17. Kapitel Ein Mann taucht auf


17. Kapitel Ein Mann taucht auf

Gleich nach meiner Aufnahme in Dover hatte ich natürlich Peggotty einen Brief geschrieben und dann später noch einen zweiten und ganz ausführlichen, als mich meine Tante endgültig unter ihren Schutz genommen hatte. Als ich zu Dr. Strong in die Schule kam, schrieb ich ihr nochmals und setzte ihr meine glückliche Lage und meine guten Aussichten auseinander.

Nichts hätte mir mehr Freude machen können, als daß ich durch das Geldgeschenk Mr. Dicks in den Stand gesetzt war, die halbe Guinee mit der Post an Peggotty zurückschicken zu können. Bei dieser Gelegenheit erzählte ich ihr auch die Geschichte von dem Burschen mit dem Eselskarren.

Auf alle diese Briefe antwortete Peggotty so rasch, wenn auch nicht so umständlich wie ein Kaufmann.

Sie hatte alle ihre Fähigkeiten, ihren Gefühlen mit Tinte Ausdruck zu geben, bei dem Versuch angewandt, mir ihren Seelenzustand beim Lesen meines Reiseberichts zu schildern. Vier Seiten unzusammenhängender und mit Ausrufen beginnender Satzanfänge, die stets mit Klecksen endeten, hatten ihr noch keine Erleichterung gebracht. Aber die Kleckse sprachen für mich deutlicher, als der beste Satzbau hätte können; bewiesen sie mir doch, daß Peggotty den ganzen langen Brief hindurch geweint hatte.

Ich fand ohne Schwierigkeiten heraus, daß sie noch immer nicht recht mit meiner Tante ausgesöhnt war.

»Wir kennen uns nie in einem Menschen ganz aus«, schrieb sie, »aber zu denken, daß Miss Betsey so ganz anders ist, als man sich vorgestellt hat, das ist eine ›Moral‹.« Das waren ihre eignen Worte.

Sie fürchtete sich offenbar immer noch vor Miss Betsey, denn sie ließ sich ihr schüchtern als ihre gehorsame und dankbare Dienerin empfehlen und schien immer noch ein wenig ängstlich zu sein, ich könnte doch vielleicht noch einmal ausreißen. Ich merkte es daran, daß sie mir wiederholt versicherte, ich könne jederzeit das Fahrgeld nach Yarmouth von ihr bekommen, falls ich es einmal brauchte.

Was mich sehr schmerzlich berührte, war die Nachricht, daß die Möbel in unserm alten Haus verkauft worden seien. Mr. und Miss Murdstone waren fortgezogen und das Haus sollte vermietet oder verkauft werden. Ich hatte, weiß Gott, keinen Anteil daran haben dürfen, solange sie dort waren, aber es tat mir weh, mir das liebe alte Haus ganz verlassen, den Garten mit Unkraut und die Wege mit welkem, feuchtem Laub bedeckt vorstellen zu müssen. Ich malte mir aus, wie die Winterstürme es umheulten, wie der kalte Regen an das Fenster schlagen und der Wind Gespenster an die Wände der leeren Zimmer malen würde.

Ich mußte wieder an das Grab unter dem Baume denken und mir war, als ob das Haus jetzt ebenfalls gestorben und alles, was mich an Vater und Mutter erinnerte, entschwunden sei.

Sonst brachten mir Peggottys Briefe nichts Neues. Sie schrieb, Mr. Barkis sei ein vortrefflicher Ehemann, wenn auch immer noch ein bißchen knickerig; doch wir hätten alle unsere Fehler und sie besonders eine ganze Menge (ich kann mich auf keinen besinnen) und er lasse mich grüßen und mir sagen, mein kleines Schlafzimmer stünde immer für mich bereit. Mr. Peggotty befinde sich wohl und Ham desgleichen und Mrs. Gummidge soso, und die kleine Emly wolle mich nicht grüßen lassen, aber Peggotty dürfte es für sie tun.

Alle diese Nachrichten teilte ich gewissenhaft meiner Tante mit und unterließ nur, die kleine Emly zu erwähnen, zu der sie sich, wie ich instinktiv fühlte, nicht sehr zärtlich hingezogen fühlen würde.

Anfangs, als ich mich in Dr. Strongs Schule noch unbehaglich und fremd fühlte, kam meine Tante mehrere Male nach Canterbury mich besuchen und zwar stets zu ungewöhnlicher Stunde, wahrscheinlich, um mich zu überraschen.

Da sie mich aber stets beschäftigt fand und Gutes über mich hörte und von allen Seiten erfuhr, daß ich in der Schule Fortschritte machte, stellte sie bald diese Besuche ein. Ich ging alle drei oder vier Wochen samstags zu ihr nach Dover, während ich Mr. Dick jeden zweiten Mittwoch sah, wo er mittags mit der Landkutsche ankam und bis zum nächsten Morgen blieb.

Bei solchen Gelegenheiten reiste Mr. Dick nie ohne eine Schreibmappe mit Papier und die Denkschrift, die er jetzt besonders dringlich hielt und mit deren Vollendung er eifriger als je beschäftigt schien.

Mr. Dick war dem Laster des Pfefferkuchengenusses außerordentlich ergeben. Um ihm seine Besuche bei mir angenehmer zu gestalten, hatte mich meine Tante beauftragt, ihm bei einem Konditor eine laufende Rechnung zu eröffnen, mit der Einschränkung, daß nie mehr als für einen Schilling für den Tag gekauft werden dürfte. Dies und der Umstand, daß alle seine kleinen Rechnungen in dem Wirtshaus, wo er übernachtete, meiner Tante eingeschickt werden mußten, bevor sie bezahlt wurden, erweckten in mir den Verdacht, daß er mit seinem Gelde bloß klimpern, es aber nicht ausgeben dürfte.

Meine Vermutung bestätigte sich insofern, als wirklich zwischen ihm und meiner Tante die Vereinbarung bestand, daß er ihr über alle seine Ausgaben Rechenschaft ablegen mußte. Da er nicht im entferntesten daran dachte, sie zu hintergehen, und immer danach trachtete, ihr Wohlgefallen zu erregen, so wurde er dadurch sehr vorsichtig in seinen Ausgaben. Hinsichtlich dieses Punktes, sowie auch aller andern möglichen Punkte war Mr. Dick überzeugt, daß Miss Trotwood die weiseste und wunderbarste aller Frauen sei, wie er mir oft ganz geheimnisvoll und stets im Flüsterton verriet.

»Trotwood«, fragte er mich eines Mittwochs, als er mir das eben wieder anvertraut hatte, mit geheimnisvoller Miene, »wer ist der Mann, der sich immer in der Nähe unseres Hauses versteckt hält und sie erschreckt?«

»Meine Tante erschreckt?«

Mr. Dick nickte. »Ich dachte, nichts könnte sie erschrecken, denn sie ist, sag es nicht weiter« – er fing an zu flüstern – »die weiseste und wunderbarste aller Frauen.« Nachdem er dies gesagt hatte, trat er zurück, um die Wirkung dieser Worte auf mich zu beobachten.

»Das erste Mal kam er – warte einmal – im Jahre 1649 wurde Karl I. hingerichtet –, du sagtest doch 1649?«

»Ja, Sir.«

»Ich weiß gar nicht, wie das sein kann«, sagte Mr. Dick ganz verdutzt und schüttelte den Kopf. »Ich kann doch nicht so alt sein!«

»Ist der Mann in diesem Jahr erschienen, Sir?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, wieso es in diesem Jahr gewesen sein könnte, Trotwood! Du weißt doch die Jahreszahl aus der Geschichte?«

»Ja, Sir.«

»Die Geschichte lügt niemals, nicht wahr?« fragte Mr. Dick mit einem Strahl von Hoffnung im Gesicht.

»Ganz gewiß nicht, Sir«, antwortete ich ganz entschieden.

Ich war vertrauensvoll und jung und glaubte es wirklich.

»Ich kann nicht daraus klug werden«, meinte Mr. Dick, den Kopf schüttelnd. »Etwas ist da nicht in Ordnung. Jedenfalls war es aber nicht lange nach der Zeit, wo sie aus Versehen einen Teil der Sorgen aus König Karls I. Kopf in meinen steckten, als der Mann das erste Mal kam. Ich ging nach Dunkelwerden mit Miss Trotwood spazieren, und da trafen wir ihn dicht bei unserm Hause.«

»Er ging dort herum?« fragte ich.

»Ob er herumging?« wiederholte Mr. Dick. »Laß mich einmal nachdenken. N-ein, nein. Er ging nicht spazieren.«

So fragte ich denn, um am schnellsten zum Ziel zu kommen, was er denn eigentlich getan habe.

»Er war eigentlich vorher gar nicht da«, sagte Mr. Dick, »aber plötzlich stand er hinter ihr und flüsterte ihr etwas zu. Da drehte sie sich um und wurde fast ohnmächtig. Und ich stand still und sah ihn an, und er ging fort. Daß er sich aber seit der Zeit immer versteckt gehalten hat, unter der Erde oder sonstwo, ist das allermerkwürdigste.«

»Hat er sich wirklich immer versteckt gehalten seitdem?«

»Ganz gewiß«, entgegnete Mr. Dick und nickte ernst mit dem Kopf. »Kam nie heraus, bis in der letzten Nacht. Wir gingen abends miteinander spazieren, da stand er plötzlich wieder hinter ihr, und ich erkannte ihn sofort.«

»Und erschreckte er wieder meine Tante?«

»Bis zum Entsetzen«, sagte Mr. Dick, »so!« und er machte mit den Zähnen klappernd meine Tante nach. »Sie hielt sich am Geländer und schrie – Trotwood komm einmal her.« Er zog mich dicht an sich heran, um ganz leise flüstern zu können. »Warum gab sie ihm dann beim Mondschein Geld?«

»Er war vielleicht ein Bettler.«

Mr. Dick schüttelte den Kopf, als wolle er diese Vermutung entschieden zurückweisen, und nachdem er mit größter Zuversicht und sehr oft hintereinander »kein Bettler, kein Bettler, kein Bettler, Sir«, wiederholt hatte, fuhr er fort zu berichten, daß er von seinem Fenster aus gesehen habe, wie meine Tante spät nachts beim Mondschein draußen vor der Gartentür dem Unbekannten Geld gab. Der Mann sei sodann verschwunden, wahrscheinlich wieder in die Erde, während meine Tante rasch und verstohlen wieder in das Haus gegangen und zu Mr. Dicks größter Sorge noch am andern Tag sehr aufgeregt gewesen sei.

Ich zweifelte anfangs nicht im mindesten, daß jener Unbekannte nur in Mr. Dicks Einbildung lebe und vielleicht ein Nachkomme jenes unglücklichen Regenten sei, der seiner Phantasie so viel zu schaffen machte. Aber nach einigem Nachdenken kam ich zur Erwägung, ob nicht vielleicht ein Versuch oder die Androhung eines solchen, den armen Mr. Dick wieder dem Schutze meiner Tante zu entziehen, stattgefunden, und ob sie sich nicht – kannte ich doch ihre große Zuneigung zu ihrem Schützling – veranlaßt gesehen haben könnte, seine Sicherheit mit Geld zu erkaufen.

Da ich schon damals sehr an Mr. Dick hing und mir sein Schicksal sehr am Herzen lag, so bekümmerten mich meine Befürchtungen seinetwegen sehr und lange konnte ich den Mittwoch kaum erwarten. Aber stets erschien er auf seinem gewohnten Platz auf dem Kutschbock, grauköpfig, lachend und glücklich, und nie wieder wußte er etwas von dem Mann zu berichten.

Diese Mittwochstage waren die glücklichsten in Mr. Dicks Leben, und auch ich freute mich immer sehr auf sie. Er wurde bald mit den Knaben der Schule bekannt, und obgleich er niemals an einem Spiel außer am Drachensteigen tätigen Anteil nahm, zeigte er doch an allem ein ebenso großes Interesse wie wir selbst. Wie oft habe ich ihn atemlos vor Spannung zuschauen sehen, wenn wir eine Partie Murmeln oder Kreisel spielten. Wie oft während des Jagdspiels habe ich ihn auf einem kleinen Erdhügel stehen, uns zujauchzen und in gänzlichem Vergessen König Karls und seiner Hinrichtung den Hut über dem grauen Kopf schwenken sehen. Wie manche Sommerstunde verging ihm wie eine glückliche Minute auf dem Cricketplatz. Wie manchen Wintertag stand er bei Schnee und Ostwind mit blauer Nase da und sah die Jungen die lange Bahn hinabrodeln und klatschte entzückt Beifall mit seinen wollenen Handschuhen.

Er war der allgemeine Liebling. Seine Erfindungsgabe in Kleinigkeiten grenzte ans Wunderbare. Er konnte Orangen in Figuren schneiden, die keiner von uns herausgebracht hätte, er konnte aus allem ein Boot machen, sogar aus Spagat. Aus Hühnerbrustknochen schnitzte er Schachfiguren, aus Spielkarten baute er römische Triumphwagen, aus Spulen Speichenräder und Vogelkäfige aus altem Draht. Am größten war er aber in der Herstellung von Gegenständen aus Bindfaden und Stroh und konnte alles machen, wie wir fest glaubten, was Menschenhände überhaupt herzustellen imstande waren.

Sein Ruhm blieb nicht lange auf unsern Kreis beschränkt. Nach einigen Wochen erkundigte sich Dr. Strong bei mir nach ihm, und ich erzählte alles, was ich über ihn wußte. Das nahm den Doktor so sehr für Mr. Dick ein, daß er mich bat, ihm ihn beim nächsten Besuche vorzustellen. Es geschah, und der Doktor forderte ihn auf, immer in die Schule zu kommen und dort zu warten, bis die Stunden zu Ende wären, anstatt immer auf der Post meiner zu harren.

Dies wurde Mr. Dick später zur Gewohnheit, und er pflegte immer auf dem Schulhof mittwochs auf mich zu warten. Bei einer solchen Gelegenheit machte er die Bekanntschaft der schönen, jungen Frau des Doktors, die uns jetzt seltner zu Gesicht kam, bleicher war als früher, nicht mehr so heiter, aber deswegen nicht weniger schön. Schließlich kam er sogar bis in die Klasse. Er saß dann immer in einer besondern Ecke auf einem besondern Stuhl, der nach ihm »Dick« hieß, und lauschte, das graue Haupt vorgebeugt, aufmerksam und voll tiefster Ehrfurcht auf alle die Gelehrsamkeiten, die selbst zu erringen er nicht fähig war.

Seine Verehrung dehnte er auf den Doktor aus, den er für den scharfsinnigsten und vollendetsten Philosophen aller Zeiten hielt. Es dauerte lange, ehe er anders als barhaupt mit dem Doktor sprach, und selbst, als sie miteinander Freundschaft geschlossen hatten und stundenlang an der Seite des Hofs spazierengingen, legte er seine Ehrfurcht vor den Wissenschaften dadurch an den Tag, daß er von Zeit zu Zeit grundlos den Hut abnahm.

Wieso der Doktor dazu kam, ihm auf diesen Spaziergängen Bruchstücke aus dem berühmten Wörterbuch vorzulesen, weiß ich nicht. Vielleicht tat er es anfangs nur aus Zerstreutheit. Später wurde es Gewohnheit, und Mr. Dick, der immer mit einem vor Stolz und Freude glänzenden Gesicht zuhörte, hielt im Innersten seines Herzens das Wörterbuch für das herrlichste Werk der Welt.

Agnes wurde ebenfalls bald mit Mr. Dick befreundet, und da er oft zu uns ins Haus kam, machte er auch mit Uriah Bekanntschaft.

Unsere Freundschaft nahm beständig zu. Während er offiziell kam, um als Vormund nach mir zu sehen, zog er mich in Wirklichkeit immer zu Rate, wenn ihm hie und da ein Zweifel aufstieg. Immer ließ er sich von meinen Ratschlägen leiten, da er nicht nur eine hohe Achtung vor meinem angebornen Scharfsinn hegte, sondern auch glaubte, daß ich einiges von meinen Gaben von meiner Tante geerbt hätte.

Eines Donnerstag morgens, als ich Mr. Dick nach der Poststation begleitete, begegnete ich Uriah auf der Straße, der mich bei dieser Gelegenheit an mein Versprechen, zu ihm und seiner Mutter zum Tee zu kommen, erinnerte. Er wand sich dabei wieder und sagte: »Ich erwartete ja auch niemals, daß Sie Wort halten würden, Mr. Copperfield, sin mir doch so niedrige Leute.«

Ich war mir wirklich bisher noch nicht vollkommen klar darüber geworden, ob ich Uriah gern hätte oder ihn verabscheute, und wie er da auf der Straße vor mir stand und ich ihm ins Gesicht sah, schwankte ich in meinen Gefühlen. Da ich es aber geradezu als Beleidigung empfand, für hochmütig gehalten zu werden, sagte ich, man brauchte mich nur einzuladen.

»O, wenn das alles ist, Master Copperfield, und wenn wirklich unsere niedrige Stellung Sie nicht abhält, würden Sie da nicht diesen Abend schon kommen? Aber wenn unsere Niedrigkeit Sie abstößt, Master Copperfield, dann bitte sagen Sie es nur ganz offen, mir sin uns unserer Stellung wohl bewußt.«

Ich sagte, ich wolle Mr. Wickfield um Erlaubnis bitten und dann mit Vergnügen kommen. Um sechs Uhr abends – die Kanzlei wurde gerade zeitig geschlossen – meldete ich Uriah, daß ich zu kommen bereit sei.

»Mutter wird wahrhaftig stolz sein«, sagte er, als wir zusammen fortgingen, »vielmehr sie würde stolz sein, wenn das nicht sündhaft wäre, Master Copperfield.«

»Und doch muteten Sie mir heute morgen noch zu, daß ich stolz wäre«, sagte ich.

»O Gott nein, Master Copperfield«, entgegnete Uriah. »Glauben Sie das nicht. So ein Gedanke wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich hätte es niemals als Stolz angesehen, wenn Sie uns für viel zu niedrig angesehen hätten. Mir sin doch gar so sehr niedrige Leute.«

»Haben Sie in der letzten Zeit wieder fleißig die Gesetze studiert?« fragte ich, um dem Gespräch eine andre Wendung zu geben.

»Ach, Master Copperfield«, entgegnete er mit einer Miene voll Selbstverleugnung, »mein Leben ist kaum ein Studium zu nennen. Ich habe abends manchmal ein oder zwei Stunden in Gesellschaft von Herrn Tidd verbracht.«

»Es ist wohl recht anstrengend?«

»Für mich ist es wohl manchmal schwer«, antwortete Uriah. »Aber ich weiß nicht, wie es für einen begabten Menschen sein mag.«

Nachdem er im Weitergehen mit zwei Fingern seiner rechten Skeletthand ein Weilchen auf seinem Kinn getrommelt hatte, fuhr er fort:

»Sehen Sie, Master Copperfield, es gibt da lateinische Worte und Phrasen bei Herrn Tidd, die für einen Leser von meinen geringen Kenntnissen Hemmnisse sind.«

»Wollen Sie Lateinisch lernen?« fragte ich rasch. »Ich würde Ihnen mit Vergnügen ein wenig darin behilflich sein.«

»O, ich danke Ihnen, Master Copperfield, es ist sicher sehr freundlich von Ihnen, es mir anzubieten, aber ich bin eine viel zu geringe Person, um es annehmen zu können.«

»Aber dummes Zeug, Uriah!«

»Ach, Sie müssen mich wirklich entschuldigen, Master Copperfield! Ich bin Ihnen unendlich verbunden und würde es außerordentlich gern annehmen, aber ich bin eine viel, viel zu geringe Person. Es gibt sowieso schon Leute genug, die mich in meiner Niedrigkeit mit Füßen treten, ohne daß ich ihre Gefühle durch Besitz von Gelehrsamkeit beleidige. Gelehrsamkeit ist nichts für mich! Eine Person wie ich darf nicht hoch streben. Sie muß, wenn sie im Leben vorwärtskommen will, es auf die bescheidenste Art tun, Master Copperfield!«

Ich sah Uriahs Mund noch nie so weit offen und die Falten in seiner Wange so tief, wie während dieser Rede, die er mit Kopfschütteln und unterwürfigen Krümmungen begleitete.

»Ich glaube, Sie haben unrecht, Uriah«, sagte ich. »Ich glaube, ich könnte Ihnen so manches lehren, wenn Sie es nur lernen wollten.«

»O, daran zweifle ich nicht, Master Copperfield«, antwortete er. »Nicht im geringsten. Aber da Sie selbst keine niedrige Person sind, können Sie vielleicht nicht richtig urteilen über solche, die es sind. Ich will Leute, die besser sind als ich, nicht durch Wissen verletzen. Ich bin eine viel zu geringe Person! – Hier ist meine bescheidene Wohnung, Master Copperfield.«

Wir traten unmittelbar von der Straße in ein niedriges altmodisches Zimmer und fanden dort Mrs. Heep, Uriahs Ebenbild in kleinerem Maßstabe.

Sie empfing mich mit der größten Unterwürfigkeit und bat mich um Verzeihung, daß sie ihren Sohn küßte, mit dem Bemerken, wenn sie auch niedrigen Standes wären, so hätten sie doch auch natürliche Gefühle, die hoffentlich andre nicht verletzen würden.

Es war ein ganz anständiges Zimmer, halb Wohnstube, halb Küche, aber in keiner Hinsicht gemütlich. Das Teezeug stand auf dem Tisch, und der Kessel kochte über dem Feuer. Ich bemerkte eine Kommode mit einem Schreibpult darauf für Uriah. Er las dort abends oder schrieb. Seine blaue Aktentasche lag darauf und spie förmlich Papiere. Ich sah seine Bücher, angeführt von Mr. Tidd, dann einen Schrank in der Ecke und den üblichen Hausrat.

Ich konnte nicht sagen, daß irgendein Gegenstand besonders kahl oder ärmlich ausgesehen hätte, aber das Ganze machte den Eindruck.

Es gehörte wahrscheinlich mit zu Mrs. Heeps Unterwürfigkeit, daß sie immer noch Trauer trug, obschon ihr Gatte bereits sehr lange Zeit tot war. Nur in der Haube war eine Art Kompromiß zu entdecken, aber sonst trug sie noch ebenso tiefe Trauer wie beim Leichenbegräbnis.

»Es ist ein denkwürdiger Tag heute, Uriah«, sagte Mrs. Heep, während sie den Tee bereitete, »weil uns Master Copperfield die Ehre seines Besuches erweist.«

»Ich sagte gleich, auch du würdest es so auffassen, Mutter«, bestätigte Uriah.

»Wenn ich den seligen Vater aus einem Grunde zurückwünschte«, sagte Mrs. Heep, »so wäre es aus dem, daß er unsern Gast diesen Nachmittag sehen könnte.«

Mich setzten diese Komplimente in Verlegenheit, andrerseits empfand ich es auch als schmeichelhaft, daß ich als so geehrter Gast empfangen wurde, und Mrs. Heep erschien mir deshalb als eine recht angenehme Frau.

»Mein Uriah«, sagte Mrs. Heep, »hat diese Stunde lang ersehnt, Sir! Er befürchtete, unsere Niedrigkeit sei ein Hindernis, und ich stimmte mit ihm überein. Niedrig sind mir, niedrig waren mir und niedrig werden mir bleiben.«

»Gewiß haben Sie keine Veranlassung, es zu sein, Ma’am«, sagte ich, »wenn Sie es nicht selbst wollen.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, entgegnete Mrs. Heep. »Aber wir kennen unsre Stellung und müssen dankbar dafür sein.«

Es fiel mir auf, daß Mrs. Heep langsam näher rückte und Uriah allmählich mir gegenüber zu sitzen kam, während sie mir ehrerbietig die besten Bissen zuschoben. Freilich war keine besondere Auswahl da, aber ich nahm den guten Willen für die Tat.

Sie fingen dann an, von Tanten zu sprechen, und dann erzählte ich ihnen von meiner Tante; Mrs. Heep begann von Stiefvätern zu sprechen, und ich erzählte von meinem, hörte jedoch bald auf, da meine Tante mir geraten hatte, über diesen Punkt gegen jedermann zu schweigen. Aber ein weicher, junger Kerl hätte nicht mehr Chancen gegenüber ein paar Pfropfenziehern gehabt, ein zarter junger Milchzahn nicht weniger Sicherheit vor ein paar Zahnärzten, als ich in den Händen Uriahs und Mrs. Heeps.

Sie machten mit mir, was ihnen gefiel, zogen Dinge aus mir heraus, die ich gar nicht verraten wollte, und zwar um so leichter, als ich in meiner kindlichen Arglosigkeit mir etwas darauf einbildete, so freimütig zu sein, und mir meinen beiden ehrerbietigen Wirten gegenüber gönnerhaft vorkam.

Sie liebten einander so sehr, das lag auf der Hand. Wahrscheinlich brachte das eine gewisse natürliche Wirkung auf mich hervor. Aber die Geschicklichkeit, mit der sie einander in die Hände arbeiteten, war ein Kunsttrick, dem ich noch viel weniger zu widerstehen vermochte.

Als nichts mehr aus mir herauszulocken war, – denn über das Leben bei Murdstone & Grinby und über meine Reise war ich stumm wie das Grab, – fingen sie von Mr. Wickfield und Agnes an. Uriah warf den Ball Mrs. Heep zu. Mrs. Heep fing ihn auf und warf ihn Uriah zurück. Uriah spielte eine Zeitlang mit ihm und sandte ihn dann wieder seiner Mutter zu, und so ging es hinüber und herüber, bis ich gar nicht mehr wußte, wer ihn hatte, und ganz verwirrt war.

Der Ball selbst nahm auch stets eine andere Form an. Bald war er Mr. Wickfield, bald Agnes, – bald Mr. Wickfields vortrefflicher Charakter, bald meine Bewunderung für Agnes, – dann Mr. Wickfields Kanzlei und Vermögen, unser häusliches Leben nach dem Essen, dann der Wein, den Mr. Wickfield trank, der Grund, warum er ihn trank, und der Jammer, daß er soviel tränke –, bald das, bald jenes –, dann wieder alles auf einmal. Und die ganze Zeit stand ich unter dem Eindruck, daß ich gar nicht viel spräche und sie nur immer ein wenig ermuntere, aus Furcht, sie würden sonst wieder in Unterwürfigkeit ersterben. Dann ertappte ich mich plötzlich, daß ich etwas ausgeplaudert, was ich hätte verschweigen sollen, und merkte die Wirkung davon an dem Zwinkern von Uriahs scharfgeschnittenen Nasenflügeln.

Es wurde mir langsam unbehaglich, und der Wunsch regte sich in mir, den Besuch abzubrechen, als jemand an der Türe, die wegen der Schwüle offenstand, vorüberging, wieder umkehrte, hereinsah und mit dem Ausruf: »Copperfield, ja ist’s denn möglich!« hereintrat.

Es war Mr. Micawber.

Mr. Micawber mit seiner Lorgnette, seinem Spazierstock, seinem Hemdkragen, seiner vornehmen Miene und dem herablassenden Rollen in seiner Stimme, wie er leibte und lebte.

»Mein lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und streckte mir die Hände hin, »dies ist in der Tat eine Begegnung, die geeignet ist, den Geist mit dem Gefühle der Ungewißheit und Wandelbarkeit alles Menschlichen zu erfüllen, – kurz, es ist eine außerordentliche Begegnung. Ich gehe auf der Straße herum, gerade über die Wahrscheinlichkeit einer überraschenden Schicksalswendung – meine Hoffnung in dieser Hinsicht ist jetzt sehr lebhaft – nachdenkend, da stoße ich auf einen jungen, aber geschätzten Freund, der zur ereignisreichsten Periode meines Lebens in engster Verbindung steht, fast möchte ich sagen, mit dem Wendepunkt meines Schicksals. Mein lieber Copperfield, wie geht es Ihnen?«

Ich kann nicht sagen, daß ich gerade ihn hier sehr gern sah, aber doch freute es mich, ihn wiederzusehen, und ich schüttelte ihm herzlich die Hand und fragte nach dem Befinden seiner Gattin.

»Ich danke«, sagte Mr. Micawber mit seiner alten Handbewegung und sein Kinn in seinem Hemdkragen vergrabend. »Sie ist leidlich in der Genesung begriffen. Die Zwillinge ziehen nicht länger ihre Nahrung aus den Quellen der Natur, kurz«, – er bekam wieder einen seiner alten Vertraulichkeitsausbrüche – »sie sind entwöhnt, und Mrs. Micawber ist zur Zeit meine Reisegefährtin. Sie wird sich glücklich schätzen, Copperfield, die Bekanntschaft mit jemand zu erneuern, der sich in jeder Hinsicht als würdiger Priester an dem geheiligten Altar der Freundschaft erwiesen hat.«

Ich sagte, ich würde mich außerordentlich freuen, sie zu sehen.

»Sie sind sehr gütig!« Mr. Micawber lächelte, vergrub wieder sein Kinn und sah sich um.

»Ich habe meinen Freund Copperfield«, sagte er höflich, ohne dabei jemand anzublicken, »nicht in der Einsamkeit gefunden, sondern bei einem geselligen Mahl in Gesellschaft einer verwitweten Dame und eines jungen Mannes, der wahrscheinlich ihr Sprößling – kurz und gut, ihr Sohn ist. Den Herrschaften vorgestellt zu werden, würde ich mir zur Ehre anrechnen.«

Ich konnte in dieser Lage nicht umhin, Mr. Micawber mit Uriah Heep und seiner Mutter bekannt zu machen. Da sich die beiden Heeps sehr unterwürfig benahmen, nahm Mr. Micawber einen Stuhl an und machte seine vornehmsten Handbewegungen.

»Jeder Freund meines Freundes Copperfield«, sagte er, »hat auch einen persönlichen Anspruch auf mich.«

»Mir sind viel zu niedrige Leute, Sir«, sagte Mrs. Heep, »ich und mein Sohn, um Master Copperfields Freunde sein zu dürfen. Er ist so gütig gewesen, seinen Tee bei uns zu trinken, und mir sind ihm so dankbar für seine Gesellschaft und auch Ihnen, Sir, daß Sie uns beachten.«

»Ma’am«, erwiderte Mr. Micawber mit einer Verbeugung. »Sie sind sehr liebenswürdig! Und was machen Sie, Copperfield? Immer noch im Weingeschäft?«

Es lag mir außerordentlich viel daran, Mr. Micawber fortzubringen, und erwiderte, den Hut in der Hand und wahrscheinlich mit sehr rotem Gesicht, daß ich ein Schüler Mr. Strongs sei.

»In der Schule«, sagte Mr. Micawber und zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. »Es freut mich außerordentlich, das zu hören. Obgleich ein Talent wie mein Freund Copperfield, – er wandte sich zu Uriah und Mrs. Heep – nicht jener Ausbildung bedarf, die er ohne seine Kenntnisse der Menschen und menschlichen Verhältnisse vielleicht notwendig hätte, so ist doch ein reicher Boden immerhin fruchtbar und geeignet für noch schlummernde Keime, kurz« – er verfiel wieder in seine Vertraulichkeit – »Copperfield ist ein Talent, fähig, es mit den Klassikern aufzunehmen.«

Uriah machte, seine dünnen Hände langsam reibend, eine gespenstige Windung mit dem Oberleib, um seiner Hochachtung für mich den gewünschten Ausdruck zu verleihen.

»Wollen wir zu Mrs. Micawber gehen, Sir?« fragte ich, um loszukommen.

»Wenn Sie ihr diese Gunst erweisen wollen, Copperfield«, erwiderte Mr. Micawber und stand auf. »Ich nehme keinen Anstand, hier in Gegenwart unserer Freunde zu erklären, daß ich ein Mann bin, der mehrere Jahre unter dem Drucke materieller Schwierigkeiten stand.« – Wußte ich doch, daß so etwas noch herauskommen würde! Er pflegte von jeher gern mit seinen Schwierigkeiten zu prahlen. »Manchmal habe ich mich über meine Verlegenheiten siegreich erhoben, manchmal haben meine Verlegenheiten obgelegen. Sie haben – kurz, ich war untendurch. Manchmal habe ich nicht ohne Erfolg ihnen ins Gesicht gesehen, oft wurden sie zu zahlreich für mich, und ich gab es auf und sagte zu Mrs. Micawber mit Catos Worten: ›Plato, wohl hast du recht, es ist vorbei, nicht länger vermag ich zu ringen.‹ Aber zu keiner Zeit meines Lebens habe ich eine höhere Genugtuung empfunden als damals, wo ich meinen Kummer, wenn ich ein paar Verlegenheiten, die lediglich durch Exekutionsdekrete und Sichtwechsel entstanden, Kummer nennen darf, – in den Busen meines Freundes Copperfield ausschütten konnte.«

Mr. Micawber schloß diese schöne Rede mit den Worten: »Mr. Heep, guten Abend! Mrs. Heep, Ihr ganz ergebenster Diener!« Dann ging er in seiner elegantesten Art mit mir hinaus, knarrte möglichst laut mit seinen Schuhen und summte eine Melodie vor sich hin.

Mr. Micawber war in einem kleinen Gasthaus abgestiegen und bewohnte darin ein kleines Zimmer, das von dem allgemeinen Gastzimmer abgeteilt, aus diesem Grunde stark nach Tabaksrauch roch.

Es mußte wohl über der Küche liegen, denn durch die Fugen des Fußbodens drang ein warmer Fettgeruch, und die Wände waren mit einer speckigen Ausdünstung überzogen. Der Ausschank konnte auch nicht weit sein, wie ein Duft von Spirituosen und beständiges Gläsergeklirr verrieten.

Hier lag auf einem kleinen Sofa, unter der Abbildung eines Rennpferdes, mit der Fußspitze nach dem Senftopf auf dem stummen Diener zielend, Mrs. Micawber, der ihr Mann mein Kommen mit den Worten ankündigte: »Meine Liebe, gestatte mir, daß ich dir einen Schüler des Doktor Strong vorstelle.«

Mrs. Micawber war erstaunt, aber sehr erfreut, mich zu sehen. Ich war ebenfalls sehr erfreut, und nach einer freundschaftlichen Begrüßung von beiden Seiten nahm ich neben ihr auf dem kleinen Sofa Platz.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber, »wenn du Copperfield über unsere gegenwärtige Lage, die er gewiß gern wissen wird wollen, aufklären möchtest, werde ich unterdessen daneben die Zeitungen lesen und nachsehen, ob sich unter den Ankündigungen nichts findet.«

»Ich dachte, Sie wären in Plymouth, Ma’am«, sagte ich zu Mrs. Micawber, als er fort war.

»Mein lieber Master Copperfield«, antwortete sie, »wir gingen damals nach Plymouth.«

»Um an Ort und Stelle zu sein«, ergänzte ich.

»Jawohl«, sagte Mrs. Micawber, »aber wie sich herausstellte, sehen sie beim Zollamt Talente nicht gern. Der lokale Einfluß meiner Familie reichte nicht hin, für einen Mann von Mr. Micawbers Fähigkeiten eine Anstellung in diesem Fach durchzuführen. Man zog vor, einen Mann von Mr. Micawbers Fähigkeiten abzulehnen. Die mangelhafte Begabung der andern würde gegen seine zu sehr abgestochen haben. Und außerdem möchte ich Ihnen, mein lieber Master Copperfield, nicht verhehlen, daß der Zweig meiner Familie, der in Plymouth seinen Wohnsitz hat, uns nicht mit der Wärme aufnahm, die wir so kurz nach unserer Befreiung hätten erwarten können, als er wahrnahm, daß außer Mr. Micawber und mir noch der kleine Wilkins und seine Schwester sowie die beiden Zwillinge auf der Welt sind. Mit einem Wort«, Mrs. Micawber dämpfte ihre Stimme, »– es muß das unter uns bleiben –, unsere Aufnahme war kühl.«

»O mein Gott«, sagte ich.

»Ja, es ist wahrhaft schmerzlich, die Menschheit in solchem Lichte sehen zu müssen, Master Copperfield – aber unsre Aufnahme war ausgesprochen kühl! Zweifellos kühl! Ja, der Zweig meiner Familie, der seinen Wohnsitz in Plymouth hat, wurde vor Ablauf einer Woche direkt persönlich gegen Mr. Micawber.«

Ich sagte, daß sie sich schämen sollten.

»Aber es war einmal so. Was konnte unter solchen Umständen ein Mann von Mr. Micawbers Charakter tun? Nur ein Ausweg blieb übrig: Von diesem Zweig unserer Familie das Geld zur Rückkehr nach London ausborgen und um jeden Preis zurückfahren.«

»Und dann kehrten Sie alle zurück, Ma’am?«

»Wir kehrten zurück. Seitdem habe ich andre Zweige meiner Familie um Rat gefragt wegen der Laufbahn, die Mr. Micawber am förderlichsten ein würde, – denn ich bestehe darauf, er muß eine Laufbahn einschlagen, Master Copperfield«, sagte Mrs. Micawber mit Entschiedenheit. »Es ist klar, daß eine Familie von sechs Köpfen, den Dienstboten abgerechnet, nicht von der Luft leben kann.«

»Gewiß nicht, Ma’am«, sagte ich.

»Die Meinung dieser andern Zweige meiner Familie ist, daß Mr. Micawber seine Aufmerksamkeit sofort auf die Kohlen richten solle.«

»Auf was, Ma’am?«

»Auf den Kohlenhandel! Mr. Micawber kam nach näherer Erkundigung auf den Gedanken, daß für einen Mann von seinen Talenten im Medway-Kohlenhandel etwas zu holen wäre. Wie Mr. Micawber sehr richtig sagte, galt es nun, den ersten Schritt zu tun, nämlich, die Medway zu besichtigen, und wir traten die Reise an und besichtigten Medway. Ich sage: wir, Master Copperfield«, fügte Mrs. Micawber ergriffen hinzu, »denn ich werde meinen Gatten nie verlassen.«

Murmelnd gab ich meiner Bewunderung und Zustimmung Ausdruck.

»Wir kamen an und sahen die Medway. Mein Urteil über den Kohlenhandel auf diesem Fluß ist, daß zu ihm vielleicht Talent, vor allem aber Kapital nötig ist. Talent besitzt Mr. Micawber, Kapital hingegen nicht. Wir haben den größten Teil des Medway besichtigt, und ich bin zu diesem individuellen Schluß gelangt. Da wir hier so nahe waren, meinte Mr. Micawber, sei es leichtsinnig, eine Gelegenheit, uns die Kathedrale anzusehen, zu versäumen. Erstens, da sie wirklich sehenswert ist, und dann, weil sich möglicherweise in einem Erzbistum wie Canterbury leicht etwas finden könnte. Bisher hat sich noch nichts gefunden, und wir warten jetzt auf Geld aus London, um unsern pekuniären Verpflichtungen in diesem Gasthaus nachkommen zu können. Bis zur Ankunft dieses Geldes«, sagte Mrs. Micawber gefühlvoll, »bin ich von meinem Heim in Pentonville, von meinem Knaben und meinem Mädchen und meinen Zwillingen isoliert.«

Ich hegte das größte Mitgefühl für Mr. und Mrs. Micawber in dieser bedrängten Lage, sprach dies auch gegen Mr. Micawber, der jetzt zurückkehrte, aus und setzte hinzu, daß ich nur wünschte, ich besäße das Geld, um es ihnen leihen zu können.

Mr. Micawbers Antwort verriet seinen Gemütszustand. Er schüttelte mir die Hand und sagte: »Copperfield, Sie sind ein wahrer Freund, aber wenn das Schlimmste kommt, so ist ein Mensch noch nicht ganz verlassen, solange er noch ein Rasiermesser besitzt.«

Bei diesem schrecklichen Wink schlang Mrs. Micawber die Arme um ihres Gatten Hals und bat ihn, sich doch zu beruhigen. Mr. Micawber fing an zu weinen, erholte sich aber gleich wieder soweit, daß er dem Kellner klingeln und einen heißen Nierenpudding und einen Teller voll Krevetten zum Frühstück bestellen konnte.

Als ich Abschied nahm, drangen sie so sehr in mich, mit ihnen zu dinieren, ehe sie wieder abreisten, daß ich es unmöglich abschlagen durfte. Da ich aber am nächsten Tag nicht abkommen konnte, versprach Mr. Micawber, zu Dr. Strong in die Schule zu kommen und mich für den nächsten Tag auszubitten – er hätte eine Ahnung, daß das Geld übermorgen eintreffen würde, – falls es mir dann besser passen sollte.

Wirklich wurde ich am übernächsten Tag aus der Klasse gerufen und fand Mr. Micawber im Sprechzimmer. Das Essen sollte also am nächsten Tage stattfinden. Auf meine Frage, ob das Geld gekommen sei, drückte er mir die Hand und ging.

Als ich an diesem Abend aus unserm Fenster schaute, sah ich zu meiner Verwunderung und nicht ohne Unruhe Mr. Micawber und Uriah Heep Arm in Arm vorbeigehen. Uriah, ganz niedergedrückt im Bewußtsein der Ehre, die ihm widerfuhr, Mr. Micawber, strahlend vor Freude, Uriah seine Gönnerschaft angedeihen lassen zu können. Noch mehr war ich am nächsten Tage erstaunt, als ich zu Tisch ins Gasthaus kam, zu vernehmen, daß Mr. Micawber Uriah sogar nach Hause begleitet und dort Brandy mit Wasser getrunken hatte.

»Ich will Ihnen etwas sagen, lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber. »Ihr Freund Heep ist ein junger Mensch, der Staatsanwalt sein könnte. Wenn ich diesen jungen Mann zu der Zeit, als sich meine Verhältnisse zur Krise zuspitzten, gekannt hätte, würden meine Gläubiger wahrscheinlich mürber geworden sein, als es der Fall war.«

Ich konnte mir das nicht recht vorstellen, da Mr. Micawber sie ja überhaupt nicht bezahlt hatte. Aber ich wollte nicht fragen. Ich wollte auch nicht fragen, ob er nicht am Ende zu mitteilsam gegen Uriah gewesen und von mir zuviel gesprochen habe. Ich scheute mich, Mr. Micawbers und besonders Mrs. Micawbers Gefühle zu verletzen. Aber unbehaglich war mir zumute, und ich mußte nachher oft daran denken.

Wir hatten ein sehr gutes, kleines Diner. Einen ausgezeichneten Fisch, Kalbsnierenbraten, Bratwürste, ein Rebhuhn und einen Pudding. Wir tranken Wein und starkes Ale, und nach dem Essen bereitete uns Mrs. Micawber eigenhändig eine Bowle heißen Punsch.

Mr. Micawber war ungewöhnlich aufgeräumt. Ich sah ihn noch niemals so gut aufgelegt. Sein Gesicht war vom Punsch so erhitzt, daß es wie lackiert aussah. Er war ganz gerührt über die Stadt und trank auf ihr Gedeihen und ließ dabei fallen, daß Mrs. Micawber und er sich hier außerordentlich wohl befunden hätten und nie die in Canterbury verlebten angenehmen Stunden vergessen würden. Dann brachte er einen Toast auf mich aus, und wir unterhielten uns alle drei über unser früheres Zusammentreffen, bei welcher Gelegenheit wir das ganze Besitztum der Familie im Geiste nochmals verkauften.

Dann ließ ich Mrs. Micawber leben oder sagte vielmehr bescheiden: »Wenn Sie mir gestatten würden, Ma’am, möchte ich mir erlauben, auf Ihre Gesundheit zu trinken.«

Sodann hielt Mr. Micawber eine Lobrede auf seine Gattin und hob hervor, sie wäre ihm immer als Führer, Philosoph und Freund zur Seite gestanden, und wenn ich einmal heiratete, so empfehle er mir, eine solche Frau zu nehmen, falls noch eine zu finden sei.

Als der Punsch zu Ende ging, wurde er noch gemütlicher und heiterer. Auch sie wurde lebhafter, und wir sangen das alte schottische Lied: »Auld lang Seyne« und vergossen Tränen dabei.

Kurz, ich sah nie jemand so fidel wie damals Mr. Micawber bis zu dem Augenblick, wo ich von ihm und seiner liebenswürdigen Frau herzlich Abschied nahm.

Um so verwunderter war ich, nächsten Morgen um sieben Uhr folgende Mitteilung zu erhalten, datiert halb zehn Uhr abends, eine Viertelstunde nach unserm Scheiden:

»Mein lieber junger Freund!

Der Würfel ist gefallen – und alles vorbei. Als ich den nagenden Gram unter der künstlichen Maske der Heiterkeit verbarg, sagte ich Ihnen nicht, daß auf Geld nicht zu hoffen ist. Unter solchen Verhältnissen, die zu ertragen mitanzusehen und zu erzählen gleich demütigend sind, habe ich meine Rechnung hier getilgt mit einer Schuldverschreibung, vierzehn Tage zahlbar nach Ausstellung in meinem Domizil in Pentonville-London.

Bei Verfall wird sie nicht eingelöst. Die Folge davon ist der Untergang. Die Axt ist gehoben, und der Baum muß fallen.

Möge der Unglückliche, der Ihnen jetzt schreibt, mein lieber Copperfield, Ihnen eine Warnung für das ganze Leben sein. Er schreibt in dieser Absicht und von dieser Hoffnung erfüllt. Wenn er glauben könnte, noch in dieser einen Hinsicht nützlich sein zu dürfen, so könnte vielleicht ein lichter Strahl in das freudlose Kerkerdunkel seiner Zukunft dringen, obgleich ihm zur Zeit ein hohes Alter außerordentlich problematisch erscheint (gelinde angedeutet).

Dies ist die letzte Mitteilung, mein lieber Copperfield, die Sie empfangen von Ihrem
an den Bettelstab gebrachten ausgestoßnen
Wilkins Micawber.«

Ich war so bestürzt durch den Inhalt dieses herzzerreißenden Briefes, daß ich unverzüglich nach dem kleinen Gasthof eilte, um zu versuchen, Mr. Micawber ein wenig zu trösten.

Unterwegs begegnete ich der Londoner Landkutsche. Auf dem Rücksitz saßen Mr. und Mrs. Micawber, – ersterer ein Bild friedvollen Genießens. Er hörte lächelnd Mrs. Micawber zu, knackte Nüsse aus einer Papiertüte und hatte eine Flasche in der Brusttasche stecken. Da sie mich nicht bemerkten, hielt ich es für das beste, mich nicht sehen zu lassen. So lenkte ich mit erleichtertem Herzen in eine Seitenstraße, die am kürzesten zur Schule führte, ein und fühlte mich im ganzen großen sehr befreit, daß sie fort waren, trotzdem ich sie immer noch sehr gern hatte.

18. Kapitel Ein Rückblick


18. Kapitel Ein Rückblick

Schulzeit! Stilles Dahingleiten meines Daseins, unsichtbares, unfühlbares Vorrücken des Lebens – von der Kindheit in das Jünglingsalter. Ich blicke zurück auf diesen einst so munter strömenden Fluß, der jetzt nur mehr ein mit gefallenem Laub bestreutes Strombett ist. Ich will nach einigen Zeichen suchen an seinem Ufer, um alte Erinnerungen zu wecken.

Ich sitze wieder auf meinem Platz in der Kathedrale, wohin wir jeden Sonntagmorgen gehen, nachdem wir uns in der Schule versammelt haben. Der Erdgeruch, die sonnenlose Luft, das Gefühl, von der Welt abgeschlossen zu sein, das Brausen der Orgel durch die schwarzweißen Gewölbe der Galerien und des Kirchenschiffs sind Schwingen, die mich zurücktragen und über diesen Tagen in halbwachem Traume schweben lassen.

Ich bin nicht der letzte mehr in der Schule. In wenigen Monaten habe ich mehrere Schüler überholt. Aber der erste in der Anstalt erscheint mir noch als ein machtvolles Wesen in schwindelnder Höhe. Ich kann ihn nicht erreichen. Agnes sagt: nein, ich aber: ja. Und ich erzähle ihr, sie ahne nicht, welche Schätze von Wissen sich dieses wunderbare Wesen angeeignet hat. Sie hingegen sieht mich schon an seiner Stelle. Er ist nicht mein Freund und Gönner wie Steerforth einst, aber ich sehe zu ihm auf mit ehrfurchtsvollem Schauer. Ich beschäftige mich viel mit dem Gedanken, was er sein wird, wenn er einmal Dr. Strongs Anstalt verläßt, und was die Menschheit tun wird, sich ihm gegenüber zu behaupten.

Wer taucht da vor mir auf? Miss Shepherd ists, die ich liebe.

Miss Shepherd ist in der Pension bei Misses Nettingall. Ich bete Miss Shepherd an. Es ist ein kleines Mädchen mit einem Spenser, mit rundem Gesicht und lockigem Flachshaar.

Die jungen Damen aus der Pension der Misses Nettingall kommen ebenfalls in die Kirche. Ich kann nicht mehr in das Gebetbuch sehen, weil ich Miss Shepherd anschauen muß. Wenn der Chor singt, höre ich Miss Shepherd. Im Gottesdienst schiebe ich im Geiste Miss Shepherds Namen ein – mitten unter die königliche Familie. Zu Hause in meinem Zimmer fühle ich mich manchmal gedrängt, in Liebesverzückung auszurufen: O Miss Shepherd!

Eine Zeitlang bin ich über Miss Shepherds Gefühle im unklaren. Aber das Schicksal will uns endlich wohl, und wir treffen uns in der Tanzstunde. Miss Shepherd ist meine Tänzerin. Ich berühre Miss Shepherds Handschuhe und fühle ein Zittern in meinem rechten Jackenärmel emporsteigen und zu den Haaren wieder hinausfahren. Ich sage Miss Shepherd nicht ein einziges zärtliches Wort, und doch verstehen wir einander. Miss Shepherd und ich leben nur, um ein Paar zu sein.

Warum schenke ich Miss Shepherd zwölf Paranüsse? Sie drücken keine Liebe aus, lassen sich schlecht in ein anständiges Päckchen wickeln, sind schwer aufzuknacken selbst zwischen Stubentüren, schmecken ölig, und doch finde ich, daß sie für Miss Shepherd passen. Auch weiche Biskuits schenke ich Miss Shepherd und unzählige Orangen. Einmal küsse ich Miss Shepherd in der Garderobe. O welche Wonne! Wie groß ist mein Schmerz und meine Entrüstung am nächsten Tag, als das Gerücht zu mir dringt, daß sie bei Misses Nettingall hat in der Ecke stehen müssen, weil sie einwärts gegangen ist.

Wie kommt es, daß ich mit Miss Shepherd breche, trotzdem sie mir Tag und Nacht im Kopfe steckt? Ich kann es nicht begreifen. Miss Shepherd und ich werden kühl gegeneinander. Ein Gerücht kommt mir zu Ohren, Miss Shepherd habe gesagt, sie könnte es nicht leiden, daß ich sie immer so anstarre, und sie zöge Master Jones vor. – Jones! Einen Knaben ohne alle Verdienste. Die Kluft zwischen Miss Shepherd und mir wird immer größer. Endlich begegne ich ihr eines Tages, wie sie aus der Schule geht, und sie schneidet mir ein Gesicht im Vorbeigehen und lacht ihren Begleiter an. Alles ist aus! Die Verehrung eines ganzen Lebens, so kommt es mir vor, ist vorbei. Miss Shepherd wird aus dem Morgengebet gestrichen, und die königliche Familie hat mit ihr nichts mehr zu tun.

Ich bin in der Klasse aufgestiegen und niemand stört mehr meinen Frieden. Ich bin jetzt gar nicht mehr höflich gegen Misses Nettingalls junge Damen und würde ihnen keine Beachtung mehr schenken, und wenn ihrer noch zweimal soviel wären und jede zwanzigmal so hübsch. Die Tanzstunde kommt mir langweilig vor, und ich möchte wissen, warum die Mädchen nicht allein tanzen und uns ungeschoren lassen. Ich erstarke in lateinischen Versen und vernachlässige meine Schnürstiefel. Dr. Strong erwähnt mich öffentlich als einen vielversprechenden Schüler. Mr. Dick rast vor Freude, und meine Tante schickt mir mit der nächsten Post eine Guinee.

Der Schatten eines Fleischerburschen steigt auf wie die Erscheinung des behelmten Hauptes in Macbeth. Wer ist dieser junge Fleischerbursche? Er ist der Schrecken der Jugend von Canterbury. Es geht die Sage, daß der Rindstalg, mit dem er sich die Haare schmiert, ihm übernatürliche Kräfte verleiht, und daß er es mit einem Erwachsenen aufnehmen kann. Er hat ein breites Gesicht, einen Stiernacken, dicke rote Backen, ein böses Gemüt und eine Lästerzunge. Er macht von ihr Gebrauch, um Dr. Strongs junge Herren zu beschimpfen. Er sagt öffentlich, wenn sie etwas brauchten, wolle er es ihnen schon »geben«. Er bezeichnet einige von uns, darunter auch mich, über die er mit einer Hand Herr werden könne. Er lauert den kleinern Jungen auf, um ihnen eines auf den schutzlosen Kopf zu geben, und ruft mir auf offener Straße Herausforderungen nach. Aus allen diesen Gründen beschließe ich, mit dem Fleischerburschen einen Kampf auszufechten.

Es ist an einem Sommerabend in einem grünen Laubengang an der Ecke einer Mauer. Ich habe mich mit dem Fleischerburschen bestellt. Eine auserlesene Anzahl unserer Schüler begleiten mich. Den Fleischerburschen zwei andere, ein junger Wirt und ein Schornsteinfeger. Alle Vorbereitungen sind getroffen. Wir stehen einander gegenüber. Im Nu hat mir der Fleischerbursche zehntausend Funken aus meiner linken Augenbraue herausgeschlagen. In der nächsten Sekunde weiß ich nicht, wo ich bin, wo die Mauer ist oder überhaupt irgend jemand. Ich weiß überhaupt nichts mehr, so wütend balgten wir uns auf dem zertretenen Rasenplatze herum. Manchmal sehe ich den Fleischerburschen blutig, aber zuversichtlich. Manchmal sehe ich gar nichts und sitze, nach Luft schnappend, auf dem Knie meines Sekundanten. Dann falle ich wieder wütend über den Fleischerburschen her und schlage mir die Knöchel an seinem Gesicht kaputt, ohne daß das ihn im mindesten aus der Fassung bringt. Schließlich wache ich ganz wirr im Kopfe auf wie aus einem tiefen Schlaf und sehe den Fleischerburschen fortgehen, beglückwünscht von seinen Begleitern und im Gehen den Rock anziehend, und schließe daraus sehr richtig, daß er gesiegt hat.

Ich werde in einer traurigen Verfassung nach Hause gebracht. Man legt mir Beefsteaks aufs Auge, reibt mich mit Essig und Branntwein ein, und auf meiner Oberlippe prangt eine große, weiße Quetschung, die unglaublich anschwillt. Drei oder vier Tage muß ich zu Hause bleiben, sehe schrecklich aus, trage einen grünen Augenschirm und würde mich fürchterlich langweilen, wenn nicht Agnes wie eine Schwester zu mir wäre und mich tröstete, mir vorläse und mir die Zeit vertriebe.

Agnes besitzt immer mein ganzes Vertrauen. Daher erzähle ich ihr die ganze Geschichte von dem Fleischerburschen und den Beleidigungen, die er mir zugefügt hat, und auch sie ist der Meinung, daß ich nicht umhin konnte, mich mit ihm zu boxen, während sie bei dem bloßen Gedanken daran schaudert und zittert.

Unmerklich ist die Zeit verstrichen, und Adams ist nicht mehr der Erste in den Tagen, die jetzt kommen, und ist es schon manchen und manchen Tag nicht mehr gewesen. Er ist schon so lange abgegangen, daß ihn außer mir nicht viele mehr kennen, als er wieder einmal den Doktor besucht. Adams steht im Begriff, Advokat zu werden und eine Perücke zu tragen. Mich wundert, daß er bescheidner auftritt, als ich angenommen hatte, und äußerlich weniger imponiert. Er hat auch die Welt noch nicht aus den Angeln gehoben, denn soweit ich erkennen kann, läuft sie ruhig weiter, als sei nichts geschehen.

Dann eine große Leere, durch die die Helden der Dichtkunst und Geschichte in stattlichen Scharen, die kein Ende zu nehmen scheinen, vorbeiziehen. –

Und was kommt dann? Ich bin jetzt der Erste und sehe auf die Reihe der Knaben unter mir mit einer herablassenden Teilnahme für die herab, die mich an den Jungen erinnern, der ich war, als ich zuerst hierherkam. Dieser kleine Junge scheint mit mir nichts mehr gemein zu haben. Ich denke an ihn wie an etwas, das ich auf meinem Lebensweg hinter mir gelassen habe, denke an ihn fast wie an einen Fremden.

Und das kleine Mädchen, das ich am ersten Tag bei Mr. Wickfield sah? Auch verschwunden. An seiner Stelle lebt im Hause das vollkommene Ebenbild des Porträts. Agnes, meine süße Schwester, – wie ich sie innerlich nenne, – mein Berater und Freund, der gute Engel aller, die mit ihrem stillen, guten, sich selbst verleugnenden Wesen in Berührung treten, ist zur Jungfrau herangereift.

Was für Veränderungen außer denen in meiner Größe und dem Aussehen und den Kenntnissen, die ich gesammelt, sind an mir zu bemerken?

Ich trage eine goldne Uhr mit Kette, einen Ring am kleinen Finger und einen langschößigen Rock und verbrauche sehr viel Pomade –, was in Verbindung mit dem Ring nichts Gutes bedeutet.

Bin ich schon wieder verliebt? Allerdings.

Ich bete die älteste Miss Larkins an. Die älteste Miss Larkins ist aber kein kleines Mädchen. Sie ist schlank, brünett, schwarzäugig, eine junonische Gestalt. Die älteste Miss Larkins ist kein Backfisch, selbst die jüngste Miss Larkins ist es nicht mehr und dabei drei oder vier Jahre jünger als ihre Schwester. Die älteste Miss Larkins mag so gegen dreißig sein. Meine Leidenschaft für sie übersteigt alle Grenzen.

Die älteste Miss Larkins ist mit Offizieren bekannt. Das ist kaum auszuhalten. Ich sehe sie auf der Straße mit ihnen sprechen. Sie kommen auf der Straße quer herüber zu ihr, wenn ihr Hut – sie trägt gern lebhafte Farben – auf dem Trottoir neben dem ihrer Schwester auftaucht. Sie lacht und plaudert mit ihnen und scheint Gefallen daran zu finden.

Den größten Teil meiner freien Zeit verbringe ich mit Spazierengehen, um ihr zu begegnen. Wenn ich sie einmal am Tage grüßen kann, fühle ich mich glücklich. Hie und da bekomme ich einen Gegengruß. Ich leide Qualen in der Nacht, wenn Wettrennball ist, wo sie mit den Offizieren tanzt. Wenn es eine Gerechtigkeit unter der Sonne gibt, muß mir das angerechnet werden.

Meine Leidenschaft raubt mir jeden Appetit, und ich trage beständig mein allerneuestes Seidenhalstuch. Mein einziger Trost ist, daß ich beständig meine besten Kleider anziehe und mir immer wieder die Stiefel putzen lasse. Ich komme mir dann der ältesten Miss Larkins würdiger vor.

Alles, was ihr gehört, was mit ihr in Verbindung steht, ist mir teuer.

Mr. Larkins, ein brummiger, alter Gentleman mit einem Doppelkinn und einem unbeweglichen Auge flößt mir großes Interesse ein. Wenn ich seiner Tochter nicht begegnen kann, trachte ich wenigstens ihn zu treffen. Die Frage: Wie geht es Ihnen, Mr. Larkins. Sind Ihre Fräulein Töchter und die werte Familie ganz wohl? erscheint mir so anzüglich, daß ich rot werde.

Ich denke beständig über mein Alter nach. Wenn ich auch siebzehn bin und siebzehn sehr jung für die älteste Miss Larkins ist, was tut das? Überdies werde ich bald einundzwanzig sein! Ich streife abends um Mr. Larkins Haus herum, und es gibt mir jedesmal einen Stich ins Herz, wenn ich die Offiziere hineingehen sehe, oder sie oben im Besuchszimmer höre, wo die älteste Miss Larkins Harfe spielt. Ich umkreise sogar hie und da in krankhaft überspannter Stimmung das Haus, wenn die Familie zu Bett gegangen ist, und suche zu erraten, wo der ältesten Miss Larkins Schlafzimmer sein mag. Ich wünsche, daß ein Feuer ausbrechen möge. Ich dränge mich mit einer Leiter durch die entsetzt und ratlos dastehenden Zuschauer, rette Miss Larkins in meinen Armen, kehre dann noch einmal um, etwas Vergessenes zu holen, und finde in den Flammen den Tod. Denn ich bin meistens sehr uneigennützig in meiner Liebe und fühle mich nur befriedigt, wenn ich mich vor Miss Larkins hervortun und dann sterben kann.

Aber nicht immer.

Manchmal stehen anspruchsvollere Träume vor mir. Während ich mich zu einem großen Ball bei Larkins ankleide, was mich im Geist zwei Stunden kostet, spielt meine Phantasie mit lieblichen Bildern. Ich stelle mir vor, wie ich den Mut fasse, Miss Larkins meine Liebe zu erklären. Ich denke mir Miss Larkins, wie sie den Kopf auf meine Schultern sinken läßt und sagt: »Ach Mr. Copperfield. Darf ich meinen Ohren trauen?« Ich stelle mir vor, wie Mr. Larkins am nächsten Morgen zu mir kommt und sagt: »Mein lieber Copperfield, meine Tochter hat mir alles gestanden. Ihre Jugend ist kein Hindernis. Hier sind zwanzigtausend Pfund. Seid glücklich.« Ich sehe, wie meine Tante nachgibt und uns segnet, – und Mr. Dick und Dr. Strong der Trauung beiwohnen. Ich bin ein ganz vernünftiger Bursche und sehe mich auch noch als solchen, wenn ich heute zurückblicke, bin auch ganz bescheiden, – aber das verträgt sich alles damit.

Ich begebe mich in Wirklichkeit in das verzauberte Haus, nehme Lichterglanz wahr, Geplauder, Musik, Blumen, leider auch Offiziere, und die älteste Miss Larkins in strahlender Schönheit. Sie trägt ein blaues Kleid und blaue Blumen im Haar – Vergißmeinnicht! Als ob sie noch nötig hätte, Vergißmeinnicht zu tragen. Es ist die erste wirkliche große Gesellschaft, zu der ich eingeladen bin; ich fühle mich recht unbehaglich, denn ich scheine nirgends hinzugehören, und niemand scheint mir etwas Besondres mitteilen zu wollen. Nur Mr. Larkins fragt mich, was meine Schulkollegen machen, was er bleiben lassen könnte, da ich mit ihnen nicht verkehre, um von ihnen nicht beleidigt zu werden.

Nachdem ich einige Zeit an der Türe gestanden und im Anblick der Göttin meines Herzens geschwelgt habe, naht sie sich mir – sie – die älteste Miss Larkins – und fragt mich freundlich, ob ich tanze. Ich stammle mit einer Verbeugung: »Mit Ihnen, Miss Larkins.«

»Nur mit mir?« fragt Miss Larkins.

»Es würde mir kein Vergnügen machen, mit jemand anders zu tanzen.«

Miss Larkins lacht und wird rot, das heißt, ich bilde mir ein, sie wird rot, und sagt: »Den nächsten Tanz habe ich noch frei.«

Die Zeit naht heran.

»Aber es ist ein Walzer«, bemerkt Miss Larkins und macht ein besorgtes Gesicht, als ich mich vorstelle. »Können Sie Walzer tanzen, sonst würde Kapitän Bailey –?«

Aber ich tanze Walzer und noch dazu ziemlich gut. Ich nehme Miss Larkins Arm und entführe sie unbarmherzig dem Kapitän Bailey. Er ist todunglücklich, ich zweifle nicht daran. Aber er ist mir Luft. Ich bin auch todunglücklich gewesen! Ich tanze den Walzer mit der ältesten Miss Larkins. Ich weiß nicht wohin und wie lang. Ich weiß nur, ich schwimme im Raum in einem Zustand seliger Trunkenheit mit einem blauen Engel dahin, bis ich mich in einem kleinen Zimmer neben ihr auf einem Sofa wiederfinde. Sie bewundert eine Blume (rote Camelia japonica – Preis: eine halbe Krone) in meinem Knopfloch. Ich reiche sie ihr mit den Worten:

»Ich fordere einen unschätzbaren Preis dafür, Miss Larkins.«

»In der Tat! Was wäre das?« fragt Miss Larkins.

»Eine Blume von Ihnen, um sie zu bewahren, wie ein Geizhals sein Geld.«

»Sie sind ein recht kecker junger Mann«, sagt Miss Larkins. »Da.«

Sie gibt mir eine Blume, nicht unfreundlich. Ich drücke sie an meine Lippen und dann an meine Brust.

Miss Larkins lacht, reicht mir ihren Arm und sagt: »Aber jetzt führen Sie mich zu Kapitän Bailey.«

Ich bin noch ganz versunken in die Erinnerung, als sie wieder zu mir kommt am Arm eines biedern ältlichen Herrn, der die ganze Zeit Whist gespielt hat, und sagt:

»O, hier ist mein kecker junger Freund. Mr. Chestle möchte Sie kennenlernen, Mr. Copperfield.«

Ich fühle sofort heraus, daß er ein Freund der Familie ist und bin sehr geehrt.

»Ich bewundere Ihren Geschmack, Sir«, sagt Mr. Chestle. »Er macht Ihnen Ehre. Sie haben wahrscheinlich kein großes Interesse für Hopfen, aber ich selbst besitze in der Nachbarschaft von Ashford ziemlich umfangreiche Hopfengärten. Wenn Sie einmal bei uns vorbeikommen, wird es uns sehr freuen, Sie, solange es Ihnen gefällt, bei uns zu sehen.«

Ich drücke Mr. Chestle meinen warmen Dank aus und schüttle ihm die Hand. Ich lebe dahin wie im Traum. Ich tanze noch einmal mit der ältesten Miss Larkins einen Walzer, und sie sagt, ich tanzte sehr gut. Ich gehe in einem Zustand unaussprechlicher Wonne nach Hause und tanze die ganze Nacht hindurch im Traum, den Arm um die blaue Taille der angebeteten Göttin gelegt. Noch einige Tage später bin ich ganz in Reflexionen versunken, kann sie aber nirgends auf der Gasse erblicken. Der Besitz des heiligen Pfandes, der verwelkten Blume, tröstet mich nur unvollkommen.

»Trotwood«, sagt Agnes eines Tages nach dem Diner, »wer glaubst du heiratet morgen? Jemand, den du verehrst!«

»Doch nicht am Ende du, Agnes?«

»O, ich nicht«, sagt sie und blickt fröhlich von den Noten auf, die sie abschreibt. »Hörst du, was er sagt, Papa? – Die älteste Miss Larkins!«

»Mit Kapitän Bailey?« habe ich gerade noch Kraft genug zu fragen.

»Nein, mit keinem Kapitän. Mit Mr. Chestle, einem Hopfenzüchter.«

Ich bin ein oder zwei Wochen gräßlich niedergeschlagen. Ich lege meinen Ring ab, trage meine schlechtesten Kleider, verwende keine Pomade mehr und seufze häufig über der entschwundenen Miss Larkins verwelkten Blume. Dann habe ich dieses Leben gründlich satt, und da mich der Fleischerbursche von neuem reizt, werfe ich die Blume weg, trete mit ihm an und besiege ihn glorreich.

Dieser Vorfall und das Wiederanstecken meines Ringes, sowie ein maßvoller Gebrauch der Bären-Pomade sind die einzigen Merkzeichen, die mir von meinem Weg zum siebzehnten Geburtstag in der Erinnerung geblieben sind.

19. Kapitel Ich halte die Augen offen und mache eine Entdeckung


19. Kapitel Ich halte die Augen offen und mache eine Entdeckung

Ich weiß nicht mehr, ob ich innerlich froh oder traurig war, als meine Schultage zu Ende gingen und die Zeit nahte, wo ich Dr. Strongs Anstalt verlassen sollte.

Ich war sehr glücklich dort gewesen, hatte eine große Zuneigung zu dem Doktor gefaßt und mir eine hervorragende und ausgezeichnete Stellung in jener kleinen Welt geschaffen. Deshalb schied ich ungern; aus andern, recht unwesentlichen Gründen jedoch war ich froh. Dunkle Vorstellungen über die Wichtigkeit eines selbständig gewordenen jungen Mannes, über die wundervollen Dinge, die so ein hervorragendes Lebewesen vollbringen könnte, die großartigen Wirkungen, die es unfehlbar auf die Gesellschaft ausüben müßte, erfüllten mich ganz. So mächtig waren diese Träume in mir, daß es mir jetzt manchmal vorkommt, als müßte ich die Schule wohl ohne jeden Kummer verlassen haben. Der Abschied machte nicht den Eindruck auf mich, den man hätte erwarten können. Ich glaube, die Aussicht auf die Zukunft verwirrte mich vollständig. Das Leben schien mir wie das große Feenmärchen, das ich damals gerade las.

Meine Tante und ich pflogen manche ernste Beratung, welchen Beruf ich eigentlich einschlagen sollte. Länger als ein Jahr konnte ich keine genügende Antwort auf ihre so oft wiederholte Frage, was ich eigentlich werden wollte, finden. Ich konnte in mir keine besondere Vorliebe zu irgendeinem bestimmten Beruf entdecken. Wenn ich mir mit einem Schlage die Kenntnis der nautischen Wissenschaften und das Kommando über ein schnell segelndes Expeditionsgeschwader hätte aneignen können, so würde ich durch die Aussicht auf die Triumphe großer Entdeckungsreisen, glaube ich, vollständig zufriedengestellt gewesen sein. Da aber etwas dergleichen voraussichtlich nicht geschehen konnte, hätte ich gern einen Beruf gewählt, in dem ich meiner Tante möglichst wenig auf der Tasche zu liegen brauchte.

Mr. Dick wohnte jederzeit mit nachdenklicher und überlegener Miene unseren Beratungen bei. Einmal machte er plötzlich einen Vorschlag und riet, ich sollte Kupferschmied werden. Meine Tante nahm aber diesen Vorschlag so ungnädig auf, daß er nie einen zweiten mehr wagte und sich von da an begnügte, sie gespannt anzusehen und mit seinem Gelde zu klimpern.

»Ich will dir etwas sagen, Trot, mein Liebling«, sagte meine Tante eines Morgens um die Weihnachtszeit. »Da diese schwierige Frage immer noch nicht gelöst ist und wir uns hüten müssen, voreilig einen Entschluß zu fassen, ist es wohl am besten, wir warten noch ein wenig ab. Unterdessen mußt du dich bemühen, die Frage von einem andern Gesichtspunkt als dem eines Schülers aus zu betrachten.«

»Das will ich tun, Tante.«

»Es ist mir eingefallen, daß eine kleine Veränderung in den Verhältnissen und ein Blick auf das Leben draußen dir vielleicht nützlich sein können und dir helfen, zu einem richtigen Urteil zu kommen. Zum Beispiel eine kleine Reise. Wenn du etwa wieder in deine alte Heimat reistest und das sonderbare Weib mit dem heidnischen Namen besuchtest«, sagte meine Tante und rieb sich die Nase.

»Von allem auf der Welt wäre mir das das liebste, Tante.«

»Also gut. Das ist schön und würde auch mir gut passen. Es ist natürlich und vernünftig, daß es dir lieb ist, und ich bin ganz überzeugt, Trot, daß du immer das Natürliche und Vernünftige tun wirst.«

»Das hoffe ich, Tante.«

»Deine Schwester Betsey Trotwood wäre stets das natürlichste und vernünftigste Mädchen auf Erden gewesen, und du wirst dich ihrer gewiß würdig zeigen, nicht wahr?«

»Ich hoffe, ich werde mich deiner würdig zeigen, Tante. Das genügt mir.«

»Aber was ich in dir zu sehen wünsche, Trot, ist ein tüchtiger Mensch. Ein braver, tüchtiger Mensch, der seinen eignen Willen hat. Und Entschlossenheit –« sie nickte mir energisch zu und ballte die Faust. »Und Entschiedenheit. Und Charakter, Trot! Einen starken Charakter, der sich außer mit gutem Grund von niemand und in keinerlei Weise bestimmen läßt. So möchte ich dich sehen. So hätten dein Vater und deine Mutter sein können, Gott weiß es, und es wäre besser für sie gewesen.«

Ich gab meiner Hoffnung Ausdruck, so zu werden, wie sie es wünschte.

»Damit du im kleinen anfängst, selbständig zu beobachten und zu handeln, lasse ich dich allein reisen. Ich hatte zuerst vor, dir Mr. Dick als Begleitung mitzugeben, aber bei näherer Überlegung sehe ich, daß es besser ist, wenn er hier zu meinem Schutze bleibt.«

Mr. Dick sah einen Augenblick etwas unzufrieden drein, aber die hohe Ehre, der wunderbarsten Frau auf der Welt seinen Schutz angedeihen lassen zu dürfen, verbreitete bald wieder Sonnenschein auf seinem Gesicht.

»Außerdem«, sagte meine Tante, »ist ja die Denkschrift da.«

»Ja, natürlich«, stimmte Mr. Dick eilfertig bei. »Ich gedenke sie fertig zu machen, Trotwood. Das muß sofort geschehen, und dann wird sie eingereicht – weißt du, und dann –« er unterbrach und machte eine lange Pause – »kanns losgehen.«

So wurde ich denn von meiner Tante mit einer hübschen Summe Geldes ausgerüstet und zärtlich entlassen.

Sie gab mir beim Abschied viele gute Ratschläge und ebenso viele Küsse und sagte, ich solle mich in jeder Hinsicht ein bißchen umsehen, und empfahl mir zu diesem Zweck, auf der Hin- oder Herreise ein paar Tage in London zu bleiben. Kurz und gut, ich sollte drei oder vier Wochen tun und lassen, was ich wollte; nur mit der einen Bedingung, ich müßte meine Augen offenhalten und dreimal in der Woche getreulich Bericht erstatten.

Zuerst begab ich mich nach Canterbury, um von Agnes, Mr. Wickfield und dem guten Doktor Abschied zu nehmen. Agnes freute sich sehr und sagte, ohne mich sei das Haus gar nicht mehr das alte.

»Ich bin auch nicht mehr der alte, wenn ich nicht hier bin«, sagte ich. »Mir ist, als fehlte mir die rechte Hand, wenn ich dich nicht habe. Jeder, der dich kennt, Agnes, zieht dich zu Rate und läßt sich von dir leiten.«

»Jeder, der mich kennt, verzieht mich, glaube ich«, gab sie lächelnd zur Antwort.

»Nein, es geschieht, weil du ganz anders bist als alle übrigen. Du bist so gut und so mild, du bist so sanft von Natur und hast immer recht.«

»Du sprichst«, sagte Agnes mit einem lieblichen Lächeln, »als ob ich die verblichene Miss Larkins wäre.«

»Es ist gar nicht schön von dir, mein Vertrauen so zu mißbrauchen«, antwortete ich und errötete bei dem Gedanken an meine ehemalige blaue Gebieterin, »aber ich will dir trotzdem noch weiter vertrauen, Agnes; ich kann es mir nicht abgewöhnen. Wenn ich mich einmal verliebe, werde ichs dir immer wieder sagen. Selbst wenn ich mich in allem Ernste verliebe.«

»Aber du warst doch immer ernstlich verliebt«, sagte Agnes und lachte wieder.

»Ach, damals war ich noch ein Kind oder ein Schuljunge«, sagte ich, auch lachend, aber nicht ohne mich ein wenig zu schämen. »Die Zeiten haben sich verändert, und ich vermute, ich werde gelegentlich einmal entsetzlich Ernst machen. Was mich wundert, ist nur, daß du nicht selbst schon Ernst gemacht hast, Agnes.«

Agnes lachte wieder und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß ja, daß es nicht der Fall ist, sonst hättest du es mir mitgeteilt. Oder wenigstens« – ich bemerkte eine leichte Röte auf ihren Wangen – »hättest du es mich erraten lassen. Aber ich kenne niemand, der verdiente, von dir geliebt zu werden, Agnes. Ein Mann von so edlem Charakter, daß er deiner würdig ist, muß erst kommen, bevor ich meine Einwilligung geben kann. Vorderhand werde ich ein scharfes Auge auf alle Bewunderer haben und an den Glücklichen sehr große Anforderungen stellen, das versichere ich dir.«

So hatten wir eine Zeitlang gesprochen, halb im Scherz, halb im Ernst, wie wir es bei unserm Verhältnis von Kindheit an gewöhnt waren. Aber plötzlich sah mich Agnes an und sagte in ganz verändertem Ton:

»Trotwood, etwas möchte ich dich fragen und wollte es schon lang tun. Etwas, was ich sonst niemand gegenüber äußern könnte. Hast du nicht eine gewisse Veränderung an meinem Vater bemerkt?«

Ich hatte sehr wohl etwas bemerkt und mich oft innerlich gefragt, ob es ihr nicht auch auffiele. Ich muß mich durch mein Gesicht verraten haben, denn Agnes‘ Augen standen sofort in Tränen.

»Sage mir, was es ist!« sagte sie mit leiser Stimme.

»Ich glaube – kann ich ganz aufrichtig sein, Agnes? ich liebe ihn doch so sehr.«

»Gewiß.«

»Ich glaube, die Angewohnheit, die er damals schon hatte, als ich das erstemal herkam, tut ihm nicht gut. Er ist oft sehr nervös, oder kommt es mir nur so vor.«

»Es ist wirklich so«, bestätigte Agnes und nickte mit dem Kopf.

»Seine Hand zittert, er spricht undeutlich und sieht verstört aus. Ich habe auch bemerkt, daß gerade zu solchen Zeiten, und wenn er am wenigsten Herr seiner selbst ist, immer in Geschäftssachen nach ihm gefragt wird.«

»Von Uriah«, bestätigte Agnes.

»Ja. Und das Gefühl, der Arbeit nicht gewachsen zu sein oder sie vielleicht nicht richtig erfassen zu können oder seinen Zustand gegen seinen Willen verraten zu haben, scheint ihn so aufzuregen, daß es den nächsten Tag noch schlimmer geht und den nächsten noch schlimmer, bis er zuletzt ganz angegriffen und schwach wird. Beunruhige dich nicht zu sehr, Agnes, über das, was ich dir sage, aber in einem solchen Zustand sah ich ihn neulich abends. Er legte den Kopf auf das Pult und weinte wie ein Kind.«

Agnes legte ihre Hand plötzlich sanft auf meinen Mund und einen Augenblick später hatte sie ihren Vater an der Türe empfangen und lag an seiner Brust. Der Ausdruck ihres Gesichts, als sie mich beide ansahen, ergriff mich sehr. Es lag darin eine so tiefe Zärtlichkeit, eine solche Dankbarkeit für alle seine Liebe und Sorgfalt, sie bat mich mit ihren Blicken so innnig, selbst in meinen innersten Gedanken nicht unzart zu ihm zu sein, sie war so stolz auf ihn, so teilnahmsvoll bekümmert und voll Vertrauen zugleich, daß nichts einen tiefern Eindruck auf mich hätte machen können.

Wir waren bei Doktors zum Tee geladen. Wir gingen zur gewöhnlichen Stunde hin und fanden den Doktor, seine junge Frau und deren Mutter um den Kamin versammelt. Der Doktor, der von meiner Reise so viel Aufhebens machte, als ob ich nach China ginge, empfing mich wie einen Ehrengast und ließ einen Klotz Holz auf das Feuer werfen, damit er bei dem roten Schein noch einmal das Gesicht seines alten Schülers sehen könnte.

»Ich werde nicht viel neue Gesichter mehr an Trotwoods Stelle sehen«, sagte der Doktor und wärmte sich die Hände über dem Feuer. »Ich werde müde und sehne mich nach Ruhe. Noch sechs Monate, dann werde ich von meinen jungen Leuten scheiden und ein ruhigeres Leben führen.«

»Das haben Sie schon zehn Jahre lang gesagt, Doktor«, entgegnete Mr. Wickfield.

»Aber jetzt will ich es wirklich ausführen. Mein erster Lehrer soll mein Nachfolger sein, – ich mache wirklich Ernst – und Sie werden bald die Kontrakte abzufassen und uns fest zu binden haben, wie zwei Halunken.«

»Und Sorge zu tragen haben, daß Sie nicht der Betrogne sind«, sagte Mr. Wickfield, »was unausbleiblich wäre, wenn Sie den Kontrakt allein machten.«

»Na, ich bin bereit. Es gibt in meinem Beruf unangenehmere Arbeiten als diese.«

»Ich werde dann an weiter nichts zu denken haben als an mein Wörterbuch«, sagte der Doktor mit einem Lächeln »und an den andern Kontraktpunkt – an Ännie.«

Als Mr. Wickfield Ännie, die mit Agnes am Teetisch saß, ansah, schien sie seinen Blick mit so besonderer Scheu zu vermeiden, daß er sehr aufmerksam wurde und sichtlich über etwas nachgrübelte.

»Es ist eine Post aus Indien gekommen, bemerke ich eben«, sagte er nach kurzem Schweigen.

»Ja, und Briefe von Mr. Jack Maldon«, sagte der Doktor.

»Wirklich!«

»Der arme gute Jack«, ergriff Mrs. Markleham das Wort und schüttelte den Kopf. »Dieses schreckliche Klima! Man lebt dort, sagt man mir, auf einem Sandhaufen unter einem Brennglas. Er sah kräftig aus, aber nur scheinbar. Mein lieber Doktor, es war sein guter Wille und nicht seine Konstitution, die ihn das Wagnis unternehmen ließ. Liebe Ännie, du mußt sicherlich noch wissen, daß dein Vetter niemals kräftig war. Nie robust, wie man sagt.«

Mrs. Markleham sprach mit großem Nachdruck und sah uns der Reihe nach an. »Schon damals nicht, als meine Tochter und er als Kinder den ganzen Tag lang Arm in Arm miteinander herumliefen.«

Ännie gab keine Antwort.

»Habe ich aus dem, was Sie sagen, Ma’am, zu entnehmen, daß Mr. Maldon krank ist?« fragte Mr. Wickfield.

»Krank!« wiederholte der »General«. »Er ist alles mögliche, bester Herr.«

»Nur nicht wohl?«

»Nur nicht wohl, allerdings! Er hat einen schrecklichen Sonnenstich gehabt, Sumpffieber und, wer weiß, was sonst noch für Krankheiten. Was seine Leber betrifft«, sagte der »General« mit Resignation, »so hat er sie schon bei seiner Abreise von vornherein aufgegeben.«

»Das schreibt er alles?« fragte Mr. Wickfield.

»Schreiben? Bester Herr, Sie kennen meinen armen Jack Maldon schlecht, wenn Sie eine solche Frage tun. Er etwas sagen! Eher läßt er sich von vier wilden Pferden zerreißen.«

»Mama!« sagte Mrs. Strong.

»Liebe Ännie. Ein für allemal muß ich dich bitten, mich nicht zu unterbrechen, außer, wenn du bestätigen willst, was ich sage. Du weißt so gut wie ich, daß dein Vetter Maldon sich von jeder beliebigen Anzahl wilder Pferde zerreißen lassen würde, – warum sollte ich mich auf vier beschränken! Ich will mich nicht auf vier beschränken – acht, sechzehn, zweiunddreißig, ehe er etwas sagen würde, das des Doktors Plänen zuwiderliefe.«

»Wickfields Plänen«, verbesserte der Doktor, indem er sich das Kinn strich und seinen Ratgeber reuig ansah. »Das heißt unsern gemeinsamen Plänen. Ich sagte selbst: im Inland oder im Ausland.«

»Und ich«, fügte Mr. Wickfield ernst hinzu, »im Ausland! Ich wirkte daraufhin, ihn ins Ausland zu schicken. Es geschah auf meine Verantwortung.«

»O Verantwortung! Alles geschah in bester Absicht, liebster Mr. Wickfield, das wissen wir. Aber wenn der gute Junge dort nicht leben kann, so kann er dort nicht leben. Und wenn er dort nicht leben kann, so wird er lieber sterben, als den Plänen des Doktors zuwiderhandeln. Ich kenne ihn«, sagte der »General«, und fächelte sich in einer Art prophetischer Agonie, »und ich weiß, er wird dort eher sterben, als des Doktors Plänen zuwiderhandeln.«

»Nun, nun, Ma’am«, sagte Dr. Strong freundlich. »Ich bin auf meine Pläne nicht versessen und kann sie ja selbst umstoßen. Ich kann sie durch andere ersetzen. Wenn Mr. Jack Maldon wegen Krankheit zurückkommt, so müssen wir uns eben bemühen, ein besseres und passenderes Unterkommen hier für ihn zu finden.«

Mrs. Markleham war von diesem edeln Anerbieten so überwältigt, natürlich hatte sie es nicht im entferntesten erwartet, geschweige denn veranlaßt, – daß sie nur sagen konnte, es sei des Doktors würdig. Und nachdem sie mehrere Male ihren Fächer geküßt hatte, klopfte sie ihm damit auf die Hand. Dann schalt sie Ännie sanft aus, weil sie ihre Dankbarkeit für solche ihretwegen einem alten Spielgefährten erwiesene Güte nicht lebhafter bezeige, und unterhielt uns mit einigen Einzelheiten über verschiedene verdienstliche Mitglieder ihrer Familie, die ebenfalls würdig wären, daß man ihnen auf die Beine hülfe.

Die ganze Zeit über sprach Ännie kein Wort und schlug kein einziges Mal die Augen auf. Ununterbrochen hielt Mr. Wickfield seinen Blick auf sie geheftet. Es schien mir, als ob er gar nicht bedächte, daß das jemand auffallen könnte. Er war so vertieft in seine Gedanken über sie, daß ihn nichts ablenken konnte. Er fragte jetzt, was Jack Maldon geschrieben habe, und an wen.

»Nun, hier«, sagte Mrs. Markleham und nahm einen Brief von dem Kaminsims. »Hier schreibt der gute Junge dem Doktor selbst – wo ist’s nur? ja: – Leider muß ich Sie benachrichtigen, daß meine Gesundheit ernst gelitten hat und ich befürchten muß, genötigt zu sein, als einzige Hoffnung auf Genesung, für einige Zeit nach Hause zurückzukehren. – Armer Kerl! Das ist ziemlich deutlich. Einzige Hoffnung auf Genesung! Der Brief von Ännie spricht noch deutlicher. Ännie zeig einmal den Brief her!«

»Jetzt nicht, Mama«, bat Mrs. Strong leise.

»Meine Liebe, du bist unbedingt in manchen Dingen eine der lächerlichsten Personen in der Welt«, erwiderte die Mutter, »und in deinem Verhalten, wenn es die Ansprüche deiner eignen Familie gilt, direkt widernatürlich. Ich glaube, wir würden gar nichts von dem Brief erfahren haben, wenn ich nicht selbst danach gefragt hätte. Nennst du das auf Doktor Strong bauen, meine Liebe? Ich bin ganz überrascht.«

Ännie brachte zögernd den Brief, und ich sah, wie ihre Hand zitterte.

»Jetzt wollen wir suchen, wo es steht«, sagte Mrs. Markleham und hielt die Lorgnette vor die Augen: »– die Erinnerung an alte Zeiten, geliebteste Ännie – usw. – das ist es nicht. Der liebenswürdige alte Proktor – wer ist denn das? Mein Gott, Ännie, wie undeutlich dein Vetter Maldon schreibt, und wie einfältig ich bin. Doktor heißts natürlich. – Ja, wirklich liebenswürdig.« Sie küßte wieder ihren Fächer und warf die Küsse dem Doktor zu, der uns in stiller Zufriedenheit ansah. »Jetzt habe ich es gefunden: Du wirst nicht erstaunt sein zu hören, Ännie, – nein gewiß nicht, da sie von jeher wußte, daß er nie robust war – sagte ich das nicht eben? – daß ich in diesem fernen Lande viel gelitten habe und daher entschlossen bin, es um jeden Preis zu verlassen – auf Urlaub wegen Krankheit, wenn es geht, und wenn der nicht zu erlangen ist, nach gänzlichem Aufgeben meines Postens. Was ich gelitten habe und hier noch leide, ist unerträglich. Ohne den schnellen Entschluß dieses besten aller Menschen«, fügte Mrs. Markleham hinzu, indem sie wieder mit dem Fächer telegraphierte und den Brief zusammenfaltete, »könnte ich es gar nicht aushalten, daran zu denken.«

Mr. Wickfield sagte kein Wort, obgleich die alte Dame von ihm eine Rede zu erwarten schien. Er beobachtete das strengste Schweigen und sah nicht vom Boden auf. Als die Sache längst fallengelassen war und wir uns über andere Themen unterhielten, saß er immer noch so da und blickte nur von Zeit zu Zeit einmal auf, um mit gedankenvollem finstern Blick seine Augen auf dem Doktor oder seiner Gattin ruhen zu lassen.

Der Doktor liebte Musik außerordentlich. Agnes sang sehr schön und ebenso Mrs. Strong. Sie sangen miteinander und spielten Duetten, und wir hatten ein ordentliches kleines Konzert.

Etwas fiel mir auf: Mr. Wickfield schien Agnes‘ vertrautes Verhältnis zu Mrs. Strong gar nicht zu passen. Ich muß gestehen, auch in mir wurde die Erinnerung an das, was ich am Abend bei Mr. Maldons Abreise bemerkt hatte, wieder lebendig und zwar in einer Bedeutung, die mich jetzt beunruhigte. Die Schönheit Ännies erschien mir jetzt nicht mehr so unschuldsvoll wie früher, ich mißtraute der natürlichen Anmut ihres Benehmens, und wenn ich Agnes neben ihr ansah und dachte, wie gut und wahr sie war, da erwachte in mir ein Zweifel, ob es eine passende Freundschaft sei.

Der Abend schloß mit einem Vorfall, der mir noch deutlich vor Augen steht. Agnes wollte eben Ännie umarmen und küssen, als Mr. Wickfield wie zufällig dazwischentrat und seine Tochter rasch wegzog. Da sah ich auf Mrs. Strongs Gesicht wieder jenen Ausdruck von Entsetzen, der mir an jenem Abschiedsabend schon so einen tiefen Eindruck gemacht hatte.

Ich mußte die ganze Zeit beim Nachhausegehen an diesen Blick denken und hatte das Gefühl, als schwebe über des Doktors Heim eine dunkle Wolke. In das Gefühl meiner Ehrerbietung vor seinem grauen Haupt mischte sich das Mitleid mit seinem kindlichen Vertrauen auf Menschen, die ihn hintergingen, und Zorn gegen die, die ihm Leid antaten. Der drohende Schatten eines schweren Verhängnisses und einer tiefen Schmach, der nur noch keine bestimmte Form angenommen hatte, fiel wie ein Fleck auf das stille Haus, wo ich als Knabe gelernt und gespielt hatte, und entstellte es. Es machte mir keine Freude mehr, an die ernsten breitblättrigen Aloes zu denken und den sorgfältig gepflegten Rasenfleck, an die steinernen Urnen und des Doktors Spaziergang und den so gut dazu passenden Klang der Domglocke. Es war, als ob das stille Heiligtum meiner Kinderzeit zerstört und sein Frieden und seine Ehre in alle Winde zerstoben seien.

Aber mit dem Morgen kam der Abschied von dem alten Haus, das Agnes mit ihrem stillen Wirken so erfüllte, und das beschäftigte mein Gemüt vollauf. Wenn ich auch wahrscheinlich bald wieder zu Besuch kommen würde, so wohnte ich doch nicht mehr dort, und die alte Zeit war vorbei. Wie ich meine Bücher und Kleider einpackte, war mir schwerer ums Herz, als ich Uriah Heep merken lassen wollte, der mir so dienstbereit half, daß ich schlecht genug war, zu glauben, er freue sich über meine Abreise.

Ich verabschiedete mich von Agnes und ihrem Vater mit anscheinender Gleichgültigkeit, die männlich aussehen sollte, und nahm meinen Platz auf dem Bock der Londoner Landkutsche ein.

Ich fühlte mich auf meinem Wege durch die Stadt so gerührt und voll Sanftmut, daß ich am liebsten meinem alten Feind, dem Fleischerburschen, zugenickt und ihm ein Fünfschillingstück als Trinkgeld hingeworfen hätte. Aber er sah so metzgermäßig drein, wie er im Laden den großen Holzblock rein schabte, und sein Aussehen hatte durch den Verlust des Schneidezahns, den ich ihm ausgeschlagen, so wenig gewonnen, daß ich lieber keine Aussöhnungsversuche machte.

Am meisten lag mir am Herzen, als wir erst draußen im Freien waren, dem Kutscher so alt wie möglich zu erscheinen und im tiefsten Baß zu sprechen. Letzteres gelang mir nicht ohne Anstrengung, aber ich hielt daran fest, weil es sich so erwachsen ausnahm.

»Sie fahren durch, Sir?« fragte der Kutscher.

»Ja, William«, sagte ich herablassend – ich kannte ihn nämlich – »ich reise nach London. Und dann gehe ich nach Suffolk.«

»Auf die Jagd, Sir?«

Er wußte so gut wie ich, daß in dieser Jahreszeit von Jagd ebensowenig die Rede sein konnte wie von Walfischfang. Aber ich fühlte mich doch geschmeichelt.

»Ich weiß nicht«, sagte ich und stellte mich unentschlossen, »ob ich die Flinte in die Hand nehmen werde.«

»Die Rebhühner sind jetzt damisch scheu, höre ich«, sagte William.

»Vermutlich«, bestätigte ich.

»Sind Sie aus der Grafschaft Suffolk, Sir?«

»Ja«, sagte ich mit einiger Wichtigkeit. »Ich bin aus Suffolk.«

»Die Knödel sollen dort damisch fein sein, Mordstrümmer.«

Ich wußte es nicht, fühlte aber die Notwendigkeit, die Einrichtungen meiner Grafschaft in Ehren zu halten und mich mit ihnen vertraut zu zeigen.

Ich nickte daher mit dem Kopf, als wollte ich sagen »das will ich meinen!«

»Und die Ponys, das sind Viecher. Ein Suffolker Pony, wenns ein gutes is, is sein Gewicht in Gold wert. Haben Sie mal Suffolker Ponys gezüchtet, Sir?«

»N-nein, nein«, sagte ich, »nicht direkt.«

»Hier. Der Genlmn hinter mich, möcht ich wetten«, sagte William, »hat sie im großen gezüchtet.«

Der erwähnte Gentleman schielte verdächtig, hatte ein vorstehendes Kinn, auf dem Kopf einen hohen weißen Hut mit schmalem Rand und enganliegende helle Hosen, die außen von den Stiefeln an bis zur Hüfte hinauf zugeknöpft waren. Sein Kinn schob sich über des Kutschers Schulter so nahe zu mir hin, daß mich sein Atem am Hinterkopf kitzelte, und als ich mich umdrehte, schaute er mit seinem geraden Auge sehr sachkundig auf die Pferde.

»Oder nicht?« fragte William.

»Was, oder nicht«? fragte der Gentleman hinter mir.

»Suffolkponys im großen gezüchtet.«

»Das will ich meinen«, sagte der Gentleman. »Gibt kein Pferd nicht und keine Hunde nicht, was ich nicht gezüchtet hätt. Was die Pferd sind und die Hundsviecher, ists für viele ein Gaudium. Für mich sind sie Essen und Trinken, – Wohnung, Weib und Kind, Lesen, Schreiben und Rithmetik – Schnupfen, Zigarren und Schlaf.«

»So ein Mann sollte nicht hinter dem Kutschbock sitzen, nicht wahr«? flüsterte mir William ins Ohr.

Ich legte diese Bemerkung als die Andeutung des Wunsches aus, ich möchte dem andern meinen Platz überlassen und machte mich errötend dazu erbötig.

»Na, wenns Ihnen gleich ist, Sir«, sagte William, »ich glaube, es schickt sich so besser.«

Ich habe dies immer als meine erste Niederlage im Leben betrachtet. Als ich mich im Bureau einschreiben ließ, wurde hinter meinem Namen: »Sitz auf dem Kutschbock« vermerkt, und ich hatte dem Buchhalter extra eine halbe Krone gegeben. Ich hatte meinen besondern Überzieher und Schal genommen, um diesem Ehrensitz zu genügen, und war sehr stolz darauf gewesen, der Kutsche zur Zierde zu gereichen. Und jetzt, auf der ersten Station bereits, verdrängte mich ein schäbiger schielender Mensch, der weiter kein Verdienst beanspruchen konnte, als daß er nach Stall roch.

Mein Mißtrauen zu mir selbst, das mich im Leben bei mancherlei Anlässen schon befallen hatte, wurde durch diesen Vorfall im Postwagen noch verschlimmert.

Vergeblich nahm ich zu meiner Baßstimme meine Zuflucht.

Die ganze übrige Reise sprach ich tief wie ein Bauchredner, aber innerlich fühlte ich mich vollständig vernichtet und kam mir furchtbar jung vor.

Dennoch war es merkwürdig und interessant, als wohlerzogener gutgekleideter und reichlich mit Geld versehener junger Mann da oben hinter vier Pferden zu sitzen und Umschau nach allen den Plätzen zu halten, wo ich auf meiner mühseligen Wanderschaft einst gerastet hatte. Jedes auffällige Merkzeichen am Weg gab meinen Gedanken reichliche Nahrung. Wenn ich auf die Landstreicher herabblickte und die wohlbekannten Physiognomien dieser Klasse Menschen heraufschauen sah, war mir, als ob des Kesselflickers geschwärzte Hand mich wieder bei der Brust packte.

Als wir durch die engen Gassen von Chatham rasselten und ich im Vorbeifahren einen flüchtigen Blick in das Gäßchen werfen konnte, wo ich meine Jacke verkauft hatte, steckte ich den Kopf vor, um einen Blick auf den Platz zu erhaschen, wo ich in der Sonne und im Schatten gewartet, ehe mir das alte Ungeheuer mein Geld gab. Und als wir endlich die letzte Station vor London erreichten und am Salemhaus vorbeifuhren, wo Mr. Creakle jähzornig den Stock geführt, da hätte ich alle meine Habe für das Recht hingegeben, hineingehen zu dürfen und ihn durchzuprügeln und alle die Knaben herauszulassen, wie gefangene Sperlinge.

Wir stiegen im »Goldnen Kreuz« in Charing Cross ab, das damals noch ein düsteres altes Haus in einer engen Gasse war.

Ein Kellner wies mich ins Frühstückszimmer und ein Stubenmädchen in meine Schlafkammer, die wie eine Lohnkutsche roch und dunkel war wie eine Familiengruft. Ich litt immer noch an dem qualvollen Bewußtsein meiner großen Jugend, denn niemand hatte Respekt vor mir. Das Stubenmädchen nahm nicht die mindeste Rücksicht auf meine Wünsche, und der Kellner benahm sich familiär und erlaubte sich mir gegenüber Ratschläge.

»Na«, sagte er in vertraulichem Ton. »Was möchten Sie wohl essen? Junge Herren essen gewöhnlich gern Geflügel. Also ein Huhn?«

Ich sagte ihm so majestätisch, wie mir möglich war, daß ich auf ein Huhn keinen Appetit hätte.

»So, so! Junge Herren haben Rinder- und Schöpsenbraten meist satt, also Kalbskotelett?«

Ich nahm diesen Vorschlag an, da mir nichts anderes einfallen wollte.

»Liegt Ihnen was an Kartoffeln?« fragte der Kellner mit einschmeichelndem Lächeln, den Kopf schief haltend. »Junge Herren haben sich meist an Kartoffeln überessen.«

Ich befahl mit meiner tiefsten Stimme, Kalbskoteletten mit Kartoffeln und Beilage zu bestellen und am Schenktisch zu fragen, ob Briefe da wären für Trotwood-Copperfield, Hochwohlgeboren. Ich wußte natürlich, daß das nicht der Fall sein konnte, aber es kam mir erwachsener vor, wenn ich tat, als ob ich welche erwartete.

Er kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß keine da wären, worüber ich mich sehr wunderte – und fing an, für mich den Tisch in einer Box zu decken. Während er damit beschäftigt war, fragte er mich, was ich trinken wolle, und nahm, als ich antwortete: »eine halbe Flasche Sherry«, wie ich fürchte, die Gelegenheit wahr, den Wein aus den abgestandnen Resten mehrerer Karaffen zusammenzuschütten. Ich kam zu dieser Ansicht, weil ich, mit einer Zeitung beschäftigt, ihn hinter der Bretterwand, die seinen Privatraum vorstellte, sehr eifrig den Inhalt mehrerer Flaschen in eine zusammengießen hörte, wie einen Apotheker, der ein Rezept verfertigt. Als der Wein gebracht wurde, kam er mir schal vor, und es waren mehr Semmelbrösel englischer Abkunft darin, als sich mit einem vollkommen reinen ausländischen Wein vertrug; aber ich war blöd genug, ihn zu trinken und nichts zu sagen.

Da ich jetzt heiter gestimmt war, – woraus ich schließe, daß es auch ganz angenehme Vergiftungsmethoden gibt –, beschloß ich, ins Theater zu gehen. Ich wählte das Covent Garden-Theater und sah dort von einem Logenrücksitz »Julius Cäsar« und die neue Pantomime.

Alle diese vornehmen Römer lebendig und zu meiner Unterhaltung auf der Bühne auf- und abgehen zu sehen, während sie mir in der Schule immer nur wie finstere Lehrer erschienen waren, machte einen ganz neuen und wunderbaren Eindruck auf mich. Das Gemisch von Wirklichkeit und Märchen, die Bühne, die Poesie, der Kerzenglanz, die Musik, die Gesellschaft, der wunderbare Szenenwechsel, alles das wirkte so blendend auf mich und eröffnete mir eine so endlose Perspektive von Wonnen, daß es mir vorkam, wie ich um zwölf Uhr nachts auf die beregnete Straße trat, als ob ich aus einem romantischen Leben in Wolkenregionen herab in eine lärmende, plätschernde, regenschirmkämpfende, droschkenrüttelnde, absatzklappernde, schmutzige, erbärmliche, schwelende Welt fiele.

Ich blieb eine kleine Weile versonnen auf der Straße stehen, als ob ich wirklich fremd auf Erden wäre, aber die rücksichtslosen, nüchternen Rippenstöße, die ich im Gedränge bekam, weckten mich bald wieder auf, und ich kehrte in das Hotel zurück, auf dem Weg noch erfüllt von der glänzenden Vision. Sie verließ mich auch nicht, als ich bei Porter und Austern um halb ein Uhr im Gastzimmer am Kamin saß. Das Schauspiel und die Vergangenheit – wie durch einen glänzenden Schleier schien mein früheres Leben mir hindurchzuschimmern nahmen mich so in Anspruch, daß ich die Gestalt eines schönen jungen Mannes, der mit geschmackvoller Nachlässigkeit gekleidet war, nicht gleich bemerkte.

Endlich erhob ich mich, um zu Bett zu gehen, sehr zur Freude des verschlafenen Kellners, der fortwährend mit den Füßen scharrte und sich in seiner kleinen Speisekammer räkelte. Auf dem Weg nach der Tür ging ich an dem neuen Gast vorüber und sah ihn genauer bei dieser Gelegenheit. Ich kehrte sogleich um, ging zurück und sah ihn wieder an. Er erkannte mich nicht, aber ich ihn augenblicklich.

Zu andern Zeiten hätte mir das Selbstvertrauen oder die Entschlossenheit gefehlt, ihn anzureden, und ich hätte es vielleicht auf den nächsten Tag verschoben und so die Gelegenheit versäumt. Aber in meiner damaligen Gemütsstimmung, noch frisch unter dem Eindruck des Theaterstücks, gedachte ich seiner früheren Beschützerrolle mit solcher Dankbarkeit, und meine alte Liebe zu ihm machte sich so mächtig Luft, daß ich mit klopfendem Herzen vor ihn trat und sagte:

»Steerforth. Kennst du mich nicht mehr?«

Er sah mich an, genau so, wie ers früher manchmal getan, aber ich sah kein Zeichen des Erkennens in seinem Gesicht.

»Ich fürchte, du kennst mich wirklich nicht mehr«, sagte ich.

»Mein Gott«, rief er plötzlich aus. »Es ist der kleine Copperfield.«

Ich ergriff seine beiden Hände und konnte sie gar nicht loslassen. Nur aus Scham und Furcht, sein Mißfallen zu erregen, fiel ich ihm nicht um den Hals.

»Nie, nie, nie war ich so froh, lieber Steerforth! Ich bin ganz außer mir vor Freude, dich zu sehen.«

»Auch ich freue mich, dich wiederzusehen«, sagte er und schüttelte mir herzlich die Hand. »Copperfield, alter Junge, komm nur nicht ganz außer Rand und Band.« Trotz dieser Worte freute er sich sichtlich darüber, daß mich das Entzücken ihn wiederzuhaben so rührte.

Ich wischte die Tränen weg, die ich mit der größten Anstrengung nicht hatte zurückhalten können, und versuchte zu lachen, und wir setzten uns nebeneinander an den Tisch.

»Aber wie kommst du hierher?« fragte Steerforth und schlug mir auf die Achsel.

»Ich bin heute mit der Canterburykutsche angekommen. Meine Tante dort unten hat mich adoptiert, und ich habe eben meine Schulstudien absolviert. Aber was machst du hier, Steerforth?«

»Ach, ich bin, was man so einen Oxford-Studenten nennt«, erwiderte er, »das heißt, ich muß mich dort periodisch zu Tode langweilen und bin jetzt auf dem Weg zu meiner Mutter. Du bist ein verwünscht hübscher Bursche geworden, Copperfield! Ganz noch wie früher; wenn ich dich jetzt ordentlich ansehe. Nicht im mindesten verändert.«

»Ich habe dich sofort erkannt«, sagte ich, »aber dich vergißt man auch nicht so leicht.«

Er lachte; während er mit der Hand durch sein reichgelocktes Haar fuhr, und sagte fröhlich:

»Ja. Ich bin auf einer Pflichtreise begriffen. Meine Mutter wohnt in der Umgebung der Stadt, und da die Straßen in scheußlicher Verfassung sind und es bei mir zu Hause recht langweilig ist, beschloß ich, die Nacht über hier zu bleiben. Ich bin noch kaum sechs Stunden in der Stadt und habe mich bereits im Theater gräßlich geödet.«

»Ich war auch im Theater«, sagte ich, »im Covent Garden. Was für eine herrliche, entzückende Unterhaltung, Steerforth!«

Steerforth lachte herzlich.

»Mein lieber junger Davy«, sagte er und schlug mir wieder freundschaftlich auf die Schulter. »Du bist die reinste Daisy. Das reinste Gänseblümchen. Ein Gänseblümchen auf dem Feld bei Sonnenaufgang ist nicht frischer als du. Ich war doch auch im Covent Garden und habe in meinem Leben noch nichts Schauderhafteres gesehen. Hallo, Kellner!«

Der Kellner, der unserer Erkennungsszene von weitem sehr aufmerksam zugesehen hatte, kam jetzt sehr ehrerbietig heran.

»Wo haben Sie meinen Freund Mr. Copperfield hingesteckt?«

»Bitte um Verzeihung, mein Herr?«

»Wo er schläft! Welche Nummer! Verstehen Sie mich denn nicht?« fragte Steerforth.

»Sehr wohl, Sir«, sagte der Kellner, sich entschuldigend. »Mr. Copperfield ist augenblicklich in 44, Sir.«

»Was zum Teufel soll das heißen«, entgegnete Steerforth, »daß Sie Mr. Copperfield in ein kleines Loch über dem Stall bringen?«

»Mein Herr, wir wußten doch nicht«, entschuldigte sich der Kellner ganz zerknirscht, »wer Mr. Copperfield ist. Wir können Mr. Copperfield Nummer 72 geben, wenn es gewünscht wird. Neben Ihnen, Sir.«

»Natürlich wird es gewünscht«, sagte Steerforth, »und zwar sofort.«

Der Kellner entfernte sich augenblicklich, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen.

Steerforth, dem es viel Spaß machte, daß sie mich in Nummer 44 gesteckt hatten, lachte wieder und klopfte mir auf die Schulter und lud mich zum Frühstück für nächsten Morgen um zehn Uhr ein, was ich mit Stolz und Freude annahm.

Da es schon ziemlich spät war, nahmen wir unsere Kerzen und gingen hinauf und trennten uns an der Türe mit größter Herzlichkeit. Mein neues Zimmer, viel schöner als mein erstes, war gar nicht dumpfig und hatte ein ungeheures Himmelbett, so groß wie ein kleines Landgut.

Hier in Kissen, die für sechs Personen genügt hätten, schlief ich bald ein und träumte vom alten Rom und von Steerforth und Freundschaft, und gegen früh, als die Landkutsche durch den Torweg rasselte, mischte sich in meinen Traum der Donner der Götter.

2. Kapitel Ich beobachte


2. Kapitel Ich beobachte

Die ersten Gegenstände, die bestimmte Umrisse vor mir annehmen, wenn ich weit zurück in die Leere meiner Kindheit blicke, sind meine Mutter mit ihrem schönen Haar und den jugendlichen Formen und Peggotty mit überhaupt gar keiner Form und mit so dunkeln Augen, daß sie ihre Umgebung im Gesicht dunkel zu machen scheinen, und mit Armen und Backen so rot, daß ich mich stets wunderte, warum die Vögel nicht lieber an ihnen statt an den Äpfeln herumpickten.

Ich glaube, mich noch daran erinnern zu können, wie die beiden Frauen in kleiner Entfernung voneinander auf dem Boden knieten, und ich unsicher von einer zur andern wankte. Ich habe auch noch eine dunkle Erinnerung an Peggottys Zeigefinger, der von der Nadel so rauh war wie ein Taschenmuskatnußreibeisen.

Das mag Einbildung sein, aber ich glaube, daß das Gedächtnis der meisten Menschen weiter in die Kinderzeit zurückreicht, als man gewöhnlich annimmt; ebenso glaube ich, daß die Beobachtungsgabe bei vielen kleinen Kindern an Schärfe und Genauigkeit ganz wunderbar ist. Ich glaube sogar, daß man von den meisten Erwachsenen, die in dieser Hinsicht bemerkenswert sind, viel eher sagen könnte, sie hätten diese Fähigkeit nicht verloren, als, sie hätten sie erst später erworben; um so mehr, als solche Menschen überdies eine gewisse Frische und Sanftmut und eine Fähigkeit, sich über irgend etwas zu freuen, besitzen, lauter Eigenschaften, die sie ebenfalls aus der Kindheit mit herübergenommen haben.

Wenn ich also, wie gesagt, in die Leere meiner frühesten Jugend zurückblicke, sind die ersten Gegenstände, deren ich mich erinnern kann, und die aus dem Wirrwarr der Dinge hervorstechen, meine Mutter und Peggotty. Was weiß ich sonst noch? Wollen mal sehen.

Es scheidet sich aus dem Nebel unser Haus in seiner mir in frühester Erinnerung vertrauten Gestalt. Im Erdgeschoß geht Peggottys Küche auf den Hinterhof hinaus; da sind: in der Mitte ein Taubenschlag auf einer Stange, aber ohne Tauben; eine große Hundehütte in einer Ecke, aber kein Hund darin, und eine Anzahl Hühner, die mir erschrecklich groß vorkommen, wie sie mit drohendem und wildem Wesen herumstolzieren. Ein Hahn fliegt auf einen Pfosten, um zu krähen, und scheint sein Auge ganz besonders auf mich zu richten, wie ich ihn durch das Küchenfenster betrachte; und ich zittere vor Furcht, weil er so bös ist. Von den Gänsen außerhalb der Seitentür, die mir mit langausgestreckten Hälsen nachlaufen, wenn ich vorbeigehe, träume ich die ganze Nacht, wie ein Mann, den wilde Tiere umgeben, von Löwen träumen würde.

Dann ist ein langer Gang da – für mich eine endlose Perspektive –, der von Peggottys Küche zum Haupttor führt. Eine dunkle Vorratskammer mündet auf diesen Gang; – so recht ein Ort, um des Nachts daran scheu vorbeizulaufen –, denn ich weiß nicht, was zwischen diesen Tonnen und Krügen und alten Teekisten stecken mag –, wenn sich nicht gerade jemand mit einem brennenden Licht in der Kammer befindet. Eine dumpfige Luft, mit der sich der Geruch von Seife, Mixed-Pickles, Pfeffer, Kerzen und Kaffee vermischt, strömt heraus. Dann sind die beiden Wohnzimmer da: Das eine, in dem abends meine Mutter, ich und Peggotty sitzen, – denn Peggotty leistet uns Gesellschaft, wenn wir allein sind, und sie ihre Arbeit gemacht hat, – und das Empfangszimmer, wo wir Sonntags sitzen, prunkvoll, aber nicht so traulich. Für mich hat dieses Zimmer etwas Schwermütiges, denn Peggotty hat mir erzählt, – ich weiß zwar nicht mehr, wann, aber es muß lange her sein – als mein Vater begraben wurde, wären die Trauergäste drin mit schwarzen Mänteln umhergegangen. Dort liest jeden Sonntag abends meine Mutter Peggotty und mir vor, wie Lazarus von den Toten auferweckt wurde. Und ich ängstige mich so sehr darüber, daß sie mich dann aus dem Bette herausnehmen und mir aus dem Schlafzimmerfenster den stillen Kirchhof zeigen müssen, wo die Toten im feierlichen Mondlicht in ihren Gräbern ruhen.

Auf der ganzen Welt, soviel ich weiß, ist nirgends das Gras nur halb so grün wie auf diesem Kirchhof, nirgends sind die Bäume halb so schattig, und nichts ist so still wie die Grabsteine. Die Schafe weiden dort, wenn ich früh morgens in dem kleinen Bett in dem Alkoven hinter meiner Mutter Schlafzimmer knie und hinausschaue, und ich sehe das rötliche Licht auf die Sonnenuhr scheinen und denke bei mir: Freut sich die Sonnenuhr, daß sie die Zeit angeben kann?

Dann ist unser Betstuhl in der Kirche da. Was für ein hochrückiger Stuhl! Daneben ist ein Fenster, von dem aus man unser Haus sehen kann. Und oftmals während des Morgengottesdienstes blickt Peggotty hinaus, um sich zu vergewissern, ob nicht eingebrochen oder etwas in Brand gesteckt wird. Wenn sie selbst auch ihre Augen umherwandern läßt, so wird sie doch böse, wenn ich dasselbe tue, und winkt mir zu, wenn ich auf dem Sitz stehe, daß ich den Geistlichen anblicken solle. Aber ich kann ihn doch nicht immerfort ansehen – ich kenne ihn doch sowieso auch ohne das weiße Ding, das er umhat, und fürchte immer, er könne plötzlich wissen wollen, warum ich ihn so anstaune, und vielleicht gar den Gottesdienst unterbrechen, um mich darüber zu befragen, – und was sollte ich dann tun?

Es ist etwas Schreckliches, zu gähnen. Aber irgend etwas muß ich doch machen. Ich blicke meine Mutter an, aber sie tut, als ob sie mich nicht sähe. Ich schaue einen Jungen im Seitenschiff an; er schneidet mir Gesichter. Ich sehe auf die Sonnenstrahlen, die durch die offne Tür hereinfallen, und da erblicke ich ein verirrtes Schaf, ich meine nicht einen Sünder, sondern einen Hammel, der Miene macht, in die Kirche zu treten. Ich fühle, daß ich nicht länger hinschauen kann, denn ich könnte in Versuchung kommen, etwas laut zu sagen, und was würde dann aus mir werden. Ich blicke auf die Gedächtnistafeln an der Wand und versuche, an den verstorbenen Mr. Bodgers zu denken, und welcher Art wohl Mrs. Bodgers Gefühle gewesen sein mögen, als ihr Mann so lange krank lag und die Kunst der Ärzte vergebens war. Ich frage mich, ob sie auch Mr. Chillip vergeblich gerufen haben und wenn, ob es ihm recht ist, daran jede Woche einmal erinnert zu werden. Ich schaue von Mr. Chillip in seinem Sonntagshalstuch nach der Kanzel hin und denke, was für ein hübscher Spielplatz das sein müßte, und was das für eine feine Festung abgeben würde, wenn ein anderer Junge die Treppen heraufkäme zum Angriff, und man könnte ihm das Samtkissen mit den Troddeln auf den Kopf schmeißen. Und wenn sich nach und nach meine Augen schließen, und ich anfangs den Geistlichen in der Hitze noch ein schläfriges Lied singen höre, vernehme ich bald gar nichts mehr. Dann falle ich mit einem Krach vom Sitze und werde mehr tot als lebendig von Peggotty hinausgetragen.

Und dann wieder sehe ich die Außenseite unseres Hauses, und die Fensterläden des Schlafzimmers stehen offen, damit die würzige Luft hineinströmen kann, und im Hintergrund des Hauptgartens hängen in den hohen Ulmen die zerzausten Krähennester. Jetzt bin ich in dem Garten hinter dem Hof mit dem leeren Taubenschlag und der Hundehütte – ein wahrer Park für Schmetterlinge – mit seinem hohen Zaun und seiner Türe mit Vorhängschlössern, und das Obst hängt dick an den Bäumen, reifer und reicher als in irgendeinem andern Garten, und meine Mutter pflückt die Früchte in ein Körbchen, während ich dabeistehe und heimlich ein paar abgezwickte Stachelbeeren rasch in den Mund stecke und mich bemühe, unbeteiligt auszusehen.

Ein starker Wind erhebt sich, und im Handumdrehen ist der Sommer weg. Wir spielen im Winterzwielicht und tanzen in der Stube herum. Wenn meine Mutter außer Atem ist und im Lehnstuhl ausruht, sehe ich ihr zu, wie sie ihre glänzenden Locken um die Finger wickelt und sich das Leibchen glatt zieht, und niemand weiß so gut wie ich, daß sie sich freut, so gut auszusehen, und stolz ist, so hübsch zu sein.

Das sind so einige von meinen frühesten Eindrücken. Das und ein Gefühl, daß wir beide ein bißchen Angst hatten vor Peggotty und uns in den meisten Fällen ihren Anordnungen fügten, gehört zu den ersten Schlüssen, – wenn ich so sagen darf, – die ich aus dem zog, was ich sah.

Peggotty und ich saßen eines Abends allein in der Wohnstube vor dem Kamin. Ich hatte Peggotty von Krokodilen vorgelesen. Ich muß wohl kaum sehr deutlich gelesen haben, oder die arme Seele muß in tiefen Gedanken gewesen sein, denn ich erinnere mich, als ich fertig war, hatte sie so eine Idee, Krokodile wären eine Art Gemüse. Ich war vom Lesen müde und sehr schläfrig, aber da ich die besondere Erlaubnis bekommen hatte, aufzubleiben, bis meine Mutter von einem Besuch nach Hause käme, wäre ich natürlich lieber auf meinem Posten gestorben als zu Bett gegangen. Ich war bereits auf einem Stadium von Schläfrigkeit angekommen, wo Peggotty mir immer größer und größer zu werden schien. Ich hielt meine Augen mit den beiden Zeigefingern offen und sah sie ununterbrochen an, wie sie auf ihrem Stuhle saß und arbeitete, betrachtete dann das kleine Stückchen Wachslicht, mit dem sie ihren Zwirn wichste – wie alt es aussah mit seinen Runzeln kreuz und quer –, das Hüttchen mit dem Strohdach, worin das Ellenmaß wohnte, das Arbeitskästchen mit dem Schiebedeckel und einer Ansicht darauf von der St.-Pauls-Kirche mit einer purpurroten Kuppel, den messingnen Fingerhut und sie selbst, die mir ungemein schön vorkam. Ich war so müde, daß ich fühlte, ich würde einschlafen, wenn ich nur einen Augenblick meine Augen abwendete.

»Peggotty«, sagte ich dann plötzlich: »Bist du einmal verheiratet gewesen?«

»Herr Gott, Master Davy!« erwiderte Peggotty, »wie kommst du nur aufs Heiraten?«

Sie antwortete so überrascht, daß ich ganz wach wurde. Dann hielt sie inne in ihrer Arbeit und sah mich an, den Faden in seiner ganzen Länge straffgezogen.

»Aber du warst doch einmal verheiratet, Peggotty?« fragte ich. »Du bist doch wunderschön, nicht wahr?« Ich hielt sie allerdings für eine andere Stilart als meine Mutter, aber nach einer andern Schule von Schönheitsbegriff gesehen, kam sie mir als vollkommenes Muster vor. In unserm Empfangszimmer war ein rotsamtenes Fußbänkchen, auf das meine Mutter einen Blumenstrauß gemalt hatte. Dieser Samt und Peggottys Haut schienen mir ganz gleich. Die Fußbank war glatt und weich und Peggotty rauh, aber das machte keinen Unterschied.

»Ich, schön, Davy!« sagte Peggotty. »O Gott, nein, mein liebes Kind. Aber wie kommst du aufs Heiraten?«

»Ich weiß nicht. – Du darfst nicht mehr als einen auf einmal heiraten, nicht wahr, Peggotty?«

»Gewiß nicht«, sagte Peggotty mit größter Entschiedenheit.

»Aber wenn du einen Mann heiratest und er stirbt, dann geht’s, nicht wahr, Peggotty?«

»Es geht schon, wenn man will, liebes Kind«, sagte Peggotty. »Das ist dann eben meine Sache.«

»Aber was ist deine Meinung«, fragte ich.

Bei dieser Frage blickte ich sie neugierig an, weil sie mich so seltsam musterte.

»Meine Meinung ist«, sagte Peggotty, als sie nach kurzem Zögern ihre Augen von mir abgewendet und wieder zu arbeiten begonnen hatte, »daß ich selbst niemals verheiratet gewesen bin, Master Davy, und daß ich auch nicht daran denke. Das ist alles, was ich von der Sache weiß.«

»Du bist doch nicht böse, Peggotty?« fragte ich, nachdem ich eine Weile still gewesen.

Ich glaubte es wirklich, so kurz hatte sie mich abgefertigt, mußte aber wohl im Irrtum sein, denn sie legte ihr Strickzeug weg, öffnete ihre Arme, nahm meinen lockigen Kopf und drückte mich fest an sich. Daß sie mich derb an sich preßte, wußte ich, denn da sie sehr beleibt war, so pflegten stets, wenn sie angekleidet war, bei jeder kleinen Anstrengung ein paar Knöpfe hinten an ihrem Kleid abzuspringen. Und ich erinnere mich, daß zwei Stück in die entgegengesetzte Zimmerecke flogen, als sie mich umarmte.

»Nun lies mir noch etwas von den Krorkingdilen vor«, sagte Peggotty, die in diesem Namen noch nicht recht sattelfest war, »ich habe noch lange nicht genug von ihnen gehört.«

Ich konnte nicht begreifen, warum Peggotty so wunderliche Augen machte und durchaus wieder von den Krokodilen hören wollte. Mit großem Eifer meinerseits kehrten wir jedoch wieder zu den Ungeheuern zurück und ließen die Sonne ihre Eier im Sande ausbrüten, rissen vor ihnen aus und entrannen ihnen durch plötzliches Umkehren, was sie ihres ungeschlachten Baues wegen nicht so rasch nachmachen konnten, verfolgten sie als Eingeborene ins Wasser und steckten ihnen scharfgespitzte Holzstücke in den Rachen, kurz, ließen sie förmlich Spießruten laufen. Ich wenigstens tat es, hatte aber betreffs Peggottys so meine Zweifel, denn ich sah, wie sie sich die ganze Zeit über in Gedanken versunken mit der Nadel in verschiedene Teile ihres Gesichts und ihrer Arme stach. Wir hatten endlich die Krokodile erschöpft und begannen eben mit den Alligatoren, als die Gartenglocke läutete. Wir gingen hinaus und fanden da meine Mutter, die mir ungewöhnlich hübsch vorkam, und bei ihr stand ein Herr mit schönem, schwarzem Haar und Backenbart, der schon am letzten Sonntag mit uns aus der Kirche nach Hause gegangen war.

Als meine Mutter mich auf der Schwelle in ihre Arme nahm und mich küßte, sagte der Herr, ich sei glücklicher als ein König – oder etwas Ähnliches –; ich fühle wohl, daß mir mein späteres Verständnis hier zu Hilfe kommt.

»Was heißt das?« fragte ich ihn über ihre Schulter hinweg.

Er klopfte mich auf den Kopf, aber ich konnte ihn und seine tiefe Stimme nicht leiden und war eifersüchtig, daß seine Hand die meiner Mutter berührte, und ich stieß ihn weg, so gut ich konnte.

»Aber Davy«, ermahnte mich meine Mutter.

»Der liebe Junge«, sagte der Herr. »Ich kann mich über seine Liebe nicht wundern.«

Noch nie hatte ich meiner Mutter Gesicht so schön rot gesehen. Sie schalt mich milde aus wegen meiner Unhöflichkeit und sprach, indem sie mich fest an sich drückte, ihren Dank dem Herrn aus, der so freundlich gewesen, sie nach Hause zu begleiten. Sie reichte ihm ihre Hand hin bei diesen Worten, und als er sie nahm, kam es mir vor, als ob sie mich anblickte.

»Jetzt wollen wir uns gute Nacht wünschen, mein hübscher Junge«, sagte der Herr zu mir, als er sein Gesicht, wie ich wohl bemerkte, auf meiner Mutter kleinen Handschuh neigte.

»Gute Nacht«, sagte ich.

»Wir müssen noch die besten Freunde von der Welt werden«, lachte der Herr, »gib mir die Hand.«

Meine rechte Hand lag in meiner Mutter Linken, und so gab ich ihm die andere.

»Aber das ist ja die falsche, Davy«, sagte er wieder lachend.

Meine Mutter zog meine rechte Hand hervor, aber ich war entschlossen, sie ihm nicht zu geben und tat es auch nicht. So reichte ich ihm die andere und er schüttelte sie und sagte, ich sei ein braver Junge, und ging fort.

Und noch jetzt seh ich ihn, wie er sich im Garten umdrehte und uns einen letzten Blick aus seinen unangenehmen, schwarzen Augen zuwarf, ehe er das Tor schloß.

Peggotty, die kein Wort gesprochen und keinen Finger gerührt hatte, schob sofort den Riegel vor, und wir gingen alle in das Wohnzimmer. Anstatt sich wie gewöhnlich in den Lehnstuhl neben den Kamin zu setzen, blieb meine Mutter am andern Ende des Zimmers und sang vor sich hin.

»– hoffe, Sie haben einen angenehmen Abend verlebt, Ma’am«, sagte Peggotty, die mit einem Leuchter in der Hand steif wie eine Tonne mitten im Zimmer stand.

»Danke schön, Peggotty«, erwiderte meine Mutter sehr aufgeräumt. »Ich habe einen sehr angenehmen Abend verbracht.«

»Eine neue Bekanntschaft ist immer eine angenehme Abwechslung«, bemerkte Peggotty.

»Eine sehr angenehme Abwechslung«, erwiderte meine Mutter.

Peggotty blieb regungslos in der Mitte des Zimmers stehen, meine Mutter fing wieder zu singen an, und ich schlief ein, wenn auch nicht so fest, daß ich nicht noch hätte Stimmen hören können, ohne aber zu verstehen, was sie sagten. Als ich aus diesem unbehaglichen Schlummer halb erwachte, sah ich, daß meine Mutter und Peggotty beide weinten und in großer Aufregung miteinander sprachen.

»So einer wie dieser hätte Mr. Copperfield nicht gefallen«, sagte Peggotty. »Das ist meine Meinung und die beschwör ich.«

»Gott im Himmel!« rief meine Mutter. »Du wirst mich noch wahnsinnig machen. Wurde jemals ein armes Mädchen von seinen Dienstboten so mißhandelt. Warum füge ich mir das Unrecht zu und nenne mich ein Mädchen? War ich vielleicht niemals verheiratet, Peggotty?«

»Gott weiß, daß Sie es waren, Ma’am«, erwiderte Peggotty.

»Wie kannst du es dann wagen«, sagte meine Mutter, »du weißt, ich meine nicht, wie du es wagen kannst, Peggotty, sondern wie du es übers Herz bringen kannst, mich so zu verstimmen und mir so böse Worte zu sagen, wo du doch recht gut weißt, daß ich außer dem Hause nicht einen einzigen guten Freund habe.«

»Um so mehr Grund für mich, Ihnen zu sagen, daß es nicht geht«, entgegnete Peggotty. »Nein, es geht nicht, nein, um keinen Preis. Nein!« Ich dachte schon, Peggotty würde den Leuchter wegwerfen, so energisch schwang sie ihn.

»Wie kannst du es nur so aufbauschen«, sagte meine Mutter und fing von neuem an zu weinen, »und so ungerecht sein. Du tust so, als wenn alles schon abgemacht wäre, Peggotty, und ich sage dir doch immer und immer wieder, du grausames Ding, daß außer den gewöhnlichsten Höflichkeiten nichts vorgefallen ist. Du sprichst von Bewunderung. Was kann ich dafür, wenn die Leute so albern sind, solchen Gefühlen nachzugeben, ist das meine Schuld? Was soll ich denn tun, frage ich dich? Willst du vielleicht, daß ich mir die Haare schneiden oder das Gesicht schwärzen oder mich durch einen Brandfleck oder heißes Wasser oder sonst etwas Ähnliches verunstalten soll? Ich glaube, du wärst es imstande, Peggotty. Ich glaube, du würdest dich sogar drüber freuen.«

Peggotty schien sich diese Zumutung sehr zu Herzen zu nehmen, wie mir vorkam.

»Und mein lieber Junge«, schrie meine Mutter, kam zu mir in den Lehnstuhl und liebkoste mich. »Mein einziger kleiner Davy! Lasse ich es vielleicht an Liebe für mein Herzblatt fehlen? Für den allerbesten kleinen Jungen, den es je gegeben hat?«

»Kein Mensch hat das behauptet«, sagte Peggotty.

»Ja du, Peggotty«, gab meine Mutter zurück, »du weißt es ganz gut. Was soll ich denn anderes aus deinen Worten schließen, du unfreundliches Geschöpf, wo du doch recht gut weißt, daß ich mir bloß seinetwegen keinen neuen Sonnenschirm gekauft habe, obwohl der alte, grüne ganz abgeschoben ist und gar keine Fransen mehr hat. Du weißt es, Peggotty, und kannst es nicht leugnen.« Dann wandte sie sich wieder zärtlich zu mir, legte ihre Wange an meine. »Bin ich dir eine nichtsnutzige Mama, Davy? Bin ich eine hartherzige, grausame, selbstsüchtige, schlechte Mama? Sag Ja, mein Kind, und Peggotty wird dich lieben, und Peggottys Liebe ist viel besser als meine, Davy. Ich liebe dich gar nicht, nicht wahr?«

Darüber fingen wir alle an zu weinen. Ich glaube, ich war der lauteste von ihnen, aber ich weiß sicher, wir meinten es alle gleich aufrichtig. Ich war tief unglücklich und habe, fürchte ich, in der ersten Aufwallung verletzter Zärtlichkeit Peggotty ein »Biest« genannt. Ich erinnere mich noch, das ehrliche Geschöpf geriet in die tiefste Betrübnis und muß bei dieser Gelegenheit ganz knopflos geworden sein, denn eine ganze Salve dieser Geschosse flog ab, als sie vor meinem Stuhle niederkniete, um sich mit meiner Mutter und mir zu versöhnen.

Wir gingen sehr niedergeschlagen zu Bett. Mein Weinen hielt mich lange wach, und wenn mich ein besonders heftiges Schluchzen in die Höhe riß, sah ich, daß meine Mutter auf dem Bettrand saß und sich über mich beugte. Dann schlummerte ich in ihren Armen fest ein.

Ob schon am folgenden Sonntag der Herr wieder kam, oder ob ein längerer Zeitraum dazwischen lag, ist mir nicht mehr erinnerlich. In der Zeitrechnung bin ich meiner nicht ganz sicher. Aber er war in der Kirche und begleitete uns dann nach Hause.

Er trat auch zu uns herein, um ein schönes Geranium anzusehen, das im Fenster stand. Es kam mir nicht so vor, als ob er es besonders beachtete, aber ehe er ging, bat er meine Mutter, ihm eine Blüte davon zu geben. Sie bat ihn, sich selbst eine auszusuchen, aber das wollte er nicht – warum, war mir unbegreiflich –, und so pflückte sie ihm denn eine Blüte und gab sie ihm in die Hand. Er sagte, er werde sich niemals im Leben davon trennen, und ich dachte mir, er müsse sehr dumm sein, weil er nicht wisse, daß die Blätter in ein oder zwei Tagen ausfallen würden.

Peggotty fing an, uns abends weniger Gesellschaft zu leisten als früher. Meine Mutter gab ihr in sehr vielen Dingen nach, mehr noch als gewöhnlich, wie mir schien, und wir blieben alle drei die allerbesten Freunde.

Aber doch war es zwischen uns anders geworden, und es war uns nicht mehr so behaglich zu Mute. Manchmal kam es mir so vor, als ob Peggotty nicht recht zufrieden wäre, wenn meine Mutter die schönen Kleider anzog, die sie im Schrank hängen hatte, und so oft die Nachbarn besuchen ging. Aber ich war ganz froh, daß ich mir keine Gedanken darüber zu machen brauchte.

Allmählich gewöhnte ich mich daran, den Herrn mit dem schwarzen Backenbart zu sehen. Er gefiel mir nicht besser als am Anfang, und ich fühlte immer noch dieselbe unbestimmte Eifersucht. Aber wenn ich später einem instinktiven, kindlichen Widerwillen und dem Gedanken im allgemeinen, daß Peggotty und ich vollkommen ausreichen müßten, meine Mutter ohne weitern Beistand glücklich genug machen zu können, noch einen andern Grund dafür hatte, war es doch gewiß nicht der, den ich im reifern Alter für meine Abneigung herausgefunden hätte. Nichts Derartiges fiel mir ein. Ich konnte wohl stückweise beobachten, aber aus solchen Fäden ein Netz zu machen und darin jemand zu fangen, das ging und geht noch jetzt über mein Können hinaus.

An einem Herbstmorgen stand ich mit meiner Mutter in dem Vorgarten, als Mr. Murdstone, ich kannte jetzt seinen Namen, vorbeigeritten kam. Er hielt sein Pferd an, um meine Mutter zu begrüßen, und sagte, er ritte nach Lowestoft, um einige Freunde zu besuchen, die dort eine Jacht hätten, und machte den lustigen Vorschlag, mich vor sich auf den Sattel zu nehmen, wenn ich reiten wollte.

Das Wetter war so wunderschön, und das Pferd schnaubte und stampfte so munter vor der Gartentür, daß ich große Lust dazu hatte. Meine Mutter schickte mich daher zu Peggotty hinauf zum Anziehen, und mittlerweile stieg Mr. Murdstone ab und schritt, die Zügel über dem Arm, langsam vor der Rosenhecke auf und ab, während meine Mutter an der innern Seite neben ihm herging. Ich erinnere mich noch, wie Peggotty und ich aus dem kleinen Fenster hinabsahen, erinnere mich auch noch, wie eifrig meine Mutter und Mr. Murdstone die Rosenhecke zwischen sich zu betrachten schienen, während sie daran entlangschlenderten, und wie Peggotty, die vorher in wahrer Engelslaune gewesen, plötzlich ganz ärgerlich wurde und mein Haar wütend gegen den Strich bürstete.

Mr. Murdstone und ich waren bald unterwegs und trabten auf dem grünen Rasen neben der Landstraße dahin. Er hielt mich leicht mit einem Arm, und ich glaube nicht, daß ich besonders unruhig war. Aber ich konnte mich nicht enthalten, von Zeit zu Zeit den Kopf zu wenden und ihm ins Gesicht zu sehen.

Er hatte jene Art seichter schwarzer Augen – ich finde keinen bessern Ausdruck dafür –, die, wenn sie nachsinnen, durch irgendeine sonderbare Lichtbrechung zu schielen scheinen. Verschiedene Male, wenn ich ihn ansah, bemerkte ich das mit einer Art Scheu und hätte gern gewußt, worüber er so tief nachdenke. Sein Haar und sein Bart waren in der Nähe noch schwärzer und dichter, als ich geglaubt. Das starke Kinn und die schwarzen Punkte, die von dem sorgfältig rasierten Barte übrig blieben, erinnerten mich an eine Wachsfigur, die vor einem halben Jahr in unserer Gegend gezeigt worden war. Dieses, seine regelmäßigen Augenbrauen und das reiche Weiß, Schwarz und Braun seines Teints verwünscht sei sein Teint und verwünscht sein Andenken – machten, daß ich ihn trotz meiner Abneigung für einen schönen Mann hielt. Ich zweifle nicht, daß meine arme, liebe Mutter ganz derselben Meinung war.

Wir gingen in ein Gasthaus am Meere, wo zwei Herren in einem Zimmer Zigarren rauchten. Jeder von ihnen lag auf mindestens vier Stühlen und hatte eine weite zottige Jacke an. In einer Ecke lagen auf einem Haufen übereinander Röcke und Bootsmäntel und eine Flagge. Beide Herren richteten sich schwerfällig auf, als wir eintraten, und riefen: »Hallo, Murdstone! Wir dachten schon, du wärest tot.«

»Noch nicht«, sagte Mr. Murdstone.

»Was ist das für ein Gelbschnabel?« fragte einer der Gentlemen und faßte mich am Arm.

»Das ist Davy«, antwortete Mr. Murdstone.

»Was für ein Davy?« fragte der Herr Jones.

»Copperfield«, sagte Mr. Murdstone.

»Was? Der himmlischen Mrs. Copperfield Beigabe? Der reizenden kleinen Witwe?«

»Quinion«, sagte Mr. Murdstone, »nimm dich in acht, man ist schlau.«

»Wer denn?« fragte der Gentleman lachend.

Ich blickte rasch auf, denn ich hätte es auch gern gewußt.

»Bloß Brooks von Sheffield«, sagte Mr. Murdstone.

Ich fühlte mich ordentlich erleichtert, daß es bloß Brooks von Sheffield sei, denn anfangs hatte ich wirklich geglaubt, man meine mich.

Mr. Brooks von Sheffield mußte wohl jemand sehr Komisches sein, denn die beiden Gentlemen lachten herzlich, als sein Name fiel, und Mr. Murdstone war auch sehr belustigt. Nach längerem Lachen sagte der Herr, der Quinion hieß: »Und wie ist Mr. Brooks‘ von Sheffield Meinung in betreff des geplanten Geschäftes?«

»Hm, ich weiß nicht, ob Brooks vorderhand viel davon versteht«, entgegnete Mr. Murdstone, »aber ich glaube, im allgemeinen ist er ihm nicht besonders günstig.«

Darüber wurde noch viel mehr gelacht, und Mr. Quinion sagte, er wolle nach Sherry klingeln, um auf Brooks Gesundheit zu trinken. Das tat er dann, und als der Wein kam, gab er mir ein wenig davon und ein Biskuit, und bevor ich trank, stand er auf und sagte: »Verwirrung komme über Brooks von Sheffield.«

Der Toast wurde mit großem Beifall und so herzlichem Gelächter aufgenommen, daß ich selbst mitlachen mußte, worüber sie dann noch mehr lachten. Kurz, es war sehr lustig.

Wir gingen hierauf an den Klippen des Strandes spazieren und setzten uns ins Gras und schauten durch ein Fernrohr – ich konnte nichts sehen, als sie es mir vor das Auge hielten, behauptete aber, ich könnte es – und dann gingen wir zurück in das Hotel, um zeitig zu Mittag zu essen.

Während unseres Spazierganges rauchten die beiden Herren unaufhörlich, was sie – nach dem Geruch ihrer zottigen Röcke zu schließen – wohl seit dem ersten Tage an gemacht haben mußten, seit sie sie vom Schneider bekommen hatten. Ich darf nicht vergessen, daß wir auch an Bord der Jacht gingen, wo sie alle drei in die Kajüte hinunterstiegen und sich eifrig mit verschiedenen Papieren beschäftigten. Ich sah sie angestrengt arbeiten, wenn ich durch das offene Lukenfenster hinunterblickte.

Die ganze Zeit über ließen sie mich in Gesellschaft eines sehr netten Mannes mit einem großen Kopf voll roter Haare und einem sehr kleinen lackierten Hut. Er hatte ein buntgestreiftes Hemd an, mit dem Worte »Feldlerche« in großen Buchstaben quer über der Brust. Ich dachte, es sei sein Name und er schreibe ihn auf die Brust, weil er auf dem Schiffe wohnte und kein Haustor hatte, worauf er ihn hätte anschlagen können. Als ich ihn aber Mr. Feldlerche nannte, sagte er, das Schiff hieße so.

Den ganzen Tag über bemerkte ich, daß Mr. Murdstone ernster und verschlossener war als die beiden andern Herren. Diese waren sehr lustig und ungezwungen, scherzten miteinander, aber selten mit ihm. Er kam mir gescheiter und kühler vor als sie, und sie mochten ziemlich meiner Meinung sein. Ich bemerkte nämlich, daß Mr. Quinion ein- oder zweimal, wenn er sprach, Mr. Murdstone von der Seite ansah, wie um sich zu überzeugen, ob ihm nicht irgend etwas mißfiele, und daß er einmal, als Mr. Passnidge, der andere Herr, besonders ausgelassen war, diesem auf den Fuß trat und ihm heimlich mit den Augen zuwinkte, auf Mr. Murdstone zu achten, der stumm und verdrossen dasaß. Ich erinnere mich auch nicht, daß Mr. Murdstone den ganzen Tag über einmal gelacht hätte, außer über den Sheffield-Witz, den er ja übrigens selber gemacht hatte.

Wir gingen abends zeitig nach Hause. Es war ein sehr schöner Abend, und meine Mutter und Mr. Murdstone gingen wieder an der Rosenhecke auf und ab, während ich hineingeschickt wurde, um meinen Tee zu trinken.

Als er weggegangen war, fragte mich meine Mutter aus über die Tageserlebnisse. Ich erzählte, was sie über sie geäußert hatten, und sie lachte und sagte, es seien unverschämte Burschen, die Unsinn schwatzten, aber ich merkte ganz gut, daß es ihr gefiel. So genau, wie ich es jetzt weiß. Ich benutzte die Gelegenheit, sie zu fragen, ob sie einen gewissen Brooks aus Sheffield kenne, sie erwiderte, nein, aber es müsse ein Messer- und Gabelfabrikant sein.

Kann ich von ihrem Gesicht, sosehr es sich später veränderte, so verblüht ich es weiß, sagen, es sei nicht mehr, wenn es hier in diesem Augenblick so deutlich mir vor Augen tritt, wie jedes beliebige Gesicht, das auf belebter Straße an mir vorbeigeht? Kann ich von ihrer unschuldsvollen, mädchenhaften Schönheit sagen, sie sei verwelkt und dahin, wenn ihr Atem jetzt meine Wange berührt, wie er es an jenem Abend tat? Kann ich sagen, sie habe sich jemals verändert, wenn meine Erinnerungen sie nur mit diesen Zügen ins Leben zurückrufen?

Ich schildere sie genau so, wie sie war, als ich nach dieser Unterhaltung zu Bett gegangen und sie zu mir kam, um mir gute Nacht zu sagen. Sie kniete neben meinem Bett nieder, legte ihr Kinn auf ihre Hände und fragte lachend:

»Was sagten sie, Davy? Sag es noch einmal. Ich kann’s nicht glauben.«

»Der himmlischen –« fing ich an.

Sie legte mir die Hand auf den Mund.

»Himmlisch gewiß nicht«, sagte sie lachend. »Himmlisch kann es nicht gewesen sein, Davy. Jetzt weiß ichs, daß es nicht wahr ist.«

»Doch! Der himmlischen Mrs. Copperfield«, wiederholte ich standhaft, »und der reizenden –«

»Nein, nein, reizend gewiß nicht. Nicht reizend«, unterbrach mich meine Mutter und legte mir wieder die Finger auf die Lippen.

»Ja, es war so. Der reizenden kleinen Witwe.«

»Was für närrische, unverschämte Menschen!« rief meine Mutter lachend und bedeckte ihr Gesicht, »was für alberne Burschen, nicht wahr, mein lieber Davy?«

»Jawohl, Mama.«

»Sag Peggotty nichts. Sie könnte böse drüber werden. Ich bin auch sehr böse drüber, aber es ist besser, Peggotty erfährt nichts davon.«

Ich versprach es natürlich, und wir küßten uns noch viele Male, und bald lag ich in festem Schlaf.

Nach der langen inzwischen vergangenen Zeit kommt es mir jetzt so vor, als ob mir bereits am Tage darauf Peggotty den sonderbaren Vorschlag machte, von dem ich sogleich erzählen will, – aber wahrscheinlich lagen zwei Monate dazwischen.

Wir saßen wieder eines Abends, als meine Mutter auf Besuch war, in Gesellschaft des Strumpfes, des Ellenmaßes, des Wachsstückchens, des Kastens mit der St.-Pauls-Kirche und des Krokodilbuchs beisammen, Peggotty und ich, als sie (nachdem sie mich mehrmals angeblickt und den Mund aufgerissen, als wollte sie sprechen, – ich hielt es für bloßes Gähnen, sonst hätte es mich beunruhigt, –) endlich mit einschmeichelnder Stimme sagte: »Master Davy, wie wäre es, wenn du mit mir auf vierzehn Tage meinen Bruder in Yarmouth besuchtest? Wär das nicht fein?«

»Ist dein Bruder ein angenehmer Mann?« fragte ich vorsichtig.

»O was für ein angenehmer Mann!« rief Peggotty und streckte die Hände in die Höhe. »Und dann ist das Meer da und die Boote und die Schiffe und der Strand und Ham zum Spielen.«

Ham war Peggottys Neffe, wie bekannt. Ich war ganz aufgeregt über die in Aussicht gestellten Freuden von Yarmouth und erwiderte, daß es freilich herrlich sein müßte, aber was wohl die Mutter dazu sagen würde.

»Ich möchte eine Guinee wetten, daß sie uns die Erlaubnis dazu gibt. Wenn du willst, frage ich sie, sobald sie nach Hause kommt. Abgemacht.«

»Aber was wird sie anfangen, wenn wir fort sind?« fragte ich und legte meine Ellbogen auf den Tisch, um die Sache gründlich zu besprechen. »Sie kann doch nicht allein bleiben?«

Wenn Peggotty ganz plötzlich jetzt nach einem Loche in der Strumpfferse spähte, muß es wahrhaftig ganz klein und des Stopfens nicht wert gewesen sein.

»Peggotty! Hör doch. Sie kann doch nicht allein bleiben.«

»Ach Gott, richtig«, sagte Peggotty und sah mich endlich wieder an. »Weißt du es noch nicht? Sie geht auf vierzehn Tage auf Besuch zu Mrs. Grayper. Mrs. Grayper bekommt eine Menge Gäste.«

Da die Sache so stand, war ich ganz bereit zur Reise. In größter Ungeduld wartete ich, bis meine Mutter von Mrs. Grayper, unsrer Nachbarin, nach Hause kam, um sie zu fragen, ob sie mit dem großen Plan einverstanden sei. Gar nicht so überrascht, wie ich vermutet hatte, ging meine Mutter bereitwillig darauf ein, und die Sache wurde diesen Abend noch abgemacht und Wohnung und Kost für mich für die vierzehn Tage bezahlt.

Der Tag unserer Abreise kam bald heran. Er war so nahe angesetzt, daß er selbst für mich bald kam, wo ich doch förmlich vor Erwartung fieberte und immer fürchtete, ein Erdbeben oder ein feuerspeiender Berg oder eine andere große Katastrophe könnte alles hinausschieben.

Wir sollten mit einem Fuhrmann reisen, der diesen Morgen nach dem Frühstück aufbrach. Ich würde etwas darum gegeben haben, wenn man mir erlaubt hätte, mich schon über Nacht in den Mantel wickeln und mit Hut und Stiefeln schlafen zu dürfen. Es erschüttert mich jetzt noch, wenn ich es so leichthin erzähle und bedenke, wie ungeduldig ich mich von dem glücklichen Heim wegsehnte, ohne zu ahnen, was ich für immer verließ.

Es steht wie eine frohe Erinnerung vor mir, als der Wagen vor der Türe hielt und meine Mutter mich küßte, und ich freue mich, daß ich vor zärtlicher Liebe zu ihr und dem alten Hause, das ich noch nie verlassen, weinen mußte, freue mich über die Erinnerung, daß auch meine Mutter weinte und ich ihr Herz an meinem schlagen fühlte.

Und als der Wagen davonfuhr, da kam meine Mutter noch einmal zur Gartentür heraus und ließ halten, um mich noch einmal zu küssen. Ich verweile gern in Gedanken bei der Innigkeit und Liebe, mit der sie mir ins Gesicht blickte und mir noch einen letzten Abschiedskuß gab.

Als sie mitten auf der Straße stand und uns nachsah, trat Mr. Murdstone zu ihr und schien ihr Vorstellungen wegen ihrer großen Rührung zu machen. Ich sah um die Wagenplache herum zurück und war mir nicht klar darüber, was ihn denn eigentlich die ganze Sache anginge.

Peggotty, die auf der andern Seite herausschaute, schien nichts weniger als zufrieden zu sein, wie ihr Gesicht verriet, als sie den Kopf wieder zurückzog.

Ich saß eine Zeitlang stumm neben ihr in Träumerei versunken über die Lösung der Frage: ob ich, ähnlich wie der Däumling im Märchen, wohl imstande sein würde, mit Hilfe ihrer Knöpfe wieder heimzufinden.

12. Kapitel Da mir das Leben auf eigne Faust nicht gefällt, fasse ich einen großen Entschluß


12. Kapitel Da mir das Leben auf eigne Faust nicht gefällt, fasse ich einen großen Entschluß

Mr. Micawbers erste Bittschrift wurde günstig erledigt, und das Gericht ordnete zu meiner großen Freude seine Freilassung an. Seine Gläubiger zeigten sich nicht unversöhnlich, und Mrs. Micawber erzählte mir, daß selbst der rachedürstende Schuster vor Gericht erklärt habe, er hege weiter keinen Groll, wünsche aber bezahlt zu sein, wenn man ihm Geld schulde. Er habe gesagt, er glaube, das sei menschlich.

Mr. Micawber kehrte nach Kings-Bench zurück, als sein Fall erledigt war, denn es mußten noch einige Kosten bezahlt und einige Formalitäten erfüllt werden, ehe er freigelassen wurde. Der Klub empfing ihn mit Begeisterung und veranstaltete an diesem Abend ihm zu Ehren eine musikalische Feier, während Mrs. Micawber und ich uns privatim an einem Lammsbraten erfreuten, umgeben von der schlafenden Familie.

»Bei dieser Gelegenheit will ich mit Ihnen, Master Copperfield«, sagte Mrs. Micawber, »mit einem frischen Glas Flip – wir hatten schon einige getrunken – auf das Wohl von Papa und Mama trinken.«

»Sind sie tot, Madame?« fragte ich, nachdem ich mit meinem Weinglas angestoßen hatte.

»Mama schied aus dem Leben, bevor Mr. Micawbers Drangsale begannen oder wenigstens noch nicht so schlimm waren. Papa lebte noch, um mehrere Male für Mr. Micawber Bürgschaft zu leisten, und hauchte dann seinen Geist aus, beweint von einem zahlreichen Kreis.«

Mrs. Micawber schüttelte den Kopf und ließ eine Träne auf den Zwilling, der gerade bei der Hand war, fallen.

Da ich schwerlich eine günstigere Gelegenheit zu der Frage, die mir sehr am Herzen lag, finden konnte, sagte ich zu Mrs. Micawber:

»Darf ich fragen, Ma’am, was Sie und Mr. Micawber zu tun gedenken, wenn Ihr Herr Gemahl aus seinen Verlegenheiten heraus und wieder in Freiheit ist? Haben Sie schon einen Entschluß gefaßt?«

»Meine Familie«, sagte Mrs. Micawber, die diese Worte immer mit einer großen Geste aussprach, obgleich ich nie herausbekommen konnte, wer eigentlich darunter zu verstehen sei, »meine Familie ist der Meinung, daß Mr. Micawber London den Rücken kehren und seine Talente in der Provinz verwerten solle. Mr. Micawber ist ein Mann von großem Talent, Master Copperfield!«

Ich sagte, daß ich daran nicht zweifle.

»Von großem Talent«, wiederholte Mrs. Micawber. »Meine Familie ist der Meinung, daß mit ein wenig Fürsprache für einen Mann von seinen Fähigkeiten etwas beim Zollamt getan werden könnte. Da der Einfluß meiner Familie nur lokaler Art ist, ist es ihr Wunsch, daß Mr. Micawber nach Plymouth hinunterkommen solle. Sie halten es für unerläßlich, daß er sich an Ort und Stelle begibt.«

»Um bereit zu sein?« fragte ich.

»Ganz richtig«, wiederholte Mrs. Micawber. »Um bereit zu sein, falls eine glückliche Wendung eintritt.«

»Und Sie gehen auch mit, Ma’am?«

Die Ereignisse des Tages, die Mitwirkung der Zwillinge und vielleicht auch der Flip hatten Mrs. Micawber sehr hysterisch gestimmt, und sie vergoß Tränen, als sie antwortete:

»Ich werde Mr. Micawber nie verlassen! Mr. Micawber hat mir vielleicht zu Anfang seine Bedrängnisse verheimlicht, aber sein sanguinisches Temperament mag ihn zu der Ansicht verleitet haben, er werde sie bald überwinden können. Das Perlenhalsband und die Armbänder, die ich von Mama geerbt habe, sind um den halben Wert verschleudert worden. Und der Korallenschmuck, den mir Papa zur Hochzeit schenkte, fast für nichts. Aber ich werde Mr. Micawber nie verlassen! Nein!« rief Mrs. Micawber mit noch größerer Rührung als vorher, »ich werde das nie tun. Ich lasse mich nicht überreden!«

Ich fühlte mich sehr unbehaglich, da Mrs. Micawber zu glauben schien, ich hätte sie zu einem solchen Schritt verleiten wollen, und sah sie sehr beunruhigt an.

»Mr. Micawber hat seine Fehler, ich leugne nicht, daß er unbedacht ist. Auch nicht, daß er mit Geld nicht umzugehen weiß und mich über seine Mittel und seine Schulden in Unkenntnis gelassen hat«, fuhr sie, den Blick an die Wand gerichtet, fort, »aber ich werde niemals Mr. Micawber verlassen!«

Da sich ihre Stimme jetzt zu lautem Kreischen gesteigert hatte, war ich so erschreckt, daß ich ins Klubzimmer davonlief und Mr. Micawber, der an einem langen Tisch präsidierte, in dem Chorgesang:

»Hühü, Dobbin,
Hüho, Dobbin,
Hühü, Dobbin,
Hühü und hüho-o-«

den er eben leitete, mit der Nachricht störte, daß sich Mrs. Micawber in einem sehr beängstigenden Zustand befände, worauf er sofort in Tränen ausbrach und mit mir forteilte, die Westentasche voll Krevetten, mit denen er sich gerade beschäftigt hatte.

»Emma, mein Engel«, rief er, als er ins Zimmer stürzte, »was ist geschehen?«

»Ich werde dich niemals verlassen, Micawber!« rief sie aus.

»Mein Leben«, sagte Mr. Micawber und schloß sie in die Arme. »Davon bin ich vollständig überzeugt.«

»Er ist der Vater meiner Kinder, der Erzeuger meiner Zwillinge, er ist der Gatte meines liebenden Herzens«, rief Mrs. Micawber schluchzend, »ich werde Mr. Micawber nie-mals ver-las-sen.«

Mr. Micawber war so tief gerührt durch diesen Beweis von Anhänglichkeit, – ich zerfloß selbstverständlich in Tränen –, daß er sich leidenschaftlich über seine Gattin beugte und sie anflehte, aufzusehen und sich zu beruhigen. Je mehr er sie aber anflehte, aufzublicken, um so mehr starrten ihre Augen ins Leere, und je mehr er sie anflehte, sich zu fassen, desto weniger tat sie es. Schließlich war Mr. Micawber selbst so erschüttert, daß er seine Tränen mit ihren und meinen mischte und mich bat, mir einen Stuhl auf die Treppe hinauszunehmen, während er sie zu Bett brächte. Ich wollte mich für den Abend verabschieden, aber er mochte davon nichts hören, ehe nicht die Fremdenglocke geläutet habe. So saß ich denn an einem Treppenfenster, bis er mit dem zweiten Stuhl nachkam und mir Gesellschaft leistete.

»Wie befindet sich jetzt Mrs. Micawber, Sir?« fragte ich.

»Sehr geschwächt«, sagte Mr. Micawber und schüttelte den Kopf. »Reaktion! O, was war das für ein schrecklicher Tag! Wir stehen jetzt allein, alles ist von uns gegangen.«

Er drückte mir die Hand, stöhnte und vergoß Tränen. Ich war sehr ergriffen und auch enttäuscht, denn ich hatte erwartet, daß wir bei dieser glücklichen langersehnten Gelegenheit recht heiter sein würden. Mr. und Mrs. Micawber hatten sich an ihre alten Bedrängnisse so gewöhnt, glaube ich, daß sie sich ganz schiffbrüchig vorkamen, als sie jetzt von ihnen erlöst waren. Die ganze Elastizität war von ihnen genommen, und ich hatte sie nie auch nur halb so elend wie an jenem Abend gesehen. Als die Glocke läutete und Mr. Micawber mich bis zum Türschließer begleitete und dort mit einem Segensspruch von mir Abschied nahm, bangte mir fast, ihn allein zu lassen, so unglücklich sah er aus.

Aber trotz all der Verwirrung und Bedrücktheit, die sich unserer Gemüter so unerwartet bemächtigt hatte, fühlte ich deutlich, daß mir ein Abschied von den Micawbers bevorstand. Auf meinem Nachhauseweg in jener Nacht und den schlaflosen Stunden, die darauf folgten, kam mir zuerst der Gedanke, der später zu einem festen Entschluß werden sollte.

Ich hatte mich so an die Micawbers gewöhnt und war mit ihren Bedrängnissen so vertraut geworden und stand so ohne jeden Freund da, wenn sie mir fehlten, daß mir die Aussicht, abermals unter fremde Leute gehen zu müssen, unerträglich schien. Der Gedanke an all die Scham und das Elend, das in meiner Brust lebte, wurde mir bei dem Gedanken daran noch peinigender, und ich sah keine Hoffnung an Entrinnen, wenn ich nicht aus eignem Entschluß einen Versuch wagte.

Ich hatte selten von Miss Murdstone gehört und niemals mehr von ihrem Bruder, außer, daß hie und da ein Paket neuer oder ausgebesserter Kleider für mich an Mr. Quinion gekommen war, immer mit einem Zettel dabei, auf dem J. M. hoffte, daß D. C. in seinem neuen Beruf fleißig und gehorsam sei. Nie die geringste Andeutung, daß ich auf eine Änderung in meinem Schicksal hoffen dürfte und je etwas anderes als ein gewöhnlicher Tagelöhner werden würde, zu welcher Stufe ich immer mehr herabsank.

Schon der nächste Tag zeigte mir, daß Mrs. Micawber nicht ohne guten Grund von ihrem Weggehen gesprochen hatte. Die Familie mietete sich in dem Hause, wo ich wohnte, für eine Woche ein, um sich nach Ablauf dieser Zeit nach Plymouth zu begeben. Mr. Micawber kam nachmittags aufs Kontor, um Mr. Quinion zu sagen, daß er mich vom Tage seiner Abreise an verlassen müsse, und zollte mir ein hohes Lob, das ich gewiß auch verdiente. Mr. Quinion rief Tipp, den Kärrner, der verheiratet war und ein Zimmer zu vermieten hatte, herein und quartierte mich im voraus bei ihm ein. Aber mein Entschluß stand fest.

Ich verlebte meine Abende mit Mr. und Mrs. Micawber, solange wir noch unter einem Dache wohnten, und wir gewannen einander noch lieber, je mehr die Zeit verging.

Am letzten Sonntag luden sie mich zum Mittagessen ein und wir bekamen Schweinsbraten, Apfelmus und Pudding. Ich hatte den Abend vorher ein geschecktes Holzpferd als Abschiedsgeschenk für den kleinen Wilkins Micawber und eine kleine Puppe für die kleine Emma gekauft.

Ich schenkte auch einen Schilling dem Waisling, der jetzt entlassen werden sollte.

Wir verlebten einen recht vergnügten Tag, wenn wir auch wegen unserer nahe bevorstehenden Trennung sehr weich gestimmt waren.

»Ich werde nie an die Zeit von Mr. Micawbers Bedrängnis zurückdenken, Master Copperfield«, sagte Mrs. Micawber, »ohne mich Ihrer zu erinnern. Ihr Benehmen war immer von der zartfühlendsten und verbindlichsten Art. Sie sind uns nie ein Mieter gewesen, sondern immer ein Freund.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber, »Copperfield« – so nannte er mich in der letzten Zeit – »hat ein Herz für die Leiden seiner Mitmenschen, das mitfühlt, wenn die Wolken des Unheils über ihnen hängen, einen Kopf, der fühlt – eine Hand, die – kurz, er versteht es, alles verfügbare Eigentum, wenn es nötig ist, zu Geld zu machen.«

Ich drückte meine Erkenntlichkeit für dieses Lob aus und sagte, wie leid es mir täte, daß wir uns trennen müßten.

»Mein lieber junger Freund, ich bin ein Mann von gewisser Lebenskenntnis und – kurz und gut, ich bin in der Not erfahren. Gegenwärtig und bis die glückliche Wendung eintritt, die ich jetzt stündlich erwarte, kann ich Ihnen leider nichts als einen guten Rat geben. Doch ist er insofern wert, befolgt zu werden, als – kurz, ich habe ihn selbst nie befolgt und bin der elende Wicht, den Sie vor sich sehen.« Mr. Micawber, der bis zu den letzten Worten mit strahlendem Gesicht dagesessen hatte, machte eine Pause und nahm eine sehr düstere Miene an.

»Lieber Micawber«, flehte seine Gattin.

»Ich sage also«, fuhr Mr. Micawber fort, vergaß sich ganz und lächelte wieder, »der elende Wicht, den Sie vor sich sehen. Mein Rat ist: Verschieben Sie nie auf morgen, was Sie heute tun können. Aufschub ist der Dieb der Zeit. Fassen Sie ihn beim Kragen.«

»Meines armen Papas Grundsatz«, bemerkte Mrs. Micawber.

»Mein Herz«, sagte Mr. Micawber, »dein Papa war vortrefflich in seiner Art, und Gott sei vor, daß ich ihn je herabsetzen sollte. Aber nehmen wir ihn alles in allem – kurz, wohl niemand hatte in seinem Alter so stattliche Waden für Gamaschen und konnte ohne Brille die kleinste Schrift lesen wie er. Leider wandte er seinen Grundsatz auch auf unsere Hochzeit an, meine Liebe, und wir schlossen sie demzufolge so vorzeitig und schnell, daß ich mich bis heute noch nicht von den Unkosten erholt habe.«

Er sah seine Gattin von der Seite an und fügte hinzu: »Nicht daß es mich etwa gereute! Ganz im Gegenteil, meine Liebe!«

Hierauf beobachtete er ein paar Minuten tiefstes Stillschweigen.

»Meinen zweiten Rat«, fuhr er fort, »kennen Sie bereits, Copperfield. Jährliches Einkommen: zwanzig Pfund. Jährliche Ausgaben: neunzehn Pfund, neunzehn Schilling sechs Pence. Resultat: Wohlergehen. Jährliches Einkommen: zwanzig Pfund, jährliche Ausgaben: zwanzig Pfund sechs Pence. Resultat: Elend. Die Blüte ist dahin, das Laub verwelkt, der Gott des Tages geht unter über einem traurigen Schauspiel und – kurz, Sie sind im Saft. Wie ich.«

Um das Bild noch eindrucksvoller zu machen, trank Mr. Micawber mit einer Miene großer Befriedigung ein Glas Punsch aus und pfiff den »lustigen Kupferschmied«.

Ich unterließ nicht, ihm mit Worten zu versichern, daß ich mir seine Vorschriften sehr zu Herzen nehmen wollte, – unnötigerweise – denn ich war sichtlich gerührt.

Am nächsten Morgen traf ich die ganze Familie in der Landkutsche und sah sie mit trostlosem Herzen ihre Plätze einnehmen.

»Master Copperfield«, sagte Mrs. Micawber, »Gott segne Sie! Ich kann es nie vergessen, glauben Sie mir, und möchte es nicht, selbst wenn ich könnte.«

»Copperfield«, sagte Mr. Micawber, »leben Sie wohl! Glück und Wohlergehen! Wenn ich mich im Lauf der dahinrollenden Jahre überzeugen könnte, daß mein verlornes Leben eine Warnung für Sie gewesen ist, würde ich fühlen, daß ich nicht vergebens meinen Platz auf Erden ausgefüllt habe. Falls eine glückliche Wendung eintritt, wovon ich fest überzeugt bin, werde ich mich außerordentlich glücklich schätzen, wenn es in meiner Macht steht, Ihre Aussichten zu verbessern.«

Ich glaube, wie Mrs. Micawber mit den Kindern hinten auf dem Wagen saß und ich so klein auf der Straße stand und sehnsüchtig zu ihnen aufsah, da fiel der Schleier von ihren Augen und sie sah, was für ein winziges Geschöpf ich in Wirklichkeit war. Ich glaube es, weil sie mich plötzlich mit einem ganz veränderten Gesicht und mit mütterlichem Ausdruck in den Zügen heraufsteigen hieß und mich umarmte und mich küßte, wie ihr eignes Kind. Ich hatte kaum Zeit, wieder herunterzukommen, da fuhr die Kutsche fort. Ich konnte die Familie vor lauter Taschentücherschwenken kaum mehr sehen. In einer Minute waren sie verschwunden. Der Waisling und ich standen auf der Mitte der Straße und sahen einander mit leeren Blicken an, dann schüttelten wir uns die Hand und nahmen Abschied voneinander; sie ging ins St.-Lukas-Armenhaus zurück, wahrscheinlich, und ich an mein trauriges Tagewerk bei Murdstone & Grinby.

Aber ich hatte die Absicht, nicht mehr lange dort auszuhalten. Nein. Ich hatte mir vorgenommen, wegzulaufen, – so oder so, – um auf irgendeine Weise die einzige Verwandte, die ich noch auf der Welt besaß, meine Tante, Miß Betsey, aufzusuchen und ihr mein Leid zu klagen.

Ich habe schon erzählt, daß ich nicht weiß, wie mir dieser verzweifelte Gedanke eingefallen war. Aber einmal entstanden, blieb er und setzte sich in mir fest, wie kaum jemals im Leben später irgendein anderer. Ich war durchaus nicht überzeugt, daß ich große Hoffnungen hegen durfte. Aber ich war fest entschlossen, meinen Plan auszuführen.

Immer und immer wieder seit jener schlaflosen Nacht, wo mir der Gedanke durch den Kopf gefahren, hielt ich mir die alte Geschichte bei meiner Geburt vor Augen, die ich schon in den schönen, alten Zeiten meine Mutter hatte so gern erzählen hören und fast auswendig wußte. Meine Tante kam in diese Geschichte hineingeschritten und schritt wieder hinaus, wie eine Furcht und Grauen einflößende Gestalt; aber an einen ganz kleinen Zug ihres Benehmens erinnerte ich mich so gern, und er gab mir einen winzigen Schatten von Ermutigung. Ich konnte nicht vergessen, daß meine Mutter geglaubt, sie hätte gefühlt, wie die Tante ihr schönes Haar nicht mit unsanfter Hand berührte. Und wenn es vielleicht eine bloße Einbildung meiner Mutter gewesen sein mochte, so machte ich mir doch daraus ein kleines Bild von meiner schrecklichen Tante, auf dem sie milder gestimmt von dem mädchenhaften Eindruck meiner Mutter, die doch so gut und lieblich gewesen, dreinsah. Wohl möglich, daß mir all das lange im Kopf herumgespukt und dazu beigetragen hatte, nach und nach meinen Entschluß zu befestigen.

Da ich nicht einmal wußte, wo Miss Betsey lebte, schrieb ich einen langen Brief an Peggotty und fragte sie so nebenbei, ob sie sich nicht erinnern könnte. Ich gab vor, ich hätte von einer Dame dieses Namens in einer Stadt, die ich aufs Geratewohl nannte, gehört und möchte gerne wissen, ob es meine Tante wäre. In demselben Brief sagte ich Peggotty, daß ich eine halbe Guinee zu einem Zweck, den ich ihr später mitteilen würde, brauchte und bat sie recht sehr, mir diese Summe zu leihen.

Peggottys Antwort ließ nicht lange auf sich warten und war wie gewöhnlich voll Zärtlichkeit. Sie legte die halbe Guinee bei, ich fürchte, sie mußte unendliche Schwierigkeiten gehabt haben, sie aus Mr. Barkis‘ Koffer herauszubekommen – und teilte mir mit, daß Miss Betsey in der Nähe von Dover wohne, ob aber in Dover selbst, Hythe, Sandgate oder Folkstone könne sie nicht sagen. Einer unserer Leute bei Murdstone & Grinby klärte mich darüber auf, und ich erfuhr, daß alle diese Orte dicht beieinander lägen. Daher beschloß ich, mich gegen Ende der Woche auf den Weg zu machen.

Da ich ein sehr ehrlicher kleiner Kerl war und bei Murdstone & Grinby nicht gern ein schlechtes Andenken zurücklassen wollte, blieb ich bis Samstagabend, da mir der Wochenlohn immer vorausbezahlt worden war. Die halbe Guinee hatte ich mir ausgeborgt, um ein wenig Reisegeld zu haben.

Als der Samstagabend kam, schüttelte ich Mick Walker die Hand und bat ihn, wenn die Reihe an ihn käme bei Auszahlung der Löhnung, Mr. Quinion zu sagen, daß ich fortgegangen sei, um meinen Koffer zu Tipp zu bringen.

Mein Koffer stand in meiner alten Wohnung, und ich hatte auf die Rückseite einer der Adreßkarten, die wir auf die Fässer nagelten, geschrieben: Master David Copperfield, Landpostbureau Dover. Diesen Zettel trug ich in der Tasche, um ihn auf dem Koffer zu befestigen. Dann sah ich mich nach jemand um, der mir das Gepäck ins Einschreibebureau bringen könnte.

Nicht weit von dem Obelisken in Blackfriars Road fiel mein Blick auf einen langbeinigen Burschen vor einem niedrigen, mit einem Esel bespannten Karren. Als wir einander ansahen, nannte er mich »schuftiges Kleingeld« und fragte mich, ob ich mir vielleicht sein Gesicht für einige Jahre einprägen wollte, – wahrscheinlich, weil ich ihn so anstarrte. Ich versicherte ihm, daß ich ihn nicht beleidigen wollte und nur gern gewußt hätte, ob er mir nicht eine kleine Besorgung machen möchte.

»Wat for ne Besorjung?« fragte der langbeinige Bursche.

»Einen Koffer fortzuschaffen«, antwortete ich.

»Wat for nen Koffer?«

Ich sagte ihm: meinen Koffer, der in der nächsten Straße abzuholen sei, und den er mir für sechs Pence nach dem Bureau der Dover Landkutsche bringen möchte.

»Abjemacht, for n Sixpence«, sagte der langbeinige Bursche, sprang auf seinen Karren, der nichts als eine große Holzmulde auf Rädern war, und rasselte dann in solchem Trab davon, daß ich laufen mußte, was ich konnte, um mit dem Esel Schritt zu halten.

Der Bursche hatte etwas Abstoßendes in seinem Wesen, besonders in der Art, wie er an Stroh kaute, während er mit mir sprach, was mir nicht gefiel. Da aber der Handel abgeschlossen war, trugen wir den Koffer zusammen herunter und legten ihn auf den Karren. Um nicht bei meinen Wirtsleuten aufzufallen, wollte ich die Adresse hier nicht befestigen und sagte deshalb dem Burschen, er solle einen Augenblick an der Gefängnismauer von Kings-Bench halten. Kaum waren diese Worte über meine Lippen gekommen, rasselte er davon, als ob er, der Karren, der Esel – alle miteinander – verrückt geworden seien. Ich war ganz außer Atem vom Rufen und Hinterherrennen, als ich ihn an dem bezeichneten Ort einholte.

In meiner Aufregung riß ich die halbe Guinee mit aus der Tasche, als ich die Karte hervorholte. Ich nahm sie der Sicherheit wegen zwischen die Zähne, und obgleich meine Hände sehr zitterten, hatte ich die Karte eben zu meiner Zufriedenheit befestigt, als der langbeinige Bursche mich heftig unter das Kinn stieß und ich meine halbe Guinee in seine Hand fliegen sah.

»Wat«, sagte der junge Mann, mich mit einem entsetzlichen Grinsen am Kragen packend, »dat jehört for de Polizei. Wolltest ausrücken, was? Komm uff de Polizei, du Jewürm. Komm mit nach de Polizei.«

»Bitte, geben Sie mir mein Geld zurück«, sagte ich erschreckt, »und lassen Sie mich los.«

»Komm nach de Polizei«, sagte der Bursche. »Mußt et vor die Polizei beweisen.«

»Geben Sie mir doch meinen Koffer und mein Geld!« rief ich und brach in Tränen aus.

Der Bursche rief immer noch: »Uff de Polizei!« und zerrte mich zu dem Esel hin, als ob das der Polizeirichter wäre, dann besann er sich plötzlich, sprang auf den Karren und raste mit den Worten »Ick fahre nach de Polizei« auf und davon. Ich rannte ihm nach, so schnell ich konnte, hatte aber keinen Atem mehr, ihm nachzurufen, und würde es wohl auch kaum gewagt haben. Wohl zwanzig Mal in einer Viertelstunde entging ich knapp dem Überfahrenwerden. Jetzt verlor ich ihn aus den Augen, dann sah ich ihn wieder, verlor ihn nochmals, dann versetzte mir jemand einen Peitschenhieb, ein anderer schrie mir nach; jetzt lag ich unten in der Gosse, war wieder aufgestanden, stürzte jemand in die Arme und rannte schließlich gegen einen Pfahl. Endlich gab ich, ganz außer mir vor Aufregung und Furcht, halb London könnte schon zu meiner Verfolgung auf den Beinen sein, meinen Koffer und mein Geld auf und machte mich keuchend und weinend, aber nicht einen Augenblick stillstehend, auf den Weg nach Greenwich, der ersten Station nach Dover, wie ich gehört hatte. Ich nahm wenig mehr aus der Welt mit, als ich meine Tante aufsuchen ging, als ich an jenem Abend, wo ihr meine Ankunft so viel Ärger bereitet, in die Welt mitgebracht hatte.

13. Kapitel Die Folgen meines Entschlusses


13. Kapitel Die Folgen meines Entschlusses

Als ich die Verfolgung des Burschen aufgab, mochte ich wohl die Absicht gehabt haben, den ganzen Weg nach Dover zu laufen. Sehr bald aber machte ich Halt in Kent-Road vor einem kleinen Hause mit einem winzigen Tisch davor, in dessen Mitte eine große geschmacklose Bildsäule, die auf einer Muschel blies, stand. Hier setzte ich mich auf eine Türstufe, ganz erschöpft und so atemlos, daß ich nicht einmal über den Verlust meines Koffers und meiner halben Guinee weinen konnte.

Es war bereits dunkel, und ich hörte die Uhren zehn Uhr schlagen. Zum Glück war eine Sommernacht und schönes Wetter. Als ich wieder zu Atem gekommen, das erstickende Gefühl in meiner Kehle heruntergewürgt hatte, ging ich wieder weiter. Ich dachte nicht einen Augenblick daran, umzukehren.

Es beunruhigte mich sehr, daß ich nur dreieinhalb Pence besaß, wunderbar genug, daß ich an einem Samstagabend überhaupt noch so viel in der Tasche hatte. Ich sah mich schon in der Zeitung unter einer Hecke tot aufgefunden und schleppte mich elend, doch so schnell wie möglich fort, bis ich an einem kleinen Laden vorbeikam, wo, aus der Überschrift zu schließen, Damen- und Herrengarderobe gekauft und der höchste Preis für Lumpen, Knochen und Küchenabfall gezahlt wurde. Der Inhaber des Ladens saß in Hemdsärmeln vor der Tür und rauchte. Viele Röcke und Hosen hingen von der niederen Decke herab, und nur zwei trübe Kerzen erhellten das Innere des Ladens. Der Mann sah aus wie ein Rachegeist, der alle seine Feinde aufgehenkt hat und sich nun in Gemütsruhe ihres Anblicks freut.

Die bei Mr. und Mrs. Micawber erworbne Erfahrung sagte mir, daß sich mir hier ein Mittel bieten könnte, um den Hungertod noch ein wenig hinauszuschieben. Ich ging in das nächste Seitengäßchen, zog meine Weste aus, nahm sie sauber zusammengerollt unter den Arm und kehrte wieder zu der Ladentür zurück.

»Sir«, sagte ich, »ich soll dies um einen anständigen Preis verkaufen.«

Mr. Dolloby – diesen Namen führte das Firmaschild – nahm die Weste, lehnte die Pfeife an den Türpfosten, trat vor mir in den Laden, schneuzte die beiden Lichter mit den Fingern, breitete die Weste auf dem Ladentisch aus und betrachtete sie, hielt sie gegen das Licht und sagte endlich:

»Was nennen Sie denn einen Preis für das kleine Westchen?«

»O, das wissen Sie wohl am besten«, erwiderte ich bescheiden.

»Ich kann nicht Käufer und Verkäufer zugleich sein«, sagte Mr. Dolloby. »Nennen Sie einen Preis.«

»Würden achtzehn Pence –?« sagte ich nach einigem Zögern.

Mr. Dolloby rollte die Weste wieder zusammen und gab sie mir zurück. »Ich würde meine Familie berauben«, sagte er, »wenn ich neun Pence dafür böte.«

Das war eine unangenehme Art zu handeln, weil sie mich – einen ganz Fremden – in die unangenehme Lage versetzte, von Mr. Dolloby zu verlangen, daß er meinetwegen seine Familie berauben sollte.

Da meine Not so groß war, sagte ich, ich wollte neun Pence nehmen.

Nicht ohne Gebrumm gab Mr. Dolloby die neun Pence. Ich wünschte ihm gute Nacht und verließ den Laden reicher um diese Summe und ärmer um eine Weste; aber wenn ich die Jacke zuknöpfte, fühlte ich es nicht sehr.

Ich sah mit ziemlicher Bestimmtheit kommen, daß meine Jacke demnächst würde denselben Weg gehen müssen, und daß ich wohl gezwungen sein würde, den größten Teil meines Wegs nach Dover in Hemd und Hosen zurückzulegen, und mich noch glücklich schätzen dürfte, wenn es mir gelänge, noch in solchem Aufzug hinzukommen. Trotzdem machte ich mir nicht allzuviel daraus.

Es war mir ein Plan eingefallen, wie ich die Nacht verbringen konnte, und ich machte mich daran, ihn zur Ausführung zu bringen. Ich wollte mich hinter die Rückmauer meiner alten Schule in eine Ecke, wo früher ein Heuschober stand, legen. Ich bildete mir ein, es wäre eine Art Gesellschaft, wenn ich die Schüler und das Schlafzimmer, in dem ich immer so viel Geschichten erzählt, in der Nähe wüßte, wenn auch niemand drin etwas von meiner Anwesenheit ahnte.

Ich hatte einen langen Marsch hinter mir und war ganz abgehetzt, als ich endlich auf die Ebene von Blackheath hinauskam. Ich fand nach langer Mühe Salemhaus, fand auch den Heuschober in der Ecke und legte mich nieder, nachdem ich vorher um die Mauer herumgegangen, nach den Fenstern gesehen und alles finster und still gefunden hatte. Nie werde ich das Gefühl von Verlassenheit vergessen, das ich empfand, als ich mich das erstemal ohne ein Dach über meinem Haupt, nur den Himmel über mir, niederlegte.

Aber der Schlaf kam zu mir, wie er zu den Verstoßenen kommt, denen die Haustüren verschlossen sind, und die von den Hunden angebellt werden. Ich träumte, ich läge in meinem alten Schulbett und fand mich einmal aufrecht sitzend mit Steerforths Namen auf der Zunge und wild nach den Sternen starrend, die über mir schimmerten. Als mir dann klargeworden, wo ich mich zu dieser ungewöhnlichen Stunde befand, überlief mich ein merkwürdiges Gefühl, das mich bewog, aufzustehen und herumzugehen. Der mattere Schimmer der Sterne und das Dämmern im Osten beruhigten mich. Da ich noch sehr schläfrig war, legte ich mich wieder hin und schlummerte ein und fühlte im Schlaf, wie kalt es war, bis mich die warmen Strahlen der Sonne und die Frühglocke von Salemhaus weckten. Ich wußte, daß Steerforth fort sein mußte, sonst hätte ich vielleicht auf ihn gewartet. Möglicherweise war Traddles noch da, doch ich hatte nicht genug Vertrauen auf seine Verschwiegenheit, um ihm meine Lage anvertrauen zu können, so sehr ich mich auf sein gutes Herz hätte verlassen dürfen. So schlich ich mich fort von der Mauer, als Mr. Creakles Jungen aufstanden, und schlug die staubige Straße nach Dover ein.

Wie verschieden war dieser Sonntagmorgen von jenem damals in Yarmouth. Ich hörte die Kirchenglocken läuten, als ich mich langsam hinschleppte, begegnete den sonntäglich gekleideten Leuten, kam an eine oder zwei Kirchen vorbei, in denen der Gottesdienst abgehalten wurde, während der Büttel im kühlen Schatten des Eingangs saß oder unter dem Eibenbaum stand und mir mißtrauisch nachsah. Friede und Ruhe des Sonntagmorgens überall, nur nicht in mir. Ich kam mir so verkommen vor in meinem Schmutz, so bestaubt und mit wirrem Haar. Ohne das stille Bild meiner Mutter in Jugend und Schönheit, wie sie weinend beim Feuer sitzt und meine Tante weich wird ihr gegenüber, im Herzen, hätte ich kaum den Mut gehabt, noch bis zum nächsten Tag auszuhalten. Aber es schwebte immer vor mir her, und ich ging hinter ihm drein.

Ich legte an diesem Sonntag dreiundzwanzig englische Meilen auf der Landstraße zurück und es fiel mir nicht leicht, denn ich war das Wandern nicht gewöhnt. Ich sehe mich bei hereinbrechendem Abend über die Brücke von Rochester gehen, müde, mit wunden Füßen und das Brot verzehrend, das ich mir zum Abendessen gekauft. Ein oder zwei kleine Häuser mit der Aufschrift »Nachtquartier für Reisende« hatten mich wohl gelockt, doch ich fürchtete, die paar Pence, die ich noch besaß, auszugeben, und empfand noch mehr Angst vor den verdächtigen Blicken der Strolche, denen ich unterwegs begegnet. Ich suchte mir daher kein anderes Dach als den Himmel, und als ich Chatham erreichte, das bei Nacht aussieht wie ein Traum voll Mauern, Zugbrücken und mastlosen Schiffen mit Verdecken, wie Archen, kroch ich auf eine alte grasbewachsene Schanze, vor der eine Schildwache auf und ab ging. Hier legte ich mich neben eine Kanone und schlief gesund bis zum Morgen, glücklich, von weitem die Schritte der Schildwachen zu hören.

Am nächsten Morgen war ich ganz steif, und das Trommelwirbeln und der Schritt der marschierenden Truppen, die mich ringsum einzuschließen schienen, als ich nach der langen schmalen Straße hinabging, betäubten mich förmlich. Ich fühlte, daß ich diesen Tag nur eine kurze Strecke würde zurücklegen können, wenn ich mir noch etwas Kraft für den letzten Teil meiner Reise aufsparen wollte. Ich beschloß daher vor allem den Verkauf meiner Jacke ins Auge zu fassen. Ich zog also meine Jacke aus, um mich daran zu gewöhnen, ohne sie auszukommen, nahm sie unter den Arm und sah mich nach Trödlerläden um.

Es war ein sehr geeigneter Ort für den Verkauf einer Jacke, denn die »Händler in alten Kleidern« waren sehr zahlreich und schauten in ihren Ladentüren nach Kunden aus. Aber da bei den meisten ein oder zwei Offiziersuniformen mit Epauletten im Ladenfenster hingen, schreckte mich der vornehme Charakter dieser Geschäfte ab, und ich lief lange Zeit herum, ohne jemand meine Ware anzubieten.

Meine Aufmerksamkeit lenkte sich vornehmlich auf die Seemannsläden und solche wie Mr. Dollobys, und endlich fand ich einen, der mir vielversprechend aussah, an der Ecke eines schmutzigen Gäßchens, das an einen eingezäunten grünen Fleck voller Brennesseln stieß. An dem Zaune hingen ein paar alte Matrosenanzüge, einige Hängematten, rostige Flinten und Südwester, und vor dem Laden standen mehrere Mulden mit so viel verrosteten Schlüsseln in allen Größen, daß man sämtliche Türen der Welt hätte damit aufsperren können.

In diesen Laden, der niedrig und klein und eher verdunkelt als erhellt durch ein mit Kleidern verhangenes Fensterchen war, stieg ich mit klopfendem Herzen einige Stufen hinab. Meine Bangigkeit wuchs noch, als ein grauenhafter alter Mann, dessen untere Gesichtshälfte ganz von einem struppigen grauen Bart bedeckt war, aus einer schmutzigen Höhle im Hintergrund hervorstürzte und mich bei den Haaren packte. Es war ein schrecklich anzusehender Mann in einer schmutzigen Flanellweste. Er roch entsetzlich nach Rum. Seine Bettstelle, mit einer zerknüllten und zerlumpten Flickendecke zugedeckt, stand in der Höhle, aus der er herausgekommen war. Durch ein zweites kleines Fenster konnte man noch ein Brennesselfeld und einen lahmen Esel sehen.

»O was brauchst du?« greinte der alte Mann mit einem wilden eintönigen Gewinsel, »Gott über meine Augen und Glieder, was brauchst du? O über meine Lunge und Leber, was brauchst du? O goru, o goru!«

So sehr brachten mich diese Worte und besonders die Wiederholung des letzten mir ganz unbekannten Lautes, der wie ein tiefes Röcheln in seiner Kehle klang, aus der Fassung, daß ich gar nicht antworten konnte. Immer noch hielt mich der alte Mann bei den Haaren und wiederholte:

»O was brauchst du, Gott über meine Augen und Glieder, was brauchst du? O über meine Lunge und Leber, was brauchst du. O goru!« Er röchelte die Worte mit solcher Energie aus sich heraus, daß ihm die Augen aus den Höhlen traten.

»Ich wollte fragen«, sagte ich zitternd, »ob Sie eine Jacke kaufen möchten?«

»O laß die Jacke sehen«, schrie der alte Mann, »o mei Herz brennt wie Feuer. Laß sehen die Jacke. Gott über meine Augen und Glieder, zeig her die Jacke.«

Damit ließen seine zitternden Hände, die den Klauen eines großen Vogels glichen, meine Haare los, und er setzte eine Brille auf, die seine entzündeten Augen durchaus nicht verschönte.

»O wieviel für die Jacke?« schrie er, nachdem er sie genau betrachtet hatte. »O goru, wieviel für die Jacke?«

»Eine halbe Krone«, sagte ich und faßte wieder langsam Mut.

»O über meine Lunge und Leber«, schrie der alte Mann. »Nix! O über meine Augen. Nix! Gott über meine Glieder Nix! Achtzehn Pence! Goru!« Jedesmal wenn er diesen Ausruf hören ließ, quollen seine Augen aus ihren Höhlen, und jeder Satz, den er sprach, hatte eine Art Melodie, immer dieselbe. Sie glich einer Art Windesgeheul, das leise anfängt, ansteigt und abnimmt. Ich kann es mit nichts anderem auf der Welt vergleichen.

»Gut«, sagte ich, froh, den Handel abgeschlossen zu haben, »ich will achtzehn Pence nehmen.«

»Gott über meine Leber!« schrie der alte Mann und warf die Jacke in ein Fach, »raus aus dem Laden. Ach Gott über meine Lunge. Raus aus dem Laden. Ach meine Augen und Glieder! Goru! Kein Geld. Mach mer en Tausch.«

Nie in meinem Leben bin ich so erschrocken gewesen, aber ich sagte schüchtern, daß ich Geld brauchte, und daß mir nichts anderes nützen könnte. Daß ich jedoch seinem Wunsch gemäß draußen daraufwarten wollte und keine Eile hätte. Ich ging also hinaus und setzte mich in eine Ecke in den Schatten. Und ich saß dort so viele Stunden, daß der Schatten Sonnenschein und der Sonnenschein wieder Schatten wurde, und immer noch auf mein Geld warte.

Ich glaube, so einen betrunkenen Verrückten gibt es in diesem Geschäftszweig nicht wieder. Daß er in der Nachbarschaft wohl bekannt war und in dem Ruf stand, sich dem Teufel verkauft zu haben, erfuhr ich bald durch die Gassenjungen, die fortwährend um den Laden herumsprangen, ihm das zubrüllten und ihn aufforderten, sein Gold zu zeigen.

»Du bist gar nicht arm, Charley, wie du dich stellst! Zeig dein Gold her. Zeig das Gold her, für das du dich dem Teufel verkauft hast. Komm doch, s ist in der Matratze eingenäht, Charley! Schneid sie auf und zeig uns das Gold!« Dies und viele Anerbietungen, ihm ein Messer zu leihen, brachten den Trödler dermaßen auf, daß der ganze Tag eine Reihenfolge von Ausfällen seinerseits war, auf die die Jungen stets die Flucht ergriffen. Manchmal hielt er mich in seiner Wut für einen der Jungen und stürzte schäumend auf mich los, als wollte er mich in Stücke reißen. Rechtzeitig besann er sich aber immer wieder und zog sich schleunigst in den Laden zurück und warf sich auf sein Bett, wie ich aus dem Klang seiner Stimme schloß, wenn er in seiner dem Windesgeheul ähnlichen Melodie wie irrsinnig das Lied von Nelsons Tod brüllte, mit einem »O« vor jeder Strophe und unzähligen Gorus dazwischen.

Als wäre das noch nicht schlimm genug für mich, brachten mich die Jungen wegen meiner Geduld und Ausdauer in irgendeine Verbindung mit dem Etablissement, zumal ich nur halb angezogen war, bewarfen mich mit Steinen und mißhandelten mich den ganzen Tag über.

Der alte Mann machte viele Versuche, mich zu bewegen, in einen Tausch einzuwilligen. Einmal kam er mit einer Angelrute heraus, dann mit einer Fiedel, mit einem Schlapphut und endlich mit einer Flöte. Aber ich widerstand allen seinen Angeboten und blieb in Verzweiflung sitzen. Jedesmal flehte ich ihn mit den Tränen in den Augen um mein Geld oder meine Jacke an. Endlich fing er an, mich halbpennyweise zu bezahlen und brauchte so zwei volle Stunden zu einem Schilling.

»O meine Augen und Glieder!« schrie er dann nach einer langen Pause in grauenhafter Art aus dem Laden herausschielend. »Willst du für zwei Pence mehr gehen?«

»Ich kann nicht«, sagte ich, »ich muß verhungern.«

»O meine Lunge und Leber. Willst du für drei Pence gehen?«

»Ich würde umsonst gehen«, sagte ich, »wenn ich könnte. Aber ich brauche das Geld jämmerlich nötig.«

»O go-ru!« Es war ganz unbeschreiblich, wie er dieses letzte Röcheln hervorstieß, als er jetzt hinter der Türpfoste hervorlugte, daß man nur den alten schlauen Kopf sehen konnte. »Willst du für vier Pence gehen?«

Ich war so hungrig und müde, daß ich einwilligte und das Geld nicht ohne Zittern aus seiner Klaue nahm. Dann ging ich kurz vor Sonnenuntergang hungriger und durstiger als ich je gewesen meines Weges. Für drei Pence stärkte ich mich bald vollkommen und hinkte, jetzt besserer Laune, sieben Meilen weiter.

Mein Bett in dieser Nacht war wieder ein Heuschober, ich wusch mir die Füße in einem Bach und verband sie, so gut es ging, mit ein paar kühlenden Blättern. Den nächsten Morgen führte mich der Weg durch Hopfenfelder und Obstanlagen. Die Jahreszeit war schon so weit vorgerückt, daß überall reife Äpfel hingen, und an einigen Orten standen die Pflücker schon bei der Arbeit. Ich fand alles wunderschön und beschloß, die Nacht in dem Hopfengarten zu schlafen. Die langen Reihen von Stangen mit den anmutig sich windenden Blättern kamen mir wie eine gemütliche Gesellschaft vor.

Die Landstreicher schienen an diesem Tage gefährlicher als je und flößten mir einen Schrecken ein, daß ich heute noch daran denken muß. Einige von ihnen, wild aussehende Raufbolde, die mich beim Vorbeigehen anstarrten, blieben manchmal stehen und riefen mir zu, umzukehren, und warfen mir, wenn ich ausriß, Steine nach. Ich erinnere mich noch an einen jungen Burschen, nach seinem Felleisen und Kohlenbecken zu schließen, ein Kesselflicker, der ein Frauenzimmer bei sich hatte. Er stierte mich an und rief mir dann mit so fürchterlicher Stimme nach, zurückzukommen, daß ich stehenblieb und mich umsah.

»Komm her, wenn man dich ruft«, sagte der Kesselflicker, »oder ich schlitze dir deinen jungen Bauch auf.«

Ich hielt es für das beste, umzukehren. Als ich näher kam und den Kesselflicker durch freundliche Blicke zu besänftigen suchte, bemerkte ich, daß das Weib ein blaugeschlagenes Auge hatte.

»Wo gehst du hin«, fragte der Kesselflicker und packte mich mit seiner geschwärzten Hand an der Brust.

»Ich gehe nach Dover.«

»Wo kommst du her?« fragte er weiter und packte mich noch fester.

»Ich komme von London.«

»Was hast du für ein Handwerk? Bist du ein Dieb?«

»N-ein«, sagte ich.

»Nicht? Bei G-? Wenn du mit Ehrlichkeit bei mir prahlen willst«, sagte der Kesselflicker, »haue ich dir das Dach ein!«

Mit seiner freien Hand machte er eine Bewegung, als wollte er mich niederschlagen, und musterte mich dann vom Kopf bis zu den Füßen.

»Hast du Geld für eine Kanne Bier bei dir? Wenn dus hast, heraus damit, bevor ich mirs hole.«

Ich würde es gewiß herausgeholt haben, hätte ich nicht den Blick der Frau bemerkt, die hinter ihm kaum merklich den Kopf schüttelte und ihre Lippen zu einem »Nein« verzog.

»Ich bin sehr arm«, sagte ich mit einem Versuch zu lächeln, »und habe kein Geld.«

»Was soll das heißen?« sagte der Kesselflicker und sah mich so scharf an, daß ich schon fürchtete, er sähe das Geld in meiner Tasche.

»Herr!« stammelte ich.

»Was soll das heißen«, sagte der Kesselflicker, »daß du meines Bruders Seidenhalstuch trägst! Her damit!« und schon hatte er es mir vom Halse gerissen und es der Frau zugeworfen.

Das Weib brach in ein Gelächter aus, als ob sie das für einen Spaß hielte und warf es mir wieder hin und nickte wieder und verzog ihre Lippen zu dem Worte: »Fort.«

Ehe ich noch gehorchen konnte, riß mir der Kesselflicker das Tuch mit solcher Gewalt aus der Hand, daß ich zur Seite flog wie eine Feder. Dann wandte er sich mit einem Fluch zu der Frau und schlug sie zu Boden. Ich sehe sie jetzt noch vor mir, wie sie rücklings auf die Steine hinstürzt und dort liegt, den Hut vom Kopf gerissen und das Haar ganz weiß vom Staub. Wie ich mich aus der Ferne umschaue, sitzt sie am Straßenrand und wischt mit dem Zipfel ihres Schals das Blut aus dem Gesicht, während der Kesselflicker unbekümmert weitergeht.

Dieses Abenteuer entsetzte mich so, daß ich später mich immer versteckte, wenn ich Leute solchen Schlages kommen sah und oft ein Stück zurücklaufen mußte, was meine Reise sehr verlängerte. Aber in diesen und andern Bedrängnissen auf meiner Wanderung hielt mich das Phantasiebild von meiner Tante und meiner Mutter aufrecht. Nie wich es von mir. Ich sah es zwischen den Hopfenstangen, als ich mich niederlegte; es stand bei mir früh am Morgen und blieb bei mir den ganzen Tag.

Es hat sich seitdem für immer mit der sonnig hellen Straße von Canterbury und seinen alten Häusern und Toren und seiner alten grauen Kathedrale in meiner Seele verbunden.

Als ich endlich auf die öden weiten Dünen bei Dover kam, vergoldete es mir den einsamen Anblick der Gegend mit einem Hoffnungsstrahl, und erst, als ich das große Ziel meiner Reise erreicht und am sechsten Tag nach meiner Flucht wirklich den Fuß in die Stadt setzte, wich es von mir. Dann, – seltsam genug, – als ich mit zerrissenen Schuhen, staubig, sonnverbrannt und nur halb bekleidet in der so langersehnten Stadt stand, schien es wie ein Traumgesicht zu verschwinden und ließ mich hilflos und entmutigt allein.

Ich erkundigte mich nach meiner Tante zuerst bei den Schiffern und erhielt die verschiedensten Auskünfte. Der eine sagte, sie wohne auf dem südlichen Leuchtturm und hätte sich dort den Backenbart verbrannt, ein anderer, sie sei an der großen Boje draußen vor dem Hafen angebunden, und man könne sie nur bei Stauwasser besuchen. Ein dritter, daß sie wegen Kinderdiebstahl im Maidstonekerker eingesperrt sei. Ein vierter, sie sei während des letzten Sturms auf einem Besen nach Calais geritten. Die Droschkenkutscher, bei denen ich mich dann erkundigte, waren ebenso spaßig und wenig respektvoll, und die Ladeninhaber, denen mein Aussehen nicht gefiel, antworteten meistens, ohne überhaupt meine Frage anzuhören, sie hätten nichts für mich.

Ich fühlte mich unglücklicher und entmutigter als jemals, seit ich fortgelaufen. Mein Geld war zu Ende, ich hatte nichts mehr zu verkaufen, war hungrig, durstig und erschöpft und schien meinem Ziel ferner zu sein als in London.

Der Morgen war über meinen Nachfragen vergangen, und ich saß auf den Stufen vor einem leeren Laden an einer Straßenecke und ging mit mir zu Rate, ob ich nach den andern Orten, die mir Peggotty geschrieben hatte, wandern sollte, als ein Droschkenkutscher vorbeifuhr und seine Pferdedecke verlor. Ich reichte sie ihm auf den Bock, und etwas Gutmütiges in dem Gesicht des Mannes ermutigte mich, ihn zu fragen, ob er nicht wisse, wo Miss Trotwood wohne. Ich hatte die Frage schon so oft gestellt, daß sie mir fast auf den Lippen erstarb.

»Trotwood?« sagte er. »Laß mal sehen. Ich kenne doch den Namen! Alte Dame?«

»Ja«, sagte ich, »ziemlich.«

»Ziemlich steif im Rücken«, sagte er und setzte sich sehr gerade.

»Ja«, sagte ich, »ich glaube wohl.«

»Trägt einen Strickbeutel? Strickbeutel mit viel Platz drin. Ist mürrisch und fährt einen scharf an?«

Ich ließ den Mut sinken ob dieser Schilderung, die unzweifelhaft auf meine Tante paßte.

»Also hör mal«, sagte er, »wenn du dort hinaufgehst«, er wies mit seiner Peitsche nach dem Hügel, »und rechts hinaufgehst bis zu ein paar Häusern am Meer, kannst du Genaueres über sie erfahren. Ich glaube nicht, daß sie etwas gibt. Da ist ein Penny für dich.«

Ich nahm die Gabe dankbar an und kaufte mir Brot dafür. Ich aß es unterwegs und ging in der Richtung, bis ich an die Häuser kam. Ich trat in einen kleinen Laden und bat, ob man nicht so gut sein wollte, mir zu sagen, wo Miss Trotwood wohne. Ich wendete mich an einen Mann hinter dem Ladentisch, der eine Tüte Reis für ein Mädchen abwog, da drehte sich dieses um.

»Meine Herrschaft? Was willst du bei ihr?«

»Ich möchte mit ihr sprechen, bitte.«

»Das heißt, du willst sie anbetteln«, entgegnete das Mädchen.

»Nein«, sagte ich, »wahrhaftig nicht.« Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich doch eigentlich zu keinem andern Zweck kam, schwieg verwirrt und fühlte, wie ich rot wurde.

Die Zofe meiner Tante, denn das mußte sie wohl sein, legte den Reis in ein kleines Körbchen und verließ den Laden, mit der Weisung, ich solle ihr folgen, wenn ich wissen wolle, wo Miss Trotwood wohne. Ich war so aufgeregt, daß mir die Kniee schlotterten.

Ich folgte dem jungen Mädchen, und wir kamen sehr bald zu einem sehr hübschen Häuschen mit entzückenden Bogenfenstern. Davor lag ein kleiner Garten voll Blumen, sorgfältig gepflegt und herrlich duftend.

»Hier wohnt Miss Trotwood«, sagte das Mädchen. »Jetzt weißt dus. Weiter kann ich dir nichts sagen.«

Mit diesen Worten eilte sie ins Haus, wie um die Verantwortlichkeit für mein Erscheinen abzuschütteln, und ließ mich am Gartentor stehen. Ich sah trostlos auf das Wohnzimmerfenster hin, wo ein halb zurückgezogner Musselinvorhang, ein großer runder grüner Schirm oder Fächer auf dem Fensterbrett, ein kleiner Tisch und ein Armstuhl mich ahnen ließen, daß meine Tante in diesem Augenblick in großer Strenge dort saß.

Meine Schuhe befanden sich in einem kläglichen Zustand. Die Sohlen waren stückweise losgelöst, und das Oberleder, bald hier; bald dort geplatzt, hatte die Form eines Schuhes verloren. Mein Hut; der mir auch als Nachtmütze gedient, war so zerdrückt und verbogen, daß es jede alte stiellose Pfanne auf einem Misthaufen erfolgreich mit ihm aufgenommen hätte. Mein Hemd und meine Hosen, schmutzig und fleckig von Hitze, Tau, Gras und dem kentischen Kalkboden, auf dem ich geschlafen, und außerdem zerrissen, wären imstande gewesen, eine Vogelscheuche in meiner Tante Garten abzugeben.

So stand ich in der Türe. Mein Haar hatte, seit ich London verlassen, weder Kamm noch Bürste gesehen. In Gesicht, an Hals und Händen hatten mich Luft und Sonne dunkelbraun gebrannt. Von Kopf bis zu den Füßen mit Kalk und Staub weiß gepudert, sah ich aus, als ob ich aus einem Kalkofen käme. In diesem Aufzug, und meines Aussehens mir sehr wohl bewußt, sollte ich mich also meiner gestrengen Tante vorstellen.

Die andauernde Ruhe hinter dem Wohnstubenfenster ließ mich schließen, daß sie nicht drinnen sei. Ich wendete meine Augen zu den Fenstern im ersten Stock und sah einen freundlich aussehenden Herrn mit blühendem Gesicht und grauem Haar, der auf komische Weise ein Auge zukniff, mir mehrere Male mit dem Kopf zunickte, mich anlachte und wieder verschwand.

Ich war schon sowieso außer Fassung genug, aber dieses Benehmen raubte mir den letzten Rest von Mut. Ich stand eben im Begriff, mich wieder fortzuschleichen und mir zu überlegen, was am besten zu tun sei, als eine Dame, über ihre Mütze ein Taschentuch gebunden, mit Gartenhandschuhen, einer Gartenschürze und in der Hand ein großes Messer aus dem Hause trat. Ich erkannte in ihr sofort Miss Betsey nach der Art, wie sie aus dem Hause stelzte. Genau so war sie nach der Erzählung meiner Mutter auch in unserm Garten herumstolziert.

»Fort!« sagte Miss Betsey und schüttelte den Kopf und fuhr mit dem Messer durch die Luft, als ob sie ein Kotelett herausschneiden wollte.

»Fort! Keine Jungen hier!«

Ich sah ihr zu, das Herz auf der Zunge, wie sie in eine Ecke des Gartens ging und sich bückte, um etwas auszugraben. Dann, ohne einen Funken Mut in mir, aber mit desto mehr Verzweiflung, trat ich leise ein, stellte mich neben sie und berührte sie mit dem Finger.

»Wenn Sie gestatten würden, Ma’am«, fing ich an.

Sie fuhr zusammen und blickte auf.

»Wenn Sie gestatten würden, Tante!«

»Eh«, rief Miss Betsey mit einem Ton des Erstaunens aus, wie ich nie einen ähnlichen gehört hatte.

»Wenn Sie gestatten würden, Tante, ich bin Ihr Neffe!«

»O Gott!« sagte meine Tante und setzte sich mitten im Gartenweg hin.

»Ich bin David Copperfield aus Blunderstone in Suffolk, wo Sie an dem Abend, als ich geboren wurde, meine liebe Mutter besuchten. Ich bin seit ihrem Tode sehr unglücklich gewesen. Man hat mich vernachlässigt und nichts gelehrt, ich war auf mich selbst angewiesen und wurde zu einer Arbeit verwendet, die gar nicht für mich paßte. Deswegen bin ich fortgelaufen zu Ihnen. Gleich am Anfang wurde ich beraubt und mußte den ganzen Weg zu Fuß gehen und habe in keinem Bett geschlafen, seit ich auf der Reise bin.«

Hier war es mit meiner Fassung zu Ende und mit einer Handbewegung, mit der ich ihre Aufmerksamkeit auf meinen zerlumpten Zustand lenken wollte, als Beweis, was ich gelitten, brach ich in ein bitterliches Weinen aus.

Meine Tante, aus deren Gesicht jeder andere Ausdruck als Verwunderung gewichen war, saß, mich groß anstarrend, auf dem Kiesweg, bis ich zu weinen anfing. Dann stand sie in großer Hast auf, packte mich beim Kragen und schleppte mich in das Wohnzimmer. Ihr erstes war hier, einen hohen Schrank aufzuschließen, verschiedene Flaschen herauszunehmen und mir aus jeder etwas in den Mund zu gießen. Sie muß blind drauflos gegriffen haben, denn ich weiß gewiß, daß ich Aniswasser, Anchovissauce und Salatessig geschmeckt habe. Als ich selbst nach dem Genuß dieser Stärkungsmittel noch immer ganz außer Fassung war und von Schluchzen geschüttelt wurde, legte sie mich auf das Sofa, steckte mir einen Schal unter den Kopf, das Taschentuch von ihrem Kopf unter meine Füße, damit ich nicht den Überzug beschmutzen konnte, und setzte sich hinter den bereits erwähnten grünen Schirm. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, ich hörte nur, wie sie von Zeit zu Zeit einige »Gott sei uns gnädig!« wie Flintenschüsse hervorstieß.

Nach einer Weile klingelte sie.

»Janet«, sagte sie, als das Mädchen hereinkam. »Geh hinauf, empfiehl mich Mr. Dick und sage ihm, ich möchte ihn gerne sprechen.«

Janet machte erstaunte Augen, als sie mich ganz steif auf dem Sofa liegen sah, denn ich getraute mich nicht, eine Bewegung zu machen, um nicht meine Tante zu erzürnen, – und ging dann hinaus, um ihren Auftrag auszuführen. Meine Tante marschierte, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab, bis der Herr, der mich aus dem obern Fenster angezwinkert hatte, lachend hereintrat.

»Mr. Dick«, sagte meine Tante, »seien Sie jetzt kein Narr. Niemand kann gescheiter sein als Sie, wenn Sie wollen. Also bitte, nur so vernünftig wie möglich!«

Der Gentleman machte sogleich ein ernstes Gesicht und sah mich an, als wollte er mich bitten, nur ja nichts von der Szene vorhin am Fenster zu verraten.

»Mr. Dick«, fuhr meine Tante fort, »Sie haben mich einmal David Copperfield erwähnen hören. Tun Sie jetzt nicht, als ob Sie kein Gedächtnis hätten, denn Sie und ich wissen das besser.

»David Copperfield«, sagte Mr. Dick, der sich meiner trotzdem nicht zu erinnern schien, » David Copperfield? Ach ja, richtig. David. Stimmt.«

»Also«, sagte meine Tante, »dies ist sein Sohn. Er wäre seinem Vater so ähnlich wie möglich, wenn er nicht seiner Mutter so gliche.«

»Sein Sohn«, sagte Mr. Dick, »Davids Sohn? Wirklich?«

»Ja«, fuhr meine Tante fort, »er hat hübsche Sachen angestellt. Er ist davongelaufen. Ach, seine Schwester, Betsey Trotwood, wäre nie davongelaufen.«

Meine Tante schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf voll Vertrauen auf den Charakter und das Betragen des Mädchens, das nie geboren worden war.

»O Sie glauben, sie wäre nie davongelaufen?« sagte Mr. Dick.

»Ach Gott, der Mann!« rief meine Tante ärgerlich. »Was er wieder redet. Ich weiß doch, daß sie es nie getan haben würde, sie würde mit ihrer Patin beisammen gewesen sein, und wir hätten einander sehr lieb gehabt. Von wo, zum Kuckuck, hätte seine Schwester, Betsey Trotwood, fortlaufen sollen und wohin denn?«

»Nirgends«, sagte Mr. Dick.

»No also«, erwiderte meine Tante, durch die Antwort besänftigt.

»Wie können Sie so zerstreut sein, Dick, wo Ihr Verstand so scharf ist wie die Lanzette eines Chirurgen. Jetzt sehen Sie hier den jungen David Copperfield, und die Frage, die ich Ihnen vorlege, ist, was soll ich mit ihm anfangen?«

»Was Sie mit ihm anfangen sollen«, fragte Mr. Dick verlegen und kratzte sich hinter den Ohren. »Anfangen sollen?«

»Ja«, sagte meine Tante mit einem ernsten Blick und den Zeigefinger in die Höhe haltend. »Ich brauche einen vernünftigen Rat.«

»Hm, wie wäre es«, sagte Mr. Dick nachdenklich und mich mit leerem Blick ansehend, »ich würde –« mein Anblick schien ihm plötzlich einen Gedanken einzuflößen – und er ergänzte rasch: »ich würde ihn waschen.«

»Janet«, sagte meine Tante und drehte sich mit einem stillen Triumph, den ich damals noch nicht verstand, um: »Mr. Dick hat immer recht. Heize das Bad.«

Obgleich ich das größte Interesse an dem Gespräch hatte, konnte ich mich doch nicht enthalten, während desselben meine Tante, Mr. Dick und Janet genau zu beobachten und mich im Zimmer umzusehen.

Meine Tante war eine große Dame mit strengen Zügen, aber durchaus nicht bös aussehend. Es lag eine Unbeugsamkeit in ihrem Gesicht, in ihrer Stimme, ihrem Anzug und in ihrer Haltung, daß ich mir den Eindruck erklären konnte, den sie auf ein so sanftes Geschöpf, wie meine Mutter gewesen, gemacht hatte. Aber ihre Züge schienen eher hübsch als häßlich, wenn auch hart und streng; besonders fiel mir ihr lebhaftes blitzendes Auge auf. Ihr Haar, schon ziemlich ergraut, war unter einer unter dem Kinn zugebundnen Art Nachtmütze in zwei gleiche Teile geteilt. Ihr Kleid, lavendelfarbig und äußerst sauber, war knapp geschnitten, als wünschte sie so wenig wie möglich von ihm behindert zu sein. Es schien mir eigentlich ein Reitkleid zu sein, von dem man die Schleppe abgeschnitten hatte. Sie trug an der Seite eine goldne Herrenuhr, nach Form und Größe zu schließen und der Kette und den Siegeln daran, um den Hals einen Leinenstreifen wie einen Hemdkragen und an den Handgelenken Dinger wie Manschetten.

Mr. Dick hatte graues Haar und ein blühendes Gesicht, wie bereits erwähnt. Den Kopf trug er sonderbar gebeugt, aber nicht wegen des Alters, und seine großen Augen standen weit hervor und hatten einen eigentümlichen wässerigen Glanz, was mich zusammen mit seinem zerstreuten Wesen, seiner Unterwürfigkeit gegen meine Tante und seiner kindischen Freude, wenn sie ihn lobte, auf den Gedanken brachte, er müsse ein wenig verrückt sein, obgleich ich mir dann nicht erklären konnte, wie er hierher kam. Er war wie ein schlichter Gentleman mit weitem grauem Morgenrock, Weste und weißen Hosen bekleidet, trug seine Uhr und sein Geld lose in der Tasche und klimperte damit, als ob er sehr stolz darauf wäre.

Janet, ein hübsches frisches Mädchen, etwa neunzehn oder zwanzig Jahre alt, schien ein wahres Muster von Nettigkeit zu sein. Später erfuhr ich, daß sie eine aus der Reihe der weiblichen Schützlinge war, die meine Tante nach und nach mit der Absicht in Dienst genommen, Männerfeindinnen aus ihnen zu machen, die aber am Schluß gewöhnlich Bäcker geheiratet hatten.

Das Zimmer sah ebenso sauber aus wie Janet und meine Tante. Wenn ich nur einen Augenblick daran denke, rieche ich wieder die Seeluft, vermischt mit dem Dufte der Blumen, sehe die altmodischen und glänzend polierten Möbel meiner Tante, ihren geweihten Tisch und Stuhl, den großen runden Schirm im Bogenfenster stehen, den mit Läufern bedeckten Teppich, die Katze, den Kesselständer, die zwei Kanarienvögel, die Punschbowle, gefüllt mit trocknen Rosenblättern, den hohen Schrank mit seinen Flaschen und Töpfen und wundervoll gegen alles abstechend mein staubiges Ich auf dem Sofa.

Janet war fortgegangen, um das Bad zu heizen, als zu meinem größten Schrecken meine Tante plötzlich ganz starr vor Entrüstung wurde und nach Luft schnappend aufschrie:

»Janet! Esel!«

Sofort kam Janet die Treppe heraufgesprungen, als ob das Haus in Flammen stünde, stürzte auf einen kleinen Rasenfleck vor dem Haus hinaus und verscheuchte zwei von Damen gerittene Esel, die gewagt hatten, ihre Hufe auf den Rasen zu setzen, während meine Tante ihr auf dem Fuß folgte, den Zaum eines dritten Esels, auf dem ein Kind saß, ergriff, das Tier umdrehte, es zur Seite zog und dem unglücklichen Jungen, der den Esel geführt und die heilige Stelle zu entweihen sich unterstanden hatte, eins hinter die Ohren gab. Bis heute weiß ich nicht, ob meine Tante ein Recht auf diesen Rasenflecken besaß, aber jedenfalls hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, und das genügte ihr. Es war in ihren Augen eine große Untat, die nach beständiger Ahndung verlangte, wenn ein Esel diesen jungfräulichen Fleck betrat. Mochte sie in welcher Beschäftigung immer begriffen und die Unterhaltung noch so interessant sein, der Anblick eines Esels gab dem Gang ihrer Gedanken sofort eine andere Richtung und unverzüglich stürzte sie auf ihn los. Krüge voll Wasser und Töpfe standen an geheimen Plätzen bereit, um die Führer der Esel zu begießen, Stöcke lauerten hinter den Türen, Ausfälle wurden zu allen Stunden gemacht und ununterbrochen wütete der Krieg. Vielleicht war alles das eine angenehme Unterhaltung für die Jungen, und wahrscheinlich machte es den Klügern unter den Eseln, die die Sache durchschauten, in der ihnen eignen Hartnäckigkeit eine besondere Freude, gerade deshalb diesen Weg zu betreten.

Dreimal, ehe das Bad fertig war, wurde Lärm geschlagen und beim letzten und verzweifeltsten geriet meine Tante in ein Gefecht mit einem fünfzehnjährigen Burschen mit sandgelbem Haar, den sie mit dem Kopf an die Gartentür stoßen mußte, ehe er zu begreifen schien, worum es sich handelte. Diese Unterbrechungen kamen mir um so lächerlicher vor, als sie mir gerade Fleischbrühe einflößte, – sie hatte sich offenbar eingeredet, ich stünde dicht vor dem Hungertode und dürfte anfangs nur in kleinen Quantitäten Nahrung zu mir nehmen. In Erwartung des Löffels hielt ich noch den Mund offen, da legte sie das Besteck auf den Teller, rief: »Janet! Esel!« und eilte hinaus zum Kampfe.

Das Bad war eine wahre Erquickung für mich. Das Schlafen im Freien hatte mir Gliederschmerzen gemacht, und ich fühlte mich so matt, daß ich kaum fünf Minuten hintereinander wach bleiben konnte. Als ich mich gebadet, zog ich, das heißt, sie zogen mir – nämlich meine Tante und Janet – ein Hemd und ein Paar Hosen Mr. Dicks an und wickelten mich in zwei oder drei große Schals. Ich sah wie ein Paket aus und es war mir schrecklich heiß. Da mich überdies ein Gefühl von Mattigkeit und Schläfrigkeit überwältigte, schlummerte ich bald auf dem Sofa ein. Vielleicht träumte ich wieder von dem Bilde; ich erwachte mit der Vorstellung, daß meine Tante sich über mich gebeugt, mir das Haar aus dem Gesicht gestrichen, meinen Kopf bequemer gelegt und mich dann lange betrachtet hätte. Die Worte »hübscher Junge« oder »armer Junge« schienen mir auch noch in den Ohren zu klingen, aber sonst war bei meinem Erwachen nichts da, das mich hätte glauben machen können, meine Tante hätte gesprochen, denn sie saß unbeweglich am Bogenfenster und blickte hinter dem grünen Schirm hervor aufs Meer hinaus. Wir aßen, bald nachdem ich erwacht war, zu Mittag. Ein gebratenes Huhn und ein Pudding kamen auf den Tisch; ich selbst sah auch aus wie ein tranchierter Vogel und konnte meine Arme nur mit großer Schwierigkeit bewegen. Aber da meine Tante mich selbst eingewickelt hatte, durfte ich mich doch nicht beklagen! Die ganze Zeit über lag es mir sehr am Herzen, zu erfahren, was sie mit mir anzufangen gedenke. Aber sie nahm ihre Mahlzeit in tiefstem Schweigen ein, nur manchmal sah sie mich an und rief aus »Gott erbarme sich unser!« Und das war gar nicht geeignet, meine Besorgnisse zu verscheuchen.

Nachdem das Tischtuch entfernt war, kam Sherry, und ich erhielt auch ein Glas. Meine Tante schickte wieder nach Mr. Dick, der uns dann Gesellschaft leistete und so klug dreinsah, wie er nur konnte, als sie ihn aufforderte, meiner Geschichte zuzuhören, die sie durch eine Reihe von Fragen aus mir herauslockte. Während meiner Erzählung wandte sie kein Auge von Mr. Dick, der, wie ich glaube, sonst eingeschlafen wäre. Wenn er sich verleiten ließ, zu lächeln, wies ihn ein Stirnrunzeln meiner Tante in seine Schranken zurück.

»Was nur dem armen unglücklichen Baby eingefallen sein muß, daß sie noch einmal heiratete«, sagte meine Tante, als ich fertig war. »Ich kann es nicht begreifen.«

»Vielleicht hat sie sich in ihren zweiten Mann verliebt«, meinte Mr. Dick.

»Verliebt?« wiederholte meine Tante. »Was reden Sie da? Zu welchem Zweck?«

»Vielleicht«, simpelte Mr. Dick, nachdem er ein wenig nachgedacht, »vielleicht tat sie es zu ihrem Vergnügen.«

»Zu ihrem Vergnügen! Natürlich! Ein Mordsvergnügen für das arme Baby, ihr schlichtes Herz einem Schweinehund zu schenken, der sie in jeder Art enttäuschte. Was hat sie sich eigentlich dabei gedacht, möchte ich gern wissen? Sie hatte doch schon einen Mann gehabt, hatte David Copperfield begraben, der von Kindheit an Wachspuppen nachlief, besaß ein Kind – was brauchte sie mehr?«

Mr. Dick schüttelte geheimnisvoll den Kopf, als könne er sich über diesen Punkt nicht klarwerden.

»Sie brachte es nicht einmal fertig, ein Kind zu kriegen wie andere Leute«, sagte meine Tante. »Wo ist dieses Kindes Schwester Betsey Trotwood geblieben? Kam einfach nicht! Reden Sie nichts!«

Mr. Dick schien ganz erschrocken zu sein.

»Der kleine Doktor mit dem seitwärts geneigten Kopf, Jellips oder wie er sonst hieß, wozu war er denn da? Er konnte nichts, als wie ein Rotkehlchen, das er übrigens ist, sagen: ’s ist ein Knabe. Ein Knabe! Ha, über die Dummheit dieses ganzen Geschlechts!«

Über die Heftigkeit dieses Ausrufs erschrak Mr. Dick außerordentlich und, wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich ebenfalls.

»Und dann, noch nicht genug damit, und als ob sie dieses Kindes Schwester Betsey Trotwood noch nicht genügend im Licht gestanden hätte«, sagte meine Tante, »heiratet sie zum zweiten Mal, geht hin und heiratet einen Mörder – oder so etwas dergleichen – und steht diesem Kind auch noch im Licht. Die natürliche Folge ist, was jeder, bloß ein Baby nicht, hätte voraussehen können, daß der Junge herumvagabundiert. Er ist, noch bevor er aufwächst, einem Kain so ähnlich wie möglich.«

Mr. Dick sah mich hart an.

»Und dann ist das Frauenzimmer mit dem heidnischen Namen da«, sagte meine Tante, »die muß natürlich auch heiraten. Weil sie noch nicht genug von dem Unglück gesehen hat, das bei so etwas herauskommen muß. Sie heiratet auch, wie das Kind erzählt. Ich hoffe bloß, meine Tante schüttelte den Kopf, – daß ihr Gatte einer von der Prügelsorte ist, von denen man immer in der Zeitung liest, und sie ordentlich verhaut.«

Das konnte ich von meiner alten Kindsfrau nicht mit anhören und versicherte meiner Tante, daß sie sich bestimmt irre, Peggotty sei die beste, treueste, hingehendste und aufopferndste Freundin und Dienerin von der Welt. Ich sagte, daß sie immer mich und meine Mutter von Herzen geliebt, – meiner Mutter sterbendes Haupt gestützt habe, und daß meine Mutter ihren letzten dankbaren Kuß auf ihr Gesicht drückte. Und da mich die Erinnerung an die beiden so sehr erschütterte, konnte ich nicht ausreden und erzählen, wie Peggottys Haus auch mein Haus sei, daß alles, was sie besäße, mein sei, und daß ich nur mit Rücksicht auf ihre bescheidene Stellung und aus Furcht, ihr Ungelegenheiten zu machen, nicht bei ihr Schutz gesucht habe. Tränen erstickten meine Stimme, und ich legte mein Gesicht auf den Tisch.

»Schon gut, schon gut«, sagte meine Tante, »das Kind hat ganz recht, wenn es zu denen hält, die ihm beigestanden haben. – Janet! Esel!«

Ich bin überzeugt, ohne das Dazwischentreten dieser unglückseligen Esel wären wir jetzt zu einer Aussprache gekommen, denn meine Tante hatte mir die Hand auf die Schultern gelegt, und ich war eben im Begriffe, dadurch ermutigt, sie zu umarmen und ihren Schutz anzuflehen. Aber die Unterbrechung und die Aufregung, in die sie durch den Kampf draußen geriet, machten vorderhand allen sanfteren Gefühlen ein Ende und veranlaßten meine Tante, sich in höchster Entrüstung gegen Mr. Dick über ihren Entschluß auszulassen, bei den Landesgesetzen Hilfe zu suchen und sämtliche Eselseigentümer von Dover zu verklagen.

Nach dem Tee setzten wir uns ans Fenster, – wie ich aus dem gespannten Gesicht meiner Tante schloß – um auf neue Eindringlinge zu lauern. Dann als es dämmrig wurde, brachte Janet Lichter und ein Pochbrett und ließ die Vorhänge herunter.

»Jetzt, Mr. Dick«, sagte meine Tante mit ernstem Blick und emporgehobenem Zeigefinger, »will ich Ihnen eine andere Frage vorlegen. Sehen Sie das Kind an.«

»Davids Sohn?« fragte Mr. Dick mit aufmerksamem und bestürztem Gesicht.

»Ganz richtig«, entgegnete meine Tante, »Davids Sohn. Was würden Sie jetzt mit ihm machen?«

»Mit Davids Sohn machen?« fragte Mr. Dick.

»Ja«, erwiderte meine Tante, »mit Davids Sohn.«

»O«, sagte Mr. Dick. »Ja. Mit ihm machen – ich würde ihn zu Bett bringen.«

»Janet!« rief meine Tante mit derselben triumphierenden Miene, die ich schon einmal an ihr entdeckt hatte. »Mr. Dick rät uns immer das beste. Wenn das Bett fertig ist, wollen wir David hinaufbringen.« Auf Janets Äußerung, daß alles bereit sei, wurde ich hinaufgeführt, freundlich, aber wie eine Art Gefangener. Meine Tante ging voraus, und Janet beschloß den Zug.

Der einzige Umstand, der mir Hoffnung einflößte, war, daß Janet auf die Frage meiner Tante, woher plötzlich so ein brandiger Geruch komme, antwortete, sie habe unten in der Küche aus meinem Hemd Zunder gebrannt. Überdies lagen in meinem Zimmer sonst keine Kleider außer den verrückten Sachen, in die man mich eingewickelt hatte. Als man mich mit einer kleinen Kerze, die, wie mir meine Tante sagte, genau fünf Minuten brennen würde und nicht länger, allein gelassen, hörte ich, wie sie draußen die Türe zuschlossen. Ich dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß meine Tante mich wahrscheinlich im Verdacht hatte, es sei eine üble Gewohnheit von mir, davonzulaufen, und dagegen Vorkehrungen traf.

Das Zimmer, außerordentlich freundlich, lag oben im Hause mit der Aussicht auf das Meer hinaus, auf das der Mond jetzt glänzend schien. Ich sagte mein Nachtgebet her und blieb, als die Kerze ausgebrannt war, noch sitzen und blickte auf das mondbeschienene Wasser hin, als könnte ich darin mein Schicksal lesen oder meine Mutter mit ihrem Kind auf den Lichtstrahlen vom Himmel herabsteigen und mich mit ihrem lieblichen Antlitz, wie einst, anblicken sehen.

Das feierliche Gefühl wich allmählich einer Empfindung der Dankbarkeit und der Ruhe, die mir der Anblick des weißverhangenen Bettes und vielmehr noch die Rast in dem weißen Pfühl mit den schneeweißen Leinen einflößte. Ich erinnere mich, daß ich an alle die einsamen Orte dachte, wo ich unter dem Nachthimmel geschlafen, und betete, Gott möge mich nie wieder obdachlos werden und nie der Obdachlosen vergessen lassen. Ich erinnere mich, wie ich dann auf dem silbernen Dämmerschimmer des Mondlichtes in die Welt der Träume hinüberglitt.

1. Kapitel Ich komme zur Welt


1. Kapitel Ich komme zur Welt

Ob ich mich in diesem Buche zum Helden meiner eignen Leidensgeschichte entwickeln werde oder ob jemand anders diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen.

Um mit dem Beginn meines Lebens anzufangen, bemerke ich, daß ich, wie man mir mitgeteilt hat und wie ich auch glaube, an einem Freitag um Mitternacht zur Welt kam. Es heißt, daß die Uhr zu schlagen begann, gerade als ich zu schreien anfing.

Was den Tag und die Stunde meiner Geburt betrifft, so behaupteten die Kindsfrau und einige weise Frauen in der Nachbarschaft, die schon Monate zuvor, ehe wir noch einander persönlich vorgestellt werden konnten, eine lebhafte Teilnahme für mich gezeigt hatten,

erstens: Daß es mir vorausbestimmt sei, nie im Leben Glück zu haben, und

zweitens: Daß ich die Gabe besitzen würde, Geister und Gespenster sehen zu können. Wie sie glaubten, hingen diese beiden Eigenschaften unvermeidlich all den unglücklichen Kindern beiderlei Geschlechts an, die in der Mitternachtsstunde eines Freitags geboren sind.

Über den ersten Punkt brauche ich nichts weiter zu sagen, weil ja meine Geschichte am besten zeigen wird, ob er eingetroffen ist oder nicht.

Was den zweiten anbelangt, will ich nur feststellen, daß ich bisher noch nichts bemerkt habe. – Vielleicht habe ich schon als ganz kleines Kind diesen Teil meiner Erbschaft angetreten und aufgebraucht. Ich beklage mich auch durchaus nicht, falls mir diese schöne Gabe vorenthalten bleiben sollte. Und wenn sich irgend jemand anders ihrer vielleicht bemächtigt hat, mag er sie in Gottesnamen behalten.

Ich kam in einem Hautnetz zur Welt, das später um den niedrigen Preis von fünfzehn Guineen in den Zeitungen zum Verkauf ausgeschrieben wurde. Ob damals die Seereisenden gerade knapp bei Kasse waren oder schwach im Glauben und daher Korkjacken vorzogen, weiß ich nicht; ich weiß bloß so viel, daß nur ein einziges Angebot einlief, und zwar von einem Anwalt, der zugleich Wechselagent war und zwei Pfund bar und den Rest in Sherry geben wollte und es entschieden ablehnte, um einen höhern Preis diese Garantie gegen das Ertrinken zu erwerben. Die Annonce wurde zurückgezogen – denn was Sherry anbelangte, so wurde meiner armen lieben Mutter eigner Sherry gerade damals versteigert.

Das Hautnetz wurde zehn Jahre später in unserer Gegend in einer Lotterie unter fünfzig Personen ausgeknobelt; je fünfzig Bewerber zahlten eine halbe Krone per Kopf, und der Gewinner hatte noch fünf Schillinge daraufzulegen. Ich selbst war gegenwärtig und erinnere mich, wie unbehaglich und verlegen mir zu Mute war, als ein Teil meines eignen Selbsts auf diese Weise veräußert wurde. Ich weiß noch, daß eine alte Dame mit einem Handkorb das Netz gewann und die ausgemachten fünf Schillinge in lauter Halfpennystücken zögernd herausholte.

Es fehlten damals noch zwei und ein halber Penny, was man ihr nur mit einem großen Aufwand an Zeit und Arithmetik begreiflich machen konnte. Tatsache ist, daß die alte Dame wirklich nie ertrank, sondern triumphierend im Bette starb; zweiundneunzig Jahre alt.

Ich ließ mir erzählen, daß sie sich bis an ihr Ende außerordentlich damit brüstete, in ihrem ganzen Leben niemals auf dem Wasser gewesen zu sein, höchstens auf einer Brücke, und daß sie bei ihrem Tee, dem sie sehr zugetan war, stets ihre Entrüstung über die Gottlosigkeit der Seeleute aussprach, die sich auf dem Meere »herumtrieben«.

Es war vergebens, ihr vorzustellen, wie viele Annehmlichkeiten wir, den Tee zum Beispiel mit inbegriffen, dieser Unsitte verdanken. Stets erwiderte sie mit noch größerm Nachdruck und mit instinktivem Bewußtsein von der Gewalt ihres Einwandes: »Man hat sich trotzdem nicht herumzutreiben.«

Um mich aber nicht selbst herumzutreiben und abzuschweifen, will ich wieder zu meiner Geburt zurückkehren.

Ich erblickte in Blunderstone in Suffolk oder daherum, wie man in Schottland sagt, das Licht der Welt. Ich bin ein nachgebornes Kind. Meines Vaters Augen schlossen sich sechs Monate früher, als die meinigen sich öffneten.

Es liegt etwas Seltsames für mich in dem Gedanken, daß mein Vater mich niemals gesehen hat, und noch Seltsameres in der schattenhaften Erinnerung aus meiner ersten Kinderzeit an den weißen Grabstein auf dem Kirchhof. Ich empfand unsäglichen Kummer, daß er dort draußen allein liegen mußte in der dunklen Nacht, während unser kleines Wohnzimmer warm und hell war von Feuer und Licht und das Tor unseres Hauses – fast grausam kam es mir manchmal vor – für ihn verriegelt und verschlossen.

Eine Tante meines Vaters, folglich eine Großtante von mir, von der ich bald mehr zu erzählen haben werde, galt als die angesehenste Person in unserer Familie. Miss Trotwood oder Miss Betsey, wie meine arme Mutter sie immer nannte, wenn sie ihre Angst vor dieser schrecklichen Persönlichkeit so weit überwand, sie überhaupt zu erwähnen, war verheiratet gewesen mit einem Manne, der jünger als sie selbst und sehr hübsch war. Allerdings nicht in dem Sinn des Sprichworts, »hübsch ist, wer sich hübsch beträgt«, – denn er stand stark in dem Verdacht, daß er Miss Betsey durchzuprügeln pflegte und einmal sogar wegen einer strittigen Unterstützungsfrage schnelle, aber entschlossene Vorbereitungen getroffen hätte, sie aus einem Fenster im zweiten Stock hinauszuwerfen.

Diese offenkundigen Beweise unverträglicher Gemütsart bewogen schließlich Miss Betsey, ihn mit Geld abzufertigen und eine Scheidung auf gegenseitige Übereinkunft durchzusetzen.

Er ging mit dem Kapital nach Indien und wurde dort nach einer wilden Legende in unserer Familie einmal auf einem Elefanten reiten gesehen in Gesellschaft eines Babu. Es wird wohl ein Pavian gewesen sein – oder eine Begum! Wie dem auch sei, ehe zehn Jahre um waren, kam aus Indien die Kunde von seinem Tod.

Wie meine Tante es aufgenommen hat, weiß niemand. Gleich nach der Scheidung nahm sie ihren Mädchennamen wieder an, kaufte sich ein Häuschen in einem Weiler weit draußen an der Seeküste und lebte dort mit einer einzigen Dienerin in unerbittlicher Zurückgezogenheit.

Mein Vater mußte einst ihr Liebling gewesen sein, aber seine Heirat hatte sie tödlich beleidigt, da meine Mutter nach ihrer Ansicht nur eine »Wachspuppe« war. Sie hatte meine Mutter wohl nie gesehen, wußte aber, daß sie sehr jung war – noch nicht zwanzig.

Mein Vater und Miss Betsey sahen einander nie wieder. Er war doppelt so alt als meine Mutter, als er sie heiratete, und von zarter Gesundheit. Ein Jahr darauf starb er; wie ich schon gesagt habe, sechs Monate, ehe ich zur Welt kam.

So lagen die Dinge an jenem, wie ich wohl sagen darf, ereignisvollen und wichtigen Freitag. Ich weiß natürlich über sie nichts aus eigner Anschauung und stütze meine Erinnerungen auch nicht auf eigne Sinneswahrnehmung.

Meine Mutter saß am Feuer, körperlich schwach und geistig sehr niedergedrückt, schaute, die Augen voll Tränen, in das Feuer und sann trübe nach über das Schicksal des vor der Geburt verwaisten Kindes, dessen Ankunft binnen kurzem erwartet wurde, und über ihre eigene Zukunft.

Es war ein heller, windiger Herbstnachmittag, und sie saß betrübt und niedergeschlagen da und von bangen Zweifeln erfüllt, ob sie wohl glücklich die zu erwartende schwere Stunde überstehen werde, als sie, ihre Augen trocknend, aufblickte und durch das gegenüberliegende Fenster eine fremde Dame in den Garten hereinkommen sah.

Beim zweiten Blick hatte meine Mutter schon die sichere Ahnung, daß es Miss Betsey wäre. Die untergehende Sonne schien über den Gartenzaun auf die fremde Dame, und diese schritt auf die Türe zu mit einer so unbeugsamen Strenge in Gesicht und Haltung, daß es niemand anders sein konnte.

Als sie das Haus erreichte, lieferte sie noch einen andern Beweis ihrer Identität. Mein Vater hatte oft erwähnt, daß sie sich selten wie ein gewöhnlicher Christenmensch benehme; und nun trat sie wirklich, anstatt die Glocke zu ziehen, an das nächste Fenster und drückte ihre Nase mit solcher Energie gegen das Glas, daß diese im Augenblick ganz platt und weiß wurde, wie meine Mutter oft erzählte.

Sie bekam darüber einen solchen Schrecken, daß ich es meiner Überzeugung nach nur Miss Betsey zu danken habe, wenn ich an einem Freitag zur Welt kam.

Meine Mutter war in ihrer Aufregung aufgestanden und hinter den Stuhl in eine Ecke getreten. Miss Betsey sah sich durch die Scheiben langsam und forschend im Zimmer um, wobei sie am andern Ende der Stube anfing, und wendete automatenhaft wie ein Türkenkopf auf einer Schwarzwälderwanduhr das Gesicht, bis ihre Blicke auf meiner Mutter haften blieben. Dann zog sie die Brauen zusammen und winkte wie jemand, der zu befehlen gewohnt ist, daß man ihr die Türe aufmachen solle. Meine Mutter gehorchte.

»Mrs. David Copperfield vermutlich«, sagte Miss Betsey mit einer Emphase, die sich wahrscheinlich auf die Trauerkleider meiner Mutter und auf ihren Zustand bezog.

»Ja«, antwortete meine Mutter schüchtern.

»Haben Sie schon von Miss Trotwood gehört?« fragte die Dame.

Meine Mutter entgegnete, sie habe das Vergnügen gehabt, hatte aber dabei das unangenehme Gefühl, nicht darnach auszusehen, als ob es ein überwältigendes Vergnügen gewesen wäre.

»Jetzt steht sie vor Ihnen«, sagte Miss Betsey. Meine Mutter verbeugte sich und bat die Dame, einzutreten.

Sie gingen in das Wohnzimmer, aus dem meine Mutter gekommen, denn das Besuchzimmer auf der andern Seite des Ganges war nicht geheizt und nicht geheizt gewesen seit meines Vaters Leichenbegängnis. Als sie beide Platz genommen hatten, Miss Betsey aber nichts sprach, fing meine Mutter, nach einem vergeblichen Bemühen sich zu fassen, zu weinen an.

»O still, still, still!« sagte Miss Betsey hastig. »Nur das nicht. Laß das, laß das!«

Meine Mutter aber konnte sich nicht helfen, und ihre Tränen flossen, bis sie sich ausgeweint hatte.

»Nimm deine Haube ab, Kind«, sagte Miss Betsey, »damit ich dich sehen kann.«

Meine Mutter war viel zu sehr eingeschüchtert, um dieses seltsame Verlangen abzuschlagen, selbst wenn sie gewollt hätte. Daher entsprach sie dem Wunsche und tat es mit so zitternden Händen, daß ihr Haar, das sehr reich und schön war, sich löste und auf ihre Schultern herabfiel.

»Gott bewahre!« rief Miss Betsey, »du bist ja noch ein wahres Wickelkind.«

Allerdings sah meine Mutter selbst für ihre Jahre noch sehr jugendlich aus. Sie ließ den Kopf hängen, als ob es ihre Schuld wäre, und sagte schluchzend, daß sie auch fürchte, sie sei ein wahres Kind von einer Witwe und werde auch ein Kind von einer Mutter sein, wenn sie am Leben bliebe.

In der kurzen Pause, die darauf folgte, kam es ihr fast vor, als ob Miss Betsey ihr Haar berührte, und zwar nicht mit unsanfter Hand; aber wie sie schüchtern hoffend aufblickte, hatte sich die Dame mit aufgeschürztem Kleid bereits hingesetzt, die Hände über ein Knie gefaltet, die Füße auf das Kamingitter gestützt, und starrte grimmig ins Feuer.

»Um Gotteswillen?« fragte Miss Betsey plötzlich. »Warum eigentlich Krähenhorst?«

»Sie meinen das Haus, Madame?«

»Warum Krähenhorst?« fragte Miss Betsey. »Hühnerhof wäre passender gewesen, wenn ihr beide einen Begriff vom praktischen Leben gehabt hättet.«

»Mr. Copperfield hat ihm den Namen gegeben«, erwiderte meine Mutter. »Als er das Haus kaufte, meinte er, es müßte hübsch sein, wenn Krähen darin nisten würden.«

Der Abendwind fegte in diesem Augenblick so gewaltig durch die alten hohen Ulmen im Garten, daß sowohl meine Mutter wie Miss Betsey unwillkürlich hinaussahen. Als sich die Bäume zueinander neigten wie Riesen, die sich Geheimnisse zuflüsterten, und gleich darauf in heftige Bewegung gerieten und mit ihren zackigen Armen wild in der Luft herumfuhren, als ob diese Geheimnisse zu gräßlich für ihre Seelenruhe wären, wurden ein paar alte, vom Sturm zerzauste Krähennester auf den höchsten Zweigen wie Wracks auf stürmischer See hin und hergeworfen.

»Wo sind die Vögel?« verhörte Miss Betsey.

»Was?« Meine Mutter hatte an etwas anderes gedacht.

»Die Krähen – wo sie hingekommen sind?«

»Es waren überhaupt nie welche da, seit wir hier gelebt haben«, sagte meine Mutter. »Wir dachten – Mr. Copperfield dachte, es sei ein großer Krähenhorst, aber die Nester waren alt und von den Vögeln längst verlassen.«

»Echt David Copperfield«, rief Miss Betsey. »David Copperfield, wie er leibt und lebt! Nennt das Haus Krähenhorst, wo gar keine Krähe da ist, und nimmt die Vögel auf guten Glauben, weil er die Nester sieht.«

»Mr. Copperfield ist tot«, gab meine Mutter zur Antwort, »und wenn Sie sich unterstehen, unfreundlich über ihn zu sprechen –«

Ich glaube, meine arme, liebe Mutter hatte einen Augenblick die Absicht, sich an der Tante tätlich zu vergreifen. Diese hätte sie wohl leicht mit einer Hand bezwungen, selbst wenn meine Mutter in einer bessern Verfassung für einen solchen Kampf gewesen wäre als an diesem Abend. Aber es blieb bei einem schüchternen Aufstehen. Dann setzte sich meine Mutter wieder schwach nieder und fiel in Ohnmacht.

Als sie wieder zu sich kam, sah sie Miss Betsey am Fenster stehen. Es war mittlerweile ganz dunkel geworden, und so undeutlich sie einander unterschieden, hätten sie doch auch das nicht ohne den Schein des Feuers können.

»Nun?« fragte Miss Betsey und trat wieder zu dem Stuhl, als hätte sie bloß einen Blick aus dem Fenster geworfen, »und wann erwartest du –?«

»Ich zittere am ganzen Leibe«, stammelte meine Mutter. »Ich weiß nicht, was es ist, ich sterbe sicherlich.«

»Nein, nein, nein«, sagte Miss Betsey; »trink eine Tasse Tee!«

»Ach Gott, ach Gott, meinen Sie, daß mir das guttun wird?« rief meine Mutter in hilflosem Tone.

»Selbstverständlich!« sagte Miss Betsey. »Es ist alles bloß Einbildung. Wie heißt denn das Mädchen?«

»Ich weiß doch nicht, ob es ein Mädchen sein wird, Madame«, sagte meine Mutter unschuldsvoll.

»Gott segne dieses Kind!« rief Miss Betsey aus, unbewußt den Sinnspruch auf dem Nadelkissen in der Schublade des obern Stocks anführend, aber nicht mit Anwendung auf mich, sondern auf meine Mutter. »Das meine ich doch nicht. Ich meine doch das Dienstmädchen.«

»Peggotty«, sagte meine Mutter.

»Peggotty!« wiederholte Miss Betsey entrüstet. »Willst du damit sagen, Kind, daß ein menschliches Geschöpf in eine christliche Kirche gegangen ist und sich hat Peggotty taufen lassen?«

»Es ist ihr Familienname«, sagte meine Mutter schüchtern. »Mr. Copperfield nannte sie so, weil ihr Taufname derselbe ist wie meiner.«

»Heda, Peggotty!« rief Miss Betsey und öffnete die Zimmertür. »Tee! Deine Herrschaft ist ein bißchen unwohl, aber rasch!«

Nachdem sie diesen Befehl so gebieterisch ausgesprochen, als wäre sie von jeher Herrin dieses Hauses, und aus dem Zimmer hinausgespäht hatte, um nach der erstaunten Peggotty zu sehen, die bei dem Klang einer fremden Stimme mit einem Licht den Gang entlangkam, schloß sie die Tür wieder und setzte sich nieder wie zuvor, die Füße am Kamingitter, das Kleid aufgeschürzt und die Hände über ein Knie gefaltet.

»Du meintest, es werde ein Mädchen werden«, sagte Miss Betsey. »Ich zweifle keinen Augenblick daran. Ich habe ein Vorgefühl, daß es ein Mädchen wird. Nun, Kind! Von dem Moment der Geburt dieses Mädchens an –«

»Vielleicht ists ein Knabe«, erlaubte sich meine Mutter, sie zu unterbrechen.

»Ich sagte dir bereits, ich habe das Vorgefühl, daß es ein Mädchen ist«, entgegnete Miss Betsey. »Widersprich mir nicht immer. Also von dem Augenblick der Geburt dieses Mädchens an werde ich seine Freundin sein, Kind. Ich will seine Patin sein, und sie hat Betsey Trotwood-Copperfield zu heißen. Mit dieser Betsey Trotwood-Copperfield soll es im Leben glattgehen. Mit ihren Gefühlen darf nicht gespielt werden. Armes Kleines. Sie muß gut erzogen und in acht genommen werden, daß sie ihr Vertrauen nicht auf törichte Weise jemand schenkt, der es nicht verdient. Das laß meine Sorge sein.«

Bei jedem dieser Sätze zuckte Miss Betsey mit dem Kopf, als ob das erlittene Unrecht vergangener Zeiten in ihr wieder lebendig würde und sie einen deutlicheren Hinweis darauf nur mit Überwindung unterdrückte. So vermutete wenigstens meine Mutter, als sie sie beim schwachen Schimmer des Feuers beobachtete, aber zu sehr von ihrem Wesen erschreckt war und innerlich viel zu unruhig und zu verwirrt, um überhaupt irgend etwas klar beobachten zu können.

»Und war David gut gegen dich, Kind?« fragte Miss Betsey, nachdem sie eine Weile geschwiegen und die Bewegung ihres Kopfs allmählich aufgehört hatte. »Habt ihr euch gut vertragen?«

»Wir waren sehr glücklich«, sagte meine Mutter. »Mr. Copperfield war viel zu gut zu mir.«

»Er hat dich also verzogen?«

»Allein und verlassen zu sein und ohne Stütze in dieser rauhen Welt dazustehen«, schluchzte meine Mutter, »dazu hat er mich wohl nicht erzogen.«

»Gut. Weine nicht«, sagte Miss Betsey. »Ihr paßtet eben nicht zusammen, Kind, – zwei Menschen können überhaupt nicht zusammenpassen – deshalb fragte ich. Du warst eine Waise, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Gouvernante?«

»Ich war Bonne in einer Familie, die Mr. Copperfield häufig besuchte. Mr. Copperfield war sehr freundlich und aufmerksam gegen mich und machte mir zuletzt einen Heiratsantrag. Und ich sagte ja. Und so wurden wir Mann und Frau«, sagte meine Mutter einfach.

»Ha! Armes Kind!« murmelte Miss Betsey und sah immer noch grimmig ins Feuer. »Verstehst du etwas?«

»Ich bitte um Verzeihung, Madame?« stammelte meine Mutter.

»Von der Wirtschaft zum Beispiel«, sagte Miss Betsey.

»Ich fürchte, nicht viel. Nicht so viel, wie ich möchte. Aber Mr. Copperfield unterrichtete mich –«

»Weil er selber so viel davon verstand«, warf Miss Betsey hin.

»– und ich glaube, ich hätte bald Fortschritte gemacht, denn ich war eifrig im Lernen und er ein sehr geduldiger Lehrer, wenn nicht das große Unglück –«, meine Mutter verlor wieder die Fassung und konnte nicht weitersprechen.

»Schon gut, schon gut«, sagte Miss Betsey.

»Ich führte mein Wirtschaftsbuch regelmäßig und schloß es mit Mr. Copperfield pünktlich jeden Abend ab«, rief meine Mutter mit einem neuen Ausbruch des Schmerzes.

»Schon gut, schon gut«, rief Miss Betsey. »Hör endlich auf zu weinen.«

»Und es war nie ein Wort des Streites dabei oder der Uneinigkeit, außer wenn Mr. Copperfield tadelte, daß meine Dreier und Fünfer einander zu ähnlich sähen, oder daß ich meinen Siebnern und Neunern krause Schwänze gäbe«, begann meine Mutter von neuem und wieder von einer Tränenflut unterbrochen.

»Du wirst dich krank machen«, sagte Miss Betsey. »Du weißt doch, daß das weder für dich noch für mein Patenkind gut ist. Komm, du mußt das bleiben lassen.«

Dieses Argument trug einigermaßen dazu bei, meine Mutter zum Schweigen zu bringen, obgleich ihr zunehmendes Übelbefinden die Hauptursache sein mochte. Eine längere Stille trat ein, die nur unterbrochen wurde von einem gelegentlichen »Ha!« Miss Betseys, die immer noch mit den Füßen auf dem Kamin dasaß.

»David hat sich mit seinem Geld eine Leibrente gekauft«, sagte sie endlich, »und wie hat er für dich gesorgt?«

»Mr. Copperfield«, sagte meine Mutter mit Anstrengung, »war so vorsichtig und gut, mir die Anwartschaft auf einen Teil davon zu sichern.«

»Wieviel?« fragte Miss Betsey.

»Hundertundfünf Pfund jährlich.«

»Er hätte es noch schlimmer machen können«, sagte meine Tante.

Das Wort paßte gut für den Augenblick. Meiner Mutter ging es soviel schlimmer, daß Peggotty, die eben mit dem Teebrett und Lichtern hereinkam und auf den ersten Blick sah, wie krank sie war, – Miss Betsey hätte es schon eher sehen können, wenn es hell genug gewesen wäre, – sie so rasch wie möglich in die obere Stube hinaufbrachte und sofort Ham Peggotty, ihren Neffen, der seit einigen Tagen ohne Wissen meiner Mutter als Bote für unvorhergesehene Fälle im Hause verborgen gehalten wurde, nach der Hebamme und dem Doktor schickte.

Diese verbündeten Mächte, die sich im Verlauf weniger Minuten zusammenfanden, waren sehr erstaunt, eine fremde Dame von strengem Aussehen vor dem Feuer sitzen zu sehen, den Hut am linken Arm hängend, und sich die Ohren mit Juwelierbaumwolle zustopfend.

Da Peggotty nichts über sie wußte und meine Mutter nichts über sie hatte fallenlassen, blieb sie ein ungelöstes Rätsel in der Wohnstube, und der Umstand, daß sie ein Baumwollenmagazin in der Tasche trug und sich die Watte auf besagte Weise in die Ohren stopfte, raubte ihr nichts von ihrem Ansehen.

Nachdem der Doktor oben gewesen und wieder heruntergekommen war und offenbar vermutete, daß er mit der unbekannten Dame einige Stunden würde zusammenbleiben müssen, bemühte er sich, höflich und gesellig zu erscheinen. Er war der sanfteste seines Geschlechts, der mildeste aller kleinen Männer. Er drückte sich beim Ein- und Ausgehen seitwärts durch die Türen, um möglichst wenig Raum einzunehmen. Er ging so leise wie der Geist des Hamlet, aber noch viel langsamer. Ertrug den Kopf auf eine Seite geneigt, teils aus Bescheidenheit, teils aus Entgegenkommen. Es wäre zu wenig gesagt, daß er nicht einmal für einen Hund ein böses Wort gehabt hätte. Er hätte nicht einmal einem tollen Hund ein böses Wort sagen können. Höchstens ein sanftes oder ein halbes oder ein Bruchstück davon, – denn er sprach so langsam, wie er ging, – aber er würde nicht grob gegen ihn gewesen sein. Nicht einmal ein rasches, nicht um alles in der Welt.

Mr. Chillip sah also meine Tante, den Kopf auf die Seite geneigt, sanft an, machte eine kleine Verbeugung und sagte, auf die Watte anspielend, indem er sein linkes Ohr berührte:

»Lokale Reizung, Madame?«

»Was?« fragte meine Tante und zog die Baumwolle wie einen Kork aus einem Ohr.

Mr. Chillip erschrak so sehr über ihr barsches Wesen, wie er später meiner Mutter erzählte, daß es noch ein Glück war, daß er die Fassung nicht verlor. Er wiederholte sanft:

»Lokale Reizung, Madame?«

»Unsinn!« antwortete meine Tante und verstopfte sofort das Ohr wieder.

Mr. Chillip konnte nun weiter nichts tun, als Platz nehmen und sie schüchtern ansehen, wie sie so dasaß und ins Feuer starrte, bis er wieder hinaufgerufen wurde.

Nach viertelstündiger Abwesenheit kehrte er wieder zurück.

»Nun?« fragte meine Tante und nahm die Watte aus dem ihm am nächsten liegenden Ohre.

»Nun, Madame«, antwortete Mr. Chillip, »wir – wir machen langsam Fortschritte.«

»Ba-a-ah«, sagte meine Tante, den verächtlichen Ausruf förmlich hervorstoßend, und verstopfte sich wieder wie vorhin.

In der Tat – in der Tat, Mr. Chillip war geradezu bestürzt, – wie er später meiner Mutter gestand; – natürlich bloß vom ärztlichen Gesichtspunkt aus. Aber trotzdem starrte er Miss Betsey fast zwei Stunden lang an, bis er von neuem gerufen wurde. Nach längerer Abwesenheit kehrte er wiederum zurück.

»Nun?« fragte meine Tante und nahm abermals die Watte aus dem gleichen Ohr.

»Nun, Madame«, antwortete Mr. Chillip, »wir – wir machen langsam Fortschritte, Madame.«

»Ja-a-a«, knurrte meine Tante Mr. Chillip derart an, daß er es fürwahr nicht länger mehr aushalten konnte. Es war fast darnach angetan, ihm allen Mut zu nehmen, äußerte er später.

Darum ging er lieber hinaus und setzte sich draußen im Dunkeln auf die zugige Treppe, bis man wieder nach ihm schickte.

Ham Peggotty, der in die Volksschule ging und wie ein Drache über seinem Katechismus zu sitzen pflegte und deshalb sicher als glaubwürdiger Zeuge gelten kann, erzählte am nächsten Tag, er hätte eine Stunde später zur Stubentür hereingeguckt und wäre sogleich von Miss Betsey, die in großer Erregung auf und ab gegangen, erspäht und gepackt worden, ehe er die Flucht habe ergreifen können. Er berichtete ferner, daß man zuweilen das Geräusch von Fußtritten und Stimmen in den obern Zimmern gehört hätte, das wahrscheinlich die Watte nicht ganz abhielt, wie er aus dem Umstände schloß, daß ihn die Dame wie ein Opfer festhielt und an ihm ihre überströmende Aufregung ausließ, wenn die Geräusche am lautesten waren. Sie hätte ihn am Kragen gepackt gehalten und in der Stube auf- und abgeführt (als ob er zuviel Laudanum genossen), hätte ihn geschüttelt, ihm die Wäsche zerzaust und die Ohren verstopft, als ob es ihre eignen gewesen wären, und ihn auf andere Weise mißhandelt. Sein Bericht wurde zum Teil von Peggotty bestätigt, die ihn um halb ein Uhr, kurz nach seiner Befreiung, noch ganz rot gesehen hatte.

Der sanfte Mr. Chillip konnte niemand böse sein und wenn überhaupt je, so am allerwenigsten in solcher Stunde. Er drückte sich deshalb in das Wohnzimmer, sobald er abkommen konnte, und sagte zu meiner Tante in seinen mildesten Tönen:

»Madame, es freut mich, Sie beglückwünschen zu können.«

»Wozu?« fragte Miss Betsey mit Schärfe.

Mr. Chillip, wiederum verwirrt durch die außerordentliche Schroffheit meiner Tante, machte ihr eine kleine Verbeugung und lächelte sie an, um sie zu besänftigen.

»O dieser Mensch, was er nur macht«, rief meine Tante ungeduldig, »kann er denn nicht sprechen!«

»Beruhigen Sie sich, meine teuere Madame«, sagte Mr. Chillip mit seinen weichsten Lauten. »Es ist nicht länger Ursache zur Besorgnis mehr vorhanden, Madame. Beruhigen Sie sich.«

Man hat es später für ein Wunder angesehen, daß meine Tante ihn nicht schüttelte, um das, was er zu sagen hatte, aus ihm herauszuschütteln. Was sie schüttelte, war nur der Kopf, den aber so drohend, daß es den Doktor erzittern machte.

»Nun, Madame«, begann Mr. Chillip von neuem, sobald er wieder Mut gefaßt, »es freut mich, Sie beglückwünschen zu können. Alles ist nun vorbei, Madame, und glücklich vorbei.«

Während der fünf Minuten, die Mr. Chillip zu dieser Rede brauchte, sah ihn meine Tante lauernd und scharf an.

»Wie befindet sie sich?« fragte meine Tante und verschränkte ihre Arme, an deren einem immer noch der Hut hing.

»Nun, Madame, sie wird bald wieder ganz wohl sein, hoffe ich«, antwortete Mr. Chillip, »so wohl, wie wir es von einer jungen Mutter unter so getrübten häuslichen Verhältnissen nur erwarten können. Wenn Sie sie sogleich sehen wollen, steht dem nichts im Wege, Madame. Vielleicht tut es ihr sogar gut.«

»Und sie? Wie geht es ihr?«

Mr. Chillip neigte seinen Kopf noch ein bißchen mehr auf die Seite und sah meine Tante an wie ein liebenswürdiger Vogel.

»Das Baby?« sagte meine Tante, »wie geht es ihr?«

»Madame«, erwiderte Mr. Chillip. »Ich nahm an, Sie wüßten es schon. Es ist ein Knabe.«

Meine Tante sprach kein Wort, nahm ihren Hut an den Bändern wie eine Schleuder, führte einen Streich damit gegen Mr. Chillips Kopf, stülpte ihn aufs Haupt, schritt hinaus und kam niemals wieder.

Sie verschwand, wie eine unzufriedene Fee oder wie eins jener übernatürlichen Wesen, die ich nach dem Volksglauben berechtigt war, sehen zu können; ging hin und ward nicht mehr gesehen.

Ich lag in meiner Wiege und meine Mutter im Bett. Betsey Trotwood-Copperfield aber blieb für immer im Lande der Träume und Schatten, in jener grauenvollen Region, die ich jüngst durchwandert. Und das Licht unseres Zimmers schien hinaus auf das irdische Ziel aller Wanderer aus dieser Region: auf den Hügel über der Asche und dem Staube dessen, der einst hienieden geweilt, und ohne den ich nie geworden wäre.

10. Kapitel Ich werde vernachlässigt, und man – bringt mich unter


10. Kapitel Ich werde vernachlässigt, und man – bringt mich unter

Das erste, was Miss Murdstone am Tag nach dem Begräbnisse tat, war, daß sie Peggotty für den kommenden Monat kündigte. So sehr Peggotty eine solche Stelle mißfallen mußte, so hätte sie sie doch um meinetwillen jeder andern auf der Welt vorgezogen.

Was mich betraf und meine Zukunft, fiel kein Wort, und es geschah auch nichts. Sie wären wahrscheinlich froh gewesen, wenn sie mir auch hätten monatlich kündigen können. Ich faßte mir einmal ein Herz und fragte Miss Murdstone, wann ich wieder in die Schule gehen werde, und sie antwortete: »Wahrscheinlich überhaupt nicht mehr.« Weiter erfuhr ich nichts. Ich hätte nur zu gerne gewußt, was man mit mir vorhabe, aber weder Peggotty noch ich konnten das geringste herausbekommen. Meine Lage hatte sich, was die Gegenwart betrifft, zwar viel angenehmer gestaltet, würde mir aber, wenn ich die Folgen hätte gehörig ermessen können, für die Zukunft viel Sorgen gemacht haben. Der mir früher auferlegte Zwang hatte ganz aufgehört. Miss Murdstone zwang mich nicht mehr wie früher, meinen langweiligen Posten in der Wohnstube beizubehalten, und wies mich mehr als einmal mit finsterm Blick aus dem Zimmer. Ich durfte ruhig mit Peggotty verkehren, wenn ich nur nicht Mr. Murdstone vor die Augen kam. Anfangs fürchtete ich, er oder seine Schwester würden mich wieder zu unterrichten anfangen, aber ich fand bald, daß meine Besorgnis unbegründet war und ich weiter nichts als Vernachlässigung zu gewärtigen hatte.

Diese Entdeckung verursachte mir damals nicht viel Schmerz. Noch immer ganz betäubt von dem Tod meiner Mutter war mir alles andere recht gleichgültig. Wohl dachte ich mir zuweilen, ob ich nicht zu einem schäbigen mürrischen Mann, der im Dorfe sein Leben in Nichtstun verlungern würde, heranwachsen müßte, wenn ich so gar keinen Unterricht mehr empfinge. Ich weiß noch, ich habe einmal überlegt, ob ich nicht wie der Held eines Romans davonlaufen sollte, um mein Glück zu machen, aber alles das waren Träume am hellichten Tag, die an der Wand meines Zimmers vorüberschwebten und nur die leere Wand zurückließen.

»Peggotty«, sagte ich, gedankenvoll flüsternd, eines Abends, als ich meine Hände am Herdfeuer wärmte, »Mr. Murdstone hat mich noch weniger gern als früher. Er hat mich nie gern gehabt, Peggotty. Aber jetzt möchte er mich am liebsten gar nicht mehr sehen.«

»Vielleicht hat er Kummer«, sagte Peggotty und strich mir die Haare glatt.

»Ich bin gewiß auch voll Trauer, Peggotty«, erwiderte ich, »wenn es nur sein Gram wäre, würde ich weiter gar nicht darüber nachdenken. Aber das ists nicht, o nein, das ists nicht.«

»Woher weißt du denn das?« fragte Peggotty nach einer Pause.

»O, Kummer ist es nicht; jetzt wo er mit seiner Schwester am Kamin sitzt, hat er wohl Kummer. Aber wenn ich hineinginge, Peggotty, würde er sogleich anders werden.«

»Wie denn?« fragte Peggotty.

»Zornig«, antwortete ich und machte unwillkürlich sein Stirnrunzeln nach. »Wenn es nur Gram wäre, würde er mich doch nicht so ansehen. Ich gräme mich auch, aber das macht mich nur freundlicher gegen andere.«

Peggotty sagte nichts mehr darauf, und ich wärmte meine Hände stumm wie sie.

»Davy«, sagte sie endlich.

»Ja, Peggotty.«

»Ich habe alles mögliche versucht, mein liebes Kind, hier in Blunderstone einen passenden Dienst zu bekommen, aber ich konnte keinen finden.«

»Und was gedenkst du zu tun, Peggotty?« und ich sah sie forschend an, »willst du fortgehen und dein Glück anderwärts versuchen?«

»Ich werde wohl nach Yarmouth gehen müssen«, sagte Peggotty.

»Du hättest noch weiter fortgehen und so gut wie verloren für mich sein können«, sagte ich ein wenig erleichtert. »So kann ich dich manchmal besuchen, meine gute, alte Peggotty! Du bist doch dort nicht am Ende der Welt, nicht wahr?«

»Ganz im Gegenteil, so Gott will«, rief Peggotty mit großer Lebhaftigkeit. »Solang du hier bist, mein Herzblatt, komme ich dich jede Woche besuchen. Jede Woche einmal, solange ich lebe.«

Dies Versprechen nahm mir einen Stein vom Herzen. Aber Peggotty fuhr fort. »Schau mal, Davy, ich gehe zuvorderst einmal auf vierzehn Tage zu meinem Bruder auf Besuch, um mich ein bißchen umzusehen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen; da hab ich mir gedacht, da sie dich hier sowieso nicht brauchen können, lassen sie dich vielleicht mit mir gehen?«

Jedenfalls war dieser Plan das einzige, was mich in meiner damaligen Gemütsstimmung irgendwie aufhellen konnte. Der Gedanke, wieder auf diesen ehrlichen Gesichtern einen Willkommensgruß lesen zu können, wieder den Frieden des stillen Sonntagmorgens zu genießen, wenn die Glocken läuten, die Schiffe Schatten gleich aus dem Nebel brechen, wieder Steine ins Wasser werfen zu können, mit der kleinen Emly herumzustreifen, ihr meine Leiden zu erzählen und ein Zaubermittel dagegen in den Muscheln und Kieseln am Strande zu finden, erfüllte mein Herz mit besänftigender Ruhe. Freilich wurde sie schon im nächsten Augenblick von dem Gedanken zerstört, daß Miss Murdstone schwerlich einwilligen werde. Aber noch während wir sprachen, kam Miss Murdstone plötzlich heraus, um etwas aus der Vorratskammer zu holen, und Peggotty brachte die Angelegenheit mit einer Kühnheit, die mich in Erstaunen versetzte, sogleich zur Sprache.

»Der Junge wird dort herumlungern«, sagte Miss Murdstone und spähte in einen Krug mit Essiggurken, »und Nichtstun ist die Wurzel alles Bösen. Aber freilich hier wird er auch nichts tun – und anderwärts auch nicht.«

Peggotty hatte eine heftige Antwort auf der Zunge; aber sie schluckte sie herunter um meinetwillen und schwieg.

»Hm«, meinte Miss Murdstone dann und spähte immer noch in den Essigkrug. »Es ist wichtiger als alles andere, – es ist sogar von außerordentlicher Wichtigkeit, – daß mein Bruder nicht gestört und belästigt wird. Es ist wohl am besten, ich willige ein.«

Ich bedankte mich bei ihr, ohne meine Freude zu verraten, damit sie nicht etwa ihre Erlaubnis zurückzöge, und mir kam das sehr klug vor, als sie mich jetzt wieder mit einem so sauern Gesicht ansah, als hätte sie mit ihren schwarzen Augen den ganzen Inhalt des Essigkrugs ausgesogen. Die Erlaubnis war gegeben und wurde auch nicht zurückgezogen. Und als der Monat um war, standen Peggotty und ich zur Abfahrt bereit.

Mr. Barkis kam ins Haus, um Peggottys Koffer abzuholen. Soviel ich weiß, hatte er noch nie die Schwelle der Gartentür überschritten, aber bei dieser Gelegenheit kam er bis ins Haus. Und als er den größten Koffer auf seine Schultern lud und hinausging, warf er mir einen so vielsagenden Blick zu, wie es sein Gesicht überhaupt vermochte.

Peggotty war natürlich sehr betrübt über ihren Abschied von dem Orte, wo sie so lange Jahre mit meiner Mutter und mir zugebracht hatte. Sie war schon in aller Frühe auf dem Kirchhof gewesen, und als sie im Wagen saß, hielt sie sich das Taschentuch vor die Augen.

Solange sie so blieb, gab Mr. Barkis kein Lebenszeichen von sich. Er saß auf seinem gewohnten Platz und in seiner bekannten Haltung wie eine große, ausgestopfte Puppe. Aber als sie das Taschentuch einsteckte und mit mir zu sprechen anfing, nickte er mehrere Male und grinste. Ich hatte nicht den leisesten Begriff, was er damit sagen wollte.

»’s ist ein schöner Tag, Mr. Barkis«, begann ich aus purer Höflichkeit.

»Nicht schlecht«, meinte Mr. Barkis, der gewöhnlich seine Worte sehr abwog und seine Meinung nie offen heraussagte.

»Peggotty hat sich schon wieder ganz erholt, Mr. Barkis«, bemerkte ich.

»So. Hm«, sagte Mr. Barkis.

Nachdem er mit schlauer Miene nachgedacht hatte, sah er Peggotty an und sagte:

»Ists Ihnen schon hübsch behaglich?«

Peggotty lachte bejahend.

»Aber wirklich und wahrhaftig? Verstehen Sie? Wirklich?« brummte Mr. Barkis und rutschte auf der Bank näher an sie heran und gab ihr einen Stoß mit dem Ellbogen. »Wirklich? Wirklich und wahrhaftig, ganz behaglich? Wirklich? He?« Bei jeder dieser Fragen rutschte Mr. Barkis näher zu ihr und gab ihr jedesmal einen Stoß mit dem Ellbogen, bis wir zuletzt alle in der linken Ecke des Wagens eingeklemmt saßen und ich kaum mehr atmen konnte.

Peggotty machte ihn darauf aufmerksam, worauf er sogleich etwas Platz machte und nach und nach wieder zurückkehrte. Ich sah ihm an, daß er zu glauben schien, er sei auf ein prächtiges Mittel verfallen, sich ohne viel Worte angenehm, fein und deutlich auszudrücken. Eine Zeitlang lachte er vor sich hin. Dann wandte er sich wieder langsam nach Peggotty um und wiederholte: »Also wirklich behaglich?« und fing das alte Manöver wieder an, bis ich abermals keinen Atem bekam. Nicht lange darauf wiederholte sich dasselbe noch einmal mit denselben Folgen. Dann stand ich immer auf, wenn ich ihn anrücken sah, und tat, als ob ich mir die Gegend ansähe, und kam viel besser dabei weg.

Er war so höflich, nur unsertwegen an einem Wirtshaus anzuhalten und uns mit Hammelbraten und Bier zu bewirten. Aber selbst einmal, als Peggotty gerade trank, bekam er einen seiner alten Anfälle und brachte sie fast zum Ersticken. Je mehr wir uns unserm Reiseziel näherten, desto mehr mußte er aufpassen und desto weniger Zeit fand er für Galanterien. Und als wir erst auf dem Pflaster von Yarmouth durcheinandergeschüttelt wurden, bot sich gar keine Gelegenheit mehr.

Mr. Peggotty und Ham erwarteten uns auf dem alten Platze. Sie empfingen mich und Peggotty in herzlicher Weise und schüttelten Mr. Barkis die Hand, der mit weit zurückgeschobenem Hut, ein verschämtes Lächeln auf den Zügen und weit ausgespreizten Beinen einen möglichst dummen Eindruck zu erwecken bemüht war. Jeder von den beiden Fischern nahm einen von Peggottys Koffern, und wir wollten eben fortgehen, als mir Mr. Barkis feierlich mit dem Zeigefinger winkte, mit ihm unter einen Torweg zu treten.

»Also«, brummte er dann, »alles in Ordnung.«

Ich sah ihn an und antwortete mit einem Versuch, ein möglichst gescheites Gesicht zu machen: »O! o!«

»Damals wars noch nicht abgemacht«, fuhr er mit vertraulichem Nicken fort. »Alles in Ordnung.«

Wieder antwortete ich: »O!«

»Sie wissen, wer wollte! Er! Barkis! aber nur Barkis!«

Ich nickte zustimmend.

»Alles in Ordnung«, sagte Mr. Barkis wieder und schüttelte mir die Hand. »Wir sind Freunde. Sie habens in Ordnung gebracht. Alles in Ordnung.«

In seinem Bestreben besonders klar zu sein, wurde mir Mr. Barkis immer rätselhafter. Ich hätte ihm eine Stunde ins Gesicht sehen können, ohne von ihm mehr zu erfahren als von dem Zifferblatt einer Uhr, die stillsteht. Endlich rief mich Peggotty weg. Unterwegs fragte sie mich, was er gesagt habe, und ich wiederholte seine Worte: »Alles in Ordnung.«

»Ist das eine Unverschämtheit«, sagte sie, »aber es macht nichts. Lieber Davy, was meinst du wohl, wenn ich mich verheiratete?«

»Nun, du würdest mich doch ebenso lieb haben wie jetzt, Peggotty?« erwiderte ich nach einigem Nachdenken.

Zum größten Erstaunen der Vorübergehenden und der beiden Peggottys vor uns blieb die gute Seele stehen und umarmte mich unter vielen Beteuerungen ihrer unwandelbaren Liebe.

»Sag mir also, was du meinst, Liebling?« fragte sie, als sie damit fertig war und wir unsern Weg fortsetzten.

»Wenn du dich mit Mr. Barkis verheiratest, Peggotty?«

»Ja.«

»Ich glaube, es wäre sehr gut, dann hättest du immer das Pferd und den Wagen umsonst und könntest mich immer besuchen kommen.«

»Was das Kind gescheit ist!« rief Peggotty. »Das hab ich doch auch immer den ganzen Monat lang gedacht. Ja, mein Goldkind, ich wäre viel unabhängiger, siehst du. Und es würde sich mir in meinem eignen Haus viel leichter arbeiten als sonstwo. Ich weiß gar nicht, ob ich mich zum Dienstmädchen bei Fremden jetzt noch eigne, und ich wäre immer in der Nähe der Ruhestätte meines schönen Lieblings«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich könnte sie sehen, wann ich wollte, und wenn ich mich einmal zur Ruhe lege, wärs nicht weit von meinem lieben Mädel.«

Wir schwiegen beide eine Weile.

»Aber ich würde nicht ein einziges Mal wieder dran denken«, sagte Peggotty fröhlich, »wenn mein Davy irgend etwas dagegen hätte, und wenn ich auch dreißigmal dreimal in der Kirche gefragt würde und den Ring mein Lebtag in der Tasche herumtragen müßte.«

»Schau mich an, Peggotty«, erwiderte ich, »und sieh selbst, ob ich mich nicht wirklich von ganzer Seele darüber freue!«

»Liebes Herz«, sagte Peggotty und drückte mich an sich, »ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht und in jeder Weise und ich glaube in der rechten, aber ich will es mir noch einmal überlegen und mit meinem Bruder darüber sprechen und unterdessen wollen wir die Sache für uns behalten, Davy. Barkis ist ein einfacher guter Kerl, und wenn ich meine Pflicht an seiner Seite tue, glaube ich, wäre es meine Schuld, wenn ich nicht – wenn ich mich nicht behaglich befände«, sagte Peggotty und lachte herzlich.

Über diesen Ausspruch von Mr. Barkis mußten wir immer wieder lachen, und wir waren sehr heiterer Laune, als Mr. Peggottys Häuschen in Sicht kam.

Es sah genau so aus wie früher, nur schien es in meinen Augen jetzt ein wenig kleiner zu sein. Mrs. Gummidge wartete in der Tür, als ob sie seit damals immer noch dort stünde. Innen war alles unverändert bis zum Seegras hinab in dem blauen Krug in meinem Schlafzimmer. Ich ging in den Seitenschuppen, um mich ein wenig umzusehen und wieder war ein verworrener Haufen von Hummern, Krabben und Krebsen da, alle von demselben Verlangen, die ganze Welt zu zwicken, beseelt.

Aber keine kleine Emly war zu sehen, und so fragte ich Mr. Peggotty nach ihr.

»Is in der Schule, Sir«, sagte Mr. Peggotty und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann sah er nach der Wanduhr, »kommt all in zwanzig oder dreißig Minuten. Wir vermissen sie alle, ach Gott.«

Mrs. Gummidge seufzte.

»Kopf hoch, Mächen«, mahnte Mr. Peggotty.

»Ach«, sagte Mrs. Gummidge, »ich bin n einsam verlassenes Geschöpf und sie war die einzige, die mich nicht die Quere ging.«

Sie schüttelte tränenden Auges den Kopf und blies das Feuer an. Mr. Peggotty sah uns an, während sie so beschäftigt war, und flüsterte leise hinter seiner Hand hervor: »De Olsch.«

Daraus schloß ich ganz richtig, daß seit meinem letzten Besuch in Mrs. Gummidges Gemütszustand keine wesentliche Veränderung eingetreten sein konnte. Alles war so reizvoll wie früher, aber dennoch machte es einen ganz andern Eindruck auf mich. Ich fühlte mich fast ein wenig enttäuscht. Vielleicht trug die Abwesenheit der kleinen Emly die Schuld. Da ich wußte, welchen Weg sie kommen mußte, ging ich ihr entgegen.

Es dauerte auch nicht lange, da tauchte in der Ferne eine Gestalt auf, und ich erkannte bald Emly, die immer noch ein kleines Geschöpfchen war, trotzdem sie gewachsen schien. Aber als sie näher kam und ich sah, wie ihre blauen Augen noch blauer und ihr Gesicht mit den Grübchen noch heiterer, hübscher und schelmischer geworden, überkam mich ein ganz seltsames Gefühl und ich tat, als ob ich sie nicht kennte, und ging vorbei, als ob ich weit draußen in der Ferne etwas erblickte. Ich habe dergleichen, mir scheint, auch später noch im Leben getan!

Die kleine Emly kümmerte sich gar nicht um mich. Sie sah mich recht gut, anstatt sich aber umzudrehen und mich zu rufen, lief sie lachend fort. Das zwang mich, ihr nachzurennen. Aber sie lief so schnell, daß ich sie erst knapp vor dem Häuschen einholen konnte.

»Ach so, du bists?«

»Aber du wußtest doch, wers ist, Emly«, sagte ich.

»Und du vielleicht nicht?«

Ich wollte sie küssen, aber sie hielt sich die Hand auf ihre Kirschenlippen und sagte, sie sei kein kleines Kind mehr, lief ins Haus und lachte noch viel mehr.

Es schien ihr Spaß zu machen, mich zu necken, – eine Veränderung, über die ich mich sehr wunderte. Der Teetisch war gedeckt, und unser kleiner Koffer stand auf dem alten Fleck. Aber anstatt sich neben mich zu setzen, leistete sie der alten brummigen Mrs. Gummidge Gesellschaft, und als Mr. Peggotty nach dem Grund fragte, bedeckte sie sich das Gesicht mit den Haaren und wollte nicht aufhören zu lachen.

»Eine kleine Spielkatze«, sagte Mr. Peggotty und tätschelte sie mit seiner großen Hand.

»Dat is se. Dat is se«, rief Ham, »Masr Davy, woll, dat is se« und er saß da und lachte sie lange an mit einem brennroten Gesicht, auf dem sich Bewunderung und Entzücken spiegelten.

Die kleine Emly wurde in jeder Hinsicht verzogen und von niemand mehr als von Mr. Peggotty, dem sie alles abschmeicheln konnte, wenn sie nur zu ihm ging und ihre Wangen an seinen struppigen Seemannsbart legte. So schien es mir wenigstens, als ich es sah, und ich gab Mr. Peggotty vollkommen recht. Sie war so zärtlich und herzig und dabei so neckisch und schüchtern zugleich, daß sie mich mehr gefangen nahm als je.

Sie war auch sehr weichherzig, denn als wir nach dem Tee um den Ofen saßen und Mr. Peggotty eine Andeutung über den Verlust, den ich erlitten hatte, fallen ließ, traten ihr die Tränen in die Augen, und sie sah mich über den Tisch hinüber so freundlich an, daß ich ihr sehr dankbar war.

»Ja«, sagte Mr. Peggotty, indem er ihre Locken wie Wasser durch seine Finger laufen ließ. »Hier ist auch eine Waise, Sir, und hier«, und er klopfte Ham mit dem Handrücken auf die Brust, »hier s noch einer, wenn mans ihm auch noch anmerkt.«

»Wenn ich Sie zum Vormund hätte, Mr. Peggotty«, sagte ich, »würd ichs wohl auch nicht sehr fühlen.«

»Schoin seggt, Masr Davy, woll«, schrie Ham entzückt, »hurra. Schoin seggt, Masr Davy, woll, hört, hört.« Er gab den Schlag mit dem Handrücken zurück und die kleine Emly stand auf und küßte Mr. Peggotty.

»Und was macht Ihr Freund, Sir?« fragte mich Mr. Peggotty.

»Steerforth?«

»Woll, woll«, rief Mr. Peggotty und wandte sich zu Ham. »Ich wußte, sien Nam hett mit unserm Beruf zu tun.«

»Du hest Rudderford seggt«, bemerkte Ham lachend.

»Jawoll«, antwortete Mr. Peggotty, »un du ›stürst‹ mit en Rudder, noch? Dat s noch veel anners. Wie gehts ihm, Sir?«

»Als ich fortging, sehr gut, Mr. Peggotty.«

»Dat s n Freund«, sagte Mr. Peggotty und reckte seinen Arm mit der Pfeife in die Höhe. »Dat s n Freund, wenn Sie von Freunden sprechen! Gott soll mich nicht leben lassen, wenns nicht ne Freude ist, den anzusehen.«

»Er ist sehr hübsch, nicht wahr?« sagte ich und mein Herz schlug höher bei dem Lobe.

»Hübsch!« rief Mr. Peggotty. »Er steht vor einem, wie – wie ein – na, wie soll ich nur sagen, wie er vor einem steht? Er ist so keck.«

»Ja, so ist auch sein ganzer Charakter«, sagte ich, »er ist mutig wie ein Löwe, und Sie können sich gar nicht vorstellen, Mr. Peggotty, wie freimütig er ist.«

»Und ich vermute«, sagte Mr. Peggotty und sah mich durch den Rauch seiner Pfeife hindurch an, »daß er in der Buchgelehrsamkeit höher im Wind liegt als alle andern.«

»Ja«, sagte ich freudig, »er weiß alles. Er ist erstaunlich gescheit.«

»Dat s n Freund«, murmelte Mr. Peggotty mit ernstem Wiegen des Kopfes.

»Alles geht ihm spielend von der Hand«, sagte ich. »Er kann seine Aufgabe, wenn er nur auch nur einen Blick drauf wirft. Er ist der beste Kricketter den ich kenne. Beim Damenbrett gibt er Ihnen so viel Steine vor, wie Sie wollen, und schlägt Sie mühelos.«

Mr. Peggotty nickte wieder mit dem Kopf, als wollte er sagen: »Selbstverständlich!«

»Und ein Redner ist er«, fuhr ich fort, »daß er jeden überzeugen kann, Sir. Und gar erst ihn singen zu hören!«

Mr. Peggotty nickte wieder mit dem Kopf, als wollte er sagen: »Ich zweifle keinen Augenblick daran.«

»Und dann ist er ein so prächtiger, feiner, nobler Bursche«, sagte ich, ganz hingerissen von meinem Lieblingsthema, »daß es kaum möglich ist, ihn so zu loben, wie er es verdient. Ich kann ihm nie genug dankbar sein für die Hochherzigkeit, mit der er mich, der ich viel jünger bin und in der Schule weit unter ihm saß, beschützte.«

Mitten in meinem Eifer fielen meine Augen auf die kleine Emly, die mit angehaltenem Atem über den Tisch gebeugt dasaß und mit größter Aufmerksamkeit zuhörte. Ihre blauen Augen glänzten wie Edelsteine und das Blut stieg ihr in die Wangen. Sie sah so wunderbar ernst und hübsch aus, daß ich erstaunt abbrach, und alle schauten sie daraufhin an und lachten.

»Emly gehts wie mir«, sagte Peggotty. »Sie möchte ihn sehen.«

Emly war ganz verlegen geworden, weil wir sie alle ansahen, errötete noch mehr und schlug die Augen nieder. Als sie wieder aufsah und bemerkte, daß wir noch immer keinen Blick von ihr wenden konnten, wurde sie ganz verwirrt, lief fort und blieb weg, bis es fast Schlafenszeit war.

Ich legte mich in das alte kleine Bett im Hintersteven des Bootes, und der Wind strich klagend über die Dünen wie einstmals. Ich konnte mir nicht helfen, es schien mir, als klage er um die, die dahingegangen. Ich mußte an die Wellen des Schicksals denken, die, seitdem ich dieses Heulen zuletzt vernommen, mein glückliches Heim weggespült hatten. Kein Gedanke kam mir mehr wie damals, daß der Ozean draußen über seine Ufer treten könnte und unser Boot fortschwemmen. Ich erinnere mich noch, wie Wind und Wogen allmählich schwächer in meinen Ohren klangen, als ich meinem Abendgebet den Satz hinzufügte: Gott möchte mich groß werden lassen, damit ich die kleine Emly heiraten könne. Dann sank ich verliebt in Schlummer.

Die Tage vergingen so schnell wie früher, doch nur selten mehr konnte ich mit der kleinen Emly am Strande spazieren gehen. Sie mußte Aufgaben lernen und nähen und konnte einen großen Teil des Tages nicht zu Hause sein. Aber auch ohnedies wären diese alten Wanderungen nicht mehr so wie früher gewesen. So wild und voll kindischer Launen Emly war, so war sie doch schon viel mehr Jungfrau, als ich glaubte. Sie schien in mehr als einem Jahr viel älter als ich geworden zu sein. Sie hatte mich gern, aber lachte mich aus und quälte mich, nahm einen andern Weg, wenn ich sie abholen ging, und empfing mich lachend an der Tür, wenn ich dann verstimmt heimkam. Meine besten Zeiten waren, wenn sie vor der Tür stillsitzen mußte und arbeitete, während ich ihr auf der Schwelle vorlas.

Es kommt mir jetzt so vor, als ob ich niemals wieder soviel Sonnenschein erlebt hätte, wie an jenen schönen Aprilnachmittagen, niemals mehr eine so sonnige kleine Gestalt gesehen, als damals an der Tür des alten Schiffes, niemals mehr einen solchen Himmel, solches Wasser, und so herrliche Schiffe in die goldig flimmernde Luft hinaussegeln.

Schon am ersten Abend nach unserer Ankunft erschien Mr. Barkis mit einem sehr einfältigen Gesicht und sehr linkischer Haltung und mit einer Anzahl Orangen in einem Schnupftuch. Da er nichts über dieses Bündel fallen gelassen, glaubten wir, er habe es wahrscheinlich vergessen, als er wegging, bis Ham, der ihm nacheilte, mit der Nachricht zurückkam, es sei für Peggotty bestimmt. Von jenem Tag an erschien Barkis pünktlich um dieselbe Stunde jeden Abend und immer mit einem kleinen Bündel, von dem er nie sprach, und das er regelmäßig hinter die Tür stellte und dort liegen ließ.

Diese Liebesgaben waren der verschiedensten und exzentrischsten Art. Einmal ein paar Schweinsfüße, dann ein ungeheures Nadelkissen, ein halber Eimer Äpfel, ein Paar Jetohrringe, ein Bündel spanische Zwiebeln, ein Dominospiel, ein Kanarienvogel samt Käfig oder eine gepökelte Schweinskeule.

Auch seine Liebeswerbung war ganz eigentümlicher Art. Er sprach selten ein Wort und konnte stundenlang in derselben Stellung wie im Wagen beim Feuer sitzen und Peggotty anglotzen.

Eines Abends machte er, wahrscheinlich von Liebe begeistert, einen Vorstoß auf das Wachslicht, mit dem sie immer ihren Faden wichste, steckte es in die Westentasche und nahm es mit. Von da an bereitete es ihm ein Hauptvergnügen, den Stumpf, wenn er gebraucht wurde, aus der Tasche zu holen, was nicht ganz leicht war, da er, unterdessen halb geschmolzen, regelmäßig am Taschenfutter festklebte.

Er schien sich bei uns sehr wohl zu fühlen, aber durchaus nicht veranlaßt zu sehen, irgend etwas zu sprechen. Selbst wenn er Peggotty auf der Ebene spazierenführte, machte er sich keine Sorgen darüber. Er fragte sie nur zuweilen, ob sie sich »behaglich fühle«, und Peggotty hielt sich dann, wenn er fortgegangen, die Schürze vors Gesicht und konnte halbe Stunden lang lachen. Auch wir freuten uns alle mehr oder weniger, ausgenommen höchstens die unglückliche Mrs. Gummidge, deren Brautstand von ganz ähnlicher Art gewesen sein mußte, da sie sich immer an den »Alten« erinnerte.

Als meine Besuchszeit ihrem Ende entgegenging, hieß es eines Tages, daß Peggotty und Mr. Barkis einen Festausflug machen wollten und Emly und ich sie begleiten sollten. In Erwartung des großen Vergnügens, Emly einen ganzen Tag für mich zu haben, konnte ich die Nacht vorher schon kaum schlafen. In aller Frühe waren wir auf den Beinen, und während wir noch beim Frühstück saßen, wurde Mr. Barkis in der Ferne sichtbar, eine Kutsche auf den Gegenstand seiner Neigung zulenkend.

Peggotty trug wie gewöhnlich ihre sauber stille Trauerkleidung, aber Mr. Barkis strahlte in einem neuen blauen Rock, den der Schneider so reichlich angemessen, daß die Ärmel im kältesten Winter Handschuhe überflüssig gemacht hätten, während der Kragen so hoch war, daß Barkis Haare auf dem Hinterkopf wegstanden. Die blanken Knöpfe waren von der größten Gattung. Ausgestattet mit hellen Beinkleidern und einer gelben Weste schien mir Mr. Barkis ein Wunder von Vornehmheit zu sein.

Als wir alle reisefertig vor der Tür standen, bemerkte ich, daß Mr. Peggotty mit einem alten Schuh bewaffnet war, der als Glückszeichen hinter uns hergeworfen werden sollte, und daß Mr. Peggotty ihn Mrs. Gummidge zu diesem Zweck hinhielt.

»Nein, lieber soll es jemand anders tun, Daniel«, wehrte Mrs. Gummidge ab. »Ich bin ein einsames, verlassenes Geschöpf, und alles, was mich ans Gegenteil erinnert, geht mich der Quere.«

»Komm, Alte«, rief Mr. Peggotty, »nimms nur und wirf ihn.«

»Nein, Daniel«, wehrte Mrs. Gummidge ab und schüttelte tränenden Auges das Haupt. »Wenn ich weniger fühlte, könnte ich mehr tun. Du fühlst nicht wie ich, Daniel. Die Sachen gehen dich nicht der Quere und du ihnen nicht, s ist besser, du tusts selber.«

Aber hier rief Peggotty, die in großer Eilfertigkeit von einem zum andern gegangen war und alle geküßt hatte, aus dem Wagen heraus, daß Mrs. Gummidge es unbedingt tun müßte. So tat es denn Mrs. Gummidge und warf auch leider zugleich einen traurigen Schatten auf den festlichen Charakter unseres Ausflugs, indem sie in Tränen ausbrach und ganz gebrochen Ham mit den Worten in die Arme sank, daß sie aller Welt eine Last sei und am besten auf der Stelle ins Armenhaus ginge. Schade nur, daß Ham es nicht zur Ausführung brachte.

Nun ging es weiter auf unserm Festpfad und das erste, was wir taten, war, daß wir vor einer Kirche anhielten, wo Mr. Barkis das Pferd an ein Gitter band und mit Peggotty hineinging, während Emly und ich allein zurückblieben. Ich benutzte diese Gelegenheit, meinen Arm um Emlys Taille zu legen und ihr vorzuschlagen, da ich ja bald fort müsse, wollten wir uns recht gut sein und uns den ganzen Tag so glücklich wie möglich gestalten. Da die kleine Emly zustimmte und mir erlaubte, sie zu küssen, kam ich ganz aus der Fassung. Ich sagte ihr, ich könnte nie eine andere lieben und wäre bereit, jeden umzubringen, der sich um sie zu bewerben wagte.

Wie sich die kleine lustige Emly darüber lustig machte! Mit einer Miene, als sei sie unendlich viel gescheiter und älter als ich! Sie sagte, die kleine Hexe, ich sei ein kindischer Junge, und lachte dann so entzückend, daß ich den Schmerz über die demütigende Benennung über der bloßen Freude, sie ansehen zu dürfen, vergaß.

Mr. Barkis und Peggotty blieben ziemlich lang in der Kirche, kamen aber endlich wieder heraus. Dann fuhren wir hinaus aufs Land. Unterwegs wendete sich Mr. Barkis nach mir um und sagte, indem er listig ein Auge zukniff:

»Was fürn Namen hab ich in den Wagen geschrieben?«

»Klara Peggotty«, antwortete ich.

»Was fürn Namen müßt ich jetzt anschreiben, wenn ein Dach da wäre?«

»Nicht wieder Klara Peggotty?« fragte ich.

»Klara Peggotty-Barkis!« erwiderte er und brach in ein Gelächter aus, daß die ganze Chaise wackelte.

Kurz, sie waren verheiratet und waren zu keinem andern Zweck in die Kirche gegangen. Peggotty hatte gewünscht, daß es in aller Stille geschähe, und hatte keine Zeugen zu der Feierlichkeit eingeladen. Sie wurde etwas verlegen, als Mr. Barkis mit dieser Mitteilung herausplatzte, und konnte mich nicht genug umarmen, um mir ihre unveränderte Liebe zu zeigen. Bald beruhigte sie sich wieder und sagte, sie sei froh, daß alles vorbei wäre.

Wir hielten dann an einem kleinen Wirtshaus, wo wir erwartet wurden und ein sehr gutes Mittagessen einnahmen und den Tag sehr angenehm zubrachten. Wenn Peggotty täglich einmal in den letzten zehn Jahren geheiratet haben würde, hätte sie nicht unbefangener sein können. Sie war ganz wie sonst und machte mit der kleinen Emly und mir vor dem Tee einen kleinen Spaziergang, während Mr. Barkis philosophisch seine Pfeife rauchte, offenbar damit beschäftigt, sich sein künftiges Glück auszumalen. Das schien seinen Appetit anzuregen, denn ich erinnere mich genau, daß er zum Tee noch eine ziemliche Menge kalten Schinken zu sich nahm, trotzdem er schon zu Mittag ziemlich viel Schweinebraten und Gemüse gegessen und dann mit ein oder zwei jungen Hühnern noch nachgeholfen hatte.

Ich habe seitdem oft daran denken müssen, was für eine seltsame unschuldige und ungebräuchliche Hochzeit das damals war.

Bald nach Dunkelwerden stiegen wir wieder in den Wagen und fuhren gemütlich zurück und betrachteten die Sterne und sprachen über sie. Ich führte hauptsächlich die Konversation und klärte Mr. Barkis‘ Geist in ganz erstaunlicher Weise auf. Er hätte wahrscheinlich alles geglaubt, was ihm zu erzählen mir eingefallen wäre, denn er empfand die größte Hochachtung vor meiner Gescheitheit und sagte seiner Frau, ich sei der reinste »Roeshus«. Damit meinte er ein Wunderkind.

Als wir das Thema Sterne erschöpft hatten, oder besser gesagt, als ich die geistigen Fähigkeiten Mr. Barkis‘ erschöpft hatte, nahmen die kleine Emly und ich ein altes Umschlagtuch als gemeinsamen Mantel um und blieben so während der ganzen Rückfahrt sitzen. Ach, wie sehr ich sie liebte! Welche Seligkeit, dachte ich, wenn wir verheiratet wären und hinaus in die weite Welt gehen könnten, um unter den Bäumen und in den Feldern zu leben, – wenn wir niemals älter und klüger zu werden brauchten, immer Kinder Hand in Hand im Sonnenschein über blumige Wiesen wandeln und abends im Schlummer der Unschuld und des Friedens das Haupt aufs weiche Moos legen dürften; welche Seligkeit, dereinst von den Vögeln des Himmels begraben zu werden, wenn wir stürben. Solche Traumbilder, lichtstrahlend wie unsere Unschuld, unerreichbar wie die Sterne über unsern Häuptern, gaukelte mir mein Geist vor den ganzen Weg. Es freut mich, daß zwei so unschuldvolle Herzen wie Emly und ich Peggottys Hochzeit verschönten.

Wir kamen noch beizeiten zu dem alten Boot; dort nahmen Mr. und Mrs. Barkis Abschied von uns und fuhren gemächlich nach Hause in ihr eignes Heim. Da fühlte ich das erstemal, daß ich Peggotty verloren hatte. Unter jedem andern Dache als hier, wo ich die kleine Emly bei mir wußte, wäre ich mit blutendem Herzen zu Bett gegangen.

Mr. Peggotty und Ham sahen mir an, worunter ich litt, hielten ein Abendessen bereit und setzten ihre gastlichsten Gesichter auf, um mir meine traurigen Gedanken zu vertreiben. Die kleine Emly saß neben mir auf dem Koffer – das erste Mal, seit ich hier weilte, und es war ein wundervoller Schluß für einen herrlichen Tag.

Diese Nacht war Flut. Und bald, nachdem wir uns schlafen gelegt, fuhren Mr. Peggotty und Ham zum Fischen aus. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, in dem einsamen Haus als Beschützer Emlys und Mrs. Gummidges zurückgelassen zu sein, und wünschte mir nur, daß ein Löwe oder eine Schlange oder ein anderes bösartiges Ungeheuer uns überfallen möchte, damit ich es vernichten und mich mit Ruhm bedecken könnte. Aber da nichts dieser Art auf den Dünen von Yarmouth herumstreifte, ließ ich mir, um diesem Mangel abzuhelfen, bis zum Morgen von Drachen träumen.

Am Morgen kam Peggotty und rief mich wie gewöhnlich ans Fenster, als ob Mr. Barkis, der Fuhrmann, von Anbeginn an nur ein Traum gewesen wäre. Nach dem Frühstück nahm sie mich mit sich nach Hause. Sie bewohnten ein wunderschönes kleines Heim. Von allen Möbeln darin machte mir ein alter Schreibtisch aus dunklem Holz im Empfangszimmer, dessen Deckel aufgeschlagen ein Pult bildete, worauf eine große Quartausgabe von Fox‘ »Buch der Märtyrer« lag, den tiefsten Eindruck. Als Wohnstube diente eine mit Ziegelsteinen gepflasterte Küche. Das kostbare Buch, von dem ich keine Silbe mehr weiß, entdeckte und studierte ich sogleich; nie wieder später besuchte ich das Haus, ohne auf das Pult zu klettern und es zu verschlingen. Am meisten erbauten mich die vielen Bilder, die alle Arten von Martern darstellten; die Märtyrer und Peggottys Haus sind seitdem in meiner Seele unzertrennlich miteinander verknüpft.

Ich nahm an diesem Tage von Mr. Peggotty und Ham und der kleinen Emly Abschied und schlief in der Nacht bei Peggotty in einem Dachstübchen, – das Krokodilbuch lag in einem Fach zuhaupten des Bettes – das immer mein Zimmer sein und immer für mich hergerichtet bleiben sollte.

»Solange ich lebe, lieber Davy, und unter diesem Dache wohne«, sagte Peggotty, »sollst du dieses Zimmer vorfinden, als ob ich dich jede Minute erwartete. Ich will es jeden Tag bereit halten, wie dein früheres altes kleines Zimmer, und wenn du selbst nach China gingst, soll es die ganze Zeit, wo du abwesend bist, auf dich warten.«

Ich fühlte von ganzem Herzen die Wahrheit aus diesen Worten meiner lieben alten Kindsfrau heraus und dankte ihr, so gut ich vermochte. Es fiel nicht sehr überschwenglich aus, denn sie gab mir ihre Versicherung, die Hände um meinen Hals gelegt, erst an dem Morgen, als ich mit ihr und Mr. Barkis nach Hause fuhr. Sie verließ mich am Gartentor in Blunderstone.

Es war ein bedrückender Anblick für mich, den Wagen mit Peggotty fortfahren zu sehen, während ich unter den alten Ulmen vor dem Hause stand, in dem kein Blick von Liebe oder Zuneigung mehr auf mir ruhen sollte.

Von diesem Zeitpunkt an verfiel ich in einen Zustand des Verlassenseins, auf den ich ohne Ergriffenheit nicht zurückblicken kann. Gänzlich vernachlässigt, ohne Gesellschaft von Knaben meines Alters, war ich ohne jede Aufgabe, allein gelassen mit meinen eignen trüben Gedanken, die selbst jetzt noch, wo ich dies schreibe, ihren Schatten auf das Papier zu werfen scheinen.

Was würde ich darum gegeben haben, wenn man mich wieder in eine Schule geschickt hätte – und wäre sie noch so streng gewesen –, mich auch nur das Geringste gelehrt hätte. Keine Hoffnung lag vor mir. Man konnte mich nicht leiden, sah hartnäckig und mürrisch an mir vorbei. Ich glaube, Mr. Murdstone besaß damals wenig Mittel, aber das tut wenig zur Sache. Er konnte mich nicht ausstehen, und ich glaube, er wollte meine Ansprüche an ihn vergessen, indem er mich vernachlässigte.

Ich wurde nicht tätlich mißhandelt. Man schlug mich nicht und tadelte mich nicht. Aber das Unrecht, das ich litt, war ohne Unterbrechung und wurde mir in systematischer leidenschaftsloser Weise zugefügt. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat wurde ich kalt vernachlässigt. Was sie wohl mit mir angefangen hätten, wenn ich krank geworden wäre? Ob mich jemand gepflegte hätte oder ob sie mich in meinem einsamen Zimmer einfach hätten verschmachten lassen!?

Wenn Mr. und Miss Murdstone zu Hause waren, nahm ich meine Mahlzeit mit ihnen ein. In ihrer Abwesenheit aß und trank ich allein. Zu allen Zeiten trieb ich mich unbeachtet im Hause und in der Nähe herum. Sie gaben nur eifersüchtig acht, daß ich mit niemand Freundschaft schlösse, wahrscheinlich, damit ich mich nicht beklagen könnte.

Wohl aus demselben Grunde war es mir fast nie erlaubt, mit Mr. Chillip einen Nachmittag zu verleben, trotzdem er mich sehr oft einlud. Nur selten durfte ich ihn besuchen. Ebenso selten die ihnen so verhaßte Peggotty. Ihrem Versprechen getreu kam die gute Seele einmal in der Woche zu mir, oder wir trafen uns in der Nähe, und nie kam sie mit leeren Händen. Aber wie viele, viele Male täuschte ich mich bitter in der Hoffnung, Erlaubnis zu bekommen, sie in ihrer Wohnung besuchen zu dürfen. Hie und da wurde es mir gestattet, und bei einer solchen Gelegenheit brachte ich heraus, daß Mr. Barkis eigentlich ein Geizhals, oder wie sie es nannte, ein bißchen knickerig war, und viel Geld in einem Koffer unter seinem Bette versteckt hielt, der angeblich voll Kleider und Hosen sein sollte. Mit solcher Zähigkeit verbarg Barkis seine Schätze, daß auch die kleinste Summe nur durch List aus ihm herausgelockt werden konnte. Peggotty mußte jedesmal eine wahre Pulververschwörung anzetteln, um samstags ihr Haushaltungsgeld zu bekommen.

Während dieser langen Zeit fühlte ich allmählich jede Hoffnung schwinden und empfand die vollständige Vernachlässigung so tief, daß ich ohne meine alten Bücher ganz und gar elend gewesen wäre. Sie bildeten meinen einzigen Trost, und ich war ihnen so treu, wie sie mir, und ich las sie, ich weiß nicht mehr, wie viele Male durch.

Ich komme jetzt zu einem Zeitabschnitt meines Lebens, den ich nie vergessen kann und dessen Erinnerung mir oft ungerufen wie ein Gespenst erschienen ist und glückliche Zeiten getrübt hat.

Ich schlenderte wie gewöhnlich eines Tags zwecklos und träumerisch wie immer umher, da stieß ich, um eine Ecke biegend, unvermutet auf Mr. Murdstone, der sich in Begleitung eines Herrn befand. Ich wollte mich verlegen vorbeidrücken, als der Herr rief: »Hallo, Brooks.«

»Nein, Sir, David Copperfield«, sagte ich.

»Sei still, du bist Brooks von Sheffield«, sagte der Herr, »das ist dein Name.«

Bei diesen Worten sah ich mir den Gentleman genauer an und erkannte in ihm Mr. Quinion, der damals bei meinem und Mr. Murdstones Besuch in Lowestoft so gelacht hatte.

»Und was machst du und wo gehst du in die Schule, Brooks?« fragte Mr. Quinion. Er legte mir die Hand auf die Schulter und zog mich mit. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, und blickte fragend auf Mr. Murdstone.

»Er ist jetzt zu Hause«, sagte Mr. Murdstone. »Er geht überhaupt nicht in die Schule. Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll. Es ist ein schwieriger Fall.«

Sein alter falscher Blick ruhte eine Weile auf mir, dann runzelte er die Brauen und wandte sich mit Widerwillen von mir ab.

»Hum«, sagte Mr. Quinion und sah uns beide an. »Schönes Wetter.«

Eine Pause trat ein, und ich überlegte, wie ich mich am besten von ihm losmachen könnte und meines Weges gehen, als er sagte:

»Ich glaube, du bist doch ein ziemlich flinker Bursche, was, Brooks?«

»Ja, er ist flink genug«, sagte Mr. Murdstone ungeduldig. »Laß ihn doch gehen, er wird dirs nicht Dank wissen, daß du ihn festhältst.« Auf seinen Wink ließ mich Mr. Quinion los, und ich beeilte mich, wegzukommen. Als ich mich im Garten umdrehte, sah ich, daß Mr. Murdstone, am Kirchhof stehengeblieben, mit Mr. Quinion unterhandelte. Sie sahen mir beide nach, und ich merkte, daß sie von mir sprachen.

Mr. Quinion blieb die Nacht über bei uns. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen wollte ich eben das Zimmer verlassen, als mich Mr. Murdstone zurückrief. Er ging dann feierlich an den Schreibtisch seiner Schwester; Mr. Quinion schaute, die Hände in den Taschen, zum Fenster hinaus, und ich stand da und sah von einem zum andern.

»David«, begann Mr. Murdstone, »für die Jugend ist dies eine Welt der Tat, aber keine zum Brüten und Faulenzen.«

»Wie du es machst«, fügte seine Schwester hinzu.

»Jane Murdstone, überlasse das gefälligst mir! – Also ich sage dir, David, für die Jugend ist dies eine Welt der Tat und nicht ein Feld zum Brüten und Faulenzen, ganz besonders nicht für einen Jungen von deinem Charakter, der der Zucht bedarf und dem man den größten Dienst leistet, wenn man ihn zwingt, die Wege der arbeitenden Welt zu betreten, um ihn zu ducken und zu brechen.«

»Mit Trotz ist hier nichts auszurichten«, warf seine Schwester dazwischen, »dein Trotz muß gebrochen werden. Er soll und muß gebrochen werden.« Mr. Murdstone warf ihr einen halb abweisenden, halb billigenden Blick zu und fuhr fort:

»Ich glaube, du weißt, David, daß ich nicht reich bin. Jedenfalls weißt dus jetzt. Du hast eine beachtenswerte Erziehung genossen. Erziehung kostet Geld. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, würde ich es doch für vorteilhaft halten, dich nicht mehr in die Schule zu schicken. Was vor dir liegt, ist der Kampf mit der Welt, und je eher du damit anfängst, um so besser!«

Ich glaube, daß ich ihn in meiner eignen armseligen Art wohl schon lange begonnen hatte.

»Du hast wohl schon von dem Comptoir gehört?« fuhr Mr. Murdstone fort.

»Vom Comptoir, Sir?«

»Von Murdstone & Grinbys Weinhandlung.«

Ich muß vermutlich ein verwirrtes Gesicht gemacht haben, denn er sagte ungeduldig: »Das Comptoir, das Geschäft, der Keller, das Lager, kurz und gut.«

»Ich glaube, ich habe davon gehört, Sir, aber ich weiß nicht mehr wann.«

»Das ist schließlich gleichgültig«, antwortete er. »Mr. Quinion führt das Geschäft.«

Ich blickte den Gentleman, der immer noch aus dem Fenster schaute, ehrerbietig an.

»Mr. Quinion meint, daß er noch ein paar Jungen beschäftigen kann und keinen Grund sieht, warum er dich nicht auch unter denselben Bedingungen anstellen sollte.«

»Wenn Brooks schon sonst keine andern Aussichten hat, Murdstone«, ließ Mr. Quinion halblaut fallen und sah sich nach uns um.

Ohne zu beachten, was er sagte, fuhr Mr. Murdstone ungeduldig, fast ärgerlich fort:

»Die Bedingungen sind, daß du so viel verdienst, daß du Essen, Trinken und Taschengeld hast. Deine Wohnung, die ich dir aussuchen werde, bezahle ich, ebenso deine Wäsche.«

»Die ich aussuchen werde«, sagte Miss Murdstone.

»Für deine Kleider wird auch gesorgt werden, da du für die erste Zeit sie dir nicht selbst wirst beschaffen können. Du gehst also jetzt mit Mr. Quinion nach London, David, um ein Leben auf eigne Rechnung zu beginnen.«

»Kurz, du bist versorgt«, bemerkte Miss Murdstone »und wirst gefälligst deine Pflicht tun.«

Ich verstand ganz gut, daß man mich nur loswerden wollte, weiß aber nicht mehr recht, ob ich mich darüber freute oder traurig war. Ich glaube, ich fühlte mich so verwirrt, daß ich zwischen beiden Empfindungen hin und her schwankte. Es blieb auch nicht viel Zeit, mir darüber klarzuwerden, da Mr. Quinion am nächsten Morgen abreisen sollte.

Ich sehe mich an jenem Morgen in einem alten abgetragnen weißen Hut mit einem schwarzen Trauerflor, in einer schwarzen Jacke und ein paar harten steifen Manchesterhosen, die Miss Murdstone vermutlich als die beste Rüstung im Kampfe mit der Welt, den ich jetzt beginnen sollte, ausgesucht hatte. In diesem Aufzug, alle meine Habseligkeiten in einem kleinen Koffer, ganz allein, »einsam und verlassen«, wie Mrs. Gummidge gesagt hätte, saß ich auf dem Wagen, der Mr. Quinion zur Londoner Post nach Yarmouth brachte.

Kleiner und kleiner wurden das Haus und die Kirche in der Ferne, das Grab unter dem Baum verschwand hinter den Häusern. Dann sehe ich den Kirchturm nicht über meinem alten Spielplatz mehr ragen, und der Himmel ist öde und leer.

11. Kapitel Ich beginne ein Leben auf eigne Faust und finde keinen Gefallen daran


11. Kapitel Ich beginne ein Leben auf eigne Faust und finde keinen Gefallen daran

Ich kenne die Welt jetzt gut genug, um mich fast über nichts mehr zu wundern, aber dennoch muß ich selbst heute noch staunen, wie man mich damals in einem solchen Alter derartig leichtfertig hinausstoßen konnte. Daß sich niemand eines Kindes von so vortrefflichen Fähigkeiten und mit so großer Beobachtungsgabe, so schnell von Begriffen, lernbegierig, körperlich und geistig so leicht verletzbar wie ich, annahm, klingt fast wunderbar. Aber niemand tat es, und so wurde ich in meinem zehnten Jahr ein kleiner Laufbursche bei Murdstone & Grinby.

Murdstone & Grinbys Magazin lag am Wasser unten in Blackfriars. Neubauten haben die Gegend verändert, aber damals war es das letzte Haus in einer engen Straße, die sich zum Fluß hinschlängelte; am Ende mit ein paar Stufen, wo ein Boot anlegte. Es war ein baufälliges altes Haus mit einem eignen Ladeplatz, der während der Flut im Wasser und während der Ebbe im Schlamm stand und von Ratten wimmelte. Die getäfelten Zimmer, schwarz von Schmutz und Rauch von hundert Jahren wohl, die verfaulten Fußböden und Stiegen, das Quieken und Pfeifen der alten Ratten im Keller, der Schmutz und die Fäulnis des Ortes, alles das steht jetzt noch so deutlich vor meinen Augen, wie beim erstenmal, als ich an Mr. Quinions Hand zitternd eintrat.

Murdstone & Grinby hatten mit allen möglichen Bevölkerungsschichten zu tun. Das Hauptgeschäft bestand darin, gewisse Lastschiffe mit Wein und Branntwein zu versorgen. Ich weiß nicht mehr, was es für Lastschiffe waren, aber einige derselben fuhren nach Ost- und Westindien. Eine große Menge leerer Flaschen bildete eine Begleiterscheinung dieser Geschäftstätigkeit, und eine Anzahl Männer und Knaben mußten diese Flaschen gegen das Licht halten, die beschädigten weglegen und die übrigen ausspülen. Wenn die leeren Flaschen zu Ende gingen, mußten die gefüllten mit Zetteln beklebt, zugekorkt, versiegelt und in Kisten gepackt werden. Das war auch meine Beschäftigung.

Wir waren unser drei oder vier Knaben. Mein Platz befand sich in einer Ecke des Lagerhauses, wo Mr. Quinion mich sehen konnte, wenn er sich auf das unterste Querholz seines Stuhls im Comptoir aufstellte und über das Pult hinweg zum Fenster hinausblickte.

Am ersten Morgen meiner so aussichtsvoll anhebenden Lebensbahn wurde der älteste der angestellten Knaben herbeigerufen, um mir meine Arbeit zu zeigen. Er hieß Mick Walker und trug eine zerrissene Schürze und eine Mütze aus Papier. Sein Vater war, wie er mir sagte, Schutenführer und ging mit schwarzem Samtbarett im jährlichen Festzuge des Lord-Mayor. Unser Vorarbeiter, ebenfalls ein Knabe, wurde mir unter dem sonderbaren Namen Mehlkartoffel vorgestellt. Wie ich später herausfand, war der Jüngling nicht auf diesen Namen getauft, sondern hatte ihn wegen seiner blassen mehligen Gesichtsfarbe bekommen. Er hieß auch kurz Mehlig, und sein Vater war Themseschiffer und außerdem Feuerwehrmann in einem großen Theater, wo Mehligs kleine Schwester Kobolde in Pantomimen spielte.

Worte können meine geheime Seelenqual nicht beschreiben, als ich zu dieser Gesellschaft herabsank, diese jetzt tägliche Umgebung mit meiner glücklichen Kindheit verglich, – nicht zu reden von dem Umgang mit Steerforth, Traddles und den andern Knaben, – und alle meine Hoffnungen, zu einem angesehenen gebildeten Menschen heranzuwachsen, vernichtet fand. Unbeschreiblich war meine Hoffnungslosigkeit, die Scham über meine Lage, das Elend in meinem jungen Herzen, von Tag zu Tag mehr und mehr vergessen zu müssen, was ich gelernt, gedacht und mir ausgemalt hatte. Sooft Mick Walker an diesem Vormittag fortging, mischten sich meine Tränen mit dem Wasser, in dem ich die Flaschen spülte, und ich schluchzte, als ob mir das Herz brechen wollte.

Die Comptoirglocke zeigte halb eins, und alles machte sich zum Mittagessen bereit, als Mr. Quinion ans Fenster klopfte und mich hereinrief. Ich gehorchte und fand drinnen einen starken Mann von mittlern Jahren in einem braunen Überzieher, mit schwarzen Hosen und Schuhen, mit einem Kahlkopf, der so glatt war wie ein Ei, und einem vollen breiten Gesicht. Seine Kleider waren schäbig, dafür hatte er einen ungeheuren Hemdkragen. Er trug einen ehemals glänzend gewesenen Stock mit ein paar großen, abgegriffnen, schwarzen Quasten und an der Brust eine Lorgnette. Diese, wie ich später herausfand, bloß als Schmuck, denn er sah selten hindurch und konnte nichts erkennen, wenn er sie vors Auge hielt.

»Das ist er«, sagte Mr. Quinion und deutete auf mich.

»Also das ist Master Copperfield«, sagte der Fremde mit einer gewissen affektierten Herablassung in Stimme und Benehmen und einer Vornehmtuerei, die mir außerordentlich imponierte.

»Sie befinden sich doch wohl, Sir?«

Ich sagte: »Außerordentlich«, und hoffte das gleiche von ihm. Mir war entsetzlich zumute, weiß der Himmel, aber es lag nicht in meiner Natur zu klagen.

»Dem Himmel sei Dank«, sagte der Fremde, »mir geht es recht gut. Ich habe einen Brief von Mr. Murdstone empfangen, in dem ich ersucht werde, in einem Zimmer im Hintertrakte meines Hauses, das augenblicklich leer steht und – und –« platzte er plötzlich in einem Anfall von Vertraulichkeit lächelnd heraus – »als Schlafstube vermietet werden soll, den jungen Anfänger aufzunehmen, den ich jetzt das Vergnügen habe zu –« er schwenkte die Hand und steckte das Kinn in den Hemdkragen.

»Das ist Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion zu mir.

»Ahem«, sagte der Fremde, »das ist mein Name.«

»Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion, »ist Mr. Murdstone bekannt. Er sammelt Aufträge für uns, das heißt, wenn er welche bekommen kann. Er erhielt von Mr. Murdstone wegen deiner Wohnung einen Brief und wird dich zu sich nehmen.«

»Meine Adresse ist Windsor Terrace, City Road – kurz«, sagte Mr. Micawber in derselben vornehmen Miene wie bei Beginn und dann plötzlich in vertraulichen Ton umschlagend, »kurz, ich wohne dort.«

»Ich stehe unter dem Eindruck«, fuhr er fort, »daß Ihre Wanderungen in dieser Metropole bisher wohl noch nicht so ausgedehnt gewesen sein können, daß es Ihnen nicht einigermaßen Schwierigkeiten bereiten dürfte, in die Verborgenheiten des modernen Babylon bis in die Richtung der City Road vorzudringen, – kurz –«, er verfiel wieder in plötzliche Vertraulichkeit, »daß Sie sich verlaufen könnten. Ich werde so frei sein, Sie diesen Abend abzuholen und in die Kenntnis des kürzesten Weges einzuweihen.«

Ich dankte von ganzem Herzen, denn es war freundlich von Mr. Micawber, daß er sich erbot, so viel Mühe auf sich zu nehmen.

»Zu welcher Stunde soll ich?« fragte Mr. Micawber.

»Gegen acht«, sagte Mr. Quinion.

»Gegen acht«, wiederholte Mr. Micawber. »Ich erlaube mir, Ihnen einen guten Tag zu wünschen, Mr. Quinion, ich will nicht länger stören.«

Damit setzte er seinen Hut auf und ging hinaus, den Stock unter dem Arm, kerzengerade, und begann ein Liedchen zu pfeifen, als er das Comptoir hinter sich hatte.

Mr. Quinion engagierte mich sodann in aller Form für das Lagerhaus von Murdstone & Grinby als »Bursche für alles« mit einem Salär von, ich weiß nicht mehr, sechs oder sieben Schillingen wöchentlich. Er bezahlte mir eine Woche voraus – aus seiner Tasche, glaube ich, und ich gab davon Mehlig sechs Pence, damit er abends meinen Koffer nach der Windsor Terrace bringe, der, wenn auch noch so klein, dennoch für meine Kraft zu schwer war. Weitere sechs Pence zahlte ich für mein Mittagessen, das aus einer Fleischpastete und einem Schluck Brunnenwasser bestand, und verbrachte die freie Mittagsstunde auf der Straße herumschlendernd.

Abends zur festgesetzten Zeit erschien Mr. Micawber wieder. Ich wusch mir seinetwegen Hände und Gesicht, und wir gingen nach unsrer Wohnung. Mr. Micawber machte mich auf die Straßennamen und die Merkmale der Eckhäuser aufmerksam, damit ich am andern Morgen den Weg wieder zurückfinden könnte.

In seinem Hause in der Windsor Terrace, das auch so auf äußern Schein hielt und dabei ebenso schäbig war wie er selbst, stellte er mich Mrs. Micawber vor, einer magern verwelkten Dame, die, nicht mehr jung, mit einem Kind an der Brust in der Wohnung im Parterre saß. Der erste Stock war überhaupt nicht möbliert und die Rouleaux waren herabgelassen, um die Nachbarn zu täuschen. Der Säugling gehörte zu einem Zwillingspaar und während meiner ganzen Bekanntschaft mit der Familie sah ich niemals die Mutter ohne einen der beiden an der Brust. Einer von beiden hatte immer Hunger.

Noch zwei andere Kinder waren da. Master Micawber, ungefähr vier Jahre, und Miss Micawber, etwa drei alt. Dazu kam noch ein junges, dunkelhäutiges Dienstmädchen, das beständig schnaufte und, wie sie es nannte, ein »Waisling«, aus dem benachbarten St.-Lukas-Armenhause stammte. Mein Zimmer sah unter dem Dache nach dem Hof hinaus, war klein, mit einem weißblauen Semmelmuster bemalt und sehr dürftig möbliert.

»Ich hätte nie gedacht«, sagte Mrs. Micawber, als sie mit den beiden Zwillingen hinaufging, um mir das Zimmer zu zeigen, und sich niedersetzte, um Atem zu schöpfen, »ich hätte nie geglaubt, ehe ich heiratete und noch bei Papa und Mama lebte, daß ich noch einmal an fremde Leute würde vermieten müssen. Aber da Mr. Micawber momentan in Verlegenheiten ist, müssen alle selbstsüchtigen Bedenken fallen.«

Ich sagte: »Jawohl, Madame.«

»Mr. Micawbers Bedrängnisse sind augenblicklich fast erdrückender Art«, fuhr Mrs. Micawber fort, »und ob es möglich sein wird, ihn hindurchzubringen, weiß ich nicht. Als ich noch zu Hause bei Papa und Mama lebte, hätte ich Papas Lieblingsausdruck Experientia docet kaum so verstanden, wie ich es jetzt tue.«

Ich weiß nicht recht, ob sie mir sagte, daß Mr. Micawber Marinebeamter gewesen war, oder ob ich es mir bloß einbildete. Augenblicklich war er eine Art Platzreisender für verschiedene Häuser, machte aber wenig oder gar keine Geschäfte.

»Wenn Mr. Micawbers Gläubiger nicht warten wollen«, sagte Mr. Micawber, »müssen sie selbst die Folgen tragen. Je eher sies zu einem Ende bringen, desto besser. Blut läßt sich aus keinem Stein pressen, und noch weniger kann Mr. Micawber jetzt etwas auf Abschlag zahlen, – die Gerichtskosten gar nicht zu erwähnen.«

Ich weiß nicht, ob sie meine frühreife Selbständigkeit über mein Alter irre machte oder ob die Angelegenheit sie derart erfüllte, daß sie sie sogar den beiden Zwillingen erzählt haben würde, wenn niemand anders dagewesen wäre. Jedenfalls schlug sie diese Tonart an und redete darin weiter, solange ich sie kannte.

Die arme Mrs. Micawber! Sie habe sich keine Mühe verdrießen lassen, sagte sie; und daran zweifle ich nicht. Die Haustüre war halb verdeckt von einer großen Messingplatte mit der Aufschrift: »Mrs. Micawbers Erziehungsheim für junge Damen.« Aber ich erfuhr nie, daß eine junge Dame Unterricht genommen hätte oder angemeldet worden wäre. Die einzigen Besucher, die ich sah, waren Gläubiger. Sie pflegten den ganzen Tag zu kommen und einige von ihnen benahmen sich furchtbar wild. Ein Mann mit einem schmutzigen Gesichte, ich glaube, er war Schuster, klemmte sich jeden Morgen schon um sieben Uhr früh zur Haustüre herein und rief die Treppe hinauf Mr. Micawber zu: »No, Sie sind noch nicht fort, weiß schon. Werden Sie endlich zahlen? Verstecken Sie sich nicht. Das ist gemein! Ich möchte nicht so gemein sein, wenn ich Sie wäre. Zahlen Sie endlich, ja? Werden Sie nicht endlich zahlen, was! No?« Da er nie eine Antwort bekam, pflegte er sich in seiner Wut zu Worten wie Schwindler und Räuber zu versteigen, und als auch das nie half, lief er zuweilen sogar auf die Straße hinaus und brüllte zu den Fenstern des zweiten Stocks hinauf, wo sich Mr. Micawber aufhielt, wie er wußte.

Bei solcher Gelegenheit pflegte Mr. Micawber vor Ärger außer sich zu geraten und Todesgedanken zu bekommen, und es kam manchmal so weit, daß er, wie mir das Schreien seiner Frau stets verriet, mit dem Rasiermesser eine Bewegung nach seinem Halse machte. Eine halbe Stunde später putzte er sich jedoch immer wieder mit großer Sorgfalt die Schuhe und ging pfeifend mit vornehmerer Miene als je aus.

Mrs. Micawber war ähnlich elastischer Natur. Ich habe sie bei Präsentierung der königlichen Steuertaxe um drei Uhr in Ohnmacht fallen sehen, und schon um vier Uhr verzehrte sie Lammkoteletten und Warmbier, was von dem Erlös der im Leihhaus versetzten zwei Teelöffel angeschafft worden war. Einmal, als eben eine Exekution vollstreckt wurde und ich zufällig um sechs Uhr nach Hause kam, lag sie mit zersaustem Haar, selbstverständlich mit einem Zwilling, ohnmächtig neben dem Kamin. Aber nie habe ich sie lustiger gesehen als noch am selben Abend bei einem Kotelett am Herdfeuer, wo sie mir Geschichten von Papa und Mama und ihren Gesellschaften erzählte.

In diesem Hause und in dieser Familie verbrachte ich meine freie Zeit. Mein Frühstück, aus einem Pennybrot und einem Schluck Milch bestehend, verschaffte ich mir selbst. Ein zweites Brot und ein Käserest waren für mich in einem besondern Fach eines Schrankes aufgehoben, wenn ich abends nach Hause kam. Das machte ein Loch in die sechs oder sieben Schillinge, und ich war den ganzen Tag über im Magazin und mußte mich eine volle Woche von dem Gelde erhalten. Von Montag früh bis Samstag abend hatte ich weder Rat, Ermutigung, Trost, Beistand oder Unterstützung von irgend jemand, so wahr mir Gott helfe.

Ich war so jung und so kindisch und so wenig geeignet, – wie hätte es auch anders sein können – die ganze Sorge für meine Existenz zu tragen, daß ich oft früh, wenn ich zu Murdstone & Grinby ging, der Versuchung nicht widerstehen konnte und mir die zum halben Preis im Fenster des Bäckers ausgestellten altbackenen Pasteten kaufte und dafür das Geld ausgab, das für mein Mittagessen bestimmt war.

Wenn ich einmal regelrecht zu Mittag speiste, kaufte ich mir eine Roulade und ein Pennybrot oder eine Portion rotes Rindfleisch für vier Pence oder eine Portion Käse und Brot und ein Glas Bier in einem elenden Wirtshaus, unserm Geschäft gegenüber, das »der Löwe« hieß.

Einmal, ich erinnere mich noch, trug ich mein Brot, das ich von zu Hause mitgenommen hatte, in Papier gewickelt wie ein Buch, unter dem Arm und ging in eines der bekannteren Speisehäuser hinter Drury Lane und bestellte mir eine kleine Portion Rindsbraten. Was sich der Kellner beim Anblick der seltsamen kleinen Erscheinung, die ganz allein hereintrat, dachte, weiß ich nicht, aber er starrte mich an während des ganzen Essens und rief auch den andern Kellner herbei. Ich gab einen halben Penny Trinkgeld und wünschte, er hätte ihn nicht genommen.

Wir hatten eine halbe Stunde zur Pause frei. Wenn ich Geld besaß, kaufte ich mir eine halbe Pinte zusammengegossenen Kaffee und ein Stück Butterbrot. Wenn ich keins hatte, betrachtete ich mir eine Wildbrethandlung in Fleet Street oder lief bis Covent Garden Market und starrte die Ananasse an. Mein Lieblingsspaziergang erstreckte sich bis in die Nähe des Adelphi-Theaters, weil es mit seinen dunkeln Bogen ein so geheimnisvoller Ort war. Ich sehe mich noch, wie ich eines Abends aus einem dieser Bogen hervorkam und vor mir dicht am Fluß ein kleines Wirtshaus erblickte mit einem freien Platz davor, wo ein paar Kohlenträger tanzten. Ich setzte mich auf eine Bank und sah ihnen zu. Ich möchte wissen, was sie wohl von mir gedacht haben.

Ich war noch so sehr Kind und so klein, daß, wenn ich in ein fremdes Wirtshaus trat und ein Glas Ale oder Porter verlangte, man es mir kaum zu geben wagte. Ich weiß noch, wie ich an einem warmen Abende an den Ausschank eines Bierhauses trat und zu dem Wirte sagte: »Was kostet ein Glas vom besten, aber vom allerbesten Ale?« Es war eine besonders festliche Gelegenheit. Vielleicht mein Geburtstag.

»Zweieinhalben Penny«, sagte der Wirt, »kostet das echte Stunning-Ale.«

»Also«, sagte ich und legte das Geld hin, »geben Sie mir ein Glas mit recht viel Schaum.«

Der Wirt sah mich über den Schenktisch vom Kopf bis zu den Füßen mit erstauntem Lächeln an, anstatt aber das Bier einzuschenken, beugte er sich hinter den Verschlag und sagte etwas zu seiner Frau. Diese trat mit einer Arbeit in der Hand hervor und gesellte sich zu ihm, um mich ebenfalls zu betrachten. Ich sehe uns drei noch; der Wirt in Hemdärmeln lehnt am Fensterrahmen, seine Frau blickt über die kleine Halbtür, und ich schaue außerhalb der Scheidewand verwirrt zu ihnen auf. Sie fragen mich allerlei aus, wie ich hieße, wie alt ich wäre, wo ich wohnte, was ich für eine Beschäftigung hätte und wie ich dazu gekommen. Auf alles erfand ich mir, um niemand zu kompromittieren, passende Antworten. Sie gaben mir das Ale, – wie ich vermute, war es nicht das echte, – und die Frau des Wirtes öffnete den Schenkverschlag, gab mir mein Geld zurück und küßte mich, halb bewundernd, halb mitleidig, aber jedenfalls recht mütterlich.

Ich weiß, ich übertreibe nicht, auch nicht unabsichtlich, die Dürftigkeit meiner Mittel oder die Bedrängnisse meines Lebens. Ich weiß, daß, wenn Mr. Quinion mir einmal einen Schilling schenkte, ich ihn immer nur für Tee oder ein Mittagessen ausgab. Ich weiß, daß ich als ärmliches Kind mit gewöhnlichen Männern und Knaben von früh bis spät mich abarbeitete. Schlecht und ungenügend genährt, schlenderte ich in meinen freien Stunden durch die Straßen. Wie leicht hätte aus mir ein kleiner Dieb oder Vagabund werden können.

Immerhin nahm ich bei Murdstone & Grinby eine gewisse Stellung ein. Mr. Quinion tat, was ein so vielbeschäftigter und im großen ganzen so gedankenloser Mann, der überdies mit einem so außergewöhnlichen Auftrag betraut war, tun konnte, um mich anders als die übrigen zu behandeln. Überdies verschwieg ich meinen Gefährten, wie ich an diesen Ort gekommen war, und äußerte nie das mindeste, daß ich mich darüber bekümmert fühlte. Daß ich im geheimen litt und auf das tiefste, das wußte nur ich. Und wie sehr ich litt, kann ich gar nicht beschreiben. Aber ich behielt meinen Schmerz für mich und verrichtete meine Arbeit.

Ich fühlte gleich am Anfang, daß ich mich vor Geringschätzung nicht würde schützen können, wenn ich meine Arbeit nicht so gut machte wie die übrigen. Ich wurde bald so geschickt und flink wie die beiden andern Jungen. Obgleich auf bestem Fuß mit ihnen, unterschieden sich doch mein Benehmen und meine ganze Art und Weise von ihresgleichen, und es blieb immer eine Kluft zwischen uns bestehen. Sie und die erwachsenen Arbeiter nannten mich meist den »kleinen Gentleman« oder den »jungen Suffolker.«

Der Vormeister unter den Packern, namens Gregory, und ein andrer, der Kärrner namens Tipp, der eine rote Jacke anhatte, nannten mich zuweilen David, aber es geschah nur, wenn gerade eine sehr vertrauliche Stimmung herrschte und ich mich bemüht hatte, sie während der Arbeit mit einigen Überresten aus meiner Lesezeit, die immer mehr aus meinem Gedächtnis schwanden, zu unterhalten. Mehlkartoffel lehnte sich einmal dagegen auf, daß ich so ausgezeichnet wurde, aber Mick Walker brachte ihn sofort zum Schweigen.

Die Hoffnung auf eine Erlösung aus diesem Dasein hatte ich ganz entschieden aufgegeben. Ich fand mich nie in meiner Stellung zurecht und fühlte mich höchst unglücklich, aber ich ertrug es, und selbst Peggotty entdeckte ich teils aus Liebe, teils aus Scham in keinem Brief, obgleich ich ihr viele schrieb, die Wahrheit.

Mr. Micawbers Bedrängnisse vermehrten noch die Last, die ich innerlich zu tragen hatte. In meiner Verlassenheit war ich der Familie sehr anhänglich geworden und ging immer herum, beschäftigt mit Mr. Micawbers Sorgen und beschwert von der Last seiner Schulden.

Jeden Samstagabend, der immer ein Fest für mich bedeutete, teils, weil es etwas Großes war, mit sechs oder sieben Schillingen nach Hause zu gehen, in die Läden zu blicken und zu denken, was man sich da alles kaufen könnte, teils, weil das Geschäft zeitlicher geschlossen wurde, machte mir Mrs. Micawber die herzzerreißendsten Mitteilungen. Auch Sonntag früh, wo ich die Portion Tee oder Kaffee, die ich mir am Abend zuvor gekauft hatte, in einem kleinen Rasiertopf wärmte und lange beim Frühstück schwelgte.

Durchaus nicht ungewöhnlich war es, daß Mr. Micawber bei Beginn unserer Samstagsabend-Unterhaltung noch heftig schluchzte und gegen Ende ein lustiges Matrosenlied sang. Ich habe ihn zum Abendessen nach Hause kommen sehen mit einer Flut von Tränen und der Erklärung, es bliebe nichts mehr übrig als das Schuldgefängnis, und dann schlafen gehen mit einer Berechnung beschäftigt, was es kosten würde, das Haus mit Bogenfenstern zu versehen, im Falle »eine glückliche Wendung eintreten« sollte, wie sein Lieblingsausdruck lautete. Und Mrs. Micawber war genauso.

Ich genoß eine merkwürdige freundschaftliche Gleichstellung, die, wie ich vermute, eine Folge unserer in gewisser Beziehung ähnlichen Verhältnisse war, bei diesen Leuten, trotz unseres lächerlichen Altersunterschiedes, ließ mich aber nie bewegen, eine der vielen Einladungen, mit ihnen zu essen und zu trinken, anzunehmen, denn ich wußte recht gut, wie schlecht sie mit Bäcker und Fleischer standen, und daß sie oft nicht genug für sich selbst hatten, bis Mrs. Micawber mich eines Tags ganz ins Vertrauen zog. Das tat sie in folgender Weise.

»Master Copperfield«, sagte sie, »ich betrachte Sie nicht wie einen Fremden und zögere daher nicht, Ihnen zu gestehen, daß Mr. Micawbers Bedrängnisse sich zu einer Krisis zuspitzen.«

Das betrübte mich sehr, und ich sah Mrs. Micawbers verweinte Augen mit größter Teilnahme an.

»Mit Ausnahme der Kruste von einem Holländer Käse, die den Bedrängnissen einer jungen Familie nicht angemessen ist«, sagte Mrs. Micawber, »ist auch nicht ein Bissen mehr in der Speisekammer. Als ich noch bei Papa und Mama war, hatte ich noch die Gewohnheit, von einer Speisekammer zu sprechen. Jetzt gebrauche ich das Wort eigentlich ganz gedankenlos. Was ich sagen will, ist, daß wir nichts mehr zu essen im Hause haben.«

»O Gott!« rief ich sehr beunruhigt.

Ich besaß noch zwei oder drei Schillinge von meinem Wochenlohn, es muß also wohl Mittwoch gewesen sein, und ich zog sie eilfertig aus der Tasche und bat Mrs. Micawber mit aufrichtiger Rührung, sie als ein Darlehen anzunehmen. Aber sie küßte mich nur und sagte, daß daran gar nicht zu denken sei.

»Nein, lieber Master Copperfield! Das sei ferne von mir! Aber Sie sind sehr diskret für Ihre Jahre und können mir einen andern Dienst erweisen, wenn Sie wollen, den ich mit Dank annehmen würde.«

Ich bat Mrs. Micawber, ihn mir zu nennen.

»Das Silberzeug habe ich selbst fortgeschafft«, sagte sie, »sechs Tee-, zwei Salz- und ein paar Zuckerlöffel habe ich nach und nach insgeheim selber versetzt, aber die Zwillinge sind ein großes Hindernis, überdies sind für mich mit meinen Erinnerungen an Papa und Mama derlei Transaktionen sehr schmerzlich. Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten da, die wir entbehren können. Mr. Micawber würden seine Gefühle niemals erlauben, so etwas selber zu besorgen, und Clickett – das war das Mädchen aus dem Armenhaus – ist eine ordinäre Person und würde sich Frechheiten herausnehmen, wenn man sie einweihte. Master Copperfield! wenn ich Sie daher bitten dürfte –«

Ich verstand jetzt Mrs. Micawber und bat sie, ganz über mich zu verfügen. Schon am Abend fing ich an, die am leichtesten tragbaren Gegenstände fortzubringen, und machte fast jeden Morgen, bevor ich zu Murdstone & Grinby ging, ähnliche Expeditionen.

Mr. Micawber hatte ein paar Bücher auf seiner kleinen Kommode stehen, die er die Bibliothek nannte; diese kamen zuerst an die Reihe. Ich trug eins nach dem andern zu einem Antiquar in der City Road, die damals zumeist aus Buchläden und Vogelhandlungen bestand, und verkaufte sie um jeden Preis. Der Antiquar, der in einem kleinen Hause unweit seines Standes wohnte, pflegte sich jeden Abend zu betrinken und wurde dann am Morgen von seiner Frau heftig ausgezankt. Mehr als einmal, wenn ich zeitig früh hinging, traf ich ihn noch im Bett mit einer Wunde an der Stirn oder einem blauen Auge, – Erinnerungen an seine nächtlichen Ausschweifungen – und er suchte dann mit zitternder Hand die nötigen Schillinge in den verschiedenen Taschen seiner Kleider, die auf dem Boden herumlagen, während sein Weib in niedergetretenen Schuhen, ein Kind auf dem Arm, ununterbrochen weiterkeifte. Manchmal schien er sein Geld verloren zu haben, und dann hieß er mich wiederkommen. Aber seine Frau besaß immer ein paar Schillinge – wahrscheinlich hatte sie sie ihm während der Trunkenheit aus der Tasche genommen – und schloß den Handel heimlich auf der Treppe ab, wenn wir zusammen hinuntergingen.

Beim Pfandleiher wurde ich bald sehr bekannt. Der Hauptschreiber, der hinter dem Ladentisch amtierte, schenkte mir viel Beachtung und ließ mich oft, während sich meine Geschäfte abwickelten, ein lateinisches Substantiv oder Adjektiv deklinieren oder ein Verbum konjugieren. War ein solches Leihgeschäft besorgt, gab Mrs. Micawber meistens ein bescheidenes Abendessen, und solche Feste hatten für mich immer einen ganz besonderen Reiz.

Endlich kam es in Mr. Micawbers Verhältnissen zu einer Krisis, und er wurde eines Morgens von der bevorstehenden Verhaftung verständigt und sollte sich in dem Kings-Bench-Gefängnis im Borrough einfinden. Als er fortging, sagte er zu mir, daß der Gott des Tages jetzt für ihn versunken sei. Ich dachte wirklich, ihm (und auch mir) sei jetzt das Herz gebrochen. Später hörte ich, daß er vor Mittag noch ganz fidel eine Partie Kegel geschoben hatte.

Am ersten Sonntag nach seiner Verhaftung sollte ich ihn besuchen und bei ihm essen. Ich sollte den Weg nach dem und dem Platze erfragen. Von dem Platze aus würde ich einen andern Platz sehen und dicht hinter diesem einen Hof und über diesen sollte ich geradeaus gehen, bis ich einen Schließer sähe. Alles das befolgte ich, und als ich den Schließer zu Gesicht bekam, armer kleiner Junge, der ich war, und dabei an den Mann dachte, der – als Roderick Random im Roman im Schuldgefängnis saß – nichts als eine alte Decke anhatte, verschwamm seine Gestalt undeutlich vor meinen nassen Augen und es klopfte mir das Herz.

Mr. Micawber erwartete mich an der Tür, und wir gingen hinauf in sein Zimmer im vorletzten Stock unter dem Dach und weinten sehr. Er beschwor mich feierlich, mir an seinem Schicksal ein Beispiel zu nehmen und nie zu vergessen, daß ein Mann mit zwanzig Pfund Jahreseinkommen glücklich ist, wenn er neunzehn Pfund, neunzehn Schilling und sechs Pence ausgibt, aber elend wird, wenn er einen Schilling mehr verzehrt. Dann borgte er sich einen Schilling von mir für Bier aus, gab mir eine geschriebene Anweisung an Mrs. Micawber über diesen Betrag, steckte sein Taschentuch ein und war wieder heiter.

Wir setzten uns vor ein kleines Feuer, das der Ersparnis wegen durch zwei Ziegelsteine abgetrennt auf einem alten Rost brannte, und warteten, bis ein anderer Schuldgefangener, Mr. Micawbers Stubengenosse, mit einer gebratenen Schöpsenkeule, die unsere Mahlzeit auf gemeinsame Kosten bilden sollte, aus dem Bratladen kam. Dann wurde ich hinaufgeschickt in das Zimmer gerade über uns zu »Kapitän Hopkins« mit Empfehlungen von Mr. Micawber, ich sei sein junger Freund und er ließe »Kapitän Hopkins« bitten, mir Messer und Gabel zu leihen.

»Kapitän Hopkins« lieh mir Messer und Gabel mit vielen Empfehlungen an Mr. Micawber. In seinem kleinen Zimmer befanden sich noch eine sehr schmutzige Frau und zwei blasse Mädchen mit furchtbar wirren Frisuren – seine Töchter. Ich dachte bei mir, es sei besser, »Kapitän Hopkins’« Gabel und Messer auszuleihen als seinen Kamm.

Der Kapitän selbst war auf der letzten Stufe von Schäbigkeit angelangt, trug lange Koteletten und einen uralten braunen Überzieher ohne jedes Unterkleid. Sein Bett lag in einer Ecke zusammengerollt, und auf einem Brett stand, was er an Geschirr besaß. Ich erriet, Gott weiß wie, daß die beiden Mädchen mit den zerzausten Haaren wohl »Kapitän Hopkins’« Töchter waren, die schmutzige Frau aber nicht seine Gattin. Ich stand nicht länger auf der Schwelle als höchstens ein paar Minuten, hatte aber alles sofort durchschaut und wußte alles so sicher, wie daß ich Messer und Gabel in der Hand hielt.

Das Mittagessen hatte etwas angenehm Zigeunerhaftes.

Ich brachte »Kapitän Hopkins« Messer und Gabel nachmittags wieder zurück und ging nach Hause, um Mrs. Micawber mit einem Bericht zu beruhigen. Sie wurde ohnmächtig, als sie mich zurückkommen sah, und bereitete dann einen kleinen Eierpunsch zu unserer Tröstung.

Ich weiß nicht, wie und von wem später die Möbel verkauft wurden. Von mir nicht, das ist sicher. Verkauft wurden sie, und mit Ausnahme des Bettes, einiger Stühle und des Küchentisches führte man sie in einem Wagen weg. Mit diesen Besitztümern kampierten wir so gut es ging in zwei Zimmern des ausgeräumten Hauses auf der Windsor-Terrace; Mrs. Micawber, die Kinder, der »Waisling« und ich wohnten darin Tag und Nacht. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber es scheint eine ziemliche Zeit gewesen zu sein.

Endlich beschloß Mrs. Micawber, auch in das Gefängnis zu ziehen, wo Mr. Micawber sich ein eignes Zimmer durchgesetzt hatte. Ich trug die Schlüssel des Hauses zu ihrem Besitzer, der sehr froh war, als er sie bekam, und die Betten wurden nach Kings-Bench geschickt; meines, für das wir ein kleines Stübchen in der Nähe des Gefängnisses mieteten, ausgenommen. Mit dieser Anordnung war ich sehr zufrieden, denn die Micawbers und ich hatten uns aneinander zu sehr gewöhnt, um uns trennen zu können. Der Waisling wurde ebenfalls mit einer billigen Wohnung in unsrer Nähe bedacht. Ich bekam eine stille Dachstube hinten hinaus mit der angenehmen Aussicht auf einen Bauhof, und als ich einzog mit dem Gedanken, daß Mr. Micawbers Sorgen nun endlich zu einer Krisis gekommen seien, erschien es mir wie ein wahres Paradies.

Die ganze Zeit über arbeitete ich bei Murdstone & Grinby in der gewohnten Weise mit denselben Gefährten und dem unveränderten Gefühl einer unverdienten Erniedrigung, wie anfangs. Aber – gewiß zu meinem Glück – machte ich niemals eine Bekanntschaft und sprach nie mit einem der vielen Knaben, die ich auf dem täglichen Weg ins Lagerhaus oder bei meinem Herumlungern auf der Straße von Zeit zu Zeit zu Gesicht bekam. Ich führte immer das gleiche innerlich unglückliche Leben in immer derselben einsamen selbstgenügsamen Weise. Die einzigen Veränderungen, deren ich mir bewußt wurde, waren erstens, daß ich mir noch mehr herabgekommen zu sein schien, und zweitens, daß die Sorgen Mr. und Mrs. Micawbers weniger auf mir lasteten; einige Verwandte oder Freunde unterstützten sie, und sie lebten jetzt besser im Gefängnis als in der letzten Zeit außerhalb.

Infolge irgendeines Arrangements durfte ich bei ihnen frühstücken. Wann die Tore des Gefängnisses früh geöffnet wurden, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur, daß ich immer darauf wartete – am liebsten auf der alten London-Brücke – und mich immer auf die Steinbänke setzte und die vorübergehenden Leute beobachtete, oder über die Balustrade auf das in der Sonne glitzernde Wasser schaute. Hier traf ich öfter den Waisling und erzählte ihm einige erstaunliche Geschichten von den Werften und vom Tower, von denen ich weiter nichts sagen kann, als daß ich hoffe, ich habe sie selbst geglaubt. Abends besuchte ich meistens wieder das Gefängnis, ging mit Mr. Micawber auf dem Hofe auf und ab, spielte mit Mrs. Micawber Casino und hörte ihren Reminiszenzen an Papa und Mama zu. Ob Mr. Murdstone wußte, wo ich mich befand, kann ich nicht sagen. Ich erzählte nie etwas bei Murdstone & Grinby.

Obgleich Mr. Micawbers Angelegenheiten jetzt über die Krise hinaus waren, so schienen sie doch noch sehr verwickelt zu sein wegen eines gewissen Kontraktes, von dem ich immer sehr viel hörte, und der wahrscheinlich eine frühere Vereinbarung mit den Gläubigern gewesen sein mag. Vielleicht war es auch eines jener gewissen Teufelspakte auf Pergament, die einmal vor Zeiten in Deutschland so verbreitet gewesen sein sollen. Endlich schien dieses Dokument irgendwie aus dem Wege geräumt worden zu sein, wenigstens hörte es auf, den Stein des Anstoßes zu bilden, und Mrs. Micawber teilte mir mit, daß »ihre Familie« beschlossen habe, Mr. Micawber müsse sich unter den Schutz des Bankrottgesetzes stellen, was seine Befreiung in etwa sechs Wochen in Aussicht rücken würde.

»Und dann«, sagte Mr. Micawber, »werde ich mit Gottes Hilfe in der Welt wieder vorwärtskommen und ein ganz neues Leben beginnen, wenn – die große Veränderung eintritt.«

Ich darf nicht zu berichten versäumen, daß Mr. Micawber auch eine Petition an das Unterhaus einreichte, und darin um eine Abänderung der Schuldhaftgesetze bat. –

Es gab einen Klub im Gefängnis, in dem er als Gentleman in großem Ansehen stand. Er hatte die Grundidee zu seiner Petition dem Klub bekanntgegeben, und dieser hatte sie gebilligt. Darauf machte sich Mr. Micawber, der außerordentlich gutherzig war und in allen Angelegenheiten, nur in seinen eignen nicht, ungemein tätig war und sich glücklich fühlte, wenn er etwas tun konnte, was ihm nicht den geringsten Nutzen einbrachte, über die Petition her, faßte sie ab, schrieb sie auf einen ungeheuren Bogen Papier, breitete sie auf dem Tisch aus und setzte die Zeit fest, wo der ganze Klub und alle Gefangenen, die dazu Lust hätten, heraufkommen und sie unterzeichnen sollten.

Als ich von der bevorstehenden Feierlichkeit hörte, fühlte ich ein so lebhaftes Interesse, jeden einzelnen heraufkommen zu sehen, daß ich mir bei Murdstone & Grinby eine Stunde Urlaub erwirkte und in einer Ecke des Zimmers Posten faßte.

Die Oberhäupter des Klubs standen in dem kleinen Zimmer herum und »Kapitän Hopkins«, der sich zu Ehren des Festes gewaschen hatte, stand neben Mr. Micawber bereit, die Petition vorzulesen. Dann wurde die Tür geöffnet und in langen Reihen kamen die übrigen Bewohner des Gefängnisses herein. Mehrere warteten draußen, während immer einer vortrat, unterschrieb und wieder hinausging. Jeden einzelnen fragte »Kapitän Hopkins«: »Haben Sie es gelesen? – Nein! – Soll ich es Ihnen vorlesen?« Wenn der Betreffende widerstandslos genug war, auch nur den Schein einer Neigung, es zu hören, an den Tag zu legen, las »Kapitän Hopkins« mit lauter sonorer Stimme Wort für Wort vor. Wenn es zwanzigtausend Leute hätten hören wollen, einer nach dem andern, der Kapitän würde es zwanzigtausendmal vorgelesen haben. Ich weiß noch, mit welchem Wohlbehagen er gewisse Phrasen, wie: »Die im Parlament versammelten Vertreter des Volks«, oder »die Bittsteller nahen sich demütigst Ihrem hochansehnlichen Hause«, »Eurer huldreichen Majestät unglückliche Untertanen«, zerkaute, als ob diese Worte in seinem Munde zu etwas Realem von köstlichem Geschmacke würden, während Mr. Micawber mit ein bißchen Autoreneitelkeit und nicht allzu strengem Blick die eisernen Spitzen des gegenüberliegenden Gefängnisgitters betrachtete.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Neuer Schmerz infolge des schlimmen Lebenswandels seines Sohnes. – Der Lohn wird von der Liste des Covent-Garden-Theaters gestrichen. – Neue Spekulation in Sadlers-Wells. – Ein anderes Direktionssystem und dessen Erfolg. – Sir James Scarlett und ein Zeuge, dem die Schamröte auf die Wangen tritt.

Von dieser Zeit ab bis zu seinem Lebensende hatte Grimaldi Leiden und Widerwärtigkeiten in ununterbrochener Folge zu ertragen, die ihn tiefer und tiefer beugten. Gleich nach seiner Rückkehr nach Cheltenham verfiel er in eine schwere Nervenkrankheit, die ihn vier Wochen ans Bett fesselte, und als er endlich wieder aufstehen konnte, war er ein Krüppel und sollte ein Krüppel bleiben bis an sein Lebensende.

Er liebte seinen Sohn, sein einziges Kind, auf das zärtlichste, hatte ihm die beste Erziehung zuteil werden lassen und einen großen Teil seines oft sehr sauren Verdienstes auf ihn verwandt. Bis zu dieser Zeit hatte sich der Sohn der Liebe seiner Eltern in jeder Hinsicht würdig gezeigt und war beim Publikum allmählich in immer höhere Gunst getreten. Mit einem Male – gleichsam über Nacht – ergab er sich einem so zügellosen Lebenswandel, daß die Direktion des Covent-Garden-Theaters sich gezwungen sah, ihn aus der Mitgliederliste zu streichen.

Schon in Cheltenham erhielt Grimaldi die erste Nachricht von der mit seinem Sohne vorgegangenen Wandlung. Erst ein paar Tage hatte er sein Krankenlager verlassen, als ein Mitglied der Stadtbehörde sich bei ihm melden ließ und ihm eröffnete, daß sein Sohn wegen verschiedener toller Streiche, die er in der Trunkenheit begangen, in Arrest abgeführt worden sei.

Grimaldi bezahlte ohne weiteres, was als Bürgschaft gefordert wurde, um seinem Sohne die Untersuchungshaft zu ersparen. Im Kampfe mit den Polizisten hatte derselbe aber einen Schlag über den Kopf bekommen und eine schwere Verletzung davongetragen. Es wurde allgemein geglaubt, sein Verstand habe dadurch gelitten, weil er von Stund an ein völlig anderer Mensch wurde, unter epileptischen Anfallen litt und allerhand Tollheiten ausführte, die nur Folge eines zerrütteten Gehirns sein konnten. Zuletzt stellte sich totaler Wahnsinn bei ihm ein, so daß er in die Zwangsjacke gesteckt werden mußte.

Grimaldi nahm ihn mit sich nach London zurück, wo er wegen seines eigenen Zustandes die berühmtesten Ärzte konsultierte. Aber alle Bemühungen derselben erwiesen sich als vergeblich; eine Weile lang trug er sich noch mit der Hoffnung auf Besserung, mußte sie aber im Oktober völlig aufgeben.

Schier wäre er fast verzweifelt, als ihm die schreckliche Offenbarung wurde, daß er auf Lebenszeit gelähmt bleiben und das Krankenbett wohl nie wieder verlassen würde, daß er nicht mehr daran denken dürfe, je wieder die Bühne zu betreten, auf der er sozusagen von der Wiege an zu Hause gewesen, und die ihm ein jährliches Einkommen von 1500 Pfund verschafft hatte. Und umso schrecklicher war diese Offenbarung, als er kein anderes Einkommen mehr hatte, als seinen Gewinnanteil am Sadlers-Wells-Theater, der ihm bisher keinen Heller eingetragen, wohl aber Verlust über Verlust gebracht hatte!

Von diesem schweren Schlage, der ihn völlig betäubt hatte, erholte er sich erst nach langer Zeit wieder einigermaßen.

Sobald er seine Besinnung wiedergewonnen hatte, ließ es ihm keine Ruhe, bis er der Direktion des Covent-Garden-Theaters Mitteilung über seinen Gesundheitszustand gemacht hatte, zumal es hoch an der Zeit war, die Vorbereitungen zu der Weihnachtspantomime zu treffen.

Diese Nachricht wurde mit dem lebhaftesten Bedauern aufgenommen; die Direktion gab der Hoffnung Ausdruck, daß er doch bald wieder genesen werde, und nach längerem Bedenken faßte sie den Entschluß, die erste Clownrolle in der Pantomime Grimaldis Sohne zu übertragen, der sich seit einiger Zeit einer bessern Aufführung befleißigt hatte.

Es wurde ihm eine Gage von acht Pfund wöchentlich bewilligt; auch gegen Grimaldi selbst zeigte man sich sehr nobel, indem man ihm, wenn auch nicht die volle Gage, so doch eine Pension von fünf Pfund wöchentlich für die Dauer der Saison aussetzte. Das war weit mehr, als er erwartet hatte.

Nach Ablauf der drei Jahre, die Egertons Pachtkontrakt dauerte, wurde zwischen den Eigentümern des Theaters darüber verhandelt, ob man es behalten oder weiterzuverkaufen suchen solle. Es wollte sich kein Käufer dafür finden zu den Bedingungen, an denen man festhalten zu müssen meinte, und so einigte man sich dahin, es an Mr. Williams vom Surrey-Theater weiter zu verpachten.

Kurz darauf besuchte Williams Grimaldi, um sich mit ihm über einige Dinge zu besprechen, unter anderm darüber, was er zu einem Versuche, beide Theater durch einunddasselbe Personal zu bedienen, meine, so zwar, daß die eine Hälfte zuerst in Sadlers Wells, dann im Surrey-Theater, die andere umgekehrt zuerst im Surrey-, dann im Sadlers-Wells-Theater spiele.

Grimaldi wußte nicht recht, was er dazu sagen sollte, aber Williams erklärte, er sei der Ausführung des Planes schon nähergetreten, indem er Wagen für die Beförderung des Personals vom einen zum andern Theater bauen lasse.

Am Ostermontage 1824 wurden die Theater in Sadlers-Wells und in Surrey eröffnet, das Experiment, mit nur einem Personal auszukommen, wurde gemacht, aber – wie Grimaldi bei sich gedacht hatte – mit vollständigem Mißerfolge. Williams als Pächter erlitt einen beträchtlichen Verlust, konnte seinen Pachtschilling nicht bezahlen, so daß die Besitzer das Theater noch vor Ablauf der Saison wieder selbst in Betrieb nehmen mußten, dabei aber wiederum beträchtliche Verluste erlitten, weil sie den Fall in keiner Weise vorausgesehen und gar keine Vorbereitungen für eine Aufführung getroffen hatten.

In diesem Jahre kam Grimaldi aus den Sorgen gar nicht heraus: die Geldverlegenheiten häuften sich, und sein Sohn gab ihm neuerdings wieder Ursache zu dem empfindlichsten Verdrusse.

Grimaldi mußte, um die Mittel zum Lebensunterhalte zu schaffen, ein Wertpapier nach dem andern verkaufen, so daß er von Monat zu Monat ärmer wurde. Sein Sohn, der jetzt eine gute Gage bekam und auch eines guten Renommees als Pantomimiker zu genießen anfing, entwich plötzlich aus dem elterlichen Hause, um sich wieder in die tollsten Extravaganzen zu stürzen.

Grimaldi schrieb ihm, bat ihn, wieder zu ihm zurückzukehren, und erbot sich zu allem, was irgend möglich war, ihm das Leben angenehm zu machen; aber der Sohn hielt es nicht der Mühe für wert, dem Vater auch nur zu antworten, sondern fügte seinen Tollheiten und Schlechtigkeiten immer neue hinzu, so daß Grimaldi sich so schwer betroffen fühlte, daß er sich täglich den Tod wünschte.

Vier Jahre lang sah er den Sohn nur von Zeit zu Zeit, einmal in Sadlers-Wells-Theater, wo er mit einer Gage von fünf Pfund wöchentlich engagiert war, ein anderes Mal auf der Straße, wo er ihm aber jedesmal auswich. Auch erhielt er in dieser ganzen Zeit nur ein einziges Mal ein paar Zeilen von ihm. Er hatte ihm nämlich mitgeteilt, daß er sich in einer ziemlich schlimmen, fast hilflosen Lage befände, und ihn um Unterstützung gebeten, die er ihm, dem alten Vater, doch recht gut leisten könne, da er doch von beiden Theatern zusammen eine Gage von dreizehn Pfund wöchentlich bezöge. Der Sohn ließ den Vater lange auf Antwort warten, und schrieb erst, als ihm auch andere Leute hart zugesetzt hatten:

»Lieber Vater! Momentan bin ich selbst in Verlegenheit; aber solange ich noch einen Schilling besitze, sollen Sie unbedingt die Hälfte haben.«

Er schickte aber seinem Vater keinen einzigen Heller und besuchte ihn auch erst nach etwa drei Jahren, und in einem Zustande, daß sich Grimaldi förmlich entsetzte, völlig abgerissen, um Obdach und Speise bettelnd.

Inzwischen hatten die Besitzer des Theaters sich dahin geeinigt, das Theater auf gemeinschaftliche Rechnung zu eröffnen, und Mr. Dibdin als Direktor zu engagieren. Ein Direktionsmitglied sollte im Theater selbst seine Wohnung nehmen, zur Unterstützung Dibdins und um die Ausgaben zu vereinfachen.

Da Grimaldi beschäftigungslos war, wurde ihm der Vorschlag gemacht, sich für eine Entschädigung von vier Pfund wöchentlich hierzu zu verstehen. Daß Grimaldi mit Freuden hierauf einging, braucht nicht erst gesagt zu werden.

Die Saison wurde mit großem Eifer begonnen, es wurde weder Geld gespart, noch Mühe und Anstrengung geschont, auch wurde mit neuen Eintrittspreisen, auf die Hälfte reduziert, ein Versuch gemacht, mehr Publikum anzulocken, statt wie sonst nur ein halbes, wurde das ganze Jahr hindurch gespielt, und zwar mit Rücksicht darauf, daß der Stadtteil, wo in Grimaldis Glanzzeit nur einzelne Häuser oder wenigstens keine geschlossenen Straßen existiert hatten, jetzt ein dichtbevölkerter Stadtteil entstanden war – und doch schloß das erste Spieljahr trotz all dieser Einrichtungen mit einem Fehlbetrage von 1400 Pfund.

Im nächsten Jahre wurde ein umgekehrter Plan verfolgt, indem die Ausgaben in allen Hinsichten eingeschränkt wurden. Grimaldi wurde die gesamte Leitung übertragen. Er begann die Reduktion der Ausgaben mit seiner eigenen Gage, die er von jetzt ab auf die Hälfte festsetzte. Dann versuchte er es mit der Einrichtung von Wettrennen, und zwar zunächst mit Ponys, und machte allein zwischen Ostern und dem sogenannten »weißen Sonntage« den ganzen Fehlbetrag des verflossenen Spieljahres gut. Auch die zweite Saison lieferte ein ziemlich günstiges Ergebnis, so daß Grimaldi auf eine Besserung seiner Einnahmen aus dem Geschäftsanteil an dem Theater wieder zu hoffen anfing. In diese Zeit fiel eine Zeugenvernehmung in einem Prozesse zwischen zwei Parteien, die ein ungeheueres Gelächter im Gerichtssaale hervorrief. Der Anwalt, der ihn hatte vorladen lassen, führte den englischen Namen Scarlet, was soviel wie Scharlach im Deutschen bedeutet.

Natürlich machte Grimaldis Eintritt in den Gerichtssaal eine gewisse Sensation. Sein Name war in aller Munde, trotzdem er schon lange nicht mehr aufgetreten war, und man war umsomehr gespannt darauf, wie er seine Aussage abgeben würde. Der Anwalt betrachtete ihn mit großem Interesse, mochte dasselbe nun tatsächlich vorhanden oder nur künstlich gemacht sein, und fragte ihn, ob er tatsächlich der berühmte Grimaldi vom Covent-Garden-Theater sei.

Grimaldi wurde verlegen, da sich aller Blicke in verstärktem Maße auf ihn zu richten anfingen, und versetzte, errötend bis zu den Haarwurzeln:

»Ich habe als Pantomimiker im Covent-Garden-Theater gewirkt, Sir.«

»O, ich besinne mich recht wohl, Sie zuweilen gesehen zu haben,« antwortete der Anwalt des Namens Scharlach; »Sie gebieten über ein sehr hübsches Talent, Sir! Aber – Sie sind doch auch wirklich Grimaldi?«

Grimaldis Verlegenheit wuchs. Unruhig wendete er sich von der einen auf die andere Seite und wurde schließlich puterrot.

»Aber, lieber Mr. Grimaldi, Sie brauchen doch wahrlich nicht rot zu werden!« sagte der Anwalt, »dazu haben Sie doch gar keine Ursache.«

»Ich erröte auch gar nicht, Sir,« versetzte Grimaldi.

»Wenigstens brauchen Sie es ganz gewiß nicht, lieber Grimaldi.«

»Ich bin doch gar nicht rot, Sir,« sagte Grimaldi, unwillig werdend, mit einem so puterroten Gesicht, daß alle Leute im Saale zu kichern anfingen. »Aber, lieber Mr. Grimaldi, Sie glühen ja wie eine Pumpelrose,« meinte der Anwalt wieder.

»Sie müssen sich irren,« antwortete Grimaldi ärgerlich, »wirklich, Sir! Es müßte denn gerade sein, daß ich von Ihnen angesteckt wäre; mein Arzt hat aber kein Wort davon gesagt, daß ich am Scharlach erkrankt wäre, so krank ich auch sonst sein mag.«

Der Saal hallte von Gelächter wieder. Auch der Anwalt lachte herzlich und begann gleich darauf mit dem Zeugenverhör.