Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Enthält eine kurze Schilderung der Gesellschaft im Pfauen und eine Erzählung von einem Krämer.

Es ist angenehm, von den Wirren und Kämpfen der Politik zu der friedlichen Ruhe des Privatlebens zurückzukehren. Obgleich eigentlich kein erklärter Anhänger der einen oder andern Partei, war Herr Pickwick doch von der Begeisterung des Herrn Pott so weit angesteckt, daß er seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit den Vorgängen widmete, von denen das vorhergehende Kapitel eine Schilderung gibt, die aus seinem eigenen Gedenkbuche entlehnt ist. Auch Winkle ging indessen nicht müßig, sondern verwandte seine ganze Zeit auf angenehme Spaziergänge und Ausflüge in die Umgegend mit Madame Pott, die sich dabei einmal von dem langweiligen Einerlei erholte, über das sie ständig klagte.

Während sich auf diese Art die beiden Herren im Hause des Journalisten völlig heimisch gemacht hatten, waren die Herren Tupman und Snodgraß großenteils auf ihre eigenen Hilfsquellen der Unterhaltung beschränkt. Ziemlich unbekümmert um öffentliche Angelegenheiten, vertrieben sie sich die Zeit mit Ergötzlichkeiten, wie sie der Pfau darbot, und das waren eine Art Kegelbillard im ersten Stockwerk und eine abgelegene Kugelbahn im Hinterhofe. In die Raffinements dieser beiden Erholungsspiele, die weit tiefer liegen, als man gewöhnlich glaubt, wurden sie nach und nach durch Herrn Weller eingeweiht, der ein vollendeter Kenner solcher Zeitvertreibe war. Wenn sie also auch in hohem Grade den Genuß der Gesellschaft des Herrn Pickwicks entbehrten, so besaßen sie doch Mittel und Wege, die Zeit und ihre Länge sich angenehm zu verkürzen.

Abends bot der Pfau Reize, die unsere beiden Freunde so sehr anzogen, daß sie sogar den Einladungen des geistreichen, wenn auch nicht sehr poetischen Herrn Pott widerstanden. Abends war nämlich das Gastzimmer der Versammlungsort eines geselligen Kreises, dessen Eigenheiten und besondere Art Herr Tupman mit dem größten Vergnügen beobachtete, und dessen Gespräche und Handlungen Herr Snodgraß aufzuzeichnen pflegte.

Die meisten Leute wissen, was man gewöhnlich unter einem Gastzimmer versteht. Das des Pfauen zeichnete sich in materieller Hinsicht nicht vor den andern gemeinhin aus. Es war nämlich ein großes, kahl aussehendes Zimmer, dessen Einrichtung ohne Zweifel ein bißchen mehr vorstellte, als sie noch neu war: ein großer Tisch in der Mitte, eine Menge Tischchen in den Ecken, ein bedeutender Vorrat verschieden geformter Stühle und ein alter türkischer Teppich, dessen Dimensionen zu der Größe des Zimmers ungefähr dasselbe Verhältnis hatten, wie etwa ein Damentaschentuch zum Fußboden eines Schilderhäuschen. Die Wände waren mit einer oder zwei großen Landkarten verziert, und in einer Ecke hingen an einer langen Reihe von großen hölzernen Nägeln verschiedene regengewohnte grobe Überröcke mit doppelten Kragen. Auf dem Kamingesimse fand man ein hölzernes Tintenzeug mit einem Federstümpfchcn und einer halben Oblate, ein Reisehandbuch und einen Wegweiser, eine Geschichte der Grafschaft ohne Einband und die sterblichen Überreste einer Forelle in einem gläsernen Sarge. Die Atmosphäre war mit Tabaksdampf durchsetzt, der dem ganzen Zimmer und besonders den staubigen roten Fenstervorhängen seine Rauchfarbe mitgeteilt hatte. Auf dem Schenktische standen oder lagen in reizvoller Unordnung eine Menge verschiedenartiger Geräte, von denen einige sehr schmutzige Fischsoßefläschchen, ein paar Reitgerten, zwei bis drei Fuhrmannspeitschen und eben so viele Reisemäntel, ein Besteckbehälter und der Senftopf am meisten in die Augen fielen.

Hier saßen am Abend nach dem Schlusse der Wahl Herr Tupmann und Herr Snodgraß neben einigen andern jeweiligen Bewohnern des Hauses, rauchend und trinkend.

»Ja, liebe Leute«, sagte eine wohlgenährte, gesund aussehende Persönlichkeit von Vierzig, mit nur einem Auge – einem sehr hellen, schwarzen Auge, das mit einem schelmischen Ausdruck von guter Laune und Aufgeräumtheit blinzelte; »unserm edlen Selbst, liebe Leute! Das ist immer mein Toast, den ich der Gesellschaft vorschlage; auf Mariens Wohl trinke ich für mich allein. He, Marie!«

»Geht Eurer Wege, Spötter«, sagte das Schenkmädchen, wiewohl offenbar durch das Kompliment nicht aufgebracht.

»Spring‘ nicht davon, Marie«, sagte der Schwarzäugige.

»Laßt mich im Frieden, Ausgeschämter«, versetzte die junge Dame.

»Denke nicht dran«, versetzte der Einäugige, dem Mädchen nachrufend, das eben das Zimmer verließ. »Ich komme bald nach, Marie.«

Hier winkte er, mit einem für ihn durchaus nicht schwierigen Prozeß, der Gesellschaft mit einem Auge zu, woran eine ältliche Persönlichkeit mit einem schmutziggelben Gesicht und einer Tonpfeife ein ausnehmendes Wohlgefallen fand.

»Merkwürdige Geschöpfe, die Weiber«, sagte der mit dem Negergesicht nach einer Pause.

»O! haben nicht Unrecht«, bestätigte ein Mann mit einem kupferroten Gesicht hinter einer Zigarre.

Nach diesem philosophischen Aphorismus entstand eine zweite Pause.

»Aber es gibt noch seltsamere Dinge in der Welt als die Weiber, denke ich«, bemerkte der Mann mit dem schwarzen Auge, eine große holländische Pfeife mit sehr geräumigem Kopfe langsam füllend.

»Sind sie verheiratet?« fragte das Negergesicht.

»Kann mich damit nicht rühmen.«

»Dacht mir’s doch.«

Hier lachte das Negergesicht laut vor Bewunderung seines Scharfsinns, und ein Mann mit einer sanften Stimme und einem feinen Gesichtchen, der es sich jederzeit zur Pflicht machte, jedermanns Ansicht beizupflichten, stimmte in das Lachen ein.

»Die Weiber, meine Herren«, sagte der enthusiastische Herr Snodgraß, »sind aber doch die Stützen und Zierden unseres Lebens.«

»Allerdings«, sagte der Herr mit dem Milchgesicht.

»Wenn sie guter Laune sind«, sprach das Negergesicht dazwischen.

»Ja, da haben Sie ganz recht«, stimmte das Milchgesicht ein.

»Ich weise diese Einschränkung zurück«, sagte Herr Snodgraß, dessen Gedanken ohne Zweifel zu Emilie Wardle zurückkehrten; »ich weise sie mit Unwillen – mit Empörung zurück. Zeigen Sie mir den Mann, der etwas gegen die Frauen als Frauen hat, und ich behaupte kühn, er ist kein Mann.«

Und Herr Snodgraß nahm seine Zigarre aus dem Munde und schlug mit geballter Faust auf den Tisch.

»Das ist ein gründliches Argument«, sagte das Milchgesicht.

»Eine Behauptung, der ich widerspreche«, unterbrach ihn das Negergesicht.

»Und es liegt gewiß sehr viel Wahres an dem, was Sie bemerken«, pflichtete das Milchgesicht bei.

»Ihre Gesundheit, mein Herr«, sagte der Krämer mit dem einen Auge, Herrn Snodgraß beifällig zuwinkend.

Herr Snodgraß erwiderte das Kompliment.

»Ich höre immer gern ein gutes Argument«, fuhr der Krämer fort, »besonders ein so scharfes, wie dieses; es ist sehr belehrend. Aber der kleine Diskurs über die Weiber bringt mich auf eine Geschichte, die ich einen alten Oheim von mir erzählen hörte, und eben die Erinnerung daran führte mich auf die Behauptung, es gebe bisweilen noch merkwürdigere Dinge als die Weiber.«

»Ich möchte wohl diese Geschichte hören«, sagte das Kupfergesicht mit der Zigarre.

»Möchten Sie«, war die einzige Erwiderung des Krämers, der mit großer Gewalt fortrauchte.

»Auch ich möchte es«, sagte Herr Tupman, zum ersten Male den Mund öffnend. Er war immer darauf bedacht, den Schatz seines Wissens zu erweitern.

»Möchten Sie? Wohlan denn, ich erzähle sie. Nein, ich tu‘ es nicht. Ich weiß, ihr würdet sie nicht glauben«, erwiderte der Mann mit dem schelmischen Auge, seinem Sehorgane noch einen schelmischeren Ausdruck gebend.

»Wenn Sie sagen, sie ist wahr, so glaube ich sie natürlich«, sagte Herr Tupman.

»Wohlan, unter der Bedingung will ich sie erzählen«, erwiderte der Reisende. »Haben Sie je von dem großen Handelshause Bilson und Slum gehört? Doch es tut nichts zur Sache, ob Sie davon gehört haben oder nicht, denn die Herren haben sich schon längst vom Geschäfte zurückgezogen. Es ist jetzt achtzig Jahre, seitdem diese Geschichte einem Reisenden dieses Hauses begegnet ist: er war ein besonderer Freund meines Oheims, und mein Oheim erzählte mir die Sache. Es ist ein sonderbarer Titel, aber er nannte sie nur

die Krämersgeschichte

und pflegte sie folgendermaßen wiederzugeben:

An einem Winterabend, gegen fünf Uhr, als es eben dunkel zu werden anfing, hätte man einen Mann in einem Zweiradwagen sehen können, der sein müdes Pferd längs der Straße hintrieb, die über die Marlborough-Ebene nach Bristol Alte Stadt und Grafschaft im südwestlichen England, einst neben London die wichtigste Stadt Britanniens. führt. Ich sage, man hätte sehen können, und ich zweifle auch nicht, man hätte gesehen, wenn einer, der nicht blind war, des Weges gegangen wäre: aber das Wetter war so schlecht und die Nacht so kalt und naß, daß niemand über Feld ging, als das Wasser. So fuhr denn der Reisende einsam und traurig auf der Mitte der Straße dahin. Wenn ein Krämer aus jenen Tagen den kleinen Zweiradwagen mit den tonfarbenen Kasten und den roten Rädern, nebst der launischen, übelgestimmten, trabenden Mähre, die die Mitte zwischen einem Metzgergaul und einem Zweipennypostklepper hielt, gesehen hätte – er würde sogleich erkannt haben, daß der Reisende niemand anders sein konnte, als Tom Smart von dem großen Hause Bilson und Slum, Cateatonstreet City. Da nun aber kein Krämer auf dem Wege war, um es zu sehen, so wußte überhaupt niemand von der Sache, weshalb sich Tom Smart und sein tonfarbener Wagen mit den roten Rädern und die launische Mähre mit dem stets gleichen Trott gemeinsam fortbewegten, und das Geheimnis unter sich teilten, ohne daß jemand klüger dadurch geworden wäre.

Sogar in dieser traurigen Welt gibt es immerhin angenehmere Punkte als die Marlborough-Ebene, wenn ein starker Wind geht. Wenn Sie dabei noch einen düstern Winterabend, einen schmutzigen, aufgeweichten Weg und tüchtiges Regenwetter in Rechnung setzen und auf dem Wege des Experiments den Versuch an Ihrer höchsteigenen Person machen, so wird Ihnen die Erfahrung diesen Satz zur Genüge bestätigen.

Der Wind blies – nicht die Straße hinauf oder hinunter, obwohl das schon schlimm genug ist, sondern gerade in die Quere, indem er den Regen in den schiefen Linien niedertrieb, wie sie gewöhnlich in den Schreibheften der Elementarschulen zu sehen sind. Für einen Augenblick wollte er nachlassen, und der Reisende fing an, sich der Hoffnung zu schmeicheln, er, d. h. der Wind, werde sich, erschöpft von seiner bisherigen Wut, zur Ruhe legen, als er ihn leider auf einmal in der Entfernung wieder rauschen und pfeifen hörte.

Brausend fuhr der Sturm über die Hügel dahin, senkte auf die Ebene, tobte immer stärker und stärker, und immer näher und näher, bis er sich mit gewaltigen Stößen auf Roß und Mann warf, den scharfen Regen ihnen in die Ohren und seinen kalten Hauch gegen die Beine treibend. Darnach fuhr er dahin immer ferner und ferner, mit furchtbarem Getöse, als spottete er ihrer Schwäche und triumphierte stolz auf seine Gewalt und Kraft.

Die Mähre trabte durch dick und dünn mit herabhängenden Ohren, dann und wann den Kopf schüttelnd, als wolle sie ihr Mißfallen über dieses höchst unhöfliche Benehmen der Elemente zu erkennen geben. Dabei hielt sie jedoch immer einen guten Trott, bis sie ein Windstoß, der alle früheren an Wut übertraf, plötzlich veranlaßte, halt zu machen und sich mit ihren vier Beinen fest gegen den Boden zu stemmen, um nicht über den Haufen geblasen zu werden. Es ist ein besonderes Glück, daß sie das tat, denn wäre sie weggeblasen worden – die launische Mähre war leicht, der Wagen nicht schwer, und Tom Smarts Körperschwere fiel dabei ohnedem nicht ins Gewicht – so würden sie unfehlbar alle miteinander kopfüber, kopfunter gepurzelt sein, bis sie das Ende der Erde erreicht oder der Wind nachgelassen hätte; und jedenfalls ist es wahrscheinlich, daß weder die launische Mähre, noch der tonfarbene Wagen mit den roten Rädern, noch Tom Smart jemals wieder diensttauglich geworden wären.

›Nun, hole der Teufel mein Fuhrwerk samt dem Geschirr‹, sagte Tom Smart (Tom hatte bisweilen die üble Gewohnheit, zu fluchen), hole der Teufel mein Fuhrwerk samt dem Geschirr, sagte Tom: ›wenn das nicht lustig ist, so blase mich –‹

Sie wollen mich wahrscheinlich fragen, warum Tom Smart, der doch bereits zerblasen genug war, den Wunsch ausdrückte, demselben Prozesse abermals unterworfen zu werden. Ich kann es nicht sagen, und weiß nur, daß Tom Smart so sagte – oder wenigstens erzählte mein Oheim immer, daß er so sagte, und das kommt am Ende auf eins heraus.

›Zerblase mich‹, sagte Tom Smart, und die Mähre wieherte, als ob sie genau der gleichen Ansicht wäre.

›Munter, alte Lisel‹, sagte Tom, den Braunen mit dem oberen Ende seiner Peitsche auf den Nacken tätschelnd. So eine Nacht wie diese kann’s nicht weitergehen. Im ersten Haus, zu dem wir kommen, kehren wir ein, und je schneller du läufst, desto schneller geht es vorüber. Oho, alte Lisel – sachte – sachte.

Ob die launische Mähre mit den Tonarten von Toms Stimme hinreichend bekannt war, um seine Meinung zu verstehen, oder ob sie fand, es sei kälter, wenn sie stehenbleibe, als wenn sie vorwärtsgehe, kann ich natürlich nicht behaupten. Aber das kann ich sagen, daß Tom kaum den Mund geschlossen hatte, als sie die Ohren spitzte und fortrannte, und der tonfarbene Wagen mit einer Hast hinterdreinrasselte, daß man hätte glauben können, die roten Speichen müßten jeden Augenblick auf die Wiesen der Marlborough- Ebene hinausfliegen. Sogar Tom konnte wegen der Geschwindigkeit, womit er fortgerissen wurde, ihren Schritt nicht hemmen, bis sie aus eigenem Antrieb vor einem Gasthaus auf der rechten Seite der Straße, ungefähr eine halbe Viertelmeile vor dem Ende der Ebene halt machte.

Tom warf einen schnellen Blick auf das obere Stockwerk des Hauses, überließ die Leine dem Hausknecht und steckte die Peitsche neben den Bock. Es war ein sonderbares altes Haus, aus schmalen Backsteinen gebaut und von Querbalken durchzogen, mit Giebelfenstern, die die ganze Breite des Fußweges neben der Straße überragten, und mit einem niederen Tor und dunklem Eingang. Ein paar steile Stufen führten in das Haus hinab, während bei den modernen Gebäuden gewöhnlich ein halb Dutzend breite und niedere Stufen in das Haus hinaufgehen. Dennoch hatte das Ganze ein einladendes Aussehen, denn auf dem Schenktisch brannte ein helles, lustiges Licht, das einen breiten Strahl über die Straße warf und sogar die gegenüberstehende Hecke beleuchtete. Am entgegengesetzten Fenster flackerte ein rotes Licht, das in einem Augenblicke kaum bemerkbar war, aber im nächsten hell durch die herabgelassenen Vorhänge schimmerte und dadurch verriet, daß im Innern ein munteres Feuer brannte. Diese unbedeutenden Umstände mit dem Auge des erfahrenen Reisenden beobachtend, stieg Tom so behend ab, wie seine halberfrorenen Glieder gestatteten, und trat in das Haus.

In weniger als fünf Minuten saß er im Hinterzimmer, demselben, worin er das Feuer vermutet hatte, vor einem einladenden Brennstoffe, der aus einem kleinen Rest Kohlen und einem Vorrat Holz, groß genug, um ein Halbdutzend ordentlicher Reiserbüschelchen daraus zu machen, bestand. Das Holz, zur anderen Hälfte noch auf dem Kamine aufgestapelt, ging mit einem Knistern und Prasseln im Feuer auf, daß sich schon an diesem Geräusche das Herz eines vernünftigen Mannes hätte erwärmen können. Das war ein behaglicher Anblick, aber es war noch nicht alles: denn ein schmuckgekleidetes Mädchen mit feurigen Augen und zierlichen Knöcheln, breitete ein sehr reines weißes Tischtuch vor ihm aus. Da Tom mit seinen Füßen, die bereits in Pantoffeln steckten, auf dem Kamingitter und mit dem Rücken der offenen Türe zugekehrt dasaß, so sah er auf dem Schenktisch durch den Spiegel, der über dem Kaminsimse hing, köstliche Reihen grüner Flaschen mit goldenen Etiketten. Er sah ferner Krüge mit eingemachten Früchten, Käse, gekochten Schinken und Ochsenfleisch, in schönster Ordnung und in appetitlichster Weise auf Brettern aufgestellt.

Nun, dieser Anblick war auch behaglich; aber es war noch nicht alles, denn beim Büfett saß am niedlichsten aller Teetischchen, das vor dem hellsten aller Feuerchen stand, eine muntere Witwe von ungefähr achtundvierzig Jahren, mit einem Gesicht so einladend, wie das Zimmer selbst. Es war offenbar die Frau des Hauses und sie hatte die oberste Leitung über alle diese herrlichen Besitztümer. Nur eine störende Linie war in dem ganzen schönen Gemälde, und das war ein großer Mann – ein sehr großer Mann, der neben der Witwe beim Tee saß. Er hatte einen braunen Rock mit glänzenden Seidenknöpfen an, einen schwarzen Backenbart und wallendes schwarzes Haar. Es gehörte gerade kein großer Scharfblick dazu, um zu entdecken, daß er auf dem besten Wege war, seine Nachbarin zu überreden, nicht länger Witfrau zu sein, sondern auf ihn das Vorrecht zu übertragen, den ganzen Rest seines Lebens hindurch im Schenkstübchen zu sitzen.

Tom Smart war keineswegs von reizbarer oder mißgünstiger Gemütsart. Aber sei dem wie es wolle, der große Mann in dem braunen Rock mit den glänzenden Seidenknöpfen regte das Tröpfchen Galle auf, das in seiner Natur lag, und machte ihn um so unwilliger, als er dann und wann von seinem Sitze vor dem Spiegel aus gewisse unbedeutende Vertraulichkeiten zärtlicher Natur bemerkte, die zwischen dem großen Mann und der Witwe vorgingen. Sie bestätigten hinlänglich, daß der große Mann sich einer mit seiner Größe im Verhältnis stehenden Gunst erfreute,

Tom war ein großer Freund von warmem Punsch – ich darf sagen ein sehr großer Freund von warmem Punsch – und nachdem seine launische Mähre gut untergebracht und versorgt war, und er selbst das köstliche warme Abendessen, das ihm die muntere Witwe mit eigenen Händen angerichtet, bis auf den letzten Bissen einverleibt hatte, bat er zur Probe um ein Glas von seinem Lieblingsgetränk. Nun gab es im ganzen Kapitel der Haushaltungskunst nicht einen Artikel, auf den sich die Witwe besser verstand, als die Punschbereitung. Das erste Glas sagte Tom Smarts Gaumen so sehr zu, daß er darum ersuchte, ihm möglichst rasch ein zweites zu servieren. Warmer Punsch ist etwas Angenehmes – meine Herren – etwas höchst Angenehmes unter allen Umständen. Aber in der bequemen alten Stube, vor dem knisternden Feuer, während der Wind draußen tobte, daß alle Balken im ganzen Hause krachten, fand ihn Tom Smart über alle Maßen köstlich. Er ließ sich noch ein Glas geben, und dann noch eins – ich weiß nicht genau, ob er nach diesem nicht noch eins trank – aber je mehr er warmen Punsch trank, desto mehr dachte er an den großen Mann.

›Verdammte Unverschämtheit‹, sagte Smart bei sich selbst: ›was hat er in dem behaglichen Schenkstübchen zu tun? Und noch obendrein so ein häßlicher Kerl!‹ sagte Tom. ›Wenn die Witwe nur irgend Geschmack hätte, würde sie sich sicherlich einen Besseren erwählen.‹ Hier wandte sich Toms Auge von dem Spiegelglas nach dem Trinkglas, und da er allgemach sentimental wurde, leerte er das vierte Glas Punsch und befahl ein fünftes,

Tom Smart, meine Herren, hatte immer große Neigung zum Gastwirtleben. Sein Ehrgeiz hatte schon lange danach getrachtet, in einem Schenkstübchen zu stehen, das er sein eigen nennen könnte, angetan mit einem grauen Rock, kurzen Hosen und Stulpenstiefeln. Er setzte großen Wert darein, bei geselligen Mahlzeiten den Vorsitz zu führen, und dachte oft daran, wie wohl es ihm anstehen würde, in seinem eigenen Zimmer die Unterhaltung zu leiten, und und mit welch trefflichem Beispiel er seinen Kunden in der Trinkstube vorangehen könnte.

Alle diese Gedanken gingen Tom rasch durch den Kopf, als er vor dem knisternden Feuer beim warmen Punsche saß. Er fühlte sich beleidigt, daß der große Mann auf so gutem Wege sein sollte, ein solch treffliches Haus zu erobern, während er, Tom Smart, so weit davon entfernt war, wie je. Nachdem er so bei seinen letzten zwei Gläsern mit sich zu Rate gegangen war, ob er ein begründetes Recht hätte, einen Streit mit dem großen Mann darüber anzufangen, daß er in der Gunst der muntern Witwe so große Fortschritte gemacht habe, kam Tom Smart endlich zu der Überzeugung, er sei eben ein geschlagener und vom Schicksal verfolgter Mann und tue wohl am besten, wenn er jetzt zu Bett gehe.

Das schmucke Dienstmädchen leuchtete Tom über eine breite, alte Treppe voran, indem sie die Hand ans Licht hielt, damit es der Wind, der in einem solchen alten Gebäude leicht überall durchstreicht, nicht ausblasen sollte, aber diese Vorsichtsmaßregel erreichte ihren Zweck nicht. Er blies es doch aus und gab dadurch Toms Feinden Gelegenheit zu der Behauptung, er habe das Licht ausgelöscht, und nicht der Wind, und unter dem Vorwande, es wieder anzublasen, das Mädchen geküßt. Wie dem auch sei, es wurde ein anderes Licht gebracht und Tom durch eine Menge Gemächer und ein Labyrinth von Gängen in ein Zimmer geführt, das zu seiner Aufnahme hergerichtet worden. Das Mädchen wünschte gute Aacht und ließ ihn allein.

Es war ein großes, geräumiges Zimmer mit hohen Schränken und einem Bett, das für ein ganzes Alumnat Raum genug gehabt hätte, ein paar eiserne Truhen nicht zu erwähnen, die das Gepäck einer kleinen Armee hätten in sich aufnehmen können. Aber, was Toms Augen am meisten auffiel, war ein sonderbarer, unheimlich aussehender Lehnstuhl mit hohem Rücken und höchst phantastischem Schnitzwerk. Er hatte einen Überzug von geblümtem Damast, und die runden Knäufe seiner Beine waren sorgfältig mit einem roten Tuche umwunden, als hätte er Gicht in den Zehen. Von jedem andern sonderbaren Stuhle würde Tom nichts anderes gedacht haben, als er sei nun einmal ein sonderbarer Stuhl. Damit wäre die Sache abgemacht gewesen; aber dieser eigentümliche Stuhl hatte etwas Besonderes an sich, und Tom konnte doch nicht sagen, was; so seltsam und so verschieden von jedem andern hatte er noch kein Gerät gesehen; er schien ihn ganz zu fesseln. Tom setzte sich vor das Feuer und starrte eine halbe Stunde lang den alten Stuhl an. – Hole der Teufel den Stuhl, er war ein so seltsames altes Stück, daß er seine Augen nicht davon abzuwenden vermochte.

›Nein‹, sagte Tom, sich langsam auskleidend und während dieser ganzen Zeit den alten Stuhl anstarrend, der mit seiner geheimnisvollen Gestalt vor dem Bett stand, ›mein Lebtag sah ich noch nie ein so seltsames Möbel, wie das da. Sehr seltsam‹, sagte Tom, den der warme Punsch etwas nachdenklich gemacht hatte, ›sehr seltsam.‹ Tom schüttelte den Kopf mit der Miene hoher Weisheit und sah wieder auf den Stuhl. Er wußte nicht, was er daraus machen sollte, ging jedoch zu Bett, deckte sich warm zu und schlief ein.

Nach einer halben Stunde fuhr er aus dem Schlaf auf. Er hatte einen verwirrten Traum von großen Männern und Punschgläsern gehabt, und der erste Gegenstand, der sich seiner wachenden Einbildungskraft darbot, war der seltsame Stuhl.

›Ich will nicht mehr Hinsehen‹, sagte Tom zu sich selbst, drückte seine Augenlider zu und suchte sich zu überreden, er schlafe schon wieder ein. Umsonst. Nichts als seltsame Stühle tanzten vor seinen Augen, hoben die Beine empor, schwangen sich einander über den Rücken und machten allerlei tolle Sprünge.

›Ich will lieber einen wirklichen Stuhl sehen, als ein paar Dutzend eingebildete‹, sagte Tom, seinen Kopf unter der Bettdecke hervorstreckend. Er erkannte den Stuhl deutlich beim Schein des Feuers, wie er noch ebenso herausfordernd aussah, wie je.

Tom betrachtete den Stuhl starr, und wie er ihn so ansah, schien plötzlich eine außerordentliche Veränderung mit ihm vorzugehen. Das Schnitzwerk auf dem Rücken nahm allmählich die Züge und den Ausdruck eines alten gefurchten Menschengesichts an; das damastene Polster wurde eine altmodische Weste mit Schößen; die runden Knäufe verwandelten sich in ein paar Füße, die in roten Tuchpantoffeln steckten, und der ganze Stuhl glich einem häßlichen Alten aus dem vorigen Jahrhundert, mit untergestemmten Armen. Tom richtete sich im Bett auf und rieb seine Augen, um klar zu sehen. Vergebens. Der Stuhl war ein häßlicher alter Herr; und was noch mehr war, er winkte Tom zu.

Tom war von Natur ein herzhafter, mutiger Bursche und hatte zudem fünf Gläser warmen Punsch getrunken. Sein Ärger gewann daher bald die Oberhand über seine anfängliche Bestürzung, als er sah, wie der alte Herr mit so unverschämter Miene auf ihn hinstarrte und ihm zuwinkte, und er entschloß sich endlich, es nicht länger so geduldig hinzunehmen. Als ihm daher das alte Gesicht wieder stärker winkte als je, fragte Tom in sehr ärgerlichem Ton:

›Was zum Teufel hast du mir zu winken?‹

›Weil es mir so beliebt, Tom Smart‹, sagte der Stuhl, oder der alte Herr, wie Sie ihn nennen mögen. Doch hörte er auf zu winken, als Tom sprach und grinste ihn an, wie ein altersschwacher Affe.

›Woher weißt du meinen Namen, altes Nußknackergesicht?‹ fragte Tom Smart, etwas betreten; wenn er sich auch unbefangen stellte.

›Komm, komm, Tom‹, sagte der alte Herr, ›das ist nicht die Art, einen soliden spanischen Mahagoni anzureden. Gott straf mich, du könntest mir nicht weniger Achtung erweisen, selbst wenn ich nur furniert wäre.‹

Als er, der alte Herr, das sagte, warf er einen so zornigen Blick, daß Tom ordentlich erschrak.

›Ich wollte Sie durchaus nicht mit Verachtung behandeln, mein Herr‹, sagte Tom in einem demütigern Ton, als er ihn anfangs angenommen hatte.

›Schon recht, schon recht‹, erwiderte der Alte, ›es ist möglich, es ist möglich, Tom –‹

›Mein Herr –‹

›Ich kenne alle deine Verhältnisse, Tom; alle. Du bist sehr arm, Tom.‹

›Das ist nur zu gewiß‹, versetzte Tom, ›aber woher wissen Sie das?‹

›Forsche jetzt nicht danach‹, sagte der alte Herr! ›du bist auch ein viel zu großer Freund vom Punsch, Tom!‹

Tom Smart stand eben auf dem Punkt, zu behaupten, er habe seit seinem letzten Geburtstag keinen Tropfen mehr getrunken; aber als sein Auge dem Auge des alten Herrn begegnete, sah dieser so bekannt mit allem aus, daß Tom errötete und verstummte.

›Tom‹, fuhr der alte Herr fort, ›die Witwe ist eine hübsche Frau, eine außerordentlich hübsche Frau – nicht wahr, Tom?‹ Hier sperrte der Alte seine Augen weit auf, zog eins von seinen abgezehrten kleinen Beinen in die Höhe und machte dabei ein so widerlich verliebtes Gesicht, daß Tom einen rechten Ekel vor solchem leichtfertigen Benehmen faßte; – und gar noch in diesem Alter!

›Ich bin ihr Aufseher, Tom‹, sagte der alte Herr.

›So?‹ fragte Tom Smart.

›Ich kannte ihre Mutter, Tom‹, fuhr der Alte fort, ›und ihre Großmutter. Sie war sehr verliebt in mich – machte mir diese Weste, Tom.‹

›Wirklich?‹ fragte Tom Smart.

›Und diese Schuhe‹, erzählte der Alte weiter, einen seiner roten Tuchpantoffeln emporhebend; ›aber behalte das für dich, Tom. Ich möchte nicht, daß es bekannt würde, wie gut sie mir war. Es könnte die Familienverhältnisse stören.‹

Als der alte Geck das sagte, sah er so außerordentlich unverschämt drein, daß sich Tom Smart, wie er nachher erklärte, kein Gewissen daraus gemacht hätte, sich auf ihn zu setzen.

›Ich war zu meiner Zeit ein großer Liebling der Damen, Tom‹, fuhr der schamlose alte Sünder fort. ›Hundert schöne Weiber saßen stundenlang auf meinem Schoße. Was meinst du dazu, Bursche, he?‹ Der alte Herr war im Begriff, noch mehrere Heldentaten aus seiner Jugendzeit zu erzählen, als er einen solchen Anfall von Knarren bekam, daß er außerstande war, fortzufahren.

›Geschieht dir ganz recht, alter Kerl‹, dachte Tom Smart; sagte aber kein Wörtchen.

›Ach!‹ fing der Alte wieder an, ›ich habe nun meine liebe Not dafür. Ich werde alt, Tom, und habe beinahe alle meine Gelenkbänder eingebüßt. Auch habe ich eine Operation ausgestanden – man hat mir ein kleines Stück in den Rücken eingesetzt – und das war eine schwere Heimsuchung, Tom.‹

›Das glaube ich, mein Herr‹, sagte Tom Smart.

›Doch davon reden wir jetzt nicht‹, fuhr der alte Herr fort. ›Tom, du mußt die Witwe heiraten.‹

›Ich, mein Herr?‹ fragte Tom.

›Du‹, antwortete der alte Herr.

›Gott steh‘ Ihrem ehrwürdigen Haupte bei‹, sagte Tom – (er hatte nur noch einige Haare) – ›Gott steh‘ Ihrem ehrwürdigen Haupte bei! Sie will mich ja nicht.‹ Und Tom seufzte unwillkürlich, als er an das Schenkstübchen dachte.

›Sie will nicht?‹ fragte der alte Herr in festem Tone.

›Nein, gewiß nicht‹, antwortete Tom: ›sie hat einen andern aufs Korn genommen. – Einen großen Mann – einen verdammt großen Mann – mit einem schwarzen Backenbart.«

›Tom‹, sagte der alte Herr, ›sie wird ihn nicht nehmen.‹

›Nicht nehmen?‹ wiederholte Tom. ›Wären Sie im Schenkstübchen gewesen, alter Herr, so würden Sie anders reden.‹

›Pah! Pah!,‹ sagte der alte Herrn, ›weiß das alles.‹

›Was?‹ fragte Tom.

›Das Geküsse hinter der Tür und all das Zeug, Tom‹, antwortete der alte Herr, und nahm dabei wieder einen so frechen Blick an, daß Tom ordentlich zornig wurde: denn einen alten Knacker, der mehr Verstand haben sollte, von solchen Dingen sprechen zu hören, ist höchst widerlich – widerlicher, als alles! das ist Ihnen bekannt, meine Herren.

›Ich weiß das alles‹, sagte der alte Herr. ›Zu meiner Zeit habe ich das sehr oft gesehen, Tom, von mehr Leuten gesehen, als ich für gut finde, dir zu nennen; aber am Ende führte es doch zu nichts.‹

›Sie müssen sehr merkwürdige Dinge gesehen haben‹, bemerkte Tom mit forschendem Blick.

›Da magst du wohl recht haben, Tom‹, erwiderte der Alte mit sehr bedeutungsvollem Winke. ›Ich bin der letzte meiner Familie, Tom«, fügte er mit einem schwermütigen Seufzer hinzu.

›War sie zahlreich – Ihre Familie?« fragte Tom Smart.

›Wir waren unser zwölf, Tom‹, antwortete der alte Herr; ›hübsche, schmucke Gesellen mit festen Knochen, wie du nur einen sehen kannst. Keine von Euren neumodischen Mißgeburten, – alle mit Armen und herausgeputzt, daß einem das Herz im Leibe lachte, wenn man sie nur sah – doch ich sollte das nicht sagen.‹

›Und was wurde aus den andern, mein Herr?‹ fragte Tom Smart.

Der alte Herr führte den Ellbogen an sein Auge, als er erwiderte: ›Dahin, Tom, dahin. Wir hatten schweren Dienst, Tom, und sie waren nicht alle so stark gebaut, wie ich. Sie bekamen die Gicht in den Beinen und Armen und wanderten in Krankenhäuser und Hospitäler; einer von ihnen verlor durch den schweren Dienst und die übermäßige Anstrengung- alle seine Sinne – er wurde so elend, daß man ihn verbrennen mußte. Schauerlich das, Tom.‹

›Furchtbar!‹ bestätigte Tom Smart.

Der alte Knabe schwieg wieder einige Minuten lang, augenscheinlich mit seinen bewegten Gefühlen kämpfend, und fuhr dann fort:

›Doch ich komme von meinem Gegenstand ab, Tom. Jener große Mann, Tom, ist ein spitzbübischer Glücksritter. In demselben Augenblick, wo er die Witwe heiratete, würde er all ihr bewegliches Eigentum verkaufen und sich aus dem Staube machen. Was wäre die Folge davon? Sie wäre eine verlassene, zu Grunde gerichtete Frau, und ich würde in irgendeiner Trödlerbude an Erkältung sterben.‹

›Gut, aber –‹

›Unterbrich mich nicht‹, sagte der alte Herr. ›Von dir, Tom, habe ich eine ganz andere Meinung. Denn ich weiß, wenn du dich nur einmal in einem Wirtshause festgesetzt hättest, so würdest du es nimmer verlassen, solange es noch innerhalb seiner Wände etwas zu trinken gäbe.‹

›Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden‹, sagte Tom Smart.

›Eben deshalb‹, erklärte der alte Herr in diktatorischem Tone, ›sollst du, und nicht er, die Witwe haben.‹

›Wie ist das zu machen?‹ fragte Tom Smart hastig.

›Durch die Entdeckung, daß er schon verheiratet ist‹, versetzte der alte Herr.

›Wie kann ich das beweisen?‹ fragte Tom, und sprang halb aus dem Bette auf.

Der alte Herr hob seinen Arm in die Höhe und deutete nach einem der beiden Schränke und brachte ihn gleich wieder in seine vorige Lage zurück.

›Er denkt wohl nicht daran‹, sagte der alte Herr, ›daß er in der rechten Tasche seiner Beinkleider, die in diesem Schrank hängen, einen Brief steckengelassen hat, worin er dringend gebeten wird, zu seinem trostlosen Weibe mit sechs – höre, Tom – sechs Kindern, und alle noch unerzogen, zurückzukehren.‹

Wahrend der alte Herr in einem feierlichen Tone also sprach, wurden seine Züge immer unbestimmter und die Umrisse seiner Gestalt schwankender. Ein Schleier fiel über Tom Smarts Augen. Der alte Mann ging nach und nach in den Stuhl über, die Damastweste verwandelte sich in ein Polster, die roten Pantoffeln wurden zu kleinen roten Tuchläppchen, die die Knäufe umzogen. Das Licht wurde langsam matter und Tom Smart fiel auf sein Kissen zurück in die Arme des Schlafes.

Den andern Morgen erwachte Tom aus dem lethargischen Schlummer, in den er nach dem Verschwinden des alten Herrn gefallen war. Er setzte sich in seinem Bette auf und mühte sich einige Minuten lang vergebens ab, sich die Vorgänge der entwichenen Nacht in die Erinnerung zurückzurufen. Plötzlich tauchten sie wieder in seinem Gedächtnis auf. Er sah auf den Stuhl: es war ein phantastisches, grämlich aussehendes Stück Hausgerät, das ließ sich nicht bezweifeln. Aber, um zwischen ihm und einem alten Manne eine Ähnlichkeit zu entdecken, dazu gehörte denn doch eine ziemlich lebhafte und erfinderische Phantasie.

›Wie steht’s, alter Knabe?‹ fragte Tom. Er war bei Tage kühner: – wie die meisten Leute.

Der Stuhl blieb regungslos und sprach kein Wort.

›Ein ekliger Morgen‹, sagte Tom. Umsonst, der Stuhl war zu keiner Unterhaltung geneigt.

›Auf welchen Schrank hast du gedeutet? – das kannst du mir doch sagen‹, meinte Tom. Aber es war zum Kuckuck kein Wort aus dem Stuhl herauszubringen, meine Herren.

›Nun, es wird nicht schwer sein, sie irgendwie zu öffnen‹, sagte Tom, entschlossen aus seinem Bette aufspringend.

Er trat an einen der Schränke. Der Schlüssel steckte, er drehte um und öffnete. Es waren wirklich ein Paar Beinkleider im Schrank. Er fuhr mit der Hand in die Tasche derselben und zog den nämlichen Brief hervor, von dem der alte Herr gesprochen hatte.

›Seltsam‹, sagte Tom Smart, zuerst den Stuhl, dann den Schrank, dann den Brief und dann wieder den Stuhl ansehend. ›Sehr seltsam‹, sagte Tom. Aber da durchaus kein Schlüssel zu diesem Geheimnis vorhanden war, so hielt er es fürs zweckmäßigste, sich sogleich anzukleiden, die Sache mit dem großen Manne ins reine zu bringen – und seiner Not dadurch ein Ende zu machen.

Auf seinem Wege betrachtete Tom die Zimmer und Gänge mit dem prüfenden Blicke eines Gastwirts, und dachte dabei an die Möglichkeit, daß sie samt ihrem Inhalt in kurzem sein Eigentum werden könnten. Der große Mann stand in dem hübschen Schenkstübchen, die Hände auf dem Rücken, ganz, als ob er da zu Hause wäre. Er gaffte Tom mit einem nichtssagenden Blick an. Ein zufälliger Beobachter würde vermutet haben, er tue es bloß, um seine weißen Zähne zu zeigen. Aber Tom Smart sah darin ein triumphierendes Gefühl, das an der Stelle saß, wo das Herz des großen Mannes gewesen wäre, wenn er eins gehabt hätte. Tom lachte ihm ins Gesicht und verlangte die Wirtin zu sprechen.

›Guten Morgen, Madame‹, sagte Tom Smart, die Tür des Schenkstübchens schließend, als die Wirtin eintrat.

›Guten Morgen, mein Herr‹, antwortete die Witwe. ›Was befehlen Sie zum Frühstück?‹

Tom dachte darüber nach, wie er die Sache einfädeln sollte, und gab keine Antwort.

›Es gibt vortrefflichen Schinken‹, fuhr die Witwe fort, ›und ein schönes gespicktes Hühnchen. Soll ich Ihnen eins bringen, mein Herr?‹

Diese Worte weckten Tom aus seinem Nachdenken. Seine Bewunderung für die Witwe nahm zu, als sie sprach. ›Die gute Seele! wie man da versorgt wäre!‹

›Wer ist der Herr im Nebenzimmer, Madame?‹ fragte Tom.

›Er nennt sich Jinkins, mein Herr‹, antwortete die Wirtin, leicht errötend.

›Ein großer Mann‹, sagte Tom.

›Ein sehr schöner Mann‹, erwiderte die Witwe, ›und ein sehr gebildeter Herr.‹

›Ach was!‹ sagte Tom.

›Haben Sie noch etwas zu befehlen, mein Herr?‹ fragte die Witwe etwas verblüfft über Toms Benehmen.

›Nun ja‹, antwortete Tom. ›Liebe Frau, wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick Platz zu nehmen.‹

Die Witwe sah ganz verdutzt aus, setzte sich aber doch, und Tom setzte sich auch, und zwar hart an ihre Seite. Ich weiß nicht, wie es kam, meine Herren – wirklich, mein Oheim pflegte zu erzählen, daß Tom gesagt habe, er wisse es nicht, wie es gekommen sei, daß – doch dem sei, wie ihm wolle, Toms Hand senkte sich auf den Handrücken der Witwe, und blieb dort liegen, während er mit ihr sprach.

›Liebe Frau‹, sagte Tom Smart – er hielt immer viel darauf, den Liebenswürdigen zu spielen – ›Liebe Frau, Sie verdienen es, einen vortrefflichen Mann zu bekommen – ja, das verdienen Sie.‹

›Bitte, mein Herr‹, sagte die Witwe so höflich sie konnte, denn Toms Art und Weise, die Unterhaltung zu beginnen, war etwas ungewöhnlich, um nicht zu sagen abschreckend, besonders wenn man in Betracht zog, daß er sie vor dem vorhergehenden Abend noch mit keinem Auge gesehen hatte. ›Bitte, mein Herr.‹

›Ich bin ein Feind der Schmeichelei, liebe Frau‹, fuhr Tom Smart fort. ›Sie verdienen einen ausgezeichneten Mann, und wer immer es auch werden mag, er wird ein sehr glücklicher Mann sein.‹

Als Tom das sagte, wanderten seine Augen unwillkürlich von dem Gesichte der Witwe auf die wohlausgestattete Umgebung.

Die Witwe sah verblüffter aus als je und versuchte aufzustehen. Tom drückte ihr sanft die Hand, als wäre es nur, um sie zurückzuhalten, und sie blieb sitzen. Witwen, meine Herren, sind gewöhnlich nicht so scheu, wie mein Oheim zu sagen pflegte.

›Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre gute Meinung‹, sagte die muntere Wirtin halb lachend, ›und wenn ich je wieder heirate –‹

›Wenn‹, wiederholte Tom Smart mit einem schelmischen Blick aus dem rechten Winkel seines linken Auges. ›Wenn –‹

›Nun‹, sagte die Wirtin, diesmal laut lachend. › Wenn ich es tue, so hoffe ich, einen so guten Mann zu bekommen, wie Sie ihn schildern.‹

›Jinkins zum Beispiel?‹ meinte Tom.

›Was fällt Ihnen ein, Sir?‹ rief die Witwe aus.

›O, sagen Sie mir nichts‹, versetzte Tom; ›ich kenne ihn.‹

›Ich bin überzeugt, niemand, der ihn kennt, kann ihm etwas Schlechtes nachsagen‹, versetzte die Witwe, aufgebracht durch die geheimnisvolle Miene, mit der Tom gesprochen hatte.

›Hm‹, murmelte Tom Smart.

Jetzt glaubte die Witwe, gehöre es sich, zu weinen. Sie nahm ihr Taschentuch und fragte, ob Tom sie beleidigen wolle; ob er es für die Sache eines Mannes von Ehre halte, einem andern Ehrenmanne hinter seinem Rücken die Ehre abzuschneiden: warum er, wenn er etwas zu sagen hätte, es dem Manne nicht als Mann in« Gesicht sage, anstatt ein armes, schwaches Weib so zu ängstigen und dergleichen.

›Ich will es ihm deutlich genug sagen‹, erwiderte Tom, ›nur will ich, daß Sie es vorher hören.‹

›Was ist es denn?‹ fragte die Witwe, Tom aufmerksam betrachtend.

›Sie werden staunen‹, sagte Tom, seine Hand in die Tasche steckend.

›Wenn Sie damit sagen wollen, daß er geldbedürftig ist‹, äußerte die Witwe, ›so weiß ich das bereits, und Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern.‹

›Pah, Unsinn; das hätte nichts zu sagen‹, versetzte Tom Smart. ›Ich bin auch geldbedürftig. Das ist es nicht.‹

›Ach Gott, was kann es denn sein?‹ rief die arme Witwe.

›Erschrecken Sie nicht‹, sagte Tom Smart, zog langsam einen Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. ›Werden Sie aber auch nicht schreien?‹ fragte Tom zweifelnd.

›Nein, nein‹, erwiderte die Witwe, ›geben Sie her.‹

›Werden Sie nicht in Ohnmacht fallen oder sonstige Zufälle bekommen?‹ fragte Tom.

›Nein, nein‹, erwiderte die Witwe hastig.

›Und rennen Sie nicht fort, um es ihm vorzuhalten?‹ sagte Tom. ›Ihre Einmischung ist dabei ganz unnötig, da ich die Sache auf mich zu nehmen gedenke.‹

›Alles recht, geben Sie nur her!‹ bat die Witwe.

›Hier‹, sagte Tom Smart, und gab der Witwe den Brief in die Hand.

Meine Herren, ich habe meinen Oheim sagen hören, daß Tom Smart behauptete, die Wehklagen der Witwe, in die sie bei der Enthüllung des Geheimnisses ausbrach, hätten ein Herz von Stein durchbohren können. Tom hatte gewiß ein starkes Herz, aber sie drangen bis in sein Innerstes. Die Witwe fiel bald auf diese, bald auf die andere Seite und rang die Hände.

›O Niedertracht und Schlechtigkeit eines Mannes!‹ rief die Witwe aus.

›Schrecklich, liebe Frau, aber beruhigen Sie sich‹, sagte Tom Smart.

›Ach, ich kann mich nicht beruhigen‹, schrie die Witwe. ›Ich werde nie mehr einen finden, den ich so lieben kann.‹

›O gewiß, Sie werden, mein liebes Herz‹, versicherte Tom Smart, aus Mitleid mit dem kläglichen Geschick der Witwe einen Strom dicker Tränen vergießend.

Im Eifer seines Bedauerns hatte Tom Smart seinen Arm um den Leib der Witwe geschlungen, und die Witwe hatte im Übermaße des Schmerzes Toms Hand ergriffen. Sie sah Tom ins Gesicht und lächelte mitten in ihren Tränen, und Tom sah der Witwe in ihr Gesicht und lächelte mitten in seinen Tränen.

Ich konnte nie erfahren, meine Herren, ob Tom in diesem entscheidenden Augenblick die Witwe küßte oder nicht. Meinem Oheim pflegte er zu sagen, er habe es nicht getan, aber das bezweifle ich fast. Unter uns gesagt, meine Herren, ich glaube, er tat es.

Jedenfalls ist soviel gewiß, daß eine halbe Stunde darauf Tom den sehr großen Mann aus dem Hause warf und einen Monat später die Witwe heiratete. Lange fuhr er noch auf seinem tonfarbenen Wagen mit den roten Rädern und mit der launischen Mähre im Lande herum, bis er endlich nach vielen Jahren sein Geschäft aufgab und mit seinem Weib nach Frankreich ging, worauf das alte Haus niedergerissen wurde.«

 

»Wollen Sie mir eine Frage erlauben«, sagte der fragelustige alte Herr: »was wurde denn aus dem Stuhl?«

»Nun«, versetzte der einäugige Krämer, »man hörte ihn am Tage der Hochzeit sehr stark krachen; aber Tom Smart konnte nicht bestimmt sagen, ob aus Vergnügen oder aus Gebrechlichkeit. Er neigte jedoch mehr zur letzteren Ansicht, denn der Stuhl sprach nachher nie wieder.«

»Jedermann glaubte die Geschichte, nicht wahr?« fragte das Negergesicht, seine Pfeife wieder füllend.

»Mit Ausnahme der Feinde Toms«, antwortete der Krämer. »Einige von ihnen sagten, Tom habe sie rein erfunden, und andere sind der Ansicht, er sei betrunken gewesen, habe sie geträumt, und den Fund durch Verwechslung der Beinkleider vor dem Schlafengehen getan. Aber niemand hörte darauf, was diese neidischen Seelen sagten.«

»Tom Smart sagte, es sei alles wahr?«

»Wort für Wort.«

»Und Ihr Oheim?«

»Buchstäblich.«

»Beide müssen sonderbare Männer gewesen sein«, sagte das Negergesicht.

»Ja, das waren sie auch – in der Tat!«

 

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Deutlicher Beweis für die Behauptung, daß die Bahn treuer Liebe keine Eisenbahn ist.

Die stille Abgeschiedenheit von Dingley Dell, die Anwesenheit so vieler Zierden des schönen Geschlechts, die sorgsame Pflege und Aufmerksamkeit, die sie an den Tag legten, war der Steigerung jener sanfteren Gefühle außerordentlich günstig, die die Natur tief in Herrn Tracy Tupmans Brust gesenkt hatte. Diese Gefühle schienen jetzt bestimmt, sich auf einen liebenswürdigen Gegenstand zu konzentrieren. Die jungen Damen waren hübsch, ihr Äußeres einnehmend, ihr Betragen tadellos. Aber in den Augen von Jungfer Tante lag eine Majestät, in ihrer Miene eine Würde, in ihrem Gang ein gewisses Noli me tangere, worauf jene bei ihrer Jugend keinen Anspruch machen konnten. Darin tat die Tante es jedem Frauenzimmer zuvor, das Tupman je gesehen hatte. Daß in dem Wesen beider etwas Verwandtes, in ihrem Gemüte etwas Übereinstimmendes, in ihrer Brust eine gewisse geheimnisvolle Sympathie lag, war klar.

Ihr Name war der erste Laut, der über Herrn Tupmans Lippen trat, als er blutend im Grase lag, und ihr krampfhaftes Lachen war der erste Ton, der zu seinen Ohren drang, als er nach Hause gebracht wurde.

Aber hatte ihre Aufregung den Grund in einer liebenswürdigen weiblichen Empfindsamkeit überhaupt, die bei jeder ähnlichen Gelegenheit zum Vorschein gekommen wäre? Oder war sie durch ein tieferes, zärtlicheres Gefühl hervorgerufen worden, das nur er allein unter allen Männern erwecken konnte? Das waren Zweifel, die sein Gehirn marterten, als er hilflos auf dem Sofa lag – Zweifel, die er auf einmal und für immer zu lösen beschloß.

Es war Abend. Isabella und Emilie hatten mit Herrn Trundle einen Spaziergang gemacht. Die taube alte Frau war in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen: das Schnarchen des fetten Jungen drang dumpf und eintönig aus der entfernten Küche herüber. Die sorglosen Mägde lehnten am Hoftor und genossen die Süßigkeit des Feierabends, indem sie mit gewissen unbeholfenen Tieren spielten, die zum Haushalte gehörten. Da saß denn das interessante Pärchen, von niemand beachtet und auf nichts achtend, nur von sich selbst träumend: da saßen sie wie ein Paar sorgfältig zusammengelegte Handschuhe – ineinandergeschlungen.

»Ich habe meine Blumen vergessen«, bemerkte Jungfer Tante.

»So begießen wir sie«, sprach Herr Tupman mit schmeichelndem Tone.

»Sie würden sich in der Abendluft erkälten«, sagte Jungfer Tante zärtlich.

»Nein, nein«, erwiderte Herr Tupman aufstehend. »Es macht mir gar nichts. Ich will Sie begleiten.«

Die Dame legte schweigend die Schlinge zurecht, in der der linke Arm des junaen Mannes lag, ergriff seinen rechten und führte ihn in den Garten.

Am oberen Ende desselben war eine Laube von Geisblatt, Jasmin und Schlingpflanzen – einer von jenen Ruheplätzen, die empfindsame Seelen zur Bequemlichkeit der Spinnen errichten.

Jungfer Tante ergriff eine große Gießkanne, die in einem Winkel stand und war im Begriff, die Laube zu verlassen. Herr Tupman hielt sie zurück und zog sie auf einen Sitz neben sich nieder.

»Fräulein Wardle«, sagte er.

Jungfer Tante zitterte, daß einige Steinchen, die zufälligerweise den Weg in die Gießkanne gefunden hatten, klirrten wie eine Kinderklapper.

»Fräulein Wardle,« sagte Herr Tupman, »Sie sind ein Engel.«

»Herr Tupman«, rief Rachel aus, so rot wie die Gießkanne selbst.

»Wahrlich,« sagte der beredte Pickwickier, »ich fühle es nur zu sehr.«

»Alle Frauenzimmer sind Engel, wenn man die Männer so hört«, flüsterte die Dame in scherzhaftem Tone.

»Was wären Sie sonst, oder womit könnte ich Sie ohne Vermessenheit vergleichen?« versetzte Herr Tupman. »Wo sah man je ein Frauenzimmer, das Ihnen glich? Wo könnte ich sonst eine so seltene Vereinigung von geistigen Vorzügen und körperlicher Schönheit finden? Wo könnte ich sonst – – – O!«

Hier schwieg Herr Tupman und drückte die Hand, die auf dem Handgriff der glücklichen Gießkanne ruhte.

Die Dame wandte ihren Kopf auf die Seite und flüsterte sanft:

»Die Männer sind voll Lug und Trug.«

»Ja, sie sind es, sie sind es«, versicherte Herr Tupman; »aber nicht alle. Hier lebt wenigstens einer, der keinen Wankelmut kennt – einer, der sein ganzes Dasein Ihrem Glück opfern könnte – der nur in Ihren Blicken lebt – der nur in Ihrem Lächeln atmet – der die schwere Bürde des Lebens einzig und allein um Ihretwillen trägt.«

»Könnte man einen solchen Mann finden?« fragte die Dame.

»Nur könnte finden?« erwiderte der glühende Tupman. »Er ist gefunden. Er ist hier, Fräulein Wardle.«

Und ehe die Dame seine Absicht ahnte, lag er schon zu ihren Füßen auf den Knien. ,

»Stehen Sie auf, Herr Tupman«, sagte Rachel.

»Nimmermehr«, war die entschlossene Antwort. »O Rachel! sagen Sie, daß Sie mich lieben.«

»Herr Tupman,« bemerkte Jungfer Tante mit abgewandtem Gesicht – »ich kann kaum Worte finden: doch – doch – Sie sind mir nicht ganz gleichgültig.«

Herr Tupman hörte nicht so bald dieses Geständnis, als er sich ganz dem Drange seiner Begeisterung hingab und tat, was, soviel wir wissen (denn wir haben in diesem Punkte nicht viel Erfahrung), unter solchen Umständen jedermann tut. Er sprang auf, schlang seinen Arm um den Nacken der Jungfer Tante und preßte eine Menge Küsse auf ihre Lippen, die sie nach pflichtschuldigem Zieren und Sträuben so geduldig hinnahm, daß wir nicht angeben können, wie viele ihr Herr Tupman noch aufgedrückt haben würde, wäre die Dame nicht plötzlich erschreckt worden und voller Angst in die Worte ausgebrochen –

»Herr Tupman, wir werden beobachtet! Wir sind entdeckt!«

Herr Tupman sah sich um und gewahrte die tellergroßen Augen des fetten Jungen. Der Junge hatte dabei nicht im mindesten einen Gesichtszug, den auch nur ein noch so erfahrener Physiognomiker dem Erstaunen, der Neugierde oder irgendeiner bekannten Leidenschaft, die sonst die Brust der Vlcnschen bewegt, hatte zuschreiben können. Er glotzte völlig regungslos in die Laube. Herr Tupman betrachtete den fetten Jungen, und der fette Junge betrachtete Herrn Tupman, und je länger Herr Tupman dessen völlig ausdrucksloses Gesicht ansah, desto mehr überzeugte er sich, daß er entweder nicht wußte oder nicht verstand, was vorgegangen war. In dieser Voraussetzung fragte er mit festem Tone:

»Was suchst du hier?«

»Das Essen ist auf dem Tisch«, war die rasche Antwort.

»Bist du eben erst gekommen?« fragte Herr Tupman mit einem durchdringenden Blick.

»Soeben«, erwiderte der fette Junge.

Herr Tupmam sah ihn wieder scharf an, aber der Junge verzog keine Miene.

Herr Tupman nahm den Arm der Jungfer Tante und ging dem Hause zu; der fette Junge folgte.

»Er weiß nicht, was vorgefallen ist«, flüsterte er.

»Nichts?« fragte Jungfer Tante.

Sie hörten einen Ton hinter sich, wie von einem halbunterdrückten Lachen. Herr Tupman sah sich forschend um. Nein; der fette Junge konnte es nicht gewesen sein. In seinem ganzen Gesichte war keine Spur von Freude, und überhaupt kein anderer Ausdruck als der der Eßlust zu finden.

 

»Er muß geschlafen haben«, flüsterte Herr Tupman.

»Ich zweifle nicht im geringsten daran«, versetzte Jungfer Tante.

Beide lachten herzlich.

Aber Herr Tupman irrte sich. Der fette Junge hatte zum ersten Male nicht geschlafen. Er hatte gewacht – völlig gewacht und alles mit angesehen.

Das Abendessen ging vorüber, ohne daß jemand eine allgemeine Unterhaltung anzuknüpfen gesucht hätte. Die alte Frau ging zu Bett; Isabelle Wardle widmete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich Herrn Trundle; Jungfer Tante hatte für niemand Augen, als für Herrn Tupman, und Emiliens Gedanken schienen in der Ferne zu verweilen – vielleicht bei dem abwesenden Snodgraß.

Elf Uhr – zwölf Uhr – ein Uhr hatte es geschlagen, und die Herren waren noch nicht zurück. Bestürzung und Unruhe war auf jedem Gesicht zu lesen. Sollten Sie vielleicht überfallen und ausgeplündert worden sein? Sollte man Leute mit Laternen aussenden und sie auf allen Wegen suchen lassen, die sie möglicherweise eingeschlagen haben konnten? Oder sollte man – – Horch! Sie sind’s. Was konnte sie solange aufhalten? Auch eine fremde Stimme! Wem konnte sie angehören? Sie eilten in die Küche, um nach den Ankömmlingen zu sehen, und überzeugten sich alsbald von dem wahren Stand der Dinge.

Herr Pickwick lehnte, die Hände in den Taschen und den Hut über das linke Auge gedrückt am Anrichttische, wackelte mit dem Kopf und griente unaufhörlich, ohne daß man irgendeinen Grund davon entdecken konnte. Der alte Herr Wardle hielt einen fremden Herrn bei der Hand, dem er mit flammendem Gesichte etwas von ewiger Freundschaft vorlallte. Herr Winkle hielt sich an der Wanduhr und rief mit matter Stimme auf jedes Mitglied der Familie, das heute Nacht vom Bettgehen sprechen würde, Feuer und Schwefel vom Himmel herab. Herr Snodgraß aber war auf einen Stuhl gesunken, mit dem Ausdruck des fürchterlichsten und hoffnungslosesten Elends, das sich die Phantasie eines Menschen vorstellen kann, in jedem Zuge seines verstörten Gesichts.

»Ist etwas vorgefallen?« fragten die drei Damen.

»Nichts ist vorgefallen«, versetzte Herr Pickwick. »Wir, hup – wir sind, hup – alles in Ordnung. – Ich sage, Wardle, es ist alles in Ordnung, nicht wahr?«

»Das will ich meinen«, sagte der lustige Hauswirt. »Meine Lieben, hier ist mein Freund, Herr Jingle – Herrn Pickwicks Freund, Herr Jingle ist gekommen – macht uns einen kleinen Besuch.«

»Ist Herrn Snodgraß etwas zugestoßen« fragte Emilie ängstlich.

»Nicht das mindeste, mein Fräulein«, erwiderte der Fremde. »Kricketschmaus – herrliche Gesellschaft – Kapitalsänger – alter Portwein – Rotwein – gut – sehr guter – Wein, mein Fräulein – Wein.«

»Es lag nicht am Weine«, lallte Herr Snodgraß mit gebrochener Stimme. »Der Lachs war schuld.« (Die Schuld liegt bei solchen Gelegenheiten nie am Wein, sondern immer an etwas anderem.)

»Wäre es nicht besser, Sie gingen zu Bett?« fragte Emilie. »Zwei von den Knechten können die Herren hinaufführen.«

»Ich gehe nicht zu Bett«, sagte Herr Winkle bestimmt.

»Kein Mensch auf der Welt soll mich führen«, erwiderte Herr Pickwick kühn, worauf er wieder ebenso gutmütig, wie zuvor, griente.

»Hurra!« rief Herr Winkle.

»Hurra!« wiederholte Herr Pickwick, seinen Hut abnehmend und auf den Boden schleudernd, worauf er seine Brille mit gleicher Wuppdizität mitten in die Küche warf. – Dann lachte er über dieses Vergnügen laut auf.

»Lassen Sie – uns, hup – noch – eine, hup – Flasche trinken«, äußerte Herr Winkle anfangs mit lauter, später mit immer schwächerer Stimme.

Sein Kopf sank auf die Brust. Er lallte noch etwas von seinem unabänderlichen Entschluß, nicht zu Bette zu gehen, und von blutiger Reue, den alten Tupman diesen Morgen nicht vollends »abgedeckt« zu haben, worauf er in einen festen Schlaf fiel. Von zwei jungen Burschen unter der persönlichen Oberaufsicht des fetten Jungen wurde er zu Bett gebracht. Bald darauf vertraute Herr Snodgraß seinen Leichnam der Sorge denselben Herrschaften an. Herr Pickwick nahm den dargebotenen Arm Herrn Tupmans und verschwand ganz in der Stille, stets mit demselben Lächeln auf den Lippen. Herr Wardle aber gab Herrn Trundle die Ehre, ihn die Treppe hinauf zu geleiten, und entfernte sich mit dem völlig vergeblichen Versuch, eine feierliche und würdevolle Miene anzunehmen, nachdem er zuvor von der ganzen Familie einen so zärtlichen Abschied genommen hatte, als ginge er jetzt unmittelbar dem Schafott entgegen.

»Was für ein fataler Auftritt!« sagte Jungfer Tante.

»Abscheulich!« stimmten die beiden jungen Damen bei.

»Schrecklich – schrecklich!« sagte Jingle mit ernster Miene. Er hatte aber auch anderthalb Flaschen mehr zu sich genommen, als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft. »Ein peinlicher Anblick – gewiß.«

»Ein artiger Mann!« flüsterte die Jungfer Tante Herrn Tupman zu.

»Sieht auch nicht übel aus!« flüsterte Emilie Wardle.

»O sicher«, bemerkte die Jungfer Tante.

Herr Tupman dachte an die Witwe zu Rochester, und sein Herz ward unruhig. Die halbstündige Unterhaltung, die jetzt folgte, war nicht geeignet, die Stimme seiner Besorgnis zu beschwichtigen. Der neue Ankömmling war sehr gesprächig, und die Menge seiner Anekdoten wurde nur durch die Überbietung an Höflichkeit übertroffen. Herr Tupman fühlte, daß er in dem gleichen Maße, in dem Jingles Popularität stieg, in den Schatten zurücktrat. Sein Lachen war gezwungen – seine Lustigkeit erheuchelt, und als er endlich seine schmerzenden Schläfe zwischen die Bettlaken steckte, wünschte er sich mit furchtbarer Lust, Jingles Kopf in diesem Augenblicke zwischen der Decke und der Matratze unter seinen Händen zu haben.

Der unverwüstliche Fremde stand des andern Tages zeitig auf und gab sich alle Mühen, während seine Gefährten die Folgen ihrer Schlemmerei noch im Bette verdämmerten, die Heiterkeit des Frühstücks durch seine Unterhaltung zu erhöhen. Es gelang ihm auch so vollkommen, daß sogar die taube alte Frau sich einige seiner besten Scherze durch ihr Hörrohr wiederholen ließ und gar herablassend gegen die Jungfer Tante bemerkte, er (Jingle) sei ein ausgelassener junger Mensch – eine Ansicht, der ihre Tochter und ihre Enkelinnen durchaus beistimmten.

Es war die Gewohnheit der alten Dame, sich an jedem schönen Sommermorgen in die Laube zu begeben, die dem Leser bereits durch Herrn Tupmans zärtliches Abenteuer bekannt ist. Zu diesem Ende mußte der fette Junge von einem Kleiderrechen hinter der Schlafzimmertür der alten Frau einen dicht anschließenden schwarzen Atlashut, einen warmen baumwollenen Schal und einen starken Stock mit einem großen Handgriff holen, und nachdem sie sich so behaglich eingehüllt und die eine Hand auf den Stock, die andere auf die Schulter des fetten Jungen gestützt hatte, begann sie mit Muße ihren Spaziergang nach der Laube, wo sie der fette Diener für eine halbe Stunde den Annehmlichkeiten, die mit dem Genusse frischer Luft verbunden sind, überließ. Nach Ablauf dieser Frist kam er sodann wieder, um die Mutter seines Gebieters ins Haus zurückzuführen.

Die alte Dame ging in diesen Dingen nicht von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander ohne ein Abweichen von der Regel geübt worden, so war sie nicht wenig überrascht, als sie bemerkte, daß der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich sorgfältig nach allen Richtungen umsah, und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.

Die alte Dame war furchtsam – wie es die meisten alten Damen sind – und so kam sie gleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schild, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft des Schweigens benommen hätte. Deshalb mußte sie sich begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herankam und mit einem – wie es ihr schien – drohenden Tone ins Ohr schrie:

»Madame!«

Nun fügte sich’s gerade, daß in demselben Augenblick Herr Jingle in dem Garten spazierenging und sich zur Zeit in der unmittelbaren Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – einmal, weil er nichts anderes zu tun hatte, dann weil seine Neugier kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt – er machte halt und horchte.

»Madame!« schrie der fette Junge.

»Ach, Joe,« sagte die zitternde alte Dame, »ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich stets aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten müssen und doch immer genug zu essen gehabt.«

Das war eine Berufung auf Joes empfindsamste Gemütsseite. Er schien gerührt und entgegnete mit Nachdruck:

»Ich verkenne das nicht.«

»Was kannst du aber weiter von mir wollen?« versetzte die alte Dame etwas ermutigt.

»Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich’s Ihnen sage«, erwiderte Joe.

Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankeserguß, und da die alte Dame die Art, wie ein solches Phänomen herbeigeführt werden könnte, nicht ganz begriff, so kehrten alle ihre Schrecken wieder.

»Was meinen Sie wohl, was ich gestern hier in dieser Laube gesehen habe?« sagte der Junge.

»Barmherziger Himmel! Was!« rief die alte Dame, beunruhigt durch die Wichtigtuerei in dem Benehmen des wohlbeleibten Burschen.

»Der fremde Herr – der mit dem zerschossenen Arm – hat geküßt und umarmt – –«

»Wen, Joe – wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?«

»Schlimmer als das!« brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.

»Wie, gar eine meiner Enkelinnen?«

»Noch schlimmer!«

»Noch schlimmer, Joe?« versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Non plus ultra männlicher Verwegenheit betrachtete. »Wer ist’s gewesen, Joe? Ich will es durchaus wissen.«

»Fräulein Rachel.«

»Was?« schrie die Dame in schrillem Tone. »Sprich lauter.«

»Fräulein Rachel«, schrie der fette Junge.

»Meine Tochter?«

Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine gedunsenen Backen wie Gallerte schwabbelten.

»Und sie ließ sich’s gefallen?« rief die alte Dame.

Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen, als er erwiderte:

»Ich sah es, wie sie ihn wieder küßte.«

Hätte Herr Jingle in diesem Augenblick den Ausdruck, den das Gesicht der alten Dame bei dieser Mitteilung annahm, wahrnehmen können, so wäre er höchstwahrscheinlich in ein Gelächter ausgebrochen, das seine Anwesenheit notwendig verraten haben würde. So aber lauschte er aufmerksam weiter und vernahm einige abgebrochene Sätze, als da waren: – »ohne meine Zustimmung!« – »noch zu meinen Lebzeiten« – »ich arme, unglückliche Frau« – »hätte sie nicht warten können, bis ich tot bin« – und dergleichen, worauf er die Stiefelsohlen des fetten Jungen, der sich jetzt entfernte und die alte Dame allein ließ, im Sand knirschen hörte.

Es war ein merkwürdiger Zufall, aber dessenungeachtet eine Tatsache, daß Herr Jingle schon in den ersten fünf Minuten seiner Ankunft zu Manor Farm den Entschluß gefaßt hatte, das Herz der Jungfer Tante ohne Verzug in Belagerungszustand zu versetzen. Er besaß Menschenkenntnis genug, um zu merken, daß sein dreistes Benehmen dem schönen Gegenstand seiner Wünsche keineswegs mißfiel. Er hegte die lebhafte Vermutung, daß sie auch in dem Besitze des wünschenswertesten aller Erfordernisse – nämlich eines unabhängigen Vermögens, sei. Die gebieterische Notwendigkeit, seinen Nebenbuhler auf eine oder die andere Weise auszustechen, tauchte rasch in seiner Seele auf, und er entschloß sich, ohne Verzug die zweckdienlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Fielding Henry Fielding, berühmter englischer Romandichter, der von 1707 bis 1754 lebte; Hauptwerk: »Tom Jones, oder die Geschichte eines Findlings«. sagt, der Mann sei Feuer und das Weib Stroh, die der Fürst der Finsternis miteinander in Berührung bringe, um eine helle Lohe zu veranlassen. Herr Jingle wußte, daß junge Männer bei alten Jungfern sind, was die Lunte für das Schießpulver, und so nahm er sich vor, die Wirkung einer Explosion ohne Zeitverlust zu versuchen.

Über diesen wichtigen Entwurf brütend, schlich er sich aus seinem Schlupfwinkel und näherte sich unter dem Schutze des vorerwähnten Gesträuchs dem Hause. Das Glück schien seine Absicht zu begünstigen: denn eben verließ Herr Tupman mit den übrigen Herren den Garten durch eine Seitentür, und die jüngeren Damen hatten, wie er wohl wußte, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang angetreten. Das Feld war also gesäubert.

Die Tür des Speisezimmers war halb offen. Er blickte hinein. Die Jungfer Tante saß mit ihrem Strickstrumpf drinnen. Er hustete – sie sah auf und lächelte. Zögern gehörte nicht zu Herrn Jingles Charakter. Er legte die Finger geheimnisvoll an seine Lippen, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

»Fräulein Wardle –« sagte Herr Jingle mit erkünsteltem Ernst – »entschuldigen meine Zudringlichkeit – kurze Bekanntschaft – keine Zeit zu Zeremonien – alles entdeckt!«

»Sir!« entgegnete Jungfer Tante etwas überrascht über diese unerwartete Annäherung, und zweifelhaft, ob der Mann wohl auch bei Trost sei.

»Pst!« sagte Herr Jingle mit theatralischem Flüstern – »großer Junge – Knödelgcsicht – Pflugräderaugen – Spitzbube!«

Hier schüttelte er nachdrücklich den Kopf, während Jungfer Tante in innerer Beklemmung erzitterte.

»Es scheint, Sie spielen auf Joe an, Sir?« versetzte die Dame, indem sie sich zusammennahm, um gefaßt zu erscheinen.

»Ja, Fräulein – verdammter Joe! – Verräterischer Schlingel, Joe – schwatzte bei der alten Dame – alte Dame wütend – rast – tobt – Laube – Tupman – Küssen und Umarmen – derartiges – tja, Fräulein – wie?«

»Herr Jingle«, sagte die alte Jungfer, »wenn Sie hierher kommen, um mich zu beleidigen – – «

»Nicht doch – nicht im geringsten«, versetzte der nicht zu verblüffende Jingle. – »Hörte die Geschichte – kam her. Sie vor der Gefahr zu warnen – Dienste anzubieten – Skandal zu vermeiden. Nicht zu denken an Beleidigung – will augenblicklich wieder gehen«.

Und er wandte sich um, als wollte er seine Drohung in Vollzug setzen.

»Aber was soll ich tun?« sagte die arme Jungfer in Tränen ausbrechend. »Mein Bruder wird rasen!«

»Läßt sich denken«, entgegnete Herr Jingle nach einer Pause – »wird wütend sein.«

»Ach, Herr Jingle, was kann ich sagen?« rief die Jungfer Tante in einem weiteren trostlosen Tränenstrom.

»Sagen? – Er hat geträumt«, versetzte Herr Jingle kaltblütig.

Ein Strahl der Hoffnung dämmerte in der Seele der armen Jungfer auf, als sie diesen Rat hörte. Herr Jingle nahm es in acht und verfolgte seinen Vorteil.

»Pah, pah! – Nichts leichter – verwünschter Blaustrumpf – liebenswürdige Dame – fetter Junge mit der Hundspeitsche traktiert – Ihnen geglaubt – alles vorbei – alles gut«.

Ob die Wahrscheinlichkeit eines Herauswindens aus dieser unzeitigen Entdeckung den Gefühlen der guten Jungfer so vergnüglich vorkam, oder ob das Prädikat »liebenswürdige Dame«, das ihr beigelegt wurde, das Bittere ihres Kummers milderte – wir wissen es nicht. Sie errötete und warf einen dankbaren Blick auf Herrn Jingle.

Der gewandte Gentleman seufzte tief auf, heftete ein paar Minuten seine Augen auf die Jungfer, sank dann ganz theatralisch zusammen und schlug die Blicke nieder.

»Sie scheinen unglücklich zu sein, Herr Jingle«, sagte die Dame mit teilnehmender Stimme. »Darf ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre gütige Vermittlung dadurch bezeugen, daß ich Sie nach dem Grunde Ihres Leidens frage, um ihn womöglich beseitigen zu können?«

»Ach!« rief Herr Jingle mit abermaliger Komödiengeberde – »beseitigen? – Mein Unglück beseitigen, wo Ihre Liebe einem Mann zugewandt ist, der einen solchen Segen gar nicht zu schätzen weiß? – einem Manne, der sich eben jetzt mit Absichten auf die Neigung der Nichte desselben Wesens trägt, das – doch nein, er ist mein Freund, und so will ich seine Mängel nicht enthüllen. Fräulein Wardle – leben Sie wohl!«

Bei dem Schlusse dieser Anrede, der zusammenhängendsten, die man je aus seinem Munde vernommen hatte, brachte Herr Jingle den mehrmals erwähnten Rest eines Schnupftuchs an die Augen und wandte sich gegen die Tür.

»Bleiben Sie, Herr Jingle!« rief die Jungfer Tante mit Nachdruck. »Sie haben eine Anspielung auf Herrn Tupman gemacht – erklären Sie sich näher.«

»Nie!« rief Jingle in dem Tone seines Gewerbes. »Nie!«

Und um zu zeigen, daß er nicht weiter gefragt zu werden wünschte, rückte er einen Stuhl dicht an die Seite der Jungfer Tante und setzte sich nieder.

»Herr Jingle,« sagte die Tante, »ich bitte, ich beschwöre Sie, wenn irgendein schreckliches Geheimnis mit Herrn Tupman in Verbindung steht, so lüften Sie den Schleier.«

»Kann ich,« versetzte Herr Jingle, die Augen auf Fräulein Wardles Antlitz heftend – »kann ich mit ansehen – ein so liebliches Wesen – geopfert auf dem Altare herzloser Habsucht?« Er schien einige Augenblicke mit verschiedenen widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen, und fuhr dann mit leiser, gedämpfter Stimme fort: »Tupman hat nichts als Ihr Geld im Auge.«

»Der Elende!« rief die Jungfer voller Entrüstung.

Herrn Jingles Zweifel waren gelöst: sie hatte Geld.

»Und was noch mehr ist,« fuhr Herr Jingle fort, »er liebt eine andere.«

»Eine andere?« entgegnete Fräulein Wardle. »Und wer wäre diese?«

»Kleines Mädchen – schwarze Augen – Nichte Emilie.«

Eine Pause.

Auf der ganzen Welt gab es niemand, gegen den Jungfer Tante eine tödlichere und tiefer gewurzelte Eifersucht nährte, als gerade diese Nichte. Ein Glutstrom schoß ihr über Gesicht und Nacken, sie wiegte den Kopf mit der Miene unaussprechlicher Verachtung hin und her. Endlich biß sie sich in die dünnen Lippen, warf sich in die Brust und begann:

»Es kann nicht sein. Ich mag es nicht glauben.«

»Sie beobachten«, meinte Jingle.

»Das will ich«, versetzte die Tante.

»Auf ihre Blicke acht haben –«

»Soll geschehen.«

»Sein Flüstern.«

»Ja.«

»Wird am Tisch neben ihr sitzen –«

»Das mag er.«

»Ihr Artigkeiten sagen –«

»Sei’s drum,«

»Ihr alle erdenkliche Aufmerksamkeit erweisen –«

»Meinetwegen.«

»Mit Ihnen brechen.«

»Mit mir brechen?«, rief die Jungfer Tante. »Er mit mir brechen? Gut! Recht so!«

Und sie zitterte in der Wut getäuschter Hoffnung.

»Wollen Sie sich überzeugen?« fragte Jingle.

»Ich will.«

»Ihm entschlossen entgegentreten?«

»Ja.«

»Nachher nicht wieder mit ihm anbinden?«

»Auf keinen Fall.«

»Die Bewerbungen eines andern annehmen?«

»Ja.«

»So tun Sie es.«

Herr Jingle fiel auf seine Knie nieder, verharrte fünf Minuten in dieser Stellung, und erhob sich wieder als der begünstigte Liebhaber der Jungfer Tante – für den Fall, daß sich Herrn Tupmans Treulosigkeit herausstellen sollte.

Die Schuldigkeit des Beweises haftete auf Herrn Alfred Jingle, und er entledigte sich ihrer noch am nämlichen Tage beim Diner. Jungfer Tante mochte kaum ihren Augen trauen. Herr Tracy Tupman saß an Emiliens Seite und liebäugelte, flüsterte und lächelte mit Herrn Snodgraß in die Wette. Kein Wort – nicht einen Blick hatte er für sie, die tags zuvor noch der Stolz seines Herzens war.

»Verwünschter Bube!« dachte der alte Herr Wardle, dem seine Mutter Joes Erzählung mitgeteilt hatte. »Verwünschter Bube! Er muß geschlafen und geträumt haben. Eitel Einbildung!«

»Der Verräter!« dachte die alte Jungfer ihrerseits. »Der gute Herr Jingle hat mich nicht hintergangen. O, wie hasse ich den Bösewicht!« –

Die folgende Unterhaltung aber wird dazu dienen, unsern Lesern die scheinbar unerklärliche Veränderung in Herrn Tracy Tupmans Benehmen zu enträtseln.

Es war Abend – Schauplatz der Garten. Auf einem Nebenwege ergingen sich zwei Gestalten – die eine ziemlich klein und beleibt, die andere hoch und hager. Sie waren Herr Tupman und Herr Jingle. Die kleinere begann das Gespräch.

»Nun, wie habe ich meine Rolle gespielt?«

»Vortrefflich – fabelhaft – hätt’s selbst nicht besser machen können – Sie müssen in dieser Weise fortfahren – morgen – jeden Abend – bis auf ein weiteres Zeichen.«

»Wünscht es Rachel noch immer?«

»Natürlich – tut’s freilich nicht gern – aber muß sein – Verdacht abwenden – fürchtet ihren Bruder – sagt, es lasse sich nicht ändern – nur noch einige Tage – bis die alten Leute verblendet sind – Ihrem Glücke dann die Krone aufsetzen.«

»Läßt sie mir sonst nichts sagen?«

»Versichert Liebe, – treue – unverbrüchliche Liebe. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Mein lieber Freund«, versetzte der nichts ahnende Tupman, glühend die Hand des vermeintlichen Freundes ergreifend, »versichern auch Sie Fräulein Rachel gleichfalls meiner wärmsten Liebe – sagen Sie ihr, wie schwer mir diese Verstellung wird – sagen Sie ihr alles, was sich in einem solchen Falle sagen läßt: aber fügen Sie auch bei, wie sehr ich die Notwendigkeit des Benehmens fühle, das sie mir diesen Morgen durch Sie anempfehlen ließ. Sagen Sie ihr, daß ich ihre Weisheit verehre und ihre kluge Vorsicht bewundere.«

»Soll geschehen. Weiter nichts?«

»Nein; nur noch das, daß ich mich glühend nach dem Augenblick sehne, »wo ich sie die Meinige nennen und jede Maske ablegen kann.«

»Wird besorgt – wird besorgt. Noch etwas auf dem Herzen?«

»Ach, mein Freund,« sagte der arme Tupman, abermals die Hand seines Gefährten ergreifend, »empfangen Sie meinen wärmsten Dank für ihre uneigennützige Güte, und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen je, auch nur mit dem Gedanken, Sie könnten mir im Wege stehen, unrecht getan habe. Mein teurer Freund, kann ich Ihnen je Ihren Dienst vergelten?«

»Reden Sie nicht davon«, versetzte Herr Jingle.

Er hielt sogleich inne, als ob er sich plötzlich auf etwas besinne, und sagte: »Übrigens, können Sie nicht zehn Pfund entbehren? – Im Augenblick zu besonderen Zwecken benötigt – zahle wieder in drei Tagen.«

»Aber mit Vergnügen«, versetzte Herr Tupman in der Überfülle seines Herzens. »Drei Tage sagen Sie?«

»Nur drei Tage – alles vorüber dann – keine weiteren Schwierigkeiten.«

Herr Tupman zählte das Geld auf die Hand seines Gefährten, und dieser ließ, während sie zurückgingen, Stück für Stück in seine Tasche gleiten.

»Vorsichtig«, sagte Herr Jingle – » ja keinen Blick.«

»Keine Silbe.«

»Nicht die leiseste.«

»Alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Nichte – eher etwas unartig gegen die Tante – der einzige Weg, die Alten hinters Licht zu führen.«

»Soll alles pünktlich geschehen«, sagte Herr Tupman laut.

»Ja, ja, tu es nur pünktlich!« dachte Herr Jingle; und sie traten ins Haus.

Die Szene des Nachmittags wurde am Abend wiederholt, und ein gleiches geschah an den drei nächstfolgenden Nachmittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Haltlosigkeit der Klage gegen Tupman überzeugt. Bei Herrn Tupman aber stand es ähnlich, da ihm Herr Jingle mitgeteilt hatte, seine Angelegenheit würde bald zur Entscheidung kommen. Herr Pickwick war ebenfalls heiter, weil er selten anders war. Nur von Snodgraß ließ sich das nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Herrn Tupman, während wieder die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Herr Jingle nebst Fräulein Tante – diese aus sehr erheblichen Gründen, die in einem andern Kapitel unserer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlossen.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Eine Entdeckung und eine Verfolgung.

Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren herangerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles verkündigte die Nähe des vergnüglichsten Zeitabschnitts im Verlauf des Tages.

»Wo ist Rachel?« fragte Herr Wardle.

»Ja, und wo Herr Jingle?« fügte Herr Pickwick bei.

»Ach du mein Himmel«, sagte der Hausherr, »es nimmt mich wunder, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Ich glaube, ich habe seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört. Liebe Emilie, klingle doch mal.«

Die Klingel wurde gezogen und der Junge trat ins Zimmer.

»Wo ist Fräulein Rachel?«

Er wußte nichts.

»Wo ist Herr Jingle?«

Er wußte es gleichfalls nicht.

Alle blickten sich überrascht an. Es war spät – bereits elf Uhr vorbei. Herr Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum und unterhielten sich von ihm. Ha, ha! Ein herrlicher Einfall – Kapitalspaß!

»Tut nichts – tut nichts«, sagte Herr Wardle nach einer kurzen Pause. »Ich wette, sie werden bald da sein. Mit dem Nachtessen warte ich nie auf jemand.«

»Treffliche Hausordnung, das«, bemerkte Herr Pickwick. »Bewunderungswürdig.«

»Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, meine Herren«, sagte der Hausherr.

»Wenn Sie erlauben«, versetzte Herr Pickwick.

Und die Gesellschaft ließ sich nieder.

Ein ungeheures Stück kalten Rinderbratens stand auf dem Tisch, und Herr Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er erhob eben die Gabel zu seinen Lippen und war im Begriffe, den Mund zu öffnen und den Brocken dem obern Ende seines Verdauungskanals anzuvertrauen, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton vieler Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Herr Wardle hielt gleichfalls inne, und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in dem Fleische stecken. Er sah Herrn Pickwick an, und Herr Pickwick blickte auf Herrn Wardle.

Schwere Fußtritte ließen sich von dem Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Herrn Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefeln gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.

»Was, zum Teufel, soll das heißen?« rief der Hausherr.

»Hat etwa der Küchenschornstein Feuer gefangen, Emma?« fragte die alte Dame.

»Ach Gott, ’s wird doch das nicht sein, Großmutter!« kreischten die jungen Damen.

»Was ist los?« rief der Hausherr.

Der Mann haschte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:

»Sie sind fort, Herr – auf und davon, Sir!«

Bei dieser Eröffnung sah man Herrn Tupman Messer und Gabel niederlegen und erblassen.

»Wer ist fort?« sagte Herr Wardle heftig.

»Herr Jingle und Fräulein Rachel – in einer Postkutsche – vom Blauen Löwen in Muggleton aus. Ich war dort – konnte sie aber nicht zurückhalten; und so lief ich, hast du was kannst du, um es hier mitzuteilen.«

»Und ich mußte die Kosten dazu herschießen!« rief Herr Tupman, ganz außer sich aufspringend. »Er hat zehn Pfund von mir mitgenommen! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir’s nicht gefallen! Ich will mein Recht haben, Pickwick! Ich will nicht ruhig zusehen, wenn ich um mein Eigentum geprellt werde!«

Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen rannte Herr Tupman wie toll im Zimmer umher.

»Gott behüte uns!« rief Herr Pickwick, die. außerordentlichen Gebärden seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. »Er ist übergeschnappt; was fangen wir an?«

»Was wir anfangen?« entgegnete der Hausherr, der bloß Pickwicks letzte Worte gehört hatte. »Spannt das Pferd in die Deichsel. Ich will im Löwen eine Postkutsche nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo –« rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen – »wo ist der heillose Kerl, der Joe?«

»Hier bin ich – aber kein heilloser Kerl«, versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.

»Lassen Sie mich, Pickwick!« schrie Wardle, als er auf den unglücklichen Joe losstürzen wollte. »Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen, damit er mir eine falsche Witterung beibringe und mir mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman einen blauen Dunst vormache.« (Hier sank Herr Tupman auf seinen Stuhl zurück.) »Lassen Sie mich – ich muß ihm zu Leibe.«

»Ach, halten Sie ihn ja fest!« kreischten die Frauenzimmer, und aus ihrem Geschrei hörte man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraus.

»Weg da!« rief der alte Mann. »Zurück mit Ihren Händen, Herr Winkle! Lassen Sie mich los, Herr Pickwick!«

Es war erbaulich, in diesem Augenblicke des Tumults und der Verwirrung den ruhigen und philosophischen Ausdruck in Herrn Pickwicks Gesicht wahrzunehmen. Er stand da, allerdings etwas gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seine« korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, und verhütete so einen tätlichen Ausbruch von dessen leidenschaftlichem Zorn, während der fette Junge von sämtlichen Damen zur Tür hinausgeschoben und gezerrt wurde. Er hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß der Wagen bereit wäre.

»Lassen Sie ihn nicht allein fort!« riefen die Frauenzimmer. »Es gibt ein Unglück!«

»Ich will ihn begleiten«, sagte Herr Pickwick.

»Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick«, sagte Herr Wardle, seine Hand ergreifend. »Emma, gib Herrn Pickwick einen Schal um den Hals – rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. So kommen Sie – sind Sie fertig?«

Da Herr Pickwick inzwischen Mund und Kinn hastig in einen großen Schal gehüllt, den Hut auf seinen Kopf gepflanzt und den Überrock über den Arm geworfen hatte, antwortete er mit Ja.

Sie sprangen in den Wagen. »Laß dem Pferd den Zügel, Tom«, sagte Herr Wardle: und fort ging’s über die schmalen Feldwege weg, holter, polter über die Wagengeleise und an den Knicks vorbei, daß alle Augenblicke zu befürchten stand, das leichte Fuhrwerk möchte in Stücke fliegen.

»Haben sie einen starken Vorsprung?« rief Herr Wardle, als der Wagen vor dem blauen Löwen anlangte, um den sich, so spät es war, ein kleines Häufchen Neugieriger versammelt hatte.

»Nicht über drei Viertelstunden«, lautete die vielstimmige Antwort.

»Schnell eine Kutsche mit Vieren! – Heraus damit! Man kann den kleinen Wagen nachher ausspannen.«

»Nun, Jungen!« rief der Wirt: »eine Kutsche und vier Pferde! Hurtig – zeigt ein bißchen Leben!«

Die Stallknechte und Jungen eilten weg. Laternen huschten hin und her: Pferdehufe klapperten auf dem unebenen Hofpflaster, die Kutsche rumpelte aus dem Schuppen heraus, und alle« war voll Leben und Bewegung.

»Nun – wird’s noch diese Nacht?« rief Wardle ungeduldig.

»Kommt eben in den Hof, Sir«, versetzte der Stallknecht.

Und der Wagen kam – die Pferde wurden eingespannt – die Postillions sprangen hinzu – die Reisenden stiegen ein.

»Wohlgemerkt – die Siebenmeilenstation muß in weniger als einer halben Stunde gemacht sein«, rief Herr Wardle.

»Fort!«

Die Jungen brauchten Peitsche und Sporn, die Kellner schrien, die Stallknechte fluchten, und dahin flog der Wagen in wütender Eile.

»Eigentümliche Lage«, dachte Herr Pickwick, als er einen Augenblick Zeit zum Überlegen gewann. »Eigentümliche Lage für den Präsidenten des Pickwick-Klubs. Dumpfe Kutsche – fremde Pferde – fünfzehn Meilen in einer Stunde – und nachts zwölf Uhr!« Die ersten drei oder vier Meilen verlautete kein Wort unter den beiden Herren, da jeder zuviel mit seinen eigenen Gedanken zu schaffen hatte, um an den andern eine Bemerkung zu richten. Aber jetzt, da die warm gewordenen Pferde einmal im Zuge waren, wurde auch Pickwick durch die Raschheit der Bewegung aufgerüttelt, und er konnte nicht länger, ganz stumm da zu sitzen.

»Ich denke, wir werden sie sicher einholen«, begann er.

»Ich hoffe es«, versetzte sein Gefährte.

»Eine schöne Nacht«, sagte Herr Pickwick nach dem klaren Monde aufblickend.

»Um so schlimmer«, entgegnete Wardle, »denn sie haben für ihren Vorsprung den Vorteil des Mondlichts, der uns fehlt, da der Mond keine Stunde mehr am Himmel stehen wird.«

»In der Dunkelheit wird’s freilich nicht mit der gleichen Geschwindigkeit fortgehen können – oder?« fragte Herr Pickwick.

»Gewiß nicht«, versetzte Herr Wardle trocken.

Herrn Pickwicks Aufregung begann sich ein wenig zu legen, als er über die Unbequemlichkeiten und Gefahren einer Reise nachdachte, auf die er sich so unüberlegt eingelassen hatte. Endlich wurde er jedoch durch das laute Rufen des Postillions auf dem Leitgaule aus seinen Betrachtungen geweckt.

»Hallo! Hallo!« rief der erste Postillion.

»Hallo! Hallo!« wiederholte der zweite.

»Hallo! Hallo!« stimmte der alte Wardle lustig mit ein, indem er den Kopf und den halben Körper zum Fenster hinaussteckte.

»Hallo! Hallo!« schrie Herr Pickwick am kräftigsten von allen, obgleich er durchaus nicht wußte, warum?

Und während dieses vierfachen »Hallos« machte der Wagen halt.

»Was gibt’s?« fragte Herr Pickwick.

»Wir sind an einem Schlagbaum und werden hier etwas von den Flüchtigen hören«, versetzte der alte Wardle.

Nach Verlauf von fünf Minuten, die unter Klopfen und Schreien verbracht wurden, trat ein alter Mann, nur in Hemd und Beinkleidern, aus dem Schlagbaumhäuschen und schob die Barre zurück.

»Wie lange ist’s, seit eine Postkutsche hier passierte?« fragte Herr Wardle.

»Wie lange?«

»Ja, wie lange?«

»Kann’s nicht genau sagen. Gar lange wird’s nicht sein, aber auch nicht gar kurz – just so zwischen drin, denke ich.«

»Es kam aber doch wirklich eine Kutsche vorbei.«

»O ja; ne Kutsche ist vorbeigekommen.«

»Aber seit wie lange, mein Freund«, mischte sich Herr Pickwick ein. »Vor einer Stunde vielleicht?«

»So was mag’s gewesen sein«, versetzte der Mann.

»Oder zwei Stunden? fragte der Postillion des hinteren Zugs.

»Könnten auch zwei Stunden sein«, entgegnete der alte Mann zweifelhaft.

»Fort, Jungen«, rief der Wardle ärgerlich: »haltet euch nicht mit dem alten Dummkopf auf.«

»Dummkopf?« rief der alte Mann mit einem Grinsen, indem er den Balken halb vorschob und in die Mitte des Weges trat, um der Kutsche nachzusehen, die mit der zunehmenden Entfernung rasch den Blicken verschwand. »Lange kein solcher, als der da drinnen. Verliert er da seine zehn Minuten und geht so klug fort, wie er hergekommen ist. Wenn jeder Schlagbaumwärter seinen Goldfuchs nur halb so gut verdient, wie ich, so wirst du die andere Kutsche vor Michaelis nicht einholen, alter Fettbauch.«

Und weiter grinsend schloß der Mann den Schlagbaum vollends, trat in sein Haus und schob den Riegel hinter sich zu.

Inzwischen ging die Kutsche stets mit gleicher Geschwindigkeit weiter, bis sie am Ende der Station anlangte. Der Mond ging, wie Herr Wardle richtig bemerkt hatte, zeitig unter, und große Ballen schwarzer Wolken, die schon seit einiger Zeit den Himmel umzogen, sammelten sich bald zu einer einzigen dunklen Masse. Große Regentropfen, die hin und wieder an die Wagenfenster schlugen, schienen den Reisenden das rasche Annähern einer stürmischen Nacht zu verkündigen. Der Wind, der ihnen gerade entgegenblies, fegte in furchtbaren Stößen die schmale Straße daher und heulte greulich in den die Chaussee begrenzenden Bäumen. Herr Pickwick wickelte sich fester in seinen Überrock, drückte sich behaglich in eine Ecke des Wagens und verfiel in ein gesundes Schläfchen, aus dem er erst wieder erwachte, als die Kutsche halt machte und der Ton der Stallklingel nebst dem lauten Ruf: »Rasch! Pferde vor!« erscholl.

Aber hier gab es wieder eine Zögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Stallknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und selbst als dieser gefunden war, verwechselten die Postillione die Pferdegeschirre, so daß das Geschäft der Zurichtung wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Herr Pickwick allein gewesen, diese vielen Hindernisse hätten jedem Weiterfahren auf einmal ein Ziel gesteckt! aber der alte Herr Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er ging bei allem so rührig an die Hand, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten erwarten ließ, zum Abfahren bereit stand.

Sie nahmen die Reise – allerdings nicht unter besonders günstigen Umständen – wieder auf. Die Station war fünfzehn Meilen lang, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die andere Station zu erreichen. Hier trafen sie jedoch auf einen Umstand, der alle ihre Hoffnungen wieder aufleben machte und ihren sinkenden Mut hob.

»Wann ist diese Nacht eine Kutsche angekommen?« rief der alte Wardle, aus seinem eigenen Wagen springend, und auf ein Fuhrwerk deutend, das, mit Kot bedeckt, auf dem Hof stand.

»Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir«, versetzte der Stallknecht, an den diese Frage gerichtet war.

»Ein Herr und eine Dame?« fragte Wardle mit fast atemloser Hast.

»Ja, Sir.«

»Der Herr groß – dünn – lange Beine?«

»Ja, Sir.«

»Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?«

»Ja, Sir.«

»Beim Himmel, sie sind’s, Pickwick!« rief der alte Herr.

»Sie wären schon früher angelangt, wenn ihnen nicht ein Zugstrang zerrissen wäre«, sagte der Stallknecht.

»Sie sind’s«, rief Herr Wardle. »Gerechter Himmel, sie sind’s! Geschwind – eine Kutsche und vier Pferde! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem einen Goldfuchs, Jungens – rührt euch – tapfer – so; brave Burschen.«

Unter solchen Ermunterungen rannte der alte Herr geschäftig im Hofe hin und her. Er war in einer Aufregung, die sich sogar Herrn Pickwick mitteilte, so daß dieser Gentleman gleichfalls an dem Einschirren der Pferde mithalf und auf eine ganz wundersame Weise nach den Rossen und den Rädern sah, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigsten Aufbruch wesentlich zu fördern.

»Hinein – hinein!« rief der alte Wardle, indem er in den Wagen stieg, den Tritt nachzog und den Schlag schloß. »Kommen Sie – beeilen Sie sich.«

Und noch ehe Herr Pickwick wußte wie, fühlte er sich durch einen tüchtigen Ruck von seiten des alten Herrn und durch einen Nachschub des Stallknechts durch den andern Schlag in den Wagen gehoben. Dann ging es wieder weiter.

»So – jetzt sind wir wieder in Bewegung«, rief der alte Herr frohlockend.

Das war auch in der Tat der Fall, wie Herr Pickwick aus den häufigen Zusammenstößen mit der Kutschenwand und seinem Nachbar am besten empfand.

»Greifen Sie nach dem Halter«, sagte Herr Wardle, als ihm Herrn Pickwicks Kopf gegen die Rippen fuhr.

»Ich bin in meinem Leben nie so gerüttelt worden«, entgegnete Herr Pickwick.

»Macht nichts«, versetzte sein Gefährte: »wird bald vorüber sein. Halten Sie sich nur fest.«

Herr Pickwick drückte sich so fest er konnte in seine Ecke, und der Wagen rollte schneller als je dahin.

Sie hatten in dieser Weise ungefähr drei Meilen zurückgelegt, als Herr Wardle, der auf ein paar Minuten durch den Schlag hinaus gesehen, plötzlich den von Kot bespritzten Kopf zurückzog und in atemloser Hast ausrief:

»Dort sind sie!«

Herr Pickwick steckte den Kopf gleichfalls durch das Fenster. Ja, es war eine Kutsche mit vier Pferden, die in vollem Galopp in kurzer Entfernung vor ihnen dahinsprengte.

»Vorwärts! vorwärts!« schrie der alte Herr. »Zwei Goldfüchse für jeden. Jungen – holt sie ein – drauf – drauf!«

Die Pferde der ersten Kutsche jagten in höchster Eile davon, und Herrn Wardles jagten wütend hinterdrein.

»Ich sehe seinen Kopf«, rief der cholerische alte Herr; »ich will verdammt sein, wenn ich nicht seinen Kopf sehe.«

»Ich gleichfalls«, sagte Herr Pickwick. »Er ist’s!«

Herr Pickwick hatte sich nicht geirrt. Herrn Jingles Gesicht, über und über mit Straßenkot bespritzt, war deutlich an dem Fenster der Kutsche zu erkennen, und die ungestümen Bewegungen seines Armes verrieten, daß er die Postillione antrieb, ihr Äußerstes zu tun.

Die Spannung war aufs höchste gesteigert. Felder, Bäume und Hecken schienen mit der Schnelligkeit des Windes an ihnen vorbeizufliegen, so jagten die Rosse dahin. Sie waren hart an der ersten Kutsche und konnten Jingles Stimme selbst unter dem Rädergerassel die Postillione antreiben hören. Der alte Wardle schäumte vor Zorn und Wut. Er warf ihm »Schurken« und »Spitzbuben« zu Dutzenden nach und schüttelte die Faust nachdrücklich gegen den Gegenstand seiner Entrüstung. Aber Herr Jingle antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln und erwiderte die Drohungen des alten Herrn durch lautes Frohlocken, als seine Pferde unter Beihilfe der Peitsche und des Sporns rascher anzogen und die Verfolger weit hinter sich ließen.

Herr Pickwick hatte eben seinen Kopf zurückgezogen und Herr Wardle, von seinem Schreien erschöpft, das gleiche getan, als sie durch einen furchtbaren Stoß des Wagens gegen die Vorderseite geschleudert wurden. Ein dumpfer Ton – ein lautes Krachen – ein Rad flog ab, und die Kutsche schlug um.

Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und Bestürzung, in denen sich nichts als das Ausschlagen der Pferde und das Klirren der Glasscheiben vernehmen ließ, fühlte sich Herr Pickwick gewaltsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorgezogen, und als er endlich auf seinen Beinen stand und sich aus den Schößen seines Überrocks auswickelte, die den Gebrauch seiner Brille wesentlich beeinträchtigten, gewahrte er den ganzen Umfang des Unheils, das ihnen zugestoßen war.

Der alte Herr Wardle stand ihm ohne Hut und mit zerrissenen Kleidern zur Seite, und die Bruchstücke des Wagens lagen zu ihren Füßen. Die Postillions, denen es gelungen war, die Stränge abzuschneiden, standen, beschmutzt und von dem scharfen Ritt erschöpft, bei ihren Pferden. Die andere Kutsche hatte einen Vorsprung von ungefähr hundert Schritten und machte halt, als man dort das Krachen vernahm. Die Postillione blickten aus ihren Sätteln mit grinsenden Gesichtern zurück, und Herr Jingle, der das Unglück aus dem Kutschenfenster mit angesehen hatte, zeigte gleichfalls eine nicht unzufriedene Miene. Der Tag brach eben an, so daß sich die ganze Szene im Dämmerlicht des Morgens deutlich unterscheiden ließ.

»Holla!« rief der schamlose Jingle: »Jemand beschädigt? – Ältere Herren – nicht leicht – gefährliche Arbeit – wahrhaftig.«

»Sie sind ein Schurke!« brüllte Wardle.

»Ha! ha!« lachte Herr Jingle. Dann fügte er mit einem bedeutsamen Winke und einer Bewegung seines Daumens gegen das Innere seiner Kutsche bei – »ich sage – sie ist ganz wohl – besten Gruß von ihr – bittet. Sie möchten sich ihretwegen nicht bemühen – läßt Tuppy grüßen – wollen Sie nicht hinten aufsitzen? – Vorwärts, Jungen«!«

Die Postillione nahmen wieder ihre frühere Haltung ein, und die Kutsche rasselte weiter, während Herr Jingle höhnend sein Taschentuch zum Fenster hinausflattern ließ.

Nichts von dem ganzen Abenteuer – nicht einmal der Umsturz des Wagens – war imstande gewesen, Herrn Pickwicks Gemütsruhe zu trüben. Aber die Bosheit dieses Menschen, der zuerst von seinem treuen Begleiter Geld borgte und dann dessen Namen schmählicher Weise zu »Tuppy« abkürzte, war mehr, als er ertragen konnte. Er holte tief Atem, wurde rot bis an seine Brille und sagte langsam und nachdrücklich:

»Wenn ich je wieder mit diesem Menschen zusammentreffe, so will ich –«

»Ja, ja,« unterbrach ihn Herr Wardle; »das ist alles ganz recht. Aber während wir hier stehen und schwatzen, verschafft er sich eine Heiratserlaubnis und läßt sich in London trauen.«

Herr Pickwick hielt inne und stöpselte die Flasche, die er aus Wut entkorkt hatte, wieder zu.

»Wie weit ist’s bis zur nächsten Station?« fragte Herr Wardle einen der Postillione.

»Sechs Meilen – gelt Tom?«

»Etwas drüber.«

»Etwas über sechs Meilen, Sir.«

»Da ist nichts anderes zu machen, als zu Fuß hinzugehen, Pickwick«, sagte Herr Wardle.

»Freilich, ’s gibt keinen andern Ausweg«, versetzte dieser wahrhaft große Mann.

Sie sandten nun einen der Postjungen zu Pferd voraus, um einen neuen Wagen samt Pferden zu bestellen, und ließen den andern bei der zerbrochenen Kutsche zurück, während sie selbst sich mannhaft in Bewegung setzten, nachdem sie zuvor den Hals durch ihre Tücher geschützt und ihre Hüte niedergekrempt hatten, um sich so viel wie möglich gegen den Regen zu schützen, der jetzt nach kurzem Nachlassen wieder in Strömen zu fließen begann.

 

Dickens Leben und Werke.


Dickens Leben und Werke.

Zu den vorliegenden Übersetzungen.

Als Charles Dickens, der große englische Humorist, 1870 gestorben war, wurden in den ersten zwölf Jahren nach seinem Tode in England allein vier Millionen Stück seiner Werke verkauft; ein Zeichen für die ungemeine Beliebtheit des Mannes, der dabei nicht, wie manch anderer großer Dichter, auf den Ruhm nach dem Tode als Ersatz für den fehlenden Ruhm bei Lebzeiten hat hoffen brauchen. Er war, sobald er zu schriftstellern begann, bereits vielgelesen, vielgekauft und gefeiert.

Auch in Deutschland erschienen in des Dichters besten Lebenstagen bereits umfangreiche Übersetzungen, die damals gern gelesen wurden. Aber sie sind heute veraltet. Zwar waren sie meist genaue Übertragungen, indessen sie blieben ganz in der zeitlichen Mode stecken und sind heute für den modernen Leser kaum genießbar. Unser Sprachgefühl verlangt einfachen klaren Satzbau, keine endlosen Satzperioden. Die reichliche Anwendung von Partizipien, die das Englische zuläßt, wirkt in unserer Sprache schleppend und unbeholfen. Viele Fremdwörter, die früher geläufig waren, sind gänzlich aus dem Sprachgebrauch verschwunden und durch deutsche Ausdrücke zu ersetzen. Daher bedeutet eine erneute, an der Hand des englischen Originals revidierte Übersetzung zugleich eine neue Wegbahnung zum Reiche des großen englischen Humoristen, der uns auch heute noch außerordentlich viel zu bedeuten vermag. Das Unternehmen des Gutenberg-Verlags, Dickens in einem äußerlich wie innerlich würdigen deutschen Gewande weiten Kreisen unseres Volkes wieder zu erschließen, ist daher überaus dankbar zu begrüßen.

 

Charles Dickens (Pseudonym »Boz«) ist am 7. Februar 1812 zu Landport bei Portsmouth geboren. Sein Vater war Marinezahlmeister, der sich mit Frau und Kindern schlecht und recht durchs Leben schlug. Als Charles klein war, ging es den Eltern oft recht kümmerlich. 1816 siedelte die Familie nach Chatham bei London über. Der Vater geriet in Schulden und mußte zwei Jahre ins Schuldgefängnis wandern. Die Entbehrungen des Vaters in den Kerkermauern, die Not der Mutter, der Hunger der Geschwister und der eigene machten auf den kleinen Charles einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck: und das traurige Leben der Armut, das er damals kennenlernte, spiegelt sich oft genug in seinen Schriften ergreifend wider, immer begleitet von dem heimlichen Wunsch um Abhilfe. Charles konnte unter diesen Umständen nur eine kümmerliche Ausbildung erhalten. Er las selbst viele Romane und Dramen und suchte nebenher an Wissen zu ergattern, was er auftreiben konnte. Zunächst ward er Laufjunge und Paketpacker bei einem Verwandten, der Stiefelwichsefabrikant war. Dann aber besserten sich die Verhältnisse der Familie etwas. Charles konnte die »Academy« zu Hamstead Road besuchen. Er ward jetzt Advokatenschreiber. Als solcher bekam er es mit den verschiedensten Menschen aus dem Volke zu tun, und seiner scharfen Beobachtungsgabe verdankte er die Fähigkeit, alle möglichen Originale, vom jovialen Ehrenmann bis zum Landstreicher, meisterhaft zeichnen zu können.

Die Welt des Schriftstellers aber erschloß sich ihm erst eigentlich, als er im Britischen Museum literarische Studien systematisch trieb. Er lernte Stenographie und ward zunächst Zeitungsreporter, Als Mitarbeiter von »The true sun« und »Morning Chronicle« machte er sich zuerst einen Namen. Seit Dezember 1833 veröffentlichte er in englischen Zeitschriften »Skizzen von London«, die mit Humor und Herzenswärme das Volk Londons, wie’s weint und lacht, darstellte. Diese Skizzen fanden außerordentlichen Anklang. Zum berühmten Manne aber machte ihn sein erster großer Roman »Die Pickwickier«, auch »Die Pickwickpapiere« ( Pickwick-Papers) genannt, worin er die (von ihm erdichteten) Berichte und Protokolle des Pickwick-Klubs veröffentlichte. Dieser Roman erschien heftweise in der Zeitung mit humoristischen Zeichnungen von Cruiksshank und Phiz. Das Publikum konnte es gar nicht erwarten, bis ein neues Heft erschien, um weitere Erlebnisse des wackeren Herrn Pickwick und seiner ergötzlichen Klubgenossen zu erfahren. Ein Griff ins volle Menschenleben war dieser Roman, und Dickens beglückte aus dem reichen Füllhorn seiner Phantasie die Leser darinnen immer wieder mit neuen kleineren, in sich abgeschlossenen Erzählungen, Anekdoten und Humoresken.

1836 heiratete Dickens die Tochter eines Redaktionskollegen und begann sich ein trautes Heim zu gründen. Sein schönes Haus am Regents-Park ward zum Treffpunkt der guten Gesellschaft und der zeitgenössischen Geistesgrößen.

1837 bis 1839 schrieb Dickens seinen zweiten Roman »Oliver Twist«, der die Erlebnisse, das Ringen und Streben eines Jungen aus den unteren Volksschichten zum Inhalt hat. Er ist wie der dritte Roman »Nicolas Nickleby« ein Entwicklungsroman; auch dieser stellt den Werdegang eines jungen Menschen mit Menschlichkeit, Wärme und Humor dar. Dickens schuf seine Werke, ähnlich wie Scott, sich naiv der Phantasie überlassend: er war ebenso wie das Publikum darauf gespannt, wie seine Romane enden würden. Seine weiteren Werke waren teils erschütternde Dokumente über das Elend der damals rasch emportreibenden Fabrikstädte, teils humoristisch-gütige Mahnungen, diesen Nöten zu steuern. Namentlich eine Reise nach Amerika bestärkte diese Tendenzen in Dickens Schriften. So klingt die Nächstenliebe in seinen Weihnachtserzählungen ( A Christmas carol) wunderbar erwärmend und herzlich wieder. In gleicher Weise ist der Roman »Zwei Städte« ein schönes Zeugnis für Dickens Kunst, tief ins volle Menschenleben zu führen und zugleich den Leser ethisch zu bereichern.

1849 bis 1850 folgte der große autobiographische Roman »David Copperfield«, in dem Dickens viel von seinem persönlichen Leben berichtet. Welche Fülle an Produktivität, an Arbeit und Gestaltungskraft zeigen diese ersten Jahrzehnte des Schriftsteller! Aber in jenen Zeiten hat sich der Dichter auch übernommen und seine Kräfte für späteres Schaffen geschwächt. 1845 war er außerdem Redakteur der neubegründeten Zeitung » Daily News« geworden, und seit 1849 leitete er eine Wochenschrift, die unter dem Titel » All the Year round« vieles aus seiner Feder brachte. Er verfaßte eine behaglich plaudernde, anschauliche und lebendige Geschichte Englands ( A childs history of England), und sein letzter großer Roman war »Little Dorrit«, in dem er diesmal das Schicksal und die Entwicklung eines gleichfalls aus ärmlichen widrigen Verhältnissen sich emporkämpfenden Mädchens zum Inhalt einer menschlich tief angelegten, dramatisch bewegten Erzählung machte.

Seine Familienverhältnisse bereiteten ihm in späteren Jahren oft trübe Stunden. 1858 trennte er sich von seiner Frau. Er schuf sich eine herrliche Besitzung Gadshill Place; aber seine innere Rastlosigkeit ließ ihn nicht zum ruhigen Genuß des Errungenen kommen. Er ging jetzt auf Reisen und hielt Vorlesungen aus seinen Werken in London, Schottland, Irland und Nordamerika. Bis an sein Lebensende blieb er ein Menschenfreund, der durch mancherlei gute Stiftungen seine Gesinnung in die Tat umsetzte. Von Ehren überhäuft starb er am 9. Juni 1870 und ward in der Westminster-Abtei zu London beigesetzt.

Den in den ersten beiden Bänden dieser Dickensausgabe erscheinenden »Pickwickiern« ist die Übersetzung von Dr. Kolb (Hoffmannsche Buchhandlung 1855) zugrunde gelegt. Sie ist entsprechend den anfangs dieser Einleitung gemachten Bemerkungen gründlich revidiert und durchgehend mit dem englischen Original verglichen worden. Dabei ist das sprachliche Gewand stark umgestaltet und das Ganze ist in modernes Deutsch gebracht worden. Die Anmerkungen, die dem Verständnis des zeitgeschichtlichen Hintergrundes dienen, dürften allen Lesern willkommen sein. Bei der Textrevision fand ich freundliche Unterstützung durch Frau Clara Weinberg, Hamburg, der ich auch an dieser Stelle herzlich danke.

Und nun, verehrte Freunde und Freundinnen eines unverwüstlichen Humors, bringt Zeit mit – denn Zeit und Muße gehören zum richtigen Auskosten des Gebotenen. Am besten ist ein stiller Nachmittag, wenn’s draußen stürmt, regnet oder schneit. Dann wird Dickens schon dafür sorgen, daß im Herzen der Leser sich die Heiterkeit der Augustsonne, die er so besonders liebte, zärtlich und lösend verbreitet.

Dresden, im Frühherbst 1926.
P. Th. H.

Dickens Vorrede zu den »Pickwickiern«.


Dickens Vorrede zu den »Pickwickiern«.

Der Verfasser hatte bei diesem Werke die Absicht, dem Leser eine fortlaufende Serie von Persönlichkeiten und Ereignissen vorzuführen, diese mit möglichst frischen Farben zu malen, und ihnen zugleich dadurch Interesse zu verleihen, daß sie dem wirklichen Leben einen Spiegel vorhalten.

Indem er sich anfangs bei seiner Arbeit den Ansichten anderer fügte, ließ er das Ganze zunächst von einem Klub ausgehen; ein Kunstgriff, der ihm als der seinem Zwecke entsprechendste an die Hand gegeben wurde. Weil er aber fand, daß ihn diese Einrahmung in seiner freieren Bewegung hemmte, so wich er nach und nach davon ab; denn es konnte ihm bei seinem Werk wenig daran liegen, ob dem Klub strenge epische Gerechtigkeit zuerkannt würde oder nicht.

Das Erscheinen des Werkes in Monatsheften – jedes nur zweiunddreißig Seiten stark – forderte, da die mannigfaltigen Begebenheiten einen möglichst genauen Zusammenhang haben mußten, um sich nicht als abgerissen und unmöglich zu geben, die Verfolgung eines möglichst einfachen Plans. Sollte die Erzählung doch nicht unter der getrennten und abspringenden Art einer Veröffentlichung leiden, die volle zwanzig Monate andauerte. Mit einem Wort, es war notwendig – oder es schien wenigstens dem Verfasser notwendig, daß jedes Heft gewissermaßen in sich selbst abgeschlossen wäre, und daß dann doch die zwanzig vollständigen Hefte ein leidliches, harmonisches Ganze bildeten, deren sich jedes durch einen gefälligen und nicht unnatürlichen Übergang an das andere anreihte.

Es versteht sich von selbst, daß man bei einem mit solchen Rücksichten veröffentlichten Werke billigerweise keinen kunstvoll gewebten oder geistreich entwickelten Plan erwarten kann. Der Verfasser schmeichelt sich indessen mit der Hoffnung, die Schwierigkeiten seines Unternehmens mit bestem Erfolg überwunden zu haben. Wenn man deü Pickwickpapieren den Vorwurf macht, daß sie eine bloße Reihe von Abenteuern sind, in denen die Szenen immer wechseln, und die Charaktere auftauchen und verschwinden, wie die Männer und Frauen, denen wir in der wirklichen Welt begegnen, so kann er sich nur mit dem Gedanken trösten, daß sie gar nichts anderes sein wollen, und daß man dieselbe Ausstellung an den Werken einiger der größten englischen Novellisten gemacht hat.

Die folgenden Blätter wurden von Zeit zu Zeit abgefaßt, je nachdem sich periodisch Gelegenheit dazu gab. Insofern sie größtenteils in der Gesellschaft eines sehr teuren jungen Freundes geschrieben wurden, der nicht mehr ist, hängen sie in der Seele des Verfassers zugleich mit der glücklichsten Periode seines Lebens und mit dem düstersten und schmerzlichsten Ereignis zusammen.

Die fast beispiellose Güte und Gunst, womit das Publikum dieses Werk aufnahm, werden dem Verfasser während seines ganzen Lebens eine nie versiegende Quelle der dankbarsten und heitersten Erinnerung sein. Hoffentlich wird man durch das ganze Buch hindurch auf keinen Vorfall und keinen Ausdruck stoßen, der auf der zartesten Wange eine Schamröte erwecken oder das Gefühl des Empfindlichsten beleidigen könnte. Wenn eine seiner unvollkommenen Schilderungen, während sie zur Unterhaltung gedient, auch nur einen einzigen Leser bewegen sollte, eine bessere Meinung von seinen Nebenmenschen zu fassen und seine Blicke auf die lichteren und freundlicheren Seiten der menschlichen Natur zu richten, so würde sich der Verfasser ob solchen Resultates stolz und glücklich fühlen.

36. Kapitel Enthusiasmus


36. Kapitel Enthusiasmus

Ich fing den nächsten Tag abermals mit einem Sprung in das römische Bad an und machte mich dann nach Highgate auf den Weg. Ich war jetzt nicht mehr mutlos, ich fürchtete mich nicht mehr vor einem schäbigen Rock und fühlte keine Sehnsucht nach feurigen Eisenschimmeln. Ich sah das Unglück, das uns betroffen, heute in einem ganz andern Licht als gestern. Alles, was ich tun konnte, war, daß ich meiner Tante zeigte, daß sie ihre Güte nicht an einen gefühllosen, undankbaren Menschen weggeworfen hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als an die harte Schule meiner jungen Jahre zu denken, mit entschloßnem und standhaftem Herzen ans Werk zu gehen, die Axt zur Hand zu nehmen, um mir selbst durch den Wald von Hindernissen einen Weg zu bahnen – zu Dora. Und ich ging raschen Schrittes, als könnte ich es schon dadurch verrichten.

Als ich auf der vertrauten Straße nach Highgate dahineilte, diesmal zu einem ganz andern Zweck als damals, schien es mir, als ob sich mein Leben ganz und gar verändert hätte. Aber das entmutigte mich nicht. Mit dem neuen Leben kam neuer Zweck und neue Anstrengung. Groß war die Arbeit, unschätzbar der Preis. Dora war der Preis und Dora mußte gewonnen werden.

Ich geriet derartig in Begeisterung, daß es mir ordentlich leid tat, keinen schäbigen Rock anzuhaben. Ich sehnte mich danach, mit der Axt auf die Schwierigkeiten loszuhauen; am liebsten hätte ich einen alten Mann mit einer Drahtbrille, der am Weg Steine klopfte, um seinen Hammer gebeten, damit ich für Dora einen Pfad aus Granit bahnen könnte. Meine Aufregung versetzte mich so in Hitze und außer Atem, daß ich mir vorkam, als hätte ich wer weiß wieviel schon vollbracht. In dieser Verfassung trat ich in ein Häuschen, das zu vermieten stand. Ich besichtigte es genau, denn ich fühlte die Notwendigkeit, praktisch zu werden. Es paßte für mich und Dora ausgezeichnet. Vorn ein kleiner Garten, in dem Jip herumlaufen und durch das Gitter die Leute anbellen konnte, und oben ein schönes Zimmer für meine Tante. Ich verließ das Haus noch erhitzter als vorher und stürmte nach Highgate in einem Tempo, daß ich eine volle Stunde zu früh ankam und mich erst lange abkühlen mußte, ehe ich fähig war, vor anständigen Leuten zu erscheinen.

Meine erste Sorge war, das Haus des Doktors ausfindig zu machen. Es lag nicht in dem Teil von Highgate, wo Mrs. Steerforth wohnte, sondern auf der andern Seite des kleinen Städtchens. Sodann ging ich, von einem unüberwindlichen Drange getrieben, in ein Gäßchen neben Mrs. Steerforths Haus zurück und blickte über die Gartenmauer. Die Laden vor den Fenstern seines Zimmers waren geschlossen. Die Tür des Gewächshauses stand offen, und Rosa Dartle ging barhaupt und mit raschem, ungestümem Schritt auf einem Kiesweg im Garten auf und ab. Sie kam mir vor wie ein wildes Tier, das sich vor den Käfigstäben an seiner Kette hin und her schleppt und sich das Herz zergrämt.

Ich wünschte, ich wäre lieber gar nicht hergekommen, stahl mich wieder fort und schlenderte bis zehn Uhr herum.

Als ich das Häuschen des Doktors erreichte – ein hübsches, altes Bauwerk, an das ziemlich viel Geld gewandt worden sein mußte, um es auszubessern und teilweise umzubauen –, sah ich meinen ehemaligen Lehrer im Garten an der Seite des Hauses auf und ab gehen, genauso mit Gamaschen und Brille wie in meiner Schulzeit. Auch viele hohe Bäume standen in seiner Nähe wie damals, und wieder hüpften zwei oder drei Krähen auf dem Rasen herum und sahen ihn an, als ob sie mit ihren Schwestern in Canterbury in Briefwechsel stünden und ihn deshalb so genau beobachteten.

Ich wußte, wie nutzlos es war, aus der Entfernung seine Aufmerksamkeit erregen zu wollen, und entschloß mich, die Türe zu öffnen und hinter ihm dreinzugehen, damit wir einander begegneten, wenn er sich umdrehte. Als er auf mich zukam, sah er mich eine Weile gedankenvoll an, offenbar im Geiste ganz woanders –, dann plötzlich erhellte sich sein wohlwollendes Gesicht, strahlte vor Freude, und er ergriff meine beiden Hände.

»Aber, mein lieber Copperfield«, sagte er, »Sie sind ja zum Manne gereift. Wie geht es Ihnen denn? Ich bin außer mir vor Freude, Sie wiederzusehen. Mein lieber Copperfield, wie Sie sich herausgemacht haben! Sie sind ja ganz – ja – weiß Gott!«

Ich sprach die Hoffnung aus, ihn wohl zu finden, ebenso Mrs. Strong.

»O ja, ja. Ännie ist wohlauf und wird entzückt sein, Sie wiederzusehen. Sie waren immer ihr Liebling. Sie äußerte es schon gestern abend, als Ihr Brief kam. Und – ja – natürlich – Sie erinnern sich doch noch Mr. Jack Maldons, Copperfield?«

»Vollkommen, Sir.«

»Natürlich, natürlich! Auch ihm geht es gut.«

»Ist er wieder heimgekehrt, Sir?« fragte ich.

»Aus Indien? Ja. Mr. Jack Maldon konnte das Klima nicht vertragen. Mrs. Markleham – haben Sie nicht Mrs. Markleham vergessen?«

Den »General« vergessen! In der kurzen Zeit!

»Die arme Mrs. Markleham«, fuhr der Doktor wieder fort, »war ganz außer sich seinetwegen; so ließen wir ihn wieder zurückkehren und kauften ihm eine patente kleine Stellung, wo es ihm viel besser gefällt.«

Ich kannte Mr. Jack Maldon zu gut, um nicht zu vermuten, daß es eine Stelle war, die nicht viel Arbeit erforderte, aber desto mehr Gehalt trug. Der Doktor, die Hand auf meine Schulter gelegt und sein freundliches Gesicht mir aufmunternd zugewendet, fuhr fort, auf und ab zu gehen, und sagte:

»Um auf Ihren Vorschlag zurückzukommen, lieber Copperfield! Es ist mir gewiß höchst angenehm, aber können Sie Ihre Zeit nicht besser anwenden? Sie haben sich damals bei uns sehr ausgezeichnet. Sie eignen sich zu allem möglichen. Sie haben einen Grund gelegt, auf dem sich jedes Gebäude erheben kann, und ist es nicht jammerschade, wenn Sie die schönste Zeit Ihres Lebens einer so armseligen Beschäftigung, wie Sie sie bei mir finden, widmen?«

Ich wurde wieder sehr enthusiastisch und verlieh meiner Bitte durch poetischen Schwung einen großen Nachdruck und wies darauf hin, daß ich noch einen andern Beruf habe.

»Das ist wohl richtig«, entgegnete der Doktor, »jedenfalls macht es einen Unterschied, daß Sie schon ein bestimmtes Studium vor sich haben, aber mein lieber, junger Freund, was sind siebzig Pfund jährlich!«

»Sie verdoppeln unser Einkommen, Dr. Strong«, sagte ich.

»O Gott! Wie schrecklich! Ich wollte sagen, nicht daß ich meine, mich streng auf siebzig Pfund jährlich zu beschränken, ich habe von vorneherein daran gedacht, dem jungen Mann, den ich auf diese Weise beschäftige, noch außerdem ein Präsent zu machen. Selbstverständlich denke ich auch an eine jährliche Extravergütung.«

»Mein verehrter Lehrer«, sagte ich – diesmal ohne poetischen Schwung »ich schulde Ihnen bereits mehr, als ich jemals in Worte bringen kann –«

»Nein, nein«, unterbrach mich der Doktor, »ich bitte Sie!«

»Wenn Sie mich in meiner freien Zeit – das ist morgens und abends beschäftigen können und glauben, daß das wirklich siebzig Pfund jährlich wert ist, so erweisen Sie mir einen so großen Dienst, daß ich es gar nicht ausdrücken kann.«

»O Gott. Daß man mit so wenig Geld so viel ausrichten kann! Gott! Gott! Aber sowie Sie irgend etwas Besseres finden, müssen Sie es nehmen. Auf Ihr Wort jetzt!« Das war so seine alte Art von jeher gewesen, wenn er sich im Ernst an das Ehrgefühl von uns Schulknaben gewendet hatte.

»Auf mein Wort, Sir«, antwortete ich, unserer alten Schulgewohnheit gemäß.

»So sei es.« Er klopfte mir auf die Schulter und ging eingehängt mit mir auf und ab.

»Und ich werde noch zwanzigmal glücklicher sein, Sir«, brachte ich eine unschuldige Schmeichelei an, »wenn Sie mich mit dem Wörterbuch beschäftigen.«

Der Doktor blieb stehen, klopfte mir wieder lächelnd auf die Schulter und rief mit höchst ergötzlich anzusehendem Triumph, als ob ich bis an die äußersten Grenzen menschlichen Scharfsinns vorgedrungen wäre:

»Mein lieber junger Freund. Sie haben es erraten! Es handelt sich um das Wörterbuch.«

Wie konnte es auch anders sein. Seine Taschen waren damit so angefüllt wie sein Kopf. Er sagte mir, daß er wunderbare Fortschritte mit seiner Arbeit gemacht habe, seitdem er sich vom Unterricht zurückgezogen, und daß ihm nichts besser passen könnte als mein Vorschlag, früh und abends ein paar Stunden zu arbeiten, da er den Tag über nachdenken müsse. Seine Papiere seien ein wenig in Verwirrung geraten, weil Mr. Jack Maldon sich ihm als Sekretär angeboten habe und an diese Art Beschäftigung nicht sehr gewöhnt sei; aber wir würden bald alles in Ordnung haben und dann rasche Fortschritte machen.

Später fand ich, daß Mr. Jack Maldons frühere Bemühungen die Sache viel schwieriger gestalteten, als zu erwarten war, denn er hatte sich nicht darauf beschränkt, unzählige Fehler zu machen, sondern hatte auch auf das Manuskript des Doktors so viele Soldaten und Damenköpfe gezeichnet, daß man oft gar nichts mehr lesen konnte.

Der Doktor war sehr erfreut über die Aussicht, bald ans Werk gehen zu können, und wir setzten den Beginn auf nächsten Morgen sieben Uhr fest. Wir wollten jeden Morgen und Abend je zwei bis drei Stunden arbeiten mit Ausnahme der Samstage, wo ich mich ausruhen sollte. Dasselbe war natürlich mit den Sonntagen der Fall; die Bedingungen fielen also sehr angenehm für mich aus.

Nachdem unsere Pläne so zu unserer gegenseitigen Zufriedenheit geordnet waren, führte mich der Doktor ins Haus, um mich Mrs. Strong vorzustellen. Wir fanden sie in ihres Gatten neuem Studierzimmer beschäftigt, seine Bücher abzustauben, – eine Freiheit, die nur sie sich mit diesen Heiligtümern erlauben durfte.

Man hatte meinetwegen das Frühstück verschoben, und wir setzten uns zusammen zu Tisch. Wir saßen noch nicht lange, als ich in Mrs. Strongs Gesicht, noch ehe ich einen Laut hörte, Anzeichen, daß irgend jemand ankäme, wahrnahm. Ein Herr kam an das Tor geritten, führte das Pferd in den kleinen Hof, als ob er hier zu Hause sei, band es an einen Ring an der Mauer an und trat, die Reitpeitsche in der Hand, in das Frühstückszimmer. Es war Mr. Jack Maldon. Er schien mir in Indien durchaus nicht gewonnen zu haben. Allerdings war ich heute sehr fanatisch, besonders jungen Leuten gegenüber, die keine Bäume im Walde der Schwierigkeiten fällten, und mein Urteil muß daher mit Vorsicht aufgenommen werden.

»Mr. Jack«, stellte uns der Doktor vor, »Copperfield.« Mr. Jack schüttelte mir die Hand, nicht besonders herzlich, wie mir vorkam, und mit einer gelangweilten Gönnermiene, die mich insgeheim sehr wurmte.

»Haben Sie schon gefrühstückt, Mr. Jack?«

»Ich frühstücke fast nie, Sir«, erwiderte er, den Kopf in den Großvaterstuhl zurückgelehnt. »Es langweilt mich.«

»Gibts etwas Neues?« fragte der Doktor.

»Gar nichts, Sir. Es verlautet, die Leute oben im Norden seien hungrig und unzufrieden. Aber irgendwo sind sie immer hungrig und unzufrieden.«

Der Doktor machte ein ernstes Gesicht und sagte, als wollte er von etwas anderm sprechen: »Und so gibt es also gar nichts Neues? Keine Nachricht, sagt man, ist eine gute Nachricht.«

»In den Zeitungen steht etwas Langes und Breites über einen Mord. Aber irgendwo wird ja immer gemordet; ich habe die Geschichte nicht gelesen.«

Eine affektierte Gleichgültigkeit allen Begebnissen und Leidenschaften der Menschheit gegenüber galt damals noch nicht wie heute als besonders vornehm. Ich habe sie später so zur Mode werden sehen, daß ich elegante Herren und Damen gekannt habe, die ebensogut als Raupen hätten geboren sein können. Vielleicht fiel es mir damals mehr auf, weil es mir etwas Neues war, aber keinesfalls erhöhte es meine Meinung von Mr. Jack Maldon, noch auch mein Vertrauen zu ihm.

»Ich wollte fragen, ob Ännie heute abend in die Oper gehen will?« fragte Mr. Maldon, zu seiner Kusine gewendet. »Es ist die letzte gute Vorstellung in der Saison, und eine Sängerin tritt heute auf, die sie sich wirklich anhören sollte. Sie ist ganz ausgezeichnet. Außerdem entzückend scheußlich«, schloß er, wieder in Gleichgültigkeit versinkend.

Der Doktor, immer voll Freude, wenn es galt, seiner jungen Frau ein Vergnügen zu bereiten, sagte:

»Du mußt gehen, Ännie, du mußt gehen.«

»Ich möchte lieber zu Hause bleiben«, entgegnete Mrs. Strong, »ich möchte wirklich lieber zu Hause bleiben.«

Ohne ihren Vetter anzusehen, wendete sie sich an mich, erkundigte sich nach Agnes und fragte, ob sie vielleicht heute auch käme, und legte dabei eine so deutliche Unruhe an den Tag, daß ich mich wunderte, daß es dem Doktor nicht auffiel.

Aber er sah nichts. Er sagte ihr scherzend, sie sei doch jung und müsse sich unterhalten und zerstreuen und dürfe sich von so einem alten langweiligen Menschen wie er nicht anöden lassen. Außerdem möchte er sie später gerne die Lieder der neuen Sängerin singen hören, und wie könnte sie das tun, wenn sie nicht hinginge. So ließ sich der Doktor nicht abbringen, und Mr. Jack Maldon sollte zum Mittagessen wiederkommen.

Ich war am nächsten Morgen sehr gespannt, ob Mrs. Strong wirklich in der Oper gewesen. Sie war nicht hingegangen, sondern hatte nach London geschickt, um ihrem Vetter abzusagen, und eine Art Nachmittagbesuch bei Agnes gemacht.

Sie hatte ihren Gatten überredet mitzugehen. Dann waren sie zu Fuß nach Hause zurückgekehrt, da der Abend, wie der Doktor mir sagte, herrlich gewesen sei. Ich hätte gerne gewußt, ob sie wohl ins Theater gegangen wäre, wenn Agnes nicht in London geweilt hätte, denn es interessierte mich, ob Agnes auch auf sie ihren guten Einfluß ausübte.

Sie sah nicht sehr glücklich aus, wie mir vorkam, aber immerhin zufrieden; oder verstellte sie sich vielleicht? Sie saß die ganze Zeit, während wir arbeiteten, am Fenster und bereitete unser Frühstück, das wir bissenweise während der Arbeit verzehrten. Als ich um neun Uhr fortging, kniete sie vor dem Doktor nieder und zog ihm die Schuhe und Gamaschen an. Ein zarter Schatten von ein paar grünen Zweigen, die vom Garten hereinhingen, fiel auf ihr Gesicht, und ich mußte den ganzen Heimweg an jenen Abend denken, wo sie zu ihrem Gatten aufgeblickt, während er ihr vorlas.

Ich hatte jetzt ziemlich viel zu tun, stand um fünf Uhr auf und kam erst um neun oder zehn Uhr abends nach Hause. Aber es gewährte mir eine außerordentliche Befriedigung, so angestrengt beschäftigt zu sein. Ich ging immer schnellen Schrittes und sagte mir voll Begeisterung, je mehr ich mich abmühe, desto mehr tue ich, mir Dora zu verdienen.

Ich hatte ihr noch nichts von meinen veränderten Lebensverhältnissen sagen lassen können, weil sie zu Miss Mills erst in einigen Tagen kommen sollte und ich eine Mitteilung bis dahin aufgeschoben hatte. In meinen Briefen (unsern ganzen Briefverkehr besorgte Miss Mills) hatte ich bloß angedeutet, daß ich ihr viel erzählen müßte. Unterdessen setzte ich mich auf halbe Ration Bärenpomade, gab wohlriechende Seife und Lavendelwasser auf und verkaufte mit großen Opfern drei Westen als zu luxuriös für meine ernste Lebensbahn.

Damit noch nicht zufrieden und von Ungeduld erfüllt, noch mehr zu tun, suchte ich Traddles auf, der jetzt im Dachgiebel eines Hauses in Holborn, Castlestreet, wohnte. Ich nahm Mr. Dick mit, der mich schon zweimal nach Highgate begleitet und seine Bekanntschaft mit dem Doktor wieder erneuert hatte.

Ich nahm ihn mit, weil er, das Mißgeschick meiner Tante lebhaft mitfühlend und von dem aufrichtigen Glauben durchdrungen, daß kein Galeerensträfling angestrengter arbeiten könnte als ich, anfing, Laune und Appetit zu verlieren aus Kummer, nichts Nützliches zu tun zu haben. In dieser Verfassung war er unfähiger als je, die Denkschrift zu Ende zu bringende angestrengter er daran arbeitete, desto öfter kam der unglückselige König Karl I. hinein. Von ernster Besorgnis erfüllt, daß seine Krankheit sich verschlimmern könnte, wenn wir ihn nicht durch eine unschuldige Täuschung glauben machten, daß er für uns von Nutzen sein könnte, hatte ich mich entschlossen Traddles zu fragen, ob er nicht Hilfe wüßte. Ehe ich hinging, setzte ich ihm das Geschehene ausführlich auseinander, und Traddles schrieb mir einen prachtvollen Brief zurück, in dem er mich seiner vollsten Teilnahme und unwandelbaren Freundschaft versicherte.

Wir fanden ihn, erquickt durch den immerwährenden Anblick des Blumentopfs und des kleinen runden Tisches, in einer Ecke des Zimmers eifrig am Schreibtisch beschäftigt. Er empfing uns mit offenen Armen, und seine Freundschaft mit Mr. Dick war im Nu geschlossen. Mr. Dick gab seiner festen Überzeugung Ausdruck, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, und wir beide sagten dazu: »Sehr wahrscheinlich!«

Das erste, worüber ich Traddles zu Rate zog, war folgendes: Mir war bekannt, daß viele Leute, die sich später auf den verschiedensten Gebieten ausgezeichnet, ihre Laufbahn mit Berichterstatten über die Parlamentsdebatten begonnen hatten. Ich wußte, daß Traddles die Zeitungskarriere als eine seiner Hoffnungen im Auge hatte, und so bat ich ihn um Rat. Er sagte mir, daß die rein mechanische Kunst der Kammerstenographie fast ebenso schwer sei wie das Erlernen von sechs Sprachen und daß man dazu bei großer Ausdauer immerhin ein paar Jahre brauche. Er meinte natürlich, daß das genüge, um mich von meinem Entschluß abzubringen, aber ich sah nichts als die Möglichkeit, hier einige Bäume im Walde der Hindernisse niederzuhauen, und beschloß sofort, mir meinen Weg zu Dora durch dieses Dickicht zu bahnen.

»Ich bin dir sehr verpflichtet, lieber Traddles,« sagte ich. »Ich werde morgen anfangen.«

Traddles machte ein erstauntes Gesicht, denn er wußte noch nichts von meiner begeisterten Stimmung.

»Ich werde mir ein gutes Lehrbuch der Stenographie kaufen und mich damit in den Commons beschäftigen, wo ich wenig genug zu tun habe; ich werde zu meiner Übung die Reden in unserm Gerichtshof mitschreiben, lieber Freund, und werde es schon lernen.«

»Mein Gott«, sagte Traddles und riß die Augen auf, »ich wußte gar nicht, daß du so ein entschlossener Charakter bist, Copperfield.«

Wie hätte er es auch wissen können, war es mir doch selbst neu genug. Ich ging jedoch darüber hinweg und brachte Mr. Dick aufs Tapet.

»Ach, wenn ich irgend etwas tun könnte, Mr. Traddles«, fiel Mr. Dick betrübt ein, – »wenn ich die Pauke schlagen könnte oder irgendein Instrument blasen!«

Der Ärmste! Ich zweifle nicht, daß er eine solche Beschäftigung jeder andern vorgezogen haben würde.

Traddles, der um nichts in der Welt die Miene verzogen hätte, erwiderte ruhig:

»Sie schreiben doch eine sehr hübsche Handschrift, Sir. Sagtest du es mir nicht, Copperfield?«

»Eine wunderschöne«, bestätigte ich. Und das war auch der Fall; er schrieb ungewöhnlich sauber und hübsch.

»Könnten Sie nicht vielleicht Akten kopieren, wenn ich Ihnen welche verschaffte?«

Mr. Dick sah mich fragend an. »Was glaubst du, Trotwood?«

Ich schüttelte den Kopf. Mr. Dick schüttelte auch den Kopf und seufzte. »Sag ihm das von der Denkschrift, Trotwood«, bat er mich.

Ich setzte Traddles auseinander, daß es sehr schwer sei, König Karl I. aus Mr. Dicks Manuskripten fernzuhalten, und Mr. Dick hörte zu, sah Traddles ehrerbietig und ernsthaft dabei an und lutschte an seinem Daumen.

»Aber die Akten, die ich meine, sind ja schon ganz fertig und brauchen bloß abgeschrieben zu werden«, sagte Traddles nach einer Weile Nachdenkens. »Mr. Dick hat mit dem Inhalt nichts zu schaffen. Würde das nicht einen Unterschied machen, Copperfield? Sollte man es nicht auf alle Fälle versuchen?«

Das flößte uns neue Hoffnung ein; Traddles und ich streckten die Köpfe zusammen, während uns Mr. Dick von seinem Stuhle aus besorgt beobachtete, und heckten einen Plan aus, der sich schon am nächsten Tag als unerwartet erfolgreich erwies.

Auf einem Tisch am Fenster in der Buckingham Straße legten wir ihm die von Traddles verschaffte Arbeit, darin bestehend, daß er eine Anzahl Kopien eines gerichtlichen Dokuments über ein Wegerecht anzufertigen hatte, – vor, und auf den Tisch daneben legten wir das letzte unvollendete Original der großen Denkschrift. Wir belehrten Mr. Dick, daß er genau abzuschreiben habe, was vor ihm lag, ohne im geringsten vom Inhalt der Akten abzuweichen. Dagegen müsse er sich schleunigst zur Denkschrift verfügen, wenn er sich gedrungen fühlen sollte, König Karl I. auch nur im mindesten zu erwähnen. Wir ermahnten ihn, darin unerbittlich zu sein, und ließen meine Tante bei ihm sitzen, damit sie ihn bewachte.

Sie erzählte uns später, daß er sich zuerst wie jemand, der mehrere Instrumente zugleich spielen müßte, benommen und seine Aufmerksamkeit beständig zwischen den beiden Tischen geteilt habe, bald aber dabei sehr müde geworden sei und seine Abschrift gehörig und in ordentlicher geschäftsmäßiger Weise vorgenommen, die Denkschrift hingegen auf eine passendere Zeit verschoben habe. Mit einem Wort, er hatte bereits am Samstag abend der nächsten Woche, obgleich wir Sorge trugen, daß er sich nicht überarbeitete, zehn Schilling neun Pence verdient.

Mein Leben lang werde ich nicht vergessen, wie er in allen Läden der Nachbarschaft herumlief, um seinen Schatz in Sixpencestücke umzuwechseln, und sie meiner Tante auf einem Teller in der Form eines Herzens zusammengelegt mit Tränen der Freude und des Stolzes in den Augen brachte. Er stand von dem Augenblicke an, wo er nützlich beschäftigt war, wie unter dem Einfluß eines Zaubers. Und wenn es an jenem Samstagabend einen glücklichen Menschen auf der Welt gab, so war es dieses dankbare Geschöpf, das meine Tante für die wunderbarste Frau der Schöpfung und mich für den wunderbarsten jungen Mann hielt.

»Jetzt ist es mit der Hungersnot vorbei, Trotwood«, sagte Mr. Dick, als er mir in der Ecke des Zimmers die Hand schüttelte. »Ich werde für sie sorgen, Sir!« und er fuhr mit den zehn Fingern in der Luft herum, als ob der Raum voll Goldstücke hinge.

Ich weiß kaum, wer sich mehr freute, Traddles oder ich. »Ich habe wahrhaftig Mr. Micawber ganz darüber vergessen«, sagte Traddles plötzlich, zog einen Brief aus der Tasche und gab ihn mir.

Der Brief – Mr. Micawber ließ nie die geringste Gelegenheit zu schreiben vorübergehen – war an mich adressiert:

»Durch gütige Vermittlung von T. Traddles, Hochgeboren, vom innern Juristenkollegium.« Er lautete:

Mein lieber Copperfield!

Sie sind vielleicht nicht ganz unvorbereitet auf die Nachricht, daß sich etwas gefunden hat. Ich erwähnte wohl schon bei einer früheren Gelegenheit, daß ich ein solches Ereignis erwartete. Ich stehe im Begriffe, mich in einer Provinzstadt unserer grünen Insel, die mit Recht als eine glückliche Mischung des ackerbautreibenden und des geistlichen Standes bezeichnet werden kann, in unmittelbarer Beziehung zu einem der gelehrten Berufsfächer niederzulassen, Mrs. Micawber und unsere Sprößlinge werden mich begleiten. In einer spätern Epoche wird unsere Asche wahrscheinlich vermischt gefunden werden mit der heiligen Erde des Friedhofs in der Nähe des ehrwürdigen Doms, durch den die von mir erwähnte Stadt einen Ruf erlangt hat, der, wie ich wohl sagen darf, von China bis Peru reicht.

Indem ich von dem modernen Babylon scheide, wo wir so manchen Schicksalswechsel – wie ich hoffe, ehrenhaft – ertragen haben, können Mrs. Micawber und ich uns nicht verhehlen, daß wir jetzt für Jahre und vielleicht für immer von einem Wesen scheiden, das durch starke Bande an den Altar unseres häuslichen Lebens gefesselt ist. Wenn Sie am Vorabend eines solchen Abschieds unseren gemeinsamen Freund, Mr. Thomas Traddles, in unsere gegenwärtige Heimstätte begleiten und dort die einer solchen Gelegenheit angemessenen Wünsche austauschen wollen, so werden Sie unendlich verpflichten einen, der sich immer nennen wird

Ihr
    Wilkins Micawber

Ich war froh, daß Mr. Micawber nicht mehr von Asche und Staub reden mußte und endlich wirklich etwas gefunden hatte. Da ich von Traddles erfuhr, daß die Einladung für den heutigen Abend galt, nahm ich sie an, und wir gingen zusammen nach der Wohnung, die Mr. Micawber unter dem Namen Mr. Mortimer innehatte und die am untern Ende von Grays-Inn-Road lag.

Die Räume dieser Wohnung waren so beschränkt, daß die Zwillinge – jetzt acht oder neun Jahre alt – in einem Klappbett im Familienzimmer schliefen, wo Mr. Micawber in einem Waschtischkruge ein Gebräu des angenehmen Getränks, wegen dessen er sich eines so großen Rufes erfreute, vorbereitet hatte. Es machte mir ein besonderes Vergnügen, bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft Master Micawbers, der jetzt zu einem vielversprechenden Knaben von zwölf oder dreizehn Jahren herangewachsen und mit jener Ruhelosigkeit der Glieder, die bei Jünglingen seines Alters kein allzu seltenes Phänomen ist, behaftet war, zu erneuern. Ich sah auch seine Schwester wieder, Miss Micawber, in der, wie Mr. Micawber uns sagte, seine Gattin, dem Phönix gleich, wiederauflebte.

»Mein lieber Copperfield«, begann Mr. Micawber, »Sie und Mr. Traddles finden uns im Begriffe, unsere Pilgerfahrt anzutreten, und werden gewiß die kleinen Unannehmlichkeiten, die von einem solchen Zustand unzertrennlich sind, entschuldigen.«

Ich sah mich um, während ich in entsprechender Weise antwortete, und bemerkte, daß die Familieneffekten, in keiner Hinsicht verwirrend umfangreich, bereits gepackt zur Reise bereit standen.

Ich wünschte Mrs. Micawber zur bevorstehenden Veränderung viel Glück.

»Mein lieber Mr. Copperfield«, sagte sie. »Von Ihrer freundlichen Teilnahme an allen unseren Schicksalen bin ich fest überzeugt. Meine Familie mag es meinetwegen als Verbannung betrachten, aber ich bin Gattin und Mutter und werde Mr. Micawber nie verlassen.«

Traddles, auf dem Mrs. Micawbers Auge ruhte, stimmte gefühlvoll bei.

»Das wenigstens«, sagte Mrs. Micawber, »ist meine Ansicht von der Pflicht, die ich übernahm, als ich die unwiderruflichen Worte wiederholte: ›Ich Emma nehme dich Wilkins‹. Ich las die Trauungsformel gestern abend bei Kerzenschimmer durch und bin zu dem Schlusse gekommen, daß ich Mr. Micawber nie verlassen kann, und«, setzte sie hinzu, »wenn ich mich auch in meiner Auffassung der kirchlichen Zeremonie irren kann, so werde ich ihn trotzdem nie verlassen.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber etwas ungeduldig, »es hat doch niemand von dir etwas anderes erwartet.«

»Ich bin mir bewußt, mein lieber Mr. Copperfield«, fuhr Mrs. Micawber fort, »daß mich jetzt das Schicksal mitten unter Fremde versetzt, und weiß auch, daß die verschiedenen Mitglieder meiner Familie, denen Mr. Micawber in der höflichsten Weise von der Welt die Angelegenheit anzeigte, nicht die mindeste Notiz von seiner Mitteilung genommen haben. Es mag Aberglaube sein, aber es scheint mir Mr. Micawbers Fatum zu sein, daß er niemals Antworten auf den größten Teil der Mitteilungen, die er schreibt, erhält. Aus dem Stillschweigen meiner Familie bin ich berechtigt zu mutmaßen, daß sie gegen meinen Entschluß Einwendungen erhebt, aber ich würde mich von dem Pfade der Pflicht selbst nicht von Papa und Mama, wenn sie noch am Leben wären, abbringen lassen.«

Ich sprach mich dahin aus, daß auch ich das für die einzige richtige Art hielte.

»Es ist vielleicht ein Opfer, sich in einer Episkopalstadt einzukerkern«, sagte Mrs. Micawber, »aber wenn es für mich ein Opfer bedeutet, ein wieviel größeres ist es, Mr. Copperfield, für einen Mann von meines Gatten Fähigkeiten!«

»O, Sie ziehen in eine Episkopalstadt?« fragte ich.

Mr. Micawber, der uns mittlerweile aus dem Waschtischkrug eingeschenkt hatte, erwiderte:

»Nach Canterbury. Die Sache ist die, lieber Copperfield. Ich habe mich kontraktlich gebunden und mit Handschlag verpflichtet, unserm gemeinsamen Freunde Heep in der Eigenschaft eines Privatsekretärs beizustehen und zu dienen.«

Ich starrte Mr. Micawber, dem meine Überraschung große Freude machte, erstaunt an.

»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen«, fuhr er mit wichtiger Miene fort, »daß Mrs. Micawbers Geschäftskenntnis und kluge Ratschläge in hohem Maße zu diesem Ausgang beigetragen haben. Der Fehdehandschuh, dessen Mrs. Micawber bereits bei einer früheren Gelegenheit Erwähnung tat, wurde in Form einer Annonce hingeworfen. Mein Freund Heep hob ihn auf, und so kam eine Zusammenkunft zustande. Von meinem Freunde Heep, der ein Mann von bemerkenswertem Scharfblick ist, möchte ich nur mit der allergrößten Hochachtung sprechen. Mein Freund Heep hat die Remuneration, die ich im voraus verlangte, nicht allzu hoch angesetzt, aber er machte von dem Werte meiner Dienste abhängig, inwieweit er mich vom Druck meiner materiellen Schwierigkeiten erlösen wolle, und auf diesen Wert meiner Dienstleistungen setze ich nun meine Hoffnung. Mein bißchen Geschicklichkeit und Intelligenz«, fügte er mit prahlerischer Bescheidenheit hinzu, »werde ich meinem Freunde Heep zur Verfügung stellen. Ich habe bereits einigen Einblick in die Jurisprudenz gewonnen – als Beklagter im Zivilprozeß – und werde mich ohne Verzug in die Kommentare des hervorragendsten und bemerkenswertesten unserer englischen Juristen vertiefen. Ich brauche wohl nicht zu bemerken, daß ich den Richter Blackstone meine.«

Ich saß die ganze Zeit über da, bestürzt über Mr. Micawbers Mitteilungen und außerstande, mir sie zu erklären, bis Mrs. Micawber den Faden des Gesprächs aufnahm.

»Auf eines vorzüglich möchte ich Mr. Micawbers Aufmerksamkeit lenken«, sagte sie. »Er darf sich während seiner Beschäftigung mit diesen untergeordneten Zweigen der Jurisprudenz in keiner Hinsicht der Möglichkeit berauben, später den Gipfel des Baumes erklimmen zu können. Ich bin fest überzeugt, daß, wenn Mr. Micawber sich mit ganzer Seele einem Beruf widmet, der seinen reichen Fähigkeiten und seiner fließenden Rednergabe so angemessen erscheint, er sich darin auszeichnen muß. Ich denke an die Stellung eines Richters oder eines Kanzlers. Schließt sich ein Individuum, ich frage Sie, Mr. Traddles, durch die Annahme einer Stelle, wie sie Mr. Micawber in Kürze bekleiden wird, dadurch von vorneherein von der Möglichkeit aus, zu einem der soeben genannten Posten befördert zu werden?«

»Meine Liebe«, bemerkte Mr. Micawber, nicht ohne ebenfalls einen fragenden Blick auf Traddles zu werfen, »zur Erörterung solcher Punkte haben wir wahrlich noch Zeit genug.«

»Micawber«, entgegnete sie, »nein! Du hast von jeher den Fehler im Leben begangen, daß du nicht weit genug in die Zukunft blicktest. Deiner Familie, wenn nicht dir selbst, bist du es schuldig, auch die entlegensten Punkte am Rande des Horizontes, bis zu dem dich deine Fähigkeiten führen können, ins Auge zu fassen.«

Mr. Micawber hustete und trank seinen Punsch mit einer Miene außerordentlicher Befriedigung aus, – blickte aber dabei immer noch fragend auf Traddles.

»Die Sache liegt einfach so, Mrs. Micawber«, erklärte Traddles, bemüht, ihr so schonend wie möglich die nötige Aufklärung beizubringen, »ich meine die wirkliche prosaische Tatsache, Sie verstehen –«

»Ganz recht«, sagte Mrs. Micawber, »mein lieber Mr. Traddles. Auch mein Wunsch ist es, hinsichtlich eines so hochwichtigen Gegenstandes so prosaisch und buchstäblich wie möglich zu Rate zu gehen.«

»Die wirkliche prosaische Tatsache liegt so«, fuhr Traddles fort, »daß dieser Zweig der juristischen Laufbahn, selbst wenn Mr. Micawber ein wirklicher Anwalt wäre –«

»Ganz recht«, unterbrach Mrs. Micawber.

»– damit gar nichts zu tun hat. Nur ein Rechtsgelehrter ist zu diesen Ämtern wählbar. Und Mr. Micawber kann nicht eher Rechtsgelehrter werden, ehe er nicht fünf Jahre Jus studiert hat.«

»Verstehe ich recht?« fragte Mrs. Micawber mit ihrer leutseligsten Geschäftsmiene, »verstehe ich Sie recht, lieber Mr. Traddles, daß nach Ablauf dieser Zeit Mr. Micawber als Richter oder Kanzler wählbar wäre?«

»Er wäre wählbar«, sagte Mr. Traddles und legte großen Nachdruck auf das letzte Wort.

»Ich danke Ihnen! Das genügt vollkommen. Wenn das der Fall ist und Mr. Micawber durch den Antritt seines neuen Amtes kein Recht aufgibt, so bin ich beruhigt. Ich spreche natürlich als Frau, aber ich bin von jeher der Meinung gewesen, daß Mr. Micawber das besitzt, was mein Papa ein juristisches Talent nannte. Und ich hoffe, Mr. Micawber betritt jetzt eine Laufbahn, wo sich diese Gabe entwickeln und ihm eine einflußreiche Stellung sichern wird.«

Mr. Micawber sah sich offenbar bereits am Ziele der Richterkarriere. Er strich sich mit der Hand wohlgefällig über den kahlen Kopf und sagte mit deutlich zur Schau getragener Resignation:

»Meine Liebe, wir wollen den Ratschlüssen des Schicksals nicht vorgreifen. Wenn es mir bestimmt ist, eine Richter-Perücke zu tragen, so bin ich wenigstens äußerlich auf diese Auszeichnung vorbereitet. Ich beklage den Verlust meines Haares nicht; wer weiß, ob ich nicht zu einem besonderen Zweck dessen beraubt wurde. – Es ist nebenbei bemerkt meine Absicht, lieber Copperfield, meinen Sohn für die Kirche zu erziehen, und ich will nicht leugnen, daß es mich seinetwegen glücklich machen würde, wenn ich zu bedeutender Stellung gelangte.«

»Für die Kirche?« fragte ich zerstreut, da ich immerwährend an Uriah Heep denken mußte.

»Ja«, sagte Mr. Micawber, »er hat eine sehr bemerkenswerte Kopfstimme und wird seine Laufbahn als Chorknabe beginnen. Unser Aufenthalt in Canterbury und unsere Konnexionen dortselbst werden ihn unzweifelhaft instand setzen, die erste sich bietende Stelle im Domchor zu erhalten.«

Als ich Master Micawber ansah und er uns, ehe er schlafen ging, das Lied vorsang: »Es klopft der Specht«, da schien es wirklich, als ob seine Stimme zwischen seinen Augenbrauen stäke und von dort ausginge. Er erntete viel Beifall, und dann wendete sich das Gespräch auf allgemeinere Themen. Meine veränderten Verhältnisse erfüllten mich zu sehr, als daß ich sie hätte für mich behalten können. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie außerordentlich entzückt Mr. und Mrs. Micawber waren, als sie von den Verlegenheiten meiner Tante erfuhren, und wie sehr es zur Vermehrung ihrer freundschaftlichen Stimmung beitrug.

Als es mit dem Punsch ziemlich auf die Neige ging, erinnerte ich Traddles, daß wir uns nicht trennen dürften, ohne unsern Freunden Gesundheit, Glück und Erfolg auf ihrer neuen Laufbahn zu wünschen. Ich bat Mr. Micawber unsere Gläser zu füllen und brachte den Toast in angemessener Form aus, worauf ich ihm über den Tisch die Hände schüttelte und zur Feier des großen Ereignisses Mrs. Micawber küßte. Im ersten Punkte ahmte mir Traddles nach. Hinsichtlich des zweiten hielt er seine freundschaftlichen Beziehungen nicht für alt genug, um es zu wagen.

»Mein lieber Copperfield«, antwortete Mr. Micawber, indem er aufstand, die Daumen in den Westentaschen, »Gefährte meiner Jugend, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, und mein geschätzter Freund Traddles – wenn es mir gestattet ist, ihn so zu nennen, Sie werden mir beide erlauben, Ihnen im Namen Mrs. Micawbers, meiner selbst und unserer Sprößlinge in wärmster und rückhaltlosester Weise für Ihre guten Wünsche zu danken. Man dürfte mit Recht erwarten, daß ich am Vorabende einer Wanderung, die uns zu einem ganz neuen Dasein führen wird«, – er redete, als ob er fünfhunderttausend Meilen reisen sollte – »einige Bemerkungen zum Abschied zwei solchen Freunden gegenüber machen würde, aber alles, was ich in diesem Sinn zu sagen hatte, ist bereits gesagt worden. Welche Stellung in der Gesellschaft ich auch immer auf dem Umwege über den gelehrten Beruf, dessen unwürdiges Mitglied ich zu werden im Begriff stehe, erklimmen werde, ich werde stets bemüht sein, ihr keine Schande zu machen, und Mrs. Micawber wird ihr in jeder Beziehung zur Zierde gereichen. Unter dem Druck vorübergehender pekuniärer Verbindlichkeiten, die ich mit der Absicht einging, sie sofort zu tilgen, doch leider daran durch eine Verkettung von Umständen verhindert war, habe ich mich genötigt gesehen, eine Tracht anzulegen, die meinen natürlichen Gefühlen widerstrebt – ich meine die Brille –, und einen Namen anzunehmen, auf den ich keinerlei gerechtfertigte Ansprüche besitze. Alles, was ich in dieser Beziehung zu sagen habe, ist, daß die Wolken über dem Schauplatz der Trostlosigkeit gewichen sind und daß der Gott des Tages abermals hoch über dem Bergesgipfel strahlt. Nächsten Montag mit Ankunft der Nachmittagpost berührt mein Fuß in Canterbury die heimatliche Heide, und mein Name wird wieder Micawber sein.«

Nach diesen Worten nahm Mr. Micawber seinen Platz wieder ein und trank mit gewichtigem Ernst zwei Gläser Punsch hintereinander. Dann sprach er feierlich:

»Noch eins bleibt mir zu tun, ehe diese Trennung vor sich geht, und zwar eine Tat, die das Billigkeitsgefühl von mir fordert. Mein Freund Mr. Thomas Traddles hat mir bei zwei verschiedenen Gelegenheiten mit seinem Wechselgiro ausgeholfen. Bei der ersten Gelegenheit ließ ich Mr. Thomas Traddles, lassen Sie es mich kurz sagen, – in der Tinte. Die Verfallzeit des zweiten ist noch nicht abgelaufen. Der Betrag der ersten Verbindlichkeit« – hier sah Mr. Micawber mit prüfendem Blick in sein Notizbuch – »war, wenn ich nicht irre, 23 £ 4 sh. 9½, der des zweiten 18?6?2, diese Summen machen zusammen, wenn ich nicht irre, 41 £ 10 sh. 11½. Mein Freund Copperfield wird vielleicht die Güte haben, es nachzurechnen.«

Ich tat es, und es stimmte.

»Diese Metropole und meinen Freund Mr. Thomas Traddles zu verlassen«, sagte Mr. Micawber, »ohne mich des pekuniären Teils meiner Verpflichtungen entledigt zu haben, würde wie eine unerträgliche Last auf meinen Geist drücken. Ich habe daher für meinen Freund Mr. Thomas Traddles dieses Dokument hier, das den gewünschten Zweck erfüllt, entworfen. Ich erlaube mir, meinem Freunde Mr. Thomas Traddles einen Schuldschein mit meiner Unterschrift über 41 £ 10 sh 11½ zu überreichen, und schätze mich glücklich, meine sittliche Würde gewahrt zu haben und zu wissen, daß ich jetzt wieder mit erhobenem Haupte vor meine Mitmenschen hintreten kann.«

Mit diesen Geleitworten legte er seinen Schuldschein in Traddles Hände und fügte hinzu, daß er ihm in allen Lebenslagen viel Glück und jedmöglichen Erfolg wünsche. Ich bin überzeugt, daß nicht nur er das Gefühl hatte, seine Schuld bar bezahlt zu haben, sondern auch, daß Traddles selbst den Unterschied nicht sogleich begriff.

Er fühlte sich auf seine Handlungsweise so stolz, daß seine Brust noch einmal so breit aussah, als er uns die Treppen hinableuchtete. Wir schieden beiderseits mit großer Herzlichkeit, und als ich Traddles nach Hause begleitet hatte und heimwärts ging, dachte ich mir des öfteren, daß ich es wohl nur den Erinnerungen an die Zeit, wo ich bei Mr. Micawber als Knabe gewohnt, verdankte, daß er mich nie um Geld ansprach, so leichtsinnig er auch sonst mit dem anderer Leute umging.

Ich hätte gewiß nicht den Mut gehabt, ihm eine Bitte abzuschlagen, und ich bezweifle nicht, – zu seiner Ehre sei es gesagt – daß er das ebenso genau wußte wie ich.

37. Kapitel Eine kalte Dusche


37. Kapitel Eine kalte Dusche

Mein neues Leben hatte schon länger als eine Woche gedauert und ich war stärker als je in den furchtbar praktischen Entschlüssen, die die Krisis erforderte. Ich fuhr fort, raschen Schrittes zu gehen, und lebte beständig unter dem Gedanken, daß ich vorwärtskäme. Ich machte es mir zur Pflicht, mich in allem, was ich tat, so viel anzustrengen, wie ich nur irgend konnte. Ich verfiel sogar auf den Gedanken, mich auf vegetarische Diät zu setzen, wahrscheinlich von der dunkeln Ahnung erfüllt, daß ich Dora ein Opfer brächte, wenn ich mich zu einem pflanzenfressenden Lebewesen entwickelte.

Noch hatte Dora keine Ahnung von meiner verzweifelten Entschlossenheit, die nur in meinen Briefen gewisse dunkle Schatten vorauswarf. Aber es kam ein Samstag heran, und an diesem Samstagabend sollte sie bei Miss Mills sein; wenn Mr. Mills in seinen Whistklub gegangen sein würde – was man mir durch das Aufstellen eines Vogelkäfigs im Mittelfenster des Gesellschaftszimmers auf die Straße telegraphieren wollte –, sollte ich zum Tee hinkommen.

Um diese Zeit herum hatten wir uns in der Buckingham-Straße ganz eingewohnt, und Mr. Dick fuhr fort, in einem Zustand ungestörter Glückseligkeit abzuschreiben. Meine Tante hatte einen entscheidenden Sieg über Mrs. Crupp erfochten, indem sie sie ablohnte, den ersten auf die Treppe gestellten Wasserkrug zum Fenster hinauswarf und eine Zugeherin, die wir aufgenommen hatten, in eigner Person zum Schutze die Treppen auf und ab geleitete. Diese energischen Maßregeln erfüllten Mrs. Crupps Brust mit solchem Entsetzen, daß sie sich, in der Meinung, meine Tante sei verrückt geworden, stets in ihre Küche flüchtete, wenn sie sie kommen sah. Da meiner Tante Mrs. Crupps Meinung ebenso wie die irgend jemand andern vollständig gleichgültig war, so wurde die früher so kühne Mrs. Crupp in wenigen Tagen derart mutlos, daß sie es vorzog, ihre stattliche Gestalt hinter Türen zu verstecken – wobei jedoch immer ein breiter Rand des flanellnen Unterrocks vorguckte – oder sich in dunkle Ecken zu drücken, wenn meine Tante in der Nähe erschien. Dies bereitete meiner Tante ein so außerordentliches Vergnügen, daß ich glaube, sie stürmte nur die Treppe auf und ab, den Hut schief aufgesetzt, um Mrs. Crupp ununterbrochen in Schrecken zu erhalten.

Da sie ungewöhnlich ordnungsliebend und erfinderisch war, nahm sie in meiner Haushaltung so viel kleine Verbesserungen vor, daß es den Anschein hatte, als seien wir reicher statt ärmer geworden. Unter anderm verwandelte sie die Speisekammer in eine Garderobe für mich und kaufte mir eine Bettstelle, die zur Tageszeit einem Bücherschrank so ähnlich sah, wie es ein Bett nur konnte. Ich war der Mittelpunkt ihrer beständigen Sorgfalt, und meine arme Mutter selbst hätte mich nicht lieber haben und sich mehr um mich kümmern können.

Peggotty fühlte sich außerordentlich geehrt, daß sie an diesen Arbeiten teilnehmen durfte, und obgleich ihr immer noch etwas von der alten Scheu vor meiner Tante anhaftete, so hatte ihr diese doch so viele Beweise von aufmunternder Leutseligkeit und Vertrauen gegeben, daß sie die besten Freunde geworden waren. An dem Samstagabend, als ich zum Tee bei Miss Mills erwartet wurde, war gerade die Zeit gekommen, wo Peggotty heimfahren mußte, um ihren Pflichten gegenüber Ham nachzukommen.

»So leben Sie denn wohl, Barkis«, sagte meine Tante, »und nehmen Sie sich gut in acht. Ich hätte wahrhaftig nie gedacht, daß es mir so leid tun würde, Sie zu verlieren.«

Ich begleitete Peggotty auf die Station und sah sie fortfahren. Sie weinte beim Abschied und legte mir ihren Bruder ans Herz, so wie damals Ham. Wir hatten seit jenem sonnigen Nachmittag nichts mehr wieder von ihm gehört.

»Und jetzt, mein einziger lieber Davy«, bat sie mich, »noch eins! Wenn du Geld brauchst während deiner Lehrzeit oder später, um dich zu etablieren, so hat gewiß niemand ein so gutes Recht, dich zu bitten, es dir leihen zu dürfen, als meines lieben guten Mädels alte dumme Peggotty.«

Ich ließ nicht nach, ich mußte es ihr versprechen. Nur die sofortige Annahme einer großen Summe, glaube ich, hätte sie noch glücklicher gemacht.

»Und noch eines, liebes Kind«, flüsterte sie mir zu. »Sag dem hübschen kleinen Engel, daß ich sie so gern nur eine einzige Minute gesehen hätte. Und sage ihr, daß ich dein Haus gar so gern schön herrichten möchte, bevor sie mein Liebling heiratet, wenn sie es mir erlaubt.«

Ich versicherte ihr, daß niemand anders es anrühren dürfte, und darüber freute sie sich so sehr, daß sie in bester Laune wegfuhr.

Ich mühte mich soviel ich konnte den Tag über in den Commons auf die verschiedenartigste Weise ab und begab mich zur festgesetzten Stunde abends in die Straße, wo Miss Mills wohnte. Ihr Vater, der entsetzlich lang nach dem Essen zu schlafen pflegte, war noch nicht fort, und im Mittelfenster hing noch immer kein Vogelbauer.

Endlich trat Mr. Mills aus der Türe, und ich sah, wie Dora selbst den Käfig aufhängte und über den Balkon nach mir ausspähte und wieder hineinlief, als sie mich erblickte, während Jip draußen blieb und auf einen riesenhaften Fleischerhund herausfordernd herunterbellte, der ihn wie eine Pille hätte verschlucken können.

Dora kam mir an der Salontür entgegen, und Jip kam herausgesprungen und verschluckte sich über sein Geknurr, als er sah, daß ich kein Einbrecher war, und wir alle drei begaben uns so glücklich und voll Liebe wie nur möglich ins Zimmer. Ich vernichtete – gewiß nicht in böser Absicht, aber mich erfüllte das Thema so sehr – im Nu die freudige Stimmung, indem ich Dora, ohne sie im mindesten vorzubereiten, fragte, ob sie einen Bettler lieben könnte.

Die hübsche kleine Dora, wie erschrocken sie war! Ihr einziger Gedanke bei den Worten mußte ein gelbes Gesicht und ein grüner Augenschirm oder ein paar Krücken, ein Holzbein oder ein Hund mit einer blechernen Schale im Maul oder etwas der Art gewesen sein, denn sie starrte mich mit einem ganz allerliebst verwunderten Gesicht an.

»Wie kannst du nur so etwas Albernes fragen!« schmollte sie. »Einen Bettler lieben!!«

»Dora, mein Herzensschatz«, sagte ich, »ich bin ein Bettler.«

»Wie kannst du so albern sein«, und sie schlug mir auf die Hand, »hier sitzen und mir solche Geschichten erzählen! Warte, Jip soll dich beißen.«

Ihr kindisches Wesen war mir das köstlichste auf der Welt, aber ich mußte mich ihr doch deutlicher machen und so wiederholte ich feierlich:

»Dora, mein Herz, ich bin dein zugrunde gerichteter David.«

»Warte nur, Jip wird dich schon beißen«, sagte sie und schüttelte ihre Locken; »wenn du nicht mit dem dummen Zeug aufhörst.«

Aber ich machte ein so ernstes Gesicht, daß sie endlich aufhörte ihre Locken zu schütteln, ihre kleine Hand zitternd auf meine Schulter legte, zuerst erschrocken und besorgt dreinsah und dann anfing zu weinen.

Es war schrecklich. Ich fiel vor dem Sofa auf die Knie nieder, liebkoste sie und bat sie, mir nicht das Herz zu zerreißen. Aber eine lange Zeit konnte die arme kleine Dora bloß ausrufen: »O Gott, o Gott, wie erschrocken bin ich, wo ist Julia Mills? Führe mich zu Julia Mills und geh, geh, ich bitte dich«, bis ich fast von Sinnen war.

Endlich nach vielen Bitten und Beteuerungen brachte ich sie dazu, mich mit ihrem entsetzten Gesicht anzusehen, und es gelang mir ihr Grauen zu mildern, bis sie mich nur mehr liebend ansah und ihre weiche Wange an meiner ruhte. Dann sagte ich ihr, während ich sie mit meinen Armen umschlungen hielt, wie sehr und innig ich sie liebte, sie aber von ihrem Versprechen entbinden müßte, weil ich jetzt arm sei, und daß ich es kaum ertragen würde, wenn ich sie verlieren müßte. Ich für meinen Teil fürchte mich nicht vor der Armut, wenn sie es nicht täte, denn mein Arm und mein Herz würden durch den Gedanken an sie gestählt. Ich erzählte ihr, wie ich schon jetzt mit einem Mute arbeitete, den nur Liebende kennen, schon viel praktischer geworden sei und für die Zukunft sorge. Ein sauer verdienter Bissen Brot sei süßer als ein geerbtes Festgelage. Noch vieles Ähnliche sagte ich ihr und gab es mit einer leidenschaftlichen Beredsamkeit zum besten, die mich ganz überraschte, obgleich ich Tag und Nacht, seit mir meine Tante die Hiobsbotschaft gebracht, an weiter nichts gedacht hatte.

»Ist dein Herz noch immer mein, Dora?« fragte ich begeistert, denn ihr zärtliches Anschmiegen verriet es mir.

»O ja!« rief Dora. »O ja. Es ist ganz dein. O, sei nur nicht so schrecklich.«

»Ich schrecklich! Meiner Dora schrecklich!«

»Sprich nicht von Armsein und harter Arbeit«, sagte Dora und schmiegte sich noch dichter an mich. »O bitte, bitte nicht!«

»Mein teuerstes Herz, der wohlverdiente Bissen Brot –«

»Ja, ja, aber ich mag nichts mehr vom Bissen Brot hören, und Jip muß jeden Mittag Schlag zwölf Uhr ein Hammelkotelett bekommen oder er stirbt.«

Ich war ganz bezaubert von ihrer kindischen entzückenden Weise. Ich versicherte ihr unter Liebkosungen, daß Jip sein Hammelkotelett mit der gewohnten Regelmäßigkeit bekommen sollte. Ich malte unsere bescheidne Häuslichkeit aus und benutzte dazu das kleine Haus, das ich in Highgate gesehen, und wies meiner Tante das obere Zimmer an.

»Bin ich dir noch schrecklich, Dora?« fragte ich dann zärtlich.

»O nein, nein«, schluchzte Dora. »Aber ich hoffe, deine Tante wird hübsch in ihrem Zimmer bleiben. Hoffentlich ist sie keine keifende Alte.«

Hätte ich mich noch mehr in Dora verlieben können, so wäre es sicher jetzt der Fall gewesen. Aber ich fühlte, daß sie doch zu wenig praktisch war. Es kühlte meine neugeborne Begeisterung etwas ab, daß ich sie so schwer damit anstecken konnte. Ich versuchte es noch einmal. Als sie wieder ganz zu sich gekommen war und die Ohren Jips, der auf ihrem Schoße lag, um ihre Finger drehte, wurde ich ernst und sagte:

»Mein Schatz, darf ich noch etwas sagen?«

»O bitte, sei nicht praktisch!« sagte sie liebkosend. »Es erschreckt mich so!«

»Mein Liebling, dabei ist doch nichts Erschreckliches. Ich möchte, daß du es nicht in diesem Lichte siehst. Ich möchte dir Kraft geben und dich begeistern, Dora.«

»O, das ist abscheulich!«

»Aber durchaus nicht, mein Herzensschatz. Ausdauer und Charakterstärke befähigen uns, viel Schlimmeres zu ertragen.«

»Aber ich habe gar keine Stärke«, sagte Dora und schüttelte ihre Locken. »Nicht wahr, Jip? O bitte, gib Jip einen Kuß und sei wieder lieb.«

Ich konnte unmöglich widerstehen und mußte Jip küssen, als sie ihn mir hinhielt, ihren eignen rosigen Mund gespitzt, als sie die Zeremonie leitete, und ich küßte ihn, wie sie es wünschte, genau mitten auf die Nase. Ich entschädigte mich dann für meinen Gehorsam, und ihre Liebkosungen ließen mich meinen Ernst eine lange Zeit vergessen.

»Aber meine geliebte Dora«, fing ich endlich wieder an, »ich wollte dir ja etwas sagen.«

Der Richter des Prärogativgerichts hätte sich in sie verlieben müssen, wie sie ihre Hände faltete, sie emporhielt und mich bat und flehte, ja nicht wieder schrecklich zu sein.

»Ich werde es gewiß nicht sein, mein Liebling«, beruhigte ich sie, »aber wenn du manchmal denken wolltest – nicht wie an etwas Entmutigendes, beileibe nicht – aber wenn du manchmal daran denken wolltest, – bloß um dir selbst Mut zu machen, – daß du mit einem armen Menschen verlobt bist –«

»Nicht, nicht! Bitte, nicht! Es ist so schrecklich.«

»Aber durchaus nicht, Herzensschatz«, sagte ich ermunternd. »Wenn du manchmal daran denken und dich dann und wann in deines Papas Haushalt umsehen wolltest und dich ein wenig gewöhntest, vielleicht Rechnung zu führen –«

Die arme, kleine Dora nahm diese Zumutung mit einem Weheruf auf, der halb Seufzer, halb ein Schrei war.

»– so wird das später sehr nützlich sein. Und wenn du mir versprechen wolltest, manchmal ein kleines – ein ganz kleines Kochbuch zu lesen, das ich dir schicken will, so wäre das ausgezeichnet für uns; denn unser Lebenspfad, Dora«, sagte ich und wurde schon wieder bei meinem Thema wärmer, »ist steinig und rauh, und an uns ist es, ihn zu ebnen. Wir müssen uns emporringen! Wir müssen tapfer sein! Es gilt Hindernisse zu überwinden, und wir müssen ihnen entgegentreten und sie niedertreten.«

Ich sprach mit größter Begeisterung mit geballter Faust und höchst enthusiastischer Miene, aber es war ganz unnütz fortzufahren; ich hatte bereits genug gesagt und schon wieder das Schlimmste angerichtet. Dora war außer sich. »Wo ist Julia Mills! Bringe mich zu Julia Mills. Bitte, bitte, geh!« so daß ich ganz von Sinnen kam und im Salon herumraste.

Ich glaubte damals wirklich, ich hätte sie getötet. Ich bespritzte ihr Gesicht mit Wasser, fiel auf die Knie nieder und zerraufte mein Haar. Ich nannte mich einen hartherzigen Barbaren und ein wildes Tier. Ich bat sie um Verzeihung und flehte sie an, mich doch nur anzusehen. Ich wühlte in Miss Mills‘ Arbeitskästchen nach einem Riechfläschchen herum, erwischte in meiner Verzweiflung anstatt dessen eine elfenbeinerne Nadelbüchse und schüttete alle Nadeln über Dora aus. Jip, der ebenso raste wie ich, drohte ich mit der Faust. Ich verübte jede Tollheit, die sich nur verüben ließ, und hatte längst den Verstand verloren, als Miss Mills hereintrat.

»Wer hat das getan!« rief Miss Mills aus, ihrer Freundin zu Hilfe eilend.

»Ich, Miss Mills! Ich habe es getan!« schrie ich. »Sehen Sie sich den Barbaren an!« – Und ich verbarg mein Gesicht in dem Sofakissen vor dem Lichte.

Anfangs glaubte Miss Mills, wir hätten uns gezankt und näherten uns wieder der Wüste Sahara, aber bald erfuhr sie die Wahrheit, denn meine liebe kleine Dora fiel ihr um den Hals und erklärte ihr weinend, ich sei ein armer Arbeiter, und rief dann mich herbei und fiel mir um den Hals und fragte mich, ob sie mir all ihr Geld zum Aufheben geben sollte, und dann sank sie wieder an Miss Mills‘ Brust und schluchzte, als ob ihr zärtliches Herzchen brechen sollte.

Miss Mills war ein wahrer Segen für uns. Mit wenigen Worten erfuhr sie von mir, um was es sich handelte, dann tröstete sie Dora und brachte sie allmählich zu der Überzeugung, daß ich kein Arbeiter sei – aus meiner Erzählung schien Dora geschlossen zu haben, daß ich Mörtelträger sei und den ganzen Tag über mit einem Schubkarren auf einem Brett auf- und abführe –, und stiftete wieder Frieden zwischen uns. Als wir uns ein wenig beruhigt hatten und Dora hinausgegangen war, um sich die Augen mit Rosenwasser zu kühlen, klingelte Miss Mills nach dem Tee. In der Zwischenzeit beteuerte ich ihr, daß sie ewig meine Freundin sein würde und mein Herz zu schlagen aufhören müßte, bevor ich ihre Anteilnahme vergessen könnte.

Dann setzte ich ihr auseinander, was ich mich so ohne allen Erfolg Dora klarzumachen bemüht hatte. Sie stellte fest, daß die Zufriedenheit in der Hütte besser sei als die kalte Pracht des Palastes und daß, wo Liebe wohne, es an nichts fehle.

Ich gab ihr vollkommen recht. Niemand könne das besser wissen als ich, der Dora liebe, wie noch kein Sterblicher geliebt.

Dann fragte ich, ob sie meine Vorschläge hinsichtlich des Haushaltes und des Kochbuchs für praktisch halte oder nicht.

Nach längerer Überlegung erwiderte sie: »Mr. Copperfield, ich will mit Ihnen offen reden. Seelenleiden und Prüfungen ersetzen bei manchen Naturen die Zahl der Jahre, und ich will so aufrichtig gegen Sie sein, als wäre ich eine Äbtissin. Nein, der Rat paßt nicht für Dora! Unsere liebe Dora ist ein Schoßkind der Natur, sie ist wie aus Licht, Luft und Freude gewoben. Ich gestehe recht gern zu, daß der Rat an und für sich gut ist, aber –« Sie schüttelte den Kopf.

Ihre letzten Worte flößten mir den Mut ein, sie zu fragen, ob sie bei Gelegenheit Doras Aufmerksamkeit auf den Ernst des Lebens würde lenken wollen. Sie bejahte so bereitwillig, daß ich weiter fragte, ob sie nicht auch Dora überreden möchte, das Kochbuch anzunehmen. Auch dieses Amt übernahm Miss Mills, machte sich aber nicht allzu große Hoffnungen.

Dora sah so liebreizend aus, als sie zurückkehrte, daß ich mich wirklich mit Zweifel im Herzen fragte, ob man sie mit so etwas Gewöhnlichem belästigen dürfte. Sie liebte mich so sehr und war so entzückend, besonders als sie Jip um Röstschnitten aufwarten ließ und so tat, als ob sie ihm zur Strafe für seinen Ungehorsam seine Nase an die heiße Teekanne hielte, daß ich mir wie eine Art Ungeheuer in einem Feengarten vorkam, wenn ich bedachte, wie ich sie bis zu Tränen erschreckt hatte.

Nach dem Tee nahm sie die Gitarre und sang die hübschen, alten französischen Lieder von der Unmöglichkeit, jemals mit Tanzen aufzuhören, tarala, tarala, bis ich mich noch mehr als Ungeheuer fühlte als vordem.

Nur ein Schatten fiel auf unser Glück und zwar kurz vor meinem Fortgehen, als ich unvorsichtigerweise verlauten ließ, daß ich meiner Arbeiten wegen jetzt um fünf Uhr früh aufstünde. Ob Dora vielleicht glaubte, ich sei Privatnachtwächter, weiß ich nicht, aber jedenfalls machte es einen tiefen Eindruck auf sie, und sie spielte und sang nicht mehr.

Es lag ihr immer noch auf der Seele, als ich Abschied von ihr nahm, und sie sagte zu mir in ihrer entzückenden, liebkosenden Weise wie zu einer Puppe:

»Also steh nicht um fünf Uhr auf, du nichtsnutziger Junge! Es ist doch ein Unsinn.«

»Schatz«, sagte ich, »ich habe zu arbeiten.«

»So tu es nicht. Warum nur?«

Ihrem hübschen verwunderten Gesichtchen konnte man nur scherzend sagen, daß wir arbeiten müßten, um zu leben.

»Ach Gott, wie lächerlich!« rief Dora.

»Aber wie sollen wir denn leben ohne Arbeit, Dora?«

»Wie? Irgendwie!«

Sie schien zu glauben, daß die Frage damit gänzlich aus der Welt geschafft sei, und gab mir einen so triumphierenden Kuß aus ihrem unschuldigen Herzen heraus, daß ich sie nicht um ein Vermögen hätte berichtigen mögen.

Also gut! Ich liebte sie und liebte sie weiter, hingebend und vollkommen, und nur sie. Aber ich fuhr auch fort recht angestrengt zu arbeiten und geschäftig alle Eisen zu schmieden, die ich im Feuer hatte, und manchmal, wenn ich abends meiner Tante gegenübersaß, mußte ich daran denken, wie sehr ich Dora erschreckt hatte; dann grübelte und grübelte ich, wie ich mir am besten meinen Weg durch die Welt – am liebsten mit einem Gitarrenfutteral – bahnen könnte, bis es mir vorkam, daß mein Kopf grau würde.

38. Kapitel Eine Trennung


38. Kapitel Eine Trennung

Ich ließ meinen Entschluß hinsichtlich der Parlamentsdebatten nicht in Vergessenheit geraten. Ich erstand ein gutes Lehrbuch über die Mysterien der Stenographie um 10 sh 6 d und stürzte mich in ein Meer von Verworrenheit. Und binnen wenigen Wochen stand ich am Rand der Verzweiflung.

Die mannigfaltigen Bedeutungen, die von Punkten abhingen, die in dieser Stellung das und in einer andern das Gegenteil bedeuteten, die tollen Streiche, die gewisse Kreise anstellten, die unberechenbaren Folgen, die aus Zeichen wie Fliegenbeinen entstanden, die entsetzlichen Wirkungen eines Hakens an falscher Stelle beunruhigten mich nicht nur im Wachen, sondern erschienen mir auch im Schlaf.

Als ich mir endlich Bahn gebrochen und das Alphabet bemeistert hatte, das an sich schon ein ägyptischer Tempel war, tauchte eine Reihe neuer Schrecken, die man »Charaktere« nannte, auf, – die despotischsten Charaktere, die mir jemals vorgekommen sind und die zum Beispiel behaupten, daß ein Ding am Anfang einer Spinnwebe »Erwartung« heißt und daß eine Tintenfleckrakete soviel wie »unvorteilhaft« bedeutet. – Als ich mir diese unglückseligen Zeichen ins Gehirn genagelt, bemerkte ich, daß sie mir alles übrige aus dem Kopf getrieben hatten. Dann fing ich wieder von vorn an und vergaß die Charaktere; wenn ich sie wieder nachholte, kamen mir die andern Fragmente der Kunst abhanden; kurz, es war zum Herzzerbrechen.

Es hätte mir vielleicht auch das Herz gebrochen ohne Dora, die den Anker meines im Sturm treibenden Bootes bildete. Jeder Strich in dem System war eine knorrige Eiche im Walde der Schwierigkeiten, und ich hieb eine nach der andern mit solcher Kraft um, daß ich in drei oder vier Monaten imstande war, mich an einen der Hauptsprecher in den Commons heranzumachen. Nie werde ich vergessen, wie mir der Mann entschlüpfte, ehe ich noch anfing, und wie mein Bleistift auf dem Papier herumstolperte wie besoffen.

So ging es also nicht, das war klar. Ich strebte zu hoch und konnte auf diese Art nichts erreichen. Traddles, den ich um Rat fragte, schlug mir vor, er wolle mir Reden diktieren, meiner Ungeübtheit angepaßt, langsam und mit angemessenen Pausen. Dankbar nahm ich seine freundliche Mithilfe an, und lange Zeit hielten wir, wenn ich von Doktor Strong nach Hause kam, eine Art Privatparlament in der Buckingham Straße ab.

Meine Tante und Mr. Dick stellten, je nachdem, die Regierung oder die Opposition vor, und Traddles richtete mit Hilfe von Enfields Rhetorik oder eines Bandes Parlamentsreden erstaunliche Angriffe gegen sie. Am Tische stehend, den Finger im Buch, um die Stelle zu behalten, und mit der Linken lebhaft gestikulierend, versetzte sich Traddles als Mr. Pitt, Mr. Fox, Mr. Sheridan, Mr. Burke, Lord Castlereagh, Viscount Sidmouth oder Mr. Canning in die entsetzlichste Aufregung und schleuderte die vernichtendsten Anklagen der Bestechlichkeit und Verderbtheit auf meine Tante und Mr. Dick, während ich mit dem Notizbuch auf dem Knie mit größter Anstrengung mitstenographierte.

Die Inkonsequenz und Rücksichtslosigkeit Traddles konnte von keinem Politiker übertroffen werden. Er wechselte jede Woche seine Meinung und hißte alle möglichen Flaggen auf seinem Maste. Meine Tante, die ganz wie ein steinerner Kanzler dasaß, warf gelegentlich eine Bemerkung dazwischen, ein Hört! oder Oho! je nachdem es der Text erforderte, was immer das Signal für Mr. Dick abgab, der ganz auf der Partei der Landedelleute stand, kräftig in denselben Ruf mit einzustimmen. Es wurden ihm im Verlauf seiner parlamentarischen Laufbahn so viel Vorwürfe ins Gesicht geschleudert und er wurde für so viel schreckliche Folgen verantwortlich gemacht, daß ihm zuweilen ganz bange wurde. Ich glaube, er fürchtete manchmal wirklich, an der britischen Verfassung zum Schaden des Landes gerüttelt zu haben.

Oft setzten wir die Debatten fort, bis die Lichter herabgebrannt waren und die Uhr auf Mitternacht zeigte. Die Folge der vielen Übungen war, daß ich allmählich mit Traddles leidlich Schritt halten konnte; nur wäre ich froh gewesen, wenn ich hätte herausbekommen können, was meine stenographischen Notizen eigentlich bedeuteten. Aber ebensowenig hätte ich die chinesischen Inschriften auf einer Teekiste oder die goldnen Zeichen auf den großen roten und grünen Flaschen in den Apothekerläden lesen können.

Da gab es keinen Ausweg, als noch einmal von vorn anzufangen. Das war sehr schlimm, aber ich versuchte es, wenn auch mit schwerem Herzen, und ging die ganze langweilige Arbeit im Schneckentempo noch einmal durch und verglich sorgfältig jede einzelne Stelle. Trotzdem war ich immer pünktlich in der Kanzlei und bei dem Doktor und arbeitete, sozusagen, wie ein Karrengaul.

Eines Tages, als ich wie gewöhnlich nach den Commons ging, sah ich Mr. Spenlow mit sehr ernstem Gesicht und mit sich selbst sprechend in der Türe stehen. Da er manchmal über Kopfschmerzen klagte – er hatte von Natur einen kurzen Hals und meiner Meinung nach viel zu steif gestärkte Kragen –, so kam mir zuerst der Gedanke, es sei etwas in dieser Hinsicht nicht in Ordnung; aber von meinem Irrtum befreite er mich bald.

Anstatt mein »Guten Morgen« mit der gewohnten Leutseligkeit zu erwidern, blickte er mich sehr kalt und zeremoniell an und forderte mich auf, ihm in ein gewisses Kaffeehaus zu folgen, das zu jener Zeit einen Eingang in den kleinen Torweg des St. Pauls-Kirchhofs hatte.

In recht unbehaglicher Stimmung und mit einem Gefühl von Wärme im ganzen Körper, als ob meine Befürchtungen Knospen treiben wollten, folgte ich ihm.

Als ich ihn wegen der Enge des Weges vorausgehen ließ, fiel es mir auf, daß er seinen Kopf in einer Weise, die durchaus nichts Gutes versprach, hoch trug, und eine böse Ahnung sagte mir, daß er meinem Verhältnis mit Dora auf die Spur gekommen sei.

Wenn ich es nicht schon unterwegs erraten hätte, so mußte es mir klar werden, als ich ihm in ein Zimmer eine Treppe hoch folgte und dort Miss Murdstone fand, an einen Seitentisch voll umgekehrter Gläser, Zitronen und zwei altmodische Messerkasten gelehnt.

Miss Murdstone, steif und aufrecht, reichte mir ihre kalten Fingernägel, Mr. Spenlow schloß die Türe, hieß mich auf einem Sessel Platz nehmen und stellte sich vor den Kamin.

»Wollen Sie die Güte haben, Miss Murdstone«, sagte er, »Mr. Copperfield zu zeigen, was sich in Ihrem Strickbeutel befindet.«

Ich glaube, es war der alte Strickbeutel mit dem Stahlbügel, der schon in meiner Kindheit wie ein Gebiß schloß. Mit zusammengepreßten Lippen öffnete ihn Miss Murdstone und zog meinen letzten Brief an Dora, der von Ausdrücken zärtlichster Liebe überfloß, heraus.

»Ich glaube, das ist Ihre Handschrift, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Spenlow.

Mir war sehr heiß, und die Stimme, die ich vernahm, als ich sagte, »so ist es, Sir«, klang der meinen sehr unähnlich.

»Wenn ich nicht irre«, fuhr Mr. Spenlow fort, als Miss Murdstone ein ganzes Paket Briefe, zugebunden mit einem allerliebsten blauen Band aus dem Strickbeutel hervorholte, »sind auch diese von Ihrer Hand, Mr. Copperfield.«

Ich nahm sie mit der trostlosesten Empfindung entgegen und meine Anreden wie »Meine ewig teuerste, einzige Dora! Mein bester geliebter Engel! Mein Herzensschatz!« und dergleichen überfliegend, errötete ich tief und neigte bejahend das Haupt.

»Nein, nein, ich danke Ihnen«, sagte Mr. Spenlow kalt, als ich sie ihm mechanisch hinreichte. »Ich will Sie der Briefe nicht berauben. Miss Murdstone, haben Sie die Güte, fortzufahren.«

Dieses liebenswürdige Geschöpf betrachtete eine Weile gedankenvoll den Teppich und begann dann salbungsvoll wie folgt:

»Ich muß gestehen, schon längere Zeit hatte ich Miss Spenlow wegen David Copperfield im Verdacht. Ich beobachtete Miss Spenlow und David Copperfield, als sie sich das erste Mal sahen, und der Eindruck, den ich damals empfing, war durchaus nicht günstig. Die Verderbtheit des menschlichen Herzens ist so groß –«

»Sie würden mich verbinden, Ma’am«, unterbrach Mr. Spenlow, »wenn Sie sich lediglich auf Tatsachen beschränkten.«

Miss Murdstone schlug die Augen nieder, schüttelte wie gegen diese unpassende Bemerkung protestierend den Kopf und fuhr stirnrunzelnd würdevoll fort:

»Da ich mich also auf Tatsachen zu beschränken habe, will ich sie so trocken, wie ich es vermag, vortragen. Vielleicht wird das als das geeignetste Verfahren Gnade finden. Ich habe bereits gesagt, Sir, daß ich schon längere Zeit gegen Miss Spenlow wegen David Copperfield Verdacht hegte. Ich hatte mich des öfteren bemüht, eine entscheidende Bestätigung meiner Vermutung zu finden, jedoch ohne Erfolg. Ich habe mich daher enthalten, etwas davon Miss Spenlows Vater« – sie sah ihn dabei streng an – »zu verraten, wohl wissend, wie wenig Neigung oft in solchen Fällen vorhanden ist, gewissenhafte Pflichterfüllung anzuerkennen.«

Mr. Spenlow, ganz eingeschüchtert von Miss Murdstones männlicher Unbeugsamkeit, suchte ihre Strenge durch eine konziliante Handbewegung zu mildern.

»Als ich nach der Hochzeit meines Bruders zurückkehrte«, fuhr Miss Murdstone mit verachtungsvoller Stimme fort, »und als Miss Spenlow von dem Besuch bei ihrer Freundin, Miss Mills, nach Hause kam, schien mir Doras Benehmen noch mehr Veranlassung zum Argwohn als früher zu geben. Deshalb beobachtete ich sie auf das schärfste.«

Arme, liebe, kleine Dora! So ahnungslos dem Auge dieses Drachen preisgegeben!

»Aber trotzdem«, fuhr Miss Murdstone fort, »fand ich keine Beweise bis gestern abend. Es schien mir, daß Miss Spenlow merkwürdig viel Briefe von ihrer Freundin, Miss Mills, erhielt; da aber Miss Mills ihre Freundin war, und zwar mit ihres Vaters vollständiger Beistimmung« – wieder ein scharfer Hieb auf Mr. Spenlow –, »so durfte ich mich ja nicht weiter einmischen. Wenn es mir schon nicht erlaubt ist, von der Verderbtheit des menschlichen Herzens zu sprechen, so darf ich mir doch vielleicht erlauben, mich hier des Wortes ›übel angebrachtes Vertrauen‹ zu bedienen.«

Mr. Spenlow murmelte eine Zustimmung.

»Gestern abend nach dem Tee«, fuhr Miss Murdstone fort, »bemerkte ich, wie der kleine Hund aufsprang, knurrend im Zimmer hin und her lief und etwas herumzerrte. Ich sagte zu Miss Spenlow: »Dora, was hat der Hund im Maul, – es ist ein Papier.« Miss Spenlow fühlte nach ihrer Tasche, schrie auf und lief zu dem Hunde. Ich trat dazwischen und sagte: »Meine liebe Dora, Sie werden schon erlauben.«

O Jip, elender Schoßhund, das Unglück war also dein Werk!

»Miss Spenlow versuchte, mich mit Küssen, Arbeitskästchen und kleinen Schmucksachen zu bestechen – darüber gehe ich natürlich hinweg –, der Hund flüchtete sich unter das Sofa, als ich mich ihm näherte, und ließ sich nur schwer mit dem Schüreisen wieder hervortreiben. Selbst, als das gelungen war, hielt er immer noch den Brief mit den Zähnen fest, und als ich, auf die Gefahr hin, gebissen zu werden, mich bemühte ihm denselben zu entreißen, hielt er ihn so fest, daß er sich daran emporheben ließ. Endlich gelangte ich in den Besitz des Briefes. Nachdem ich ihn gelesen, sagte ich Miss Spenlow auf den Kopf zu, daß sie noch viele derartige besitzen müsse, und erhielt schließlich von ihr das Paket, das sich jetzt in David Copperfields Hand befindet.«

Dann schloß sie den Mund, ließ den Strickbeutel wieder zuschnappen und sah aus, als ob man sie wohl beugen, nie aber brechen könnte.

»Sie haben Miss Murdstone gehört«, sagte Mr. Spenlow zu mir. »Darf ich fragen, Mr. Copperfield, ob Sie etwas drauf zu erwidern haben?«

Ich sah den lieben kleinen Herzensschatz die ganze Nacht schluchzend und weinend in Angst und Kummer – wie sie das hartherzige Frauenzimmer kläglich gebeten und angefleht, ihm umsonst Küsse, Arbeitskästchen und Schmucksachen aufgedrängt, um mich und nur um mich von tiefstem Schmerz erfüllt – vor mir, und das tat dem bißchen Würde, das ich hätte auftreiben können, nicht wenig Abbruch. Ich glaube, ich zitterte, obgleich ich mein möglichstes tat, es zu verbergen.

»Ich habe nichts darauf zu erwidern, Sir«, gab ich zur Antwort, »außer, daß mich die ganze Schuld trifft. Dora –«

»Miss Spenlow, wenn ich bitten darf.«

»– wurde durch meine Unüberlegtheit verleitet«, fuhr ich fort, ohne auf die formelle Berichtigung Rücksicht zu nehmen, »die Sache geheim zu halten, und ich beklage es bitter.«

»Sie sind sehr zu tadeln, Sir«, sagte Mr. Spenlow, schritt auf dem Teppich vor dem Herd auf und nieder und verlieh jedem seiner Worte wegen der Steifheit seines Kragens und Rückens statt mit dem Kopf mit seinem ganzen Körper Nachdruck. »Sie haben sich einer hinterlistigen und unschicklichen Handlungsweise schuldig gemacht, Mr. Copperfield. Wenn ich einen Gentleman in mein Haus einführe, mag er neunzehn, neunundzwanzig oder neunzig Jahre alt sein, so setze ich in ihn vollkommenes Vertrauen. Wenn er mich darin hintergeht, so macht er sich einer unehrenhaften Handlung schuldig, Mr. Copperfield.«

»Ich fühle das jetzt selbst, glauben Sie mir«, erwiderte ich. »Aber ich habe es vorher nie bedacht. Aufrichtig und ehrlich kann ich Ihnen sagen, Mr. Spenlow, ich habe es nicht bedacht. Ich liebe Miss Spenlow derart –«

»Pah, Unsinn«, sagte Mr. Spenlow und wurde rot, »ich bitte mir nicht ins Gesicht zu sagen, daß Sie meine Tochter lieben, Mr. Copperfield.«

»Könnte ich denn mein Benehmen rechtfertigen, wenn es nicht der Fall wäre, Sir?« wandte ich in aller Demut ein.

»Und können Sie es rechtfertigen, wenn es der Fall ist, Sir?« fragte Mr. Spenlow, auf dem Teppich stehenbleibend. »Haben Sie an Ihr Alter und das meiner Tochter gedacht, Mr. Copperfield? Haben Sie bedacht, was das heißt, das Vertrauen zu untergraben, das zwischen mir und meiner Tochter bestehen sollte; haben Sie an die Lebensstellung meiner Tochter, an die Pläne, die ich zu ihrem Besten im Sinne habe, an die testamentarischen Bestimmungen, die ich ihretwegen getroffen habe, gedacht? Haben Sie überhaupt irgend etwas gedacht, Mr. Copperfield?«

»Ich fürchte, sehr wenig, Sir«, gestand ich, so ehrerbietig und sorgenvoll, wie mir zumute war, »aber glauben Sie mir, ich habe meine eigne Stellung nicht aus dem Auge verloren. Als ich sie Ihnen damals klarlegte, waren wir bereits verlobt –«

»Ich bitte«, sagte Mr. Spenlow, einem Policcinell, als er jetzt energisch die Hände zusammenschlug, ähnlicher sehend, als mir je aufgefallen war – »ich muß Sie sehr bitten, Mr. Copperfield, mir nicht von Verlobungen zu sprechen, Mr. Copperfield.«

Miss Murdstone ließ ein kurzes verächtliches Lachen hören.

»Als ich meine so plötzlich veränderten materiellen Verhältnisse Ihnen auseinandersetzte, Sir, hatte also das heimliche Verhältnis, zu dem ich Miss Spenlow unglücklicherweise verleitet habe, bereits begonnen. Seit ich mich in dieser veränderten Lebenslage befinde, habe ich keine Anstrengung gescheut, sie zu verbessern. Ich bin überzeugt, sie noch mit der Zeit wesentlich verbessern zu können. Wollen Sie mir Zeit lassen, – eine Reihe von Jahren, wir sind noch beide jung, Sir –«

»Sie haben recht«, unterbrach mich Mr. Spenlow, immerwährend mit dem Kopf nickend und die Stirn runzelnd, »Sie sind beide noch sehr jung. Es ist der reinste Unsinn. Machen Sie diesem Unsinn ein Ende. Werfen Sie diese Briefe ins Feuer. Geben Sie mir Miss Spenlows Briefe, damit ich sie ebenfalls verbrennen kann. Und da sich in Zukunft unser Verkehr natürlich bloß auf die Commons beschränken wird, wollen wir die Sache nicht mehr weiter erwähnen. Kommen Sie, Mr. Copperfield, Sie sind doch sonst ein einsichtsvoller junger Mann, es ist das Gescheiteste, was Sie tun können.«

Nein. Ich konnte nicht einschlagen. Es tat mir unendlich leid, aber hier galt es mehr als bloße Verständigkeit. Die Liebe ging über alle irdischen Rücksichten hinaus, und ich liebte Dora abgöttisch, und Dora liebte mich. Ich sagte es nicht mit denselben Worten und milderte es, soviel ich konnte; aber ich ließ es durchblicken und blieb fest.

»Nun gut, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Spenlow. »Dann muß ich meinen Einfluß bei meiner Tochter geltend zu machen suchen.«

Miss Murdstone gab durch einen ausdrucksvollen hörbaren Atemzug, der wie ein Seufzer und Stöhnen zugleich klang, ihre Meinung dahin ab, daß er das gleich anfangs hätte tun sollen.

»Ich muß meinen Einfluß«, wiederholte Mr. Spenlow, dadurch bestärkt, »also bei meiner Tochter geltend zu machen suchen. Verweigern Sie die Annahme dieser Briefe, Mr. Copperfield?« – ich hatte das Paket nämlich auf den Tisch gelegt.

»Ja.« Ich sagte, ich hoffte, er werde es mir nicht übelnehmen, aber ich könnte sie unmöglich von Miss Murdstone annehmen.

»Auch von mir nicht?«

»Nein«, erwiderte ich mit dem tiefsten Respekt. »Auch nicht von Ihnen.«

»Gut«, sagte Mr. Spenlow.

Es trat eine Pause ein, und ich wußte nicht, ob ich gehen oder bleiben sollte. Endlich ging ich ruhig nach der Türe und wollte gerade sagen, daß ich wohl seine Gefühle am besten berücksichtigen würde, wenn ich mich zurückzöge, da fuhr er fort, die Hände in die Taschen steckend oder wenigstens nach Möglichkeit bemüht, es zu tun, und mit einer Miene, die man eigentlich hätte fromm nennen können:

»Es ist Ihnen wahrscheinlich bekannt, Mr. Copperfield, daß ich nicht ganz ohne Vermögen dastehe und daß meine Tochter meine nächste und mir teuerste Verwandte ist.«

Ich beeilte mich, ihm in dem Sinne zu erwidern; daß ich hoffte; mein Irrtum, zu dem mich die Heftigkeit meiner Liebe verleitet, veranlasse ihn nicht, mich für berechnend zu halten.

»Ich meine es nicht deswegen«, sagte Mr. Spenlow. »Es würde besser für Sie und uns alle sein, wenn Sie berechnender wären, Mr. Copperfield, – ich meine, wenn Sie verständiger wären und sich weniger von solch jugendlichem Unverstand leiten ließen. Nein. Ich frage in ganz anderer Absicht, nämlich ob Sie wissen, daß ich meiner Tochter einiges Vermögen zu vermachen habe?«

Ich sagte, daß ich das annehme.

»Bei den Erfahrungen, die Sie täglich in den Commons hinsichtlich der so häufigen, ganz unverantwortlichen Nachlässigkeit der Menschen betreffs testamentarischer Verfügungen gemacht haben – es ist vielleicht einer der Punkte, wo sich die menschliche Inkonsequenz am seltsamsten offenbart –, können Sie doch kaum glauben, daß ich meine Verfügungen noch nicht getroffen hätte.«

Ich nickte zustimmend.

»Ich würde nicht zugeben«, sagte Mr. Spenlow, sichtlich von einer frommen Empfindung ergriffen, den Kopf schüttelnd und sich abwechselnd auf seinen Zehen und Absätzen wiegend, »daß die passende Versorgung meines Kindes durch eine solche jugendliche Torheit wie die gegenwärtige beeinflußt würde. Es ist nackte Torheit. Reiner Unsinn. In kurzer Zeit wird es leichter wiegen als eine Feder. Aber ich könnte, ich könnte, – wenn sich diese alberne Geschichte nicht von selbst erledigen sollte, mich in einem Augenblick der Besorgnis verleiten lassen, meine Tochter durch gewisse Schutzmaßregeln vor einer törichten Heirat zu bewahren. Ich hoffe nun von Ihnen, Mr. Copperfield, daß Sie mich nicht zwingen werden, auch nur eine Viertelstunde lang eine abgeschloßne Seite im Buche des Lebens wieder zu öffnen und ernste, längst geregelte Bestimmungen umzustoßen.«

Er sprach dies mit einer seelenvollen Ruhe, die sich nur mit einem stillen Sonnenuntergang vergleichen ließ, so daß ich ganz gerührt war. Er sah so friedvoll und ergeben aus, hatte, das stand fest, alle seine Angelegenheiten in so vollständiger Ordnung, daß es ihm wohl anstand, bei solcher Betrachtung Rührung zu empfinden. Wahrhaftig, ich glaube, Tränen glänzten in seinen Augen, so tief ergriff es ihn.

Aber was konnte ich tun?! Ich konnte doch nicht Dora und mein eignes Herz verleugnen. Als er mir eine Woche Bedenkzeit gab, um mir seine Worte zu überlegen, wie durfte ich sie ausschlagen, aber ich mußte auch fühlen, daß überhaupt keine Zahl von Wochen Eindruck auf eine Liebe wie die meinige machen konnte.

»Unterdessen gehen Sie mit Miss Trotwood oder irgend jemand anders von einiger Lebenserfahrung zu Rate«, sagte Mr. Spenlow, indem er seine Halsbinde mit beiden Händen zurechtrückte. »Ich gebe Ihnen eine Woche Bedenkzeit, Mr. Copperfield.«

Ich mußte mich darein ergeben und verließ mit einem Gesicht, in das ich soviel Ausdruck niedergeschlagener und verzweifelnder Beharrlichkeit legte wie nur möglich das Zimmer. Miss Murdstones dräuende Augenbrauen sahen mir nach, ihre Augenbrauen, nicht ihre Augen, weil sie das Wichtigste in ihrem Gesichte waren; sie sah genau so aus wie damals in unserer Stube in Blunderstone, so daß ich eine Sekunde wieder glaubte, meine Lektion verlernt zu haben, und jenes entsetzliche alte ABC-Buch mit den ovalen Holzschnitten, die mir in meiner jugendlichen Phantasie wie Brillengläser vorgekommen waren, vor mir sah.

Als ich in die Kanzlei kam, mich an mein Pult setzte und an dieses so unerwartet hereingebrochene Erdbeben dachte und in der Bitternis meines Herzens Jip verfluchte, verfiel ich in einen Zustand so qualvoller Sorgen um Dora, daß es mich heute noch wundernimmt, wieso ich nicht den Hut nahm und wie ein Wahnsinniger nach Norwood stürmte. Der Gedanke, daß sie sie in Schrecken und Tränen versetzen würden und ich sie nicht trösten könnte, war mir so qualvoll, daß ich mich veranlaßt sah, einen verzweifelten Brief an Mr. Spenlow zu schreiben und ihn zu bitten, die Folgen des Geschehens nicht das Haupt seiner Tochter treffen zu lassen. Ich bat ihn, ihre weiche Natur zu schonen, eine zarte Blume nicht zu zertreten, und sprach zu ihm, als ob er nicht ihr Vater, sondern ein Werwolf oder der Drache von Wantley gewesen wäre. Diesen Brief versiegelte ich und legte ihn auf sein Pult, und als er zurückkam, sah ich durch die halboffne Tür seines Zimmers, wie er ihn erbrach und las.

Er sprach den ganzen Morgen nichts davon. Aber bevor er nachmittags wegging, rief er mich herein und sagte, ich brauchte mir wegen des Glücks seiner Tochter durchaus keine Sorgen zu machen. Er würde sie überzeugen, daß alles Unsinn sei, und weiter habe er ihr nichts zu sagen. Er glaube, ein nachsichtiger Vater zu sein – und das war er allerdings –, und ich könnte mir jede Sorge in dieser Hinsicht ersparen.

»Sie könnten mich vielleicht dazu zwingen, Mr. Copperfield, wenn Sie wirklich töricht oder widerspenstig sind«, bemerkte er, »meine Tochter wiederum ein halbes Jahr ins Ausland zu schicken, aber ich habe eine bessere Meinung von Ihnen. Ich hoffe, Sie werden in wenigen Tagen einsichtsvoller geworden sein. Was Miss Murdstone betrifft«, ich hatte ihrer im Briefe Erwähnung getan – »so hege ich alle Achtung von der Wachsamkeit dieser Dame und fühle mich ihr sehr verbunden, aber sie hat strengsten Befehl, von der Sache nicht mehr zu sprechen. Ich wünsche weiter nichts, Mr. Copperfield, als daß die Angelegenheit einfach in Vergessenheit gerät. Auch Sie haben weiter nichts zu tun, als zu vergessen.«

Weiter nichts! In meinem Briefe an Miss Mills führte ich diese Äußerung mit Bitterkeit an. Ich hätte weiter nichts zu tun, schrieb ich mit düsterem Sarkasmus, als Dora – zu vergessen. Das sei alles!!

Und was sei das?! Ich bat Miss Mills, sie heute abend besuchen zu dürfen. Wenn es nicht mit Mr. Mills‘ Zustimmung geschehen könnte, so bäte ich um ein heimliches Zusammentreffen in der Waschküche, wo die Mangel stehe. Ich versicherte ihr, daß mein Verstand zu wanken beginne und daß nur sie, Miss Mills, mich vor dem Wahnsinn retten könnte. Ich unterzeichnete: »In tiefster Verzweiflung Ihr usw. usw.« Und als ich den Brief noch einmal überflog, mußte ich mir gestehen, daß sein Stil ein wenig an den Mr. Micawbers erinnerte.

Nichtsdestoweniger sandte ich ihn ab. Abends begab ich mich nach Miss Mills‘ Wohnung und ging dort auf und ab, bis ihre Zofe mich heimlich hereinholte und die Hintertreppe hinauf in die Waschküche führte. Ich habe heute guten Grund zu glauben, daß nichts hindernd im Wege stand, wenn ich ruhig die Haupttreppe hinaufgegangen und in den Salon getreten wäre, außer höchstens Miss Mills‘ Hang zum Romantischen und Geheimnisvollen.

In der Waschküche raste ich, wie es sich für mich ziemte. Ich glaube, ich ging hin, um mich wie ein Wahnsinniger zu benehmen, und das gelang mir vollkommen. Miss Mills hatte ein hastig geschriebenes Billett von Dora erhalten, des Inhalts, daß alles entdeckt sei, und mit der Bitte: »Ach komm, Julia, komm, komm!« Aber Miss Mills fürchtete, ihre Anwesenheit würde den höheren Mächten mißfallen, und war deshalb noch nicht gegangen. Und uns alle umfing die finstere Nacht der Wüste Sahara.

Miss Mills besaß einen wunderbaren Redefluß und liebte es, ihn sich schrankenlos ergießen zu hören. Es entging mir nicht, daß sie in unserer Trübsal schwelgte, obgleich sie ihre Tränen mit den meinen vermischte. Sie wühlte förmlich in Gram. Ein klaffender Abgrund, sagte sie, habe sich zwischen Dora und mir geöffnet, und nur die Liebe könne ihn mit ihrem Regenbogen überspannen. Die Liebe müsse leiden in dieser finstern Welt, es sei immer so gewesen und werde immer so sein. Aber das tue nichts, bemerkte sie, die mit Spinnennetzen umwobenen Herzen würden schließlich brechen, und dann sei die Liebe gerächt.

Das klang wenig tröstlich, aber Miss Mills wollte nicht trügerische Hoffnungen erweckt sehen. Sie machte mich noch viel unglücklicher, als ich bereits war, aber ich fühlte und sagte es ihr auch mit der größten Dankbarkeit, daß sie eine wahre Freundin sei.

Wir beschlossen, daß sie am nächsten Morgen in aller Frühe zu Dora gehen und auf Mittel sinnen sollte, ihr durch Blick oder Wort Nachricht von meiner unwandelbaren Liebe und meinem Kummer zu geben. Wir schieden überwältigt von Schmerz, und ich glaube, Miss Mills empfand große Genüsse dabei.

Ich vertraute alles meiner Tante an, als ich nach Hause kam, und ging trotz aller ihrer Trostreden voll Verzweiflung zu Bett. Ich stand voll Verzweiflung auf und ging voll Verzweiflung aus. Es war Samstag früh, und ich ging geradewegs nach den Commons. Ich war überrascht, als ich von weitem die Austräger in einer Gruppe vor unserer Kanzleitür stehen sah. Ich beschleunigte meine Schritte, ging an ihnen vorbei, wobei mir ihr Aussehen auffiel, und trat hastig ein.

Die Schreiber waren alle versammelt, arbeiteten aber nicht. Der alte Tiffey saß, ich glaube, zum ersten Mal in seinem Leben, auf einem andern Stuhl und hatte seinen Hut nicht aufgehängt.

»Ein schreckliches Unglück, Mr. Copperfield«, sagte er, als ich eintrat.

»Was ist denn?« rief ich aus. »Was ist vorgefallen?«

»Sie wissen es noch nicht?« riefen Tiffey und alle übrigen, die mich jetzt umdrängten.

»Nein«, sagte ich und blickte von einem zum andern.

»Mr. Spenlow!«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist tot.«

Ich glaubte, die Kanzlei schwankte und nicht ich, als einer der Schreiber mich mit seinen Armen auffing. Sie setzten mich auf einen Stuhl, banden mir das Halstuch ab und brachten mir ein Glas Wasser. Ich weiß nicht, wieviel Zeit darüber verging.

»Tot?« sagte ich.

»Er speiste gestern in der Stadt und kutschierte seinen Phaeton allein«, erzählte Tiffey, »denn er hatte den Kutscher vorausgeschickt, wie er es manchmal zu tun pflegte.«

»Nun, und?«

»Der Wagen kam ohne ihn an. Die Pferde blieben vor der Stalltür stehen, der Diener ging mit einer Laterne hinaus. Es saß niemand im Wagen.

»Waren sie durchgegangen?«

»Sie schwitzten nicht«, sagte Tiffey und setzte die Brille auf. »Sie schwitzten nicht mehr als gewöhnlich. Die Zügel waren wohl zerrissen, aber auf dem Boden geschleift worden. Alle wurden sogleich geweckt, und drei von den Leuten gingen auf die Straße hinaus. Sie fanden ihn eine Meile vom Hause.«

»Mehr als eine Meile, Mr. Tiffey«, unterbrach ein jüngerer Schreiber.

»So? Ja, ich glaube, Sie haben recht, – also mehr als eine Meile vom Hause, – nicht weit von der Kirche. Er lag halb auf dem Fahrweg, halb auf dem Fußsteig auf dem Gesicht. Ob er vom Schlag getroffen vom Bock fiel oder ausstieg, weil ihm übel wurde, oder ob er überhaupt schon tot war, als sie ihn fanden, oder nur besinnungslos, scheint niemand zu wissen. Keinesfalls hat er sich wieder erholt. Ärztliche Hilfe wurde so schnell wie möglich geholt, – alles umsonst …«

Ich kann nicht schildern, in welchen Gemütszustand mich diese Nachricht versetzte. Der Schreck über die Plötzlichkeit des Ereignisses, das einen Menschen betraf, mit dem ich in jeder Hinsicht entzweit war, die grausige Leere in seinem Bureau, wo sein Tisch und sein Stuhl auf ihn zu warten schienen, und das, was er gestern noch geschrieben, wie gespensterhaft erschien, – die unerklärliche Unmöglichkeit, ihn von dem Orte zu trennen und jeden Augenblick, wenn die Türe aufging, zu glauben, daß er hereintreten müßte, die träge Stille und Ruhe in der Kanzlei, das unersättliche Behagen, mit dem unsere Leute immerwährend von dem Vorfall sprachen und andere den ganzen Tag ein- und ausgingen und sich das Gehirn mit dem Thema vollstopften, – alles das kann sich jeder selbst ausmalen. Ganz sonderbar war, daß ich in den tiefsten Tiefen meines Herzens eine heimliche Eifersucht selbst auf den Tod empfand; wie es mir vorkam, bangte mir, daß mich seine Macht aus Doras Gedanken verdrängen könnte. Ich empfand es wie einen Stich, daß ich auf ihren Schmerz neidisch war. Der Gedanke erfüllte mich mit Unruhe, daß sie vor andern weinte und von andern getröstet wurde. Ein selbstsüchtiger Wunsch erfüllte mich in dieser unpassendsten aller Zeiten, jeden von ihr fernzuhalten außer mich und ihr alles in allem zu sein.

In dieser wirren Stimmung ging ich abends nach Norwood, und da ich von der Dienerschaft erfuhr, daß Miss Mills dort gewesen, veranlaßte ich meine Tante, an diese einen Brief zu adressieren, den ich selbst schrieb. Ich beklagte aufrichtig den unerwarteten Tod Mr. Spenlows und vergoß Tränen dabei. Ich bat Miss Mills, Dora in einem passenden Moment zu sagen, daß ihr Vater mit mir mit der größten Güte und Rücksicht gesprochen und bei Erwähnung ihres Namens nur Worte der Liebe und nicht des Vorwurfs gebraucht hätte. Ich weiß, ich tat dies aus Selbstsucht, damit mein Name ihr vor Augen komme, aber ich bemühte mich zu glauben, daß ich damit nur seinem Andenken Gerechtigkeit widerfahren ließe. Vielleicht glaubte ich es wirklich.

Meine Tante erhielt am nächsten Morgen ein paar Antwortzeilen; sie waren außen an sie adressiert, inwendig an mich gerichtet. Dora war von Schmerz überwältigt gewesen und als ihre Freundin sie gefragt hatte, ob sie mir Grüße bestellen sollte, habe sie nur unter vielen Tränen gerufen: »Ach mein lieber Papa, ach mein lieber Papa!« Aber sie hatte nicht nein gesagt. Und das nahm ich als sehr viel auf.

Mr. Jorkins, der seit dem Vorfall in Norwood gewesen war, kam ein paar Tage später auf die Kanzlei. Er und Tiffey schlossen sich ein paar Minuten lang ein, dann steckte Tiffey den Kopf heraus und winkte mir einzutreten.

»O«, sagte Mr. Jorkins, »Tiffey und ich, Mr. Copperfield, stehen im Begriff, das Pult, die Schränke und ähnliche Repositorien des Verblichenen zu untersuchen, um seine Privatpapiere zu versiegeln und nach einem Testament zu suchen. Nirgends ist eine Spur davon zu finden. Würden Sie vielleicht so gut sein, uns ein wenig zu helfen?«

Ich war in größter Sorge gewesen, wie sich wohl Doras Verhältnisse gestalteten, unter wessen Vormundschaft sie kommen würde, und so weiter, und hier konnte ich etwas erfahren. Wir begannen sofort zu suchen; Mr. Jorkins schloß die Pulte und Kasten auf, und wir nahmen alle Papiere heraus. Die Akten legten wir auf die eine Seite, die nicht sehr zahlreichen Privatpapiere auf die andere. Wir waren sehr ernst, und wenn wir ein Siegel, einen Bleistift, einen Ring oder irgendeine andere Kleinigkeit fanden, die besonders an ihn erinnerte, sprachen wir besonders leise.

Wir hatten schon verschiedene Pakete gesiegelt und immer noch nichts gefunden, als Mr. Jorkins mit denselben Worten, die sein verstorbener Kompagnon immer auf ihn anzuwenden pflegte, zu uns sagte: »Mr. Spenlow war sehr schwer von seinem gewohnten Wege abzubringen. Sie wissen, wie er war. Ich neige der Ansicht zu, daß er kein Testament gemacht hat.«

»O nein, ich weiß es bestimmt«, sagte ich.

Sie hielten beide inne und sahen mich an.

»An dem Tag, als ich das letzte Mal mit ihm sprach, redete er zu mir davon und sagte, seine Angelegenheiten seien längst geordnet.«

Die beiden schüttelten den Kopf.

»Das sieht schlimm aus«, meinte Tiffey.

»Sehr schlimm«, bestätigte Mr. Jorkins.

»Sie glauben doch nicht etwa –« fing ich an.

»Mein guter Mr. Copperfield«, sagte Tiffey, legte die Hand auf meinen Arm und machte beide Augen zu, während er den Kopf schüttelte, »wenn Sie in den Commons so lang gewesen wären wie ich, so würden Sie wissen, daß es keinen Punkt gibt, hinsichtlich dessen die Menschen so inkonsequent und so wenig verlässig sind.«

»Aber mein Gott, ganz dieselbe Bemerkung ließ er mir gegenüber fallen«, wandte ich mit Beharrlichkeit ein.

»Das möchte ich fast ausschlaggebend nennen«, bemerkte Tiffey. »Meine Meinung ist jetzt: – kein Testament.«

Das erschien mir wunderbar; aber es zeigte sich wirklich, daß es sich so verhielt. Mr. Spenlow hatte niemals daran gedacht, ein Testament aufzusetzen, soweit das aus seinen Papieren hervorgehen konnte; es fand sich keine Notiz, kein Entwurf, kein Wort, das auf ein solches hindeutete. Was mich nicht weniger in Verwunderung setzte, war, daß sich seine Angelegenheiten in der denkbar größten Unordnung befanden. Wie ich hörte, hielt es außerordentlich schwer, herauszubekommen, was er schuldete oder bezahlt hatte oder wie hoch sich bei seinem Tode sein Vermögen belief. Er schien es offenbar seit Jahren selbst nicht gewußt zu haben. Allmählich zeigte sich, daß er in seinem Eifer, in den Commons in Äußerlichkeiten zu glänzen, mehr als sein Einkommen aus der Kanzlei verbraucht und sein nie sehr großes Vermögen stark angegriffen hatte.

Norwood wurde verkauft, und Tiffey sagte mir, ohne zu wissen, wie sehr mich seine Mitteilungen interessierten, daß er nach Bezahlung aller Schulden und nach Abzug der schlechten und zweifelhaften Außenstände nicht tausend Pfund für den Rest geben würde.

So stand die Sachlage nach Ablauf von ungefähr sechs Wochen. Ich hatte die ganze Zeit über unsäglich gelitten und glaubte wirklich, ich müßte Hand an mich legen, wenn Miss Mills mir immer wieder mitteilte, daß meine arme kleine Dora bei Nennung meines Namens nichts als: »Ach armer Papa, ach mein guter Papa!« riefe. Ich erfuhr auch, daß sie keine andern Verwandten hatte als zwei unverheiratete Schwestern Mr. Spenlows, die in Putney wohnten und seit vielen Jahren mit ihrem Bruder nicht mehr in Verkehr standen. Man hatte sie bei Doras Taufe, sagte Miss Mills, bloß zum Tee und nicht zum Mittagessen eingeladen, und daraufhin hätten sie sich schriftlich ausgesprochen, es sei wohl besser für das Wohl aller Beteiligten, wenn sie wegblieben. Seitdem waren sie ihre Wege gegangen und ihr Bruder die seinigen.

Diese beiden Damen tauchten jetzt aus ihrer Zurückgezogenheit auf und schlugen Dora vor, nach Putney zu ziehen. Dora hatte sich in ihre Arme geworfen und weinend ausgerufen: »O ja, liebe Tanten, bitte nehmen Sie Julia Mills und mich und Jip nach Putney!«

So verließ sie denn Norwood kurz nach dem Begräbnis.

Wie ich Zeit fand, mich bis in die Umgebung von Putney herumzutreiben, begreife ich heute wirklich nicht, aber durch irgendwelche Mittel wußte ich es ziemlich häufig zu bewerkstelligen. Um ihre Freundschaftspflichten besser zu erfüllen, führte Miss Mills ein Tagebuch und las es mir vor, wenn sie manchmal mit mir auf der Heide zusammenkam, oder lieh es mir, wenn sie dazu keine Zeit hatte. Einige Stellen lauteten:

Montag. Meine liebe D. immer noch sehr niedergeschlagen. Kopfweh. Machte sie aufmerksam, wie hübsch glatt J. gekämmt sei. D. streichelte ihn. Die Erinnerungen öffneten die Schleusen des Schmerzes. Heftiger Ausbruch von Kummer (sind Tränen Tautropfen des Herzens? J. M.).

Dienstag. D. angegriffen und nervös. Schön in ihrer Blässe (bemerken wir dies nicht zuweilen auch am Monde? J. M.). D., ich und J. fahren aus. J. sieht zum Fenster hinaus und bellt den Straßenverkehr heftig an. Ein Lächeln überzieht D.s Züge. (Aus solch unbedeutenden Gliedern ist die Kette des Lebens geschmiedet! J. M.).

Mittwoch. D. verhältnismäßig heiter. Ich sang ihr als passende Melodie »Die Abendglocken« vor. Wirkung nicht besänftigend, eher das Gegenteil. D. unaussprechlich gerührt. Ich fand sie später in ihrem Zimmer schluchzend. Ich rezitierte einige Verse, die das Ich mit einer jungen Gazelle vergleichen. Wirkungslos. Erwähnte auch »Geduld« auf einem Denkmal (Frage: Warum auf einem Denkmal? J. M.).

Donnerstag. D. offenbar ein wenig getröstet. Besser geschlafen. Ein leichter Hauch von Rot wieder auf den Wangen. Beschloß D. C. zu erwähnen. Sprach von ihm vorsichtig während des Ausfahrens. D. sogleich vom Schmerz überwältigt. »O liebe, liebe Julia! Ich bin ein böses und unfolgsames Kind gewesen!« Beruhigte und liebkoste sie. Entwarf ein ideales Bild von D. C. am Rande des Grabes. D. abermals vom Schmerz überwältigt. »Ach, was soll ich tun! Was soll ich tun! Ach bring mich irgendwohin!« Bin sehr erschrocken. D. fällt in Ohnmacht, und ich hole ein Glas Wasser aus dem Wirtshaus (poetische Verwandtschaft: Buntscheckiges Schild über der Tür – Buntscheckigkeit des menschlichen Lebens. Ach! J. M.).

Freitag. Tag großer Ereignisse. Ein Mensch kommt in die Küche mit einem blauen Sack und will Damenstiefel zum Ausbessern abholen. Die Köchin sagt: Kein Auftrag. Der Mann will es nicht glauben: Die Köchin geht hinaus, um zu fragen, und läßt den Mann mit Jip allein. Wie die Köchin zurückkehrt, will es der Mann immer noch nicht glauben, aber geht endlich. J. fehlt. – D. außer sich. Nach der Polizei geschickt. Der Mann beschrieben: breite Nase und Beine wie Brückenpfeiler. Nachforschungen in allen Richtungen. Kein J. zu finden. D. weint bitterlich und ist untröstlich. Erwähne abermals die junge Gazelle. Passend, aber nutzlos. Gegen Abend kommt ein fremder Junge. Wird ins Zimmer geführt. Breite Nase, aber keine Brückenpfeiler. Sagt, er wisse von einem Hund, und will ein Pfund haben. Will sich nicht weiter erklären, obgleich wir sehr in ihn dringen. Dora gibt ihm ein Pfund, und er führt die Köchin in ein kleines Haus, wo J. an ein Tischbein gebunden ist. Große Freude, Dora umtanzt J., während er sein Abendbrot verzehrt. Ermutigt durch diesen glücklichen Zufall erwähne ich oben D. C. – D. fängt wieder zu weinen an und zu seufzen: »Ach ich bitte dich, ich bitte dich. Es ist so schlecht, an jemand anders zu denken als an den armen Papa.« Umarmt J. und weint sich in Schlaf. (Muß nicht D. C. den mächtigen Schwingen der Zeit vertrauen? J. M.)

 

Miss Mills und ihr Tagebuch waren zu jener Zeit mein einziger Trost. Sie, die bei Dora noch vor ein paar Augenblicken geweilt, zu sehen, den Anfangsbuchstaben von Doras Namen in dem Tagebuch aufzusuchen, sich von ihr immer unglücklicher und unglücklicher machen zu lassen, war meine einzige Erquickung.

39. Kapitel Wickfield und Heep


39. Kapitel Wickfield und Heep

Meine Tante, wahrscheinlich über meine fortdauernde Niedergeschlagenheit ernstlich besorgt, stellte sich, als ob ihr sehr viel daran läge, wenn ich nach Dover nachsehen führe, wie es mit der Mietsverlängerung stünde, und um geeigneten Falles mit dem gegenwärtigen Inwohner einen neuen Kontrakt abzuschließen.

Janet stand jetzt in Mr. Strongs Diensten, wo ich sie jeden Tag sah. Als sie von Dover wegzog, schwankte sie, ob sie die Lossagung von der Männerwelt, zu der man sie erzogen hatte, dadurch krönen sollte, daß sie einen Lotsen heiratete; aber sie entschied sich dagegen. Nicht so sehr des Prinzips willen, als weil er ihr nicht gefiel.

Obwohl es mich viel kostete, Miss Mills zu verlassen, ging ich doch ziemlich gern auf den Plan meiner Tante ein, da er mich instand setzte, ein paar ruhige Stunden mit Agnes zu verleben. Ich bat den guten Doktor um einen Urlaub von drei Tagen – er wollte mir viel mehr bewilligen, aber meine Arbeitsenergie sträubte sich dagegen ? und entschloß mich, die kleine Reise anzutreten.

Wegen meiner Pflicht in den Commons brauchte ich mir keine großen Skrupel zu machen. Die Wahrheit zu gestehen, wir kamen allmählich in keinen sehr guten Geruch bei den eleganteren Proktoren und sanken rasch zu einer recht zweifelhaften Stellung herab. Das Geschäft war vor Mr. Spenlows Eintritt schon nicht sehr bedeutend gewesen, hatte sich durch den Glanz, den derselbe zur Schau trug, gebessert, besaß jedoch keine genügend solide Grundlage, um ohne Schaden den plötzlichen Verlust seines eigentlichen Leiters zu ertragen. Es sank sehr schnell. Mr. Jorkins, trotz seines Ansehens in der Firma selbst, ein nachlässiger unfähiger Mann nach außen, war bei dem wenigen guten Ruf, den er in der Stadt genoß, nicht imstande, das Geschäft zu heben. Ich kam jetzt unter seine Leitung, und als ich sah, wie er immer zur Tabaksdose griff und das Geschäft ruhig treiben ließ, reuten mich die tausend Pfund meiner Tante mehr als je.

Aber das war nicht das Schlimmste. In den Commons gab es eine Anzahl Mitläufer, die, ohne selbst Proktoren zu sein, doch in Rechtsgeschäften herumpfuschten und sich zu deren Besorgung gegen einen Anteil an der Beute die Namen von wirklichen Proktoren liehen; und es gab eine ziemliche Menge solcher Leute. Da unsere Firma Beschäftigung um jeden Preis brauchte, so verbanden wir uns mit dieser noblen Schar.

Trauscheine und Bestätigungen kleiner Testamente waren das Rentabelste, und um sie riß man sich am meisten. In allen Eingängen der Commons lauerten Aufpasser und Schlepper, mit der genauen Instruktion, alle Leute in Trauer und Herren, die etwas verschämt aussahen, anzufallen und sie in die Kanzleien zu bringen, für die ihre Auftraggeber Geschäfte betrieben. So gut wurden diese Instruktionen befolgt, daß ich selbst, ehe man mich kannte, zweimal in die Kanzlei unseres Hauptgegners geschleppt wurde. Die einander widerstrebenden Interessen dieser Aufpasser machten Kollisionen nicht selten. Hinsichtlich der Trauscheine war der Wetteifer so groß, daß oft um irgendeinen blöde aussehenden Herrn so lange geboxt wurde, bis er als Beute dem Stärksten zufiel. Einmal stürzte ein höflicher Mann mit einer weißen Schürze unter einem Torweg hervor auf mich los, flüsterte mir das Wort »Trauschein« ins Ohr und war nur sehr schwer abzuhalten, mich auf die Arme zu nehmen und zu einem Proktor zu tragen.

Also, ich fuhr eines Tages nach Dover. Ich fand das Häuschen in bester Ordnung und konnte meine Tante mit der Nachricht erfreuen, daß auch ihr Mieter die Fehde mit den Eseln fortführte.

Nachdem ich das Geschäft abgemacht und eine Nacht dort geblieben war, begab ich mich frühzeitig nach Canterbury. Es war jetzt wieder Winterzeit, und der frische, kalte, windige Tag und die salzige Luft auf den Dünen stärkten meine Hoffnungsfreudigkeit ein wenig.

In Canterbury angekommen, schlenderte ich durch die alten Straßen, was mein Gemüt sehr beruhigte und mir das Herz erleichterte.

Seltsam. Den beschwichtigenden Zauber, der von Agnes ausging, schien selbst die Stadt zu teilen, wo sie wohnte. Die ehrwürdigen Domtürme und die Dohlen und Krähen, deren Stimmen hoch oben in der Luft die Stimmung noch ernster machten, als vollständiges Schweigen vermocht hätte, die verfallenen Portale, einst mit Bildwerken geschmückt, die längst herabgefallen und zu Staub geworden wie die ehrwürdigen Pilger, die zu ihnen emporgeblickt, – die stillen Winkel, wo vielhundertjähriger Efeu sich über spitze Giebel und Mauerruinen schlang, – die alten Häuser – das ländliche Bild von Feldern und Gärten und Obsthainen –, überall ruhte dieselbe stillheitere Luft, derselbe ruhige, sinnige, besänftigende Geist.

Als ich in Mr. Wickfields Haus trat, fand ich in der kleinen Stube im Erdgeschoß, wo früher Uriah Heep zu sitzen pflegte, Mr. Micawber eifrig mit Schreiben beschäftigt. Seinem jetzigen Stande gemäß schwarz angezogen, thronte er feierlich in der kleinen Kanzlei.

Mr. Micawber freute sich außerordentlich mich zu sehen, schien aber auch ein wenig verlegen. Er wollte mich sogleich zu Uriah führen, aber ich schlug es aus.

»Ich kenne das Haus von früher, Sie wissen doch«, sagte ich, »und werde mich schon hinauffinden. Wie gefällt Ihnen übrigens die Jurisprudenz, Mr. Micawber?«

»Mein lieber Copperfield, auf einen Mann, der ausgestattet ist mit den höheren Gaben der Phantasie, wirkt das Übermaß von Detail, das den juristischen Studien eigentümlich ist, einigermaßen unangenehm. Selbst in unserer Geschäftskorrespondenz«, sagte Mr. Micawber mit einem Blick auf ein paar Briefe, die er eben schrieb, »ist es dem Geiste nicht erlaubt, sich zu einer höhern Form des Ausdrucks aufzuschwingen. Aber dennoch ist es ein großartiges Studium. Ein wundervoller Beruf.«

Er teilte mir dann mit, daß er Uriah Heeps ehemalige Wohnung gemietet habe, und versicherte, daß sich Mrs. Micawber freuen werde, mich wieder einmal unter ihrem eignen Dach zu empfangen.

»Es ist eine niedrige Wohnung«, sagte er, »um einen Lieblingsausdruck meines Freundes Heep zu gebrauchen, aber sie bildet die erste Stufe zu einer anspruchsvolleren häuslichen Einrichtung.«

Ich fragte ihn, ob er bis jetzt mit seinem Freunde Heep zufrieden sei. Er stand auf, um sich zu versichern, daß die Türe gehörig geschlossen sei, ehe er mit leiserer Stimme antwortete:

»Lieber Copperfield, ein Mann, der unter dem Druck pekuniärer Verlegenheiten schmachtet, befindet sich der Mehrzahl der Menschen gegenüber im Nachteil. Diese Situation wird nicht besser, wenn der Druck der Lage die Annahme von pekuniären Akzidenzien nötig macht, ehe diese Akzidenzien eigentlich fällig sind. Ich kann nur sagen, daß mein Freund Heep auf Ansuchen, die ich nicht weiter auszumalen brauche, in einer Weise geantwortet hat, die ebensosehr seinem Kopf wie seinem Herzen zur Ehre gereichen muß.«

»Ich hätte nicht geglaubt, daß er mit seinem Geld so freigebig sein würde«, bemerkte ich.

»Verzeihen Sie«, sagte Mr. Micawber mit gezwungener Miene, »ich spreche von meinem Freunde Heep, wie ich ihn kennengelernt habe.«

»Es freut mich, daß Ihre Erfahrungen in diesem Punkte so günstig ausfielen«, erwiderte ich.

»Sie sind sehr gütig, lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und summte ein Liedchen vor sich hin.

»Sehen Sie Mr. Wickfield häufig?« fragte ich, um von etwas anderem zu sprechen.

»Nicht oft«, sagte Mr. Micawber leichthin. »Mr. Wickfield ist, darf ich wohl sagen, ein Mann von vortrefflichen Absichten; aber er ist kurz, er ist invalid.«

»Ich fürchte, sein Kompagnon will ihn dazu machen«, sagte ich.

»Lieber Copperfield«, sagte Mr. Micawber und rutschte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, »erlauben Sie mir eine Bemerkung. Ich befinde mich hier in einer Vertrauensstellung. Die Besprechungen mancher Themen, selbst mit Mrs. Micawber, einer Frau von so bemerkenswerter Klarheit des Geistes, ist meiner Überzeugung nach unverträglich mit den Funktionen, die mir jetzt obliegen. Ich möchte mir daher die Freiheit nehmen, Ihnen vorzuschlagen, daß wir in unserm freundschaftlichen Verkehr – der, hoffe ich, niemals gestört werden wird – eine Linie ziehen. Auf der einen Seite dieser Linie«, sagte Mr. Micawber und stellte sie auf dem Pulte mit dem Lineal dar, »ist das ganze Bereich des menschlichen Geistes mit einer einzigen unbedeutenden Ausnahme. Auf der andern liegt diese Ausnahme, nämlich die Angelegenheiten von Messrs. Wickfield & Heep mit allem, was dazu gehört. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß der Gefährte meiner Jugend es mir nicht verübeln wird, wenn ich seiner kühlern Überlegung diesen Vorschlag unterbreite.«

Obgleich ich an Mr. Micawber eine gewisse Unruhe wahrnahm, die ihn in beständiger Spannung zu erhalten schien, wie wenn seine neuen Pflichten ihm nicht recht paßten, fühlte ich mich doch nicht berechtigt beleidigt zu sein. Es schien ihn zu erleichtern, als ich ihm dies versicherte; und er schüttelte mir herzlich die Hand.

»Ich bin geradezu entzückt von Miss Wickfield, lassen Sie mich Ihnen das gestehen, Copperfield. Sie ist eine ausgezeichnete junge Dame von ungewöhnlichen Reizen, Eigenschaften und Tugenden. Auf Ehre!« sagte Mr. Micawber, küßte sich die Hand und verbeugte sich auf seine vornehmste Weise. »Ich liege Miss Wickfield zu Füßen! Hem.«

»Das wenigstens freut mich«, sagte ich.

»Lieber Copperfield, wenn Sie uns nicht an jenem prächtigen Nachmittag, den wir bei Ihnen zuzubringen das Vergnügen genossen, versichert hätten, daß D. Ihr Lieblingsanfangsbuchstabe sei, würde ich fraglos vorausgesetzt haben, es müßte das A. sein.«

Wir alle haben wohl schon das Gefühl kennengelernt, das uns gelegentlich überkommt, als wäre etwas schon lange, lange vorher gesagt und getan worden, als hätten wir in altersgrauer Zeit dieselben Gesichter, Gegenstände und Verhältnisse erlebt und wüßten genau, was im nächsten Augenblick geschehen wird, – ebenfalls aus alter Erinnerung her. Diese geheimnisvolle Empfindung war nie im Leben stärker in mir als bei diesen Worten Mr. Micawbers.

Ich verabschiedete mich von ihm vorläufig und trug ihm die besten Grüße an seine Familie auf.

Als er sich wieder auf seinen Stuhl setzte, die Feder nahm und den Kopf in dem steifen Kragen zurechtrückte, um bequemer schreiben zu können, fühlte ich deutlich, daß sich seit seiner neuen Beschäftigung zwischen ihm und mir eine Schranke erhoben hatte, die unserm Verkehr einen ganz andern Charakter gab.

Es war niemand in dem altertümlichen Besuchszimmer zugegen, obgleich mir Spuren von Mrs. Heeps Anwesenheit nicht entgingen. Ich warf einen Blick in das anstoßende Zimmer und fand Agnes neben dem Kamin an einem hübschen altmodischen Pulte schreibend.

Mein Schatten in der Tür veranlaßte sie aufzublicken.

Welch ein Genuß, die Ursache der freudigen Veränderung auf ihrem aufmerksamen Gesicht und der Gegenstand ihres lieblichen Aufschauens und Willkommengrußes zu sein!

»Ach, Agnes«, sagte ich, als wir nebeneinander saßen; »ich habe dich wieder so sehr vermißt.«

»Wirklich, Trotwood? Wieder und so bald!«

Ich nickte. »Ich weiß es nicht, wie es kommt, Agnes; mir ist, als ob mir eine geistige Eigenschaft fehlte, die ich eigentlich besitzen sollte. Du nahmst mir in der schönen, alten Zeit so das Denken ab, und ich sah in dir meine Beraterin und meine Stütze immerwährend, daß ich wirklich glaube, ich habe mir diese Eigenschaft zu erwerben versäumt.«

»Und was ist das für eine?« fragte Agnes heiter.

»Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Ich glaube, ich besitze doch Ausdauer und ernstes Streben?«

»Sicherlich!«

»Und Geduld, Agnes?« fragte ich mit einigem Zögern.

»Ja«, gab Agnes lachend zu, »leidlich.«

»Und doch«, sagte ich, »fühle ich mich manchmal so unglücklich, bin so schwankend und unentschlossen und unfähig, ruhig zu bleiben, daß mir etwas fehlen muß. – Selbstvertrauen möchte ich es vielleicht nennen.«

»Nenn es so, wenn du willst«, sagte Agnes.

»Schau mal her«, fuhr ich fort. »Du kommst nach London, ich vertraue auf dich, und sofort liegen ein Ziel und eine Laufbahn vor mir. Umstände lenken mich von dem Wege ab, und ich komme hierher und bin im Augenblick wie umgewandelt. Die Verhältnisse, die mir Schmerz bereiteten, sind dieselben, aber seit ich im Zimmer bin, hat sich ein Einfluß meiner bemächtigt, der mich sie so viel leichter ertragen läßt. Was ist das? Worin besteht dein Geheimnis, Agnes?«

Ihr Haupt war gesenkt, und sie blickte ins Feuer.

»Es ist die alte Geschichte. Lach nicht, wenn ich sage, es war immer im kleinen so wie jetzt in wichtigen Dingen. Meine alten Sorgen waren Unsinn, und jetzt sind sie Ernst. Aber sooft ich meine Adoptivschwester verlasse –«

Agnes sah mich an – mit einem himmlischen Gesicht – und reichte mir ihre Hand hin.

Ich drückte einen Kuß darauf.

»Sooft du mir gefehlt hast, Agnes, um mir gleich zu Anfang zu raten, mir zur Seite zu stehen, da ging ich stets irr und geriet in allerlei Schwierigkeiten. Und wenn ich schließlich immer wieder zu dir kam, da fand ich Frieden und Glück. Ich komme jetzt heim wie ein müder Wanderer, und wieder erfüllt mich die Seligkeit der Ruhe.«

Ich fühlte so tief, was ich sagte, und es rührte mich so aufrichtig, daß mir die Stimme versagte und ich das Gesicht mit den Händen bedeckte und in Tränen ausbrach.

In ihrer stillen schwesterlichen Weise machte mich Agnes bald meine Schwäche vergessen und ließ sich alles von mir erzählen, was sich seit unserm letzten Zusammentreffen begeben hatte.

»So, das ist alles, Agnes«, sagte ich, als ich fertig war. »Jetzt vertraue ich auf dich.«

»Aber du darfst nicht allein auf mich vertrauen, Trotwood. Du hast auch noch jemand anders.«

»Dora?«

»Gewiß.«

»Ja, ich habe dir noch nicht gesagt, Agnes«, begann ich ein wenig verlegen, »daß man auf Dora eigentlich schwer«, – nicht um alles in der Welt hätte ich die Worte ›vertrauen kann‹ herausgebracht, – »aber sie ist schwer – ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll, Agnes. Sie ist ein furchtsames kleines Geschöpf, leicht erschreckt und außer Fassung gebracht. Vor einiger Zeit, kurz vor ihres Vaters Tod, wollte ich – aber ich muß es dir ausführlich erzählen, wenn du Geduld hast.«

Ich erzählte Agnes von dem Kochbuch, dem Rechnungsführen, der Eröffnung meiner Armut und alles übrige.

»O Trotwood«, sagte sie mit einem Lächeln, »ganz deine alte überstürzte Weise! Du kannst ganz ernst in der Welt vorwärtsstreben und brauchst doch dabei nicht so mit der Tür ins Haus zu fallen bei einem furchtsamen, liebevollen und unerfahrenen Mädchen. Arme Dora!«

Ich hatte noch nie so liebliche und freundliche Milde in einer Stimme klingen hören. Ich empfand für Agnes so viel Dankbarkeit und bewunderte sie so sehr. Ich sah in einer schönen Zukunft die beiden nebeneinander als Freundinnen, jede der andern ein Schmuck und eine Zierde.

»Meiner Meinung nach wäre der ehrenhafteste Weg, an die zwei alten Damen zu schreiben«, sagte sie auf meine Frage, was wohl das beste sei. »Meinst du nicht auch, daß jedes Geheimnis ein unwürdiges Vorgehen bedeutet?«

»Ja, wenn du es meinst.«

»Ich kann solche Dinge nur schlecht beurteilen«, entgegnete Agnes mit bescheidenem Zögern, »aber meinem Gefühl nach ist Heimlichkeit deiner nicht würdig.«

»Meiner nicht würdig, weil du eine so hohe Meinung von mir hast, fürchte ich.«

»Deiner nicht würdig bei der Offenheit deines Charakters, und deshalb würde ich an diese beiden Damen schreiben. Ich würde so einfach und offen wie möglich alles Vorgefallene erzählen und sie um Erlaubnis bitten, manchmal ihr Haus besuchen zu dürfen. Da du jung bist und dir eine Stellung im Leben erst erringen willst, so glaube ich, du sagst am besten, du würdest dich selbstverständlich in alle Bedingungen fügen, die sie dir auferlegten. Ich würde sie bitten, dein Ersuchen nicht abzuschlagen, ohne erst mit Dora zu sprechen, wenn sie die Zeit für passend halten. Ich würde nicht zu leidenschaftlich sein«, sagte Agnes sanft, »oder zu viel versprechen. Ich würde mich auf meine Treue und Ausdauer verlassen – und auf Dora.«

»Aber wenn sie Dora durch Nennung meines Namens wieder erschrecken?« wandte ich ein. »Und wenn sie dann anfängt zu weinen und nichts von mir sagt?«

»Ist das wahrscheinlich?«

»Ach, sie ist so leicht einzuschüchtern wie ein Vögelchen. Es wäre doch möglich. Oder wenn die beiden Misses Spenlow – ältere Damen dieser Art sind manchmal recht wunderlich – nicht Personen sind, an die man sich in dieser Weise wenden könnte?«

»Ich glaube nicht, Trotwood, daß ich das weiter in Betracht ziehen würde. Vielleicht wäre es besser, nur zu bedenken, ob man recht handelt, und wenn man sich darüber klargeworden, es zu tun.«

Ich hatte keine Zweifel mehr. Mit erleichtertem Herzen, obgleich von der hohen Wichtigkeit meiner Arbeit ganz durchdrungen, widmete ich den ganzen Nachmittag dem Entwurf des Briefes, und Agnes überließ mir zu diesem großen Zweck ihr Pult. Aber zuerst ging ich hinunter, um Mr. Wickfield und Uriah Heep aufzusuchen.

Uriah fand ich in einem neuen, nach frischer Tünche riechenden Zimmer, das in den Garten hinausging. Inmitten eines Haufens von Büchern und Papieren sitzend sah er unaussprechlich niederträchtig aus. Er empfing mich mit seiner gewohnten kriecherischen Weise und stellte sich, als ob ihm Mr. Micawber von meiner Ankunft nichts gesagt hätte, – eine Vorspiegelung, die ich mir die Freiheit nahm zu bezweifeln. Er begleitete mich in Mr. Wickfields Zimmer, das ich kaum mehr wiedererkannte, so war es, um das des neuen Kompagnons auszustatten, der meisten Möbel beraubt worden. Hier stellte sich Uriah vor den Kamin, wärmte sich den Rücken und schabte sich mit der knochigen Hand das Kinn, während ich Mr. Wickfield begrüßte.

»Du bleibst bei uns, Trotwood, solange du in Canterbury bist?« sagte Mr. Wickfield, nicht ohne durch einen Blick Uriah um Erlaubnis zu fragen.

»Ist Platz für mich vorhanden?« fragte ich.

»O gewiß, Master Copperfield – ich wollte Mister sagen, aber es drängt sich mir immer so auf der Zunge«, sagte Uriah. »Ich mecht gern Ihr altes Zimmer räumen, wenns angenehm wäre.«

»Nein, nein«, Mr. Wickfield wehrte ab, »warum sollten Sie sich Unannehmlichkeiten bereiten? Es ist noch ein anderes Zimmer da.«

»Aber Sie wissen ja, ich mecht es von Herzen gerne tun, Sie kennen mich doch«, entgegnete Uriah mit einem Grinsen.

Um ein Ende zu machen, erklärte ich, nur das andere oder gar kein Zimmer annehmen zu wollen. Dabei blieb es, und ich verabschiedete mich bis Mittag und ging wieder hinauf.

Ich hatte gehofft, niemand anders zu finden als Agnes. Aber Mrs. Heep hatte um Erlaubnis gebeten, sich mit dem Strickzeug neben den Kamin in diesem Zimmer setzen zu dürfen. Sie behauptete, es läge bei der augenblicklichen Windrichtung besser für ihren Rheumatismus als das Gesellschafts- oder Speisezimmer. Obgleich ich sie ohne Reuegefühl der Barmherzigkeit des Windes auch auf der obersten Spitze des Doms überlassen haben würde, machte ich doch aus der Not eine Tugend und begrüßte sie freundschaftlich.

»Ich danke Ihnen allerergebenst«, sagte Mrs. Heep auf meine Frage nach ihrem Befinden, »aber ich befind mich nur leidlich wohl. Ich derf nicht sehr groß tun dermit; wenn ich meinen Uriah gut im Leben dastehen sehe, brauch ich nicht viel mehr anderes zu erwarten. Wie finden Sie mein Ury aussehen, Sir?«

Ich fand ihn natürlich genauso konfisziert aussehen wie immer und antwortete, daß ich keine Veränderung an ihm bemerkte.

»O, meinen Sie nicht, daß er sich verändert hat?« fragte Mrs. Heep. »Da mecht ich mir die Freiheit herausnehmen, anderer Meinung zu sein. Sehen Sie nicht etwas eine Abmagerung an ihm?«

»Keineswegs«, erwiderte ich.

»Wirklich nicht? Aber Sie sehen ihn nicht mit dem Auge einer Mutter an.«

Ihr Mutterauge war ein böses für die übrige Welt, dachte ich mir, als ich ihm begegnete, – so lieb sie auch ihren Sohn haben mochte – und ich glaube, sie und Uriah liebten einander wirklich. – Ihr Blick verließ mich und fiel auf Agnes.

»Bemerken Sie auch nicht, wie er sich abzehrt, Miss Wickfield?« forschte Mrs. Heep.

»Nein«, sagte Agnes und fuhr ruhig fort zu arbeiten. »Sie machen sich zu viel Sorge um ihn. Er ist vollkommen wohl.«

Mit einem kurzen verdrießlichen Schnaufen nahm Mrs. Heep ihren Strickstrumpf wieder vor.

Sie hörte nie auf zu stricken und ließ uns keinen Augenblick allein.

Ich war ziemlich zeitig vormittags gekommen, und wir hatten immer noch drei bis vier Stunden bis zum Essen vor uns, aber sie blieb sitzen und bewegte ihre Stricknadeln so einförmig, wie ein Stundenglas den Sand ablaufen läßt. Sie saß auf der einen Seite des Kamins, Agnes auf der andern und ich an dem Schreibpulte davor. Sooft ich über meinen Brief nachdenkend die Augen erhob, fühlte ich, wie Mrs. Heeps böser Blick an mir vorüberschweifte, dann zu mir zurückkehrte und wieder langsam auf das Strickzeug sank. Was sie strickte, weiß ich nicht, aber es sah aus wie ein Netz; in dem Glanze des Feuers glich sie einer bösen Zauberin, jetzt noch ohnmächtig der strahlenden Güte Agnes‘ gegenüber, aber in Bälde bereit, ihr Netz auszuwerfen.

Bei Tisch bewahrte sie mit derselben Unermüdlichkeit ihre beobachtende Haltung. Nach dem Essen kam ihr Sohn an die Reihe, der mich anschielte, als Mr. Wickfield, er und ich allein beisammen saßen und sich wand und krümmte, bis ich es kaum mehr aushalten konnte. Im Gesellschaftszimmer strickte und beobachtete die Mutter wieder. Die ganze Zeit über, wo Agnes sang und spielte, saß sie neben dem Piano. Einmal verlangte sie eine besondere Ballade, in die ihr Ury, – der in einem Lehnstuhl gähnte – ganz vernarrt wäre; und zuweilen sah sie sich nach ihm um und berichtete Agnes, daß er ganz ergriffen von der Musik sei. Sie sprach fast niemals, ohne ihn in irgendeiner Weise zu erwähnen; offenbar war das die ihr zugewiesene Pflicht.

Das dauerte bis zum Schlafengehen. Der Anblick von Mutter und Sohn, die wie zwei große Fledermäuse mit ihrem scheußlichen Anblick das Haus verdüsterten, machte mir die Nacht so unbehaglich, daß ich trotz Strickens und allem übrigen lieber unten geblieben wäre. Schlafen konnte ich fast gar nicht.

Am nächsten Tag begann das Stricken und Belauern von neuem und dauerte bis zum Abend.

Ich fand kaum Gelegenheit, zehn Minuten mit Agnes zu sprechen und ihr meinen Brief zu zeigen. Ich schlug ihr einen Spaziergang vor, aber da Mrs. Heep wiederholt über stärkeres Unwohlsein klagte, blieb Agnes aus Mitleid mit ihr zu Hause. In der Dämmerung ging ich selbst aus, um darüber nachzudenken, was ich zunächst tun sollte, und zu überlegen, ob ich Agnes länger verhehlen dürfte, was mir Uriah Heep in London gesagt hatte, denn es begann mich wieder sehr zu beunruhigen.

Ich hatte die letzten Häuser der Stadt auf der Straße nach Ramsgate noch nicht hinter mir, als mir durch die Dämmerung jemand nachlief. Der schleppende Gang und der ausgewachsene Überrock waren nicht zu verkennen. Ich blieb stehen, und Uriah Heep holte mich ein.

»Nun?« fragte ich.

»Wie schnell Sie gehen«, sagte er. »Meine Beine sind ziemlich lang, aber es hat mir wirklich Schweiß gekostet.«

»Wohin gehen Sie?« fragte ich.

»Ich wollte Sie begleiten, Master Copperfield, wenn Sie mir als einem alten Bekannten das Vergnügen eines Spaziergangs gestatten wollen.« Mit diesen Worten und einer schnellenden Bewegung seines Körpers, die ebensogut einschmeichelnd wie verhöhnend sein konnte, schritt er neben mir her.

»Uriah«, sagte ich nach einigem Schweigen so höflich wie möglich.

»Master Copperfield!«

»Die Wahrheit zu gestehen – Sie dürfen sich dadurch nicht verletzt fühlen –, ich wollte allein spazierengehen, weil ich zuviel Gesellschaft gehabt habe.«

Er sah mich von der Seite an und sagte mit seinem unangenehmsten Grinsen: »Sie meinen die Mutter.«

»Nun ja«, gab ich zu.

»Ach, Sie wissen, mir sind so niedrige Leut, und da mir uns unsrer Niedrigkeit bewußt sin, müssen mir wirklich Sorge tragen, daß mir nicht gegen die, was nicht so niedrig sin, zu kurz kommen. In der Liebe gelten alle Listen, Sir.«

Er erhob seine großen Hände bis zum Kinn, rieb sie sanft aneinander und kicherte in sich hinein und sah dabei einem bösartigen Pavian so ähnlich wie nur möglich.

»Schauen Sie«, fuhr er fort in seiner ekelhaften Art und wackelte mit dem Kopf. »Sie sind ein gefährlicher Nebenbuhler, Master Copperfield. Sie waren das immer. Sie begreifen.«

»Belauern Sie Miss Wickfield und vernichten Sie das Behagen ihrer Häuslichkeit also meinetwegen?« fragte ich.

»Ach, Master Copperfield, das sin sehr harte Worte.«

»Nennen Sie sie, wie Sie wollen. Sie wissen so gut wie ich, was ich sagen will, Uriah.«

»Gott, nein! Sie müssen es selbst in Worte bringen«, sagte er. »Wahrhaftig! Ich könnte es nicht.«

»Glauben Sie etwa«, – ich gab mir alle Mühe, Agnes‘ wegen so gemäßigt wie möglich gegen ihn zu sein, – »daß ich in Miss Wickfield etwas anderes sehe als eine mir sehr teuere Schwester?«

»Schauen Sie, Master Copperfield«, entgegnete er, »ich bin nicht verpflichtet diese Frage zu beantworten. Vielleicht ist es so, – vielleicht auch nicht.«

Etwas, was der niedrigen Listigkeit in seinem Gesicht und seinen wimperlosen Augen nur annähernd gleichgekommen wäre, habe ich nie gesehen.

»So hören Sie«, sagte ich. »Um Miss Wickfields willen.«

»Meine Agnes!« rief er mit einer verkrampften Windung seines Leibes aus. »Wollen Sie nicht so gut sein, sie Agnes zu nennen, Master Copperfield?!«

»Um Agnes Wickfields willen – der Segen des Himmels sei mit ihr.«

»Dank, Dank für diese Segnung, Master Copperfield!« unterbrach er mich.

»Ich will Ihnen sagen, was ich unter allen andern Umständen ebensogut, ich weiß nicht wem, gesagt hätte, meinetwegen dem Herrn Hans Strick –«

»Wem, Sir?« fragte Uriah mit vorgerecktem Halse und die Hände ans Ohr haltend.

»Dem Henker!« – Die unwahrscheinlichste Person, an die ich denken konnte, – obgleich Uriahs Gesicht dem Gedanken nicht so ganz fremd stand. »Ich bin mit einer andern jungen Dame verlobt. Ich hoffe, das genügt Ihnen.«

»Auf Ihre Seligkeit?« fragte Uriah.

Ich wollte empört meiner Erklärung die verlangte Bekräftigung geben, als er meine Hand ergriff und sie drückte.

»Ach, Master Copperfield. Wenn Sie sich herabgelassen hätten, mein Vertrauen zu erwidern, als ich an jenem Abend mein Herz vor Ihnen ausschüttete, hätte ich nie Zweifel in Sie gesetzt. Da es so steht, will ich Mutter gleich wegschicken und nur zu glücklich sein. Ich weiß, Sie werden die Vorsichtsmaßregeln eines liebenden Herzens entschuldigen, nicht wahr? Wie schade, Master Copperfield, daß Sie sich nicht herabließen, mein Vertrauen zu erwidern. Ich habe Ihnen gewiß jede Gelegenheit gegeben. Aber Sie haben sich nie bis zu mir herabgelassen, sosehr ich es gewünscht hätte. Ich weiß, Sie haben mich nie so gern gehabt wie ich Sie!«

Ununterbrochen drückte er mir mit seinen feuchten fischigen Fingern die Hand, während ich mir alle Mühe gab, sie ihm zu entziehen. Aber es gelang mir nicht. Er zog sie unter den Ärmel seines maulbeerfarbenen Überrockes, und ich ging fast gezwungen Arm in Arm mit ihm.

»Wollen mir nicht umkehren?« fragte er und wendete sich mit mir nach der Stadt zu, die jetzt der aufgehende Mond, die fernen Fenster versilbernd, beschien.

»Ehe wir von der Sache abbrechen, muß ich Ihnen sagen«, begann ich nach einem ziemlich langen Schweigen wieder, »daß ich der Meinung bin, Agnes Wickfield steht so hoch über Ihnen und ist allen Ihren Bewerbungen so weit entrückt wie der Mond dort oben.«

»Friedvoll! Nicht wahr, sie ist es!« sagte Uriah. »Ja. Jetzt gestehen Sie, Master Copperfield, selbst, daß Sie mich nicht so haben leiden können als ich Sie. Die ganze Zeit über haben Sie mich für zu niedrig gehalten, und das wundert mich nicht.«

»Ich liebe Beteuerungen der Demut nicht«, erwiderte ich, »überhaupt keine Beteuerungen.«

»Was sagt man!« wand sich Uriah, der in dem Mondschein ganz schwammig und bleifarben aussah. »Wußt ichs doch! Aber wie wenig bedenken Sie die Berechtigung der Unterwürfigkeit einer Person in meiner Stellung, Master Copperfield! Vater und ich, mir wurden beide in einer Stiftschule für Knaben erzogen, und Mutter ging in eine Freischule, was so eine Art Wohltätigkeitsanstalt war. Man lehrte uns allerlei Unterwürfigkeit – nicht viel anderes sonst vom Morgen bis Abend. Mir sollten uns demütigen vor dieser und jener Person; unsere Mützen hier abziehen und dort Verbeugungen machen und immer unsere Stellung kennen und denen, die über uns stehen, unterwürfig sein. Und deren waren so viele! Vater bekam die Anstaltmedaille, weil er so unterwürfig war. Ich auch. Vater wurde Küster und Totengräber, weil er demütig war. Er genoß unter den vornehmen Leuten den Ruf, sich so schicklich zu benehmen, daß man ihn anstellte. ›Sei demütig, Uriah!‹ sagte Vater stets zu mir, ›und du wirst es zu was bringen. Das wurde dir und mir immer in der Schule gepredigt. Und das fördert am meisten. Sei demütig‹, sagte Vater, ›und es wird dir gut anschlagen.‹ Und wirklich, es ist nicht schlecht gegangen.«

Mir fiel es heute zum ersten Mal ein, daß diese verabscheuenswürdige Hülle falscher Demut aus anderer Quelle stammen könnte als aus dem Blute der Familie Heep. Ich hatte wohl die Ernte gesehen, aber nie die Saat bedacht.

»Als ich noch ein kleiner Knabe war«, sagte Uriah, »erfuhr ich, was Demut ausrichten kann, und ich gewöhnte sie mir an. Ich aß bescheidne Rationen mit Appetit. Ich hielt bei meinem Lernen an einem bescheidnen Punkte still und sagte: halt ein. Als Sie mir anboten, mir Lateinisch zu lehren, da wußte ichs besser. ›Die Leute sehens gern, wenn sie über einem stehen‹, sagte Vater, ›darum halte dich unten.‹ Ich bin jetzt noch eine sehr demütige Person, Master Copperfield, aber ich habe ein bißchen Macht.«

Er sagte dies, – ich sah es in seinem vom Mondschein erhellten Gesicht – um mir zu verstehen zu geben, daß er diese Macht bis aufs letzte auszunützen entschlossen sei. An seiner Niederträchtigkeit, seiner List und Bosheit hatte ich nie gezweifelt, aber jetzt erkannte ich zum ersten Mal genau, welch niedriger, unbarmherziger und rachsüchtiger Geist in ihm durch die frühzeitige und langjährige Unterdrückung genährt worden war.

Die Auseinandersetzung seiner Erziehung hatte für mich wenigstens die angenehme Folge, daß er die Hand von meinem Arme nahm, um sich abermals das Kinn zu streicheln. Ich beschloß, keine neue Annäherung mehr zu dulden, und wir kehrten nebeneinander nach der Stadt zurück, ohne unterwegs viel Worte zu verlieren.

Ob ihn das von mir Gehörte oder der Rückblick auf seine Jugend aufgeheitert hatte, weiß ich nicht, aber er war aus irgendeinem Grunde gehobener Stimmung. Er sprach bei Tisch mehr als gewöhnlich, fragte seine Mutter, die vom Augenblicke seines Wiedererscheinens im Hause an ihre Wachsamkeit aufgab, ob er nicht zu alt werde für einen Junggesellen, und warf einmal auf Agnes einen solchen Blick, daß ich alles, was ich besaß, für die Erlaubnis hingegeben hätte, ihn zu Boden schlagen zu dürfen.

Als Mr. Wickfield, er und ich nach dem Essen allein waren, hob sich seine Laune noch mehr. Er hatte wenig oder gar keinen Wein getrunken, und ich vermute, es war nur seine Siegesgewißheit, die, vielleicht noch durch die Versuchung, meine Anwesenheit zur Entfaltung seiner Macht zu benutzen, gesteigert, ihn so anregte.

Es war mir schon am Tag vorher aufgefallen, daß er Mr. Wickfield zum Trinken zu verführen suchte, und gehorsam einem Blick von Agnes hatte ich mich selbst auf ein Glas beschränkt und dann vorgeschlagen, zu den Damen zu gehen. Ich wollte heute dasselbe tun, aber Uriah kam mir zuvor.

»Mir sehen nur selten unsern gegenwärtigen Gast, Sir«, begann er zu Mr. Wickfield gewendet, der von ihm in jeder Beziehung abstechend am entferntesten Ende des Tisches saß, »ich möchte vorschlagen, seine Anwesenheit noch mit ein paar Gläsern Wein zu feiern, wenn Sie nichts dagegen haben. – Mr. Copperfield, auf Ihr Wohl und Gesundheit!«

Ich mußte anstandshalber seine mir entgegengestreckte Hand annehmen, und dann ergriff ich mit ganz andern Gefühlen die meines gebrochnen alten Freundes, seines Teilhabers.

»Nun, Freund Partner«, sagte Uriah, »wenn ich mir die Freiheit nehmen derf, – wollen Sie nicht auch noch einen passenden Toast auf Copperfield ausbringen?«

Ich will darüber hinweggehen, wie Mr. Wickfield zuerst meine Tante, dann Mr. Dick, dann die Commons, dann Uriah leben ließ und jeden Toast zweimal trank – wie er, sich seiner Schwäche wohl bewußt, sich vergeblich bemühte, ihrer Herr zu werden, wie seine Scham über Uriahs Benehmen mit der Angst ihn zu reizen in ihm kämpfte, wie Uriah Heep sich mit sichtlichem Frohlocken wand und krümmte und ihn vor mir zur Schau stellte.

»Nun, Freund Partner«, sagte Uriah schließlich, »jetzt will ich noch einen andern Toast ausbringen und erlaube mir, um hohe Gläser zu bitten, denn er soll der Göttlichsten ihres Geschlechtes gelten.«

Mr. Wickfield hielt sein leeres Glas in der Hand. Ich sah, wie er es niedersetzte, wie er einen Blick auf das Bild warf, das Agnes so ähnlich sah, die Hand auf seine Stirne legte und in den Lehnstuhl zurücksank.

»Ich bin eigentlich eine viel zu niedrige Person, um ihre Gesundheit auszubringen«, fuhr Uriah fort, »aber ich bewundere sie – ich bete sie an.«

Kein physischer Schmerz, der Mr. Wickfields graues Haupt hätte treffen können, konnte mir schrecklicher sein als die geistige Qual, die er vergeblich durch Verkrampfen der Hände zu verbergen suchte.

»Agnes«, fuhr Uriah fort, der entweder nicht auf ihn sah oder seine Gebärde nicht verstand, »Agnes Wickfield ist, derf ich wohl sagen, die Göttlichste ihres Geschlechts. Derf ich unter Freunden offenherzig sprechen? Ihr Vater zu sein ist eine stolze Auszeichnung, aber ihr Gatte –«

Möge ich nie wieder einen solchen Schrei hören wie den, den Mr. Wickfield ausstieß, als er vom Tische aufsprang.

»Was ist los?« Uriah fuhr auf und wurde leichenblaß. »Sie sind doch nicht verrückt geworden, Mr. Wickfield, hoffe ich! Wenn ich sage, ich besitze so viel Ehrgeiz, Ihre Agnes zu meiner Agnes machen zu wollen, so habe ich dazu so gut ein Recht wie jeder andere.«

Ich hielt Mr. Wickfield mit meinen Armen umschlungen, beschwor ihn bei allem, was mir einfiel, und bei seiner Liebe zu Agnes, sich ein wenig zu beruhigen. Er gebärdete sich wie wahnsinnig, zerraufte sich das Haar, schlug sich vor die Stirn, versuchte sich von mir loszureißen, sprach kein Wort und starrte ins Leere. Blind gegen etwas Unsichtbares ankämpfend, das Gesicht verzerrt und mit stieren Augen – ein entsetzliches Schauspiel!

Ich beschwor ihn unzusammenhängend, aber in der inbrünstigsten Weise, sich nicht seiner Verzweiflung hinzugeben, sondern mich anzuhören. Ich bat ihn, an Agnes zu denken, mich mit ihr in Verbindung zu bringen, sich daran zu erinnern, wie sie und ich zusammen aufgewachsen waren, wie ich sie verehrte und liebte, sie, seine Freude und seinen Stolz!

Ich versuchte ihm ihr Bild in jeder Gestalt vorzuführen; ich warf ihm sogar vor, daß er nicht Festigkeit genug habe, ihr den Anblick einer solchen Szene zu ersparen. Vielleicht gelang es mir, ihn zu beruhigen, oder ließ seine Leidenschaftlichkeit von selbst nach, allmählich sträubte er sich weniger, sah mich anfangs leer, dann mit dankbarem Ausdruck in den Augen an und murmelte: »Ich weiß, Trotwood, ihr seid meine Lieblinge. Das Kind und du – ich weiß. Aber sieh ihn an.«

Er deutete auf Uriah, der bleich und starr in einer Ecke stand, ganz bestürzt, sich in seinen Berechnungen so getäuscht zu sehen.

»Sieh diesen Folterknecht an! Vor ihm habe ich Schritt um Schritt Namen und Ruf, Friede und Ruhe, Haus und Familie aufgegeben.«

»Ich habe für Sie Namen und Ruf, Friede und Ruhe, Haus und Familie erhalten«, sagte Uriah mit einer hastigen, bestürzten Miene, bemüht, einzulenken. »Seien Sie nicht verrückt, Mr. Wickfield! Wenn ich ein bißchen weiter gegangen bin, als Sie vorbereitet waren, kann ich doch einen Schritt zurück tun, dächte ich. Es ist doch noch nichts geschehen!«

»Ich forschte bei allem nach einfachen Beweggründen«, sagte Mr. Wickfield, »und begnügte mich mit dem Bewußtsein, seinen Eigennutz an mich gefesselt zu haben, als ich ihn aufnahm. Aber sieh ihn – sieh ihn an jetzt in seiner wahren Gestalt.«

»Sie täten auch besser, ihn zum Schweigen zu bringen, Copperfield«, rief Uriah und wies zitternd mit seinem langen Zeigefinger auf mich. »Er wird gleich etwas sagen – hören Sie doch zu –, was ihm später leid tun wird, Ihnen verraten zu haben.«

»Ich will alles sagen«, schrie Mr. Wickfield verzweifelt. »Warum sollte ich nicht in der Hand jedes Menschen sein, wenn ich in der Ihrigen bin!«

»Hüten Sie sich! Ich sag es Ihnen!« rief Uriah mir wieder warnend zu. »Wenn Sie ihn nicht zum Schweigen bringen, sind Sie nicht sein Freund. Warum Sie nicht in der Hand jedes Menschen sein dürfen, Mr. Wickfield? Weil Sie eine Tochter haben! Sie und ich wissen, was mir wissen, nicht wahr?! Lassen Sie die Toten ruhen – wer wird es zur Sprache bringen? Ich gewiß nicht! Sehen Sie denn nicht, daß ich so unterwürfig bin, wie es nur sein kann?! Ich sag Ihnen doch, ich bin zu weit gegangen, und es tut mir leid. Was wollen Sie denn mehr, Sir?!«

»Ach Trotwood, Trotwood!« rief Mr. Wickfield, die Hände ringend. »Was ist aus mir geworden, seitdem ich dich das erste Mal in diesem Hause sah! Es ging schon damals mit mir bergab, aber durch welche Wüsteneien bin ich seitdem gewandert. Schwaches Gewährenlassen hat mich zugrunde gerichtet. Ein Schwelgen in der Erinnerung und ein Schwelgen im Vergessen. Mein Gram um die Mutter meines Kindes wurde zu einer Krankheit. Alles, was ich berührte, habe ich angesteckt. Ich habe elend gemacht, was ich am teuersten liebe, und ich weiß es, und du weißt es. Ich hielt es für möglich, ein Wesen in dieser Welt wahrhaftig lieben zu können und alle übrigen auszuschließen; ich hielt es für möglich, für eine Dahingeschiedne wahrhaft trauern zu können, ohne Anteil an dem Kummer aller andern Trauernden zu nehmen. So haben sich die Lehren, die mir das Leben gab, verzerrt. Ich habe von meinem eignen kranken, feigen Herzen gezehrt, und es hat von mir gezehrt. Geizend mit meinem Gram, geizend mit meiner Liebe, selbstsüchtig in elender Scheu vor der dunkeln Seite der beiden Gefühle zurückschrecken – o, sieh her, welche Ruine ich bin, und hasse mich, verabscheue mich!«

Er sank in seinen Stuhl und schluchzte leise. Seine Aufregung ließ mehr und mehr nach. Uriah kam aus seiner Ecke hervor.

»Ich weiß es ja nicht, was ich alles im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit getan habe«, sagte Mr. Wickfield und streckte die Hände gegen mich aus, als wolle er ein Verdammungsurteil bittend abwehren. »Er, er weiß es am besten«, – er blickte auf Uriah Heep – »denn er hat immer als Einflüsterer hinter mir gestanden. Da siehst du den Mühlstein um meinen Hals. Du findest ihn in meinem Haus und in meiner Kanzlei. Du hörst, was Heep noch vor wenigen Minuten sprach, was brauche ich noch mehr zu sagen!«

»Sie haben überhaupt nicht nötig, soviel oder nur halb soviel oder überhaupt etwas zu sagen«, sprudelte Uriah, halb tückisch, halb kriecherisch hervor. »Sie hätten auch gar nicht so viel Aufhebens davon gemacht, wenn nicht der Wein gewesen wäre. Sie werden morgen klarer drüber denken, Sir. Wenn ich zuviel gesagt habe oder mehr als ich meinte, was tut das! Ich habe es doch wieder zurückgenommen!«

Die Türe ging auf, und Agnes glitt herein, ohne eine Spur von Farbe auf ihrem Gesicht, legte den Arm um Mr. Wickfields Hals und sagte gefaßt: »Papa, du bist nicht wohl. Komm mit mir!«

Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter wie in tiefer Scham und verließ mit ihr das Zimmer. Ihre Blicke begegneten den meinen nur eine Sekunde lang, aber ich erkannte, wie viel sie von dem Geschehenen wußte.

»Ich hätte nicht gedacht, daß er es so übel aufnehmen würde, Master Copperfield«, sagte Uriah. »Schadet nichts. Morgen werden mir wieder gute Freunde sein. Es ist zu seinem Besten. Ich bin immer demütigst um sein Bestes besorgt.«

Ich gab keine Antwort und ging hinauf in das stille Zimmer, wo Agnes so oft neben mir, wenn ich studierte, gesessen hatte. Es wurde spät nachts, doch niemand kam. Ich nahm ein Buch und versuchte zu lesen. Ich hörte die Uhren zwölf Uhr schlagen und las immer noch, ohne zu wissen was, als Agnes‘ Hand mich berührte.

»Du reisest morgen frühzeitig ab, Trotwood. Laß uns jetzt Abschied nehmen.«

Sie hatte geweint, aber ihr Antlitz war jetzt ruhig und schön.

»Gott segne dich!« sagte sie und gab mir die Hand.

»Liebste Agnes, ich sehe, du wünschest nicht von dem Vorfall heute abend zu sprechen ? aber läßt sich denn gar nichts tun?«

»Wir müssen unser Vertrauen auf Gott setzen«, gab sie zur Antwort.

»Kann ich nichts tun, ich – der immer mit seinen kleinen Schmerzen zu dir kommt.«

»Und die meinigen damit um soviel leichter macht«, erwiderte sie. »Nein, lieber Trotwood.«

»Es klingt anmaßend von mir, liebe Agnes, wo ich so arm an allem bin und du so reich an Güte, Entschlossenheit und allen edlen Eigenschaften, – an dir zu zweifeln oder dir Ratschläge zu geben, aber du weißt, wie sehr ich dich liebe und wie viel ich dir verdanke. Du wirst dich niemals einem falschen Pflichtgefühl aufopfern, nicht wahr, Agnes?«

Einen Augenblick lang viel aufgeregter als ich sie je gesehen, trat sie einen Schritt zurück.

»Sage, daß du nicht an so etwas denkst, liebe Agnes, die du mir mehr bist als eine Schwester! Denke, was es heißt, ein Herz und eine Liebe wie die deinige hinzugeben!«

Noch viele, viele Jahre später sah ich dieses Gesicht vor mir aufsteigen mit einem schnell verschwindenden Blick, nicht erstaunt, nicht anklagend, nicht bedauernd.

Gleich darauf wurde ihr Ausdruck zu einem lieblichen Lächeln, und sie sagte zu mir, sie habe ihretwegen keine Furcht, noch brauchte ich welche zu haben. Dann nahm sie Abschied von mir, nannte mich Bruder und ging.

 

Der Tag war noch nicht angebrochen, als ich vor dem Gasthof auf die Landkutsche stieg. Eben wollten wir abfahren, da tauchte in der Dämmerung Uriahs Kopf auf.

»Copperfield«, sagte er mit einem heiseren Flüstern, als er sich an dem eisernen Geländer des Daches festhielt, »ich glaubte, Sie würden es gerne hören vor Ihrer Abreise, daß alles zwischen uns wieder geebnet ist. Ich war heute früh in seinem Zimmer und habe alles in Ordnung gebracht. Obgleich ich nur eine niedrige Person bin, bin ich doch für ihn von Nutzen, und er versteht sich auf sein Interesse, wenn er nicht berauscht ist. Was für ein angenehmer Mann er doch im Grunde ist, Master Copperfield!«

Ich erwiderte bloß, ich freute mich, daß er ihn um Verzeihung gebeten habe.

»O selbstverständlich! Bei einer niedrigen Person, was ist da eine Bitte um Verzeihung! Nichts ist leichter! ? Noch eins. Haben Sie schon einmal«, sagte Uriah mit einem Zucken, »eine Birne gepflückt, ehe sie reif war, Master Copperfield?«

»Ich glaube wohl.«

»Das tat ich gestern abend, aber sie wird schon noch reif werden. Nur abwarten muß man es. Ich kann warten!«

Nach einem vor Worten übersprudelnden Abschied stieg er wieder hinunter, als der Kutscher sich auf den Bock setzte. Ich weiß nicht, ob er etwas kaute, um sich gegen die rauhe Morgenluft zu schützen, aber er machte Bewegungen mit seinem Mund, als wäre die Birne schon reif und er schmatze mit den Lippen danach.

40. Kapitel Der Wanderer


40. Kapitel Der Wanderer

Wir hatten über diese Vorfälle abends ein sehr ernstes Gespräch in der Buckingham Straße. Meine Tante nahm lebhaftesten Anteil daran und ging mehr als zwei Stunden lang mit verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. Das tat sie stets, wenn ihre Stimmung besonders aus dem Gleichgewicht geraten war. Jetzt schien sie so beunruhigt, daß sie die Schlafzimmertür öffnete, um mehr Platz zum Auf- und Abgehen zu haben; und während Mr. Dick und ich ruhig am Kamin saßen, ging sie auf ihrer abgesteckten Bahn in immer gleichem Schritt und mit der Regelmäßigkeit eines Pendels auf und ab.

Als Mr. Dick schlafen gegangen war, setzte ich mich hin, um den Brief an die beiden alten Damen zu schreiben. Meine Tante, müde geworden, saß, den Oberrock wie gewöhnlich in die Höhe gesteckt, am Kamin. Anstatt wie sonst das Glas auf den Knien zu halten, ließ sie es unbeachtet auf dem Kaminsims stehen und sah mich gedankenvoll an, das Kinn auf die linke Hand gestützt. Sooft ich ihrem Blicke begegnete, sagte sie: »Ich bin in der allerbesten Stimmung, lieber Trot, aber ich bin unruhig und besorgt.«

In meiner Geschäftigkeit bemerkte ich erst, als sie schon zu Bett gegangen war, daß sie ihren Schlaftrunk unberührt auf dem Kaminsims hatte stehenlassen.

»Ich kann es heute nicht über das Herz bringen, ihn zu trinken, Trot«, erwiderte sie, als ich an die Tür klopfte und sie darauf aufmerksam machte.

Am Morgen las sie meinen Brief an die beiden alten Damen und billigte ihn. Ich brachte ihn zur Post und hatte dann weiter nichts mehr zu tun, als so geduldig wie nur möglich auf eine Antwort zu warten. In einer solchen Wartestimmung befand ich mich schon eine volle Woche, als ich eines Abends bei Schneewetter den Doktor verließ und nach Hause ging.

Es war bitterkalt und ein schneidender Nordost wehte. Gegen Abend legte sich der Sturm und es schneite in großen, schweren, dicken Flocken. Das Geräusch der Räder und Tritte klang so gedämpft, als wären die Straßen mit Federn bestreut.

Mein kürzester Nachhauseweg – den ich natürlich bei solchem Wetter wählte – ging durch die Saint Martin’s Lane. Die Kirche, die der Straße ihren Namen gibt, stand damals weniger frei als jetzt. Als ich an den Stufen des Portals vorüberging, begegnete ich einer Frauensperson. Sie sah mich an, ging über die schmale Straße und verschwand. Ich kannte doch das Gesicht! Irgendwo hatte ich es gesehen! Ich konnte mich nur nicht entsinnen, wo. Es knüpften sich an das Gesicht Erinnerungen, die mir tief ans Herz griffen. Aber ich dachte an ganz andere Dinge und war verwirrt.

 

Auf den Stufen der Kirche stand ein Mann, der, über ein Bündel gebückt, es ordnete, um es besser auf die Schulter nehmen zu können. Wir blickten einander im selben Augenblick ins Gesicht. Ich stand Mr. Peggotty gegenüber.

Jetzt besann ich mich auch auf das Frauenzimmer. Es war Marta Endell gewesen.

Wir schüttelten uns herzlich die Hände. Anfangs konnte keiner von uns ein Wort hervorbringen.

»Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty und drückte mir fest die Hand. »Es tut meinem Herzen wohl, Sie zu sehen. Willkommen! Willkommen!«

»Willkommen, mein guter alter Freund!« sagte ich.

»Ich machte mir so meine Gedanken, ob ich Sie heute abend noch aufsuchen könnte, aber ich weiß, daß Sie mit Ihrer Tante zusammenwohnen – denn ich bin unten gewesen in Yarmouth –, und fürchtete, es sei zu spät. Ich wäre morgen früh ganz zeitig gekommen, ehe ich wieder abreiste.«

»Wieder?«

»Ja, Sir.« Er nickte geduldig mit dem Kopf. – »Ich will morgen wieder fort.«

»Wohin gehen Sie jetzt?«

»Ich wollte mir ein Nachtquartier suchen«, sagte er und schüttelte den Schnee aus seinem langen Haar. »Irgendwo.«

Zu jener Zeit führte ein Nebeneingang in den Hof des »Goldnen Kreuzes«, des Gasthofs, der mir in Verbindung mit Mr. Peggottys Unglück so denkwürdig war und in dessen unmittelbarer Nähe wir uns befanden. Ich wies auf den Torweg, hängte mich in Mr. Peggotty ein und wir gingen hinüber. Zwei oder drei Gastzimmer mündeten auf den Hof hinaus, und da das eine leer war und ein gutes Feuer darin brannte, zog ich ihn mit hinein.

Als ich ihn bei Licht sah, bemerkte ich, daß nicht nur sein Haar lang und wirr, sondern auch sein Gesicht von der Sonne braun gebrannt war. Die Furchen auf Wangen und Stirne schienen tiefer und die Haare grauer geworden zu sein, aber er sah sehr kräftig und wie ein Mann aus, den ein fester Wille aufrecht erhält und nichts ermüden kann. Er schüttelte den Schnee von Hut und Kleidern und Bart, während ich diese Beobachtung machte.

»Ick will Sej vertellen, wo ick wesen bün, Masr Davy, und wat ick erfahren hew. Ick bün wiet wesen und hew wenig erfahren, aber ick will et Sej verteilen.«

Ich schellte, um etwas Warmes zum Trinken zu bestellen. Er wollte nichts nehmen als Ale, und während es geholt und am Feuer gewärmt wurde, saß er in Gedanken da. Es lag ein schöner, tiefer Ernst auf seinem Gesicht, den ich nicht zu stören wagte.

»Als sie noch ein Kind war«, begann er endlich, »sprach sie mir oft von dem Meere und von den Ufern, wo die See dunkelblau wird und glänzend und funkelnd in der Sonne daliegt. Manchmal dachte ich, sie denke soviel daran, weil ihr Vater ertrunken war. Ich weiß nicht, ob sie vielleicht glaubte oder hoffte, er wäre hingetrieben nach jenen Ländern, wo die Blumen immer blühen und der Himmel immer heiter ist.«

»Wohl möglich, daß sie solch kindliche Phantasien gehabt hat.«

»Als sie – mir verlorenging, da wußte ich gleich, daß – er – sie nach jenen Gegenden bringen würde. Ich wußte es gleich, denn er hatte ihr oft Wunderdinge von ihnen erzählt und sich durch solche Geschichten zuerst Gehör bei ihr verschafft. Als wir bei seiner Mutter waren, da merkte ich gleich, daß mich meine Ahnung nicht täuschte. Ich ging über den Kanal nach Frankreich.«

Ich sah die Türe sich bewegen und Schnee hereinwehen. Dann öffnete sie sich noch ein wenig weiter, und eine Hand griff vorsichtig in die Spalte, um sie offenzuhalten.

»Ich machte einen englischen Gentleman ausfindig, der von der Regierung angestellt ist, und sagte ihm, ich wollte meine Nichte aufsuchen. Er verschaffte mir die nötigen Papiere – ich weiß nicht recht, wie sie heißen –, und er wollte mir auch Geld geben, aber ich dankte ihm, denn ich brauchte es nicht. Ich bin ihm dankbar für alles, was er getan hat. ›Ich habe schon an verschiedene Orte, durch die Sie kommen werden, Briefe vorausgeschickt‹, sagte er zu mir, ›und werde viele aufmerksam machen, die denselben Weg reisen, und viele werden Sie erkennen, wenn sie Ihnen begegnen, und Ihnen behilflich sein.‹ Ich sprach ihm, so gut ich konnte, meine Dankbarkeit aus und reiste durch Frankreich weiter.«

»Allein und zu Fuß?«

»Meistens zu Fuß, manchmal im Marktwagen mit den Landleuten, manchmal in leeren Leiterwagen. Manche Meile des Tags zu Fuß und oft mit irgendeinem armen Soldaten, der zu seinen Verwandten nach Hause wanderte. Ich konnte nicht mit ihnen reden«, sagte Mr. Peggotty, »und sie nicht mit mir, aber wir leisteten uns doch Gesellschaft auf der staubigen Straße.«

Ich hätte das schon an der Herzlichkeit seines Tones erraten.

»Wenn ich in eine Stadt kam, wartete ich vor einem Gasthof, bis sich jemand fand, der Englisch verstand, was meistens der Fall war.

Dann sagte ich ihm, daß ich meine Nichte suchte, und ließ mir erzählen, was für Herrschaften im Hause wären, und wenn ich glaubte, daß Emly dabei sein könnte, so wartete ich ab, bis sie heraustraten. Wenn ich später in ein Dorf zu armen Leuten kam, da kannten sie mich schon. Das Gerücht war mir vorausgeeilt. Sie räumten mir einen Platz in ihren Hütten ein und gaben mir das Beste, was sie hatten, zu essen und zu trinken und luden mich ein, bei ihnen zu schlafen. Und manche Frau, Masr Davy, die eine Tochter in Emlys Alter hatte, wartete draußen vor dem Dorf am Wegkreuz, um mir solche Freundschaft zu erweisen. Manchen waren die Töchter gestorben. Nur Gott weiß, wie gut diese Mütter gegen mich waren.«

Marta stand an der Tür. Ich sah ihr abgezehrtes, lauschendes Gesicht ganz deutlich. Ich fürchtete nur, er werde sich umdrehen und sie sehen.

»Oft setzten sie mir ihre Kinder, vornehmlich die Mädchen, auf den Schoß, und manchen Abend hätten Sie mich vor solchen Türen sitzen sehen können, als ob es meines Lieblings Kinder gewesen wären!«

Überwältigt von plötzlichem Schmerz schluchzte er laut. Ich legte meine bebende Hand auf die seinen, mit denen er sein Gesicht verdeckte.

»Ich danke Ihnen, Sir, beachten Sie es nicht weiter!«

Und er fuhr in seiner Erzählung fort. »Oft begleiteten sie mich wohl eine halbe Stunde lang; und wenn ich ihnen beim Abschied sagte: Ich danke euch, Gott segne euch! schienen sie es immer zu verstehen und antworteten freundlich. Endlich erreichte ich das Meer. Für einen Seemann wie ich ist es nicht schwer, sich die Überfahrt nach Italien zu verdienen. Das können Sie sich leicht denken. Dann wanderte ich weiter wie früher. Ich wäre vielleicht von Stadt zu Stadt, vielleicht durch das ganze Land gewandert, wenn ich nicht Nachricht erhalten hätte, man habe sie in den Schweizer Bergen gesehen. Jemand, der seinen Bedienten kannte, hatte sie dort alle drei getroffen und erzählte mir, wie sie reisten und wo sie sich aufhielten. Tag und Nacht wanderte ich, Masr Davy, den Bergen entgegen, Tag und Nacht, aber je weiter ich kam, desto weiter schienen sie vor mir zurückzutreten. Aber endlich kam ich doch hin. In der Nähe des Ortes, wo Emly sein sollte, fing ich an, bei mir zu denken: was soll ich tun, wenn ich sie vor mir sehe?«

Die lauschende Gestalt stand immer noch an der Tür, und ihre Hände flehten mich an, sie nicht zu verraten.

»Ich habe nie an ihr gezweifelt«, fuhr Mr. Peggotty fort. »Nein, nicht ein bißchen! Sie soll nur mein Gesicht sehen, meine Stimme hören, und sie wird sich erinnern an die Häuslichkeit, die sie verlassen hat, und an das Kind, das sie gewesen ist, – und wenn sie eine Königin geworden wäre, sie würde niedergefallen sein zu meinen Füßen. Ich weiß es gewiß. Wie oft in meinen Träumen hatte ich sie rufen hören: Onkel! und sie tot vor mir niederfallen sehen, und immer hatte ich sie aufgehoben und zu ihr gesagt: Liebe Emly, ich komme, um dir Verzeihung zu bringen und dich mit heimzunehmen.«

Er hielt inne, nickte mit dem Kopf und fuhr mit einem Seufzer fort zu erzählen.

»Er sollte mich nichts angehen. Emly war mir alles. Ich würde ein Bauernkleid für sie kaufen, und ich wußte, wenn ich sie einmal fände, würde sie neben mir hergehen auf diesen rauhen Wegen und mich nie, nie mehr verlassen. Ihr dieses Kleid anzuziehen und das, was sie getragen, wegzuwerfen, sie wieder auf meinen Arm zu nehmen und der Heimat entgegenzuwandern, – manchmal auf dem Weg auszuruhen und ihre wunden Füße und ihr noch wunderes Herz zu heilen, an weiter dachte ich nichts. Ich glaube kaum, daß ich ihn auch nur mit einem Blick angesehen hätte. Aber Masr Davy, es sollte nicht sein – noch nicht. Ich kam zu spät, und sie waren schon fort. Wohin, konnte ich nicht erfahren. Einige sagten hierhin, andere dorthin, aber nirgends fand ich Emly und reiste nach Haus.

»Wann war das?« fragte ich.

»Vor ein paar Tagen bekam ich das alte Boot nach Dunkelwerden zu Gesicht, und das Licht schimmerte im Fenster. Als ich herankam und durch die Scheiben blickte, sah ich die alte treue Mrs. Gummidge allein am Feuer sitzen, wie wir es ausgemacht hatten. Ich rief: »Erschrick nicht. Es ist Daniel«, und ging hinein. Ich hätte nie gedacht, daß mir das alte Boot würde so fremd vorkommen können.«

Er zog jetzt aus seiner Brusttasche sehr behutsam ein Paket von zwei oder drei Briefen heraus und legte es auf den Tisch.

»Der erste hier«, sagte er, »kam, ehe ich eine Woche fort war. Eine Fünfzig-Pfundnote in einen Bogen Papier gewickelt lag darin, an mich adressiert und nachts unter die Türe gesteckt. Sie hatte versucht, ihre Handschrift zu verstellen, aber vor mir kann sie nichts verbergen.«

Er faltete den Brief sehr sorgfältig genau in derselben Form wieder zu und legte ihn zur Seite.

»Dieser zweite kam einige Tage später an Mrs. Gummidge.«

Er sah ihn eine Weile an, reichte ihn mir und setzte mit leiser Stimme hinzu:

»Seien Sie so gut und lesen Sie ihn, Sir!«

Ich las folgendes:

O, was wirst Du nur fühlen, wenn Du diese Schrift siehst und weißt, sie kommt von meiner verruchten Hand! Aber versuche – nicht um meinetwillen, sondern um meines Onkels Güte willen – versuche, nur eine kleine, kleine Weile mit mildem Herzen meiner zu gedenken; versuche, bitte, tue es, barmherzig zu sein gegen ein unglückliches Mädchen und auf einen Zettel zu schreiben, ob er gesund ist und was er von mir sagte, bevor Ihr aufhörtet, meinen Namen unter Euch zu nennen, und ob er abends, wenn die alte Stunde meines Nachhausekommens naht, dreinschaut, als ob er an die denkt, die er einst so innig liebte. Mir ist, als wollte mir das Herz brechen, wenn ich daran denke. Ich knie vor Dir nieder und flehe Dich an, nicht so hart gegen mich zu sein, wie ich es verdiene – wie ich sehr wohl weiß, daß ich es verdiene –, sondern so sanft und gut zu sein, etwas über ihn auf einen Zettel zu schreiben und mir zu schicken. Nenn mich nicht Emly, nenne mich nicht bei dem Namen, den ich geschändet habe, aber höre auf mich in meiner Todesangst und habe Erbarmen mit mir und schreibe mir ein Wort von meinem Onkel, den meine Augen nie, nie mehr wiedersehen sollen.

Du Liebe, Gute, wenn Dein Herz hart ist gegen mich – mit Recht hart, das weiß ich wohl –, so bitte ich Dich, frage den, dem ich am wehesten getan habe, dessen Weib ich werden sollte, bevor Du mir meine armselige Bitte abschlägst. Wenn er so barmherzig ist Dir zu sagen, Du mögest eine Zeile an mich schreiben, – ich glaube, er tut es – er tut es, wenn Du ihn nur darum fragst, denn sein Herz war immer voll Güte und Verzeihung, – dann sage ihm, daß mir ist, wenn ich des Nachts den Wind brausen höre, als stürme er zornig vorbei, weil er ihn und den Onkel gesehen habe und hinauf ginge zu Gott, um gegen mich zu klagen. Sage ihm, wenn ich morgen sterben müßte – und wie gern würde ich sterben, wenn ich es mit gutem Gewissen könnte –, ich würde ihn und den Onkel mit meinen letzten Worten segnen und mit dem letzten Atemzuge um ein glückliches Heim für ihn beten.

Auch diesem Briefe lag Geld bei. Fünf Pfund. Es war ebensowenig berührt wie das andere, und Mr. Peggotty faltete es ebenso zusammen. Genaue Anweisungen hinsichtlich der Adresse einer Antwort waren hinzugefügt, und, obgleich der Brief durch mehrere Hände gegangen zu sein schien und auf ihren gegenwärtigen Aufenthalt daraus nicht geschlossen werden konnte, so war es doch nicht unwahrscheinlich, daß er von dem Orte ausging, wo sie zuletzt gesehen worden war.

»Was hat man ihr geantwortet«? fragte ich.

»Da Mrs. Gummidge nicht viel davon versteht, so verfaßte Ham den Brief, und sie schrieb ihn ab. Es stand darin, ich sei fort, um sie zu suchen, und meine letzten Worte an sie.

»Sie haben da noch einen Brief in der Hand.«

»Es ist Geld, Sir«, sagte Mr. Peggotty und öffnete ein wenig den Briefumschlag. »Zehn Pfund, sehen Sie her. Darinnen steht: »Von einem wahren Freunde!« wie in dem ersten, aber der erste wurde unter die Tür gesteckt, und dieser kam vorgestern mit der Post. Ich will sie an dem Orte suchen gehen, den der Stempel anzeigt.«

Er zeigte mir den Brief. Er kam aus einer Stadt des Oberrheins. Mr. Peggotty hatte in Yarmouth ein paar auswärtige Kaufleute aufgefunden, die die Gegend kannten, und sie hatten ihm eine flüchtige Skizze einer Karte entworfen, die er recht gut verstand. Er legte sie auf den Tisch und verfolgte seinen Weg darauf mit dem Finger, das Kinn auf die eine Hand gestützt.

Ich fragte ihn, wie es Ham gehe. Er schüttelte nur den Kopf.

»Er arbeitet, wie es einem Menschen nur irgend möglich ist«, sagte er. »Sein Name ist in der ganzen Gegend so gut angeschrieben wie der keines andern. Jedermann ist bereit, ihm zu helfen, und auch er hilft jedem gern. Klagen hört man ihn nie. Aber unter uns – meine Schwester meint, daß es ihn tief getroffen hat.«

»Der Arme! Ich kann es mir denken!«

»Sein Leben gilt ihm nichts, Masr Davy«, sagte Mr. Peggotty mit feierlichem Flüstern, »wenn man bei bösem Wetter jemand für ein gefährliches Unternehmen braucht, so ist er da. Wenns etwas Anstrengendes und Gefährliches zu tun gibt, ist er bei der Hand. Und doch ist er so sanft wie ein Kind. Jedes Kind in Yarmouth liebt ihn.«

Er nahm die Briefe gedankenvoll zusammen, glättete sie und steckte sie sorgfältig in die Tasche.

Das Gesicht war von der Tür verschwunden. Der Schnee wehte immer noch herein, aber sonst war nichts zu sehen.

»Nun, da ich Sie heute abend gesprochen habe, Masr Davy, – und es hat mir gutgetan«, sagte er und warf einen Blick auf sein Bündel, »so will ich mich morgen früh beizeiten auf den Weg machen. Sie wissen, was ich hier bei mir trage«, fuhr er fort und legte die Hand auf seine Brusttasche. »Ich habe nur die eine Sorge, daß mir etwas zustoßen könnte, ehe ich das Geld zurückgeben kann. Wenn ich sterben sollte, und es ginge verloren oder würde gestohlen, und – er – wäre im Glauben, ich hätte es angenommen, ich würde es in der andern Welt nicht aushalten können. Ich glaube, ich müßte zurück.«

Wir standen auf und drückten einander noch herzlich die Hand, ehe wir hinausgingen.

»Ich würde zehntausend Meilen wandern«, sagte er, »bis ich tot niederfiele, um ihm das Geld vor die Füße zu werfen. Wenn ich das getan und meine Emly gefunden habe, dann bin ich zufrieden. Wenn ich sie nicht finde, so erfährt sie vielleicht einmal, daß ihr Onkel erst mit seinem Tode aufgehört hat, sie zu suchen; und kenne ich sie recht, wird dieser Gedanke sie nach Hause führen.«

Als wir hinaus in die kalte Nacht traten, sah ich die einsame Gestalt vor uns davoneilen. Unter einem Vorwand bewog ich Mr. Peggotty sich umzudrehen und hielt ihn im Gespräche fest, bis sie fort war.

Er sprach von einer kleinen Schenke auf der Straße nach Dover, wo er ein reinliches und einfaches Nachtquartier suchen wollte. Ich begleitete ihn über die Westminsterbrücke und wir schieden am Surreyufer. Mir war es, als ob alles vor ihm totenstill würde, wie er seine einsame Wanderung durch den Schnee wieder antrat.

Ich kehrte nach dem Gasthof zurück und sah mich, noch unter der Erinnerung an jenes Gesicht stehend, bange nach der Gestalt um. Sie war nicht mehr da. Der Schnee hatte unsere Fußstapfen verweht, und meine neue Spur war die einzig sichtbare, und selbst diese sah ich rasch verschwinden unter den fallenden Flocken, als ich zurückblickte.