kanzlistenhandschrift angewöhnt hatte, adressiert. Ich nahm aus diesen kleinen Zeichen an, daß Mr. Micawber sich wohl befinde, und war um so mehr erstaunt, als ich folgenden Brief von seiner liebenswürdigen Gattin empfing.

Canterbury, Montag abends.

Sie werden sich wahrscheinlich wundern, lieber Mr. Copperfield, einen Brief von mir zu erhalten. Noch mehr werden Sie über seinen Inhalt erstaunt sein. Und mehr noch darüber, daß ich Ihnen unbedingtes Schweigen abverlange. Aber meine Gefühle als Gattin und Mutter bedürfen der Erleichterung, und da ich meine Familie nicht zu Rate ziehen kann, habe ich niemand, den ich darum bitten könnte, als meinen Freund und früheren Mieter.

Sie wissen, lieber Mr. Copperfield, daß zwischen mir und Mr. Micawber, den ich nie verlassen werde, immer gegenseitiges Vertrauen geherrscht hat. Mr. Micawber hat vielleicht manchmal einen Wechsel ausgestellt, ohne mich zu Rate zu ziehen, oder mich hinsichtlich der Verfallzeit getäuscht. Aber im großen ganzen hat er vor dem Altar der Liebe – ich meine damit seine Gattin – keine Geheimnisse gehabt und hat regelmäßig beim Zubettgehen die Ereignisse des Tages mit mir besprochen.

Sie können sich nun denken, lieber Mr. Copperfield, wie tief mein Schmerz sein muß, wenn ich Ihnen anvertraue, daß Mr. Micawber sich ganz und gar verändert hat. Er ist zurückhaltend. Er ist geheimnisvoll. Sein Leben ist ein Rätsel für die Gefährtin seiner Freuden und seines Kummers – ich meine wieder seine Gattin –, und wenn ich Ihnen sage, daß ich so wenig von ihm weiß – außer daß er sich vom Morgen bis zum späten Abend in der Kanzlei befindet –, so wenig von ihm weiß wie von dem Mann im Märchen vom kalten Pflaumenpudding, so deute ich die wirkliche Tatsache nur entfernt an.

Aber das ist noch nicht alles. Mr. Micawber ist mürrisch. Er ist streng. Er ist seinem ältesten Sohn und seiner Tochter entfremdet. Er sieht in seinen Zwillingen nicht mehr den Stolz der Familie, selbst den unschuldigen Neuling, der als letztes Mitglied in unsern Kreis getreten ist, blickt er mit gleichgültigem Auge an. Selbst die allernötigsten pekuniären Mittel zur Bestreitung unserer Ausgaben sind von ihm nur mit größter Schwierigkeit zu erlangen, und unerbittlich verweigert er jede Aufklärung über seine uns zur Verzweiflung bringende Politik des Schweigens.

Es ist kaum zu ertragen! Es ist herzzerbrechend! Wenn Sie in Anbetracht meiner schwachen Kräfte mir einen Rat geben wollen, was am besten in einem so ungewöhnlichen Dilemma zu tun ist, so würden Sie zu den vielen Freundschaftsbeweisen, die Sie mir schon erbrachten, noch einen neuen hinzufügen. Mit einem herzlichen Gruß von den Kindern und einem Freundeslächeln von dem zum Glück noch nichtsahnenden Neuling

verbleibe ich, lieber Mr. Copperfield, Ihre tiefbetrübte
       Emma Micawber.

Ich fühlte mich nicht berechtigt, einer Frau wie Mrs. Micawber einen andern Rat zu geben als den, sie möge versuchen, ihren Gatten durch Geduld und Freundlichkeit wiederzugewinnen. Jedenfalls aber mußte ich über den Brief lange und oft nachdenken.

7. Kapitel Mein erstes Semester in Salemhaus


7. Kapitel Mein erstes Semester in Salemhaus

Die Schule fing am nächsten Morgen allen Ernstes an. Es machte einen tiefen Eindruck auf mich, wie der laute Lärm in der Klasse plötzlich zur Totenstille wurde, als Mr. Creakle nach dem Frühstück eintrat, in der Türe stehen blieb und sich umsah, wie der Riese im Märchenbuch, wenn er seine Gefangenen betrachtet.

Tongay stand dicht neben Mr. Creakle. Ich dachte mir, er hat doch gar keine Ursache, so grimmig »Ruhe« zu rufen. Alle Schüler saßen sowieso stumm und regungslos da.

Jetzt sah man Mr. Creakle sprechen, und Tongay wiederholte laut seine Worte.

»Also, ihr Jungen, es ist ein neues Semester angegangen. Nehmt euch in acht in diesem neuen Semester. Seid bei der Hand bei euern Aufgaben, rat ich euch, denn ich werde rasch bei der Hand mit den Strafen sein. Ich werde nicht nachgeben. Es wird euch nichts nützen, wenn ihr euch reibt. Ihr werdet die Striemen nicht wegreiben, die ich euch versetzen werde. Jetzt macht euch an die Arbeit, jeder einzelne.«

Als diese schreckliche Eingangsrede vorüber und Tongay wieder hinausgehumpelt war, kam Mr. Creakle an meine Bank und sagte mir, daß, wenn ich auch gut beißen könnte, er darin noch viel berühmter sei. Er zeigte mir dabei das spanische Rohr und fragte mich, was das wohl für ein Zahn wäre. »Ist es ein scharfer Zahn, he? Ist es ein Doppelzahn, he? Hat er eine gute Schneide, he? Beißt er, he? Beißt er wirklich?« Bei jeder dieser Fragen versetzte er mir einen Hieb, daß ich mich wand und bald in Salemhaus mündig gesprochen war, wie Steerforth es nannte, und auch sehr bald in Tränen schwamm.

Nicht etwa, daß diese Behandlung eine besondere Auszeichnung bedeutet hätte. Im Gegenteil. Bei der großen Mehrzahl der Knaben, besonders bei den Kleinen, machte sich Mr. Creakle auf dieselbe Art bemerkbar, wenn er die Runde im Zimmer machte.

Die halbe Klasse weinte und krümmte sich vor Schmerzen, ehe das Tagewerk begann. Wieviel Unglückliche noch dazu kamen, bevor die Stunde zu Ende ging, getraue ich mich gar nicht anzugeben, um nicht der Übertreibung beschuldigt zu werden.

Ich glaube, es kann nie einen Menschen gegeben haben, den sein Beruf mehr freute, als Mr. Creakle. Seine Wonne, die Jungen schlagen zu können, kam der Befriedigung nagenden Hungers gleich. Ich bin fest überzeugt, da er sich pausbäckigen Jungen gegenüber nicht halten konnte, daß darin für ihn etwas von starker Anziehungskraft lag und ihm keine Ruhe ließ, bis er nicht den Betreffenden für den Tag gezeichnet hatte. Ich war selbst pausbäckig und muß es wissen. Wenn ich jetzt an diesen Menschen denke, wallt mein Blut, und alles empört mich um so mehr, weil ich jetzt weiß, daß er noch dazu ein unfähiger Schuft war und kein größeres Recht auf den Vertrauensposten, den er bekleidete, hatte, als auf den Posten eines ersten Admirals oder eines Feldmarschalls. Nur hätte er dort wahrscheinlich weniger Unheil angerichtet.

Wie demütig wir elenden kleinen Hasenfüße gegen ihn, diesen erbarmungslosen Götzen, waren! In welchem Licht erscheint mir jetzt dieser Stapellauf ins Leben angesichts solcher Demut und Untertänigkeit vor einem Mann von solchem Unwert!

Hier sitze ich wieder auf der Bank und beobachte sein Auge; – voll Unterwürfigkeit beobachte ich ihn, wie er ein Rechenbuch für ein anderes Opfer liniert, das mit dem Lineal eben eins auf die Hand bekommen hat und die Schwiele mit dem Taschentuch reibt. Ich hätte vollauf zu tun. Ich beobachte sein Auge jedoch nicht, weil ich müßig bin, sondern weil es mich unnatürlich anzieht, – mich mit dem schrecklichen Wunsch erfüllt, zu erraten, was er in der nächsten Minute tun wird. Ob er wohl über mich herfallen wird oder über einen andern?

Eine Reihe kleiner Jungen hinter mir beobachtet ihn mit demselben Interesse. Ich glaube, er weiß es und verstellt sich nur. Er schneidet furchtbare Grimassen, während er das Rechenbuch liniert. Und jetzt wirft er einen Seitenblick auf uns, und wir alle lassen den Blick auf die Bücher sinken und fangen an zu zittern. Einen Augenblick später starren wir ihn schon wieder an. Ein Unglücklicher, der seine Aufgabe schlecht gemacht hat, wird herausgerufen. Er stammelt Entschuldigungen und verspricht, es morgen besser zu machen. Mr. Creakle reißt einen Witz, ehe er ihn prügelt, und wir lachen darüber. Wir elenden, kleinen Hunde lachen darüber, mit aschfahlen Gesichtern und Herzen, die uns in die Hosen gefallen sind.

Hier sitze ich wieder in der Bank an einem schläfrigen Sommernachmittag. Ein Surren und Summen rings um mich her, als seien die Jungen lauter große Fliegen. Ein dumpfer Druck lastet nach dem lauen, fetten Mittagessen auf mir, und mein Kopf ist so schwer wie Blei. Ich würde eine Welt darum geben, wenn ich schlafen dürfte. Mein Auge ist auf Mr. Creakle gerichtet, und ich blinzle ihn an wie eine junge Eule; der Schlaf überwältigt mich eine Minute, er verschwimmt vor meinen Augen, wie er die Rechenhefte liniert –; leise schleicht er sich hinter mich, und ich erwache mit einem roten Striemen auf dem Rücken wieder zu klarer Wahrnehmung.

Dann bin ich auf dem Spielplatz, wo mein Auge immer noch von ihm gebannt ist, obgleich ich ihn nicht sehen kann. Das Fenster nicht weit von dem Orte, wo er zu Mittag ißt, vertritt ihn, und ich beobachte es immer an seiner Statt. Wenn sein Gesicht dahinter erscheint, nimmt das meine einen flehentlichen und unterwürfigen Ausdruck an. Wenn er durch die Scheiben heruntersieht, bricht auch der Verwegenste nur Steerforth ausgenommen – mitten in einem Ruf oder Schrei ab und wird nachdenklich. Einmal wirft Traddles, der größte Pechvogel von der Welt, zufällig das Fenster mit einem Ball ein. Noch jetzt überläuft es mich eiskalt, wie ich es geschehen sehe, und begreife, daß der Ball Mr. Creakles geheiligtes Haupt getroffen hat.

Armer Traddles! In seinem engen, himmelblauen Anzug, der seine Arme und Beine wie Würste oder Teigrollen erscheinen ließ, war er der lustigste und zugleich unglücklichste unter den Schülern. Er wurde immer mit dem spanischen Rohr gehauen, ich glaube, jeden Tag im ganzen Semester, mit Ausnahme eines Montags, wo er nur mit dem Lineal eines über beide Hände bekam. Und immer stand er im Begriff, deshalb an seinen Onkel zu schreiben, und immer unterließ er es wieder. Wenn er den Kopf eine Weile auf das Pult gelegt hatte, wurde er wieder lustig, fing an zu lachen und zeichnete auf seine Schiefertafel Gerippe, ehe noch seine Augen ganz trocken waren. Ich konnte mir lange Zeit nicht erklären, welchen Trost Traddles im Zeichnen dieser Gerippe finden mochte, und sah in ihm eine Art Einsiedler, der sich durch solche Symbole der Sterblichkeit vor Augen halten will, daß auch Prügel nicht ewig dauern können. Aber jetzt glaube ich, er zeichnete sie nur, weil sie so leicht waren und er ihnen keine Gesichter zu machen brauchte.

Traddles war sehr ehrenhaft und betrachtete es als eine heilige Pflicht der Schüler, einander beizustehen. Er hatte oft darunter zu leiden und besonders einmal, als Steerforth während des Gottesdienstes gelacht hatte, und der Kirchendiener glaubte, es wäre Traddles gewesen, und diesen hinausführte. Ich sehe ihn jetzt noch vor mir, wie er von dem Diener gepackt hinausging, verabscheut von der ganzen Gemeinde. Er verriet nie den eigentlichen Täter, obgleich er den ganzen nächsten Tag dafür büßen mußte und so lange eingesperrt war, daß er einen ganzen Kirchhof voll Gerippen in seinem lateinischen Wörterbuch mit herausbrachte.

Dann bekam er aber auch seinen Lohn. Steerforth nämlich sagte, in Traddles sei auch keine Spur von einem Mucker, und wir alle fühlten, daß das das höchste Lob bedeutete, das es geben konnte. Ich für meinen Teil hätte viel erdulden mögen, um solchen Lohn zu verdienen, obgleich ich lange nicht so tapfer war wie Traddles und nicht annähernd so alt.

Steerforth Arm in Arm mit Miss Creakle in die Kirche gehen zu sehen, war für mich ein überwältigender Anblick. Ich konnte Miss Creakle der kleinen Emly hinsichtlich Schönheit nicht an die Seite stellen – ich liebte sie nicht – ich wagte es nicht –, aber sie erschien mir als eine junge Dame von ungewöhnlichen Reizen und von unübertrefflicher Eleganz. Wenn Steerforth in weißen Hosen ihr den Sonnenschirm trug, war ich stolz, ihn zu kennen, und glaubte, daß sie nicht anders konnte, als ihn von ganzem Herzen anzubeten. Mr. Sharp und Mr. Mell waren wohl in meinen Augen alle beide sehr beachtenswerte Persönlichkeiten, aber gegen Steerforth verbleichten sie wie Sterne gegenüber der Sonne.

Steerforth blieb mein Beschützer und erwies sich mir als ein sehr nützlicher Freund, da niemand einem Knaben, der in seiner Gunst stand, etwas zu tun wagte. Er konnte mich gegen Mr. Creakle nicht schützen, oder wenigstens tat er es nicht, aber wenn mich Mr. Creakle noch härter als gewöhnlich gestraft hatte, sagte er mir stets, es fehlte mir ein wenig von seinem Mute, und daß er an meiner Stelle es sich nicht hätte gefallen lassen. Damit wollte er mich trösten, und ich fand das sehr freundlich von ihm.

Einen einzigen Vorteil nur hatte Mr. Creakles Strenge: Das Plakat auf meinem Rücken war ihm im Wege, wenn er mir im Vorbeigehen eins versetzen wollte. Aus diesem Grunde wurde es entfernt, und ich sah es nie wieder.

Ein Zufall befestigte das vertrauliche Verhältnis zwischen Steerforth und mir in einer Weise, die mich mit Befriedigung und Stolz erfüllte, wenn es auch mancherlei Beschwerlichkeit mit sich brachte. Als er mir nämlich einmal die Ehre erwies, auf dem Spielplatz mit mir zu sprechen, geschah es, daß ich die Bemerkung wagte, irgend jemand oder etwas passe auf »Peregrine Pickle«. Er sagte nichts; aber als wir zu Bett gingen, fragte er mich, ob ich das Buch besäße. Ich sagte nein und erzählte ihm, wieso ich es gelesen, und erwähnte auch die andern Bücher.

»Und erinnerst du dich noch auf alles?« fragte Steerforth.

»O ja«, gab ich zur Antwort. Ich hätte ein gutes Gedächtnis und glaubte, noch alles fast auswendig zu wissen.

»Ich will dir etwas sagen, kleiner Copperfield«, meinte Steerforth daraufhin, »du kannst sie mir erzählen. Ich mag abends sowieso nicht so bald zu Bett gehen und wache gewöhnlich zu früh auf. Wir wollen sie alle nacheinander durchgehen. Wir werden regelmäßige arabische Nächte einführen.«

Ich fühlte mich außerordentlich geschmeichelt, und wir fingen noch am selben Abend an. Welche Sünden ich im Verlauf meiner Erzählungen an meinen Lieblingsdichtern beging, weiß ich nicht mehr, aber ich hatte einen unerschütterlichen Glauben an sie und eine einfache Art, zu erzählen, und damit kamen wir recht weit. Die Kehrseite der Medaille war nur, daß ich mich abends oft schläfrig oder verstimmt oder nicht aufgelegt fühlte, die Geschichte fortzusetzen, und dann kostete es ein schweres Stück Arbeit. Aber es mußte geschehen.

Steerforths Erwartung zu täuschen oder ihm die Freude zu verderben, ging natürlich nicht an. Auch früh, wenn ich gern noch eine Stunde geschlummert hätte, war es recht fad, wie die Sultanin Scheherazade aufgeweckt und zum Erzählen einer langen Geschichte gezwungen zu werden, ehe die große Schulglocke läutete. Aber Steerforth bestand darauf, und da er mir dafür bei meinen Rechenaufgaben und Aufsätzen half, wenn sie zu schwer waren, verlor ich nichts bei dem Geschäft. Ich muß gerecht sein, es bewegte mich kein selbstsüchtiges Motiv und auch nicht Furcht vor ihm. Ich bewunderte und liebte ihn; sein Beifall war mir genug.

Steerforth konnte auch fürsorglich für mich sein und bewies das bei einer Gelegenheit auf so halsstarrige Art, daß er dem armen Traddles und den übrigen damit Tantalusqualen bereitete. Peggottys versprochener kostbarer Brief kam an, ehe noch einige Wochen des Semesters verstrichen waren und mit ihm ein Kuchen in einem wahren Nest von Orangen und zwei Flaschen Obstwein dabei. Diese Schätze legte ich pflichtgemäß Steerforth zu Füßen und bat ihn, sie zu verteilen.

»Ich will dir was sagen, kleiner Copperfield«, meinte er. »Der Wein wird aufgehoben, um dir die Zunge anzufeuchten, wenn du Geschichten erzählst.«

Ich wurde rot und bat ihn bescheiden, doch nicht daran zu denken. Aber er meinte, ich würde manchmal etwas heiser und jeder Tropfen müsse für mich bleiben. Also schloß er den Wein in seinen Koffer und labte mich mit ihm vermittelst einer im Kork angebrachten Federspule, wenn ich seiner Meinung nach einer Erfrischung bedurfte. Zuweilen war er so gütig und preßte Pomeranzensaft hinein, um den Saft zu verbessern, rührte Ingwer hinein, oder löste ein Pfefferminzzeltchen darin auf. Obwohl ich nicht behaupten kann, daß das Getränk dadurch wesentlich besser wurde oder abends vor dem Einschlafen und früh nüchtern genossen besonders magenstärkend gewesen wäre, trank ich es doch dankbar und war gerührt von Steerforths Aufmerksamkeit.

Wir hatten wohl wochenlang mit Peregrine Pickle und mehrere Monate mit den andern Geschichten zugebracht. Mangel an Stoff trat nie ein, und der Wein hielt fast so lange an wie der Stoff. Der arme Traddles, ich kann nie an diesen Jungen denken, ohne Tränen in den Augen und zugleich eine komische Neigung zu lachen, wirkte gewöhnlich verstärkend wie ein Chor und tat bei den lustigen Stellen, als ob er sich vor Heiterkeit nicht lassen könnte und bei den beunruhigenden, als ob er ganz vor Angst verginge. Das brachte mich manchmal ganz aus der Fassung. Es machte ihm einen Hauptspaß, mit den Zähnen zu klappern, sobald in den Abenteuern des Gil Blas von Alguazil die Rede war, und ich erinnere mich, daß der Arme, als Gil Blas dem Räuberhauptmann in Madrid begegnete, die Rolle des tödlich Entsetzten so lebhaft spielte, daß ihn Mr. Creakle, der auf den Gängen herumlauerte, hörte und wegen Störung im Schlafzimmer am andern Morgen ordentlich durchwichste. Was an Neigung zum Romantischen und Träumerischen in mir lag, wurde durch dieses Erzählen im Dunkeln sehr gestärkt, und in dieser Hinsicht mag es nicht besonders von Vorteil für mich gewesen sein. Aber das Gefühl, daß ich im Schlafsaal wie eine Art Spielzeug behandelt wurde, und das Bewußtsein, auch bei den andern Knaben meiner Fähigkeiten wegen ein gewisses Ansehen zu genießen, trotzdem ich der Jüngste war, munterte mich sehr auf.

In einer Schule, die von bloßer Grausamkeit beherrscht wird, wird nie viel gelernt, ob ihr jetzt ein Dummkopf vorsteht oder nicht. Ich glaube, unsere Schüler waren so unwissend wie nur möglich. Sie wurden viel zu sehr gepeinigt und herumgestoßen, um etwas lernen zu können. Es hatte für sie keinen Zweck, sich zu bemühen in einem Leben voll beständiger Qual und Mühsal. Aber mein bißchen Eitelkeit und Steerforths Hilfe trieben mich an und machten mich, wenn es mir auch keine Strafen ersparte, zu einer Ausnahme unter den übrigen, indem ich wenigstens einige Brosamen Kenntnisse auflas.

Mr. Mell, an den ich mit Dankbarkeit zurückdenke, legte stets eine gewisse Teilnahme für mich an den Tag und half mir darin sehr. Es schmerzte mich immer, daß Steerforth ihn mit Geringschätzung behandelte und selten eine Gelegenheit versäumte, ihn zu verletzen. Dies beunruhigte mich eine Zeitlang um so mehr; als ich Steerforth; dem ich ein Geheimnis ebensowenig vorenthalten konnte wie einen Kuchen oder sonst etwas Greifbares, von den beiden alten Frauen erzählt hatte, zu denen mich Mr. Mell mitgenommen. Immer fürchtete ich, Steerforth würde es verraten und ihn damit verhöhnen. Als ich an jenem Morgen mein Frühstück in dem Asyl gegessen und im Schatten der Pfauenfedern und bei dem Ton der Flöte eingeschlafen war, hätte wohl keiner der damals Anwesenden geahnt, welche Folgen der Besuch einer so unbedeutenden Person wie ich noch einmal haben würde.

Leider hatte er ganz unvorhergesehene Folgen, und zwar in ihrer Art recht ernste. Eines Tages nämlich, als Mr. Creakle wegen Unpäßlichkeit das Zimmer hütete, was natürlich die lebhafteste Freude über die ganze Schule verbreitete, herrschte in der Morgenstunde viel Lärm. Alle benahmen sich so übermütig, daß kaum mit ihnen auszukommen war. Selbst als der gefürchtete Tongay mit seinem Holzbein zwei- oder dreimal hereingestelzt kam und die Namen der ärgsten Übeltäter aufschrieb, machte es keinen Eindruck. Alle wußten, sie würden morgen sowieso gestraft, mochten sie tun oder lassen, was sie wollten, und hielten es deshalb für das gescheiteste, sich wenigstens der Gegenwart möglichst zu freuen. Es war eigentlich ein halber Feiertag, nämlich Samstag, aber da der Lärm auf dem Spielplatz Mr. Creakle möglicherweise hätte stören können und das Wetter zum Ausgehen nicht günstig schien, mußten wir nachmittags bei einigen leichteren Aufgaben in der Klasse bleiben. Es war der Tag der Woche, an dem Mr. Sharp sich die Perücke kräuseln ließ, und daher fiel auf Mr. Mell das Amt, Schule zu halten. Wenn ich die Vorstellung von einem Stier oder einem Bären mit einer so sanften Person wie Mr. Mell überhaupt in Verbindung bringen könnte, so an diesem Nachmittag, als das Lärmen seine höchste Spitze erreichte, nur unter dem Bilde eines dieser Tiere, wenn es von tausend Hunden angefallen wird. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er den Kopf auf seine knochige Hand stützt und, über das Buch auf seinem Pult geneigt, sich vergeblich bemüht, mitten unter einem Lärm, der den Sprecher des Unterhauses schwindlig gemacht haben würde, seine anstrengende Arbeit fortzusetzen. Die Jungen haschten sich zwischen den Bänken, sie lachten, sangen, tanzten, heulten, scharrten mit den Füßen, andre sprangen um Mr. Mell herum, grunzten, schnitten Gesichter, äfften ihn nach – hinter dem Rücken und vor seinen Augen –, verspotteten seine Armut, seine Stiefel, seinen Rock, seine Mutter, kurz alles, was ihm gehörte und was sie hätten achten sollen.

»Ruhe!« schrie Mr. Mell, plötzlich aufspringend und mit dem Buch auf das Pult schlagend. »Was soll das heißen. Es ist nicht auszuhalten. Es ist zum Verrücktwerden. Wie könnt ihr mir das tun, Jungen!«

Er schlug mit meinem Buch auf das Pult, und wie ich so neben ihm stehend seinem Auge, das im Zimmer herumschweifte, folgte, sah ich, wie sie alle schwiegen; einige aus plötzlicher Überraschung, manche halb aus Angst, manche vielleicht aus Reue.

Steerforths Platz war am untern Ende der Schulstube. Er hatte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände in den Taschen, und sah Mr. Mell an, die Lippen zum Pfeifen gespitzt.

»Ruhe, Mr. Steerforth«, sagte Mr. Mell.

»Selbst Ruhe«, sagte Steerforth und wurde rot. »Mit wem sprechen Sie eigentlich?«

»Setzen Sie sich«, sagte Mr. Mell.

»Setzen Sie sich selber«, sagte Steerforth, »und kümmern Sie sich um Ihre Sachen.«

Man hörte ein Kichern und einige Beifallsrufe. Aber Mr. Mell war so bleich, daß es fast augenblicklich wieder still wurde, und ein Junge, der hinter ihn gesprungen war, um wieder Mr. Mells Mutter nachzuäffen, besann sich anders und gab vor, er möchte eine Feder geschnitten haben.

»Wenn Sie vielleicht glauben, Steerforth«, sagte Mell, »es wäre mir nicht bekannt, welche Macht Sie hier über jedes Gemüt ausüben können« – er legte seine Hand, vielleicht ohne zu wissen, was er tat, auf meinen Kopf – »oder ich hätte nicht bemerkt, wie Sie vor wenigen Minuten Ihre jüngern Mitschüler in jeder Weise aufreizten, mich zu beschimpfen, so irren Sie sich.«

»Ich gebe mir überhaupt nicht Mühe, an Sie zu denken«, sagte Steerforth kaltblütig, »also irre ich mich zufällig gar nicht.«

»Und wenn Sie Ihre Stellung als Günstling hier mißbrauchen, Sir«, fuhr Mr. Mell mit bebenden Lippen fort, »um einen anständigen Menschen zu beleidigen.«

»Einen was? – Wo ist er?« fragte Steerforth.

Hier rief jemand: »Pfui, Steerforth, das ist gemein.«

Es war Traddles, den Mr. Mell augenblicklich zurechtwies, indem er ihm befahl, den Mund zu halten.

»– Jemand zu beleidigen, der nicht glücklich im Leben ist und Ihnen nie das geringste getan hat, und zugleich die vielen Gründe kennen, die Sie veranlassen sollten, es nicht zu tun, Gründe, die zu kennen Sie alt und klug genug sind«, sagte Mr. Mell, und seine Lippen zitterten immer mehr, »so begehen Sie damit eine niedrige und gemeine Handlung. Sie können sich jetzt setzen oder stehen bleiben, wie Sie wollen. Weiter, Copperfield.«

»Kleiner Copperfield«, sagte Steerford und kam ans Pult, »warte einen Augenblick. Ich will Ihnen was sagen, Mr. Mell, ein für allemal. Wenn Sie sich die Freiheit nehmen, mich niedrig oder gemein zu nennen oder einen ähnlichen Ausdruck zu gebrauchen, so sind Sie ein unverschämter Bettler. Sie sind überhaupt ein Bettler, das wissen Sie ja. Aber wenn Sie das tun, so sind Sie ein unverschämter Bettler.«

Ich war mir nicht klar, ob er nach Mr. Mell oder Mr. Mell nach ihm schlagen wollte, oder ob auf einer der beiden Seiten überhaupt eine solche Absicht vorhanden war. Ich sah die ganze Klasse wie versteinert dasitzen und Mr. Creakle plötzlich in unserer Mitte erscheinen und Tongay neben ihm und an der Tür Mrs. und Miss Creakle mit scheuen und erschrocknen Gesichtern. Mr. Mell, die Ellbogen auf das Pult und das Gesicht in die Hände gelegt, saß einige Augenblicke regungslos da.

»Mr. Mell!« sagte Mr. Creakle, den Schullehrer am Arme fassend und schüttelnd, und sein Flüstern war diesmal so laut, daß Tongay die Worte nicht zu wiederholen brauchte. »Sie haben sich doch nicht etwa vergessen?«

»Nein, Sir, nein«, erwiderte der Lehrer, wieder sein Gesicht zeigend und sich die Hände reibend. Er schüttelte in großer Aufregung den Kopf. »Nein, Sir, nein. Ich habe mich nicht vergessen. Ich – nein, Mr. Creakle, ich habe mich nicht vergessen. Ich – ich – ich – wünschte, Sie hätten etwas früher an mich gedacht, Mr. Creakle. Es – es – wäre gütiger gewesen und gerechter, Sir. Es hätte mir etwas erspart, Sir.«

Mr. Creakle sah streng auf Mr. Mell, legte seine Hand auf Tongays Schulter, stieg auf eine Bank und setzte sich auf das Pult. Nachdem er von diesem Throne noch eine Weile Mr. Mell, der noch immer in größter Aufregung den Kopf schüttelte und sich die Hände rieb, streng angesehen hatte, wandte er sich zu Steerforth und sagte:

»Nun, Sir, da er sich nicht herabläßt, es mir zu sagen, was ist also?«

Steerforth wich der Frage eine Weile aus; er sah seinen Gegner mit zornigem und wildem Gesicht an und blieb stumm. Selbst damals konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, wie nobel sein Aussehen war und wie gewöhnlich und dürftig sich Mr. Mell gegen ihn ausnahm.

»Was hat er eigentlich gemeint, als er von Günstlingen sprach?« sagte Steerforth endlich.

»Günstlinge?« wiederholte Mr. Creakle, und die Adern auf seiner Stirne schwollen plötzlich an. »Wer hat von Günstlingen gesprochen?«

»Er«, sagte Steerforth.

»Bitte, was haben Sie damit gemeint, Sir?« fragte Mr. Creakle und wandte sich voll Zorn an seinen Unterlehrer.

»Ich meinte, was ich sagte, Mr. Creakle«, erwiderte der Gefragte ruhig. »Daß kein Schüler das Recht hat, seine Günstlingsstellung zu benützen, um mich zu erniedrigen.«

»Sie zu erniedrigen? Ausgezeichnet. Aber Sie werden mir gestatten, zu fragen, Mr. Dingsda«, und Mr. Creakle verschränkte seine Arme mit dem Rohrstock auf der Brust und zog seine Brauen so zusammen, daß seine Augen fast verschwanden, – »ob Sie, als Sie von Günstlingen sprachen, mir damit die gehörige Achtung bezeigt haben. Mir, Sir«, fragte Mr. Creakle und schnellte plötzlich mit dem Kopf gegen Mr. Mell vor und zog ihn wieder zurück. »Mir, dem Prinzipal dieser Anstalt und ihrem Brotherrn!?«

»Ich gebe gern zu, daß es unüberlegt war«, sagte Mr. Mell, »ich würde es nicht getan haben, wenn ich bei kaltem Blute gewesen wäre.«

Hier fiel Steerforth ein:

»Und dann sagte er, ich wäre niedrig und gemein, und dann habe ich ihn einen Bettler genannt. Wenn ich bei kaltem Blute gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht keinen Bettler genannt. Aber ich tat es und nehme die Folgen auf mich.«

Ohne wahrscheinlich zu überlegen, ob ihn überhaupt Folgen treffen könnten, erglühte ich förmlich bei dieser mutigen Rede. Sie machte auch auf die Jungen Eindruck, und es entstand eine leise Unruhe unter ihnen, wenn auch keiner ein Wort sprach.

»Ich bin erstaunt, Steerforth, obgleich Ihre Aufrichtigkeit Ihnen Ehre macht«, sagte Mr. Creakle. »Ja, gewiß, Ihnen Ehre macht, – ich bin erstaunt, Steerforth, muß ich schon sagen, daß Sie solch eine Bezeichnung für eine Person brauchten, die in Salemhaus angestellt ist und bezahlt wird, Sir.«

Steerforth lachte kurz auf.

»Das ist keine Antwort, Sir«, sagte Mr. Creakle, »auf meine Bemerkung. Ich erwarte mehr von Ihnen, Steerforth.«

Wenn Mr. Mell in meinen Augen gegenüber dem hübschen Knaben schon abstach, wäre es ganz unmöglich gewesen, zu sagen, was Mr. Creakle für einen Eindruck machte.

»Er soll es ableugnen«, sagte Steerforth.

»Ableugnen, daß er ein Bettler ist, Steerforth? Aber wo bettelt er denn?«

»Wenn er nicht selbst ein Bettler ist, so ist es seine nächste Verwandte«, sagte Steerforth. »Das kommt doch auf dasselbe heraus.«

Er sah mich an, und Mr. Mells Hand klopfte mir sanft auf die Schulter. Ich blickte auf, Schamröte im Gesicht und Reue im Herzen. Aber Mr. Mells Augen ruhten auf Steerforth. Er fuhr fort, mich freundlich auf die Schulter zu klopfen, aber er blickte Steerforth an.

»Da Sie eine Rechtfertigung von mir verlangen, Mr. Creakle«, sagte Steerforth »und ich sagen soll, was ich meine, so sage ich, daß seine Mutter von Almosen in einem Armenhaus lebt.«

Immer noch sah ihn Mr. Mell an und klopfte mir immer noch freundlich auf die Schulter. Leise sagte er dann vor sich hin: »Ja, das habe ich mir gedacht.«

Mr. Creakle wandte sich an den Unterlehrer mit strengem Stirnrunzeln und erkünstelter Höflichkeit.

»Nun, Sie hören, was dieser Herr sagt, Mr. Mell. Haben Sie die Güte, seine Aussage vor der ganzen Schule gefälligst zu berichtigen.«

»Er hat vollständig recht, Sir«, antwortete Mr. Mell inmitten der tiefsten Stille. »Was er gesagt hat, ist wahr.«

»Wollen Sie dann so gut sein und öffentlich erklären«, sagte Mr. Creakle, legte den Kopf auf die Seite und rollte mit den Augen, »ob ich bis zu diesem Augenblick etwas davon in Erfahrung gebracht habe.«

»Ich glaube nicht direkt«, erwiderte Mr. Mell.

»Sie wissen, daß es nicht der Fall war«, sagte Mr. Creakle. »Oder wissen Sie es nicht, Mensch?«

»Ich nehme an, daß Sie wohl niemals meine Verhältnisse für sehr gut gehalten haben«, antwortete der Unterlehrer. »Sie wissen doch, wie meine Lage hier ist und immer war.«

»Ich nehme an«, sagte Mr. Creakle und seine Adern wurden noch dicker, »daß Sie wohl überhaupt in einer falschen Stellung hier gewesen sind und diese Anstalt vermutlich für eine Armenschule gehalten haben. Mr. Mell, wir werden uns trennen und je eher, desto besser.«

»Es ist keine Zeit besser als die gegenwärtige«, erwiderte Mr. Mell und stand auf.

»Für Sie, ja«, sagte Mr. Creakle.

»Ich nehme Abschied von Ihnen, Mr. Creakle, und von euch allen«, sagte Mr. Mell, sah sich im Zimmer um und klopfte mir wieder sanft auf die Schulter.

»James Steerforth, der beste Wunsch, den ich Ihnen hinterlassen kann, ist, daß Sie sich eines Tages schämen mögen über das, was Sie heute getan haben. Heute möchte ich in Ihnen lieber alles andere sehen als einen Freund oder sonst jemand, für den ich ein Interesse fühle.«

Noch einmal legte er die Hand auf meine Schulter, dann nahm er seine Flöte und ein paar Bücher aus dem Pult, ließ den Schlüssel stecken für seinen Nachfolger und verließ die Klasse, seinen ganzen Besitz unter dem Arm.

Mr. Creakle hielt dann noch unter Tongays Assistenz eine Rede, in der er Steerforth dankte, daß er, wenn auch vielleicht ein wenig zu warm, das Ansehen von Salemhaus und seine Unabhängigkeit verteidigt hatte … Er wand sich durch bis zu dem Punkte, wo er Steerforth die Hand schüttelte, während wir dreimal Hoch riefen, ich weiß nicht mehr für wen, aber ich glaube für Steerforth. Wenigstens rief ich mit, obwohl ich sehr niedergeschlagen war. Dann wichste Mr. Creakle den kleinen Tommy Traddles durch, weil er über Mr. Mells Fortgehen geweint hatte, statt in das Hoch einzustimmen, und kehrte wieder zu seinem Sofa oder seinem Bett, oder wo er sonst hergekommen, zurück.

Wir waren uns jetzt selbst überlassen und sahen einander ratlos an. Ich empfand so viel Gewissensbisse und Reue über das Geschehene, daß nur die Furcht, Steerforth, der mich oft ansah, möchte es für unfreundschaftlich oder, besser gesagt, für pflichtwidrig halten, wenn ich weinte, meine Tränen zurückhielt. Er war sehr böse auf Traddles und sagte, es freue ihn, daß er es gekriegt habe.

Der arme Traddles, der schon wieder über das Stadium hinaus war, wo er den Kopf auf das Pult zu legen pflegte und seinem Verdruß wieder mit einem Haufen Gerippe Luft machte, sagte, es sei ihm ganz wurst, aber Mr. Mell sei Unrecht geschehen.

»Wer hat ihm Unrecht getan, du Mädchen?« fragte Steerforth.

»Wer denn sonst als du.«

»Was hab ich denn getan?« fragte Steerforth.

»Was du getan hast«, gab Traddles zur Antwort. »Du hast seine Gefühle verletzt und ihn um seine Stelle gebracht.«

»Seine Gefühle«, wiederholte Steerforth verächtlich. »Seine Gefühle werden sich schon wieder erholen, drauf will ich wetten. Seine Gefühle sind nicht wie deine, Fräulein Traddles. Und was seine Stelle betrifft, die so glänzend war, was? – so werde ich doch natürlich nach Hause schreiben und dafür sorgen, daß er Geld bekommt, Polly.«

Uns kam dieser Vorsatz Steerforths, dessen Mutter, eine reiche Witwe, ihm in allem nachgab, sehr hochherzig vor. Wir freuten uns alle, daß Traddles beschämt war, und hoben Steerforth in den Himmel, besonders, als er uns gnädigst erklärte, daß er alles nur unsertwegen getan und uns durch sein selbstloses Benehmen einen Riesendienst erwiesen hätte.

Aber ich muß gestehen, als ich abends im Dunkeln eine Geschichte erzählte, schien mir Mr. Mells Flöte mehr als einmal traurig in den Ohren zu klingen, und als endlich Steerforth schlief und ich in meinem Bette lag, machte mich der Gedanke, die Flöte werde jetzt woanders gespielt, ganz elend.

Ich vergaß Mr. Mell bald über der Bewunderung Steerforths, der in leichter Dilettantenart und ohne Buch, denn er schien alles auswendig zu wissen, einige der Lehrstunden übernahm, bis der neue Lehrer erschien. Dieser kam aus einer Lateinschule und speiste, bevor er sein Amt antrat, bei dem Direktor, um Steerforth vorgestellt zu werden.

Steerforth fand großen Gefallen an ihm und nannte ihn eine Leuchte. Wenn ich auch nicht begriff, was für ein Gelehrtentitel das wäre, brachte ich ihm doch große Ehrfurcht entgegen und zweifelte nicht im geringsten an seinen großartigen Kenntnissen, obwohl er sich nie solche Mühe mit mir gab, wie Mr. Mell; aber ich war ja auch gar nicht zu rechnen.

Noch ein ungewöhnliches Ereignis in diesem Semester machte einen tiefen Eindruck auf mich, der noch immer fortlebt, – aus verschiedenen Gründen fortlebt.

Eines Nachmittags, als wir alle in einem Zustand ärgster Verwirrung und Angst waren, weil Mr. Creakle so fürchterlich um sich schlug, kam Tongay herein und rief laut:

»Besuch für Copperfield.«

Mr. Creakle wechselte mit ihm ein paar Worte über den Rang des Besuchs und das Zimmer, in das man die Gäste weisen sollte, und sagte dann zu mir, – ich war wie üblich aufgestanden und ganz verblüfft vor Erstaunen – ich sollte die Hintertreppe hinaufgehen und einen reinen Kragen anziehen, ehe ich ins Speisezimmer ginge. Ich gehorchte in einer Aufregung, wie ich sie noch gar nicht gekannt hatte, und als ich an die Tür des Besuchszimmers kam und der Gedanke in mir aufblitzte, es könnte vielleicht meine Mutter sein, – bis dahin hatte ich nur an Mr. und Miss Murdstone gedacht – ließ ich die Klinke wieder los und blieb stehen und holte tief Atem, bevor ich eintrat.

Zuerst sah ich niemand. Aber da ich ein Hindernis an der Tür fühlte, blickte ich dahinter und erkannte zu meinem Erstaunen Mr. Peggotty und Ham, die mit ihren Hüten in der Hand vor mir knixten und einander an die Wand drückten. Ich mußte lachen, aber mehr aus Freude, sie zu sehen, als über ihren Anblick. Wir schüttelten uns herzlich die Hände, und ich lachte und lachte, bis ich mein Taschentuch herausziehen und mir die Augen wischen mußte.

Mr. Peggotty, der während des ganzen Besuchs kein einziges Mal den Mund zumachte, legte große Teilnahme an den Tag, als er das sah, und gab Ham einen Rippenstoß, damit der etwas sagen sollte.

»All wedder lussig, Masr Davy?« fragte Ham mit seinem gewohnten Grinsen. »Wat sünn Sej grot woren.«

»Bin ich gewachsen«, fragte ich und trocknete mir die Augen. Ich weinte über nichts Besonderes, nur das Wiedersehen mit den alten Freunden entlockte mir Tränen.

»Grot woren? Masr Davy! ob hej grot woren is!« sagte Ham.

»Ob hej grot woren is«, wiederholte Mr. Peggotty.

Sie lachten einander an, bis ich mitlachen mußte, und dann lachten wir alle drei, bis mir wieder die Tränen kamen.

»Wissen Sie, wie es Mama geht, Mr. Peggotty«, fragte ich, »und meiner lieben, lieben, alten Peggotty?«

»Ungemein«, sagte Mr. Peggotty.

»Und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge?«

»Un-gemein«, sagte Mr. Peggotty.

Es trat eine große Pause ein. Um sie zu beenden, holte Mr. Peggotty zwei ungeheure Hummern, eine riesige Krabbe und einen großen Segelleinwandbeutel voll Crevetten aus seinen Taschen und häufte sie auf Hams Armen auf.

»Weil Sie das gerne haben, wissen Sie«, sagte er, »haben wir uns die Freiheit genommen! Und die Alte hat se gekocht. Mrs. Gummidge hat se gekocht. Jawoll«, fügte er langsam hinzu, wie mir schien, weil er von nichts anders zu reden wußte. »Wahrhaftig, Mrs. Gummidge hat se gekocht.«

Ich drückte ihm meinen Dank aus, und Mr. Peggotty fuhr fort, Ham hilfesuchend anblickend, der die Krebse angrinste, ohne einen Versuch zu machen, ihn zu unterstützen:

»Wi kamen mit Flut und günstigen Wind in een von uns Yarmouthbooten nach Gravesend. Mien Schwester hett mich den Namen von dem Ort hier schrewen und schrewt, wenn ick nach Gravesend komme, soll ick heröwer kommen und nach Masr Davy fragen, un jem een schoin Gruß von ehr bringen un Gutes wünschen un seggen, daß sej ungemein gut geit. Lütt Emly soll an mien Schwester schriewen, wenn ick wedder to hus bün, dat ick Sej sehen heww und dat Sej woll sünn; un so war et en ganz lussigen Rundgang.«

Ich mußte erst ein wenig nachdenken, was Mr. Peggotty sagen wollte, dann dankte ich ihm herzlich und sagte, rot werdend, – wie ich fühlte, – die kleine Emly werde sich wohl auch verändert haben, seitdem wir zusammen Muscheln und Kiesel am Strande gesucht hatten.

»Is een grot Deeren woren; sej is«, sagte Mr. Peggotty. »Fragen Sie ihn.« Er meinte Ham, der wonnestrahlend über seinem Crevettenbeutel nickte und seine freudige Zustimmung ausdrückte.

»Ehr soit Gesicht!« sagte Mr. Peggotty und sein eignes glänzte wie ein Licht.

»Die Gelehrsamkeit«, sagte Ham.

»Ehr Handschrift«, sagte Mr. Peggotty. »Schwarz wie Kohle. Un so grot. Von witem to sehen.«

Es war wirklich eine Lust, welche Begeisterung über Mr. Peggotty kam, wenn er an seinen kleinen Liebling dachte. Er steht wieder vor mir mit seinem wetterharten haarigen Gesicht, strahlend vor freudiger Liebe und Stolz, daß es sich gar nicht beschreiben läßt. Seine ehrlichen Augen leuchteten auf und glänzten, als ob etwas Schimmerndes ihre Tiefen aufrührte. Seine breite Brust hob sich vor Entzücken. Seine großen starken Hände ballten sich unwillkürlich bei seinem Ernst zusammen, und er gab dem, was er sprach, Nachdruck durch Bewegungen seines Arms, der mir, dem Knirps, wie ein Schmiedehammer vorkam.

Ham meinte es ebenso ernsthaft. Ich glaube, sie würden noch mehr von ihr erzählt haben, wenn sie nicht durch das unvermutete Erscheinen Steerforths in Verlegenheit geraten wären. Als mich dieser in einer Ecke mit zwei Fremden sprechen sah, brach er das Lied ab, das er eben laut sang, und sagte: »Ich wußte nicht, daß du hier bist, kleiner Copperfield.« Es war nicht das gewöhnliche Besuchszimmer und er wollte vorbeigehen.

Ich weiß nicht, ob es der Stolz war, einen Freund wie Steerforth zu besitzen, oder der Wunsch, ihm zu erklären, wie ich zu solchen Bekannten, wie Mr. Peggotty käme, was mich veranlaßte, ihn herbeizurufen.

»Bitte, Steerforth«, sagte ich, »hier sind zwei Schiffer aus Yarmouth, so gute, liebe Leute, Verwandte meiner alten Kindsfrau, die von Gravesend gekommen sind, um mich zu besuchen.«

»O! O!« sagte Steerforth und drehte sich um. »Freut mich, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?«

Es lag etwas Ungezwungenes in seinem Wesen, – etwas Frisches, Munteres, aber gar nichts Anmaßendes, das immer bestrickend auf alle wirkte. Immer noch kommt es mir vor, als ob seine Haltung, seine Lebhaftigkeit, seine gewinnende Stimme, sein hübsches Gesicht und eine gewisse ihm innewohnende Anziehungskraft einen Zauber ausübten, dem nur wenige widerstehen konnten. Es entging mir nicht, wie sehr er ihnen gefiel und wie sich ihm im Augenblick ihre Herzen erschlossen.

»Sie müssen auch zu Hause sagen, Mr. Peggotty, daß Mr. Steerforth sehr freundlich zu mir ist, und daß ich ohne ihn gar nicht wüßte, was anfangen.«

»Unsinn«, lachte Steerforth. »So etwas dürfen Sie ihnen dort nicht sagen.«

»Und wenn Mr. Steerforth einmal nach Norfolk oder Suffolk kommt, Mr. Peggotty«, sagte ich, »und ich bin auch dort, so bringe ich ihn ganz gewiß mit nach Yarmouth, um ihm Ihr Haus zu zeigen. Du hast noch nie so ein Haus gesehen, Steerforth. Es ist aus einem Schiff gemacht.«

»Aus einem Schiff, wahrhaftig?« sagte Steerforth. »Das ist das richtige Haus für so einen tüchtigen Schiffer.«

»Jawoll, Sir, is es auch«, sagte Ham grinsend. »Haben recht, junger Genlmn. Masr Davy, der Genlmn hat recht. N fixer Schipper. Jawoll. Dat is hej.«

Mr. Peggotty fühlte sich nicht weniger geschmeichelt als sein Neffe, wenn ihm auch seine Bescheidenheit verbot, ein persönliches Kompliment so laut auf sich zu beziehen.

»Woll, Sir«, sagte er mit einem Katzenbuckel und in sich hineinlachend und die Zipfel seines Taschentuchs verlegen in die Weste stopfend: »Schoin Dank, Sir, schoin Dank. Ick dau mien Schuldigkeit an Bord.«

»Auch der Beste kann nicht mehr, Mr. Peggotty«, sagte Steerforth, der sofort den Namen aufgefaßt hatte.

»Wette, Sej doons auch«, sagte Peggotty und schüttelte Steerforth die Hand, »und doons gehörich. – Ganz gehörich! Schoin Dank, Sir. Dank Ihnen, Sir, dat Sej mich so fründlich aufgenommen hewwen. Ick bün schlecht und recht, Sir, heißt, hoffe, bün recht, verstehen Sej? An mien Hus is noch vell to sehn, Sir, aber Sej sün willkomm, wenn Sej eenmal mit Masr Davy kommn, ick bün wie een Pagütz, dat bün ick«, sagte Peggotty. Er meinte damit wahrscheinlich eine Schnecke und spielte auf seine Langsamkeit im Fortgehen an, denn er hatte nach jedem Satz versucht, fortzugehen, war aber immer wieder umgekehrt. »Awer ick segg Sej beid Adjüs und wünsch Sej veel Glüch.«

Ham wiederholte diesen Gefühlsausbruch, und wir schieden von beiden auf das herzlichste. Ich fühlte mich an diesem Abend so versucht, Steerforth von der hübschen kleinen Emly zu erzählen, aber ich fürchtete von ihm ausgelacht zu werden.

Ich erinnere mich, daß ich viel und unruhig über Mr. Peggottys Wort nachdachte, daß sie ein großes Mädchen geworden sei, verwarf aber diesen Gedanken später als Unsinn.

Wir schleppten die Krebse, »dat Tüch«, wie Peggotty es bescheiden benannt hatte, unbemerkt in unser Zimmer und hielten an diesem Abend ein großes Festessen. Traddles kam dabei nicht gut weg. Er war ein zu großer Pechvogel, als daß er sich eines Essens, das jedem andern Menschen bekam, lange hätte erfreuen können. Es wurde ihm in der Nacht schlecht – ganz miserabel schlecht – nach der Krabbe, und nachdem er schwarze Tropfen und blaue Pillen in einer Menge geschluckt hatte, daß Demple, dessen Vater Arzt war, meinte, es wäre genug, um eines Pferdes Gesundheit zu untergraben, wurde er durchgehauen und bekam sechs Kapitel aus dem griechischen Testament auf, weil er sich zu beichten weigerte.

Den Rest des Semesters füllt ein Schwall von Erinnerungen aus an die ewigen Plagen und Mühseligkeiten unseres täglichen Lebens, an den schwindenden Sommer und den Wechsel der Jahreszeiten, an die kühlen Morgen, wenn man uns aus den Betten läutete und den kalten, kalten Geruch der dunklen Nächte, wenn wir wieder ins Bett mußten, an die schlecht beleuchtete und schlecht geheizte Abendschulstube und die Morgenklasse, die weiter nichts war als eine große Fröstelmaschine, – an die Abwechslung zwischen gekochtem Rindfleisch und Rinderbraten, gekochtem Hammelfleisch und Hammelbraten, an Butterbrote, Schulbücher mit Eselsohren, zerbrochene Schiefertafeln, Schreibhefte mit Tränenflecken, an spanische Rohr- und Linealhiebe, Ohrenbeutel, regnerische Sonntage, Talgpuddings und die schmutzige Tintenatmosphäre, die alles umgibt.

Ich erinnere mich noch so recht an die ferne Hoffnung auf die Feiertage, die in all der langen Zeit wie der einzig feste Punkt erschien. Ein Punkt, der sich uns immer mehr näherte und beständig größer wurde, wie wir zuerst Monate, dann Wochen und dann nur mehr Tage zählten, wie ich dann anfing, zu fürchten, daß ich nicht würde nach Hause reisen dürfen, – indessen, wie Steerforth herausbrachte, schon zu Hause angemeldet war, – und dann von dunklen Ahnungen gequält wurde, ich könnte inzwischen das Bein brechen. Wie endlich der Tag der Abreise näher kam, von der zweitnächsten Woche auf die nächste, dann auf die gegenwärtige, auf übermorgen, morgen, heute, heute abend, – wo ich in der Postkutsche in Yarmouth sitze und nach Hause fahre.

Ich schlummere meilenweise in der Kutsche und habe einen zusammenhängenden Traum von allen diesen Dingen. Aber wenn ich manchmal aufwache, ist die Gegend draußen vor dem Fenster nicht der Spielplatz von Salemhaus, und was in meine Ohren ruft, ist nicht Mr. Creakle, der eben Traddles prügelt, sondern der Kutscher, der die Pferde antreibt.

8. Kapitel Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag


8. Kapitel Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag

Als wir vor Tagesanbruch vor dem Gasthof hielten, aber nicht vor dem, wo mein Freund, der Kellner diente, wies man mir ein kleines, hübsches Schlafzimmer zu, über dessen Türe »Delphin« stand. Ich fror sehr trotz des heißen Tees, den sie mir unten vor einem großen Feuer eingeschenkt hatten, und legte mich gern in das Bett des »Delphins«, wickelte mich in die Bettdecke des »Delphins« und schlief ein.

Mr. Barkis, der Fuhrmann, sollte mich morgen früh um neun Uhr abholen. Ich stand um acht Uhr auf, ein wenig verschlafen nach dem kurzen Schlummer, und wartete auf ihn noch lange vor der Zeit. Er nahm mich auf, als ob seit unserm letzten Zusammensein nicht fünf Minuten verstrichen wären und ich bloß in den Gasthof gegangen sei, um Kleingeld einzuwechseln.

Sobald ich und mein Koffer im Wagen waren und er seinen Platz eingenommen hatte, setzte sich das faule Pferd in seinen gewohnten Trott.

»Sie sehen sehr gut aus, Mr. Barkis«, fing ich an.

Mr. Barkis rieb sich seine Backen mit dem Ärmel und sah dann hin, als ob er darauf die Blüte seines Gesichts abgefärbt zu sehen erwartete. Weiter gab er kein Zeichen der Anerkennung meines Kompliments von sich.

»Ich habe Ihren Auftrag ausgerichtet, Mr. Barkis«, sagte ich, »und an Peggotty geschrieben.«

»Hm«, meinte Mr. Barkis.

Er schien verdrießlich zu sein und antwortete sehr kurz.

»Wars nicht richtig, Mr. Barkis?« fragte ich nach einigem Zögern.

»Nun, nein«, sagte Barkis.

»Falsch ausgerichtet?«

»Ausgerichtet wars schon gut«, sagte Mr. Barkis, »aber dann wars aus.«

Da ich nicht verstand, was er meinte, wiederholte ich fragend:

»Dann wars aus, Mr. Barkis?«

»Wurde nichts draus«, erklärte er und blickte mich von der Seite an. »Keine Antwort.«

»Sie erwarteten also eine Antwort, Mr. Barkis?« sagte ich und riß die Augen auf, denn das kam mir ganz überraschend.

»Wenn ein Mensch sagt, er will«, sagte Mr. Barkis und wendete seine Augen langsam wieder auf mich, »heißts doch soviel wie, man wartet auf Antwort.«

»Wirklich, Mr. Barkis?«

»Wirklich«, sagte Mr. Barkis und zielte mit den Augen nach den Pferdeohren. »Der Mensch wartet immer noch auf die Antwort.«

»Haben Sie ihr das gesagt, Mr. Barkis?«

»Hm«, brummte Mr. Barkis und dachte darüber nach. »Hab mich noch nicht entschlossen. Sprach noch keine sechs Worte mit ihr. Kanns ihr nicht sagen.«

»Soll ichs ihr vielleicht sagen, Mr. Barkis?« fragte ich schüchtern.

»Könnten s schon, wenn Sie wollten«, sagte Mr. Barkis wieder mit einem langsamen Blick zu mir. »Daß Barkis auf Antwort wartet. Hm, wie ist doch der Name?«

»Ihr Name?«

»Hm«, sagte Mr. Barkis mit einem Kopfnicken.

»Peggotty.«

»Taufname, Vorname?« fragte Mr. Barkis.

»Nein, das ist nicht ihr Taufname. Ihr Vorname ist Klara.«

»So«, sagte Mr. Barkis.

Meine Antwort schien ihn außerordentlich stark zum Nachdenken anzuregen, denn er saß lange grübelnd da und pfiff innerlich.

»Hm«, fing er endlich wieder an, »sagen Sie Peggotty: Barkis wartet; und sagt sie, worauf? sagen Sie: auf Antwort. Sagt sie: worauf? sagen Sie: Barkis will.«

Diese außerordentlich knappe Erklärung begleitete Mr. Barkis mit einem freundschaftlichen Rippenstoß, daß mir die Seite weh tat. Darauf hockte er wieder wie gewöhnlich ruhig auf seinem Platz und blieb in dieser Stellung, bis er eine halbe Stunde später ein Stück Kreide aus der Tasche holte und innen an die Wagendecke schrieb: Klara Peggotty –. Offenbar als Privatnotiz.

Was für ein seltsames Gefühl, sich der Heimat zu nähern, die einem fremd geworden ist! Jeder Gegenstand, den man erblickt, erinnert einen an das alte, liebe Vaterhaus. Es kam mir alles wie ein Traum vor, den ich nie mehr wieder träumen könnte. Die Tage, wo meine Mutter, ich und Peggotty einander alles waren und noch niemand sich zwischen uns gedrängt hatte, erstanden unterwegs vor meinen Augen mit so traurigen Erinnerungen, daß ich am liebsten umgekehrt wäre und in Steerforths Gesellschaft vergessen hätte. Aber ich war jetzt angekommen und stand bald vor unserm Hause, wo die kahlen, alten Ulmen ihre vielen Hände in die kalte Winterluft hinausstreckten und Fetzen von den alten Krähennestern vom Winde fortgeweht wurden.

Der Fuhrmann lud meinen Koffer an der Gartentür ab und verließ mich. Ich ging den Fußsteig nach dem Hause zu, sah nach den Fenstern und fürchtete jeden Augenblick, Mr. oder Miss Murdstone zu erblicken. Es zeigte sich jedoch kein Gesicht, und ich trat leise und schüchtern ein.

Gott weiß, aus wie früher Kindheit die Erinnerung stammen mußte, die beim Klang der Stimme meiner Mutter wieder wach wurde, als ich den Fuß in den Flur setzte. Sie sang leise. Ich glaube, ich muß in ihren Armen gelegen und sie so singen hören haben, als ich noch ein Säugling war. Das Lied kam mir neu und doch so alt vor, daß es mein Herz zum Überströmen erfüllte. Es war mir wie ein alter Freund, der nach langer Abwesenheit zurückkehrt.

Aus der Weise, wie meine Mutter das Lied sang, schloß ich, daß sie allein sei, und ich trat leise ins Zimmer. Sie saß beim Feuer und säugte ein Kind, dessen winzige Händchen an ihrem Halse ruhten. Ihre Augen hingen an seinem Gesicht und sie sang ihm etwas vor. Ich sah sofort, daß sie allein war.

Ich sprach sie an. Sie fuhr auf und stieß einen Schrei aus. Aber als sie mich erkannte, nannte sie mich ihren lieben Davy, ihr geliebtes Kind, kam mir entgegen, kniete vor mir nieder und küßte mich und legte meinen Kopf an ihre Brust neben das kleine Wesen, das sich an sie anklammerte, und legte seine Händchen an meine Lippen.

Ich wollte, ich wäre gestorben mit diesem Gefühl im Herzen. Ich hätte besser für den Himmel gepaßt, als jemals später.

»Es ist dein Brüderchen«, sagte meine Mutter und liebkoste mich. »Davy, mein hübscher Junge, mein armes Kind.« Dann küßte sie mich immer mehr und mehr und umschlang meinen Nacken. Dann kam Peggotty hereingelaufen, warf sich auf dem Boden neben uns hin und war eine Viertelstunde lang halb von Sinnen. Man hatte mich nicht so zeitig erwartet, und der Fuhrmann war früher angekommen als gewöhnlich. Mr. und Miss Murdstone befanden sich in der Nachbarschaft auf Besuch und würden, erfuhr ich, nicht vor Abend zurückkommen. Das hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß wir drei würden wieder einmal ungestört beisammen sein können, und für dies eine Mal waren für mich die alten vergangnen Zeiten zurückgekehrt.

Wir speisten zusammen beim Kamin. Peggotty wollte uns bedienen, aber meine Mutter litt es nicht, und sie mußte sich mit zu Tisch setzen. Ich hatte meinen alten Teller wieder mit einem braunen Kriegsschiff unter vollen Segeln darauf, den Peggotty sorgfältig aufgehoben und für hundert Pfund nicht zerbrochen hätte, wie sie sagte. Ich hatte meinen alten Trinkbecher mit dem Namen »David« drauf und mein altes Besteck, das noch immer stumpf war.

Als wir bei Tische saßen, hielt ich es für den geeignetsten Moment, Mr. Barkis‘ Auftrag auszurichten. Ehe ich damit zu Ende kam, fing Peggotty an zu lachen und hielt die Schürze vors Gesicht.

»Peggotty«, sagte meine Mutter. »Was gibts denn?«

Peggotty lachte nur noch mehr und hielt ihre Schürze noch fester vors Gesicht, als meine Mutter sie wegziehen wollte. Sie saß da wie mit dem Kopf in einem Sack.

»Was hast du denn, du dummes Ding?« fragte meine Mutter lachend.

»Ach, der alberne Mensch«, rief Peggotty. »Er will mich heiraten.«

»Wäre das nicht eine ganz gute Partie für dich?« fragte meine Mutter.

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Peggotty. »Fragen Sie mich nicht. Ich möcht ihn nicht haben, und wenn er von Gold wäre. Ich will überhaupt niemand haben.«

»Also warum sagst dus ihm nicht, du kindisches Ding?«

»Ihm sagen«, meinte Peggotty und sah unter ihrer Schürze hervor. »Er hat noch nie ein Wort davon erwähnt, er weiß ganz gut, warum. Wenn er sichs unterstehen würde, würd ich ihm eine Ohrfeige geben.«

Ihr Gesicht war röter, als ich es je gesehen hatte. Sie deckte es gleich wieder zu und brach in ein heftiges Lachen aus; und nachdem sich dieser Anfall zwei- oder dreimal wiederholt hatte, aß sie ruhig weiter. Ich bemerkte, daß meine Mutter wohl lächelte, wenn Peggotty sie ansah, aber immer ernster und nachdenklicher wurde. Mir war gleich aufgefallen, wie sehr sie sich verändert hatte. Ihr Gesicht war immer noch sehr hübsch, aber es schien allzu zart und sehr vergrämt. Ihre Hand war so weiß und dünn, daß sie mir fast durchsichtig vorkam. Aber jetzt trat noch eine andere Veränderung dazu, wie mir auffiel. Sie schien nämlich sehr beklommen und aufgeregt. Endlich legte sie ihre Hand liebevoll auf die ihrer alten Dienerin und sagte: »Liebe Peggotty, du verheiratest dich jetzt nicht?«

»Ich, Ma’am«, erwiderte Peggotty und sah sie mit großen Augen an, »Gott bewahre, nein.«

»Jetzt noch nicht«, bat meine Mutter zärtlich.

»Nie«, rief Peggotty aus.

Meine Mutter ergriff ihre Hand und sagte:

»Verlaß mich nicht, Peggotty; bleibe bei mir. Es wird vielleicht nicht mehr lang nötig sein. Was sollte ich ohne dich anfangen!«

»Ich dich verlassen, Herzblatt«, rief Peggotty. »Nicht um den ganzen Erdball und seine Frau. Wer hat das nur in das kleine törichte Köpfchen gesetzt?« Peggotty war aus alter Zeit her gewohnt, mit meiner Mutter manchmal wie mit einem Kinde zu sprechen.

Meine Mutter gab ihr keine Antwort außer einem einfachen »Dank dir.«

»Ich Sie verlassen? Das möcht ich sehen. Peggotty von Ihnen fortgehen, da möchte ich sie mir beim Kragen nehmen. Nein, nein«, und Peggotty schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. »Peggotty nicht, mein Schatz. Freilich sind ein paar Katzen da, die sich drüber freuen würden, aber sie sollen sich nicht freuen. Sie sollen sich nur ärgern. Ich bleibe bei Ihnen, bis ich ein altes buckliges Weib bin. Und wenn ich zu taub und zu lahm und zu blind bin und eine Mummelgreisin ohne Zähne, so geh ich zu meinem Davy und bitte ihn, mich aufzunehmen.«

»Und ich, Peggotty«, sagte ich, »ich werde froh sein, wenn du kommst, und werde dich empfangen wie eine Königin.«

»Gott segne das gute Herz!« rief Peggotty. »Ich weiß es ja.« Und sie küßte mich schon im voraus in dankbarer Erkenntlichkeit für meine künftige Gastfreundschaft. Dann deckte sie sich wieder das Gesicht mit der Schürze zu und lachte noch einmal über Mr. Barkis; nahm dann das Baby aus der Wiege und schaukelte es, räumte den Mittagstisch ab und kam in einer andern Haube herein mit ihrem Arbeitskästchen, dem Ellenmaß und dem Stückchen Wachslicht. Ganz wie ehemals.

Wir saßen beim Kamin und unterhielten uns köstlich. Ich erzählte ihnen von Mr. Creakles Strenge, und sie bedauerten mich sehr. Ich erzählte ihnen, was für ein famoser Bursche Steerforth sei und wie er mich in Schutz nehme, und Peggotty sagte, sie würde zwanzig Meilen weit gehen, um ihn zu sehen. Ich nahm den Säugling, als er wieder aufwachte, auf meine Arme und wiegte ihn zärtlich. Als er wieder schlief, setzte ich mich dicht neben meine Mutter, wie ehemals, und schlang die Arme um ihren Leib, legte meine kleine rote Wange auf ihre Schulter und fühlte wieder ihr schönes Haar mich umwehen wie ein Engelsfittich und war sehr glücklich. Während ich so dasaß und ins Feuer blickte und allerhand Bilder in den glühenden Kohlen sah, kam es mir fast vor, als wäre ich niemals von zu Hause weg gewesen, und Mr. und Miss Murdstone erschienen mir wie Gestalten, die verschwinden müßten, wenn das Feuer ausginge, und von allen meinen Erinnerungen sei nichts wahr und wirklich, außer meiner Mutter, Peggotty und mir selbst.

Peggotty stopfte, solange sie noch sehen konnte, und saß dann da, den Strumpf wie einen Handschuh über die linke Hand gezogen und die Nadel in der andern, bereit, sofort wieder anzufangen, sobald Licht kommen würde. Ich kann mir nicht erklären, wessen Strümpfe Peggotty eigentlich immer flickte, und woher diese Unmassen von notleidenden Strümpfen nur kamen.

»Ich möchte gerne wissen«, sagte Peggotty, über die manchmal ein Anfall seltsamen Wissensdurstes, ganz unerwartete Dinge betreffend, kam, »was aus Davys Großtante geworden ist.«

»Gott, Peggotty«, bemerkte meine Mutter und erwachte wie aus einem Traum, »was du für dummes Zeug redest.«

»Nun ja, aber ich möcht es doch gern wissen, Ma’am«, sagte Peggotty.

»Wie kann dir nur so jemand in den Kopf kommen? Kannst du dir niemand anders aussuchen?«

»Ich weiß nicht, wies kommt«, meinte Peggotty, »es liegt wahrscheinlich an meiner Einfältigkeit. Aber mein Kopf kann sich die Leute nicht aussuchen. Sie kommen und gehen und sie kommen nicht oder bleiben, gerade, wies ihnen gefällt. Ich möchte wirklich gerne wissen, was aus ihr geworden ist.«

»Wie albern du nur bist, Peggotty. Man sollte wirklich meinen, du wünschtest wieder einen Besuch von ihr.«

»Gott sei vor«, rief Peggotty.

»Also sprich nicht von solchen lästigen Dingen«, sagte meine Mutter. »Miss Betsey sitzt gewiß in ihrem Häuschen am Meer und geht gar nicht aus. Jedenfalls wird sie uns schwerlich noch einmal heimsuchen.«

»Nein«, gab Peggotty nachdenklich zu, »nein, das ist nicht wahrscheinlich. Ich möchte nur wissen, ob sie Davy etwas vermacht, wenn sie stirbt.«

»Ach Gott im Himmel, Peggotty!« rief meine Mutter. »Was du für ein einfältiges Frauenzimmer bist. Du weißt doch selbst, wie übel sie es nahm, daß das liebe Kind geboren wurde.«

»Aber vielleicht würde sie es ihm jetzt verzeihen«, bemerkte Peggotty.

»Warum sollte sie es ihm gerade jetzt verzeihen?« fragte meine Mutter ein wenig gereizt.

»Nun, weil er jetzt einen Bruder bekommen hat«, meinte Peggotty.

Meine Mutter fing sofort an zu weinen und jammerte, daß Peggotty so etwas sagen könnte.

»Als ob das kleine Wesen in der Wiege dir oder sonst jemand etwas zuleide getan hätte, du eifersüchtiges Ding. Geh, heirate doch Mr. Barkis, den Fuhrmann. Warum tust du es denn nicht?«

»Ich würde Miss Murdstone glücklich machen, wenn ichs täte.«

»Was für einen schlechten Charakter du hast, Peggotty«, antwortete meine Mutter. »Du bist auf Miss Murdstone so eifersüchtig, wie es ein so albernes Ding nur sein kann. Du willst wohl selbst die Schlüssel haben und alles herausgeben, nicht wahr? Es würde mich nicht wundern, wenn es so wäre. Du weißt doch, daß sie es nur aus Güte und mit der besten Absicht tut. Das weißt du, Peggotty, – weißt es recht gut.«

Peggotty brummte etwas vor sich hin, das so klang wie: »Zum Teufel mit den besten Absichten.«

»Ich weiß schon, was du meinst, du verrücktes Frauenzimmer. Ich durchschaue dich vollkommen, Peggotty. Du weißt, daß ich es tue, und wundere mich nur, daß du nicht feuerrot dabei wirst. Aber nehmen wir eins nach dem andern vor. Zuerst Miss Murdstone. Diesmal sollst du mir nicht entschlüpfen. Hast du nicht oft genug von ihr gehört, daß sie denkt, ich sei zu gedankenlos und zu – zu –«

»– hübsch«, ergänzte Peggotty.

»Nun meinetwegen«, gab meine Mutter lächelnd zu. »Und wenn sie töricht genug ist, das zu sagen, kann man sie doch deswegen nicht tadeln.«

»Das tut doch niemand«, knurrte Peggotty.

»Nun, das will ich auch meinen«, entgegnete meine Mutter. »Hast du nicht immer und immer von ihr gehört, daß sie mir deshalb viele Arbeit ersparen will, für die sie mich für ungeeignet hält, und ich mich auch, du weißt, wie sie früh und spät auf den Beinen ist und beständig auf und ab läuft –. Und macht sie nicht jede Arbeit, – kriecht in allen Winkeln, in Kohlenkellern und Speisekammern umher, was doch nicht angenehm ist! Und willst du durch die Blume zu verstehen geben, daß darin etwas anderes als Aufopferung läge?«

»Ich gebe überhaupt nichts durch die Blume zu verstehen«, sagte Peggotty.

»Du tust es doch, Peggotty«, entgegnete meine Mutter. »Du tust nie etwas anderes. Außer deine Arbeit. Du sprichst immer durch die Blume. Du schwelgst darin. Und wenn du von Mr. Murdstones guten Absichten sprichst –«

»Von denen hab ich noch nie gesprochen«, unterbrach Peggotty.

»Nein, Peggotty«, erwiderte meine Mutter. »Aber du spielst auf sie an. Das ist doch, was ich sage. Das ist das Allerschlimmste an dir. Du willst durch die Blume sprechen. Ich habe dir eben gesagt, daß ich dich durchschaue, und du siehst, es ist so. Wenn du von Mr. Murdstones guten Absichten sprichst und sie zu unterschätzen vorgibst, – das kann übrigens nicht dein Ernst sein, Peggotty, – so mußt du doch ebenso wie ich einsehen, wie förderlich sie sind. Wenn er manchmal barsch gegen irgend jemand ist, Peggotty, – du weißt natürlich und ich hoffe, auch Davy weiß es, daß ich nicht von Anwesenden spreche, – so geschieht es nur, weil er überzeugt ist, daß es zum Besten des Betreffenden ist. Er liebt natürlich den Betreffenden meinetwegen und handelt lediglich zu seinem Besten. Er kann das eben besser beurteilen als ich, denn ich weiß recht gut, daß ich ein schwaches, leichtsinniges, kindisches Geschöpf bin, während er ein fester, ernster Mann ist. Und er hat sehr viel mit mir auszustehen«, fuhr meine Mutter fort, und die Tränen, die ihrem liebebedürftigen Herzen entsprangen, rannen ihr die Wangen herab; »ich muß ihm sehr dankbar und selbst in meinen Gedanken sehr unterwürfig sein. Und wenn ich es nicht bin, Peggotty, so quält mich das, und ich verurteile mich selbst und mache mir Vorwürfe über mein schlechtes Herz und weiß nicht, was ich anfangen soll.«

Peggotty saß da, das Kinn auf die mit dem Strumpf überzogene Faust gestützt und blickte stumm ins Feuer.

»Also, liebe Peggotty«, sagte meine Mutter mit plötzlich ganz verändertem Ton, »seien wir wieder gut, denn ich könnte es nicht aushalten.«

»Ich weiß ja, du bist meine treueste Freundin, wenn ich auf der Welt überhaupt noch eine andere habe. Wenn ich dich ein einfältiges oder albernes Ding nannte, Peggotty, wollte ich damit nur sagen, daß du meine treueste Freundin bist und warst, schon von jenem Abend an, als Mr. Copperfield mich zuerst hierherbrachte und du mir an der Gartentüre entgegenkamst.«

Peggotty ließ mit der Antwort nicht auf sich warten und besiegelte den Vertrag, indem sie mich mit einer ihrer kräftigsten Umarmungen beglückte.

Ich glaube, ich hatte damals schon eine leise Ahnung von dem wahren Sinn dieser Unterhaltung. Heute weiß ich ganz genau, daß die gute Person das Gespräch nur veranlaßte, um meiner Mutter durch kleine Widersprüche eine gewisse Erleichterung zu verschaffen. Die Wirkung war sichtlich, denn wie ich mich noch erinnere, schien meine Mutter den ganzen übrigen Tag viel heiterer und Peggotty brauchte sie nicht mehr so sorgenvoll anzusehen.

Nachdem wir Tee getrunken, das Feuer geschürt und die Kerzen geputzt hatten, las ich Peggotty zur Erinnerung an alte Zeiten ein Kapitel aus dem Krokodilbuch vor, – sie hatte es aus der Tasche gezogen. Ob sie es immer darin getragen hatte? – Und dann sprachen wir von Salemhaus, was mich wieder auf Steerforth brachte, mein Lieblingsthema. Wir fühlten uns alle sehr glücklich, und dieser Abend, der letzte in seiner Art und bestimmt, diesen Band meines Lebens für immer zu schließen, wird nie aus meinem Gedächtnis entschwinden.

Es war fast zehn Uhr, als wir draußen einen Wagen halten hörten. Wir standen alle auf und meine Mutter sagte hastig, Mr. und Miss Murdstone sähen es gerne, wenn junge Leute früh zu Bett gingen, und es sei schon spät. Ich küßte sie und ging sogleich mit meiner Kerze hinauf. Mir war, als ob mit den beiden ein erkaltender Lufthauch in das Haus käme und das alte, heimische, traute Gefühl wie eine Feder davonbliese.

Ich fühlte mich sehr unbehaglich am nächsten Morgen, als ich zum Frühstück hinuntergehen mußte. Hatte ich doch Mr. Murdstone seit jenem Tag, als ich das große Verbrechen an ihm begangen, nicht weiter gesehen. Aber einmal mußte es geschehen, und ich erreichte die Stubentür, nachdem ich zwei- bis dreimal auf den Fußspitzen wieder umgekehrt war. Endlich trat ich ins Zimmer.

Er stand mit dem Rücken zum Kamin, während Miss Murdstone den Tee bereitete. Er sah mich durchdringend an, als ich eintrat, gab aber kein Erkennungszeichen von sich. Nach einigen Augenblicken der Verwirrung ging ich auf ihn zu und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir. Was ich getan habe, tut mir außerordentlich leid, und ich hoffe, daß Sie es mir vergeben.«

»Es freut mich, daß es dir leid tut, David«, antwortete er.

Die Hand, die er mir reichte, war die, die ich gebissen hatte.

Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte die rote Narbe eine Zeitlang ansehen. Aber sie war nicht so rot wie ich, als ich seinem falschen Blick begegnete.

»Wie befinden Sie sich, Ma’am«, sagte ich zu Miss Murdstone.

»Ach mein Gott!« seufzte Miss Murdstone und reichte mir den Teelöffel statt ihres Fingers. »Wie lang dauern die Ferien?«

»Einen Monat, Ma’am.«

»Von wann an?«

»Von heute an, Ma’am.«

»Na«, sagte Miss Murdstone. »Das wäre ja schon ein Tag weniger.«

Sie führte in dieser Art einen Ferienkalender und strich an jedem Morgen einen Tag. Anfangs schnitt sie ein betrübtes Gesicht, solange sie noch nicht beim zehnten war, aber ihre Mienen hellten sich auf, als die zweistelligen Zahlen erreicht waren, und wurden um so heiterer, je näher das Ende heranrückte.

Schon am ersten Tag hatte ich das Unglück, sie in einen Zustand größter Aufregung zu versetzen, trotzdem sie solchen Schwächen sonst nicht unterworfen war. Ich kam nämlich in das Zimmer, wo sie und meine Mutter saßen, und da der Säugling, der erst ein paar Wochen alt, auf meiner Mutter Schoß lag, nahm ich ihn höchst sorgsam in meine Arme.

Plötzlich stieß Miss Murdstone einen solchen Schrei aus, daß ich ihn fast hätte fallen lassen.

»Liebe Jane!« fuhr meine Mutter auf.

»Gott im Himmel, Klara! Siehst du nicht?« rief Miss Murdstone aus.

»Was denn, liebe Jane«, fragte meine Mutter. »Wo denn?«

»Er hat es!« rief Miss Murdstone. »Der Junge hat das Baby.«

Sie brach fast zusammen vor Entsetzen, richtete sich aber wieder auf, um auf mich loszustürzen und mir das Kind zu entreißen. Dann wurde ihr so schlecht, daß man ihr Kirschbranntwein geben mußte. Als sie sich wieder erholt hatte, untersagte sie mir auf das feierlichste, mein Brüderchen jemals wieder, unter welchem Vorwand immer, anzurühren, und meine Mutter bestätigte demütig das Verbot, trotzdem sie mir anderer Meinung schien, und sagte: »Du hast gewiß recht, liebe Jane.«

Wiederum bei einer Gelegenheit, als wir beisammen saßen, war das Baby – ich hatte es lieb meiner Mutter wegen – wieder die unschuldige Ursache, die Miss Murdstone in heftigste Erregung versetzte. Meine Mutter sagte nämlich, nachdem sie die Augen des Säuglings in ihrem Schoße lange betrachtet hatte: »Davy, komm einmal her und laß mich deine Augen sehen.«

Ich bemerkte, wie Miss Murdstone ihre Stahlperlen hinlegte.

»Also ich erkläre«, sagte meine Mutter sanft, »daß sie vollkommen gleich sind. Ich glaube, es sind meine Augen. Sie haben dieselbe Farbe wie meine. Sie sind einander wunderbar gleich.«

»Wovon sprichst du, Klara?« fragte Miss Murdstone.

»Liebe Jane«, stammelte meine Mutter bestürzt durch den herben Ton dieser Frage, »ich finde, daß das Baby und Davy ganz dieselben Augen haben.«

»Klara«, sagte Miss Murdstone und stand zornig auf. »Manchmal bist du ganz verrückt.«

»Aber liebe Jane«, remonstrierte meine Mutter.

»Vollständig verrückt«, sagte Miss Murdstone. »Wie könntest du sonst meines Bruders Kind mit deinem Jungen vergleichen. Sie sind einander gar nicht ähnlich. Sie sind einander vollständig unähnlich. Unähnlich in jeder Hinsicht. Ich hoffe, sie werden es immer bleiben. Ich kann solche Vergleiche nicht ruhig mit anhören.« Damit stolzierte sie hinaus und pfefferte die Tür hinter sich zu.

Mit einem Wort, ich stand mit Miss Murdstone nicht auf gutem Fuß. Überhaupt mit niemand, nicht einmal mit mir selbst. Die mich lieb hatten, durften es nicht zeigen, und die mich nicht leiden konnten, zeigten es so deutlich, daß ich mich von dem immerwährenden Bewußtsein, duckmäuserisch, ungeschickt und mürrisch zu erscheinen, nicht befreien konnte.

Ich fühlte, daß ich ihnen so zur Last fiel, wie sie mir. Wenn ich in das Zimmer kam, wo sie gerade saßen und miteinander sprachen, und meine Mutter schien heiter zu sein, umwölkte sich sofort ihr Gesicht. War Mr. Murdstone in seiner besten Laune, so kam ich als Störenfried. Und Miss Murdstones schlechteste steigerte ich noch. Ich bemerkte ganz gut, daß meine Mutter immer das Opfer war. Sie fürchtete sich, mit mir zu sprechen oder freundlich mit mir zu sein, um sich dadurch nicht einen Verweis zuzuziehen. Hauptsächlich aber nicht ihretwegen, sondern um mich bangte sie. Und ängstlich bewachte sie die Blicke der Murdstones, wenn ich mich nur rührte. Deshalb beschloß ich, allen möglichst aus dem Wege zu gehen, und saß manche kalte Winterstunde in meinem einsamen Schlafzimmer und brütete, in meinen kleinen Überrock gehüllt, über einem Buch.

Des Abends leistete ich zuweilen Peggotty in der Küche Gesellschaft. Dort fühlte ich mich wohl und brauchte mich nicht zu genieren. Aber das fand im Wohnzimmer keine Billigung. Die dort herrschende Quälerlaune machte all dem bald ein Ende. Man hielt mich immer noch für ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Erziehung meiner armen Mutter und konnte meine Anwesenheit nicht missen.

»David«, sagte Mr. Murdstone eines Tags nach dem Abendessen, als ich mich wieder drücken wollte, »ich bemerke zu meinem Leidwesen, daß du mürrischer Gemütsart bist.«

»Mürrisch wie ein Bär«, sagte Miss Murdstone.

Ich blieb stehen und ließ den Kopf hängen. »Ein mürrischer und verstockter Charakter, David«, sagte Mr. Murdstone, »ist das Allerschlimmste.«

»Und der Junge ist das Verstockteste, was ich jemals gesehen habe«, bemerkte seine Schwester. »Ich glaube, selbst du, liebe Klara, mußt es bemerken.«

»Ich bitte um Entschuldigung, liebe Jane«, sagte meine Mutter, »aber bist du auch wirklich sicher, – du wirst es gewiß entschuldigen, liebe Jane, – bist du sicher, daß du Davy verstehst?«

»Ich müßte mich wirklich schämen, Klara, wenn ich den oder jeden andern Knaben nicht verstünde«, antwortete Miss Murdstone. »Ich behaupte gewiß nicht, sehr tief zu sein, aber auf gesunden Menschenverstand kann ich doch Anspruch machen.«

»Gewiß, liebe Jane«, antwortete meine Mutter, »bist du von sehr starkem Verstande.«

»O Gott, nein, bitte, sag das nicht, Klara«, unterbrach Miss Murdstone ärgerlich.

»Aber ich weiß, daß es der Fall ist«, fing meine Mutter wieder an, »und jeder weiß es. Ich selbst habe so mancherlei großen Nutzen davon – oder sollte es wenigstens haben –, daß niemand mehr davon überzeugt sein kann als ich, und deshalb äußere ich meine Meinung auch nur sehr schüchtern, meine liebe Jane, ich versichere es dir.«

»Also gut, ich verstehe den Jungen nicht, Klara«, sagte Miss Murdstone und ordnete die kleinen Fesseln an ihren Handgelenken. »Gut, wenn du willst, ich verstehe ihn also gar nicht. Er ist viel zu tief für mich. Aber vielleicht ist der Scharfblick meines Bruders durchdringend genug, Einsicht in diesen Charakter zu gewinnen. Und ich glaube, mein Bruder sprach gerade über dieses Thema, als wir ihn unschicklicherweise unterbrachen.«

»Ich glaube, Klara«, fiel Mr. Murdstone mit ernster Baßstimme ein, »es gibt bessere und unbefangenere Richter in dieser Frage als du bist.«

»Edward«, antwortete meine Mutter unterwürfig, »du bist natürlich in allen Fragen ein besserer Richter als ich und auch als Jane. Ich sagte nur –«

»Du sagtest nur etwas Schwaches und Unüberlegtes«, antwortete er. »Tue es nicht wieder, liebe Klara, und halte dich besser im Zaum.«

Die Lippen meiner Mutter bewegten sich, als ob sie antworteten: »Ja, lieber Edward.«

»Ich habe zu meinem Leidwesen bemerkt, David«, nahm Mr. Murdstone seine Rede wieder auf, »daß du von verstockter Gemütsart bist. Ich werde nicht ruhig zusehen, ohne nicht den Versuch zu machen, dich zu bessern. Du mußt sich anstrengen, anders zu werden, David. Wir müssen uns bemühen, dich anders zu machen.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, stotterte ich, »ich glaube nicht, verstockt gewesen zu sein seit meiner Rückkehr.«

»Nimm deine Zuflucht nicht zur Lüge«, herrschte er mich so wild an, daß meine Mutter unwillkürlich ihre zitternde Hand ausstreckte, um mich zu schützen. »Du ziehst dich in deiner Verstocktheit auf dein eignes Zimmer zurück, du bleibst in deinem Zimmer, wenn du hier sein solltest. Ich sage es dir jetzt ein für allemal, daß ich dich hier und nicht dort zu sehen wünsche. Ferner, daß ich Gehorsam von dir verlange. Du kennst mich, David, ich will es.«

Miss Murdstone lachte spitzig auf.

»Ich will ein achtungsvolles, gehorsames und bereitwilliges Benehmen gegen mich, gegen Jane Murdstone und gegen deine Mutter sehen. Ich will nicht haben, daß ein Kind nach seinem Belieben dieses Zimmer scheut, als sei es verpestet. Setz dich.«

Er befahl mir wie einem Hund, und ich gehorchte wie ein Hund.

»Noch eins«, sagte er. »Ich bemerke, daß du einen Hang zu niedriger und gemeiner Gesellschaft zeigst. Du hast nicht mit Dienstboten umzugehen. In der Küche wirst du von den vielen Dingen, die dir noch fehlen, nichts lernen. Von dem Weib, das dir Vorschub leistet, schweige ich, da du selbst, Klara«, – er wandte sich etwas leiser zu meiner Mutter – »aus alter Erinnerung und langer Gewohnheit in bezug auf sie eine Schwäche an den Tag legst, die noch nicht überwunden ist.«

»Eine ganz unerklärliche Verblendung!« rief Miss Murdstone.

»Ich sage also«, fuhr er wieder zu mir gewendet fort, »daß ich es mißbillige, wenn du eine Gesellschaft wie Frau Peggotty vorziehst, und daß du sie daher aufzugeben hast. Jetzt verstehst du mich, David, und kennst die Folgen, die dir blühen, wenn du mir nicht wortwörtlich gehorchst.«

Ich zog mich also nicht mehr auf mein Zimmer zurück, suchte nicht mehr meine Zuflucht bei Peggotty und saß traurig Tag für Tag in der Wohnstube und sehnte mich nach der Nacht und dem Schlafengehen.

Unter welch peinlichem Zwang hatte ich zu leiden, wenn ich in derselben Stellung stundenlang dasitzen mußte und aus Angst nicht Arm oder Fuß rührte, damit nicht Miss Murdstone immerwährend über mein unruhiges Wesen klagte; ich sah vor mich hin, um nicht einem Blick der Abneigung oder des Forschens zu begegnen und neuen Stoff zur Beschwerde zu geben. Welch unerträgliche Langeweile, dem Ticken der Uhr zuzuhören, zu sehen, wie Miss Murdstone die kleinen, glänzenden Stahlperlen aufreihte, sich den Kopf zu zerbrechen, ob sie wohl jemals heiraten würde, und wenn, was für einen Unglücklichen wohl, die Furchen im Kamin zu zählen und dann mit den Augen durch die labyrinthischen Verschlingungen der Tapete hinauf zur Decke zu schweifen.

Wie einsam waren meine Spaziergänge durch die schmutzigen Gassen bei dem schlechten Winterwetter. Ich schleppte das Bild des Wohnzimmers mit Mr. und Miss Murdstone darin in meinem Innern überall hin und mit mir herum: eine ungeheure Last, die ich da trug, ein Alpdruck bei Tage, den ich nicht zu verscheuchen vermochte, ein Gewicht auf meinem Geist, das mich stumpf machte. Wie vielmal saß ich am Speisetisch stumm und verlegen da, immer mit dem Gefühl, daß ein Besteck zu viel da sei, und zwar das meine, ein Magen zu viel, nämlich der meine, ein Teller und ein Stuhl zu viel, und zwar der meine, und eine Person zu viel, nämlich ich.

Was waren das für Abende, wenn die Kerzen kamen, und ich mich beschäftigen mußte, und weil ich nicht wagte, ein unterhaltendes Buch zu lesen, mich über einen hartköpfigen und noch hartherzigeren arithmetischen Leitfaden hermachte. Maß- und Gewichtstabellen paßten sich Melodien an, wie »Rule Britannia« und »Weg mit den Grillen und Sorgen«, und gingen mir durch ein Ohr herein und aus dem andern wieder hinaus.

Oft konnte ich das Gähnen nicht mehr verbeißen und nickte trotz aller Vorsicht ein. Wie erschreckt fuhr ich dann aus dem heimlichen Schlummer wieder auf. Nur selten versuchte ich schüchterne Bemerkungen und erhielt niemals eine Antwort. Wie sehr kam ich mir wie eine Null vor, die niemand beachtete und die doch jedem im Weg stand, und immer war es mir eine Art Trost, wenn mir Miss Murdstone beim ersten Schlag Neunuhr befahl, zu Bett zu gehen.

So schleppten sich die Ferien hin bis zu dem Morgen, wo Miss Murdstone sagte: »Heute ist der letzte Tag um«, und mir für die Ferien die letzte Tasse Tee gab.

Der Abschied fiel mir nicht schwer. Ich war in einen Zustand von Stumpfheit verfallen, aus dem mir nur die Hoffnung auf Steerforth ein wenig heraushalf, wenn auch Mr. Creakle hinter ihm dräute. Wieder erschien Mr. Barkis an der Gartentür und wieder sprach Miss Murdstones warnende Stimme: »Klara!« als sich meine Mutter über mich beugte, um mir Lebewohl zu sagen.

Ich küßte meine Mutter und mein kleines Brüderchen und war sehr traurig. Nicht so sehr die Umarmung, die inbrünstiger war als sie sein durfte, lebt in meiner Erinnerung fort als das, was jetzt folgte.

Ich saß schon im Wagen, als meine Mutter mich noch einmal rief. Ich sah hinaus, und sie stand in der Gartentür allein und hielt den Säugling empor, um ihn mir zu zeigen. Die Luft war kalt und still und kein Haar auf ihrem Haupte, keine Falte ihres Kleides regte sich, als sie mich beredt ansah und ihr Kind in die Höhe hielt.

So verlor ich sie. So sah ich sie später in meinen Träumen in der Schule – eine stumme Gestalt vor meinem Bett, immer mit demselben beredten Gesicht und dem Säugling in den Armen.