57. Kapitel Die Auswanderer


57. Kapitel Die Auswanderer

Noch eins blieb mir zu tun. Ich mußte das Geschehen den Abreisenden verheimlichen und sie in glücklicher Unwissenheit scheiden lassen. Es galt keine Zeit zu verlieren.

Ich nahm Mr. Micawber noch am selben Abend beiseite und betraute ihn mit dem Auftrag, von Mr. Peggotty jede Nachricht von dem neuen Unglück fernzuhalten. Er übernahm das Amt mit großem Eifer und versprach jede Zeitung zu beseitigen, die unsere Maßnahme hätte vereiteln können.

»Wenn er eine in die Hand bekommt, Sir«, sagte Mr. Micawber und schlug sich auf die Brust, »so muß sie erst durch diesen Leib gehen.«

 

Mr. Micawber hatte sich in seiner Sucht, sich den neuen gesellschaftlichen Zuständen anzupassen, eine Art kühne Seeräubermiene angewöhnt, die, wenn auch nicht gerade aggressiv, so doch bereit aussah, jeden Angriff auf der Stelle zurückzuweisen. Man hätte ihn für einen Sohn der Wildnis halten können, der, seit langem gewohnt, sich jenseits der Grenzen der Zivilisation aufzuhalten, jetzt im Begriffe stand, in die heimatliche Steppe zurückzukehren.

Er hatte sich unter anderm einen vollständigen Ölzeuganzug angeschafft und einen Strohhut mit sehr niedrigem Kopf, der außen mit Pech gedichtet oder kalfatert war. In dieser Tracht, ein Seemannsfernrohr unter dem Arm und mit einer gewissen gewiegten Miene häufig nach Sturm in den Wolken spähend, sah er in seiner Weise viel nautischer aus als Mr. Peggotty. Die ganze Familie stand sozusagen in Schlachtordnung. Mrs. Micawber trug einen unglaublich engen und unbequemen Hut unter dem Kinn zugebunden und einen auf dem Rücken zugeknoteten Schal, der sie wie ein Bündel einhüllte. Miss Micawber hatte sich in ähnlicher Weise gegen stürmisches Wetter wohl verwahrt, und nichts Unzweckmäßiges war an ihr zu sehen. Master Micawber in seinem wollenen Matrosenhemd und den zottigsten Matrosenhosen, die es geben konnte, war kaum erkenntlich, und die Kinder waren wie Konserven in luftdichte Gehäuse eingeschlossen. Sowohl Mr. Micawber wie sein ältester Sohn trugen die Ärmel aufgestreift, zum Zeichen, daß sie bereit seien, überall Hand anzulegen und bei der geringsten Aufforderung aufzuspringen oder zu singen: Hoo, Jüh, Hoo.

So fanden Traddles und ich sie beim Anbruch der Nacht an der hölzernen Treppe, die damals Hungerford Stairs hieß, wo sie der Abfahrt eines Bootes mit einigen ihrer Sachen zusahen. Die Familie wohnte in einem kleinen schmutzigen baufälligen Wirtshaus, das dicht an der Treppe lag und dessen hölzerne Stockwerke über den Fluß hingen. Sie hatten als Auswanderer einiges Interesse in und um Hungerford erregt, und so viel Zuschauer waren herbeigeströmt, daß wir froh waren, uns in ihr Zimmer flüchten zu können. Es lag eine Treppe hoch, und unten strömte die Flut dahin.

Meine Tante und Agnes, emsig beschäftigt für die Kinder noch einige bequeme Kleidungsstücke zu verfertigen, saßen bereits dort. Peggotty half ruhig mit, das alte Arbeitskästchen, das Ellenmaß und den Wachsstumpf neben sich, die schon so viel mitgemacht hatten.

»Wann segelt das Schiff ab, Mr. Micawber?« fragte meine Tante.

Er glaubte wahrscheinlich, meine Tante oder seine Frau nur nach und nach vorbereiten zu dürfen, und antwortete: Früher, als er gestern geglaubt hätte.

»Das Boot hat Ihnen wohl die Nachricht gebracht?«

»Ja, Maam.«

»Nun, und wann geht das Schiff?«

»Maam, ich habe Nachricht erhalten, daß wir morgen früh Punkt sieben Uhr an Bord sein müssen.«

»Der Tausend«, sagte meine Tante. »Das ist früh. Ist es wirklich so, Mr. Peggotty?«

»Freilich, Maam. Es geht mit der Flut den Fluß hinunter. Wenn Masr Davy un mien Swester morgen nachmiddag in Gravesend an Burd kamen, warden Sei uns dat letzte Mal seihn.«

»Und wir kommen natürlich bestimmt.«

 

Es war nicht leicht, Peggotty und ihrem Bruder, ohne etwas von dem Unglücksfall zu verraten, zuzuflüstern, daß ich den Brief abgegeben, und daß alles in Ordnung sei. Aber ich tat beides und machte sie glücklich.

»Bis dahin und bis wir auf offnem Meere sind«, bemerkte Mr. Micawber und warf mir einen Blick des Einverständnisses zu, »werden Mr. Peggotty und ich beständig die schärfste Aufsicht über unsere Sachen führen. Meine liebe Emma«, sagte er und räusperte sich in seiner großartigen Weise, »mein Freund Mr. Thomas Traddles ist so gütig, mir ins Ohr zu flüstern, ob er die zur Anfertigung einer mäßigen Portion des Getränkes, dessen Name in unserm Geiste so unauflösbar mit dem bekannten Roastbeef Altenglands verknüpft ist, notwendigen Ingredenzien verschaffen solle. Ich meine – kurz Punsch. Unter normalen Umständen würde ich nicht wagen, Miss Trotwood und Miss Wickfield einzuladen, aber –«

»Was mich betrifft«, sagte meine Tante, »so werde ich mit dem größten Vergnügen auf Ihr Wohl und zukünftiges Glück trinken.«

»Und ich auch«, sagte Agnes mit einem Lächeln.

Mr. Micawber eilte unverzüglich in die Schenkstube hinunter, wo er ganz zu Hause zu sein schien, und kehrte bald darauf mit einem dampfenden Krug zurück. Ich bemerkte, daß er die Zitronen mit seinem eignen Klappmesser schälte, das wie ein echtes Trappermesser fast einen Fuß lang war und das er ostentativ an seinem Rockärmel abwischte. Mrs. Micawber und die beiden altern Mitglieder der Familie waren, wie ich jetzt entdeckte, im Besitz derselben ansehnlichen Waffen, während jedes Kind an einer starken Schnur seinen eignen hölzernen Löffel um den Leib trug. Als eine ähnliche Vorbereitung auf das Leben zur See und im australischen Busch schenkte Mr. Micawber den Punsch statt in die Weingläser, von denen ein ganzer Tisch voll im Zimmer stand, in abscheuliche kleine Zinntöpfe ein, und niemals habe ich ihn mit so großer Lust trinken sehen als jetzt aus seinem eignen Zinntopf, den er am Schluß des Abends in die Tasche steckte.

»Die Üppigkeiten des alten Landes«, sagte er mit außerordentlichem Genuß in Entsagung schwelgend, »werden jetzt aufgegeben. Die Bewohner des Urwaldes dürfen nicht an den Verfeinerungen des Landes der Freiheit teilnehmen.«

In diesem Augenblick trat ein Bursche herein und meldete, daß jemand Mr. Micawber zu sprechen wünschte.

»Eine Ahnung sagt mir«, rief Mrs. Micawber und setzte ihr Blechkännchen aus der Hand, »daß es ein Mitglied meiner Familie ist.«

»Sollte das der Fall sein, meine Liebe«, bemerkte Mr. Micawber mit seinem gewohnten Aufbrausen, »so kann das Mitglied deiner Familie – wer er, sie oder es auch immer sein mag – so lange warten, bis es mir gefällig ist. Sie haben lange genug nichts von sich hören lassen.«

»Micawber – in einem Augenblick wie diesem –«

»Emma, du hast recht«, lenkte Mr. Micawber ein und stand auf. »Es ist nicht billig, daß jede kleine Schuld sogleich ihren Tadel findet.«

»Der Verlust«, bemerkte Mrs. Micawber, »trifft meine Familie und nicht dich. Wenn sie endlich fühlen, um wieviel sie sich durch ihre eigne Schuld gebracht haben, und jetzt in Freundschaft die Hand ausstrecken, so stoße sie nicht zurück!«

»Liebe Frau, so sei es.«

»Wenn nicht ihretwegen, dann meinetwegen, Micawber!«

»Emma«, entgegnete er, »ich vermag dir nicht zu widerstehen. Kann ich mich auch in diesem Augenblick noch nicht bestimmt verpflichten, deiner Familie um den Hals zu fallen, so soll doch dem jetzt wartenden Mitglied die Wärme des Herzens durch meine Schuld nicht erstarren.«

Er entfernte sich und blieb geraume Zeit aus. Mrs. Micawber konnte sich der Befürchtung nicht erwehren, es möchte zwischen ihm und dem betreffenden Familienmitglied ein Streit entstanden sein. Endlich erschien derselbe Bursche wieder und übergab mir einen mit Bleistift geschriebenen Zettel, auf dem in juridischer Weise »Heep kontra Micawber« stand. Ich las, daß Mr. Micawber, abermals in Haft, sich im letzten Stadium der Verzweiflung befände und mich bäte, ihm durch den Überbringer sein Messer und seine zinnerne Kanne zu schicken, da sie ihm in dem noch übrigen kurzen Rest seiner Tage im Gefängnis vielleicht von Nutzen sein könnten. Er bat mich auch, als einen letzten Freundschaftsbeweis seine Familie in das Armenhaus der Gemeinde zu begleiten und zu vergessen, daß ein solches Geschöpf wie er jemals gelebt habe.

Natürlich beantwortete ich den Zettel damit, daß ich mit dem Burschen hinunterging und das Geld bezahlte. Ich fand hier Mr. Micawber in einer Ecke sitzen und den Sheriffbeamten, der ihn in Haft genommen, mit finsterer Miene betrachten.

Nach seiner Freilassung umarmte er mich mit unbeschreiblicher Innigkeit und trug die Summe in sein Taschenbuch ein, wobei er sehr viel Gewicht auf den halben Penny legte, den ich versehentlich nicht angegeben hatte.

Dieses wichtige Taschenbuch erinnerte ihn gleichzeitig an ein anderes Geschäft. Bei unserer Rückkehr in das obere Zimmer zog er einen großen Bogen Papier heraus, der klein zusammengelegt über und über mit langen Zahlenreihen bedeckt war. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf und kann sagen, nie, außer in einem Schulrechenbuch, sind mir solche Summen zu Gesicht gekommen. Es waren offenbar Zinseszinsberechnungen für ein Kapital von 41+£ +10+sh+11½ für verschiedene Perioden. Nach sorgfältiger Prüfung und einer detaillierten Abschätzung seiner Einkünfte hatte er die Summe herausgefunden, die den Betrag mit Zinseszinsen für zwei Jahre fünfzehn Monate und vierzehn Tage a dato repräsentierte. Über diesen Gesamtbetrag stellte er eine sauber geschriebene Schuldverschreibung aus und händigte sie unter vielen Dankesbeteuerungen Traddles als vollständige Tilgung seiner Schuld –, »wie es Männern geziemt«, aus.

»Ich habe immer noch die Ahnung«, sagte Mrs. Micawber und schüttelte gedankenvoll den Kopf, »daß meine Familie vor unserer Abreise an Bord erscheinen wird.«

Offenbar hatte Mr. Micawber über diese Ahnung seine besondere Meinung, aber er verschluckte sie mit einem Mund voll Punsch.

»Wenn Sie unterwegs Gelegenheit haben, Briefe abzuschicken, Mrs. Micawber«, sagte meine Tante, »müssen Sie uns natürlich Nachricht von sich geben.«

»Meine teuere Miss Trotwood, ich werde mich nur zu glücklich zu schätzen wissen, daß jemand von uns Nachricht erwartet. Ich werde gewiß nicht unterlassen zu schreiben. Ich hoffe, auch Mr. Copperfield wird als alter vertrauter Freund nichts dagegen haben, von Zeit zu Zeit Nachricht von jemand zu empfangen, der ihn kannte, als noch der Geist der Zwillinge schlummerte.«

Ich sagte, daß ich von ihr zu hören hoffte, sobald sie zum Schreiben Gelegenheit fände.

»Wenn es dem Himmel gefällt, wird sich oft derartige Gelegenheit ergeben«, mischte sich Mr. Micawber ein. »In dieser Jahreszeit ist der Ozean von einer Flotte von Schiffen bedeckt, und wir werden bei der Überfahrt zweifelsohne viele treffen. Es ist eine kurze Überfahrt«, sagte er und spielte mit seinem Augenglas. »Eine kurze Überfahrt. Entfernung ist etwas rein Imaginäres.« Es war sehr komisch, wie Mr. Micawber, der einstmals von einer Reise von London nach Canterbury gesprochen hatte, als ob er ans fernste Ende der Erde ginge, jetzt am Vorabend einer Fahrt von England nach Australien wie von einem kleinen Ausflug über den Kanal sprach.

»Auf der Fahrt werde ich den Leuten gelegentlich ein Seemannsgarn spinnen, und die melodiöse Stimme meines Sohnes Wilkins wird gewiß am Gallionenfeuer gerne gehört werden. Wenn Mrs. Micawber erst ihre Seebeine hat – ein Ausdruck, in dem, wie ich hoffe, keine konventionelle Ungehörigkeit liegt –, wird sie der Mannschaft voraussichtlich das Lied von ›Little Tafflin‹ vorsingen. Schweinsfische und Delphine werden häufig vor dem Bug unseres Schiffes auftauchen, und beständig wird auf Steuerbord oder Backbord irgendein interessanter Gegenstand zu bemerken sein. Kurz –«, sagte Mr. Micawber mit seiner alten großartigen Miene, »der Wahrscheinlichkeit nach werden wir alles in Luft und Wasser derart fesselnd finden, daß wir, wenn der Auslug vom Großmastkorb herab Land, ho! ruft, höchlichst überrascht sein werden.«

Damit schleuderte er die letzten Tropfen aus seinem Zinntöpfchen mit einem Gesicht fort, als ob er soeben die Reise vollendet und ein Examen ersten Ranges vor den höchsten Marineautoritäten abgelegt hätte.

»Was ich hauptsächlich hoffe, mein lieber Mr. Copperfield, ist, daß wir dereinst in einigen Zweigen unserer Familie wieder in dem alten Lande fortleben werden. Runzle nicht die Stirn, Micawber. Ich spreche nicht von meiner eignen Familie, sondern von unsern Kindeskindern. So kräftig auch der Schößling ist«, sagte Mrs. Micawber, »so kann ich doch den Mutterstamm nicht vergessen, und wenn unser Geschlecht Ehre und Reichtum erlangt, so möchte ich wünschen, daß dieser Reichtum in Britannias Schoß fällt.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Micawber. »Britannia muß sich schon bescheiden. Ich muß gestehen, daß sie niemals viel für mich getan hat und daß ich in dieser Hinsicht keinen besonders brennenden Wunsch hege.«

»Micawber, hierin hast du unrecht. Du ziehst hinaus ins ferne Land, Micawber, um das Band zwischen dir und Albion zu stärken, nicht, um es zu schwächen.«

»Das fragliche Band, meine Liebe, hat mir so oft Lasten persönlicher Verpflichtung auferlegt, daß ich vor der Anknüpfung neuer Verbindungen zurückschrecke.«

»Micawber, auch hierin bist du im Unrecht. Du kennst deine Kraft nicht, Micawber, und diese grade wird die Bande zwischen dir und Albion stets befestigen, selbst bei dem Schritt, den du jetzt vorhast.«

Mr. Micawber saß mit emporgezognen Augenbrauen in seinem Lehnstuhl, den Ansichten seiner Gattin halb anerkennend, halb ablehnend zuhörend.

»Lieber Mr. Copperfield«, fuhr Mrs. Micawber fort, »ich wünschte, daß mein Gatte seine Lage überschaue. Es scheint mir von höchster Wichtigkeit zu sein, daß er es von der Stunde seiner Einschiffung an tue. Ihre alte Bekanntschaft mit mir, lieber Mr. Copperfield, wird Ihnen bestätigen, daß ich nicht den sanguinischen Charakter Micawbers teile. Ich bin sozusagen eminent praktisch veranlagt. Ich weiß, daß eine lange Reise vor uns liegt. Ich weiß, daß sie viele Entbehrungen und Unbequemlichkeiten mit sich bringen wird. Ich kann mich diesen Tatsachen nicht verschließen, aber ich weiß auch, was Mr. Micawber ist. Ich kenne Mr. Micawbers schlummernde Kräfte, und darum halte ich es für unendlich wichtig, daß er seine Lage überschaue.«

»Liebe Frau, vielleicht wirst du mir die Bemerkung gestatten, es könne immerhin möglich sein, daß ich bereits im gegenwärtigen Augenblick meine Lage genau erkenne.«

»Ich glaube nicht, Micawber. Nicht so ganz! Lieber Mr. Copperfield, es liegt kein gewöhnlicher Fall vor. Mr. Micawber geht in ein fernes Land ausdrücklich deshalb, daß er dort zum ersten Mal vollkommen verstanden und gewürdigt werde. Ich wünsche, daß Mr. Micawber sich auf die Gallion des Schiffes stellt und mit fester Stimme sagt: ›Dieses Land will ich erobern, habt ihr Ehren, habt ihr Reichtümer? Habt ihr Ämter mit hoher Besoldung? Bringt sie mir dar, sie sind Mein.‹«

Mr. Micawber sah uns der Reihe nach mit einem Blick an, als ob viel Gutes in diesen Worten läge.

»Ich wünsche, daß Mr. Micawber, wenn ich mich so ausdrücken darf«, fuhr Mrs. Micawber in belehrendem Tone fort, »der Cäsar seines eignen Glückes wird. So, mein lieber Mr. Copperfield, scheinen mir die Dinge zu liegen. Vom ersten Augenblick der Reise an sollte sich Mr. Micawber auf die Gallion des Schiffes stellen und rufen: ›Genug des Harrens, genug der Enttäuschung, genug der ärmlichen Verhältnisse. Das war in dem alten Vaterlande. Hier liegt das neue. Sorgt für Entschädigung. Bringet sie dar!‹«

Mr. Micawber verschränkte mit entschlossenem Gesicht die Arme, als stünde er bereits auf dem Gallionenbilde.

»Und indem er das tut«, fuhr Mrs. Micawber fort, »und seine Stellung erfaßt, – habe ich nicht recht, wenn ich sage, er wird das Band mit Britannien kräftigen und nicht schwächen? Wenn er in jener Hemisphäre als einflußreicher Mann der Öffentlichkeit hervortritt, wird dann sein Einfluß nicht auch hier fühlbar sein? Wenn er den Zauberstab des Talentes und der Macht in Australien schwingt, dann sollte er in England nichts gelten? Das soll ich glauben? Ich bin nur ein Weib, aber ich würde Papas und meiner selbst unwürdig sein, wollte ich etwas Derartiges annehmen.«

Mrs. Micawbers feste Überzeugung, ihre Argumente seien unwiderleglich, verlieh ihrem Ton einen Schwung, wie ich ihn bei ihr noch nie gehört hatte.

»Und deshalb wünsche ich vor allem, daß wir in einer spätern Zukunft wieder den Boden des Vaterlandes betreten. Mr. Micawber kann gar leicht eine neue Seite im Buch der Geschichte bedeuten, und in dem Lande, das ihn geboren und ihn übersehen hat, muß er repräsentieren.«

»Liebe Frau«, fiel Mr. Micawber ein, »ich kann nicht anders, ich muß von deiner Liebe gerührt sein. Ich bin stets bereit, mich deiner größern Einsicht zu fügen. Was geschehen soll, wird geschehen. Der Himmel verhüte, daß ich meinem Vaterlande einen Teil der Schätze mißgönnen sollte, die vielleicht unsere Nachkommen anhäufen.«

»So ists recht«, bestätigte meine Tante und nickte Mr. Peggotty zu. »Und ich trinke euch allen meine Liebe zu, und mögen Segen und Erfolg euch begleiten.«

Mr. Peggotty setzte die beiden Kinder, die er auf den Knien geschaukelt hatte, nieder, um mit den Micawbers auf unser aller Wohl zu trinken; und als beim allgemeinen Händeschütteln ein Lächeln sein gebräuntes Gesicht erhellte, da wußte ich, er werde sich durchschlagen, einen guten Namen erringen und geliebt werden, mochte er hingehen, wohin er wollte. Selbst die Kinder mußten die hölzernen Löffel in Mr. Micawbers Blechtopf tauchen und uns damit zutrinken.

Dann standen meine Tante und Agnes auf und nahmen Abschied von den Auswanderern. Es war ein schmerzliches Lebewohl. Alle weinten; die Kinder hängten sich bis zum letzten Augenblick an Agnes, und wir verließen die arme Mrs. Micawber in sehr betrübter Gemütsverfassung, schluchzend und weinend bei dem trüben Licht, bei dem die Stube vom Flusse aus wie ein jämmerlicher kleiner Leuchtturm ausgesehen haben muß.

Ich ging am nächsten Morgen wieder nach dem Wirtshaus, um zu fragen, ob sie schon fort seien. Sie wären mit einem Boote schon früh um fünf Uhr abgefahren, hieß es. Es war für mich ein wunderbares Beispiel, welche Lücken ein Abschied reißen kann, als mir das baufällige Wirtshaus und die hölzerne Treppe zum Fluß, die ich doch erst seit gestern abend kannte, jetzt so öde und verlassen vorkamen.

 

Am nächsten Nachmittag fuhr ich mit meiner alten Kindsfrau hinaus nach Gravesend. Das Schiff lag im Flußhafen, umgeben von einer Flottille von Booten; ein günstiger Wind wehte, und das Signal zur Abfahrt flatterte an der Mastspitze. Ich mietete sogleich eine Jolle und fuhr nach dem Schiff, und wir stiegen an Bord.

Mr. Peggotty erwartete uns auf Deck. Er sagte mir, Mr. Micawber sei soeben wieder verhaftet worden, auf Betreiben Heeps, und er habe meiner Weisung gemäß das Geld ausgelegt. Dann nahm er uns hinunter ins Zwischendeck, und meine letzte Angst, daß er etwas von dem Unglück in Yarmouth gehört haben könnte, wurde von Mr. Micawber zerstreut, der aus dem Dunkel hervortrat, seinen Arm mit freundschaftlicher Gönnermiene nahm und mir erzählte, daß sie seit vorgestern abend kaum einen Augenblick voneinander getrennt gewesen wären. Alles war so fremdartig und in Dunkelheit gehüllt, daß ich anfangs kaum etwas erkennen konnte; erst allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis, und mir war, als ob ich mitten in einem Gemälde von Ostade stünde. Zwischen den großen Balken, Ladungsstücken, Kisten, Fässern und bunten Haufen von Gepäck, hie und da von schwankenden Laternen an der Decke erleuchtet, während das gelbe Tageslicht sich da und dort durch die Luken hereinverirrte, standen dicht gedrängt Gruppen von Menschen, schlossen neue Freundschaften, nahmen Abschied voneinander, sprachen, lachten, weinten, aßen und tranken. Einige hatten sich bereits in dem ihnen zugewiesenen paar Fuß Raum häuslich eingerichtet, und kleine Kinder saßen auf Stühlchen oder Fußbänken; andere irrten trostlos umher, nach einem Zufluchtsort suchend. Vom Säugling an bis zu gebeugten Greisen und Greisinnen, die kaum mehr ein paar Wochen Leben vor sich hatten, von Ackerknechten, die buchstäblich Erde des alten England an ihren Stiefeln mit fortnahmen, bis zu den Schmieden, die Proben seines Rußes und Rauchs auf der Haut trugen, schienen jedes Alter und jeder Beruf in dem engen Raum des Zwischendecks eingepfercht zu sein.

Als ich umherblickte, glaubte ich an einer offenen Luke neben den kleinen Kindern eine Gestalt wie die Emlys sitzen gesehen zu haben. Sie zog zuerst meine Aufmerksamkeit durch eine andere Gestalt auf sich, die mit einem Kusse von ihr schied und, wie sie ruhig durch das Gewühl glitt, mich an – Agnes erinnerte. Aber in dem Getümmel verlor ich sie wieder, und ich wußte nur bei der Verwirrung meiner eignen Gedanken, daß die Zeit gekommen war, wo alle Besucher das Schiff verlassen sollten, daß meine Kindsfrau auf einer Kiste neben mir weinte und Mrs. Gummidge mit Hilfe einer jüngern Frauensperson in schwarzen Kleidern sich, über ihr Gepäck gebeugt, viel damit zu schaffen machte.

»Noch ein letztes Wort, Masr Davy. Haben wir noch etwas vergessen? Ehe wir Abschied nehmen.«

»Noch eins, Mr. Peggotty!« sagte ich, »nämlich Marta!«

Er legte die Hand auf die Schulter des schwarzgekleideten Mädchens neben Mrs. Gummidge, und Marta stand vor mir.

»Der Himmel segne Sie, Sie gutes Herz!« rief ich. »Sie nehmen Sie mit sich!«

Marta antwortete für ihn mit einem Tränenstrom. Ich konnte nicht reden, drückte ihm aber kräftig die Hand, und wenn ich jemals einen Menschen geliebt und hochgeschätzt habe aus tiefster Seele, so war es dieser.

 

Das Schiff wurde schnell von den Fremden geräumt. Noch blieb mir die größte Prüfung übrig. Ich richtete aus, was der Edle, der dahingegangen, mir zum Abschied aufgetragen hatte. Es rührte Mr. Peggotty tief. Und als er mir viele Worte der Liebe und Teilnahme für die Ohren, die jetzt tot und taub waren, auftrug, zerriß es mir das Herz.

Die Zeit des Abschieds war gekommen. Ich umarmte ihn, nahm die Hand meiner weinenden Kindsfrau und eilte fort. Auf dem Deck nahm ich Abschied von der armen Mrs. Micawber. Selbst jetzt noch wartete sie höchst beunruhigt auf ihre Familienmitglieder, und ihre letzten Worte waren, daß sie Mr. Micawber niemals verlassen werde.

Wir stiegen in unser Boot hinab und lagen in kleiner Entfernung still, um das Schiff abfahren zu sehen. Es lag zwischen uns und dem schönen stillen Abendrot, und jedes Tau und jede Spiere zeichneten sich scharf ab von der purpurnen Glut. Einen zugleich so schönen, so traurigen und hoffnungsreichen Anblick wie dieses herrliche Schiff, das ruhig auf dem bewegten Wasser lag, mit all seinem Leben an Bord, den Menschen, die sich hier an die Schanzverkleidungen drängten und dort zusammenstanden, schweigend und mit entblößtem Haupt, habe ich nie mehr gesehen. Wie die Brise die Segel schwellte und das Schiff sich zu regen begann, da erschollen aus all den Booten drei donnernde Hurras, die vom Schiffe her erwidert wurden. Mein Herz wollte zerspringen, als ich es hörte und die Hüte und Taschentücher schwenken sah. – Und dann erblickte ich – sie.

Dann sah ich sie an ihres Onkels Seite auf ihn gestützt. Er wies eifrig auf uns, und sie erblickte uns und winkte mir ein letztes Lebewohl zu.

Umgeben von dem rosigen Licht und hoch auf dem Verdecke stehend, sie an ihn gelehnt, er sie festhaltend, schwanden sie mir aus den Augen, ein feierliches Bild.

 

Die Nacht war auf die kentischen Hügel gesunken, als wir ans Ufer ruderten, und umfing mich dunkel und düster.

58. Kapitel Unterwegs


58. Kapitel Unterwegs

Eine lange finstere Nacht hüllte mich ein, von den Gespenstern teuerer Erinnerungen, vieler Irrtümer, mancher Sorge und Reue belebt.

Ich verließ England und erfaßte selbst da noch nicht, wie groß der Verlust war, den ich zu tragen hatte. Ich verließ alle, die mir lieb waren, und ging fort und glaubte, daß ich es überstanden hätte. Wie ein Soldat auf dem Schlachtfelde die Todeswunde empfängt und kaum weiß, daß er getroffen ist, so hatte ich, mit meinem ungeschulten Herzen jetzt allein gelassen, keinen Begriff von dem Schmerz, den es zu bekämpfen galt.

Die Erkenntnis kam über mich nicht schnell, sondern ganz langsam und allmählich. Das Gefühl der Öde, mit dem ich ins Ausland ging, wurde von Stunde zu Stunde weiter und tiefer. Zuerst war es der unbestimmte Druck von Gram und erlittenem Verlust, dann wurde es unmerklich ein hoffnungsloses Bewußtsein alles dessen, was ich verloren – Liebe, Freundschaft, Lust am Leben –, alles dessen, was zertrümmert war, – meines ersten Vertrauens, meiner ersten Liebe, des ganzen Luftschlosses meines Lebens, alles dessen, was mir blieb: – ein ödes, leeres Dasein, das mich umfing wie eine Wüste, soweit der dunkle Horizont reichte.

Wenn mein Gram egoistisch war, so wußte ich es wenigstens nicht. Ich trauerte um mein kindisches Frauchen, das so jung die blühende Welt hatte verlassen müssen. Ich trauerte um den, der sich die Liebe und Bewunderung von Tausenden hätte erwerben können, wie er sich die meine gewonnen vor langer Zeit. Ich trauerte auf meiner Wanderung um das gebrochene Herz, das Ruhe gefunden im stürmischen Meer, und die zertrümmerte Familie, in deren Mitte ich als Kind den Nachtwind hatte klagen hören.

Ich hatte keine Hoffnung mehr, mich aus diesem Trübsinn je wieder herausreißen zu können. Ich schweifte von Ort zu Ort und trug meinen Schmerz wie eine Bürde mit mir überall hin. Ich fühlte seine ganze Last und härmte mich ab unter ihr und sagte mir in meinem Herzen, daß sie nie leichter werden könnte.

Als meine Schwermut ihren Höhepunkt erreicht hatte, glaubte ich, ich würde sterben, und kehrte zuweilen um auf meinem Wege, um in meine Heimat zu reisen. Dann wieder fuhr ich weiter von Stadt zu Stadt und suchte, ich weiß nicht was.

Meine Träume lassen sich nur unvollkommen und unbestimmt beschreiben. Ich sehe mich gleich einem Träumer dahinwandeln durch die Sehenswürdigkeiten fremder Städte, – Paläste, Kirchen, Tempel, Gemälde, Schlösser, Gräber, phantastische Straßen, – alte Wohnstätten der Geschichte und der Sage –, die Last meines Grams überall mit mir herumtragend und kaum wissend, wie die Dinge vor mir kamen und gingen. Gleichgültigkeit gegen alles außer jenen brütenden Schmerz war die Nacht, die sich auf mein ungeschultes Herz senkte.

Monatelang reiste ich mit dieser immer dunkler werdenden Wolke über meiner Seele. Irgendwelche Gründe, nicht nach Hause zurückzukehren, die ich mir vergeblich klarzumachen suchte, ließen mich meine Pilgerfahrt fortsetzen. Ruhelos von Ort zu Ort wandernd, verweilte ich nie lange an ein und derselben Stelle. Nirgends hatte ich ein Ziel oder einen Gedanken, der mich aufrechthielt.

 

Ich war in der Schweiz. Ich kam aus Italien über einen der großen Alpenpässe und wanderte mit einem Führer in den Seitentälern der Gebirge umher. Was diese furchtbare Einsamkeit zu meinem Herzen gesprochen hat, weiß ich nicht. Ich habe Wunder und Erhabenheit gesehen in den schauerlichen Höhen und Abgründen, in den tosenden Wasserfällen, Eis– und Schneewüsten, aber weiter lehrten sie mich nichts.

Ich kam eines Abends vor Sonnenuntergang in ein Tal, wo ich die Nacht über bleiben wollte. Während ich auf dem vielgewundnen Pfad hinabstieg, überkam mich langentwöhntes Gefühl für Schönheit und Ruhe, und ein durch den Frieden der Umgebung erweckter, Milderung bringender Einfluß regte sich leise in meiner Brust. Ich weiß noch, daß ich einmal stehenblieb, erfüllt von einer Art Schmerz, die gar nicht erdrückend und nicht verzweifelt war. Fast hoffte ich, es könnte sich noch mit mir zum Bessern wenden.

Ich erreichte das Tal, als die Abendsonne auf die fernen, schneebedeckten Gipfel schien. Der Fuß der Berge war üppig grün, und hoch darüber wuchsen Wälder schwarzer Tannen, wie Keile in die winterliche Schneefläche eindringend und den Lawinen entgegengestemmt. Steile Wände, grauer Fels, schimmerndes Eis und samtene Rasenflächen erhoben sich Reihe um Reihe darüber, bis sie allmählich in den die Gipfel krönenden Schnee übergingen. Hie und da an den Berglehnen zerstreut, jeder winzige Fleck ein Heim, lagen vereinzelte hölzerne Hütten, durch den Anblick der ragenden Gipfel so zwerghaft verkleinert, daß sie zu winzig für ein Spielzeug erschienen. So auch das Dörfchen im Tal mit der Holzbrücke, unter der der Gebirgsbach über Felsentrümmer sprang und tosend weiter unter den Bäumen dahineilte. Durch die stille Luft ertönte ferner Gesang – Hirtenstimmen –, und mitten an der Berglehne hin schwebte eine einzelne lichte Abendwolke, daß ich fast hätte glauben können, das Singen käme von dort und sei keine irdische Musik … Ganz plötzlich aus diesem Frieden sprach die Natur zu mir, mein müdes Haupt auf den Rasen zu legen und zu weinen, wie ich seit Doras Tod noch nicht geweint hatte.

Ich fand ein Paket Briefe für mich vor und ging außerhalb des Dorfs spazieren, um sie zu lesen, während man das Abendessen fertig machte. Andere Briefsendungen hatten mich verfehlt, und lange hatte ich keine Nachricht aus der Heimat bekommen.

Ich hielt das Paket in der Hand; ich öffnete es und erblickte Agnes‘ Handschrift.

Sie fühlte sich glücklich, war vollauf beschäftigt und hatte den Erfolg, auf den sie gehofft. Das war alles, was sie von sich schrieb. Das Übrige bezog sich auf mich.

Sie gab mir keinen Rat, stellte mir keine Pflicht vor Augen, sie sagte mir nur in der ihr eignen innigen Weise, welche Hoffnungen sie auf mich setzte. Sie wüßte, sagte sie, Prüfungen und Kummer würden meinen Charakter nur stärken, – sie sei sicher, daß der Schmerz, den ich hatte ertragen müssen, meinem ganzen Streben nur eine festere und höhere Richtung geben würde. Sie sei so stolz auf meinen Ruhm und so überzeugt, daß er noch wachsen würde, und wisse bestimmt, ich werde weiter arbeiten.

Wie die schweren Tage meiner Kinderjahre mich zu dem gemacht, was ich war, so müßten mich die größern Leiden jetzt befähigen noch emporzusteigen. Sie wies mich an Gott, der meinen Liebling in sein Reich genommen, gedachte in schwesterlicher Liebe immer meiner, stolz auf das, was ich bereits vollbracht, aber noch unendlich stolzer darauf, was mir zu tun noch vorbehalten wäre.

Ich steckte den Brief in meine Brusttasche und dachte: was warst du vor einer Stunde noch! Als ich die Stimmen verklingen hörte, die goldne Abendwolke grau werden und alle Farben im Tal verbleichen und den schimmernden Schnee auf dem Gipfel zu einem Teil des Nachthimmels werden sah, da fühlte ich die Nacht von meiner Seele weichen und alle Schatten sich klären und fand keinen Namen für die Liebe, die mir von da an teuerer war als je zuvor.

Ich las ihren Brief viele Male. Ich schrieb an sie noch vor dem Schlafengehen. Ich sagte ihr, wie nötig ich ihren Beistand gehabt und ohne sie nie das geworden wäre, für das sie mich halte. Und daß ich versuchen wollte, mich aufzuraffen.

Und ich versuchte es. In drei Monaten jährte sich der Tag meines Leides. Ich beschloß vor Ablauf dieser Zeit keinen festen Entschluß zu fassen, aber den Versuch zu machen. Ich blieb die ganze Zeit über in diesem Tal und seiner Nachbarschaft.

Als die drei Monate um waren, beschloß ich noch einige Zeit von Hause wegzubleiben und mich vorderhand in der Schweiz, die mir durch die Erinnerung an jenen Abend wert geworden war, niederzulassen, um die Feder zur Hand zu nehmen und zu arbeiten.

Ich suchte die Natur auf und suchte nie vergebens; ich ließ in meine Brust die menschlichen Interessen, die ich in letzter Zeit zurückgedrängt hatte, wieder einziehen. Es dauerte nicht lange, so hatte ich fast so viele Freunde im Tal wie in Yarmouth, und als ich es vor Anbruch des Winters verließ, um nach Genf zu ziehen, und im Frühling zurückkehrte, hatten ihre herzlichen Begrüßungen einen heimischen Klang für mich.

Ich arbeitete früh und spät, geduldig und angestrengt. Ich schrieb einen Roman, dessen Inhalt nahezu meinen eignen Erlebnissen entsprang, und schickte ihn an Traddles, der seine Veröffentlichung unter sehr vorteilhaften Bedingungen für mich besorgte; und Nachrichten vom Wachsen meines Rufs begannen mich durch Reisende, die ich zufällig traf, zu erreichen. Nach einiger Rast und Zerstreuung machte ich mich wieder in meiner alten eifrigen Weise an ein neues Werk, das mich auf das lebhafteste beschäftigte. Je weiter ich damit vorrückte, desto mehr wuchs mein Interesse daran, und ich strengte meinen Geist aufs äußerste an, um es so gut wie möglich zu vollenden. Das war mein dritter Roman, und in einer Ruhepause dachte ich ans Nachhausereisen.

Seit langer Zeit hatte ich mich trotz eifrigen Studierens und Arbeitens an kräftige Leibesübung gewöhnt. Meine bei der Abreise aus England ernstlich angegriffene Gesundheit war wieder ganz hergestellt. Ich war in vielen Ländern gewesen, hatte viel gesehen und meine Kenntnisse vervollkommnet.

Ich habe von dieser Reisezeit alles, was ich für notwendig hielt, erzählt – mit einem Vorbehalt. Ich habe es nicht mit der Absicht getan, irgend etwas von meinen Gedanken zu verheimlichen, denn wie ich bereits sagte, ist diese Erzählung meine niedergeschriebene Erinnerung. Ich wünschte nur die geheime Seite meines Innern bis zuletzt aufzusparen. Ich gehe nun darauf ein.

Ich kann das Geheimnis meines Herzens nicht so vollständig durchdringen, als daß ich wissen könnte, wann ich zu denken begann, ich hätte meine frühesten und herrlichsten Hoffnungen auf Agnes stützen können. Ich weiß nicht, in welchem Zeitabschnitt meines Schmerzes mir zuerst der Gedanke kam, daß ich in jugendlicher Gedankenlosigkeit das Kleinod ihrer Liebe achtlos weggeworfen.

Ich glaube, eine Ahnung davon dämmerte in mir auf vor Jahren, als ich so etwas wie einen schmerzlichen Mangel oder eine Leere in meinem Innern fühlte. Aber der Gedanke trat wie ein neuer Vorwurf und ein neues Bedauern in meine Seele, als ich so bekümmert und einsam in der Welt dastand.

Wenn ich zu jener Zeit viel mit ihr beisammen gewesen wäre, würde ich es ihr in meiner Haltlosigkeit verraten haben. Eine solche Befürchtung veranlaßte mich im Anfange, von England fortzubleiben. Ich hätte es nicht ertragen können, auch nur den geringsten Teil ihrer schwesterlichen Liebe zu verlieren, und doch würde ich, wenn ich mich verraten hätte, eine Schranke zwischen uns aufgerichtet haben. Ich begriff, daß das Gefühl, das sie jetzt für mich empfand, durch meine eigne freie Wahl und Handlungsweise entstanden war. Wenn sie mich jemals mit einer andern Liebe geliebt, so hatte ich mir das selbst verscherzt. Die Glut meines Herzens hatte ich einer andern geschenkt, – was ich hätte tun können, hatte ich unterlassen, und zu dem, was Agnes jetzt für mich war, hatte ich sie selbst gemacht. Im Anfang der Veränderung, die allmählich in mir Platz griff, dachte ich daran, nach einer unbestimmten Prüfungsdauer sie um ihre Hand zu bitten. Aber im Verlauf der Zeit verblich diese schattenhafte Absicht und verließ mich zuletzt ganz. Ich sagte mir, wenn sie mich jemals geliebt, müßte ich sie jetzt um so heiliger halten, um des Sieges willen, den sie über sich selbst errungen. Und wenn sie mich früher nicht geliebt hätte, wie könnte ich dann glauben, daß sie mich jetzt lieben werde.

Ich wurde mir meines Fehlers immer mehr und mehr bewußt. Was wir einander hätten sein können, war jetzt vorüber. Ich hatte die Zeit verstreichen lassen und Agnes verloren.

Ich machte mir kein Hehl daraus, daß ich sie auf das innigste liebte, aber ich fühlte, daß es zu spät war, und daß ich unser so lange bestehendes Freundschaftsverhältnis nicht verrücken dürfte. So kam ich zu der Überzeugung, daß nie werden konnte, was ich wünschte.

Diese Gedanken mit ihren Wandlungen und Widersprüchen waren der wehende Triebsand meines Innern von der Zeit meiner Abreise bis zu der meiner Rückkehr, drei Jahre später.

Drei Jahre! Eine lange Zeit, wenn auch kurz und schnell vergangen. Und die Heimat war mir teuer, und Agnes, wenn sie auch nicht mein war und nie werden sollte. –

Das war vorbei.

59. Kapitel Rückkehr


59. Kapitel Rückkehr

Ich langte an einem winterlichen Herbstabend in London an. Es war dunkel und regnerisch, und ich bekam in einer Minute mehr Nebel und Schmutz zu Gesicht, als ich in einem Jahr gesehen. Ich mußte vom Zollhaus bis zum Monument zu Fuß gehen, ehe ich einen Wagen fand, und obgleich mich die Häuser, die auf die überlaufenden Gossen herabblickten, wie alte Freunde anmuteten, mußte ich mir doch gestehen, daß es recht schmutzige Freunde waren. Ich habe oft bemerkt, daß das Verlassen eines lang bewohnten Wohnorts ein Signal zu einer allgemeinen Veränderung zu geben scheint. Ich bemerkte aus dem Wagenfenster heraus, daß ein altes Haus in Fishstreet Hill, das ein Jahrhundert lang unberührt von Maler, Zimmermann und Maurer gestanden, während meiner Abwesenheit eingerissen und eine Straße von historischer Unsauberkeit und Enge kanalisiert und verbreitert worden war; halb und halb erwartete ich die St.-Pauls-Kathedrale älter aussehen zu finden.

Auf mancherlei Veränderungen in den Verhältnissen meiner Freunde war ich vorbereitet. Meine Tante war längst nach Dover gezogen, und Traddles hatte sich schon im ersten Halbjahr nach meiner Abreise eine Praxis als Advokat erworben. Er besaß jetzt eine Kanzlei in Grays Inn und hatte mir in seinen letzten Briefen geschrieben, er trage sich mit der Hoffnung, bald mit dem »besten Mädchen der Welt« verbunden zu sein.

Man erwartete meine Heimkehr erst kurz vor Weihnachten, und niemand ahnte, daß ich sobald zurückkehren würde. Absichtlich hatte ich ihnen nichts geschrieben, um das Vergnügen zu haben, sie zu überraschen, und dennoch war ich töricht genug, mich enttäuscht und verstimmt zu fühlen, als mir kein Willkommen zuteil wurde und ich allein und schweigend durch die neblichten Straßen fahren mußte. Die alten bekannten Läden mit ihrem heitern Lichterglanz heiterten mich jedoch bald auf, und als ich vor der Tür des Hotels in Grays Inn ausstieg, war ich wieder guter Laune.

»Wissen Sie, wo Mr. Traddles wohnt?« fragte ich den Kellner, als ich mich am Kamin wärmte.

»Holborn Court, Nummer zwei.«

»Mr. Traddles ist als Anwalt ziemlich bekannt, glaube ich?«

»Wohl möglich, Sir, aber ich weiß es nicht.«

Der Kellner, ein hagerer Mann in mittleren Jahren, sah sich hilfesuchend nach einem andern von mehr Autorität um, – einem großen, kräftigen, alten Mann von wichtigem Aussehen, einem Doppelkinn, schwarzen Kniehosen und Strümpfen, der sogleich aus einer Ecke wie aus dem Stuhl eines Kirchendieners im Hintergrunde des Kaffeezimmers hervorkam, wo er einer Geldkasse, einem Adreßbuch, einem Advokatenverzeichnis und andern Büchern und Papieren Gesellschaft geleistet hatte.

»Mr. Traddles«, sagte der magere Kellner zu ihm. »Nummer zwei im Hof.« Der wichtig aussehende Kellner winkte ihn weg und wandte sich würdevoll an mich.

»Ich fragte vorhin, ob Mr. Traddles als Advokat einen Ruf genießt?«

»Nie seinen Namen gehört«, sagte der Kellner mit kräftiger, etwas heiserer Stimme.

Ich fühlte mich für Traddles ein wenig gedemütigt.

»Er ist wohl noch ein junger Mann?« fragte der Kellner und musterte mich mit strengem Blick, »Wie lange ist er Advokat?«

»Ungefähr drei Jahre.«

Der Kellner, der in seinem Kirchenstuhl wahrscheinlich vierzig Jahre gelebt hatte, konnte doch einen so unbedeutenden Gegenstand nicht weiter verfolgen. Er fragte mich, was ich zu Mittag essen wollte.

Ich fühlte mich wieder ganz in England und war wegen Traddles wirklich recht niedergedrückt. Es schien so gar keine Hoffnung für ihn vorhanden zu sein.

Bescheiden bestellte ich Fisch und einige Schnitten Fleisch und lehnte mich an den Kamin, über meines Freundes Unberühmtheit nachsinnend. Als ich dem Oberkellner mit den Augen folgte, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß der Garten, in dem der Mann zur Blume erblüht war, ein für das Wachstum recht unfruchtbarer Boden sei. Der ganze Ort hatte ein verjährtes, steifleinenes, herkömmliches, ältliches Aussehen. Ich sah mich im Zimmer um, dessen Fußboden, mit Sand bestreut, wahrscheinlich genau so ausgesehen hatte, als der Oberkellner noch ein Knabe war, wenn das überhaupt je der Fall gewesen, – betrachtete die glänzenden Tische, wo ich mich in den ungetrübten Tiefen alten Mahagoniholzes widerspiegelte, – die tadellos geputzten Lampen, die grünen Vorhänge an den schlanken Messingstäben über den Logen, – die zwei hellbrennenden Kohlenfeuer und die in Reihen aufgestellten Weinkaraffen, die sich aufblähten, wie erfüllt von dem stolzen Bewußtsein, daß noch ganze Oxhofte feinsten alten Portweins unten im Keller stünden; und sowohl England wie die Rechtswissenschaften erschienen mir sehr schwer im Sturmschritt zu nehmen.

Ich ging in mein Schlafzimmer hinauf, um mich umzuziehen, und die große Ausdehnung des alten Eichengetäfels, die würdevolle Unermeßlichkeit des Himmelbetts, der unerschütterliche Ernst der Kommode, alles schien sich in strengem Stirnrunzeln bei einem Hinblick auf die Zukunft Traddles‘ und anderer solcher kühner Jünglinge zu vereinigen. Ich kam zum Mittagessen wieder herunter, und selbst die langsame Behäbigkeit des Mahles und das gesetzte Schweigen des Ortes bildeten einen Kommentar zu Traddles‘ Verwegenheit und der Geringfügigkeit seiner Hoffnungen auf einen Lebensunterhalt innerhalb der nächsten zwanzig Jahre.

Seit ich aus dem Lande fortgewesen, hatte ich nichts dergleichen gesehen, und der bloße Anblick vernichtete vollständig meine Hoffnungen für meinen Freund. Der Oberkellner schien von mir vorläufig genug zu haben. Er kam mir nicht mehr nahe, sondern widmete sich einem alten Herrn in langen Gamaschen, für den eine ganz besondere Flasche Portwein freiwillig aus dem Keller heraufgekommen sein mußte, denn er hatte nichts bestellt. Der zweite Kellner erzählte mir flüsternd, daß dieser alte Herr ein in der Nähe wohnender, im Ruhestand lebender steinreicher Advokat sei, der wahrscheinlich sein Vermögen der Tochter seiner Wäscherin hinterlassen werde; es gehe das Gerücht, ein vollständiges silbernes Service, ganz blind geworden vom langen Liegen, stehe in seinem Schranke, aber kein sterbliches Auge habe bisher mehr als einen silbernen Löffel und eine Gabel in seiner Wohnung erblickt. Da gab ich Traddles ganz verloren und sah ein, daß für ihn keine Hoffnung mehr war.

Da ich jedoch meinen lieben alten Freund gar zu gern sehen wollte, erledigte ich mein Mittagessen in einer Weise, die durchaus nicht geeignet war, mich in der Achtung des Oberkellners zu heben, und enteilte aus einer Hintertür.

Nummer zwei im Hof war bald erreicht, und da mir ein Schild an der Tür verriet, Mr. Traddles‘ Kanzlei befinde sich im obersten Stockwerk, stieg ich hinauf. Es war eine alte gebrechliche Treppe, auf jedem Absatz schwach erleuchtet von einem kleinen dickköpfigen Öldocht, der in einem kleinen Kerker von schmutzigem Glas hinstarb.

Während meines Hinaufstolperns glaubte ich ein fröhliches Lachen zu hören; es war nicht das Lachen eines Notars, eines Advokaten oder Schreibers, sondern mußte von zwei oder drei lustigen Mädchen kommen. Als ich stillstand, um zu lauschen, geriet ich mit dem Fuße in ein Loch, das die ehrenwerten Bewohner von Grays Inn auszubessern unterlassen hatten, fiel geräuschvoll hin, und als ich aufstand, war alles still.

Ich tappte mich vorsichtig weiter, und mein Herz schlug laut, als ich die Außentür, auf die »Mr. Traddles« gemalt war, offenstehen sah. Ich klopfte. Ein Tumult entstand drinnen, sonst geschah weiter nichts. Ich klopfte daher noch einmal.

Ein kleiner Bursche mit pfiffigem Gesicht, halb Laufbursche, halb Schreiber, der sehr außer Atem war, aber mich ansah, als wollte er sagen, ich könne ihm nichts beweisen, erschien.

»Ist Mr. Traddles zu Hause?«

»Ja, Sir. Aber er ist beschäftigt.«

»Ich möchte ihn gerne sprechen.«

Nachdem mich der Bursche mit dem pfiffigen Gesicht eine Weile gemustert, entschloß er sich mich einzulassen, machte die Tür zu diesem Zweck ein wenig weiter auf und ließ mich durch einen winkeligen Vorraum in ein kleines Zimmer treten, wo ich meinen alten Freund, ebenfalls außer Atem, über Akten gebeugt an einem Tisch sitzend fand.

»Mein Gott«, rief Traddles, als er aufblickte, »Copperfield!« Und er stürzte mir in meine Arme.

»Alles wohl, lieber Traddles?«

»Alles wohl, mein lieber, lieber Copperfield, und nichts als gute Nachrichten.«

Wir weinten beide vor Freude.

»Mein lieber Junge«, sagte Traddles und fuhr sich mit den Fingern überflüssigerweise in die Haare, »lieber Copperfield, mein lang verlorner und höchst willkommner Freund, wie froh bin ich, dich zu sehen!

Und wie braun du bist! Wie ich mich freue! Bei meinem Leben und bei meiner Ehre, ich habe mich noch nie so gefreut, mein lieber Copperfield; noch nie.«

Ich konnte vor Rührung kein Wort sprechen.

»Mein lieber, lieber Freund! Und so bekannt geworden! Mein berühmter Copperfield! Mein Gott, wann bist du denn angekommen? Woher bist du gekommen? Was hast du getrieben?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte er mich in einen Lehnstuhl am Kamin, schürte das Feuer und zerrte an meinem Halstuch, beherrscht von dem Glauben, es sei ein Überrock. Ohne das Schüreisen wegzulegen, umarmte er mich wieder, und wir beide, lachend und uns die Augen trocknend, setzten uns hin und schüttelten einander in einem fort die Hände.

»Mein Gott, daß du sobald nach Hause gekommen bist, lieber alter Freund, und nicht einmal bei der Feierlichkeit warst.«

»Bei welcher Feierlichkeit, lieber Traddles?«

»Mein Gott!« rief Traddles und riß in seiner alten gewohnten Art die Augen auf, »hast du denn meinen letzten Brief nicht erhalten?«

»Gewiß nicht, wenn von einer Feierlichkeit etwas darin stand.«

»Lieber Copperfield«, sagte Traddles und strich sich das Haar mit beiden Händen gerade in die Höhe und legte dann seine Hand auf mein Knie, »ich bin verheiratet.«

»Verheiratet!« rief ich erfreut.

»Jawohl. Getraut von Seiner Hochwürden Horace Crewler mit Sophie, – unten in Devonshire. Bester Freund, sie steht doch dort hinter dem Fenstervorhang! Sieh nur hin!«

Zu meinem Erstaunen trat das »beste Mädchen der Welt« in diesem Augenblick lachend und errötend aus ihrem Versteck hervor. Ein muntereres, liebenswürdigeres, glücklicher strahlendes Gesicht einer jung verheirateten Frau, glaube ich, konnte es nicht geben, und ich mußte das auch auf der Stelle aussprechen. Ich küßte sie in meinem Recht als alter Bekannter und wünschte ihnen von ganzem Herzen Glück.

»Mein Gott«, sagte Traddles, »was für ein fröhliches Wiedersehen das ist. Du siehst unglaublich braun gebrannt aus, lieber Copperfield. Mein Gott, wie glücklich ich bin!«

»Und ich auch«, sagte ich.

»Und ich gewiß auch«, stimmte Sophie errötend und lachend ein.

»Wir sind alle so glücklich wie nur möglich«, bekräftigte Traddles. »Selbst die Mädchen sind glücklich. – Himmel, ich habe ganz auf sie vergessen.«

»Vergessen? Worauf?«

»Auf die Mädchen! Sophies Schwestern. Sie sind bei uns zu Besuch in London. Übrigens, warst du es, der die Treppe heraufstolperte, Copperfield?«

»Jawohl«, sagte ich lachend.

»Nun, als wir es hörten, spielten wir gerade Plumpsack. Aber da sich das nicht in Westminster Hall schickt und auch nicht sehr berufsmäßig ausgesehen hätte, wenn ein Klient gekommen wäre, sind sie ausgerissen. Sie horchen jetzt bestimmt«, und Traddles warf einen Blick nach einer Verbindungstür.

»Es tut mir wirklich leid, eine solche Störung verursacht zu haben«, entschuldigte ich mich lachend.

»Auf mein Wort«, entgegnete Traddles entzückt, »wenn du gesehen hättest, wie sie ausrissen und wieder zurückliefen, als du klopftest, um die Kämme zu holen, die ihnen aus den Haaren gefallen waren, würdest du das nicht sagen. Mein Schatz, möchtest du nicht die Mädchen hereinholen?«

Sophie lief fort, und wir hörten gleich darauf, wie sie im anstoßenden Zimmer mit fröhlichem Gelächter empfangen wurde.

»Wahre Musik, lieber Copperfield, nicht wahr? Es macht diese alten Stuben ordentlich hell. Für so einen unglücklichen Junggesellen, der sein ganzes Leben lang allein gewohnt hat, weißt du, ist es geradezu etwas Köstliches. Die armen Dinger haben viel verloren an Sophie, die, ich versichere dir, Copperfield, das beste Mädchen von der Welt ist und immer war. Es tut mir über alle Maßen wohl, sie jetzt in so guter Laune zu sehen. Mädchengesellschaft ist etwas sehr Angenehmes, Copperfield. Es schickt sich nicht recht für eine Advokatenkanzlei, ist aber sehr angenehm.«

Da ich bemerkte, daß seine Stimme etwas unsicher wurde, und wohl begriff, daß er in seiner Herzensgüte fürchtete, alte Wunden in mir aufzureißen, stimmte ich ihm mit einer Herzlichkeit bei, die ihn sichtlich tröstete und freute.

»Unsere häuslichen Einrichtungen, um die Wahrheit zu sagen, sind allerdings für eine Advokatenkanzlei recht unberufsmäßig, Copperfield, und selbst, daß Sophie hier ist, schickt sich nicht recht. Aber wir haben keine andere Wohnung. Wir haben uns in einer Nußschale auf das Meer gewagt, sind aber auf alles gefaßt. Sophie ist eine ausgezeichnete Hausfrau. Du würdest dich wundern, wie sie die Mädchen untergebracht hat, ich weiß wahrhaftig selber kaum, wie es möglich war.«

»Sind viele der jungen Damen bei euch zu Besuch?«

»Die älteste ist hier, die Schönheit«, sagte Traddles leise und vertraulich, »und Karoline und Sarah, von der ich dir erzählte, daß sie mit dem Rückenmark zu tun habe. Es geht ihr jetzt bedeutend besser! Und die beiden Jüngsten, die Sophie erzogen hat, sind auch hier. Und Luise.«

»Was du sagst!«

»Ja. Nun besteht die ganze Wohnung nur aus drei Zimmern, aber Sophie hat alles auf das Wunderbarste eingerichtet, und die Mädchen schlafen so bequem wie möglich. Drei in diesem Zimmer«, erklärte Traddles und wies mit dem Finger auf die Tür. »zwei in jenem.«

Ich konnte nicht umhin, mich nach dem Platze umzusehen, der für Mr. und Mrs. Traddles übrigblieb. Traddles verstand mich.

»Nun, wir sind auf alles vorbereitet, wie ich schon sagte, und versuchten es vorige Woche mit einem Bett auf dem Fußboden hier. Aber oben unter dem Dach ist noch ein Zimmerchen, das Sophie, um mich zu überraschen, selbst tapeziert hat, und das bildet gegenwärtig unser Schlafzimmer. Es ist eine ganz famose Zigeunerwirtschaft. Man hat sogar eine Aussicht aus dem Fenster.«

»Also du bist endlich glücklich verheiratet, mein lieber Traddles. Wie mich das freut!«

Wir schüttelten uns wieder die Hände.

»Ja, ich bin so glücklich, wie es nur möglich ist. Erinnerst du dich des alten Bekannten dort?« Er nickte frohlockend nach dem Blumentopf mit dem Untergestell hin, »und das ist der Tisch mit der Marmorplatte. Die ganze übrige Einrichtung ist einfach und bequem, wie du siehst. Und von Silber, mein Gott, haben wir nicht einmal einen Teelöffel.«

»Alles will erst verdient werden«, sagte ich heiter.

»Sehr richtig. Alles will erst verdient werden. Natürlich besitzen wir so etwas wie Teelöffel, womit wir unsern Tee umrühren. Aber sie sind aus Britannia-Metall.«

»Das Silber wird um so glänzender sein, wenn es kommt.«

»Das sagen wir auch immer! Du mußt wissen, lieber Copperfield«, vertraute er mir mit leisem vertraulichem Ton an, »nachdem ich in Sachen Jipes kontra Wigzell plädierte, wodurch ich bei meinen Kollegen viel Ehre einlegte, fuhr ich nach Devonshire hinunter und hatte dort mit seiner Ehrwürden eine ernste Privatunterredung. Ich verweilte bei der Tatsache, daß Sophie – sie ist das beste Mädchen von der Welt, ich versichere dir, Copperfield –«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Du kannst es mir glauben«, beteuerte Traddles. »Aber ich fürchte, ich schweife ab. War ich nicht bei Seiner Ehrwürden?«

»Du sagtest, daß du bei der Tatsache verweiltest –«

»Richtig! Bei der Tatsache, daß Sophie und ich nun schon seit langem verlobt wären, und daß sie mit Erlaubnis ihrer Eltern willens sei, mich zu nehmen – kurz«, sagte Traddles mit seinem alten offenherzigen Lächeln, »auf unsere Britannia-Metall-Ausstattung hin. Ich schlug Seiner Ehrwürden vor, wenn ich in einem Jahr zweihundertfünfzig Pfund verdiente und eine kleine Wohnung wie diese hier einfach ausstatten könnte, wollte ich Sophie heiraten. Ich nahm mir die Freiheit, ihm vorzustellen, daß wir nun schon viele Jahre lang Geduld gehabt und Sophies außerordentliche Nützlichkeit im Elternhause doch kein Grund sein dürfte, sie vom Heiraten abzuhalten. Ist das nicht auch deine Meinung?«

»Gewiß.«

»Das freut mich. Ohne Seiner Ehrwürden etwas nachsagen zu wollen, bin ich nämlich der Ansicht, daß Eltern, Brüder usw. manchmal recht egoistisch sind. Nun weiter! Ich erklärte ihm, daß es mein ernstlichster Wunsch wäre, der Familie nützlich zu sein, und falls ich mein Fortkommen fände und ihm etwas zustoßen sollte – ich meine Seiner Ehrwürden –«

»Ich verstehe.«

»Oder Mrs. Crewler, so würde es mir zur größten Befriedigung gereichen, den Mädchen ein väterlicher Beschützer sein zu dürfen. Er gab mir eine vortreffliche Antwort, die außerordentlich schmeichelhaft für mich war, und übernahm es, Mrs. Crewlers Einwilligung zu erwirken. – Sie hatten eine schreckliche Zeit mit ihr. Es stieg ihr von den Beinen in die Brust und dann in den Kopf –«

»Was stieg denn?«

»Der Schmerz«, erklärte Traddles mit ernstem Blick. »Ihre Gefühle im allgemeinen. Wie ich schon früher einmal erwähnte, ist sie eine ausgezeichnete Frau, aber sie hat den Gebrauch ihrer Glieder eingebüßt. Alles, was sie angreift und aufregt, setzt sich meistens bei ihr in den Beinen fest, aber diesmal stieg es ihr in die Brust und dann in den Kopf, kurz, es durchdrang sie auf die allerbeunruhigendste Weise. Dennoch brachten sie sie durch unermüdliche liebreiche Pflege durch, und wir wurden gestern vor sechs Wochen getraut. Du kannst dir keine Vorstellung machen, Copperfield, wie ich mir als Ungeheuer vorkam, als ich die ganze Familie nach allen Richtungen ausbrechen und ohnmächtig werden sah.

Mrs. Crewler konnte mich nicht ansehen vor meiner Abreise und mir nicht vergeben, daß ich sie ihres Kindes beraubte. Aber sie hat ein gutes Herz und hat es inzwischen getan. Heute morgen noch erhielt ich einen prächtigen Brief von ihr.«

»Mit einem Wort, lieber Freund, du bist so glücklich, wie du es verdienst.«

»Du bist parteiisch«, lachte Traddles. »Aber in der Tat, ich bin ein höchst beneidenswerter Mensch. Ich arbeite viel und studiere unermüdlich. Ich stehe jeden Morgen um fünf Uhr auf, und es schadet mir gar nicht. Bei Tage verstecke ich die Mädchen, und abends sind wir fröhlich miteinander. Ich versichere dir, es tut mir sehr leid, daß sie Dienstag, wo die Gerichtsferien aufhören, wieder abreisen. Aber da sind ja die Mädchen«, Traddles brach seine vertrauliche Rede ab. »Mr. Copperfield – Miss Crewler – Miss Sarah, Miss Luise, – Margarete und Lucie.«

Die Mädchen glichen einem Rosenstrauß, so gesund und frisch sahen sie aus. Sie waren alle hübsch, und Miss Karoline sehr schön, aber in Sophies leuchtenden Blicken lag etwas so Gemütvolles, Zärtliches und Häusliches, das noch viel besser war und mir die Versicherung gab, daß mein Freund gut gewählt hatte.

Wir nahmen alle um den Kamin Platz, während der Bursche mit dem pfiffigen Gesicht, der, wie ich nun erriet, außer Atem gekommen war, weil er so schnell die Papiere auf dem Tisch ausgebreitet hatte, alles jetzt wieder wegräumte und das Teeservice brachte. Sodann entfernte er sich für den Abend. Mrs. Traddles, aus deren gemütvollen Augen eitel Freude und stille Ruhe strahlten, bereitete den Tee und röstete dann ruhevoll in ihrer Ecke am Feuer den Toast. Sie hätte Agnes besucht, erzählte sie mir dabei. Tom und sie hätten eine Hochzeitsreise nach Kent gemacht und bei dieser Gelegenheit auch meine Tante besucht, die sich, wie auch Agnes, wohl befände, und sie hätten von nichts als von mir gesprochen. Tom hätte überhaupt an nichts anderes als an mich gedacht während meiner ganzen Abwesenheit. Tom war die Autorität für alles. Tom war offenbar der Abgott ihres Lebens, der durch nichts von seinem Throne gestürzt werden konnte; sie hing an ihm mit dem ganzen Glauben ihres Herzens, komme, was da wolle.

Die Ehrerbietung, die sowohl sie wie Traddles vor der »Schönheit« an den Tag legten, machte mir viel Spaß. Es kam mir zwar nicht sehr verständig vor, aber erfreulich, und paßte sehr gut zu ihnen. Gewisse Anzeichen von Launenhaftigkeit, die ich an der »Schönheit« bemerkte, betrachteten er und seine Gattin offenbar als ein angestammtes Recht und eine Gabe der Natur. Wären sie selbst als Arbeiterbienen geboren worden und die »Schönheit« als Bienenkönigin, so hätten sie nicht zufriedener sein können.

Und diese Selbstlosigkeit freute mich an ihnen.

Ihr Stolz auf die Mädchen und ihre Nachgiebigkeit allen ihren Launen gegenüber waren das hübscheste Zeugnis ihres eignen Wertes, das man sich nur wünschen konnte.

Wenigstens zwölfmal in jeder Stunde wurde der »gute, liebste Traddles« von einer oder der andern seiner Schwägerinnen gebeten, das oder jenes zu reichen, wegzustellen oder aufzuheben, etwas zu holen oder zu suchen. Ebensowenig konnte etwas ohne Sophie geschehen. Der einen fiel der Zopf herunter, und bloß Sophie konnte ihn wieder aufstecken. Die eine konnte sich nicht auf eine bestimmte Melodie erinnern, und nur Sophie konnte sie richtig summen. Es war etwas nach Hause zu berichten, und nur Sophie konnte es übernehmen, nächsten Morgen vor dem Frühstück zu schreiben. Sie waren vollständig Herrinnen im Hause, und Sophie und Traddles warteten ihnen auf. Wieviel Kinder Sophie auf einmal hätte unter ihre Obhut nehmen können, kann ich mir nicht vorstellen, aber sie schien jedes Lied zu kennen, das einem Kinde in englischer Sprache je vorgesungen worden war, und sie sang auf Wunsch Dutzende hintereinander mit der hellsten, lieblichsten Stimme der Welt – jede Schwester bestellte ein anderes, und die »Schönheit« kam meistens zuletzt –, so daß ich ganz entzückt war.

Das beste von allem war, daß sämtliche Schwestern bei all ihren Ansprüchen Sophie und Traddles ungemein liebten und schätzten.

Als ich mich verabschiedete und Traddles mit mir fortging, um mich ins Kaffeehaus zu begleiten, regnete auf seinen struppigen Kopf eine Flut von Küssen nieder. Es war ein Anblick, an den ich lange noch, nachdem ich Traddles gute Nacht gesagt, mit Vergnügen denken mußte. Wenn ich tausend Rosen in einer Kanzlei im obersten Stockwerk dieses verwitterten Grays Inn hätte blühen sehen, sie würden es nicht halb so heiter haben machen können. Der Gedanke an diese Mädchen aus Devonshire, mitten unter den vertrockneten Federfuchsern und Advokatenbureaus, an die Kinderlieder in der gestrengen Atmosphäre von Radierpulver und Pergament, rotem Band, staubigen Oblaten, Tintenkrügen, Aktenpapier und Gerichtsschreiben, erschien mir so märchenhaft, als ob die berühmte Familie des Sultans von Tausendundeiner Nacht samt dem singenden Baum, dem redenden Vogel und dem goldnen Wasser mit nach Grays Inn übergesiedelt wäre.

Wie es kam, weiß ich nicht, aber als Traddles mir gute Nacht gesagt und ich wieder in mein Hotel getreten war, hegte ich keine Befürchtungen wegen seiner Zukunft mehr. Ich fühlte, er werde vorwärtskommen, allen Oberkellnern in England zum Trotz.

Ich zog im Kaffeehauszimmer einen Stuhl an den Kamin, um mit Muße an ihn zu denken, aber allmählich lenkte sich meine Aufmerksamkeit von der Betrachtung seines Glückes ab, und wie ich brütend in die Kohlen blickte und sie in der Glut zusammenfallen und ihre Gestalt verändern sah, fielen mir die Schicksalsfälle und Kümmernisse in meinem Leben wieder ein. Ich hatte an keinem Kohlenfeuer gesessen seit den drei Jahren meiner Abwesenheit. Ich konnte jetzt ernst, aber ohne Bitterkeit an die Vergangenheit denken und der Zukunft mutig ins Auge blicken. Ein Familienleben im eigentlichen Sinne gab es für mich nicht mehr. Sie, der ich eine innigere Liebe hätte einflößen können, hatte ich gelehrt, mir eine Schwester zu sein. Sie würde dereinst heiraten und ihre Liebe einem andern schenken und nie von der Liebe erfahren, die in meinem Herzen aufgekeimt. Was ich erntete, hatte ich selbst gesät.

Ich brütete noch darüber, als ich mich dabei ertappte, daß meine Augen auf einem Gesichte ruhten, das sich geradesogut aus der Glut hätte erhoben haben können, so eng verbunden war es mit meinen Jugenderinnerungen.

Der kleine Mr. Chillip, der Arzt, dessen Geschicklichkeit ich so viel von meiner Existenz verdankte, saß bei einer Zeitung in dem Schatten einer Ecke. Er mußte ziemlich alt sein, aber da er von jeher ein sanftes, ruhiges, stilles Männchen gewesen war, hatte es ihn wenig mitgenommen. Ich stellte mir vor, daß er damals, als er in unserm Wohnzimmer auf meine Geburt wartete, auch nicht viel anders ausgesehen haben konnte.

Mr. Chillip hatte Blunderstone vor sechs oder sieben Jahren verlassen und mich seitdem nicht mehr gesehen.

Er las ruhevoll seine Zeitung, den Kopf auf eine Seite geneigt und ein Glas Glühwein neben sich. Er war so bescheiden in seinem ganzen Wesen, daß er selbst die Zeitung um Verzeihung zu bitten schien, als er sie las.

Ich ging zu ihm hin und sagte:

»Wie geht es Ihnen, Mr. Chillip?«

Er machte ein sehr bestürztes Gesicht bei dieser unerwarteten Anrede seitens eines Fremden und antwortete in seiner alten langsamen Weise: »Ich danke Ihnen, Sir, Sie sind sehr gütig. Ich danke Ihnen, Sir. Ich hoffe, Sie befinden sich ebenfalls wohl.«

»Sie erinnern sich meiner nicht?«

»O gewiß, Sir«, antwortete Mr. Chillip mit sanftem Lächeln den Kopf schüttelnd: »Allerdings kommt es mir fast so vor, als ob mir Ihr Gesicht vertraut wäre, aber auf Ihren Namen kann ich mich wirklich nicht besinnen.«

»Und doch wußten sie ihn viel früher als ich selbst.«

»Wirklich, Sir? Wäre es möglich, daß ich die Ehre hatte, Sir, beizustehen, als –?«

»Ja.«

»Mein Gott!« rief Mr. Chillip. »Aber ohne Zweifel haben Sie sich seitdem sehr verändert, Sir?«

»Wahrscheinlich.«

»Ich hoffe, Sie werden entschuldigen, Sir, wenn ich Sie doch um Ihren Namen bitten muß.«

Als ich mich vorstellte, war er sehr bewegt. Er schüttelte mir regelrecht die Hand, – was für ihn einen Leidenschaftsausbruch bedeutete, denn gewöhnlich ließ er nur seine kleine Hand ein paar Zoll an seiner Hüfte sehen, wie ein Fisch seine Flosse, und kam ganz aus der Fassung, wenn sie jemand herzhaft erfaßte. Selbst jetzt steckte er sie sogleich in die Rocktasche, als ich sie wieder losließ, und schien sehr erleichtert, sie wieder in Sicherheit gebracht zu haben.

»Mein Gott«, sagte er und betrachtete mich, den Kopf auf die Seite geneigt, von oben bis unten. »Also Mr. Copperfield, wirklich? Ich glaube jetzt, ich hätte Sie bestimmt erkannt, wenn ich mir die Freiheit genommen haben würde, Sie schärfer anzusehen. Die Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Ihrem seligen Vater ist außerordentlich, Sir.«

»Ich hatte nie das Glück, meinen Vater zu sehen.«

»Sehr wahr, Sir«, sagte Mr. Chillip in begütigendem Ton. »Es war in jeder Hinsicht sehr zu bedauern. Dort unten in unserer Gegend ist Ihr Ruhm nicht unbekannt geblieben. Große Aufregung muß hier herrschen, Sir«, sagte er und tupfte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn. »Eine anstrengende Beschäftigung, nicht wahr, Sir?«

»Wo wohnen Sie jetzt?« fragte ich ihn und setzte mich neben ihn.

»Ich habe mich einige Meilen von Bury St. Edmunds niedergelassen, Sir. Meine Frau erbte dort von ihrem Vater ein kleines Besitztum, und ich kaufte mir eine kleine Praxis dazu, in der es mir recht gut geht. Meine Tochter ist schon recht groß geworden. Erst vorige Woche hat meine Frau zwei Säume aus ihren Röcken auslassen müssen. Ja, ja, so vergeht die Zeit, Sir.« Da der kleine Doktor bei dieser Bemerkung in der Zerstreutheit sein leeres Glas an den Mund setzte, schlug ich ihm vor, es sich wieder füllen zu lassen, wobei ich ihm mit einem andern Gesellschaft leisten wollte.

»Es ist eigentlich mehr, als ich gewohnt bin, aber ich kann mir das Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten, nicht versagen. Es ist, als wäre es gestern gewesen, daß ich die Ehre hatte, Sie während der Masern zu behandeln. Sie haben sie prächtig überstanden, Sir.«

Ich dankte für das Kompliment und ließ mir ein Glas Glühwein kommen.

»Eine etwas ungewöhnliche Abschweifung«, bemerkte Mr. Chillip und rührte sein Getränk um, »aber ich kann einer so außerordentlichen Gelegenheit nicht widerstehen. Sie haben keine Familie, Sir?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich erfuhr, daß Sie vor einiger Zeit einen Verlust erlitten haben, Sir. Ich erfuhr es von Ihres Stiefvaters Schwester. Ein sehr entschiedner Charakter, diese Dame, Sir!«

»Nun ja«, sagte ich, »entschieden genug; wo haben Sie sie gesehen, Mr. Chillip?«

»Sie wissen nicht, mein Herr, daß Ihr Stiefvater wieder ein Nachbar von mir geworden ist?«

»Nein.«

»Ja, er ist wieder mein Nachbar, Sir. Er heiratete eine junge Dame aus jener Gegend mit einer sehr schönen kleinen Besitzung – armes Ding! Und diese Anstrengung Ihres Gehirns, Sir, ermüdet Sie nicht?« fragte er und sah mich an wie ein erstauntes Rotkehlchen.

Ich wich seiner Frage aus und fing wieder von den Murdstones an.

»Es ist mir nur bekannt, daß er sich wieder verheiratet hat. Behandeln Sie die Familie?«

»So gelegentlich. Starke phrenologische Entwicklung des Organs der Entschiedenheit bei Mr. Murdstone und seiner Schwester, Sir!«

Ich antwortete mit einem so ausdrucksvollen Blick, daß Mr. Chillip dadurch und durch den Glühwein ermutigt den Kopf wiegte und gedankenvoll ausrief: »Lieber Himmel, wie sehr erinnert uns alles an die alten Zeiten, Mr. Copperfield!«

»Bruder und Schwester gehen immer noch ihren alten Weg, nicht wahr?« fragte ich.

»Ja, sehen Sie, mein Herr, ein Arzt, der so viel bei Familien herumkommt, sollte eigentlich nur für seinen Beruf Augen und Ohren haben. Ich muß jedoch sagen, sie sind sehr streng, sowohl was dieses als was das künftige Leben anbetrifft.«

»Das künftige wird wohl wenig rücksichtsvoll mit ihnen verfahren, darf man wohl sagen«, erwiderte ich, »aber was machen sie in diesem?«

Mr. Chillip wiegte den Kopf, rührte seinen Glühwein um und nippte daran.

»Sie war eine reizende junge Frau«, bemerkte er in klagendem Ton.

»Die jetzige Mrs. Murdstone?«

»Eine reizende junge Frau. So liebenswürdig wie nur möglich! Mrs. Chillip meint, sie sei seit ihrer Heirat vollständig gebrochen und so gut wie trübsinnig. Und Frauen«, setzte Mr. Chillip schüchtern hinzu, »sind gute Beobachter, Sir.«

»Ich vermute, sie wollten sie auch in derselben abscheulichen Weise umformen, die Ärmste«, sagte ich, »und das scheinen sie erreicht zu haben.«

»Im Anfang gab es heftige Streitigkeiten, aber jetzt ist sie nur mehr ihr eigener Schatten. Ich weiß nicht, ob ich mir herausnehmen darf, Ihnen im Vertrauen zu verraten, daß, seit die Schwester mit dazukam, beide die Arme fast bis zur Geistesschwäche herabgebracht haben.«

Ich sagte ihm, daß ich mir das leicht vorstellen könnte.

»Ich zögere nicht zu konstatieren«, – Mr. Chillip stärkte sich wieder mit einem Schluck Glühwein, – »daß Ihre Mutter, Sir, daran gestorben ist. Diese Tyrannei, das finstere Wesen und die Quälereien haben die jetzige Mrs. Murdstone fast blödsinnig gemacht. Sie war ein lebhaftes junges Mädchen vor der Heirat, und diese finstere Strenge hat sie gebrochen. Sie gehen mit ihr wie Gefängniswärter, nicht wie Gatte und Schwägerin um. Das äußerte erst vorige Woche Mrs. Chillip gegen mich. Und ich versichere Ihnen, Sir, Frauen sind gute Beobachter. Mrs. Chillip selbst beobachtet sehr scharf.«

»Spielt er immer noch den Frommen? Ich schäme mich fast, das Wort in Verbindung mit ihm zu gebrauchen.«

»Sie gebrauchen fast dieselben Worte wie meine Gattin, Sir. Es gab mir ordentlich einen elektrischen Schlag, als mir Mrs. Chillip sagte, daß Mr. Murdstone sich selbst als Götzenbild hinstelle, um sich anbeten zu lassen. Sie hätten mich mit einem Federkiel zu Boden strecken können, versichere ich Ihnen, Sir, als Mrs. Chillip das aussprach. Ja, ja, die Damen sind scharfe Beobachter, Sir.«

»Intuition!« sagte ich, was Mr. Chillip in größtes Entzücken versetzte.

»Ich schätze mich glücklich, meine Meinung von Ihnen bestätigt zu sehen, Sir. Es geschieht nicht oft, ich versichere Ihnen, daß ich ein nichtärztliches Urteil abgebe. Mr. Murdstone hält manchmal Vorträge, und man sagt – kurz Mrs. Chillip sagt –, daß seine Lehren immer fanatischer werden, je tyrannischer er sich selbst zu Hause benimmt.«

»Ich glaube, Mrs. Chillip hat vollkommen recht.«

»Mrs. Chillip geht sogar so weit, zu behaupten«, fuhr der sanfteste aller kleinen Männer ermutigt fort, »daß das, was solche Leute fälschlich Religion nennen, nichts als ein Ventil für ihre bösen Launen und ihre Anmaßung ist. Und wissen Sie, Sir, daß ich keine Begründung für Mr. und Miss Murdstones Lehren im Neuen Testament finden kann?«

»Ich auch nicht.«

»Übrigens kann sie kein Mensch leiden. Und da sie sehr freigebig jedermann, der sie nicht leiden kann, der ewigen Verdammnis empfehlen, so haben wir wahrhaftig das reinste Fegefeuer in unserer Nachbarschaft. Doch wie Mrs. Chillip sagt, Sir, leiden sie selbst eine beständige Strafe, denn immer in sich gekehrt, müssen sie von ihrem eignen Herzen zehren. Und das ist ein mäßiges Futter. Aber um wieder auf Ihr Gehirn zu sprechen zu kommen, wenn Sie gestatten, strengen Sie sich geistig nicht zu sehr an, Sir?«

Es wurde mir bei der Aufregung Mr. Chillips infolge des ungewohnten Glühweins nicht schwer, seine Aufmerksamkeit von diesem Punkte auf seine eignen Angelegenheiten zu lenken, und er wurde in der nächsten halben Stunde sehr gesprächig. Unter anderm erzählte er mir, er befände sich jetzt hier, um vor einer Untersuchungskommission sein ärztliches Gutachten über den Geisteszustand eines Säuferwahnsinnigen abzugeben.

»Ich versichere Ihnen, Sir«, sagte er, »ich bin bei solchen Gelegenheiten sehr nervös. Ich vertrage es nicht, angefahren zu werden. Es raubt mir alle Fassung. Wissen Sie, daß ich mich erst nach einiger Zeit von dem beunruhigenden Benehmen jener strengen Dame an dem Abend Ihrer Geburt erholen konnte, Mr. Copperfield?«

Ich erzählte ihm, daß ich am nächsten Morgen früh zu der Tante, die sich in jener Nacht so drachenhaft benommen, reisen wollte, und daß sie eine der weichherzigsten und vortrefflichsten Frauen sei, wie er selbst einsehen würde, wenn er sie näher kennenlernte. Die bloße Andeutung der Möglichkeit, sie jemals wiedersehen zu müssen, schien ihn in Schrecken zu versetzen. Mit einem gezwungenen Lächeln erwiderte er: »Wirklich – in der Tat – ist sie das?« und fast unmittelbar darauf ließ er sich eine Kerze geben und ging zu Bett, als ob er nirgends anderswo mehr sicher wäre. Er schwankte nicht gerade von dem Glühwein, aber ich glaube, sein ruhiger kleiner Puls muß zwei oder dreimal mehr Schläge in der Minute gehabt haben als gewöhnlich seit der großen Nacht, wo meine Tante in ihrer Enttäuschung mit ihrem Hute nach ihm schlug.

 

Sehr ermüdet ging ich auch um Mitternacht schlafen, fuhr am nächsten Tag mit der Post nach Dover, stürmte frisch und munter in die alte Wohnstube meiner Tante, als sie gerade beim Tee saß, und wurde von ihr und Mr. Dick und der guten alten Peggotty, die die Wirtschaft führte, mit offnen Armen und Freudentränen aufgenommen. Als wir uns erst wieder ruhig unterhalten konnten, machte meiner Tante, die jetzt eine Brille trug, meine Erzählung von dem Zusammentreffen mit Mr. Chillip, und daß er immer noch soviel Angst vor ihr habe, vielen Spaß, und sie sowohl wie Peggotty konnten sich nicht genug über meiner verstorbnen Mutter zweiten Gatten und die »Mordschwester« auslassen.

60. Kapitel Agnes


60. Kapitel Agnes

Meine Tante und ich unterhielten uns bis spät in die Nacht. Die Auswanderer schrieben, erfuhr ich, nur hoffnungsvolle und gute Dinge nach Hause, Mr. Micawber hatte wirklich bei verschiedenen Gelegenheiten kleine Summen zur Tilgung seiner pekuniären Verpflichtungen, »wie es Männern geziemt«, abgezahlt, und Janet, die wieder bei meiner Tante bei deren Rückkehr nach Dover in Dienst getreten war, hatte ihrer Lossagung vom Männergeschlecht damit die Krone aufgesetzt, daß sie einem aufstrebenden Gastwirt ihre Hand reichte. Meine Tante hatte sie in ihrem Vorhaben bestärkt und die Trauung mit ihrer Anwesenheit beehrt. Dies und vieles andere, was mir zum Teil schon durch Briefe bekannt war, bildete unsere Gesprächsthemen. Mr. Dick wurde natürlich nicht vergessen. Meine Tante erzählte mir, er sei unablässig bemüht, alles mögliche abzuschreiben, um durch den Anschein von Beschäftigung König Karl I. in respektvoller Entfernung zu halten, und es sei eine der Hauptfreuden ihres Lebens, ihn in Freiheit und glücklich zu sehen, und nur sie allein könne wissen, was an diesem Manne sei.

»Und wann, Trot«, sagte sie und streichelte meine Hand wie früher, wenn wir vor dem Feuer saßen, »wann wirst du nach Canterbury gehen?«

»Ich werde mir morgen früh ein Pferd mieten und hinüber reiten. Außer, du wolltest mitfahren.«

»Nein«, sagte meine Tante in ihrer kurz angebundnen Weise. »Ich bleibe, wo ich bin.«

»Dann reite ich also. Wenn ich zu jemand anders als zu dir gereist wäre, hätte ich heute nicht ohne Aufenthalt durch Canterbury fahren können.«

Das freute meine Tante. Sie streichelte wieder sanft meine Hand und antwortete: »Ach was, Trot, meine alten Knochen würden auch noch bis morgen zusammengehalten haben«, während ich gedankenvoll ins Feuer sah.

Gedankenvoll! Konnte ich doch nicht hier so unmittelbar in Agnes‘ Nähe sein, ohne daß nicht die schmerzlichen Gedanken in mir wieder auflebten, die mich so lange beschäftigt hatten. Gemildert mochte der Schmerz sein, der mich lehrte, was ich in früheren Tagen zu lernen versäumt, aber es war trotz alledem Schmerz. »Trot«, hörte ich im Geiste meine Tante wieder sagen und verstand sie jetzt besser, – »blind, blind, blind!«

Wir schwiegen beide einige Minuten lang. Als ich wieder aufsah, bemerkte ich, daß sie mich unausgesetzt beobachtete. Vielleicht hatte sie meinen Gedankengang verfolgt; war es doch jetzt leicht, ihm nachzugehen, so kraus er früher gewesen sein mochte.

»Du wirst ihren Vater als weißköpfigen Greis wiederfinden«, sagte sie, »obgleich er in anderer Hinsicht ein besserer, ein wiedergewonnener Mensch ist. Du wirst auch nicht mehr hören, daß er alle menschlichen Interessen, Freuden und Schmerzen mit seinem armseligen kleinen Zollstab mißt. Glaube mir, Kind, derlei Dinge müssen sehr einschrumpfen, ehe man sie in dieser Weise messen kann.«

»Sehr richtig«, sagte ich.

»Und Agnes wirst du so gut, so schön, so ernst und selbstlos finden wie immer. Wenn ich ein größeres Lob wüßte, Trot, würde ich es ihr erteilen.«

Es gab kein größeres Lob für sie, keinen größern Vorwurf für mich. O, wie weit hatte ich mich verirrt!

»Wenn es ihr gelingt, die jungen Mädchen, die sie um sich hat, nach ihrem Vorbild zu erziehen«, sagte meine Tante, und Tränen traten ihr in die Augen, »so hat sie ihr Leben gut angewendet, weiß der Himmel. Nützlich und glücklich, wie sie damals sagte.«

»Hat Agnes einen –« dachte ich mehr laut, als ich sagte.

»Was? He? Einen – was?« fragte meine Tante scharf.

»Einen Bewerber?«

»Ein Schock!« rief meine Tante mit einer Art von entrüstetem Stolz. »Sie hätte zwanzigmal heiraten können, mein Lieber, während du fort warst.«

»Ohne Zweifel«, sagte ich. »Ohne Zweifel. Aber hat sie einen Bewerber, der ihrer würdig ist? Um einen andern würde sie sich nicht kümmern.«

Meine Tante saß eine Weile nachdenklich da, das Kinn auf die Hand gestützt, dann blickte sie langsam auf, sah mich fest an und sagte:

»Ich vermute, sie liebt, Trot.«

»Glücklich?«

»Trot«, erwiderte meine Tante mit großem Ernst, »das kann ich dir nicht sagen. Selbst nur soviel zu sagen, habe ich kein Recht. Sie hat es mir nie anvertraut, aber ich vermute es.«

Sie sah mich so aufmerksam und ängstlich an; sie zitterte sogar dabei, und ich fühlte jetzt genau, daß sie vorhin meine Gedanken verfolgt hatte.

Ich nahm alle meine Entschlossenheit, die ich mir in diesen vielen Tagen und Nächten erkämpft, zusammen.

»Wenn es sich so verhält, und ich hoffe, es ist so –«

»Ich weiß es nicht«, unterbrach mich meine Tante kurz. »Du darfst dich nicht durch meine Vermutungen bestimmen lassen. Du mußt sie geheimhalten. Sie sind vielleicht ganz unbegründet. Ich habe kein Recht, darüber zu sprechen.«

»Sollte es der Fall sein«, wiederholte ich, »so wird es mir Agnes mitteilen, wenn die Zeit gekommen ist. Eine Schwester, der ich so viel anvertraut habe, wird gewiß in ihrem Vertrauen zu mir nicht kargen.«

Meine Tante wendete ihre Augen langsam und gedankenvoll von mir ab. Dann legte sie mir die Hand auf die Schulter, und so saßen wir beide schweigend da und blickten in die Vergangenheit zurück, bis die späte Stunde uns trennte.

 

Früh am Morgen ritt ich nach dem Schauplatz meiner Schulzeit. Ich kann nicht sagen, daß ich mich in der Hoffnung, einen großen Sieg über mich zu gewinnen, selbst bei der Aussicht, Agnes in einigen Stunden wiederzusehen, sehr glücklich fühlte.

Die wohlbekannte Gegend war schnell durchritten, und ich kam in die stillen Straßen, wo jeder Stein ein Kinderbuch für mich war. Ich ging zu Fuß nach dem alten Hause und kehrte wieder um, das Herz zu voll, um einzutreten. Ich kam wieder, und als ich im Vorbeigehen durch die niedrigen Fenster des Turmstübchens blickte, wo zuerst Uriah Heep und dann später Mr. Micawber gesessen, bemerkte ich, daß es jetzt ein kleines Wohnzimmer war und keine Kanzlei mehr. Sonst sah das stille alte Haus in seiner Reinlichkeit und Ordnung unverändert aus.

Ich ließ durch das neue Mädchen, das mir öffnete, Miss Wickfield sagen, ein Herr sei im Auftrage eines Freundes im Ausland hier, und sie führte mich die dunkle alte Treppe hinauf und warnte mich vor den mir doch so wohlbekannten Stufen. Die Bücher, die Agnes und ich zusammen gelesen, lagen auf ihren Regalen, und das Pult, an dem ich manchen Abend meine Schularbeiten gemacht, stand noch auf derselben Ecke des Tischs. Alle die kleinen Veränderungen, die sich mit den Heeps eingeschlichen hatten, waren beseitigt. Alles sah so aus wie in den alten glücklichen Zeiten.

Ich blickte über die alte Straße auf die gegenüberliegenden Häuser und mußte an die regnerischen Nachmittage in meiner Jugendzeit denken, wo ich mancherlei Betrachtungen über die Leute, die hinter den Fenstern auftauchten, angestellt und ihnen mit meinen Blicken treppauf, treppab, gefolgt war, während Frauen in Holzschuhen das Pflaster entlangklapperten und in schrägen Strichen der Regen fiel und aus der Wassertraufe in den Rinnstein schoß. Die Empfindungen, mit denen ich die Landstreicher betrachtet hatte, wie sie an solchen Regentagen in der Dämmerung durch die Stadt hinkten, triefende Bündel an Stöcken über der Schulter, kamen wieder über mich wie damals –, unzertrennlich verknüpft mit dem Geruch feuchter Erde, nasser Blätter und Dornsträucher und der Kühle des Windes, der mich auf meiner mühseligen Wanderung angeweht hatte.

Das Aufgehen der kleinen Tür in der getäfelten Wand schreckte mich aus meinem Brüten, und ich wandte mich um. Agnes‘ schöne klare Augen begegneten den meinen. Sie blieb stehen und legte die Hand aufs Herz, und ich schloß sie in meine Arme.

»Agnes, meine liebe Agnes, ich habe dich allzu unvorbereitet überrascht.«

»Nein, nein! Ich bin so froh, dich wiederzusehen, Trotwood.«

»Liebe Agnes, was für ein Glück für mich, dich wieder einmal zu sehen.«

Ich drückte sie an meine Brust, und eine Weile lang schwiegen wir beide. Dann setzten wir uns nebeneinander hin, und ihr Engelsgesicht blickte mich an mit dem Willkommen, von dem ich Jahre wachend und schlafend geträumt.

Sie war so schön, so gut, so offen, – ich schuldete ihr so viel Dank, daß ich keine Worte für meine Empfindungen zu finden vermochte. Ich versuchte ihr zu sagen und zu danken, wie schon so oft in meinen Briefen, welchen Einfluß sie auf mich gehabt habe; aber vergebens. Meine Liebe und meine Freude waren stumm.

Mit der ihr eignen lieblichen Ruhe besänftigte sie meine Aufregung, führte mich zurück zu der Zeit unseres Abschieds, erzählte mir von Emly, die sie vor der Auswanderung im geheimen viele Male besucht hatte, sprach mit zartsinnigem Mitleid von Doras Grab. Mit dem niemals irrenden Instinkt ihres Herzens berührte sie die Saiten in meiner Erinnerung so sanft und harmonisch, daß auch nicht eine einzige verstimmt erklang. Ich konnte der trauervollen fernen Musik zuhören, ohne Schmerz zu empfinden. Wie hätte es auch anders sein können, wo alles von ihr, dem guten Engel meines Lebens, durchdrungen war.

»Und du, Agnes?« fragte ich endlich, »erzähl mir von dir! Du hast mir noch kein Wort gesagt, wie es dir die ganze Zeit über ergangen ist.«

»Was soll ich dir erzählen!« gab sie mit ihrem strahlenden Lächeln zur Antwort. »Papa ist wohl. Du findest uns hier still und friedlich in unserm eignen Hause; unsere Sorgen sind zu Ende, unsere alte Umgebung ist wieder, wie sie war, und wenn du das weißt, lieber Trotwood, dann weißt du alles.«

»Alles Agnes?«

Sie sah mich an mit einer gewissen unruhigen Verwunderung.

»Weiter nichts, Schwester?«

Das Rot in ihren Wangen, das einen Augenblick verschwunden war, kehrte zurück und schwand wieder. Sie lächelte stilltraurig, wie mir schien, und schüttelte den Kopf.

Ich hatte sie auf das bringen wollen, was meine Tante angedeutet; so tief schmerzlich es auch für mich sein mußte, das Geheimnis zu erfahren, so mußte ich doch mein Herz bezwingen und meine Pflicht gegen sie erfüllen. Doch als ich sah, daß sie unruhig wurde, gab ich es auf.

»Du bist sehr beschäftigt, liebe Agnes?«

»Mit meiner Schule?« fragte sie und blickte mich wieder mit ihrer alten heiteren Fassung an.

»Ja. Es ist eine anstrengende Arbeit, nicht wahr?«

»Die Arbeit ist so angenehm, daß es fast undankbar ist, sie eine solche zu nennen.«

»Nichts Gutes ist schwer für dich«, sagte ich.

Abermals wechselte sie die Farbe, und wieder sah ich dasselbe trübe Lächeln, als sie den Kopf neigte.

»Du bleibst jetzt doch hier und wartest auf Papa?« fragte sie heiter, »und wirst den ganzen Tag mit uns verleben; vielleicht in deinem alten Zimmer schlafen. Wir nennen es immer noch dein Zimmer.«

Das ging nicht an, denn ich hatte meiner Tante versprochen, noch abends zurückzukehren. Aber mit Freuden wollte ich den Tag über dableiben.

»Ich habe noch eine kleine Weile zu tun«, sagte sie, »aber hier sind die alten Bücher, Trotwood, und die alten Musikalien.«

»Selbst dieselben Blumen sind noch da, wenn auch nicht die alten.«

»Ich habe während deiner Abwesenheit ein Vergnügen darin gefunden«, gab Agnes lächelnd zur Antwort, »alles so zu erhalten wie in unserer Kinderzeit. Damals waren wir sehr glücklich, nicht wahr?«

»Das weiß Gott.«

»Und jede Kleinigkeit, die mich an meinen Bruder erinnerte«, und ihre herzlichen Augen ruhten fröhlich auf mir, »war mir ein willkommener Gefährte. Selbst dieses«, – sie zeigte auf das Schlüsselkörbchen an ihrer Seite, – »scheint mir eine Art vertraute Melodie zu klimpern.«

Sie lächelte wieder und verließ durch die kleine Tür das Zimmer.

 

Ich empfand es als Pflicht, ihre schwesterliche Liebe mit frommer Sorgfalt zu hüten. Sie war alles, was mir noch blieb, und ein Schatz. Wenn ich ihr ein einziges Mal die Grundlage des geheiligten Vertrauens und der Gewohnheit, kraft deren sie mir geschenkt worden, entzog, so war sie verloren und für immer dahin. Ich stellte mir das klar vor Augen. Je mehr ich Agnes liebte, desto weniger durfte ich das vergessen.

Ich schlenderte durch die Straßen, und als ich meinen alten Gegner, den Metzger, sah, der jetzt Konstabler, wie der Amtsstab in seinem Laden verriet, war, ging ich auch nach dem Platz, wo ich mit ihm geboxt hatte, und dachte dort an Miss Shepherd und die älteste Miss Larkins und all die kindischen Liebeleien und Freundschaften von damals. Nichts schien diese Zeit überlebt zu haben, nur Agnes, und sie, die immer wie ein Stern gewesen war, strahlte heller und höher.

Als ich zurückkam, traf ich Mr. Wickfield zu Hause. Er beschäftigte sich fast täglich in einem Garten außerhalb der Stadt. Ich fand ihn ganz so, wie ihn meine Tante beschrieben hatte. Wir setzten uns mit einem halben Dutzend kleiner Mädchen zu Tisch, und er war wie der Schatten seines schönen Bildes an der Wand.

Der stille Frieden, der von alters her mit diesem Ort in meinem Gedächtnis verbunden ist, lag wieder auf allem. Da Mr. Wickfield nach dem Essen keinen Wein trank, gingen wir sogleich hinauf, wo Agnes und ihre kleinen Schülerinnen sangen, spielten und arbeiteten. Nach dem Tee gingen die Kinder, und wir drei setzten uns zusammen und plauderten von vergangenen Tagen.

»Wenn ich zurückdenke«, sagte Mr. Wickfield und schüttelte das weiße Haupt, »überkommt es mich wie tiefe Reue, lieber Trotwood, aber ich möchte nichts ausstreichen, wenn es auch in meiner Macht stünde.«

Ich glaubte ihm das gerne, wenn ich das Gesicht neben ihm erblickte.

»Ich würde damit so viel Geduld, Hingebung, so viel Treue und Kindesliebe ausstreichen, die ich nicht vergessen darf. Nein, nicht einmal, um mich selbst zu vergessen.«

»Ich verstehe«, sagte ich leise. »Ich verehre sie, – ich habe sie immer verehrt.«

»Aber niemand weiß, wieviel sie getan, wieviel sie gelitten, wie sehr sie gekämpft hat. Gute Agnes!«

Sie legte bittend die Hand auf seinen Arm, damit er schweige, und war ganz blaß geworden.

»Nun, sei es«, sagte er mit einem Seufzer und, wie ich wohl merkte, über etwas hinweggehend, was mit dem von meiner Tante Geäußerten in Verbindung stehen mußte. »Ich habe wohl noch nie etwas von ihrer Mutter erzählt?«

»Niemals, Mr. Wickfield.«

»Es ist nicht viel zu erzählen, – obgleich sie viel zu leiden hatte; sie heiratete mich gegen ihres Vaters Willen, und er verstieß sie. Sie bat ihn, ihr zu verzeihen, ehe Agnes auf die Welt kam. Er war ein sehr harter Mann, und ihre Mutter lag schon lange im Grabe. Er wies sie zurück. Er brach ihr das Herz.«

Agnes lehnte den Kopf an ihres Vaters Schulter und schlang sanft den Arm um seinen Hals.

»Sie hatte ein liebevolles und weiches Herz«, fuhr er fort, »und es brach. Ich wußte wohl, wie zart es war. Niemand konnte es so gut wissen wie ich. Sie liebte mich innig, fühlte sich aber nie ganz glücklich. Sie litt immer im geheimen unter diesem Kummer, und da sie zart war und schwermütig zur Zeit dieser letzten Abweisung – denn es war nicht das erste Mal –, siechte sie hin und starb. Sie hinterließ mir Agnes, zwei Wochen alt, und graues Haar –«

Er küßte Agnes auf die Wange.

»Meine Liebe zu dem teuern Kind war eine krankhafte Liebe, aber mein ganzes Innere war damals krank. Ich will nicht davon sprechen. Ich spreche nicht von mir, Trotwood, sondern von ihrer Mutter und ihr. Wie Agnes ist, brauche ich nicht zu sagen. Ich habe in ihrem Charakter etwas von der Geschichte ihrer armen Mutter gelesen und erzähle es heute abend, wo wir alle drei nach so viel Wechselfällen wieder beisammensitzen. Ich habe alles gesagt.«

Sein gebeugtes Haupt und Agnes‘ Engelsgesicht und ihre Kindesliebe erhielten dadurch für mich eine noch viel rührendere Bedeutung.

Nach einer kurzen Pause stand Agnes auf, ging von ihres Vaters Seite leise zum Klavier und spielte ein paar Melodien, denen wir so oft in diesem Zimmer gelauscht hatten.

»Beabsichtigst du England wieder zu verlassen?« fragte sie mich, als ich dann neben ihr stand.

»Was meinst du darüber?«

»Ich hoffe nicht.«

»Dann beabsichtige ich es auch nicht, Agnes.«

»Ich denke, du solltest es nicht tun, wenn du mich schon fragst«, sagte sie sanft. »Dein wachsender Ruf erschließt dir die Möglichkeit Gutes zu wirken, und wenn ich auch meinen Bruder entbehren könnte«, – ihre Augen ruhten still auf mir – »so könnte es vielleicht unsere jetzige Zeit nicht.«

»Nur du hast mich zu dem gemacht, was ich bin, Agnes. Das weißt du am besten.«

»Ich dich dazu gemacht, Trotwood?«

»Ja, meine liebe Agnes!« sagte ich und beugte mich über sie. Als wir heute beisammensaßen, versuchte ich, dir etwas zu sagen, was mir im Kopf herumging seit Doras Tod. Weißt du noch, als du zu mir in unser kleines Zimmer tratest, wie du aufwärts wiesest, Agnes?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ach, Trotwood, so liebevoll, vertrauend und so jung war sie! Wie könnte ich das jemals vergessen!«

»So, wie du damals vor mir standest, Schwester, habe ich deiner oft gedenken müssen. Du zeigtest mir immer nach oben, Agnes, und führtest mich zu immer Besserem und Höherem.«

Sie schüttelte nur den Kopf; durch ihre Tränen sah ich wieder das alte trübe Lächeln.

»Und ich bin dir so dankbar dafür, Agnes, daß ich keinen Ausdruck dafür finde. Wenn ich es dir auch nicht sagen kann, wie ich möchte, so will ich, daß du weißt, wie ich mein ganzes Leben lang zu dir aufblicken und mich von dir leiten lassen möchte, wie damals durch die Dunkelheit, die jetzt vorüber ist. Was auch geschehen mag, welche neue Bande du knüpfen wirst, welche Veränderungen zwischen uns treten mögen, immer werde ich zu dir aufblicken und dich lieben wie von jeher. Bis ich sterbe, meine liebe Schwester, werde ich dich immer so vor mir sehen, emporzeigend.«

Sie reichte mir ihre Hand und sagte mir, sie sei stolz auf mich und auf das, was ich eben gesagt, obgleich ich sie weit über ihr Verdienst lobe. Dann spielte sie leise weiter, ohne ihre Augen von mir abzuwenden.

»Weißt du, Agnes, daß das, was ich eben von deinem Vater hörte, seltsamerweise ein Teil des Gefühls zu sein scheint, mit dem ich dich schon betrachtete, als ich dich das erste Mal sah und dann neben dir saß in meinen ungestümen Schuljahren?«

»Du wußtest, daß ich keine Mutter hatte, und fühltest dich zu mir hingezogen.«

»Mehr als das, Agnes. Ich wußte fast, als ob ich diese Geschichte gekannt hätte, daß etwas unerklärlich Mildes dich umgibt, etwas, was bei einer andern traurig gewirkt hätte, nur an dir nicht.«

Sie spielte leise weiter und sah mich immer noch an dabei.

»Du lächelst vielleicht darüber, daß ich solchen Phantasien nachhänge, Agnes?«

»Nein.«

»Oder wenn ich dir sage, daß ich damals schon fühlte, du werdest trotz aller Entmutigungen getreulich ausharren in deiner Liebe und nie damit aufhören bis zum Tod?«

»O nein, o nein!«

Einen Augenblick flog ein kummervoller Schatten über ihr Gesicht, aber noch während des Schreckens, den ich darüber empfand, war er bereits verschwunden.

Als ich in der einsamen Nacht nach Hause ritt und der Wind an mir vorüberstrich wie ein Zug ruheloser Erinnerungen, mußte ich immerwährend daran denken und konnte die Befürchtung nicht loswerden, daß sie sich nicht glücklich fühle. Ich war sicher unglücklich. Aber soweit hatte ich getreulich mit der Vergangenheit abgeschlossen, und wenn ich sie im Geiste aufwärts deuten sah, da war mir, als wiese sie empor wie in eine unenträtselbare Zukunft, wo ich sie doch vielleicht dereinst mit einer auf Erden unbekannten Liebe umfangen und ihr sagen könnte, welchen Kampf ich hier unten durchgerungen.

34. Kapitel Eine große Überraschung


34. Kapitel Eine große Überraschung

Ich schrieb sogleich nach meiner Verlobung an Agnes einen langen Brief, in dem ich ihr begreiflich zu machen suchte, wie glücklich ich sei und welchen Schatz ich in Dora gefunden. Ich bat sie, es ja nicht als eine oberflächliche Leidenschaft zu betrachten, die jemals verfliegen könnte oder nur im mindesten den kindischen Verliebtheiten gliche, wegen deren sie mich immer zu necken pflegte. Ich versicherte ihr, daß die Tiefe unserer Gefühle unergründlich sei, und sprach die Überzeugung aus, daß so etwas noch nie existiert habe.

Zuweilen, wenn ich an Agnes an einem schönen Abend am offnen Fenster schrieb und die Erinnerung an ihr klares, ruhiges Auge und ihr sanftes Antlitz mich beschlich, kam ein solcher Frieden über mich, daß ich weich wurde bis zu Tränen.

Von Steerforth sagte ich nichts. Ich schrieb nur, daß Emlys Flucht in Yarmouth viel schweren Kummer angerichtet habe und daß ich deswegen doppelt litte. Ich wußte, sie würde sofort die Wahrheit erraten und nie seinen Namen zuerst erwähnen.

Auf meinen Brief erhielt ich umgehend Antwort. Als ich ihn las, da war mir, als spräche Agnes zu mir. Er klang in meinen Ohren wie ihre herzgewinnende Stimme. Was kann ich mehr sagen!

Während meiner Abwesenheit hatte Traddles ein paarmal bei mir vorgesprochen. Er hatte Peggotty angetroffen, von ihr gehört, daß sie meine alte Kindsfrau sei, sich mit ihr rasch angefreundet und war dageblieben, um mit ihr ein wenig über mich zu plaudern. So erzählte wenigstens Peggotty, aber ich fürchte sehr, daß das Plaudern nur von ihr allein ausging und gewöhnlich lang dauerte, da es sehr schwer war, ihren Redefluß zu bremsen, wenn es sich um mich drehte.

Das erinnert mich nicht bloß, daß ich Traddles an einem gewissen Nachmittag, den er selbst bestimmt hatte, erwartete, sondern auch daran, daß Mrs. Crupp ihr Amt, wenn auch nicht ihren Lohn, aufgegeben hatte, bis Peggotty nicht mehr ins Haus käme. Nachdem sie eines Tages mit sehr schriller Stimme auf der Treppe offenbar mit einem unsichtbaren Hauskobold, – denn körperlich war sie allein – verschiedene Zwiegespräche über Peggotty gehalten, richtete sie einen Brief an mich, in dem sie ihre Ansichten in Worte faßte. Beginnend mit jenem Ausdruck von universeller Tragweite, der für jedes Ereignis im Leben paßte, nämlich, daß sie selbst Mutter sei, – wies sie darauf hin, daß sie einst ganz andere Tage gesehen, aber zu allen Zeiten ihres Lebens einen stark ausgeprägten Widerwillen gegen Spione, Eindringlinge und Denunzianten empfunden habe. Sie nenne keinen Namen, sagte sie. Wer sich getroffen fühle, der nehme sich selbst beim Ohr, aber Spione, Eindringlinge und Denunzianten, vorzüglich solche in Witwenkleidern (das war unterstrichen), habe sie stets verachtet. Wenn ein Gentleman mit aller Gewalt Spionen, Eindringlingen und Denunzianten – (sie nenne noch immer keine Namen) zum Opfer fallen wolle, so sei das seine Sache, er könne sich das nach Gutdünken einrichten, nur das eine bedinge Mrs. Crupp sich aus, nämlich, daß sie mit solchen Personen nicht in »Kontrakt« gebracht würde. Aus diesem Grunde wolle sie von weitem Dienstleistungen im obern Stockwerk enthoben sein, bis die Dinge wieder wie früher stünden und so, wie sie dieselben wünschte.

Jeden Sonntagmorgen würde ich auf dem Frühstückstisch ihr kleines Verrechnungsbuch vorfinden, und sie bäte um jedesmalige umgehende Bezahlung desselben, damit »allen Teilen Mühe und Unannehmlichkeiten« erspart blieben.

Nach diesem Brief beschränkte sich Mrs. Crupp darauf, auf den Treppen vermittelst Wasserkannen Fallen zu stellen, um Peggotty zu einem Beinbruch zu verhelfen. Ich fand es ein wenig lästig, in einem derartigen Belagerungszustand zu leben, fürchtete mich aber zu sehr vor Mrs. Crupp, um an Abhilfe zu denken.

»Mein lieber Copperfield, wie gehts dir?« sagte Traddles, der allen diesen Hindernissen zum Trotz pünktlich in meiner Tür erschien.

»Lieber Traddles, ich freue mich außerordentlich, dich endlich wiederzusehen, und es tut mir nur leid, daß ich nicht früher mit dir zusammenkommen konnte. Aber ich war so viel in Anspruch genommen –«

»Natürlich«, sagte Traddles, »ich weiß schon. ›Die Deinige‹ lebt in London, glaube ich.«

»Was sagst du da?«

»Sie – entschuldige – Miss D. meine ich«, sagte Traddles und wurde vor lauter Zartgefühl rot, »wohnt in London, glaube ich.«

»Jawohl. In der Nähe von London.«

»Meine«, sagte Traddles mit ernstem Blick, »lebt unten in Devonshire – eine von zehn Schwestern. Demzufolge bin ich nicht soviel in Anspruch genommen als du; – in dieser Hinsicht.«

»Ich begreife nicht, wie du es aushalten kannst, sie so selten zu sehen.«

»Ha«, sagte Traddles gedankenvoll, »es ist auch das reinste Wunder. Wahrscheinlich ertrage ich es, Copperfield, weil ich es nicht ändern kann.«

»Wahrscheinlich«, sagte ich mit einem Lächeln und nicht ohne ein wenig zu erröten, »und weil du so geduldig und beständig bist, Traddles.«

»Mein Gott, komme ich dir wirklich so vor, Copperfield? Ich hätte mir das wirklich nicht zugetraut. Aber sie ist ein so außerordentlich liebes Mädchen, daß sie mich wahrscheinlich mit diesen guten Eigenschaften angesteckt hat. Es sollte mich gar nicht wundern. Ich versichere dir, sie denkt nie an sich und ist immer nur um die andern neun besorgt.«

»Ist sie die Älteste?«

»Ach Gott, nein. Die Älteste ist eine Schönheit.«

Er bemerkte wahrscheinlich, daß ich über die Einfalt seiner Antwort lächeln mußte, und fügte mit freundlicher Miene hinzu:

»Nicht etwa, daß meine Sophie – ein hübscher Name, Copperfield, nicht wahr –«

»Sehr hübsch.«

»Nicht etwa, daß Sophie in meinen Augen nicht auch schön wäre und in jedermanns Augen für eines der liebenswürdigsten Mädchen gelten müßte, aber wenn ich sage, die Älteste ist eine Schönheit, so meine ich, daß sie in Wirklichkeit eine –« er malte mit beiden Händen rings um sich her Wolken in die Luft. »Bezaubernd, du verstehst mich schon«, sagte er mit Energie.

»Gewiß.«

»O, ich versichere dir, wirklich etwas ganz Ungewöhnliches. Da sie aber ganz für die Gesellschaft und zum Bewundertwerden geschaffen ist, wegen der beschränkten Mittel der Familie jedoch wenig davon genießen kann, ist sie natürlich manchmal ein bißchen reizbar und verstimmt. Sophie gibt ihr aber immer ihre gute Laune wieder.«

»Sophie ist die Jüngste?«

»Ach Gott, nein«, sagte Traddles und rieb sich das Kinn. »Die beiden Jüngsten sind erst neun und zehn Jahre. Sophie erzieht sie.«

»Also die zweite Tochter?«

»Nein. Sarah ist die Zweite. Die Ärmste hat irgend etwas mit dem Rückenmark. Es wird allmählich ausheilen, sagen die Ärzte, aber vorläufig muß sie mindestens zwölf Monate im Bett liegen. Sophie pflegt sie. Sophie ist die Vierte.«

»Lebt die Mutter noch?«

»O ja, sie lebt noch. Sie ist eine ganz vorzügliche Frau, aber die feuchte Gegend ist ihrer Gesundheit nicht zuträglich und – kurz, sie ist gelähmt.«

»O Gott!«

»Das ist sehr traurig, nicht wahr«, sagte Traddles, »aber vom Gesichtspunkt einer Haushaltung aus betrachtet ist es nicht gar so schlimm, denn Sophie vertritt ihre Stelle. Sie ist selbst ihr gegenüber Mutter, wie auch den neun andern.«

Ich fühlte die größte Bewunderung für die Tugenden der jungen Dame und fragte dann, mit der besten Absicht, Traddles bei seiner Gutmütigkeit möglichst vor Schaden zu bewahren, wie sich Mr. Micawber befände.

»Er befindet sich ganz wohl, Copperfield, aber ich wohne jetzt nicht mehr bei ihm.«

»Nicht?«

»Nein. Die Sache ist nämlich die«, sagte Traddles geheimnisvoll, »er hat wegen seiner momentanen Geldverlegenheiten den Namen Mortimer angenommen und geht nur nach Dunkelwerden aus und auch dann nur mit Brille. Es gab eine Exekution in unserm Haus der Miete wegen; Mrs. Micawber befand sich in so schlechter Verfassung, daß ich nicht anders konnte, als meinen Namen für den zweiten Wechsel hergeben, von dem neulich gesprochen wurde. Du kannst dir denken, wie angenehm es für mich war, Copperfield, als Mrs. Micawber wieder frischen Mut faßte.«

»Hm«, sagte ich.

»Freilich war ihr Glück nicht von langer Dauer, denn leider kam schon in der nächsten Woche eine zweite Exekution. Das versetzte dem Haushalt den Todesstoß. Ich habe mir seitdem ein möbliertes Zimmer gemietet, und die Mortimers leben ganz zurückgezogen. Du wirst mich gewiß nicht für selbstsüchtig halten, Copperfield, wenn ich dir verrate, daß der Exekutor auch meinen kleinen, runden Tisch mit der Marmorplatte und Sophies Blumentopf mitgenommen hat.«

»Das ist ein Schlag!« rief ich entrüstet.

»Es gab – es gab einen Ruck«, sagte Traddles mit seinem gewohnten Zucken bei diesem Worte. »Ich erwähne es gewiß nicht, um jemand einen Vorwurf damit zu machen, sondern aus einem ganz besondern Grund. Die Sache ist die, Copperfield, ich konnte nämlich damals die Dinge nicht zurückkaufen, erstens, weil der Gläubiger merkte, daß mir viel an ihnen lag, und den Preis entsetzlich in die Höhe trieb, und zweitens, weil ich – kein Geld hatte. Aber ich habe den Laden, in dem die Gegenstände jetzt stehen, nicht aus dem Auge verloren.« – Traddles schwelgte ordentlich im Hochgenuß seines Geheimnisses. – »Er befindet sich am obern Ende der Tottenham Court Road, und heute endlich sind sie zum Verkauf ausgestellt. Ich habe sie bloß von der andern Seite der Straße anzusehen mich getraut, denn wenn der Mann mich erblickte, wäre der Preis unerschwinglich. Da ich nun das Geld habe, ist mir der Gedanke gekommen, dich zu fragen, ob du etwas dagegen hast, wenn deine gute Kindsfrau – ich kann ihr den Laden von weitem zeigen – sie so billig wie möglich für mich zurückkaufen würde.« Die Wonne, mit der mir Traddles diesen Plan auseinandersetzte, und seine Freude über seine unendliche Schlauheit waren unbeschreiblich und stehen mir heute noch deutlich vor Augen.

Ich sagte ihm, daß Peggotty ihm mit größtem Vergnügen beistehen würde und daß wir alle drei das Schlachtfeld besichtigen gehen wollten, aber ich möchte eine Bedingung stellen, und zwar müßte er mir das feierliche Versprechen geben, niemals mehr Mr. Micawber seinen Namen oder irgend etwas sonst zu leihen.

»Mein lieber Copperfield«, sagte Traddles, »das habe ich bereits gelobt, weil ich einzusehen beginne, daß ich nicht nur leichtsinnig, sondern geradezu rücksichtslos gegen Sophie gehandelt habe. Da ich mir bereits selbst das Wort gegeben habe, brauchst du weiter nichts mehr zu befürchten, aber ich gebe es auch dir noch einmal mit größter Bereitwilligkeit. Jenen ersten unglückseligen Wechsel habe ich bereits bezahlt. Ich zweifle keinen Augenblick, daß Mr. Micawber ihn eingelöst haben würde, wenn er gekonnt hätte. Aber er konnte nicht. Übrigens muß ich noch erwähnen, was mir an Mr. Micawber sehr gefällt, Copperfield. Es bezieht sich auf den zweiten Wechsel, der noch nicht fällig ist. Er sagte mir, daß zwar bisher noch keine Deckung dafür vorhanden sei, aber daß sie vorhanden sein werde. Ich finde das wirklich recht offen und ehrlich.«

Ich wollte meines Freundes guten Glauben nicht wanken machen und stimmte ihm daher bei. Sodann gingen wir Peggotty abholen, da Traddles den Abend nicht bei mir zubringen wollte, teils weil er in der lebhaftesten Angst schwebte, ein Fremder könnte ihm die Sachen vor der Nase wegkaufen, teils weil es der Abend der Woche war, an dem er an seine Braut zu schreiben pflegte.

Ich werde nie vergessen, wie er um die Straßenecke herumguckte, während Peggotty um die kostbaren Sachen schacherte, und wie aufgeregt er sich benahm, als sie nach vergeblichem Handeln langsam auf uns zukam, dann aber, von dem Händler zurückgerufen, wieder umkehrte. Das Resultat war, daß sie die Sachen verhältnismäßig billig zurückkaufte und Traddles vor Freude ganz außer sich geriet.

»Ich danke Ihnen wirklich recht sehr, Frau Peggotty«, sagte Traddles, als er vernahm, daß ihm die Gegenstände diesen Abend noch in die Wohnung geschickt werden sollten, »wenn ich aber noch um eins bitten dürfte, – du mußt mich nicht für überspannt halten, Copperfield –«

Ich versicherte ihm schon im voraus das Gegenteil.

»Also wenn es möglich wäre, den Blumentopf – er gehört ja Sophie, Copperfield, – gleich jetzt zu holen, so könnte ich ihn selbst nach Hause tragen.«

Peggotty erfüllte gern seine Bitte, und er überhäufte sie mit Danksagungen und ging dann, den Blumentopf zärtlich im Arm, mit dem freudigsten Gesicht von der Welt heimwärts.

Peggotty und ich kehrten zu meiner Wohnung zurück. Da die Läden immer auf sie einen ganz besondern Reiz ausübten, schlenderte ich gemächlich die Straße entlang und wartete, während sie mit großen Augen in alle Schaufenster guckte.

So brauchten wir eine ziemlich lange Zeit, um nach dem Adelphi zu kommen. Als wir die Treppe hinaufstiegen, fiel nur auf, daß frische Fußspuren sichtbar und Mrs. Crupps sämtliche Fallen verschwunden waren. Zu unserer größten Überraschung stand meine Gangtür offen, und wir hörten drinnen Stimmen. Wir sahen einander erstaunt an, konnten uns nicht erklären, was das zu bedeuten habe, und traten ins Zimmer. Von allen Menschen auf der Welt hätte ich meine Tante und Mr. Dick am wenigsten erwartet.

Meine Tante saß auf einem Haufen Koffer, auf dem Schoß ihre Katze und ihre zwei Vögel daneben, wie ein weiblicher Robinson Crusoe und trank Tee. Mr. Dick lehnte gedankenschwer auf dem großen Drachen, den wir zuweilen hatten steigen lassen, und auch er war von Koffern umgeben.

Wir umarmten uns innig, und Mr. Dick und ich schüttelten einander herzlich die Hände, und Mrs. Crupp, die Tee bereitete und sich vor lauter Aufmerksamkeit gar nicht zu lassen wußte, sagte mit innigem Ton, sie hätte wohl gewußt, wie Mr. Copperfield das Herz überfließen würde, wenn er seine lieben Verwandten sähe.

»Hallo!« rief meine Tante Peggotty zu, die vor ihrem gebieterischen Anblick zurückbebte. »Wie geht es Ihnen?«

»Du erinnerst dich doch meiner Tante, Peggotty«, sagte ich.

»Um aller Liebe und Barmherzigkeit willen, Kind«, rief meine Tante, »nenne die Frau nicht mit diesem Südseeinsulanernamen. Wenn sie verheiratet und ihn los ist, – übrigens das beste, was sie tun konnte warum soll sie daraus keinen Vorteil ziehen? Wie ist Ihr Name jetzt? P…?« fragte meine Tante als Kompromiß für den ihr so verhaßten Namen.

»Barkis, Maam«, antwortete Peggotty mit einem Knix.

»Gut. Wenigstens menschlich. Es klingt wenigstens nicht so, als ob Sie einen Missionär nötig hätten. Wie geht es Ihnen, Barkis? Hoffentlich gut?«

Ermutigt durch diese gnädigen Worte und durch die dargebotene Hand, trat Barkis vor, nahm die Hand und knixte dankend.

»Wir sind beide älter geworden, sehe ich«, sagte meine Tante. »Wir sind einander schon früher einmal begegnet. Das war eine recht nette Geschichte, damals! Trot, Liebling, bitte noch eine Tasse.«

Ich schenkte ihr pflichtschuldig ein; sie saß in ihrer gewöhnlichen steifen Haltung da, und ich wagte Einspruch gegen ihren unbequemen Sitz auf dem Koffer zu erheben.

»Ich will das Sofa herrücken oder den Lehnstuhl, Tante. Du hast es hier sehr unbequem.«

»Ich danke dir, Trot, aber ich ziehe vor auf meinem Eigentum zu sitzen.« Mit diesen Worten blickte meine Tante Mrs. Crupp scharf an und bemerkte: »Wir wollen Sie nicht länger bemühen, Maam.«

»Soll ich nicht vorher noch ein bißchen Tee aufgießen, Maam?« fragte Mrs. Crupp.

»Nein, ich danke Ihnen, Maam.«

»Oder noch ein Stück Butter heraufholen? Wollen Sie vielleicht ein frisches Ei, oder soll ich einen Schnitt Schinken rösten? Kann ich denn gar nichts für Ihre werte Tante tun, Mr. Copperfield?«

»Gar nichts, Maam«, schnitt ihr meine Tante das Wort ab. »Ich werde mir schon so behelfen. Ich danke.«

Mrs. Crupp, die unaufhörlich zum Zeichen ihrer Sanftmütigkeit gelächelt hatte und beständig den Kopf schief hielt, um auf ihre schwache Konstitution hinzuweisen, und sich zum Zeichen unbeirrbarer Dienstwilligkeit die Hände gerieben hatte, lächelte, knixte und schob sich allmählich zur Türe hinaus.

»Dick«, sagte meine Tante. »Wissen Sie noch, was ich Ihnen über Liebedienerei und Geldanbeter gesagt habe?«

Mr. Dick gab mit einem etwas erschreckten Blick, der verriet, daß er es eigentlich vergessen hatte, hastig eine bejahende Antwort.

»Mrs. Crupp gehört zu ihnen. Barkis, vielleicht sind Sie so freundlich und sehen nach dem Tee und schenken mir noch eine Tasse ein. Es war mir unangenehm, mir von der Frau einschenken zu lassen.«

Ich kannte meine Tante hinlänglich, um zu wissen, daß sie etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte und daß ihre so unerwartete Ankunft mehr bedeutete, als ein Fremder hätte annehmen mögen. Ich sah, wie ihr Blick auf mir ruhte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte und wie sie innerlich sonderbar schwankte, während ihr Äußeres seine ganze Steifheit und Fassung bewahrte. Ich fing an nachzudenken, ob ich etwas getan hätte, was sie kränkte, und das Gewissen schlug mir, daß ich ihr noch nichts von Dora gesagt. War es das vielleicht? Ich wußte, sie würde sprechen, wenn sie es für gut finden würde, setzte mich neben sie, streichelte die Vögel und spielte mit der Katze und tat so unbefangen wie möglich. In Wirklichkeit war mir keineswegs danach zumute und hätte es auch nicht sein können, ganz abgesehen davon, daß Mr. Dick, der hinter meiner Tante auf dem großen Drachen lehnte, jede Gelegenheit benützte, um düster den Kopf gegen mich zu schütteln und auf sie zu deuten.

»Trot«, sagte meine Tante endlich, als sie ihren Tee getrunken, sich das Kleid sorgfältig glattgestrichen und den Mund abgewischt hatte, – »Sie brauchen nicht hinauszugehen, Barkis, – Trot, bist du ein fester und selbständiger Charakter geworden?«

»Ich hoffe es, Tante.«

»Wie meinst du das?«

»Nun, ich glaube es, Tante.«

»Also rate einmal« – sie blickte mich ernst an – »warum, meinst du, sitze ich heute abend lieber auf diesem meinem Eigentum?«

Ich schüttelte ratlos den Kopf.

»Weil es alles ist, was ich habe. Weil ich ruiniert bin, mein Liebling.«

Wenn das Haus und wir mit ihm in den Fluß hinabgefallen wären, hätte ich kaum mehr erschrocken sein können.

»Dick weiß es«, sagte meine Tante und legte ihre Hand ruhig auf meine Schulter. »Ich bin ruiniert, lieber Trot. Alles, was ich noch auf der Welt besitze, befindet sich hier in diesem Zimmer, mit Ausnahme des Häuschens, und das sucht Janet zu vermieten. Barkis, ich möchte ein Bett für diesen Herrn haben! Der Ersparnis wegen könnten Sie vielleicht auch für mich hier irgend etwas zurechtmachen. Irgend etwas. Es ist nur für die eine Nacht. Wir werden morgen weiter darüber reden.«

Ich war ganz starr vor Erstaunen und Sorgen um sie und nur um sie und wurde nur dadurch herausgerissen, daß sie mir einen Augenblick lang um den Hals fiel und mir weinend sagte, daß sie bloß meinetwegen bekümmert sei. In der nächsten Minute hatte sie ihre Bewegung wieder unterdrückt und sagte mehr triumphierend als niedergeschlagen:

»Wir müssen Schicksalsschlägen kühn ins Gesicht sehen und dürfen uns nicht einschüchtern lassen, Liebling. Wir müssen lernen, die Komödie zu Ende zu spielen. Wir müssen das Unglück müde machen, Trot.«

61. Kapitel Zwei interessante Reuige werden vorgeführt


61. Kapitel Zwei interessante Reuige werden vorgeführt

Eine Zeitlang wohnte ich bei meiner Tante in Dover und schrieb dort ungestört und eifrig an meinem Roman an demselben Fenster, von dem aus ich einst auf den Mondschein auf dem Meere draußen geblickt hatte, als dieses Haus mir das erste Mal Obdach gewährte.

Zuweilen besuchte ich London, um mich in dem Gewühl des Lebens ein wenig zu verlieren oder mit Traddles über eine Geschäftsangelegenheit zu beraten. Er hatte meine Angelegenheiten während meiner Abwesenheit mit größter Umsicht verwaltet, und meine Vermögensverhältnisse standen sehr gut. Als mir mein Bekanntwerden als Schriftsteller eine ungeheure Menge Briefe von mir unbekannten Leuten ins Haus brachte, die meist von nichts handelten und sehr schwer zu beantworten waren, – einigte ich mich mit Traddles, an seine Tür auch meinen Namen anschlagen zu lassen.

Dort lieferten die unglücklichen Briefträger dieses Bezirkes ganze Scheffel von Briefen an mich ab, und ich arbeitete mich von Zeit zu Zeit durch die Papiermassen durch wie ein Staatssekretär. Nur ohne Gehalt. Unter diesen Briefen fand sich dann und wann ein Angebot von einem der zahllosen Outsiders, die sich immer in den Commons herumtreiben, mit Benützung meines Namens, da ich jetzt Proktor geworden, zu praktizieren und mit mir den Gewinn zu teilen. Aber ich lehnte jedes Mal ab, da ich die Commons für schlecht genug hielt, um noch etwas dazu beitragen zu müssen.

Die Mädchen waren nach Hause gereist, und der Bursche mit dem pfiffigen Gesicht sah den ganzen Tag aus, als ob er nicht das mindeste von Sophie wüßte, die bei ihrer Arbeit in ihrem Hofzimmer mit der Aussicht auf ein rauchgeschwärztes Streifchen Garten mit einem Ziehbrunnen darin zu sitzen pflegte. Immer fand ich sie dort, immer dieselbe muntere Hausfrau, und oft summte sie ihre Devonshirer Balladen und erquickte damit das Ohr des pfiffigen Burschen.

Im Anfang wunderte ich mich, warum ich sie so oft mit Schreiben beschäftigt fand und warum sie immer, wenn ich kam, ihr Buch zuklappte und es schnell in die Schublade legte. Aber das Geheimnis löste sich bald. Eines Tages nämlich nahm Traddles, als er bei regnerischem Wetter vom Gericht nach Hause kam, ein Papier aus seinem Pult und fragte mich, was ich von der Handschrift hielte.

»Aber laß doch, Tom«, rief Sophie, die seine Hausschuhe am Kamin wärmte.

»Warum nicht, liebe Sophie?« erwiderte Tom ganz entzückt. »Was hältst du von dieser Handschrift, Copperfield?«

»Eine ausgeschriebne Advokatenhand. Ich habe kaum je eine festere gesehen.«

»Keine Damenhand?«

»Eine Damenhand!« wiederholte ich. »Mauersteine und Kalk sehen einer Damenhand ähnlicher.«

Traddles brach in ein entzücktes Lächeln aus und sagte mir, es sei Sophies Schrift. Sie habe sie sich, damit sie einen Schreiber sparen könnten, nach Vorlagen angeeignet. Ich weiß nicht mehr, wieviel Folioseiten in der Stunde sie schreiben konnte. Sie wurde sehr verlegen und meinte, wenn Tom erst einmal Richter wäre, werde er es nicht mehr so bereitwillig ausplaudern. Das leugnete Tom und behauptete, er werde unter allen Verhältnissen gleich stolz darauf sein.

 

»Wie gut und liebenswürdig deine Frau ist, Traddles«, sagte ich, als sie lachend fortgegangen war.

»Lieber Copperfield, sie ist ohne Ausnahme das beste Mädchen von der Welt! Und wie sie wirtschaftet! Ihre Pünktlichkeit, Häuslichkeit, Sparsamkeit und ihr heiterer Sinn, Copperfield!«

»Du hast alle Ursache, sie zu loben«, stimmte ich ein. »Du bist ein glücklicher Mensch. Ich glaube, ihr beide macht euch gegenseitig zu den glücklichsten Menschen auf Erden.«

»Ich bin überzeugt, daß wir es sind. Ich gebe das in jeder Hinsicht zu. Mein Gott, wenn ich sie früh bei Tagesanbruch aufstehen sehe, wie sie alles vorbereitet, auf den Markt geht bei jedem Wetter, ehe die Schreiber in die Inn kommen, die prächtigsten kleinen Mittagessen aus den einfachsten Sachen herstellt, Puddings und Pasteten bereitet, jedes Ding an seinem rechten Platz erhält, auf mich abends wartet, wenn es noch so spät wird, und immer fröhlich und guten Mutes ist und dabei schmuck und hübsch aussieht, kann ich es manchmal kaum glauben, Copperfield.«

Er war selbst gegen die Pantoffel, die sie gewärmt hatte, zärtlich, als er sie anzog und seine Füße vergnügt an das Kamingitter stellte.

»Und dann erst unsere Vergnügungen! Mein Gott, kostspielig sind sie nicht, aber ganz wundervoll. Wenn wir abends zu Hause sitzen, die Außentür zuschließen und die Vorhänge hier, die sie selbst gemacht hat, zuziehen, wo kann es da gemütlicher sein! Wenn wir bei schönem Wetter spazierengehen, bieten sich uns in den Straßen tausenderlei Freuden. Wir schauen in die blitzenden Juwelierläden, und ich zeige Sophie die Schlangen mit den Diamantaugen auf den kleinen Hügeln aus weißem Atlas, die ich ihr schenken würde, wenn ich das Geld dazu hätte, und sie zeigt mir, welche von den goldnen, mit Steinen besetzten Uhren sie mir kaufen möchte, wenn es langte. Wir suchen uns die Löffel und Gabeln, Fischkellen, Buttermesser und Zuckerzangen aus und gehen mit einem Gefühl fort, als ob wir sie schon hätten. Dann, wenn wir auf die freien Plätze und in die breiten Straßen kommen, besprechen wir, wie das oder jenes Haus sich machen würde, wenn ich erst Richter wäre, und teilen es ein: – soviel Zimmer für uns, soviel für die Mädchen und so weiter, bis wir zu unserer Zufriedenheit festgestellt haben, ob es passen würde oder nicht. Manchmal gehen wir bei halben Preisen ins Theater ins Parterre – dessen Geruch schon meiner Meinung nach für das Geld billig ist – und genießen das Stück, von dem Sophie jedes Wort glaubt und ich auch.

Auf dem Nachhausewege kaufen wir vielleicht eine kleine Delikatesse in einer Garküche oder einen kleinen Hummer bei einem Fischhändler und bereiten uns zu Hause ein glänzendes Abendessen, bei dem wir über alles, was wir gesehen, plaudern. Siehst du, wenn ich Lordkanzler wäre, Copperfield, könnte ich das alles nicht tun.«

Du würdest in jeder Stellung etwas Hübsches, Liebenswürdiges tun, Traddles, dachte ich bei mir.

»Übrigens«, sagte ich, »du zeichnest jetzt gewiß keine Gerippe mehr.«

»O doch«, entgegnete Traddles mit Lachen und ein wenig errötend, »ich kann es nicht leugnen, lieber Copperfield. Als ich neulich mit der Feder in der Hand in einer der rückwärtigen Reihen in Kingsbench saß, fiel mir ein, ob ich es noch könnte. Und ich fürchte, es ist jetzt ein Gerippe mit einer Perücke auf dem Rande des Pultes zu sehen.«

Nachdem wir beide herzlich gelacht hatten, schloß Traddles, ins Feuer blickend, in seiner milden, verzeihenden Weise:

»Der alte Creakle!«

»Ich habe einen Brief hier von diesem alten – Halunken«, sagte ich, denn ich dachte weniger versöhnlich.

»Von Creakle, unserm Lehrer?!« rief Traddles. »Nicht möglich!«

»Unter den Personen, die mein Ruf als Schriftsteller anzieht«, sagte ich und blätterte in meinen Briefen, »und die jetzt mit einem Mal entdecken, daß sie mich von jeher geliebt haben, ist dieser selbige Creakle. Er ist jetzt nicht mehr Schuldirektor, Traddles. Er hat sich zurückgezogen. Er ist Gefängnisdirektor in Middlessex.«

Traddles war gar nicht so erstaunt, wie ich erwartet hatte.

»Wie mag er es wohl dazu gebracht haben?« fragte ich.

»Mein Gott, das ist wohl schwer zu beantworten. Vielleicht hat er für jemand seine Stimme abgegeben, jemand Geld geliehen oder auf andere Weise verpflichtet; eine schmutzige Geschichte für jemand auf sich genommen, der dann den Grafschaftsgouverneur veranlaßte, ihn zu ernennen.«

»Im Amt ist er jedenfalls«, sagte ich. »Er schreibt mir hier, er würde sich freuen, mir das einzig wahre System der Gefangenenbehandlung vorführen zu dürfen; die einzig richtige Methode, aufrichtige; dauernde Bekehrung und Reue zu erwecken. Du weißt, durch Einzelhaft. Was meinst du dazu?«

»Zu der Methode?«

»Nein. Ob ich das Anerbieten annehmen soll und ob du mitkommen willst?«

»Ich habe nichts dagegen.«

»Dann will ich ihm schreiben. Du weißt doch noch, wie dieser Creakle seinen Sohn verstieß und seine Frau und Tochter behandelte, von unserer Behandlung gar nicht zu sprechen.«

»Vollkommen.«

»Wenn du jetzt seinen Brief liest; wirst du finden, daß er der allerzärtlichste Mensch gegen Verbrecher ist, die sämtlicher Paragraphen des Kriminalgesetzes überführt sind. Auf keine andere Klasse von Geschöpfen scheint sich seine Liebe zu erstrecken.«

Traddles zuckte nur mit den Schultern und war gar nicht verwundert.

Ich selbst war eigentlich auch nicht darüber erstaunt, hatte ich doch nicht selten ähnliche praktische Satiren in Wirklichkeit mitangesehen.

 

An dem bestimmten Tag begaben wir uns nach dem Gefängnis, wo Mr. Creakle allmächtig war. Es war ein riesiges solides Gebäude, das unendlich viel Geld gekostet hatte. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, wieviel Geschrei wohl im Lande gewesen wäre, würde jemand vorgeschlagen haben, auch nur halb soviel zur Errichtung einer Industrieschule für die Jugend oder einer Stiftung für alte verdiente Bedürftige auszugeben.

In einem Amtszimmer, das geradesogut für das Erdgeschoß des Turms zu Babel gepaßt hätte, so fest war es, wurden wir unserm alten Schulmeister vorgestellt. Inmitten einer Gruppe von zwei oder drei geschäftseifrigen Beamten und einigen Gästen empfing mich Mr. Creakle wie ein Mann, der meinen Geist in früheren Zeiten gebildet und mich immer zärtlich geliebt hätte. Als ich ihm Traddles vorstellte, sprach er sich in ähnlicher Weise, wenn auch gemäßigter aus, daß er immer Traddles‘ Führer und Freund gewesen sei. Er sah viel älter aus als damals, aber keineswegs angenehmer. Sein Gesicht war noch so rot wie früher, die Augen, ebenso klein, schienen noch tiefer zu liegen. Das dünne, feucht aussehende graue Haar war fast ganz verschwunden, und die dicken Adern auf dem kahlen Kopf machten ihn durchaus nicht anziehender.

Nach längerer Unterhaltung mit den verschiednen Herren, nach der ich hätte annehmen müssen, es könne auf der Welt nichts Wichtigeres geben als die höchstmögliche Bequemlichkeit der Gefangenen und koste sie, was sie wolle, begannen wir unsere Besichtigung. Da gerade Essenszeit war, gingen wir zuerst in die große Küche, wo das Essen, für jeden einzelnen Gefangenen besonders, mit der Genauigkeit einer Maschine abgeteilt wurde. Ich sagte halblaut zu Traddles, ob denn niemand der Unterschied zwischen diesen reichlichen Speisen von auserlesener Güte und dem Mittagessen – nicht etwa der Armenhausbewohner –, nein, auch der Soldaten, Matrosen, der großen Masse ehrenwerter Arbeiter, von denen auch nicht einer von fünfhundert nur ein einziges Mal halb so gut speisen könnte, zu denken gäbe. Aber ich erfuhr, daß das »System« gute Kost erfordere, und fand, daß in dieser Hinsicht wie in jeder andern ein »System« allem Zweifel ein Ende macht und alle Anomalien erklärt. Niemand schien die geringste Ahnung zu haben, daß es noch ein anderes »System« geben könnte als dieses hier.

Als wir durch die prächtig gewölbten Gänge schritten, fragte ich Mr. Creakle und seine Freunde, worin denn eigentlich die Hauptvorzüge dieses alles überragenden »Systems« beständen. Die Vorzüge waren: vollständige Isolierung der Gefangenen, so daß keiner das geringste von den andern wüßte, und allmähliche Erziehung zu einem gesunden Gemütszustand, der schließlich zu aufrichtiger Reue führen sollte.

Aber, als wir einzelne Zellen besichtigten und uns erklären ließen, wie die Gefangenen dem Gottesdienst beiwohnten, da kam es mir sehr wahrscheinlich vor, daß sie ziemlich viel voneinander wüßten und ein recht vollständiges System des Gedankenaustausches besäßen.

Inzwischen ist das, glaube ich, nachgewiesen worden. Doch da es plumpe Lästerung des Erziehungssystems bedeutet hätte, wenn ich einen Zweifel auch nur angedeutet haben würde, beschränkte ich mich darauf, mich so fleißig wie möglich nach den Resultaten hinsichtlich der erzielten Reue umzusehen.

Auch hier konnte ich mich des Mißtrauens nicht erwehren. Ich fand in der Form der Buße eine Mode so vorherrschend wie in den Schneiderläden an den Röcken und Westen. Ich sah sehr viel zur Schau getragen von einer Reue, die sich überall verdächtig gleich blieb und sich kaum in den Worten unterschied. Ich fand sehr viel Füchse, denen die Trauben zu sauer waren, und daß diejenigen, die ihre Reue am meisten zur Schau trugen, sich der allergrößten Teilnahme erfreuten.

Ich hörte so oft einen Numero 27 als Mustergefangenen erwähnen, daß ich mein Urteil verschob, bis ich ihn zu Gesicht bekäme.

Numero 28 sei ebenfalls ein besonders heller Stern, hieß es, aber er hatte das Unglück, daß sein Glanz durch Numero 27 verdunkelt wurde. Ich hörte so viel von Nummer 27, seinen frommen Ermahnungen an alle, die in seine Nähe kämen, und von den schönen Briefen, die er rastlos an seine Mutter, die er auf sehr schlechtem Wege zu glauben schien, schriebe, daß ich darauf brannte, ihn kennenzulernen.

Ich mußte meine Ungeduld einige Zeit zügeln, da sein Anblick als Schlußeffekt aufbewahrt war, aber endlich standen wir vor der Tür seiner Zelle, und Mr. Creakle blickte durch ein kleines Loch hinein und berichtete uns in höchster Bewunderung, daß der Gefangene in seinem Gesangbuch läse. So viel Köpfe drängten sich sofort vor, um Numero 27 im Gesangbuch lesen zu sehen, daß das kleine Loch von mindestens sechs Köpfen auf einmal besetzt war. Um diesem Übelstand abzuhelfen und uns Gelegenheit zu geben, mit Numero 27 in seiner ganzen Reinheit sprechen zu können, ließ Mr. Creakle die Zelle aufsperren und den Gefangenen herauskommen. Wen anders erkannten Traddles und ich zu unserm größten Erstaunen in dem bekehrten Numero 27 als – Uriah Heep.

Er bemerkte uns sofort und sagte schon beim Heraustreten mit seiner alten kriecherischen Verrenkung:

»Wie geht es Ihnen, Mr. Copperfield, und Ihnen, Mr. Traddles?«

Die Erkennungsszene erregte die Bewunderung aller Anwesenden. Mir schien es, als seien alle tief ergriffen darüber, daß er nicht stolz war und uns beachtete.

»Nun 27«, sagte Mr. Creakle mit schwermütiger Teilnahme, »wie befinden Sie sich zur Zeit?«

»Ich bin sehr demütig, Sir.«

»Das sind Sie immer, 27«, bestätigte Mr. Creakle.

Ein Herr fragte angelegentlichst: »Befinden Sie sich wirklich recht wohl hier?«

»Ja, ich danke Ihnen, Sir«, gab Uriah Heep zur Antwort und blickte den Fragenden an. »Ich fühle mich hier viel wohler als jemals draußen. Ich erkenne jetzt meine Fehler, Sir, und das ist so tröstlich.«

Viele der Herren waren tief ergriffen, einer drängte sich vor und forschte gefühlvoll: »Wie finden Sie das Rindfleisch?«

»Ich danke Ihnen, Sir! Es war gestern zäher als wünschenswert, aber es ist meine Pflicht, zu dulden. Ich habe Torheiten begangen, meine Herrn«, sagte Uriah und blickte mit demütigem Lächeln umher, »und muß jetzt die Folgen ohne Murren tragen.«

Mitten in dem Gemurmel, das halb wie Befriedigung klang über 27s engelreinen Seelenzustand, halb wie Entrüstung über den Lieferanten, der Anlaß zur Klage gab – was Mr. Creakle sofort notierte, – stand Numero 27 da, als fühle er sich als schönstes Stück in einem reichhaltigen Museum.

Damit auf uns Laien ein Übermaß von Licht herabstrahle, wurde auch 28 herausgelassen.

Ich war schon so erstaunt, daß ich es nur noch zu einer Art resignierter Verwunderung bringen konnte, als Mr. Littimer heraustrat, in der Hand ein gutes Buch.

»28«, sagte ein Herr mit Brille, »Sie klagten vorige Woche über den Kakao, mein Bester. Wie ist er seitdem gewesen?«

»Ich danke Ihnen, Sir«, entgegnete Mr. Littimer. »Er war besser zubereitet. Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, es zu erwähnen, Sir, so glaube ich nicht, daß die Milch, mit der er gekocht wird, ganz echt ist, aber ich weiß recht gut, Sir, daß man sie in London sehr verfälscht und daß dieser Artikel in reinem Zustand nur schwierig zu erlangen ist.«

Der Herr mit der Brille schien seine Nummer 28 gegen Mr. Creakles 27 ausspielen zu wollen, und er wie Creakle wetteiferte darin, seinen Mann vorzureiten.

»Wie ist Ihr Seelenzustand, 28?«

»Ich danke Ihnen, Sir«, entgegnete Mr. Littimer, »ich sehe jetzt meine Torheiten ein, Sir. Es bereitet mir sehr viel Kummer, wenn ich an die Sündhaftigkeit meiner früheren Genossen denke; aber ich hoffe, daß sie Vergebung finden werden.«

»Sie selbst sind ganz glücklich?« fragte der Herr und nickte ermutigend.

»Ich danke Ihnen sehr, Sir. Vollkommen glücklich.«

»Haben Sie irgend etwas auf dem Herzen? Dann sprechen Sie es aus, 28.«

»Sir«, sagte Mr. Littimer, ohne aufzublicken, »wenn mich meine Augen nicht täuschen, so ist ein Gentleman hier, der in meinem früheren Leben mit mir bekannt war. Es kann diesem Herrn vielleicht von Nutzen sein, wenn er erfährt, Sir, daß ich meine früheren Torheiten lediglich dem Umstand zuschreibe, daß ich ein gedankenloses Leben im Dienste junger Leute geführt habe und mich von ihnen zu Schwächen habe hinreißen lassen, denen zu widerstehen ich nicht stark genug war. Ich hoffe, der Gentleman wird das als Warnung annehmen und es mir nicht als Anmaßung auslegen. Es geschieht zu seinem Besten. Ich bin mir meiner früheren Torheit bewußt. Ich hoffe, er wird all die Schlechtigkeit und Sünde bereuen, an der er teilgenommen hat.«

Ich sah, daß mehrere der Herren sich die Hand vor die Augen hielten, als ob sie eben in eine Kirche getreten wären.

»Das macht Ihnen Ehre, 28«, sprach der Herr mit der Brille, »Ich habe es von Ihnen erwartet. Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen?«

»Sir«, gab Mr. Littimer zur Antwort, ohne aufzusehen, nur die Brauen ein wenig in die Höhe ziehend, »ich kannte ein Mädchen, das auf schlechte Wege geriet und das ich vergeblich zu retten versuchte. Ich bitte diesen Herrn, wenn es in seiner Macht steht, dem Mädchen von mir zu sagen, daß ich ihr ihr schlechtes Betragen gegen mich verzeihe und sie zur Reue ermahne – wenn er so gut sein will.«

»Ich bezweifle nicht, 28«, sagte der Herr mit der Brille, »daß der Gentleman, den Sie meinen, so tief wie wir alle fühlt, was Sie so angemessen ausgedrückt haben. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Mr. Littimer. »Ich wünsche Ihnen Guten Tag und hoffe, daß Sie und Ihre Familien ebenfalls Ihre Sündhaftigkeit einsehen und sich bessern werden.«

Damit entfernte er sich, nachdem er noch einen Blick mit Uriah gewechselt, als ob sie durchaus nicht so unbekannt miteinander wären; und ein Murmeln ging durch die Gruppe, als die Zellentür sich schloß, daß Numero 28 ein höchst respektabler Mann und ein schöner Fall sei.

»Nun 27?« sagte Mr. Creakle, jetzt mit seinem Prachtexemplar in die Arena tretend. »Kann jemand etwas für Sie tun? Sagen Sie es nur!«

»Ich möchte demütigst um Erlaubnis bitten, Sir«, antwortete Uriah mit einem Zucken in seinem tückischen Gesicht, »Mutter schreiben zu derfen.«

»Das soll Ihnen gewiß gestattet werden«, sagte Mr. Creakle.

»O, ich danke Ihnen, Sir. Ich bin in großer Sorge um Mutter. Ich fürchte, sie ist nicht sicher.«

»Wovor?« fragte jemand unvorsichtigerweise. Ein allgemeines entrüstetes »Still!« verwies den Vorwitzigen zur Ruhe.

»Der ewigen Seligkeit nicht sicher, Sir«, gab Uriah zur Antwort und krümmte sich in der Richtung des Fragers hin. »Ich wollte, Mutter befände sich in meinem Seelenzustand. Ich würde nie so geworden sein, wie ich jetzt bin, wenn ich nicht hierhergekommen wäre. Ich wollte, Mutter wäre hier. Es wäre besser für alle, wenn sie verhaftet und hierher gebracht würde.«

Diese Äußerung erregte unbegrenzte Befriedigung – größere als jede andere bisher.

»Ehe ich hierher kam«, sagte Uriah und warf uns einen Seitenblick zu, als hätte er am liebsten die ganze Außenwelt, zu der wir gehörten, vergiftet, »beging ich Torheiten. Aber jetzt sehe ich sie ein. Es herrscht viel Sünde draußen. Es ist viel Sünde in Mutter. Es ist nichts als Sünde überall außer hier.«

»Sie sind also ganz verändert?« fragte Mr. Creakle.

»Der Himmel weiß es, Sir«, rief der hoffnungsvolle Büßer.

»Sie würden nicht rückfällig werden, wenn Sie hinauskämen?« fragte jemand.

»O Gott im Himmel nein, Sir.«

»Das ist hocherfreulich«, triumphierte Mr. Creakle. »Sie haben vorhin Mr. Copperfield angesprochen, 27. Wünschen Sie ihm noch etwas zu sagen?«

»Sie kannten mich lange Zeit, bevor ich hierher kam und mich änderte, Mr. Copperfield«, sagte Uriah mit seinem allerniederträchtigsten Blick, dessen er fähig war. »Sie kannten mich, als ich demütig war unter denen, die da stolz sind, und sanft unter den Gewalttätigen. Sie selbst waren einmal gewalttätig gegen mich, Mr. Copperfield. Einmal schlugen Sie mich ins Gesicht. Sie wissen doch.«

Allgemeines Mitleid. – Verschiedne unwillige Blicke richteten sich auf mich.

»Aber ich verzeihe Ihnen, Mr. Copperfield. Ich vergebe Ihnen allen. Es würde mir schlecht anstehen, Groll im Herzen zu hegen. Ich vergebe Ihnen aus eignem Antrieb und hoffe, Sie werden in Zukunft Ihre Leidenschaften bezähmen. Ich hoffe, Mr. W. wird bereuen und Miss W. und die ganze sündhafte Rotte. Sie sind von großem Leid heimgesucht worden, und ich hoffe, daß es Ihnen zum Guten gereicht. Aber besser wäre es dennoch, Sie kämen hierher. Und für Mr. W. wäre es ebenfalls besser und auch für Miss W. – Nichts kann ich Ihnen mehr wünschen, Mr. Copperfield, und allen diesen Herren, als daß man Sie hierher brächte. Wenn ich an meine früheren Torheiten zurückdenke und mir meinen gegenwärtigen Zustand vor Augen halte, fühle ich, daß es das Beste für Sie wäre. Ich bemitleide alle, die nicht hierher gebracht werden.«

Unter allgemeinem Beifallsgemurmel schlängelte er sich in seine Zelle zurück, und Traddles und ich fühlten uns sehr erleichtert, als sich die Türe hinter ihm wieder schloß.

 

Es war ein charakteristischer Zug in dieser Besserungsanstalt, daß ich erst nach der Ursache der Gefängnisstrafe der beiden Verbrecher fragen mußte. Wie es schien, war das ein nebensächlicher Punkt, und ich wendete mich an einen der beiden Gefangenenwärter, die, wie ich nach gewissen leisen Andeutungen in ihren Gesichtern merkte, sehr wohl wußten, wie sie mit den Sträflingen dran waren.

»Wissen Sie vielleicht?« fragte ich, als wir den Gang entlangschritten, »aus welchem Verbrechen Numero 27s ›letzte Torheit‹ bestand?«

Die Antwort war, es sei eine Banksache gewesen.

»Ein Betrug gegen die Bank von England?«

»Ja, Sir! Betrug, Fälschung, Komplott. Er und noch ein paar andere. Er war der Anstifter. Es war ein groß angelegter Plan, und es handelte sich um eine bedeutende Summe. Das Urteil lautet auf lebenslängliche Deportation. 27 war der schlauste Vogel von der ganzen Bande und log sich beinah heraus; aber nicht ganz. Die Bank war gerade noch imstande, ihn bei einem Fittich zu erwischen. – Aber nur mit knapper Not.«

»Wissen Sie, was 28 verbrochen hat?«

»28«, sagte der Mann in leisem Ton und mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter, um nicht bei so statutenwidrigen Äußerungen von Creakle und den Übrigen belauscht zu werden: »28 – ebenfalls Deportation – stand bei einem jungen Herrn in Diensten und stahl ihm am Tag vor einer Reise ins Ausland zweihundertfünfzig Pfund in Geld und Pretiosen. Ich erinnere mich deshalb des Falles noch so genau, weil der Verbrecher von einer Zwergin gefaßt wurde.«

»Von wem?«

»Von einer Zwergin. Ich habe den Namen vergessen.«

»Doch nicht Mowcher?«

»Ja, ja, so hieß sie. Er war allen Nachforschungen entgangen und eben im Begriff, sich mit falscher Perücke und Bart und geschickt verkleidet nach Amerika einzuschiffen, als die Zwergin, die sich gerade in Southampton aufhielt, ihn zufällig auf der Straße traf und erkannte, ihm vor die Beine lief, ihn zu Fall brachte und festhielt wie der leibhaftige Tod.«

»Prächtige Miss Mowcher!« rief ich.

»Das hätten Sie erst recht gesagt, Sir, wenn Sie die Zwergin bei der Verhandlung in der Zeugenloge hätten stehen sehen. Er schlug ihr das Gesicht blutig und hämmerte ihr in der gräßlichsten Weise auf dem Kopf herum, als sie ihn gepackt hielt, aber sie ließ nicht einen Augenblick los, bis er die Handschellen bekam. Man konnte sie gar nicht von ihm losreißen, so daß die Polizisten beide zusammen festnehmen mußten. Sie gab ihre Zeugenaussagen in der klarsten und bestimmtesten Weise ab und wurde vom Gerichtshof aufs höchste bekomplimentiert und auf der Straße mit lautem Hurra empfangen. Sie sagte vor Gericht, sie hätte ihn ganz allein festgenommen – wegen irgend etwas, was sie von ihm wußte –, und wenn er der Simson gewesen wäre. Und ich glaube das wirklich.«

Ich glaubte das auch und zollte Miss Mowcher die größte Anerkennung.

 

Wir hatten jetzt alles gesehen. Es wäre vergebliche Mühe gewesen, einem Mann wie dem ehrenwerten Mr. Creakle vorzustellen, daß 27 und 28 noch ganz dasselbe wären wie früher und das ganze »System« nichts als eine faule, hohle Rederei sei.

»Vielleicht ist es gut, Traddles«, sagte ich, als wir nach Hause gingen, »wenn schlechte Steckenpferde gleich zu Anfang scharf geritten werden. Um so eher gehen sie entzwei.«

»Das ist auch meine Hoffnung«, nickte Traddles.

62. Kapitel Ein Lichtstrahl fällt auf meinen Weg


62. Kapitel Ein Lichtstrahl fällt auf meinen Weg

Weihnachten kam heran, und ich war bereits über zwei Monate in England. Ich hatte Agnes oft gesehen. So laut mich auch die Stimme der Öffentlichkeit in der Schriftstellerei ermutigte und zu immer eifrigeren Anstrengungen anstachelte, das leiseste Wort ihres Lobes ging mir doch über alles.

Wenigstens einmal in der Woche ritt ich nach Canterbury und brachte den Abend bei ihr zu. Meistens kehrte ich nachts zurück und war froh, mir körperliche Bewegung verschaffen zu können, denn das alte Leidgefühl überkam mich noch stärker, wenn ich lange mit Agnes beisammen gewesen war. Mit diesen Ritten verbrachte ich den längsten Teil manch trüber, trauriger Nacht, und die Gedanken, die mich während meines langen Aufenthalts im Auslande beschäftigt hatten, lebten dabei wieder in mir auf.

Sie sprachen zu mir wie aus weiter Ferne, und ich hatte mich in mein Schicksal ergeben. Wenn ich Agnes meinen Roman vorlas, ihre aufmerksame Miene sah, sie zu Lächeln oder Tränen bewegte und ihre liebe Stimme so ernst sprechen hörte über die schemenhaften Ereignisse der phantastischen Welt, in der ich lebte, da dachte ich manchmal, welches Los mir hätte werden können.

Ich wußte, ich hatte kein Recht zu murren, und mußte ruhig tragen, was ich mir selbst geschaffen. Aber ich liebte sie. Es war mir fast wie Trost, mir eine ferne Zukunft auszumalen, wo ich ihr eines Tages ruhig gestehen dürfte: Agnes, so war es, als ich damals heimkam, und jetzt bin ich alt und habe seitdem nie wieder geliebt.

An ihr war nicht die geringste Veränderung zu bemerken. Wie sie von jeher zu mir gewesen, so war sie noch.

Zwischen meiner Tante und mir war seit dem ersten Abend meiner Rückkehr in bezug auf diese Herzensangelegenheit etwas entstanden, was ich nicht ein Vermeiden dieses Themas, sondern eher ein stillschweigendes Einverständnis nennen möchte. Wenn wir nach alter Gewohnheit abends am Kamin saßen, beschäftigten uns diese Gedanken so lebhaft und deutlich, als ob wir uns mit Worten verständigt hätten. Aber wir wahrten beide unser Schweigen. Ich glaubte, daß sie an jenem Abend mir meine Gedanken wenigstens zum Teil von der Stirne gelesen hätte und vollständig begriffe, warum ich sie nicht offen ausspräche.

Als die Weihnachtszeit gekommen war und Agnes mich noch immer nicht ins Vertrauen zog, begannen mich Zweifel zu quälen, ob nicht eine Erkenntnis des wahren Zustandes meines Herzens sie aus Furcht, mir Schmerz zu bereiten, vielleicht davon abhielte. In einem solchen Fall wäre meine einfachste Pflicht unerfüllt geblieben, und alles, was ich hatte vermeiden wollen, beging ich stündlich. Ich beschloß Klarheit zu schaffen, und wenn eine solche Schranke wirklich noch zwischen uns stünde, sie mit entschlossener Hand niederzureißen.

 

Es war ein kalter, strenger Wintertag. Der Schnee, erst vor einigen Stunden gefallen, bedeckte nicht tief, aber hart gefroren den Boden. Draußen auf der See vor meinem Fenster blies der Wind rauh aus Norden.

»Reitest du heute aus, Trot?« fragte meine Tante, den Kopf zur Türe hereinstreckend.

»Ja. Ich will hinüber nach Canterbury. Es ist ein guter Tag für einen Ritt.«

»Hoffentlich wird dein Pferd auch so denken; vorderhand läßt es den Kopf und die Ohren hängen vor der Tür draußen und scheint den Stall vorzuziehen.«

Meine Tante, muß ich bemerken, gestattete wohl meinem Pferd das Betreten des verbotnen Rasenstücks, war aber den Eseln gegenüber durchaus nicht milder geworden.

»Es wird schon munter werden«, sagte ich.

»Jedenfalls wird der Ritt dir guttun«, sagte meine Tante mit einem Blick auf die Papiere auf dem Tisch. »Ach Kind, du bringst viele, viele Stunden hier zu. Ich hätte niemals beim Bücherlesen gedacht, was für eine Mühe es kostet, sie zu schreiben.«

»Manchmal macht es Arbeit genug, sie zu lesen, Tante, und was das Schreiben anbetrifft, so hat das seine eignen Reize.«

»Ach ich verstehe«, sagte meine Tante. »Ehrgeiz, Freude an Beifall, Sympathie und dergleichen, wie? Aber jetzt mache, daß du fortkommst.«

»Weißt du etwas Näheres«, fragte ich und stand gefaßt vor ihr – sie hatte mir auf die Schulter geklopft und sich dann in meinen Stuhl gesetzt – »von Agnes‘ Herzensangelegenheit?«

Sie sah mich eine Weile an, ehe sie antwortete:

»Ich glaube wohl, Trot.«

»Bist du in deiner Meinung noch bestärkt worden?«

»Ich denke ja, Trot.«

Sie sah mich fest an, wie zweifelnd, bedauernd oder ungewiß, so daß ich nur um so fester entschlossen war, ihr eine heitere Miene zu zeigen.

»Und was noch mehr ist, Trot ?«

»Nun?«

»Ich glaube, Agnes wird bald heiraten.«

»Gott segne sie«, sagte ich heiter.

»Gott segne sie«, sagte meine Tante, »und auch ihren Gatten.«

Ich ging rasch die Treppe hinab und ritt davon. Ich hatte jetzt um so mehr Grund, meinen Entschluß auszuführen.

 

Kleine Eisstäubchen riß der Wind von den Grashalmen und trieb sie mir ins Gesicht. Der helle Schall der Hufe meines Pferdes klang wie eine Melodie auf dem Boden; die weiß überzognen sanften Täler und Hügel hoben sich von dem dunklen Himmel ab, wie auf eine Schiefertafel gezeichnet. Ein dampfendes Gespann vor einem Wagen voll Heu hielt Rast auf der Spitze einer Straßenerhebung und schüttelte melodisch die Schellen.

Ich fand Agnes allein. Die kleinen Mädchen waren nach Hause gereist, und sie saß am Kamin und las. Sie legte das Buch hin, als sie mich eintreten sah, und nachdem sie mich wie gewöhnlich begrüßt hatte, nahm sie ihr Arbeitskörbchen, und wir setzten uns in eins der altmodischen Fenster.

Wir sprachen von meinem jetzigen Roman, wann er fertig würde, und von den Fortschritten, die er seit meinem letzten Besuch gemacht. Agnes war sehr heiter und prophezeite mir lachend, ich würde bald viel zu berühmt werden, als daß man über solche Sachen werde sprechen dürfen.

»So benutze ich denn die Gegenwart aufs beste, wie du siehst«, sagte sie, »und rede mit dir davon, solange ich noch darf.«

Sie blickte von ihrer Arbeit auf und bemerkte, daß ich sie forschend ansah.

»Du bist heute sehr nachdenklich, Trotwood.«

»Agnes, soll ich dir sagen, warum? Ich kam mit der Absicht her, es zu tun.«

Sie legte ihre Arbeit weg wie gewöhnlich, wenn wir etwas ernstlich besprachen, und schenkte mir ihre volle Aufmerksamkeit.

»Liebe Agnes, zweifelst du an meiner Aufrichtigkeit gegen dich?«

»Nein«, erwiderte sie mit einem erstaunten Blick.

»Glaubst du, ich sei anders gegen dich als früher?«

»Nein«, antwortete sie wie zuvor.

»Erinnerst du dich, daß ich dir gleich nach meiner Heimkehr auszudrücken versuchte, in welcher Schuld ich bei dir stehe, liebste Agnes, und wie tief ich das fühle?«

»Ich erinnere mich dessen noch recht gut.«

»Du hast ein Geheimnis«, sagte ich. »Laß es mich mit dir teilen, Agnes!«

Sie schlug die Augen nieder und zitterte.

»Es würde mir kaum entgangen sein«, sagte ich, »auch wenn ich es nicht gehört hätte – von andern Lippen als den deinen, Agnes, befremdlicherweise –, daß du jemand dein Herz geschenkt hast. Schließ mich nicht aus von dem, was dein Glück so nahe angeht! Wenn du mir so vertraust, wie ich weiß und wie du sagst, so laß mich dein Freund und Bruder in dieser Sache vor allen andern sein!«

Mit einem flehentlichen, fast vorwurfsvollen Blick stand sie vom Fenster auf, eilte verwirrt in den Hintergrund des Zimmers, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus, daß es mir das Herz zerriß.

Und doch erweckten diese Tränen etwas in mir wie leise Hoffnung. Ohne daß ich mir darüber klarwerden konnte, warum, brachte ich sie mit jenem stillen, trüben Lächeln, das ich so gar nicht vergessen konnte, in Verbindung, und mehr Hoffnung als Besorgnis oder Schmerz durchbebte mich.

»Agnes! Schwester! Liebste Schwester! Was habe ich getan!«

»Laß mich fort, Trotwood. Mir ist nicht wohl. Ich kann nicht klar denken. Ich will später mit dir davon sprechen – ein ander Mal. Ich will dir schreiben. Sprich jetzt nicht mit mir. Bitte, bitte!«

Ich suchte mich ihrer Worte zu entsinnen, als ich mit ihr eines Abends davon gesprochen, daß ihre Liebe keiner Erwiderung bedürfe. Mir war, als müßte ich in einem Augenblick eine ganze Welt durchsuchen.

»Agnes, ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen und zu denken, daß ich die Ursache davon bin. Meine liebste Agnes, du bist mir teurer als irgend etwas im Leben, und wenn du unglücklich bist, so laß mich dein Unglück teilen. Wenn du Hilfe oder Rat bedarfst, so will ich versuchen, dir beizustehen. Wenn du wirklich eine Last auf dem Herzen hast, so laß mich versuchen, sie dir leichter zu machen. Für wen lebe ich jetzt, Agnes, wenn nicht für dich!«

»O, schone mich! Ich kann nicht klar denken. Ein ander Mal –«, weiter konnte ich nichts verstehen.

War es Selbstbetrug, der mich irreführte, oder tat sich eine Hoffnung vor mir auf, an die zu denken ich nicht gewagt hatte?

»Ich muß dir alles sagen, so darfst du mich nicht verlassen!« rief ich. »Um Himmels willen, Agnes, laß kein Mißverständnis zwischen uns treten nach so vielen Jahren. Ich muß offen sprechen. Wenn du noch einen Gedanken hast, daß ich jemand das Glück, das du ihm gibst, neiden, daß ich nicht einem andern, den du liebst, weichen und aus der Ferne Zeuge deines Glücks sein könnte, so vergiß diesen Gedanken, denn ich verdiene ihn nicht. Ich habe nicht umsonst Leid ertragen. Es ist nichts Selbstsüchtiges in dem, was ich für dich fühle.«

Sie war jetzt ruhiger geworden. Nach einer kleinen Pause wandte sie mir ihr blasses Gesicht zu und sagte mit leiser, deutlicher, wenn auch stockender Stimme:

»Ich schulde es deiner reinen Freundschaft, Trotwood, in die ich nicht den geringsten Zweifel setze, – dir zu sagen, daß du dich irrst. Mehr kann ich nicht tun. Wenn ich manchmal im Lauf der Jahre Hilfe und Rat gebraucht habe, so sind sie mir immer zuteil geworden. Wenn ich manchmal unglücklich gewesen bin, so ist es vorübergegangen. Habe ich jemals eine Last auf dem Herzen gehabt, so ist sie leichter geworden. Wenn ich ein Geheimnis habe, so ist es – kein neues, und ist nicht – was du vermutest. Ich kann es nicht offenbaren oder mit dir teilen. Es ist lange mein gewesen und muß mein bleiben.«

»Agnes! Bleib! Einen Augenblick!«

Sie wollte weggehen, aber ich hielt sie zurück. Ich legte meinen Arm um sie. »Im Lauf der Jahre? – Es ist kein neues?«

Neue Gedanken und Hoffnungen stürmten mir durch die Seele, und alle Farben meines Lebens veränderten sich.

»Liebste Agnes! Die ich dich so verehre und achte, – so innig liebe! Als ich heute hierherkam, glaubte ich, daß mir nichts dieses Bekenntnis entreißen würde. Ich glaubte, ich könnte es in meiner Brust verschlossen halten, bis wir alt sein würden. Aber Agnes, wenn ich wirklich noch zu einer Hoffnung berechtigt bin, dich jemals anders nennen zu dürfen als Schwester! …«

Sie weinte wieder, aber nicht mehr wie vorhin, und ich sah meine Hoffnung heller werden.

»Agnes, du warst stets meine Stütze und mein Halt. Hättest du mehr an dich und weniger an mich gedacht, als wir hier zusammen aufwuchsen, ich glaube, mein achtlos blindes Herz hätte sich nie weg von dir verirrt. Aber du warst soviel besser als ich, mir so unentbehrlich in meinen knabenhaften Hoffnungen und Irrtümern, daß es mir zur zweiten Natur wurde, in allen Dingen dir zu vertrauen und meinen Halt an dir zu finden. Und so wurde die Liebe für jene Zeit in den Hintergrund gedrängt.«

Sie weinte immer noch, aber nicht aus Schmerz, – sondern vor Freude. Ich hielt sie in meinen Armen, wie ich nie gedacht hätte, daß es sein könnte.

»Als ich Dora liebte – herzlich und aufrichtig, wie du weißt –«

»Ja«, sagte Agnes ernst. »Und ich freue mich, es zu wissen.«

»Als ich sie liebte, selbst da wäre meine Liebe unvollständig gewesen – ohne deine Teilnahme. Und als ich Dora verlor, was wäre ich da ohne dich gewesen, Agnes!«

Sie ruhte an meinem Herzen, die zitternden Hände auf meine Schulter gelegt, und ihre lieben Augen glänzten durch Tränen den meinen entgegen.

»Ich verließ die Heimat, Agnes, und liebte dich. Ich war in der Fremde und liebte dich. Ich kehrte zurück und liebte dich.«

Und jetzt versuchte ich ihr den Kampf, den ich ausgestanden, und den Entschluß, mit dem ich zu ihr gekommen war, begreiflich zu machen. Ich versuchte mein Herz offen vor sie hinzulegen.

»Ich bin so glücklich, Trotwood. Mein Herz ist so voll. – Eines muß ich dir noch sagen.«

»Was, Geliebteste?«

Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter und sah mir ruhevoll ins Gesicht:

»Weißt du, was es ist?«

»Ich scheue mich, darüber nachzugrübeln. Sag es mir lieber.«

»Ich habe dich geliebt mein ganzes Leben lang –«

Wie waren wir glücklich! Unsere Tränen galten nicht den Prüfungen – wieviel größer waren die ihren als die meinigen gewesen –, durch die wir hindurchgegangen, sondern dem Entzücken, nie mehr getrennt zu werden.

Wir gingen in den Winterabend hinaus durch die Felder, und die selige Ruhe in uns schien sich der frostigen Luft mitzuteilen. Die Sterne fingen an zu scheinen, und als wir zu ihnen aufsahen, dankten wir Gott, daß er uns zu diesem Frieden geführt.

Wir standen abends beisammen in demselben altmodischen Fenster, und der Mond schien über der Stadt. Lange Meilen Wegs taten sich auf vor meinem Geist, und ich sah einen zerlumpten, vernachlässigten, müden Knaben die Straße wandern.

 

Es war fast Mittagszeit, als wir vor meiner Tante erschienen. Sie sei in meinem Studierzimmer, sagte Peggotty. – Es war nämlich ihr Stolz, es für mich stets selbst in Ordnung zu halten. Sie saß, die Brille auf der Nase, am Kamin.

»Du meine Güte«, rief sie, durch das Dämmerlicht im Zimmer spähend, »wen bringst du da mit nach Hause?«

»Agnes«, sagte ich.

Da wir verabredet hatten, uns anfangs nicht zu verraten, war meine Tante nicht wenig enttäuscht. Sie warf mir einen freudig überraschten Blick zu, als ich sagte: »Agnes«, aber als sie fand, daß ich aussah wie gewöhnlich, nahm sie verzweifelt die Brille ab und rieb sich die Nase damit.

Dennoch begrüßte sie Agnes aufs herzlichste, und wir saßen bald unten in dem erleuchteten Wohnzimmer beim Essen. Meine Tante setzte zwei oder dreimal die Brille auf, um mich forschend anzusehen, nahm sie aber ebenso oft enttäuscht wieder ab und rieb sich die Nase damit; sehr zu Mr. Dicks Unbehagen, der darin ein schlechtes Zeichen sah.

»Übrigens, Tante«, sagte ich nach dem Essen, »ich habe mit Agnes über das gesprochen, was du mir gesagt hast.«

»Da hast du Unrecht getan, Trot«, sagte meine Tante und wurde blutrot, »und hast dein Versprechen nicht gehalten.«

»Du bist doch nicht böse, Tante? Du wirst es gewiß nicht sein, wenn du erfährst, daß Agnes keine unglückliche Liebe hat.«

»Dummes Zeug«, sagte meine Tante.

Da sie sehr verstimmt schien, hielt ich es fürs beste, die Sache abzukürzen. Ich führte Agnes hinter ihren Stuhl, und wir beide beugten uns über sie herab. Die Hände zusammenschlagend und nach einem einzigen Blick durch die Brille bekam sie augenblicklich Lach- und Weinkrämpfe, das erste und einzige Mal in ihrem Leben, soviel ich weiß. Bestürzt kam Peggotty herein. Kaum war meine Tante wieder zu sich gekommen, stürzte sie auf Peggotty los, nannte sie ein einfältiges altes Geschöpf und umarmte sie mit aller Kraft. Dann schloß sie Mr. Dick in die Arme, der sich hochgeehrt fühlte, aber sehr überrascht war, und erklärte ihm den Zusammenhang. Dann waren wir alle sehr glücklich. Ich konnte nicht herausbekommen, ob meine Tante bei unserer letzten kurzen Unterredung einen frommen Betrug begangen oder meinen Herzenszustand wirklich mißverstanden hatte. Es wäre vollständig hinreichend, meinte sie, daß sie mir gesagt habe, Agnes würde bald heiraten. Ich selbst wisse jetzt besser als jeder andere, wie wahr es gewesen sei.

 

In vierzehn Tagen wurden wir getraut. Traddles, Sophie, Doktor und Mrs. Strong waren die einzigen Gäste bei unserer stillen Hochzeit. Wir ließen sie in freudigster Stimmung zurück und fuhren zusammen nach London. In meinen Armen hielt ich den Mittelpunkt meines Selbst, die Triebfeder meines Lebens, mein teures Weib, zu der meine Liebe auf Felsen gebaut war.

»Mein lieber, lieber Gatte«, sagte Agnes, »jetzt, wo ich dir diesen Namen geben darf, habe ich dir noch etwas zu sagen.«

»Was ist es, mein Lieb?«

»Es hängt mit dem Abend zusammen, wo Dora starb. Sie ließ mich durch dich rufen.«

»Ja.«

»Sie sagte, sie hinterlasse mir etwas. Errätst du, was es war?«

Ich zog das Wesen, das mich so lange geliebt, dichter an mich.

»Sie sagte, sie habe eine letzte Bitte an mich und hinterlasse mir einen letzten Auftrag.«

»Und der war?«

»Daß ich ihre Stelle einnehmen möchte.«

Und Agnes legte ihr Haupt auf meine Brust und weinte, und ich mit ihr, obgleich wir so glücklich waren.

63. Kapitel Ein Besuch


63. Kapitel Ein Besuch

Mein Ruf und Wohlstand waren gewachsen, mein häusliches Glück vollständig. Zehn glückliche Jahre waren wir verheiratet. Agnes und ich saßen an einem Frühlingsabend in unserm Haus in London am Kamin, und unsere drei Kinder spielten im Zimmer, als ein Fremder, der mich zu sprechen wünschte, gemeldet wurde.

Man hatte ihn gefragt, ob er in Geschäften komme, und er hatte geantwortet, er wollte nur das Vergnügen haben mich zu sehen und wäre weit hergekommen. Es sei ein alter Mann, sagte das Dienstmädchen, und sähe aus wie ein Farmer.

Da das den Kindern geheimnisvoll klang und dem Anfang einer Liebesgeschichte ähnlich war, die ihnen Agnes zu erzählen pflegte, in der eine böse alte Fee in einem schwarzen Mantel, die jedermann haßte, vorkam, rief es einige Aufregung hervor. Einer unserer Knaben legte den Kopf in den Schoß der Mutter, um außer Gefahr zu sein, und die kleine Agnes, unser ältestes, setzte ihre Puppe an ihrer Statt in den Stuhl und guckte mit dem goldgelockten Köpfchen zwischen den Gardinen hervor, um zu sehen, was geschehen würde.

»Lassen Sie ihn eintreten«, sagte ich.

Gleich darauf erschien ein sonnverbrannter grauköpfiger alter Mann in der Tür. Es war Mr. Peggotty; ein Greis jetzt, aber rüstig und kräftig. Als sich unsere erste Ergriffenheit gelegt hatte, und er vor dem Feuer saß, ein Kind auf jedem Knie, und die Glut auf sein Gesicht schien, sah er mir so stark und rüstig aus, wie ich nur je einen alten Mann gesehen.

»Masr Davy«, sagte er, – wie mir der alte Name so vertraut klang! – »Masr Davy, das ist eine frohe Stunde für mich, wo ich Sie nochmals wiedersehe an der Seite Ihrer guten Frau.«

»Eine frohe Stunde, wirklich wahr, alter Freund!« rief ich aus.

»Und die hübschen Kinderchen! Die frischen Gesichter zu sehen! Ach, Masr Davy, Sie selbst waren nicht größer als das kleinste von diesen, wie ich Sie zuerst sah, und Emly war auch nicht größer, und unser armer Ham war noch ein Junge.«

»Die Zeit hat mich seitdem mehr verändert als Sie«, sagte ich. »Aber lassen wir die kleinen Schlingel erst zu Bett gehen, und da kein Haus in England als dieses Sie beherbergen darf, so sagen Sie mir, wo ich Ihr Gepäck holen lassen kann? Und dann wollen wir bei einem Glas Yarmouth-Grog von den letzten zehn Jahren reden.«

»Sind Sie allein gekommen?« fragte Agnes.

»Ja, Maam«, sagte er und küßte ihr die Hand. »Ganz allein.«

Wir setzten ihn zwischen uns und wußten nicht, wie wir ihn genug bewillkommnen könnten.

»Es ist eine sehr große Strecke Wasser für eine Reise«, sagte Mr. Peggotty, »zumal, wenn man nur ein paar Wochen bleiben will. Aber Wasser, besonders, wenn es salzig ist, ist mir eine vertraute Sache, und Freunde sind viel wert, und so bin ich hier.«

»Wollen Sie sobald schon diese vielen tausend Meilen wieder zurückreisen?« fragte Agnes.

»Ja, Maam. Ich hab es Emly versprochen, ehe ich abfuhr. Ich werde auch nicht jünger mit den Jahren, sehen Sie, und wenn ich jetzt die Reise nicht machte, so würde es wahrscheinlich nie geschehen. Und es hat mir immer auf der Seele gelegen, daß ich Masr Davys und Ihr liebes Gesicht glücklich vereint sehen müßte, ehe ich zu alt dazu würde.«

Er betrachtete uns, als könnten seine Augen nicht satt an uns werden.

Scherzend strich ihm Agnes ein paar seiner grauen Locken aus der Stirn, damit er uns besser sehen könnte.

»Und jetzt erzählen Sie uns, wie es Ihnen gegangen ist, Mr. Peggotty!«

»Unsere Geschichte ist bald erzählt, Masr Davy. Es ist uns nicht gerade glänzend gegangen, aber wir sind immer durchgekommen. Im Anfang haben wir uns vielleicht ein bißchen sehr einschränken müssen, aber wir sind immer gut durchgekommen. Bald mit Schafzucht und Feldbau, bald mit diesem und jenem haben wir uns fortgeholfen, und es geht uns jetzt so gut, wie wir nur wünschen können. Gottes Segen hat uns nicht gefehlt, und es ist uns bis zuletzt gutgegangen. Das heißt so im ganzen; wenn nicht gestern, dann heute, wenn nicht heute, dann morgen.«

»Und Emly?« fragten Agnes und ich wie aus einem Munde.

»Als Sie sie verlassen hatten, Maam, und Masr Davy unsern Blicken entschwand, da war sie so niedergedrückt, daß es sicherlich ihr Tod gewesen wäre, wenn sie gewußt hätte, was Masr Davy uns so gütig und vorsichtig geheimgehalten hatte. Aber es waren ein paar arme Kranke an Bord, und die pflegte sie und auch die Kinder, und so hatte sie zu tun, und das richtete sie auf.«

»Wann erfuhren Sie es zuerst?« fragte ich.

»Ich hielt es ihr wohl noch ein Jahr lang geheim, nachdem ich es selbst erfahren hatte. Wir lebten damals an einem einsamen Fleck mitten unter den schönsten Blumen, und die Rosen bedeckten unsere Hütte bis zum Dach. Da kam eines Tages, als ich draußen auf dem Felde arbeitete, ein Landsmann aus Norfolk oder Suffolk durch, und wir nahmen ihn natürlich auf als Gast, wie das in den Kolonien dort Sitte ist. Er hatte eine alte Zeitung mitgebracht, in der etwas über den Sturm stand. So erfuhr sie es. Als ich abends nach Hause kam, sah ich, daß sie es wußte.«

Seine Stimme wurde leiser, als er diese Worte sprach, und der Ernst, den ich an ihm kannte, lag wieder über seinem Gesicht.

»Hat die Kunde sie sehr verändert?« fragten wir.

»Jawohl, für eine lange Zeit. Wenn nicht bis zu dieser Stunde. Aber ich glaube, die Einsamkeit hat ihr gutgetan. Es gab viel Arbeit mit dem Federvieh und der Wirtschaft, und so kam sie darüber weg. Ich möchte gern wissen«, sagte er nachdenklich, »ob Sie meine Emly noch erkennen würden, Masr Davy.«

»Hat sie sich sehr verändert?«

»Ick weet dat nich – Ich sehe sie jeden Tag und weiß es nicht. Aber oft hab ich es gedacht. Eine zarte Gestalt«, sagte Mr. Peggotty und sah ins Feuer. »Etwas angegriffen; sanfte, traurige, blaue Augen; ein schmales Gesicht, den hübschen Kopf ein wenig geneigt; ein stilles Wesen und eine sanfte Stimme – fast schüchtern. So ist Emly.«

Wir betrachteten ihn stillschweigend, wie er dasaß und ins Feuer blickte.

»Manche glauben, sie habe eine unglückliche Liebe gehabt«, fuhr er fort; »andere, ihre Verheiratung sei durch den Tod ihres Bräutigams verhindert worden. Niemand kennt ihre wahre Geschichte. Sie hätte sich viele, viele Male gut verheiraten können, aber, ›Onkel‹, sagt sie stets zu mir, ›damit ist es vorbei für immer.‹ Heiter, wenn ich bei ihr bin; verschlossen, wenn andere da sind; immer bereit, meilenweit zu gehen, wenn es gilt, ein Kind zu unterrichten oder einen Kranken zu pflegen oder bei der Hochzeit eines jungen Mädchens zu helfen; voll zärtlicher Liebe zu ihrem Onkel, beliebt bei jung und alt, so ist Emly. Alle, die einen Kummer auf dem Herzen haben, kommen zu ihr.«

Er strich sich mit der Hand übers Gesicht und blickte mit einem Seufzer vom Feuer auf.

»Ist Marta noch bei Ihnen?« fragte ich.

»Marta heiratete im zweiten Jahr, Masr Davy. Ein junger Bursche, ein Farmarbeiter, der mit Waren an uns vorüber zum Markte fuhr – eine Reise von über hundert Meilen hin und zurück –, wollte sie zur Frau haben und sich dann selbst Land kaufen. Sie bat mich, ihm ihre Geschichte zu erzählen, und ich tat es. Sie heirateten sich und wohnen ein paar hundert Meilen entfernt von jeder Menschenstimme im wilden Busch.«

»Und Mrs. Gummidge?«

Damit berührte ich eine angenehme Seite bei Mr. Peggotty, denn er brach plötzlich in lautes Gelächter aus und rieb sich mit den Händen die Knie, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er in dem alten untergegangnen Boothause sich so recht von Herzen freute.

»Werden Sie glauben, daß sogar der jemand einen Heiratsantrag gemacht hat? Wenn nicht ein Schiffskoch, der sich ansiedeln wollte, Masr Davy, Mrs. Gummidge einen Heiratsantrag gemacht hat, so will ick – gormet sien und mehr kann ick nich seggen.«

Ich habe Agnes nie so lachen sehen. Der plötzliche Freudenausbruch Mr. Peggottys machte ihr so viel Spaß, daß sie gar nicht aufhören konnte; je mehr sie und ich lachen mußten, desto lauter wurde Mr. Peggottys Freude und desto mehr rieb er sich die Knie.

»Und was sagte Mrs. Gummidge dazu?«

»Anstatt zu sagen, ich danke Ihnen, ick bün Ihnen sehr verbunnen, Sir, aber ich will mich in meinen Jahren nicht mehr verändern, nimmt sie einen Wassereimer, der neben ihr steht, und bearbeitet damit den Kopf des Schiffskochs, bis er nach Hilfe ruft und ich hinzukomme und ihn befreie.«

Mr. Peggotty brach wieder in ein schallendes Gelächter aus, und Agnes und ich stimmten mit ein.

»Was ich aber der guten Alten nachsagen muß«, fing er wieder an, »ist, daß sie uns alles gewesen ist, was sie versprochen hat, und mehr noch. Sie ist die willigste und treueste Gehilfin, Masr Davy, die jemals gelebt hat. Ich habe sie keinen Augenblick traurig und niedergeschlagen gesehen, selbst, als die Kolonie noch ganz neu für uns war. Und an den ›Alten‹ hat sie nicht ein einziges Mal gedacht, versichere ich Ihnen, seitdem sie England verließ.«

»Und nun das Letzte, wenn auch nicht das Nebensächlichste! Wie geht es denn Mr. Micawber? Er hat hier alle seine Schulden bezahlt – selbst Traddles Wechsel, du weißt, liebe Agnes –, und deshalb können wir wohl als gewiß annehmen, daß es ihm gutgeht. Aber was gibt es Neues von ihm?«

Mr. Peggotty zog lächelnd ein zusammengefaltetes Papier aus der Brusttasche und wickelte sorgfältig eine kleine wunderlich aussehende Zeitung heraus.

»Sie müssen wissen, Masr Davy, daß wir jetzt nicht mehr im wilden Busch sind, und in Port Middlebay-Harbour, was eine Stadt ist – wir nennen sie wenigstens so –, wohnen.«

»Mr. Micawber war im Busch Ihr Nachbar?«

»Das will ich meinen. Er ist tüchtig drangegangen. Ich konnte mir keinen Tüchtigeren denken. Ich habe seinen kahlen Kopf in der Sonne schwitzen sehen, daß ich schon dachte, er würde ihm wegschmelzen, Masr Davy; und jetzt ist er Friedensrichter.«

»Was? Friedensrichter ist er?«

Mr. Peggotty wies auf eine Stelle in der Zeitung, wo ich laut aus der Port Middlebay-Times vorlas:

»Das Gastmahl zu Ehren unseres ausgezeichneten Mitkolonisten und Mitbürgers Wilkins Micawber Esquire, Distriktrichters von Port Middlebay, fand gestern im großen Saale des Hotels, der zum Ersticken voll war, statt. Es waren nicht weniger als siebenundvierzig Personen, außer der Gesellschaft auf dem Gang und auf der Treppe, zugegen. Die ganze schöne und vornehme Welt von Port Middlebay drängte sich herbei, um einen so hochverdienten, begabten und allgemein beliebten Mann zu ehren. Dr. Meli vom Salemhaus-Gymnasium, Port Middlebay, führte den Vorsitz, und ihm zur Rechten saß der Held des Abends.

Nach der Entfernung der Gedecke und dem Absingen des Liedes ›Non Nobis‹, aus dem man leicht die glockenreinen Töne des begabten Dilettanten Wilkins Micawber Esquire junior heraushören konnte, wurden die gebräuchlichen patriotischen Toaste ausgebracht und begeistert aufgenommen. In einer sehr gefühlvollen Rede brachte Dr. Mell ein Hoch aus auf den ausgezeichneten Gast, diese Zierde unserer Stadt. ›Möge er uns nie verlassen, außer, um seine Stellung zu verbessern, und möge sein Erfolg unter uns derart sein, daß eine Verbesserung seiner Stellung überhaupt ausgeschlossen erscheint!‹ Das Hurra, mit dem dieser Toast aufgenommen wurde, spottet jeder Beschreibung, und immer wieder rauschte es empor wie die Wellen des Ozeans.

Dann stand Wilkins Micawber Esquire auf, um zu danken.

Fern sei es von uns, in dem gegenwärtig verhältnismäßig unvollkommenen Zustande der Hilfsmittel unseres Etablissements uns bemühen zu wollen, unserm ausgezeichneten Mitbürger durch die wohllautenden Perioden seiner klassisch gerundeten bilderreichen Rede zu folgen. Es genüge zu bemerken, daß sie ein Meisterwerk der Beredsamkeit war und daß die Stelle, in der er die Erfolge seines Lebens bis an seine Quelle zurückverfolgte und den jungem Teil der Anwesenden vor der Gefahr warnte, pekuniäre Verpflichtungen einzugehen, denen sie nicht nachkommen könnten, auch den männlichsten Augen Tränen entlockte. Die übrigen Toaste galten Dr. Mell, Mrs. Micawber, die sich zum Danke in der Tür eines Seitenzimmers anmutsvoll verneigte, wo ein Blütenkranz von Schönheit auf erhöhten Stühlen thronte, um Zeugen und Zierden des erhebenden Schauspiels zu sein, – Mrs. Ridger Begs, geborne Miss Micawber, Mrs. Mell, Wilkins Micawber jun. Esquire, – der mit großem Humor die Heiterkeit der Versammlung durch die Bemerkung erregte, er sei außerstande, seinen Dank in einer Rede auszusprechen, wolle aber mit Erlaubnis der hochansehnlichen Versammlung mit einem Liede danken, – dann Mrs. Micawbers Familie, die, wie wohl nicht erst erwähnt werden muß, im alten Vaterlande wohlbekannt und angesehen ist, und vielen andern. Nach dem Essen wurden die Tische wie durch Zauberschlag beseitigt, um den Saal zum Tanze zu räumen.

Unter den Jüngern Terpsichores, die sich ergötzten, bis Helios das Zeichen zum Aufbruch gab, zeichneten sich vor allem Wilkins Micawber junior Esquire und die liebenswürdige und feingebildete Miss Helena, Dr. Mells vierte Tochter, aus.«

Voller Freude dachte ich an Dr. Mell, in dem ich den armen tyrannisierten Unterlehrer des jetzigen Gefängnisdirektors von Middlessex erkannte. Dann wies Mr. Peggotty auf eine andere Stelle in der Zeitung, wo meine Blicke auf meinen eignen Namen fielen, und ich folgenden öffentlichen Brief las:

An den ausgezeichneten und hervorragenden Dichter David Copperfield Esquire.

Verehrter Herr! Jahre sind vergangen, seit ich das letzte Mal Gelegenheit hatte, mit eignen Augen die Züge zu schauen, die jetzt einem beträchtlichen Teil der zivilisierten Welt so wohl vertraut sind. Aber, verehrter Herr, obgleich mich die Macht der Verhältnisse der persönlichen Gesellschaft des Freundes und Gefährten meiner Jugend entfremdet hat, so bin ich doch von seinem hohen Fluge gar wohl unterrichtet. Auch ich bin nicht ausgeschlossen gewesen ›ob Meere wild auch zwischen uns gebraust‹ die geistigen Genüsse zu teilen, die Sie uns geschenkt haben.

Ich kann daher die Abreise einer Persönlichkeit, die wir beide ehren und achten, nicht ungenützt vorübergehen lassen, verehrter Herr, ohne öffentlich die Gelegenheit zu ergreifen, in meinem Namen und, wie ich wohl hinzusetzen darf, im Namen sämtlicher Bewohner von Port Middlebay Ihnen für die hohen Genüsse zu danken, die uns Ihre Geistesgaben bereiteten.

Fahren Sie so fort, verehrter Herr. Sie sind hier nicht unbekannt in diesem fernen Lande. Fahren Sie fort, verehrter Meister, in Ihrem Adlerflug. Die Bewohner von Port Middlebay werden sich bestreben, Ihnen mit Blicken voll Entzücken und zu ihrer Belehrung zu folgen.

Unter den von diesem Teil des Erdballs zu Ihnen erhobenen Augen wird sich, solange es Licht und Leben hat, immer befinden das Auge

Ihres Jugendfreundes Wilkins Micawber,
        Friedensrichter.

Als ich den übrigen Inhalt der Zeitung überflog, entdeckte ich, daß Mr. Micawber ein fleißiger und geschätzter Mitarbeiter des Blattes war. In derselben Nummer stand noch ein anderer Brief von ihm, der von einer Brücke handelte, und eine Anzeige einer Sammlung ähnlicher Briefe, die demnächst »mit beträchtlichen Zusätzen, in einem zierlichen Bande vereinigt«, erscheinen sollten. Wenn ich mich nicht sehr irrte, stammte auch der Leitartikel aus seiner Feder.

Wir sprachen an den vielen Abenden, wo Mr. Peggotty bei uns blieb, viel von Mr. Micawber.

Mr. Peggotty wohnte bei uns fast einen ganzen Monat, und seine Schwester und meine Tante kamen nach London, um ihn zu besuchen. Agnes und ich schieden erst an Bord des Schiffes von ihm, als er wieder abreiste, und wir werden uns auf Erden wohl kaum mehr wiedersehen.

Vorher fuhr er mit mir nach Yarmouth, um den kleinen Grabstein zu besuchen, den ich Ham zu Gedächtnis hatte setzen lassen. Während ich die einfache Inschrift auf seine Bitte für ihn abschrieb, sah ich, wie er sich bückte und einen Büschel Gras und eine Handvoll Erde von dem Grabe nahm.

»Für Emly«, sagte er und steckte es ein. »Ich hab es ihr versprochen, Masr Davy.«

64. Kapitel Ein letzter Rückblick


64. Kapitel Ein letzter Rückblick

Ich wandere mit Agnes auf der Straße des Lebens dahin. Ich sehe unsere Kinder und Freunde um uns her und höre das Rauschen vieler alter vertrauter Stimmen.

Welche Gesichter sind mir die deutlichsten in dem flutenden Gewühl? Alle wenden sich mir zu, wie ich meine Gedanken so frage.

Meine Tante mit einer scharfen Brille, – eine Greisin von achtzig Jahren und mehr, aber noch kerzengerade und aufrecht. Sie kann ihre sechs englischen Meilen bei Wind und Wetter gehen, ohne sich niedersetzen zu müssen.

Unzertrennlich von ihr Peggotty, meine gute alte Kindsfrau. Auch sie trägt eine Brille und näht abends sehr dicht bei der Lampe. Aber nie ohne einen Wachsstumpf, das Ellenmaß in dem kleinen Häuschen und den Arbeitskasten mit dem Bilde der St.-Pauls-Kirche auf dem Deckel neben sich.

Ihre Wangen, so hart und rot gewesen in meinen Kindertagen, daß ich mich wunderte, warum die Vögel nicht lieber an ihnen anstatt an Äpfeln pickten, sind ganz runzlig geworden, und ihre Augen, die ihr ganzes Gesicht weithin dunkel machten, sind jetzt nicht mehr so glänzend; aber ihr grauer Zeigefinger, der mir früher wie ein Muskatnußreibeisen vorkam, ist immer noch der alte, und wie ich mein Kleinstes danach haschen sehe, wenn es zwischen mir und meiner Tante zu ihr hinschwankt, da muß ich an unser kleines Wohnzimmer in Blunderstone denken, damals, als ich selbst kaum laufen konnte.

Meine Tante ist jetzt endlich befriedigt. Sie ist Patin einer wirklichen lebendigen Betsey Trotwood, und Dora, die nächste, meint, sie werde von ihr verzogen.

Peggottys Tasche ist hoch aufgebauscht. Es steckt nichts Geringeres darin als das Krokodilbuch, zurzeit in recht altersschwachem Zustand, einzelne Blätter zerrissen und zusammengenäht; – aber immer zeigt es Peggotty den Kindern als eine kostbare Reliquie. Es ist so seltsam, wenn meine eignen Züge als Kindergesicht von den Krokodilgeschichten zu mir aufblicken und mich an meinen alten Bekannten Brooks von Sheffield erinnern.

Mitten unter meinen Jungen sehe ich in den Sommerferien einen alten Mann, der riesige Papierdrachen macht und in die Luft aufblickt mit einer Wonne, für die es keine Worte gibt. Er begrüßt mich begeistert und flüstert mir mit vielem Nicken und Winken zu: »Trotwood, es wird dich freuen zu hören, daß ich demnächst meine Denkschrift beendigen werde, wenn ich weiter nichts zu tun habe, und daß deine Tante die wunderbarste Frau von der Welt ist.«

Wer ist diese tiefgebeugte Dame, die sich auf einen Stock stützt und mir ein Gesicht zeigt, in dem Spuren alten Stolzes und alter Schönheit schwach ankämpfen gegen ein verdrießliches, schwachsinniges, launisches Irrsein? Sie sitzt in ihrem Garten, und neben ihr steht ein hageres dunkles verwelktes Weib mit einer weißen Narbe auf der Lippe.

 

»Rosa, ich habe den Namen des Herrn vergessen.«

Rosa beugt sich über sie und ruft ihr in die Ohren: »Mr. Copperfield.«

»Es freut mich, Sie zu sehen, Sir. Ich bemerke zu meinem Bedauern, daß Sie Trauer tragen. Ich hoffe, die Zeit wird Ihnen Linderung bringen.«

Ihre ungeduldige Gesellschafterin schilt sie aus und sagt ihr, ich sei doch gar nicht in Trauer, – heißt sie mich wieder ansehen und versucht ihre Aufmerksamkeit zu wecken.

»Sie haben meinen Sohn gesehen, Sir? Sind Sie mit ihm ausgesöhnt?«

Sie sieht mich starr an, legt die Hand an die Stirn und stöhnt. Plötzlich schreit sie mit schrecklicher Stimme auf: »Rosa, komm zu mir. Er ist tot.« Rosa kniet vor ihr nieder, liebkost sie, schilt sie aus und sagt leidenschaftlich zu ihr: »Ich liebte ihn mehr als du.« Dann lullt sie die Alte an ihrer Brust ein wie ein krankes Kind. So verlasse ich sie. So finde ich sie immer, so schleppen sie sich hin Jahr um Jahr.

 

Ein Schiff kommt von Indien her, und wer ist die englische Dame, die Gattin eines wortkargen alten schottischen Krösus mit großen flappigen Ohren? Julia Mills?

Es ist Julia Mills, nervös und vornehm, mit einem schwarzen Diener, der ihr Briefe und Karten auf einem goldnen Teller überreicht, und einer kupferfarbigen Dienerin in Leinenkleid mit einem bunten Tuch auf dem Kopf, die ihr das Tiffin (indisches Frühstück) im Ankleidezimmer serviert. Julia hält kein Tagebuch mehr, singt nicht mehr der »Liebe Sterbelied« und streitet ewig mit dem alten schottischen Krösus, der eine Art gelber Bär mit gegerbter Haut ist. Sie steckt im Geld bis an den Hals und spricht und denkt an weiter nichts. Sie gefiel mir besser in der Wüste Sahara.

Oder ist vielleicht das die Wüste Sahara? Denn, obgleich Julia ein Schloß hat und vornehme Gesellschaft und prächtige Diners Tag für Tag, nichts Grünes sehe ich in ihrer Nähe wachsen. Nichts, das jemals Frucht oder Blüte trägt.

Was Julia Gesellschaft nennt, sehe ich; darunter Mr. Jack Maldon in seiner Sinekure, der die Hand verspottet, die sie ihm verschafft hat, und den Doktor einen liebenswürdigen altmodischen Kauz nennt.

Ich sehe den Doktor, unsern guten treuen Freund immer noch mit dem Wörterbuch beschäftigt. Er hält beim Buchstaben D und ist glücklich in seinem Familienleben und mit seiner Gattin. Der »General« ist nicht mehr so einflußreich wie ehemals.

In seiner Kanzlei arbeitet mein lieber alter Traddles mit geschäftiger Miene, und sein Haar, soweit sein Kopf noch nicht kahl ist, ist womöglich noch rebellischer geworden durch den beständigen Druck der Advokatenperücke. Auf seinem Tisch liegen hohe Stöße von Akten, ich sehe mich um und sage:

»Wenn Sophie jetzt dein Schreiber wäre, Traddles, hätte sie viel zu tun.«

»Das stimmt, lieber Copperfield! Aber es waren doch herrliche Tage in Holborn Court! Nicht wahr?«

»Wo sie zu dir sagte, du würdest Richter werden? Aber damals war es noch nicht Stadtgespräch, Traddles.«

»Jedenfalls, lieber Copperfield, wenn ich es erst einmal bin, werde ich erzählen, daß sie die Akten abschrieb.«

Wir gehen fort, Arm in Arm. Ich bin zu einem Familiendinner bei Traddles eingeladen. Es ist Sophies Geburtstag, und unterwegs erzählt mir Traddles von dem Glück, das ihm zuteil geworden ist.

»Ich bin wirklich imstande gewesen, lieber Copperfield, alles zu tun, was mir am meisten am Herzen lag. Seine Ehrwürden hat jetzt die Pfründe von vierhundertfünfzig Pfund jährlich. Unsere beiden Jungen werden aufs beste erzogen und zeichnen sich durch Fleiß aus; drei der Mädchen sind recht gut verheiratet, drei leben bei uns; die drei übrigen führen seit Mrs. Crewlers Tod dem Vater die Wirtschaft; und alle sind glücklich. – Mit Ausnahme der ›Schönheit‹«, fügt er hinzu. »Ja. Es war ein großes Unglück, daß sie so einen Vagabunden heiratete. Aber er hatte etwas Blendendes an sich, was sie bestach. Wo wir sie jetzt wieder sicher zu Hause haben und ihn los sind, müssen wir sie zu trösten suchen.«

Traddles Haus ist wahrscheinlich eins von denen, die er und Sophie bei ihren Abendspaziergängen im Geiste für sich eingerichtet haben. Es ist ein großes Haus, aber Traddles hebt seine Akten im Ankleidezimmer auf und seine Stiefel dabei, und er und Sophie quetschen sich in die obersten Zimmer, um die besten der »Schönheit« und den Mädchen zu überlassen. Es ist kein Platz im Hause sonst, denn immer sind mehr der Mädchen hier, als ich zählen kann. Tritt man ein, kommt eine ganze Schar an die Türe gerannt und reicht Traddles zum Küssen herum, bis er außer Atem ist. Hier wohnt für Lebenszeit die unglückliche »Schönheit« mit einem Kind; hier sehe ich zu Sophies Geburtstag die drei verheirateten Schwestern mit ihren drei Gatten, einem Schwager, einem Vetter und einer Schwägerin, die mit diesem verlobt zu sein scheint. Traddles, genau derselbe einfache, ungezierte, gute Bursche, der er immer war, sitzt am untern Ende der langen Tafel und blickt über den gedeckten Tisch, auf dem jetzt wirkliches Silber blitzt.

 

Dann verschwimmen diese Gesichter. Nur eins, das auf mich niederscheint wie ein himmlisches Licht, das mir alles erleuchtet, steht über ihnen. Und das bleibt.

Ich wende meinen Kopf und sehe es in seiner schönen, heitern Ruhe neben mir. Meine Lampe brennt herunter, und ich habe tief bis in die Nacht hinein geschrieben, aber das teure Wesen, ohne das ich nichts wäre, leistet mir immer Gesellschaft.

35. Kapitel Niedergeschlagenheit


35. Kapitel Niedergeschlagenheit

Sobald ich meine Geistesgegenwart, die mich beim ersten überwältigenden Eindruck der eben gehörten Nachricht ganz und gar verlassen, wiedergewonnen hatte, schlug ich Mr. Dick vor, mit mir zu dem Wachszieher zu gehen, wegen des durch Mr. Peggottys Abreise freigewordnen Bettes.

Der Laden des Wachsziehers befand sich auf dem Hungerfordmarkt. Der Platz sah damals noch ganz anders aus als jetzt, und vor dem Tor war ein niedriger Säulengang aus Holz angebracht, der Mr. Dick außerordentlich gefiel. Das Haus glich einem der bekannten altmodischen Wettergläser mit den zwei drehbaren Figuren.

Ich glaube, der Glorienschein, in diesem stolzen Bauwerk wohnen zu dürfen, hätte Mr. Dick für vielerlei Ungemach entschädigt, aber da eigentlich mit Ausnahme der sonderbaren Gerüche, die dem Laden entströmten, und des vielleicht ein wenig beschränkten Raumes keines zu ertragen war, versetzte ihn die neue Wohnung in umso größeres Entzücken. Mrs. Crupp hatte ihm zwar verächtlich versichert, daß dort nicht Platz genug wäre, um eine Katze zu schaukeln, aber Mr. Dick bemerkte sehr richtig zu mir, indem er sich aufs Bettende niedersetzte: »Du weißt, Trotwood, ich will gar keine Katze schaukeln. Ich schaukle nie Katzen. Was geht das also mich an?«

Ich versuchte zu erfahren, ob er etwas über die plötzlichen einschneidenden Veränderungen in den Verhältnissen meiner Tante wüßte. Wie vorauszusehen, hatte er keine Ahnung. Er konnte mir nichts sagen, als daß meine Tante vorgestern zu ihm geäußert hatte:

»Jetzt wollen wir einmal sehen, Dick, ob Sie wirklich der Philosoph sind, für den ich Sie halte.« Darauf habe er erwidert: ja, er hoffe es, und dann habe sie gesagt: »Ich bin zugrunde gerichtet«, und er habe darauf geantwortet: »Ach wirklich!« und sei zu seiner Freude sehr gelobt worden. Dann wären sie zu mir gereist und hätten ein paar Flaschen Porter und belegte Brote unterwegs genossen.

Mr. Dick war so ruhig und heiter, wie er mir das mit erstaunt aufgerißnen Augen und einem verwunderten Lächeln erzählte, daß ich mich leider verleiten ließ, ihm zu erklären, daß Zugrundegerichtet ein Not, Mangel und Hunger bedeute. Bald aber sah ich mich bitter bestraft für meine übereilten Worte, denn er wurde ganz blaß, und Tränen liefen ihm über die Wangen, und er warf mir einen Blick so unsäglichen Kummers zu, daß ein härteres Herz als das meinige weich geworden wäre. Ihn wieder aufzuheitern, kostete mir viel mehr Mühe, als ich vorhin gehabt, ihn in Kümmernis zu versetzen, und ich erkannte bald, was ich gleich hätte wissen können, daß er bloß zuversichtlich gewesen war, weil er in die »weiseste und wunderbarste aller Frauen« und auf die unerschöpflichen Hilfsquellen meines Geistes ein schrankenloses Vertrauen setzte. Die letztern hielt er, glaube ich, jedem nicht absolut tödlichen Übel für mindestens gewachsen.

»Was können wir nur tun, Trotwood?« fragte er. »Wir haben die Denkschrift –«

»Ja, allerdings. Gewiß. Aber alles, was wir vorderhand tun können, Mr. Dick, ist, daß wir unsern Kummer meiner Tante nicht merken lassen und ein freundliches Gesicht machen.«

Er stimmte dem auf das eifrigste bei und flehte mich an, ihn, wenn ich ihn nur einen Zollbreit von dem rechten Wege abweichen sehen sollte, durch eine jener überlegenen Methoden, die mir immer zu Gebote stünden, wieder zur Besinnung zu bringen. Aber leider muß ich sagen, daß der Schrecken, den meine unvorsichtige Mitteilung ihm eingejagt, zu stark für ihn war, als daß er ihn hätte verbergen können. Den ganzen Abend schweiften seine Blicke immer wieder zu meiner Tante hin, voll des Ausdrucks allertiefster Besorgnis, als ob er fürchte, sie jede Sekunde vor seinen Augen rapid abmagern zu sehen. Er war sich dessen wohl bewußt und nahm sich nach Kräften zusammen, aber daß er sich ganz steif hielt und nur mit den Augen rollte wie eine Maschinerie, machte die Sache nicht besser.

Ich bemerkte, wie er während des Abendessens das Brot, das zufällig klein war, betrachtete, als ob es unser letzter Rettungsanker sei. Und als die Tante ihn zum Essen nötigte, ertappte ich ihn, wie er heimlich Stücke von seinem Käse in die Tasche steckte, – ganz sicher nur, um uns mit dem Aufgehobenen wieder lebendig zu machen, wenn wir auf dem Pfade des Hungertodes entsprechend weit vorgeschritten sein würden.

Meine Tante hingegen war sehr gefaßt und darin uns allen ein Vorbild – zum mindesten mir. Sie benahm sich außerordentlich freundlich gegen Barkis, außer, wenn ich sie mit dem Namen Peggotty rief, und tat, als ob sie ganz zu Hause sei, obgleich ich recht wohl wußte, daß sie sich in London nie heimisch fühlen konnte.

Sie sollte in meinem Bett schlafen, und ich wollte mich in das Wohnzimmer legen, um sie zu bewachen. Sie legte großes Gewicht darauf, dem Flusse möglichst nah zu sein im Falle einer Feuersbrunst. Und ich glaube wirklich, sie fühlte sich durch meine Anordnung einigermaßen beruhigt.

»Lieber Trot«, sagte sie, als ich Vorbereitungen traf, ihren gewöhnlichen Schlaftrunk zu mischen. »Nein.«

»Nichts, Tante?«

»Keinen Wein, Trot, Ale!«

»Aber es ist Wein hier, Tante, und du hast ihn dir immer aus Wein bereiten lassen.«

»Heb ihn für Krankheitsfälle auf. Wir dürfen nicht verschwenderisch damit umgehen, Trot. Ale genügt. Eine halbe Pinte!«

Ich dachte, Mr. Dick würde in Ohnmacht fallen. Aber meine Tante beharrte auf ihrem Willen, und ich holte das Ale selbst. Da es schon spät wurde, benützten Peggotty und Mr. Dick die Gelegenheit, zusammen nach Hause zu gehen. Ich schied an der Ecke der nächsten Straße von dem Ärmsten. Er trug niedergeschlagen seinen großen Drachen auf dem Rücken, ein wahres Beispiel menschlicher Trübsal.

Als ich zurückkehrte, ging meine Tante im Zimmer auf und ab und kräuselte die Besatzstreifen ihrer Nachtmütze mit den Fingern. Ich wärmte das Ale und bereitete den Toast nach den gewohnten unfehlbaren Rezepten. Als der Schlaftrunk fertig war, hatte sie bereits die Nachtmütze aufgesetzt und ihren Oberrock auf die Knie zurückgeschlagen.

»Lieber Trot«, sagte sie, nachdem sie einen Löffel voll gekostet hatte, »es ist bedeutend besser als Wein, lange nicht so schwer.«

Ich muß wohl eine etwas zweifelhafte Miene gemacht haben, denn sie fügte hinzu: »Still, still, Kind! Wenn uns nichts Schlimmeres widerfährt, als daß wir Ale trinken müssen, sind wir gut dran.«

»Ich ja, Tante.«

»Wieso nur du?«

»Weil wir ganz verschieden sind.«

»Dummes Zeug und Unsinn, Trot.«

Sie fuhr mit gelassener Heiterkeit fort, das warme Ale auszulöffeln und ihre Röstschnitten zu verzehren.

»Trot, im allgemeinen sind mir fremde Gesichter gleichgültig, aber fast möchte ich sagen, daß mir deine Barkis sehr gut gefällt.«

»Das zu hören ist mir lieber als hundert Pfund.«

»Es ist doch eine ganz seltsame Welt«, bemerkte sie und rieb sich die Nase. »Wie diese Frau jemals mit diesem Namen hineingeraten konnte, ist mir unerklärlich. Es wäre doch viel leichter gewesen, als eine Jackson oder dergleichen auf die Welt zu kommen, sollte man meinen.«

»Vielleicht ist das auch ihre Ansicht; gewiß trägt sie keine Schuld daran.«

»Allerdings nicht«, murrte meine Tante widerstrebend, »aber schlimm ist es doch. Na! Wenigstens heißt sie jetzt Barkis. Wenigstens ein Trost. Barkis hat dich ungemein gern, Trot.«

»Es gibt nichts, was sie meinetwegen nicht täte«, sagte ich.

»Ja, das glaube ich auch. Was hat mich das arme Geschöpf gebeten und angefleht, etwas von ihrem Gelde anzunehmen, – ›weil sie zuviel hat.‹ Das arme Schaf.« Dabei rannen meiner Tante Tränen der Rührung in das warme Ale.

»Sie ist das lächerlichste Geschöpf, das je geboren wurde«, fuhr sie fort. »Vom ersten Augenblick an, als ich sie bei deiner Mutter, dem armen, guten Kinde, sah, erschien sie mir schon als die allerlächerlichste Person auf der Welt. Aber die Barkis hat ihre guten Seiten.«

Sie stellte sich, als ob sie lachte, trocknete sich aber heimlich die Tränen. Dann beschäftigte sie sich wieder mit ihren Röstschnitten. »Ach du meine Güte«, seufzte sie dabei, »ich weiß alles, Trot. Barkis und ich hatten eine lange Unterredung, als du mit Dick fort warst. Ich weiß alles. Ich weiß nur nicht, wo diese unglückseligen Mädchen immer hinauswollen. Sie müssen sich mit aller Gewalt den Schädel einrennen an – an Kaminsimsen –« dieser Gedanke fiel ihr wahrscheinlich ein, weil sie gerade das meinige betrachtete.

»Arme Emly!« sagte ich.

»Ach, sprich mir nicht von arm. Sie hätte sichs vorher überlegen müssen, ehe sie so viel Unheil anrichtete. Gib mir einen Kuß, Trot. Es tut mir leid, daß du so frühzeitig so traurige Erfahrungen machen mußtest.«

Als ich mich zu ihr hinüberbeugte, stellte sie ihr Glas auf mein Knie, um mich auf dem Stuhl festzuhalten, und sagte:

»Ach Trot, Trot! du bildest dir also ein, du wärest verliebt. Wie?«

»Einbilden!« rief ich aus mit brennrotem Gesicht. »Ich bete sie aus ganzer Seele an.«

»Dora. Hm, hm«, entgegnete meine Tante. »Du wirst natürlich behaupten, das kleine Ding sei bezaubernd.«

»Liebe Tante, kein Mensch kann sich vorstellen, wie sie wirklich ist.«

»Kein Gänschen?«

»Ein Gänschen, Tante!«

Ich glaube wirklich, ich hatte mich auch nicht einen Augenblick je gefragt, ob Dora das sei oder nicht. Ich wies den Gedanken natürlich zurück, aber seine Neuheit machte einigen Eindruck auf mich.

»Nicht leichtsinnig?« fragte meine Tante.

»Leichtsinnig, Tante!«

»Schon gut, schon gut, ich frage ja nur. Ich will sie nicht herabsetzen. Armes Liebespärchen! Und ihr glaubt also, ihr wäret füreinander geschaffen und wollt ein Leben miteinander führen wie zwei kleine Zuckerpuppen, nicht wahr, Trot?«

Sie sprach so freundlich zu mir und mit so sanfter, halb scherzender, halb bekümmerter Miene, daß ich ganz gerührt war.

»Ich weiß wohl, Tante, wir sind jung und unerfahren und schwatzen viel kindisches Zeug. Aber wir lieben uns wahrhaftig, das weiß ich gewiß. Wenn ich denken könnte, daß Dora je einen andern lieben würde, so weiß ich nicht, was ich tun müßte, – ich glaube, ich würde wahnsinnig.«

»Ach Trot«, sagte meine Tante und schüttelte ernst lächelnd den Kopf, »blind, blind, blind.«

»Jemand, den ich kenne, Trot«, fuhr sie nach einer Pause fort, »hat einen fügsamen Charakter und eine Tiefe des Gemütes, die mich an das arme Kind erinnert. Nach echtem, aufrichtigem Ernst muß sich dieser Jemand umsehen, damit es ihn stütze und vervollkommne, Trot! Nach wirklicher ernster Gemütstiefe!«

»Wenn du nur Dora kenntest«, rief ich aus.

»O Trot«, sagte meine Tante wieder, »blind, blind!« Und ohne zu wissen, warum und wieso, empfand ich ein dunkles Gefühl eines Mangels an etwas, das wie eine Wolke mein Gemüt verdunkelte.

»Ich will nicht etwa zwei junge Geschöpfe auseinanderbringen oder unglücklich machen, und wenn es auch eine Knaben- und Mädchenliebe ist und aus solchen Liebschaften sehr oft – ich sage, nicht immer – nichts wird, so wollen wir doch ernsthaft davon sprechen und hoffen, daß alles einen glücklichen Ausgang nimmt. Wir haben ja Zeit genug zu warten.«

Das klang für einen leidenschaftlich Verliebten nicht sehr tröstlich, aber immerhin freute es mich, daß mich meine Tante ins Vertrauen gezogen hatte, und ich bedachte, wie erschöpft sie sein mußte. So bedankte ich mich denn bei ihr innigst für den Beweis ihrer Liebe und für alles andre Gute, was sie an mir getan, und nach einem zärtlichen Gutenacht ging sie in mein Schlafzimmer.

Wie unglücklich fühlte ich mich, als ich mich niederlegte. Immer und immer wieder mußte ich daran denken, daß Mr. Spenlow in mir nur den armen Menschen sehen würde; daß ich nicht mehr derselbe sei wie damals, als ich mich mit Dora verlobte, und als anständiger Mensch verpflichtet wäre ihr zu sagen, wie sich mit einem Schlag meine Lage verändert habe und sie ihres Wortes entbinden müßte. Dazu kamen noch die Sorgen, wovon ich während meiner Lehrzeit, wo ich noch nichts verdiente, leben sollte. Ich mußte doch etwas für meine Tante tun und konnte nichts entdecken. Ich malte mir aus, ich würde schließlich so herunterkommen, daß ich kein Geld mehr hätte und einen schäbigen Rock tragen müßte, Dora keine kleinen Geschenke mehr bringen und keine feurigen Eisenschimmel mehr würde reiten können. Sosehr ich in all dem meine Selbstsucht erkannte, so liebte ich doch Dora zu sehr, um nicht daran denken zu müssen. Ich wußte, daß es unrecht war, nicht immerwährend meine Tante vor Augen zu haben, aber meine Selbstsucht war so unzertrennlich von Dora, daß ich auf keine andern Gedanken kommen konnte. Wie entsetzlich unglücklich ich mich in jener Nacht fühlte!

Im Halbschlaf träumte ich von Armut in allen möglichen Gestalten. Ich ging zerlumpt einher, verkaufte Dora Zündhölzer, sechs Schachteln für einen halben Penny, saß in der Kanzlei im Nachthemd, und Mr. Spenlow machte mir Vorwürfe, daß ich in so luftiger Kleidung vor den Klienten erscheine; dann las ich wieder gierig die Brösel auf, die der alte Tiffey von seinem Frühstückszwieback, den er regelmäßig Schlag ein Uhr verzehrte, fallen ließ, und machte den hoffnungslosen Versuch, einen Eheschein für Dora und mich zu bekommen, hatte aber dafür nichts anzubieten als einen von Uriah Heeps Handschuhen, den die ganze Richterversammlung der Commons einstimmig zurückwies; und immer wälzte ich mich, mir meines eignen Zimmers mehr oder weniger bewußt, wie ein abgetakeltes Schiff in einem Meer von Bettlaken herum.

Meine Tante konnte auch nicht schlafen, und ich hörte sie mehrere Male im Zimmer auf und ab gehen. Zwei- oder dreimal kam sie in einem langen Flanelltuch, in dem sie sieben Fuß hoch aussah, wie ein Geist in mein Zimmer und trat an mein Sofa. Das erste Mal sprang ich erschrocken auf und vernahm, daß sie aus einem eigentümlich hellen Schein am Himmel schloß, die Westminster-Abtei stehe in Flammen, und wissen wollte, ob bei Umspringen des Windes Gefahr sei, daß das Feuer die Buckingham Straße ergriffe. Die beiden andern Male blieb ich still liegen, und da setzte sie sich auf einen Stuhl in meiner Nähe, murmelte leise vor sich hin: Armer Junge! und ich fühlte mich zwanzigmal unglücklicher noch durch das Bewußtsein, wie uneigennützig sie und wie selbstsüchtig ich dachte.

Ich konnte kaum glauben, daß eine Nacht, die mir so lang erschien, irgend jemand auf der Welt kürzer vorkommen könnte. Diese Betrachtung gaukelte mir eine Gesellschaft vor, wo die Leute sich die Zeit mit Tanz vertrieben, bis alles ein Traum wurde und ich die Musik unaufhörlich eine Melodie spielen hörte und Dora unablässig tanzen sah, ohne daß sie mich im mindesten beachtete. Der Mann, der die ganze Nacht hindurch die Harfe gespielt hatte, wollte dann sein Instrument vergeblich in eine gewöhnliche Nachtmütze einwickeln, als ich aufwachte, oder besser gesagt, als ich aufhörte zu versuchen, einzuschlafen, und endlich die Sonne durch die Fenster scheinen sah.

Damals befand sich am Ende einer der Nebenstraßen, die in den Strand ausmünden, ein römisches Bad, wo ich oft hinzugehen pflegte, um eine kalte Dusche zu nehmen. Ich zog mich so still wie möglich an, überließ Peggotty die Sorge für meine Tante und stürzte mich kopfüber ins Wasser, um sodann einen Spaziergang nach Hamptstead zu machen. Ich hoffte, daß diese Erfrischung mir einen klaren Kopf verschaffen würde, und es schien auch der Fall gewesen zu sein, denn ich faßte sogleich den Entschluß, einen Versuch zu machen, ob nicht mein Lehrkontrakt aufgehoben und das Einschreibegeld wieder zurückbezahlt werden könnte. Ich ließ mir in einem Gasthaus auf der Heide ein Frühstück geben und ging auf den taubenetzten Wegen, umgeben von dem angenehmen Duft der Sommerblumen, die in den Gärten wuchsen oder in die Stadt getragen wurden, in die Kanzlei, um meinen Plan auszuführen.

Ich kam so früh, daß ich noch eine halbe Stunde vor dem Bureau auf und ab gehen mußte, ehe der alte Tiffey, der immer der erste war, mit den Schlüsseln erschien. Dann setzte ich mich in einen dunkeln Winkel, betrachtete das Sonnenlicht an den Schornsteinen gegenüber und dachte an Dora, bis Mr. Spenlow, gelockt und gekräuselt wie immer, hereintrat.

»Wie gehts, Copperfield?« sagte er. »Ein feiner Morgen.«

»Ein schöner Morgen, Sir. Könnte ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, ehe Sie aufs Gericht gehen?«

»Selbstverständlich«, sagte er. »Kommen Sie in mein Zimmer.«

Ich folgte ihm in sein Bureau, wo er seinen Talar anzog und sich in einem kleinen Spiegel an der Innenseite einer Schranktür betrachtete.

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, Sir«, begann ich, »daß ich recht unangenehme Nachrichten von meiner Tante erhalten habe.«

»O Gott! Doch hoffentlich kein Schlaganfall?«

»Es hat mit Gesundheit nichts zu tun, Sir. Sie hat große Verluste erlitten. Es bleibt ihr nur mehr sehr wenig übrig.«

»Sie über-raschen mich, Copperfield!« rief Mr. Spenlow.

Ich schüttelte den Kopf. »Ihre Verhältnisse haben sich derart verändert, daß ich Sie fragen möchte, ob es nicht möglich wäre, natürlich mit Aufopferung eines Teils meiner Einschreibegebühr«, – das setzte ich aus freien Stücken hinzu, veranlaßt durch den Ausdruck seines Gesichts – »meinen Kontrakt rückgängig zu machen.«

Niemand kann sich eine Vorstellung machen, was dieser Vorschlag für mich bedeutete. Es war so gut wie eine Bitte, auf Gnadenwege zur Verbannung von Dora verurteilt zu werden.

»Ihren Lehrkontrakt rückgängig zu machen, Copperfield? rückgängig zu machen?«

Ich setzte mit leidlicher Fassung auseinander, daß ich wirklich nicht wüßte, woher ich meine Subsistenzmittel hernehmen sollte, wenn ich sie nicht selbst verdiente.

»Betreffs der Zukunft«, sagte ich, »hege ich keine Besorgnis –« und ich legte darauf großen Nachdruck, wie, um auf eine Möglichkeit, später einmal doch noch sein Schwiegersohn werden zu können, hinzudeuten –, aber für jetzt sei ich auf meine eignen Einkünfte angewiesen.

»Es tut mir außerordentlich leid, Copperfield, das zu hören«, sagte Mr. Spenlow. »Ganz außerordentlich leid. Es ist nicht üblich, aus solchem Anlaß Lehrkontrakte rückgängig zu machen. Es ist in keiner Hinsicht geschäftsmäßig. Es ist kein empfehlenswerter Präzedenzfall. Durchaus nicht. Andererseits –«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, murmelte ich in der Annahme, daß er eine Ausnahme machen wolle.

»O, ich bitte sehr«, wehrte Mr. Spenlow ab. »Andererseits, wollte ich sagen, wenn es mir vergönnt wäre, freie Hand zu haben, – wenn ich nicht einen Associe hätte, – Mr. Jorkins –«

Meine Hoffnungen waren mit einem Schlage vernichtet, aber ich machte noch einen Versuch.

»Meinen Sie nicht vielleicht, Sir«, sagte ich, »wenn ich mit Mr. Jorkins spräche –«

Mr. Spenlow schüttelte entmutigend den Kopf. »Gott verhüte, Copperfield, daß ich jemand Unrecht tun sollte, am allerwenigsten Mr. Jorkins. Aber ich kenne meinen Associe, Copperfield! Mr. Jorkins ist nicht der Mann, der auf einen Vorschlag so eigentümlicher Art eingehen würde. Mr. Jorkins läßt sich nur sehr schwer von dem gewohnten Wege abbringen. Sie wissen doch, wie er ist.«

Ich wußte gar nichts von ihm, als daß er ursprünglich allein im Geschäft gewesen war und jetzt in einem kahlen Hause nicht weit vom Montagu Square wohnte, sehr spät kam und sehr früh wegging, eine Treppe höher ein kleines finsteres Bureau innehatte, wo nie Geschäfte abgewickelt wurden, auf einem Pult eine alte Papiermappe lag, ohne jeden Tintenfleck und, wie die Sage ging, zwanzig Jahre alt.

»Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich mit ihm davon spräche, Sir?«

»Durchaus nicht, aber ich kenne Mr. Jorkins einigermaßen. Ich wollte, es wäre anders, und ich würde mich glücklich schätzen, Ihren Wünschen entsprechen zu dürfen. Ich habe nicht das mindeste dagegen, daß Sie mit Mr. Jorkins darüber sprechen, Copperfield, – wenn Sie es der Mühe wert halten.«

Entschlossen, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu machen, die Mr. Spenlow mir mit einem warmen Händedruck gab, setzte ich mich wieder hin, dachte an Dora und beobachtete, wie sich die Sonnenstrahlen von den Rauchfängen auf die Mauer des gegenüberliegenden Hauses stahlen, bis Mr. Jorkins kam. Dann stieg ich in sein Zimmer hinauf und überraschte ihn offenbar sehr durch mein Erscheinen.

»Nur herein, Mr. Copperfield«, sagte er. »Nur herein.«

Ich trat ein und setzte mich und brachte mein Anliegen mit denselben Worten vor wie soeben Mr. Spenlow. Mr. Jorkins war keineswegs der schreckliche Mensch, den man hätte erwarten sollen, sondern ein dicker Herr von sechzig Jahren und einem sanften Gesicht. Er verbrauchte so viel Schnupftabak, daß in den Commons die Sage ging, er lebe fast nur von diesem Reizmittel, da für einen andern Nahrungsstoff in seinem System kein Platz mehr sei.

»Sie haben wahrscheinlich darüber schon mit Mr. Spenlow gesprochen«, sagte Mr. Jorkins, als er mir sehr unruhig bis zu Ende zugehört hatte.

Ich bejahte und sagte ihm, Mr. Spenlow habe seinen Namen genannt.

»Er sagte, ich würde Einwendungen erheben?«

Ich mußte zugeben, daß Mr. Spenlow dies für wahrscheinlich gehalten hatte.

»Es tut mir leid, Ihrem Wunsche nicht willfahren zu können, Mr. Copperfield«, sagte Mr. Jorkins nervös. »Tatsache ist – aber ich habe auf der Bank zu tun, und Sie werden gewiß die Güte haben mich zu entschuldigen.«

Damit stand er in größter Eile auf und wollte das Zimmer verlassen, als ich mir noch einmal ein Herz faßte und sagte, daß sich also leider wohl die Sache nicht würde arrangieren lassen.

»Nein.« Mr. Jorkins blieb in der Türe stehen, um den Kopf zu schütteln. »Nein, ich erhebe Einwand dagegen«, sagte er rasch und ging hinaus. »Sie müssen bedenken, Mr. Copperfield«, setzte er hinzu und sah wieder zur Türe herein, »wenn Mr. Spenlow Einwendungen erhebt –«

»Persönlich macht er keine Einwendungen«, warf ich ein.

»Ja, ja, persönlich!« wiederholte Mr. Jorkins ungeduldig. »Ich versichere Ihnen, Mr. Copperfield, es sind eben Einwendungen da, die Sache ist hoffnungslos. Was sie wünschen, kann nicht geschehen. Ich – ich habe wahrhaftig auf der Bank zu tun.« Damit floh er geradezu und zeigte sich, soviel ich weiß, drei Tage lang nicht wieder in den Commons.

Da ich nichts unversucht lassen wollte, wartete ich, bis Mr. Spenlow wieder zurückkam, und erzählte ihm, was geschehen war, wobei ich ihm zu verstehen gab, daß ich nicht ohne Hoffnung sei, ihm werde es gelingen, das steinerne Herz Mr. Jorkins‘ zu erweichen, wenn er es nur versuchen wollte.

»Copperfield«, entgegnete Mr. Spenlow mit einem gewinnenden Lächeln«, Sie kennen meinen Associe, Mr. Jorkins, noch nicht so lange wie ich. Nichts liegt mir ferner, als Mr. Jorkins irgendwelche Unaufrichtigkeiten zuzutrauen, aber er hat eine eigentümliche Art, seinen Einwendungen Ausdruck zu verleihen, wodurch sich die Leute oft täuschen lassen. Nein, Copperfield, Mr. Jorkins läßt sich nicht umstimmen, darauf können Sie sich verlassen.«

Ich wußte gar nicht mehr, wen von beiden, Mr. Spenlow oder Mr. Jorkins, ich eigentlich für den Einwand erhebenden Firmateilhaber halten sollte, aber das eine war mir klar, daß von einer Rückzahlung der tausend Pfund nicht die Rede sein konnte. In großer Niedergeschlagenheit verließ ich die Kanzlei, immer in Gedanken mit Dora beschäftigt, und ging nach Hause.

Ich stellte mir im Geiste bereits das Allerschlimmste vor und malte mir alles im schwärzesten Lichte aus, als ein Fiaker mich einholte, neben mir hielt und mich dadurch aufblicken machte. Eine schöne Hand streckte sich mir aus dem Fenster entgegen und das Gesicht, in das ich nie ohne eine Empfindung von Beruhigung und Glück geblickt, von dem Augenblick an, wo es sich zum ersten Mal auf der eichenen alten Treppe mit dem großen breiten Geländer zurückwandte und ich seine sanfte Schönheit mit einem Kirchenfenster verglichen hatte, lächelte mir zu.

»Agnes!« rief ich entzückt, »liebe Agnes, welche Freude, gerade dich von allen Menschen auf der Welt zu sehen.«

»Wirklich?« sagte sie herzlich.

»Ich möchte so gerne mit dir sprechen. Wie wird mir das Herz so leicht, wenn ich dich nur ansehe. Wenn ich einen Zauberstab besäße, niemand anders als dich würde ich mir herbeigewünscht haben.«

»So?« – Agnes lächelte.

»Nun, vielleicht zuerst Dora«, gab ich errötend zu.

»Gewiß, zuerst Dora. Hoffentlich!« sagte Agnes lachend.

»Dann aber sofort dich! Wohin fährst du?«

Sie stand im Begriffe in meine Wohnung zu fahren, um meine Tante zu besuchen. Da das Wetter sehr schön war, schickten wir den Wagen fort, sie nahm meinen Arm, und wir gingen zusammen weiter. Sie kam mir vor wie die verkörperte Hoffnung. Wie ganz anders fühlte ich mich jetzt, wo sie neben mir ging.

Meine Tante hatte Agnes eins ihrer wunderlichen kurzen Billeten geschrieben – nicht länger als eine Banknote –, auf die sich ihre briefstellerischen Leistungen gewöhnlich beschränkten. Sie hatte darin gesagt, daß sie in Unglück geraten sei und Dover verlassen habe, sich aber sonst wohl befinde, so daß sich ihre Freunde keine Sorge um sie zu machen brauchten.

Agnes war nach London gekommen, um sie zu besuchen, da sie schon seit mehreren Jahren auf sehr gutem Fuße mit ihr stand. Die gegenseitige Zuneigung der beiden datierte von jener Zeit her, als ich in Mr. Wickfields Haus zog.

Agnes sagte, sie sei nicht allein. Ihr Papa hätte sie begleitet und – Uriah Heep.

»Also sind sie jetzt Associes?« fragte ich. »Verwünscht sei dieser Heep!«

»Ja, sie haben verschiedene Geschäfte hier abzuwickeln, und ich benützte die Gelegenheit, um ebenfalls mitzukommen. Du mußt nicht glauben, daß mein Besuch bei deiner Tante ganz allein aus Freundschaft entspringt, Trotwood, aber um es dir nur zu gestehen, ich fürchte mich, Papa mit Uriah allein reisen zu lassen.«

»Übt er immer noch denselben Einfluß auf Mr. Wickfield aus?«

Agnes nickte. »Daheim ist alles so verändert, daß du das alte liebe Haus kaum mehr wiedererkennen würdest. Sie wohnen jetzt bei uns.«

»Sie?« fragte ich.

»Mr. Heep und seine Mutter. Er schläft in deinem alten Zimmer«, sagte Agnes und sah mir ruhig in die Augen.

»Ich wollte, ich könnte seine Träume beeinflussen«, seufzte ich. »Dann würde er nicht mehr lang dort schlafen.«

»Ich habe noch mein kleines Zimmerchen, wo ich früher meine Aufgaben machte. Wie doch die Zeit vergeht! Erinnerst du dich? Das kleine getäfelte Zimmer neben dem Salon.«

»Ob ich mich noch erinnere, Agnes? Wo ich dich zum ersten Mal sah, wie du mit dem hübschen, kleinen Schlüsselkörbchen am Arm zur Türe heraustratest.«

»Ja, ja«, sagte Agnes lächelnd. »Es freut mich, daß du noch mit Liebe daran zurückdenkst. Wir waren damals sehr glücklich.«

»Ja, das waren wir, Agnes.«

»Es ist jetzt noch mein Zimmer, aber ich kann Mrs. Heep nicht immer allein lassen und muß ihr manchmal Gesellschaft leisten, wenn ich lieber allein sein möchte. Aber sonst kann ich mich über sie nicht beklagen. Wenn sie mich manchmal durch ihre ewigen Lobsprüche auf ihren Sohn langweilt, so ist das bei einer Mutter natürlich. Er handelt als guter Sohn an ihr.«

Ich blickte Agnes forschend an, konnte aber in ihren Zügen nicht entdecken, ob sie etwas von Uriahs Plänen erraten hatte. Ihre sanften, ernsten Augen sahen mich mit ihrer gewohnten schönen Offenheit an, und in ihrem Antlitz war keine Veränderung zu bemerken.

»Das Hauptübel ihrer Anwesenheit im Hause ist, daß ich nicht mehr so beständig in Papas Nähe sein und ihn bewachen kann, wenn ich mich damit nicht zu kühn ausdrücke. Spinnt Uriah Heep einen verräterischen Plan gegen ihn, so hoffe ich, daß Wahrheit und schlichte Liebe am Ende stärker sein werden. Ich hoffe, daß sie imstande sind, alles Übel und Unglück in der Welt am Ende zu überwinden.«

Ein gewisses freudiges Lächeln, das ich nie auf einem andern Gesicht gesehen, verschwand in ihren Mienen, während ich noch darüber nachdenken mußte, wie schön es sei und wie oft ich es gesehen, und sie fragte mich mit rasch verändertem Ausdruck – wir bogen gerade in die Buckingham Straße ein –, ob ich wüßte, wie es mit dem Vermögensverlust meiner Tante zugegangen sei. Auf meine verneinende Antwort wurde sie nachdenklich, und es kam mir vor, als ob ihr Arm in dem meinen zitterte.

Wir fanden meine Tante allein und in einiger Aufregung. Eine Meinungsverschiedenheit hatte sich zwischen ihr und Mrs. Crupp über eine theoretische Frage (ob es sich für das schönere Geschlecht schicke, in möblierten Mietszimmern zu wohnen) abgespielt, und meine Tante, gegen die »Krämpf« der Mrs. Crupp gänzlich unempfindlich, hatte den Streit damit kurz abgeschnitten, daß sie dieser Dame rundheraus sagte, sie röche nach Schnaps und möchte so gut sein, lieber hinauszugehen. Beide Äußerungen betrachtete Mrs. Crupp als strafbare Beleidigungen und hatte die Absicht ausgesprochen, das »Gricht« anzurufen.

Meine Tante hatte jedoch Zeit und Muße gehabt sich zu beruhigen, denn Peggotty war mit Mr. Dick ausgegangen, um ihm die berittene Leibwache zu zeigen, – und freute sich sehr, Agnes zu sehen. Sie schien auf den erlittenen Schicksalsschlag fast stolz zu sein und empfing uns in bester Laune. Als Agnes ihren Hut ablegte und sich neben meine Tante setzte, konnte ich nicht umhin mir zu denken, daß hier so recht ihr natürlicher Platz sei. Wie fest vertraute ihr meine Tante trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit, und wie stark war Agnes in ihrer schlichten Liebe und Wahrhaftigkeit.

Wir sprachen von dem Vermögensverlust, und ich erzählte, wie mein Versuch heute morgen ausgefallen.

»Das war unüberlegt, Trot«, sagte meine Tante, »wenn auch gut gemeint. Du bist ein hochherziger Junge, – ich muß jetzt wohl schon sagen, junger Mann, und ich bin stolz auf dich. Soweit wäre alles gut. Aber jetzt, Trot und Agnes, wollen wir dem Fall Betsey Trotwood ins Gesicht sehen und uns klarwerden, wie alles steht.«

Ich bemerkte, daß Agnes blaß wurde und meine Tante sehr aufmerksam beobachtete. Meine Tante streichelte ihre Katze und sah Agnes ebenfalls sehr aufmerksam an.

»Betsey Trotwood also, die immer ihre Geldangelegenheiten selbst abwickelte – ich meine nicht deine Schwester, lieber Trot, sondern mich selbst –, besaß einiges Vermögen. Es kommt nicht darauf an, wieviel, aber es war genug, um zu leben. Eigentlich noch mehr; sie hatte etwas gespart und dazugelegt. Betsey deponierte ihr Vermögen für einige Zeit in der Bank und legte es dann auf den Rat ihres Anwalts in Hypotheken an. Das warf recht anständige Zinsen ab, bis Betsey ausbezahlt wurde. Jetzt hatte sich also Betsey nach einer neuen Gelegenheit, ihr Geld anzulegen, umzusehen. Sie glaubte, sie sei klüger als ihr Anwalt, der jetzt kein so guter Geschäftsmann mehr zu sein schien wie früher – ich meine deinen Vater, Agnes –, und sie setzte sich in den Kopf, das Geld auf eigne Faust zu verwalten. Sie trieb sozusagen ihre Schafe auf einen auswärtigen Markt, und zwar in einen schlechten. Zuerst verlor sie in Minenwerten und dann beim Suchen nach Schätzen im Meer und anderm Unsinn, verlor dann wieder bei Minenwerten und zum Schluß den letzten Rest in Bankpapieren. Ich weiß nicht, wieviel die Bankaktien eine Zeitlang wert waren, sie notierten sogar einmal hundert Prozent über pari. Aber die Bank stand am andern Ende der Erde und muß wohl in den Weltraum hinabgerutscht sein. Jedenfalls ging sie in Trümmer, und niemals mehr wird ein Sixpence herausschauen. Und damit ist die Geschichte aus. Je weniger man darüber spricht, desto besser.«

Meine Tante schloß ihren philosophischen Bericht mit einem triumphierenden Blick auf Agnes, deren Farbe allmählich wieder zurückkehrte.

»Ist das die ganze Geschichte, liebe Miss Trotwood?« fragte Agnes.

»Ich denke, es ist genug, mein Kind. Wenn noch mehr Geld zuzusetzen gewesen wäre, würde sie gewiß noch nicht aus sein. Es wäre Betsey schon gelungen, auch den Rest noch dem übrigen nachzuwerfen und ein zweites Kapitel daraus zu machen. Aber das Geld ist alle, und die Geschichte ist aus.«

Agnes hatte zuerst mit angehaltnem Atem zugehört, sie wurde immer noch abwechselnd blaß und rot, atmete aber freier auf. Ich glaubte zu wissen, warum. Sie fürchtete, ihr armer Vater wäre in irgendeiner Weise an dem Geschehenen schuld.

Meine Tante faßte sie bei der Hand und lachte.

»Die Geschichte ist aus, und wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch glücklich und in Freuden. Vielleicht kann ich das auch noch einmal von Betsey sagen. Du, Agnes, bist ein gescheites Kind und auch du, Trot, wenigstens in manchen Dingen, in allen kann man das noch nicht behaupten«; bei diesen Worten schüttelte meine Tante mit der ihr eigentümlichen Energie den Kopf. »Was ist also zu tun? Vorerst haben wir das Häuschen, das jährlich so ungefähr siebzig Pfund einbringt. Ich glaube, wir können es dafür lassen. Das ist alles«, sagte meine Tante, die die Eigentümlichkeit hatte, wie edle Pferde mit einem Ruck mitten im schärfsten Tempo innezuhalten.

»Dann«, fuhr sie nach einer Pause fort, »haben wir Dick. Er bekommt hundert Pfund jährlich, aber das muß natürlich für ihn allein ausgegeben werden. Ich würde ihn lieber fortschicken, obgleich ich weiß, daß ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der ihn gehörig würdigt, als daß ich ihn bei mir behielte und das Geld anders als für ihn verwendete. Wie können also, Trot und ich, am besten mit unsern Mitteln auskommen. Was meinst du, Agnes?«

»Ich meine, Tante«, fiel ich ein, »daß ich irgend etwas anfangen muß.«

»Soldat werden, meinst du wohl?« rief meine Tante ganz erschrocken, »oder zur See gehen? Ich will nichts hören. Du sollst ein Proktor werden.«

Ich wollte gerade eine neue Auseinandersetzung beginnen, als Agnes fragte, ob meine Zimmer für lange Zeit gemietet seien.

»Du triffst den rechten Punkt, meine Liebe«, sagte meine Tante. »Für die nächsten sechs Monate wenigstens sind sie nicht loszuwerden. Wir müßten sie denn anderweitig anbringen können, und daran glaube ich nicht. Der letzte Mieter starb hier. Fünf Menschen von sechsen würden natürlich an dieser Frau in Nankingkleidern mit dem flanellnen Unterrock zugrunde gehen. Ich besitze noch eine kleine Summe in bar und glaube, es ist das beste, die noch übrigen sechs Monate hierzubleiben und für Dick ganz in der Nähe ein Schlafzimmer zu suchen.«

Ich hielt es für meine Pflicht, meine Tante auf die Unannehmlichkeit eines beständigen Guerillakrieges mit Mrs. Crupp aufmerksam zu machen, aber sie beseitigte den Einwand summarisch durch die Erklärung, daß sie bei dem ersten Ausbruch von Feindseligkeiten Mrs. Crupp für den ganzen Rest ihrer Lebenszeit in höchstes Erstaunen setzen wollte.

»Ich habe mir gedacht, Trotwood«, sagte Agnes schüchtern, »daß, wenn du Zeit hättest –«

»Ich habe sehr viel Zeit, Agnes. Ich bin immer von vier oder fünf Uhr an frei und habe auch in den Morgenstunden Zeit. So und so«, sagte ich und errötete bei dem Gedanken, wie viele, viele Stunden ich in den Straßen der Stadt und auf der Landstraße nach Norwood vertrödelt hatte, »bleibt mir vollauf Zeit übrig.«

»Ich glaube, die Beschäftigung eines Sekretärs würde dir vielleicht nicht schwerfallen«, sagte Agnes, beugte sich zu mir und sprach mit leiser Stimme so lieb und voll Hoffnungsfreudigkeit, daß es mir heute noch in den Ohren klingt.

»Schwerfallen, liebe Agnes?«

»Dr. Strong hat nämlich jetzt wirklich seine Stelle niedergelegt«, fuhr sie fort, »ist nach London gezogen und hat Papa nach einem Sekretär gefragt. Meinst du nicht, er würde lieber als jeden andern seinen ehemaligen Lieblingsschüler um sich haben?«

»Liebe Agnes«, rief ich aus, »was wäre ich ohne dich! Du bist stets mein guter Engel. Ich habe es doch immer gesagt. Du bist es immer und immer wieder.«

Agnes erwiderte mit fröhlichem Lachen, daß vorläufig ein guter Engel – sie spielte auf Dora an – ausreiche, und erzählte mir, daß der Doktor gewöhnlich die frühen Morgenstunden und den Abend zu arbeiten pflegte und meine freie Zeit ihm daher vortrefflich passen würde. Die Aussicht, mir mein Brot selbst zu verdienen, war mir kaum angenehmer als die Hoffnung, bei meinem alten Lehrer angestellt zu sein; kurz, ich schrieb sofort, dem Rate Agnes‘ folgend, einen Brief an ihn, worin ich meinen Wunsch vortrug und meinen Besuch für den nächsten Morgen um zehn Uhr ankündigte. Ich adressierte den Brief nach Highgate – denn in jener für mich so denkwürdigen Gegend wohnte er – und trug ihn augenblicklich selbst auf die Post.

Wo auch Agnes hinkam, immer verriet sogleich irgendein angenehmes Zeichen ihre Gegenwart und geräuschlose Tätigkeit. Als ich zurückkam, hatten die Vogelbauer meiner Tante einen Platz am Fenster gefunden, genau so, wie sie in dem Landhaus in Dover gehangen; mein Lehnstuhl, allerdings nicht so bequem wie der dortige, stand an der entsprechenden Stelle am offenen Fenster, und selbst der runde, grüne Schirm, den meine Tante mitgebracht, war auf das Fensterbrett festgeschraubt. Ich würde im Augenblick erraten haben, wer das alles gemacht und meine lange vernachlässigten Bücher in der aus der Schulzeit gewohnten Ordnung aufgestellt hatte, selbst wenn ich von Agnes‘ Anwesenheit nichts gewußt hätte.

Meine Tante war sehr gnädig hinsichtlich des Anblicks der Themse (der Fluß sah im Sonnenschein ganz hübsch aus, wenn auch nicht so schön wie das Meer vor dem Landhause), aber mit dem Londoner Rauch konnte sie sich nicht abfinden, der, wie sie sich ausdrückte, alles mit Pfeffer bestreue.

Wegen dieses Pfeffers wurde eine vollständige Umwälzung, bei der Peggotty eine hervorragende Rolle spielte, in jedem Winkel meines Zimmers veranstaltet, und ich sah zu und dachte, wie geräuschvoll selbst Peggotty zu hantieren schien, verglichen mit Agnes, – da klopfte es an die Tür.

»Ich glaube«, sagte Agnes und wurde blaß, »es ist Papa. Er versprach mir herzukommen.«

Ich öffnete die Tür, und nicht nur Mr. Wickfield, sondern auch Uriah Heep traten herein. Ich hatte Mr. Wickfield längere Zeit nicht gesehen. Nach Agnes‘ Erzählungen hatte ich mich wohl darauf gefaßt gemacht, ihn sehr verändert zu finden, aber sein Aussehen erschütterte mich geradezu.

Er sah viele Jahre älter aus, sein Gesicht zeigte eine ungesunde Röte, aber er war immer noch mit derselben peinlichen Sorgfalt gekleidet; seine Augen waren entzündet und blutunterlaufen, und seine Hand zitterte – ich wußte warum und hatte es schon vor Jahren kommen sehen. Aber nicht sein verändertes Aussehen – von seiner vornehmen Haltung hatte er nicht das geringste eingebüßt – fiel mir so sehr auf, sondern der Umstand, daß er bei allen noch vorhandenen Zeichen einer angebornen Überlegenheit sich dieser kriecherischen Verkörperung von Gemeinheit – Uriah Heep – unterordnete. Die unnatürliche Stellung dieser beiden Charaktere zueinander, so daß Uriah jetzt der Gebieter und Mr. Wickfield der Abhängige war, machte mir einen peinlicheren und entwürdigenderen Eindruck, als wenn ich einen Affen hätte einem Menschen befehlen sehen.

Mr. Wickfield schien sich alles dessen nur zu sehr bewußt zu sein. Als er hereinkam, blieb er stehen, das Haupt gebeugt, als ob er es fühlte. Das dauerte aber nur einen Augenblick lang, denn Agnes sagte mit sanfter Stimme zu ihm:

»Papa, hier sind Miss Trotwood – und Trotwood, den du so lange nicht gesehen hast!« Und dann trat er näher, gab meiner Tante mit gezwungener Miene die Hand und schüttelte die meine mit größerer Herzlichkeit. Eine Sekunde lang sah ich, daß sich Uriahs Gesicht zu einem bösen Lächeln verzerrte. Ich glaube, auch Agnes sah es, denn sie zog sich schaudernd vor ihm zurück.

Was meine Tante sah oder nicht sah, hätte auch der scharfsinnigste Physiognom nicht aus ihren Mienen lesen können. Ich glaube, es hat nie jemand auf der Welt gegeben, der ein so vollkommen steinernes Gesicht machen konnte. Ihre Mienen hätten in dem vorliegenden Fall ebensogut kahles Mauerwerk sein können, so wenig Licht warfen sie auf ihre Gedanken, bis sie mit ihrer gewohnten Plötzlichkeit das Schweigen brach.

»Na, Wickfield!«

Er sah sie jetzt zum ersten Male an.

»Ich habe Ihrer Tochter erzählt, wie gut ich mein Geld allein angelegt habe, weil ich es Ihnen nicht anvertrauen wollte, da Sie in Geschäftssachen ein wenig schläfrig geworden zu sein schienen. Wir haben die Sache zusammen beraten und sind zu einem guten Schluß gekommen. Agnes wiegt meiner Meinung nach die ganze Firma auf.«

»Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf«, sagte Uriah Heep und krümmte sich, »so erlaube ich mir, mit Miss Betsey Trotwood ganz übereinzustimmen, und würde mich glücklich schätzen, wenn Miss Agnes mit zum Geschäft gehörte.«

»Sie gehören ja selbst zum Geschäft«, entgegnete meine Tante, »und das ist gerade genug für Sie, sollte ich meinen. Wie befinden Sie sich?«

Auf diese Frage, die mit ungewöhnlicher Schroffheit gestellt wurde, erwiderte Heep, indem er unruhig die blaue Aktentasche umklammerte, daß er sich recht wohl befinde, meiner Tante danke und hoffe, es gehe ihr ebenso.

»Und Ihnen, Master ? ich wollte sagen, Mister Copperfield?« fuhr er fort, »ich hoffe, Sie sind ebenfalls wohl. Es freut mich außerordentlich, Sie zu sehen, Mister Copperfield, selbst unter den gegenwärtigen Verhältnissen.« Ich glaubte ihm das aufs Wort, denn er strahlte vor Schadenfreude.

»Ihre gegenwärtigen Verhältnisse sind wohl nicht so, wie Ihre Freunde wünschen möchten, Mister Copperfield, aber Geld macht nicht den Mann. Es ist ? meine bescheidenen Kräfte reichen wahrhaftig nicht aus, es in die richtigen Worte zu kleiden ?« sagte Uriah mit einer kriechenden Bewegung, »aber Geld machts nicht.«

Dabei schüttelte er mir die Hand, nicht auf die gewöhnliche Art, sondern indem er in ziemlicher Entfernung von mir stehenblieb und meine Hand wie einen Pumpenschwengel, vor dem er sich ein wenig fürchte, auf und nieder bewegte.

»Und wie finden Sie, sehen wir aus, Master Copperfield ? ich wollte sagen, Mister?« schmeichelte er weiter. »Finden Sie nicht Mr. Wickfield blühend aussehend, Sir? In unserm Geschäft machen Jahre nichts aus, Master Copperfield, außer daß sie die Demütigen, nämlich Mutter und mich, erheben ? und das Schöne, nämlich Miss Agnes, entwickeln.« Er schnellte sich in so widerwärtiger Weise, daß meine Tante, die ihn starr angesehen, alle Geduld verlor.

»Der Kuckuck hole den Menschen«, sagte sie streng. »Was hat er nur? Zappeln Sie nicht so, Sir!«

»Ich bitte um Entschuldigung, Miss Trotwood«, entgegnete Uriah, »ich weiß, Sie sind nervös.«

»Halten Sie den Mund«, sagte meine Tante, durchaus nicht besänftigt. »Was erlauben Sie sich! Ich bin gar nicht nervös. Aber Sie sind ein Aal und benehmen sich so. Wenn Sie ein Mensch sind, behalten Sie Ihre Glieder in der Gewalt, Sir, ? Gott im Himmel!« setzte sie mit großer Entrüstung hinzu. »Ich werde mich nicht aus meinen fünf Sinnen hinausschlängeln und korkziehern lassen.«

Wie leicht begreiflich, war Heep von dieser Explosion ziemlich bestürzt, die noch nachträglich immer stärker auf ihn wirkte, weil meine Tante mit unwilliger Miene auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und ihm böse Gesichter schnitt. Er nahm mich beiseite und sagte zu mir in schüchternem Ton:

»Ich weiß recht wohl, Master Copperfield, daß Miss Trotwood bei aller ihrer Vortrefflichkeit ein reizbares Temperament besitzt, habe ich doch schon das Vergnügen ihrer Bekanntschaft vor Ihnen gehabt, Master Copperfield, als ich noch ein niedriger Schreiber war, und es ist nur natürlich, daß sie in den gegenwärtigen Verhältnissen noch gereizter erscheint. Es ist nur ein Wunder, daß es nicht noch schlimmer ist. Ich komme nur her, um zu erklären, daß wir sehr erfreut sein möchten, wenn mir, Mutter und ich oder Wickfield & Heep, bei den gegenwärtigen Verhältnissen etwas tun könnten. – Darf ich mir so viel herausnehmen?« fragte Uriah mit einem verlegnen Lächeln auf seinen Associe.

»Uriah Heep«, sagte Mr. Wickfield monoton und gezwungen, »ist sehr tätig im Geschäft, Trotwood. Was er sagt, hat meine volle Zustimmung, und du weißt, ich fühlte von jeher ein Interesse für dich. Aber abgesehen davon, stimme ich ganz mit Uriah überein.«

»O, was für ein Lohn es ist«, sagte Uriah und zog ein Bein in die Höhe, auf die Gefahr hin, meine Tante abermals zu reizen, »ein solches Vertrauen zu genießen. Aber ich hoffe, ich bin imstande, ihn die Mühseligkeiten des Geschäftes ein wenig abnehmen zu können, Master Copperfield.«

»Uriah Heep ist eine große Stütze für mich«, sagte Mr. Wickfield mit derselben klanglosen Stimme. »Mir ist eine Last von der Seele, Trotwood, seit ich ihn zum Kompagnon habe.«

Ich begriff, der schlaue Rotfuchs ließ ihn das alles sagen, um ihn mir in der Zwangslage vorzustellen, die er mir in jener Nacht, als er meine Ruhe vergiftete, angedeutet hatte. Ich sah wieder dasselbe häßliche Lächeln auf seinem Gesicht und bemerkte, wie er mich lauernd beobachtete.

»Du gehst doch nicht fort, Papa?« fragte Agnes ängstlich. »Willst du nicht warten, bis Trotwood und ich dich heimbegleiten?«

Mr. Wickfield schien einen fragenden Blick auf Uriah werfen zu wollen, doch kam ihm dieser zuvor.

»Ich habe Geschäfte«, sagte Uriah, »sonst würde ich mich glücklich schätzen, hierbleiben zu können. Aber ich lasse meinen Associe als Stellvertreter der Firma da. Miss Agnes, immer der Ihrige! Ich wünsche Ihnen guten Tag, Master Copperfield, und empfehle mich untertänigst bei Miss Betsey Trotwood.«

Mit diesen Worten entfernte er sich, küßte seine große Hand und schielte uns an wie eine Maske.

Wir saßen wohl ein paar Stunden lang zusammen und sprachen von den schönen alten Zeiten in Canterbury. Neben Agnes gewann Mr. Wickfield viel von seinem alten Wesen wieder, obgleich er eine gewisse Gedrücktheit nie loswerden konnte. Dennoch wurde er fröhlicher und hörte uns mit sichtlichem Vergnügen zu, wenn wir uns die vielen kleinen Vorfälle unseres frühern Zusammenlebens zurückriefen. Er sagte, er erinnere sich so gern an die Zeiten, wo er mit Agnes und mir allein gewesen, und wünschte, sie hätten sich nie geändert. In Agnes‘ ruhigem Antlitz und in der bloßen Berührung ihrer Hand lag etwas, das Wunder an ihm tat.

Meine Tante, die sich die ganze Zeit über in dem andern Zimmer zusammen mit Peggotty beschäftigt hatte, wollte nicht mit uns gehen, als wir aufbrachen. So aßen wir zu dritt zusammen in Mr. Wickfields Wohnung. Nach dem Essen setzte sich Agnes neben ihren Vater und schenkte ihm seinen Wein ein.

Er trank nur, was sie ihm reichte und nicht mehr – wie ein gehorsames Kind –, und wir setzten uns, als der Abend anbrach, ans Fenster. Als es fast dunkel geworden war, legte er sich auf ein Sofa, und Agnes rückte ihm die Kissen zurecht und beugte sich eine Weile über ihn, und als sie wieder zum Fenster zurückkehrte, konnte ich Tränen in ihrem Auge glitzern sehen.

Wie sie dann mit mir von Dora sprach, als wir im Dunkeln am Fenster saßen, wie sie meine Lobsprüche anhörte und miteinstimmte! Ach Agnes, Schwester meiner Jugendzeit, wenn ich damals gewußt hätte, was ich lange später erst erfuhr!

Auf der Straße begegnete ich einem Bettler, und als ich nach dem Fenster zurückblickte und an Agnes‘ ruhige Engelsaugen dachte, erschreckte er mich durch sein Gemurmel, das wie ein Echo des Satzes vom verflossenen Morgen klang: »Blind, blind, blind!«