Viertes Kapitel


Viertes Kapitel

Die Erzählung des wandernden Schauspielers.

»Es ist nichts Außerordentliches – ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will«, begann der Trübsinnige. »Mangel und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als ihnen bei den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens gezollt wird. Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenes Übermaß von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.

Der Mann, von dem ich erzähle, war ein Schauspieler, der in den niedrig-komischen Rollen auftrat, und hatte sich, wie so viele seines Berufes, dem Trunke ergeben. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen geschwächt und durch Krankheit heruntergekommen war, hatte er gute Einnahme, die ihm bei einem geordneten Lebenswandel mehrere – freilich nicht viele – Jahre lang geblieben wäre: denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihre Existenz abhängt. Seine Leidenschaft beherrschte ihn in dem Grade, daß man ihn in kurzer Zeit für die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unbrauchbar fand. Das Wirtshaus hatte einen Zauber für ihn, dem er nicht widerstehen konnte. Krankheit ohne Pflege und Armut ohne Hoffnung mußten ebenso gewiß sein Los werden, wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte; dennoch ließ er nicht davon; und die Folgen lassen sich denken. Er konnte keine Anstellung mehr finden Und war brotlos.

Jeder, der nur einigermaßen mit dem Schauspielerstand bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Gefolge einer größeren Bühne befindet – keine ordentlich angenommenen Schauspieler, sondern Tänzer, Statisten, Gaukler und so weiter, die für eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwunge ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein besonderes Stück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs neue bedarf. Dazu mußte unser Schauspieler seine Zuflucht nehmen. Er stellte jeden abend auf irgendeinem kleinen Theater die Stühle auf, und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte. Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zu viel von seinem Erwerbe, um auch nur für die geringsten Bedürfnisse etwas übrig zu lassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab, oder trat auf irgendeinem Winkeltheater der gemeinsten Art auf; aber was er erhielt, wanderte treulich den gleichen Weg.

So hatte er sich länger als ein Jahr umhergetrieben, ohne daß man wußte wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite Surrey ist eine englische Grafschaft mit der Hauptstadt Guildford. des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Er war mir auf einige Zeit aus den Augen gekommen, denn ich hatte das Land durchreist, während er sich in den Winkeln Londons umhertrieb. Da klopfte er mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriffe war, das Schauspielhaus zu verlassen. Nie werde ich den erschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er war in die Tracht seines Handwerks gekleidet, und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanze, die fürchterlichsten Gestalten, die je der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zauberte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde – die gläsernen Augen, die gegen das hochaufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, fürchterlich abstachen; der grotesk aufgeputzte, krampfhaft zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatürliches Aussehen, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann, und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und zitternd, als er mich beiseite nahm und mir in gebrochenen Worten ein Langes und Breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte, wobei er, wie gewöhnlich, mit der dringenden Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das durch sein Auftreten auf den Brettern hervorgerufen wurde.

Einige Tage darauf legte mir eines Abends ein Knabe einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand, worauf mit Bleistift einige Worte gekritzelt waren, aus denen hervorging, daß der Mann gefährlich krank sei und mich ersuche, ihm nach der Vorstellung da und da – ich habe den Namen der Straße vergessen – nicht weit vom Schauspielhause, zu besuchen. Ich versprach zu kommen, sobald ich könnte, und kaum war der Vorhang gefallen, da trat ich meinen traurigen Weg an.

Es war spät, denn ich hatte im letzten Stück gespielt, und da es ein Benefiz gewesen, so hatte die Vorstellung ungewöhnlich lange gedauert. Es war eine finstere, traurige Nacht: ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüren. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Sümpfen angesammelt, und da die Heftigkeit des Windes, die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, so war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise den rechten Weg eingeschlagen und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – einen Kohlenschuppen mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.

Ein kläglich aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, er sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise ins Krankenzimmer und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.

Er lag in einem alten Bettgestelle, das den Tag über zurückgeschlagen werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tür eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glimmte ein mattes Kohlenfeuer, und vor demselben stand ein alter, dreieckiger, schmutziger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gerätschaften. In einem Bette auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm auf dem Stuhle saß die Frau. Auf zwei Regalen an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und unter ihnen hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war sonst nichts im Zimmer zu erblicken.

Ich hatte Zeit gehabt, diese Einrichtung zu mustern und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe er meiner gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine gute Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.

»Herr Hutley, John«, sagte sein Weib: »Herr Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast, wie du weißt.«

»Ach!« rief der Kranke, mit seiner Hand über die Stirne fahrend: »Hutley – Hutley – laß mich sehen.« Er schien seine Gedanken auf einige Sekunden sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenke und sagte: »Verlaß mich nicht – verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.«

»Ist er schon lange so?« fragte ich mit einem Blicke auf sein weinendes Weib.

»Seit gestern abend«, antwortete sie. »John, John, kennst du mich nicht?«

»Laß sie nicht her«, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn hinbeugte. »Jage sie fort: ich kann sie nicht neben mir ertragen.« Er starrte sie wild und mit einem Blicke tödlicher Angst an, und flüsterte mir dann ins Ohr: »Ich schlug sie – ja, ich schlug sie gestern und schon manches Mal. Ich gab sie dem Hungertode preis und das Kind auch; und nun ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafür ermorden: ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört, wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.« Er ließ meine Hand los und sank erschöpft aufs Kissen.

Ich wußte nur zu wohl, was all das zu bedeuten hatte. Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so würde mich ein Blick in das blasse Gesicht und auf die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. »Gehen Sie lieber beiseite«, sagte ich zu dem armen Geschöpf. »Sie können doch nichts für ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.« Sie ging ihrem Manne aus dem Gesicht. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Augen und sah sich ängstlich um.

›Ist sie fort?‹ fragte er hastig.

›Ja, ja‹, antwortete ich: ›sie wird dir nichts zu Leide tun.‹

›Ich will dir was sagen, Jem,‹ versetzte der Kranke mit leiser Stimme, ›sie tut mir etwas zu Leide. Es liegt in ihren Augen etwas, was eine so fürchterliche Angst in mir hervorbringt und was mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über waren ihre großen, starren Blicke und ihr bleiches Gesicht dicht vor mir: wohin ich mich wandte, wandten auch sie sich, und sooft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und stierte mich an.‹ Er zog mich näher zu sich, als er in einem tiefen, zitternden Tone flüsterte –* ›Jem, sie muß ein böser Geist sein – ein Teufel! Hu! ich weiß es, sie ist’s. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht ertragen, was sie ertragen hat.‹

Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die vorangegangen sein mußten, um bei einem solchen Menschen einen solchen Eindruck hervorzubringen. Ich wußte nichts zu erwidern: denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?

Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, unaufhörlich seine Arme hin und her warf, und sich immer wieder von einer Seite auf die andere umwandte. Endlich verfiel er in eine Art von bewußtlosem Halbschlummer, in dein der Geist unruhig von Bild zu Bild, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall, und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich, indem ich dem bedauernswürdigen Weibe versprach, am nächsten Abende meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.

Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten aber eine furchtbare Veränderung hervorgebracht. Die Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten von einem entsetzlichen Glänze. Die Lippen waren vertrocknet und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockene harte Haut fühlte sich glühend heiß an, und in dem Gesichte des Kranken lag ein beinahe gespenstischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.

Ich setzte mich wie gestern abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das fühlloseste Herz hätten tief ergreifen müssen – die furchtbaren Phantasien eines Sterbenden. Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an seinem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verrenkt worden waren, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.

Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen in den Tagen der Gesundheit zurückkehren zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt: aber wenn diese Beschäftigungen von der Art sind, daß sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen, geradezu entgegengesetzt sind, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.

Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Phantasie des irren Elenden erging. Es war Abend, bildete er sich ein. Er mußte auftreten: es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen. Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel – er mußte gehen. Nein! sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Feinde. Eine kurze Pause, und er keuchte einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte. Er richtete sich im Bette auf, streckte seine welken Arme in die Höhe, und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: er spielte – er war auf der Bühne. Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlußreim eines Trinkliedes. Endlich hatte er die Schenke wieder erreicht: wie heiß war es in dem Zimmer. Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. Füllet sein Glas auf! Wer schlug es ihm vom Munde weg? Es war derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgt hatte. Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut. Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein ermüdendes Labyrinth niedriger, gewölbter Zimmer – so niedrig bisweilen, daß er auf allen Vieren fortkriechen mußte; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, häßliches Gewürm, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – fürchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer – das Gewölbe dehnte sich ins Ungeheure – fürchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, gräßlich verzerrt: sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnürten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut heraus spritzte. Er kämpfte fürchterlich um sein Leben.

Nach einem solchen Anfalle, während dem ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Vom langen Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir für einige Minuten die Augen zugefallen, als ich von einem heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte. Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine fürchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewußtsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich. Das Kind, das durch seine irren Reden lange Zeit eingeschüchtert gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge: aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen. Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände nach den Seinigen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch. Noch ein Röcheln in der Kehle – ein Blitzen im Auge – ein kurzer unterdrückter Seufzer – und der Unglückliche sank aufs Kissen zurück. Er war – tot!«

 

Es würde uns das größte Vergnügen machen, Herrn Pickwicks Ansicht über die vorhergehende Erzählung mitzuteilen, und wir wären zweifelsohne in der Lage, es tun zu können, hätte nicht ein ganz unglücklicher Zufall sein Veto dareingesprochen.

Herr Pickwick hatte das Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnitts der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – wirklich hatte er, um uns auf Herrn Snodgraß‘ Gedenkbuch zu berufen, bereits den Mund geöffnet – als der Kellner eintrat und »Einige Herren« anmeldete.

Es läßt sich denken, daß Herr Pickwick gerade auf dem Punkte stand, etwelche Bemerkungen, die – wenn auch nicht die Themse – doch die Welt erleuchtet haben würden, zum Besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde; denn er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Augen die Runde in der Gesellschaft machen, als wünsche er nähere Aufklärung über die Gemeldeten.

»O!« sagte Herr Winkle aufstehend, »einige Freunde von mir – führen Sie dieselben herein. Sehr angenehme Herrschaften,« fügte Herr Winkle hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte – »Offiziere vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich heute morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden mit ihnen zufrieden sein.«

Herrn Pickwicks Gleichmut war rasch wieder hergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.

»Leutnant Tappleton«, sagte Herr Winkle! »Leutnant Tappleton, Herr Pickwick – Doktor Payne, Herr Pickwick – Herr Snodgraß, den Sie bereits gesehen haben: mein Freund, Herr Tupman, Doktor Payne – Doktor Slammer, Herr Pickwick – Herr Tupman, Doktor Slam–«

Hier verstummte Herr Winkle plötzlich; denn auf dem Gesichte Herrn Tupmans und des Doktors war eine seltsame Erregung sichtbar.

»Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen«, sagte der Doktor mit starker Betonung.

»Wirklich?« versetzte Herr Winkle.

»Und – und, diese Person auch, wenn ich mich nicht irre«, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. »Ich glaube, ich ließ an diese Person gestern abend eine dringende Einladung ergehen, die sie ablehnen zu müssen vermeinte.«

Bei diesen Worten warf der Doktor einen stolzen, verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas in die Ohren.

»Wie – ist es Ihr Ernst?« sagte dieser, als er das Geflüster vernommen hatte.

»Mein vollkommener Ernst«, versetzte Doktor Slammer.

»Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben«, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.

»Seien Sie ruhig, Payne«, vermittelte der Leutnant. »Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr«, sagte er, sich an Herrn Pickwick wendend, der sich durch dieses höchst unhöfliche Zwischenspiel sehr beleidigt fühlte – »wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob diese Person zu Ihrer Gesellschaft gehört?«

»Nein, mein Herr«, erwiderte Herr Pickwick. »Er ist unser Gast.«

»Er ist einm Mitglied Ihres Klubs – oder irre ich mich?« fragte der Leutnant.

»Nein, gewiß nicht«, antwortete Herr Pickwick,

»Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?« fragte der Leutnant weiter.

»Nein – nie!« versetzte der erstaunte Herr Pickwick.

Leutnant Tappleton wandte sich an Doktor Slammer mit einem kaum bemerkbaren Achselzucken, als wollte er damit andeuten, daß ihm seines Freundes Gedächtnis zweifelhaft vorkäme. Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Herr Payne starrte wild in das strahlende Gesicht des staunenden Pickwick.

»Mein Herr«, begann der Doktor, sich plötzlich an Herrn Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebensosehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen – »Sie waren gestern abend auf dem Ball?«

Herr Tupman antwortete mit einem schwachen »Ja«; fortwährend auf Herrn Pickwick blickend.

»Diese Person war Ihr Begleiter?« fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.

Herr Tupman gab es zu.

»Nun, mein Herr,« sagte der Doktor zu dem Fremden, »ich frage Sie noch einmal in Gegenwart dieser Herren, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein, oder ob Sie mich in die Notwendigkeit versetzen wollen. Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?«

»Halten Sie inne, mein Herr«, sagte Herr Pickwick; »ich kann wirklich nicht dulden, daß die Sache weiter getrieben wird, ehe Sie mir irgendeine Auskunft geben. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!«

Also feierlich aufgefordert, berichtete Herr Tupman die Sache mit wenigen Worten. Das Entlehnen des Rockes berührte er nur leicht: einen großen Nachdruck legte er darauf, daß es »nach dem Mittagessen« stattgefunden hätte, deutete flüchtig auf eine kleine Reue über sein eigenes Betragen hin und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er konnte.

Dieser war eben im Begriffe, es zu tun, als ihn der Leutnant Tappleton, der ihn bisher mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:

»Habe ich Sie nicht auf dem Theater gesehen, mein Herr?«

»O ja«, erwiderte der Fremde unbefangen.

»Er ist ein wandernder Schauspieler«, sagte der Leutnant verächtlich, indem er sich an Doktor Slammer wandte. »Er tritt in dem Stücke auf, das morgen die Offiziere des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen lassen. Sie können in der Sache nicht weiter gehen, Slammer – unmöglich!«

»Nein, unmöglich!« sagte Payne pathetisch.

»Ich bedaure, Sie in diese Unannehmlichkeit versetzt zu haben« sagte Leutnant Tappleton, sich an Herrn Pickwick wendend. »Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, daß der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!« – und rasch verließ der Leutnant das Zimmer.

»Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr,« versetzte der reizbare Doktor Payne, »daß ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Sie und die sämtlichen Mitglieder dieser Gesellschaft geohrfeigt hätte. Ja, das hätte ich. Mein Name ist Payne, mein Herr – Doktor Payne vom dreiundvierzigsten Regiment. Guten Abend, mein Herr.«

Die vier letzten Worte sprach er in einem lauten, nachdrücklichen Tone und schritt sodann mit stolzer Würde aus dem Zimmer. Ihm folgte Doktor Slammer schweigend, und nur einen Blick voll Verachtung auf die Gesellschaft werfend.

Zorn und Wut hatte während der eben erwähnten Herausforderung Herrn Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Er stand regungslos, mit stieren Blicken da, und erst das Knarren der Tür brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen sprang er auf. Seine Hand hatte die Türklinke gefaßt, und im nächsten Augenblicke würde er den Doktor Payne vom dreiundvierzigsten Regiment an der Kehle gepackt haben, hätte nicht Herr Snodgraß seinen verehrten Lehrer am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.

»Haltet ihn«, rief Herr Snodgraß. »Winkle, Tupman – er darf sein kostbares Leben nicht um einer solchen Angelegenheit willen aufs Spiel setzen.«

»Lassen Sie mich los«, sagte Herr Pickwick.

»Haltet ihn fest«, schrie Herr Snodgraß; und durch die vereinten Kräfte der ganzen Gesellschaft ward Herr Pickwick in einen Armstuhl gedrängt.

»Ihn ruhig lassen«, sagte der grüngekleidete Fremde – »Branntwein und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!«

Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Pickwicks Lippen, und im nächsten Augenblicke war der Rest vollends verschwunden.

Es trat eine kurze Pause ein; das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Herrn Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.

»Diese Menschen verdienen nicht, daß Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir«, sagte der Trübsinnige.

»Sie haben recht, Sir,« versetzte Herr Pickwick, »sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, daß ich mich soweit vergessen konnte. Ziehen Sie Ihren Stuhl zu mir an den Tisch, Sir.«

Der Trübsinnige tat es: der Kreis versammelte sich wieder um den Tisch, und die frühere Eintracht fand sich wieder ein. In Herrn Winkles Brust schien indes noch ein heimlicher Unmut zurückzubleiben, der vielleicht von der zeitweisen Entwendung seines Rocks veranlaßt wurde – doch ist es kaum denkbar, daß ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Mißbehagens in der Seele eines Pickwickiers hervorgerufen haben sollte. Davon abgesehen, war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Die Musterung. – Neue Freunde. – Eine Einladung aufs Land.

Viele Schriftsteller haben eine ebenso törichte, wie unredliche Abneigung gegen die Angabe der Quellen, aus denen sie manche schätzbaren Nachrichten schöpfen. Wir kennen dieses Gefühl nicht. Unser einziges Bestreben geht dahin, unsern Pflichten als Herausgeber auf eine ehrenhafte Weise nachzukommen, und wie groß auch unter andern Umständen unser Ehrgeiz gewesen wäre, auf das Verdienst der Erfindung dieser Begebenheiten Anspruch zu machen, so verbietet uns doch die Liebe zur Wahrheit, mehr zu beanspruchen, als das Verdienst einer zweckmäßigen Zusammenstellung und unparteiischen Erzählung derselben. Die Pickwickpapiere sind unsere Quellenwerke, und wir sind mit der Wasserlieferungsgesellschaft zu vergleichen. Die Arbeiten anderer haben uns mit einem außerordentlichen Vorrat von Stoffen versehen, und wir geben sie der Welt, die nach der Bekanntschaft mit den Pickwickiern dürstet, in einem hellen und lieblichen Strome auf diesen Blättern.

In diesem Sinne handelnd und entschlossen, unsere Verbindlichkeiten gegenüber den Quellen zu erfüllen, aus denen wir schöpfen, sagen wir frei heraus, daß wir den Inhalt dieses und des folgenden Kapitels dem Memoirenbuche des Herrn Snodgraß verdanken – einen Inhalt, den wir jetzt, nachdem wir unser Gewissen entlastet, unsern Lesern ohne weiteren Kommentar vorlegen wollen:

Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften stand am folgenden Morgen, sobald der Tag graute, in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung auf. Es sollte an diesem Tage eine große Musterung stattfinden. Das Falkenauge des Obergenerals sollte die Manöver von einem halben Dutzend Regimenter inspizieren: man hatte Festungswerke errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen, genommen und eine Mine gesprengt werden.

Herr Pickwick war, wie unsere Leser aus dem kurzen Auszuge, den wir aus seiner Beschreibung von Chatam gegeben, gesehen haben, ein enthusiastischer Bewunderer des Heeres. Nichts konnte ihm einen höheren Genuß gewähren – nichts konnte mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen – wie ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatz der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.

Alles deutete darauf hin, daß etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Es waren Wachen ausgestellt, um den Raum für die Truppen freizuhalten; besonders beorderte Leute trugen Sorge, den Damen Plätze auf den Batterien zu verschaffen; Sergeanten rannten mit Pergamentbänden hin und her, und Oberst Bulder galoppierte in vollständiger Uniform von einer Stelle zur andern, indem er seine Reiterkünste in den kühnsten Schwenkungen zur Schau trug und sich ohne einen besonderen Grund heiser und blau schrie. Offiziere flogen auf und nieder, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und verschwanden zuletzt in den Reihen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, daß man über die hohe Bedeutung der Feierlichkeit keinen Augenblick im Zweifel sein konnte.

Herr Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Gedränge nahm mit jedem Augenblick zu, und die Anstrengungen, die sie machen mußten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, beschäftigten in den zwei folgenden Stunden ihre Aufmerksamkeit hinlänglich. Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Herr Pickwick einige Ellen weit vorwärtsgestoßen wurde und dabei eine Hast und Geschmeidigkeit zur Schau stellte, die mit dem Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand: bald ertönte ein gebieterisches »Zurück!« und das Ende eines Flintenkolbens fiel entweder auf Herrn Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle augenblickliche Folge zu geben. Spaßvögel machten sich wohl auch das Vergnügen, mit der ganzen Fülle ihrer Kraft gegen Herrn Snodgraß anzudrängen und ihn dann wegen seines Drückens zur Rechenschaft zu ziehen, und wenn Herr Winkle seine höchste Entrüstung über eine solche Ungebühr aussprach, schlug ihm irgendein Schalk von hinten den Hut über die Augen und ersuchte ihn, seinen Kopf in die Tasche zu stecken. Diese und andere handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Herrn Tupmans (der plötzlich verschwunden war), machten ihre Lage im ganzen weit eher unbehaglich, als angenehm und unterhaltsam.

Endlich lief ein Gemurmel durch die Menge, wie es gewöhnlich das Eintreten des Erwarteten bezeichnete. Aller Augen richteten sich nach dem Ausfallstor. Wenige Augenblicke gespannter Erwartung, und Fahnen flatterten lustig in der Luft: Waffen glänzten in der Sonne, und Abteilung um Abteilung rückte in die Ebene vor. Die Truppen machten halt und stellten sich in Reihe und Glied; das Kommandowort lief durch die Reihen: es ertönte ein allgemeines Flintengeklirre, als präsentiert wurde, und der Obergeneral, begleitet von Oberst Bulder und einer Menge anderer Offiziere, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen. Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und so weit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Beinkleidern, starr und regungslos.

Herr Pickwick hatte soviel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, daß er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was unter seinen Augen vorging, bis die Aufmarschentfaltungen soweit gediehen waren, wie wir soeben angegeben haben. Als er aber endlich fest auf den Beinen stand, kannte seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.

»Kann es etwas Schöneres, etwas Anziehenderes geben?« fragte er Herrn Winkle.

»Nein«, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer viertel Stunde ein kleiner Mann auf den Zehen stand.

»In der Tat ein großartiger, ein herrlicher Anblick,« sagte Herr Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst entbrannte, »die tapferen Verteidiger des Vaterlandes in ihrer glänzenden Rüstung vor den friedlichen Bürgern zu sehen, mit ihren glühenden Gesichtern – nicht von kriegerischer Wildheit, sondern von gesitteter Artigkeit – mit ihren flammenden Augen – nicht von dem rohen Feuer der Raubgier oder der Rachsucht, sondern von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz,«

Herr Pickwick ging völlig auf den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten: denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger, als der Ruf ertönte: »Augen geradeaus!« Die Zuschauer hatten einige Tausend Sehorgane vor sich, die ohne allen Ausdruck geradeaus starrten.

»Wir befinden uns jetzt in einer herrlichen Stellung«, sagte Herr Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Das Gedränge hatte sich aus ihrer Nähe verloren und sie waren beinahe allein.

»Herrlich«, wiederholten Herr Snodgraß und Herr Winkle.

»Was machen sie jetzt?« fragte Herr Pickwick, seine Brille aufsetzend.

»Ich – ich – glaube fast,« sagte Herr Winkle, die Farbe verändernd, »ich glaube fast, sie wollen schießen.«

»Unsinn«, versetzte Herr Pickwick hastig.

»Ich – ich – glaube wirklich, sie tun’s«, sagte Herr Snodgraß etwas unruhig.

»Unmöglich«, erwiderte Herr Pickwick.

Aber kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da legte das ganze Halbdutzend Regimenter die Flinten an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel – nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve, die je die Erde erschütterte oder einen alten Herrn aus dem Gleichgewicht brachte.

In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem Verderblichen Feuer blanker Musketen ausgesetzt zu sein, und auf der andern von den Truppen gedrängt, die ihnen auf den Leib rückten, zeigte Herr Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er nahm Herrn Winkle am Arm, und sich zwischen ihn und Herrn Snodgraß stellend, bat er sie ernstlich, sich daran zu erinnern, daß, außer der Möglichkeit, durch den Lärm ihres Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar nichts zu befürchten sei.

»Aber – aber – gesetzt den Fall, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?« bemerkte Winkle, ob dieser Besorgnis, die plötzlich seinen Geist bedrängte, erbleichend. »Ich habe ein Zischen gehört – ein starkes Zischen – hart an meinen Ohren.«

»Wir täten vielleicht besser, uns auf den Boden zu legen – meinen Sie nicht auch?« fragte Herr Snodgraß.

»Nein, nein – es ist vorüber«, antwortete Herr Pickwick. Seine Lippen bebten und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entschlüpfte der Zunge des unsterblichen Mannes.

Herr Pickwick hatte recht: das Schießen hörte auf, aber kaum hatte er Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Atmung Glück zu wünschen, als eine rasche Bewegung in den Reihen der Krieger sichtbar wurde. Der heisere Ruf des Kommandos lief die Front hinab, und ehe einer unserer Helden irgendeine Mutmaßung über das neue Manöver aufstellen konnte, rückte das ganze Halbdutzend Regimenter mit gefälltem Bajonett im Sturmschritt auf die Stelle zu, die Herr Pickwick und seine Freunde einnahmen.

Der Mensch ist sterblich, und es gibt einen gewissen Punkt, den der menschliche Mut nicht zu überschreiten vermag. Herr Pickwick starrte einen Augenblick die andrängenden Massen mit seiner Brille an, drehte ihnen dann hübsch den Rücken und – wir wollen nicht sagen – floh, einmal, weil dies ein unedler Ausdruck ist, und dann, weil Herrn Pickwicks Gesicht gar nicht mit dieser Art von Rückzug übereinstimmte, – sondern ging von dannen, jedenfalls aber so schnell, wie ihn seine Beine tragen konnten: ja, er beeilte sich so sehr, daß er das Fürchterliche seiner Lage in seinem ganzen Umfange nicht eher einsah, als bis es zu spät war.

Die Truppen, die Herrn Pickwick vor wenigen Sekunden durch ihren Anmarsch in Bewegung gejagt hatten, rückten vorwärts, um den verstellten Angriff der Belagerer der Zitadelle zurückzutreiben, und die Folge davon war, daß Herr Pickwick und seine beiden Begleiter sich plötzlich zwischen zwei Linien von unabsehbarer Ausdehnung eingeschlossen sahen: die eine rückte im Sturmschritt vorwärts, und die andere erwartete die Angreifenden schlagfertig.

»Halloh!« schrien die Offiziere der ersteren.

»Aus dem Wege!« riefen die Offiziere der letzteren.

»Wohin sollen wir?« kreischten die bestürzten Pickwickier.

»Halloh! Halloh! Halloh!« war die ganze Antwort.

Es war ein Augenblick grausenvoller Verwirrung; die Erde bebte unter den Fußtritten der Truppen; ein dumpfes Gelächter ließ sich vernehmen – das Halbdutzend Regimenter war noch einhalbtausend Ellen entfernt, und die Sohlen von Herrn Pickwicks Stiefeln schwebten in den Lüften.

Die beiden Herren, Snodgraß und Winkle, hatten jeder mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einen unwillkürlichen Purzelbaum geschlagen. Da war das erste, was Winkle sah, während er auf der Erde saß und den Lebenssaft, der aus seiner Nase stürzte, mit einem gelben seidenen Taschentuch verstopfte, sein ehrwürdiger Lehrer, der in einiger Entfernung seinem Hute nachlief. Dieser rollte nämlich in lustigen Sätzen vor ihm her.

Es gibt wenige Augenblicke in eines Menschen Leben, wo er so viel spaßhaftes Mißgeschick hat und so wenig Mitleid erfährt, als wenn er seinem Hute nachläuft. Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein besonderer Grad von Geistesgegenwart dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Man darf nicht zu sehr eilen, oder man überrennt ihn; man darf nicht zu langsam sein, oder man verliert ihn. Das Beste ist, auf den Gegenstand seiner Verfolgung genau acht zu geben, behutsam und vorsichtig zu sein, die Gelegenheit hübsch abzuwarten, ihm allmählich vorzukommen, dann plötzlich die Hand auszustrecken, ihn bei der Krempe zu ergreifen und fest auf den Kopf zu drücken, wobei man immer freundlich lächelt, als betrachte man den Vorfall ebensowohl von der scherzhaften Seite wie jeder andere.

Der Wind war schwach, und Herrn Pickwicks Hut rollte spielend vor ihm. Der Wind wehte stärker und Herr Pickwick wehte auch stärker, während der Hut sich so lustig überkugelte, wie ein Meerschwein in der Springflut, und er wäre wohl außer Herrn Pickwicks Bereich gerollt, hätte ihn nicht in dem Augenblicke, als der Unglückliche im Begriffe war, ihn seinem Schicksal zu überlassen, eine höhere Hand aufgehalten.

Herr Pickwick war völlig erschöpft und wie gesagt im Begriff, die Jagd aufzugeben, als der Hut mit einiger Heftigkeit an das Rad eines Wagens getrieben wurde, der neben einem halben Dutzend anderer Fuhrwerke stand, und zwar an der Stelle, auf die Herr Pickwick zusteuerte. Seinen Vorteil wahrnehmend, sprang unser Held rasch vor, versicherte sich seines Eigentums, pflanzte es auf seinen Kopf und hielt an, um Atem zu schöpfen. Er hatte noch keine halbe Minute dagestanden, als er sich laut beim Namen rufen hörte. Er erkannte mit einem Male die Stimme des Herrn Tupman, und als er aufblickte, sah er etwas, das ihn mit Verwunderung und Freude erfüllte.

In einer offenen Kutsche, deren Pferde ausgespannt waren, um mehr Platz auf dem engen Raum zu gewinnen, saß ein stattlicher alter Herr in einem blauen Rock mit weißen Knöpfen, Sonduroybeinkleidern* und Stulpenstiefeln, zwei junge Damen mit Schleier und Federhut, ein junger Herr, der in eine der beiden jungen Damen mit Schleier und Federhut verliebt zu sein schien, eine Dame von zweifelhaftem Alter, wahrscheinlich die Tante der Vorerwähnten, und Herr Tupman, so behaglich und ungeniert, als ob er von jeher zu der Familie gehört hätte. Hinten auf der Kutsche war ein Korb von ansehnlicher Größe aufgepackt – einer jener Körbe, die in einem phantasievollen Geiste Gedanken hervorrufen, mit der Vorstellung von kaltem Geflügel, Zungen und Weinflaschen zusammenhängend – und auf dem Bock saß ein fetter, rotbackiger Junge in einem Zustand von Schlaftrunkenheit, den kein aufmerksamer Beobachter einen Augenblick betrachten konnte, ohne ihn für eine Person anzusehen, die dazu angestellt war, den Inhalt des vorerwähnten Korbes zur geeigneten Zeit zutage zu fördern.

Herr Pickwick hatte auf diese anziehenden Dinge einen hastigen Blick geworfen, als er wieder von seinem treuen Schüler gegrüßt wurde.

»Pickwick – Pickwick,« sagte Herr Tupman, »geschwinde – kommen Sie herauf.«

»Kommen Sie, mein Herr, ich bitte, kommen Sie«, sagte der stattliche Herr. »Joe! – der verdammte Junge; jetzt schläft er wieder – Joe, laß den Tritt nieder.«

Der fette Junge schob sich langsam vom Bock herunter, ließ den Tritt nieder und hielt das Kutschentürchen offen. In diesem Augenblick kamen Herr Snodgraß und Herr Winkle nach.

»Platz für uns alle«, sagte der stattliche Herr. »Zwei innen und einer außen, Joe, mach Platz auf dem Bock für einen von diesen Herren. Nun, mein Herr, kommen Sie herauf«, und der stattliche Mann streckte seinen Arm aus und hob zuerst Herrn Pickwick und dann Herrn Snodgraß in den Wagen. Herr Winkle stieg auf den Bock, der Junge saß auf derselben Längsstange auf und schlief alsbald wieder ein.

»Ja, ja, meine Herren,« sagte der stattliche Mann, »es freut mich unendlich, Sie zu sehen. Kenne Sie sehr wohl, meine Herren, ob Sie sich gleich vielleicht meiner nicht erinnern. Ich brachte letzten Winter mehrere Abende in Ihrem Klub zu – stieß an diesem Morgen auf meinen Freund Tupman und war sehr erfreut, ihn zu sehen. Ja, ja, mein Herr, und wie geht es Ihnen? Sie sehen vorzüglich aus – wahrhaftig!«

Herr Pickwick dankte für das Kompliment und schüttelte dem stattlichen Herrn mit den Stulpenstiefeln herzlich die Hand.

»Ja, ja, und wie geht es Ihnen, mein Herr?« fragte der stattliche Herr, sich mit väterlicher Teilnahme an Herrn Snodgraß wendend. »Vortrefflich? – Nun, das ist schön – das ist schön. Und wie geht es Ihnen, mein Herr? (Zu Herrn Winkle.) Gut? Es freut mich zu hören, daß Sie sagen gut: es freut mich sehr, das muß ich sagen. Meine Töchter, meine Herren – meine Mädchen, und dies ist meine Schwester, Fräulein Rachel Wardle. Sie ist immer noch Fräulein, wie gern sie auch eine Frau sein möchte – was meinen Sie, mein Herr? – hihi!«

Und der stattliche Herr stieß Herrn Pickwick mit seinem Ellenbogen in die Rippen und lachte herzlich.

»Ach, Bruder!« sagte Fräulein Wardle mit einem bittenden Lächeln.

»Freilich, freilich«, erwiderte der stattliche Herr; »niemand kann’s in Abrede stellen. Meine Herren, ich bitte um Verzeihung; das ist mein Freund, Herr Trundle. Und nun Sie sich gegenseitig kennen, wollen wir es uns bequem machen und sehen, was da draußen alles vorgeht; weiter sage ich nichts.« Der Stattliche setzte seine Brille auf, Herr Pickwick nahm sein Fernglas, und jeder stand aufrecht im Wagen und sah über die Schultern seines Vordermannes den Bewegungen der Truppen zu.

Es wurden erstaunliche Dinge ausgeführt. Man sah eine Reihe Soldaten über den Köpfen einer andern wegfeuern und davonrenncn, worauf sie Karrees bildeten und die Offiziere in die Mitte nahmen. Dann kletterte man an Strickleitern auf der einen Seite der Schanze hinab und auf der andern wieder hinauf, riß Barrikaden von Schanzkörben nieder und benahm sich überhaupt so tapfer wie nur möglich. Dann wurden die ungeheuren Kanonen mit Instrumenten, die wie riesige Scheuerlappen aussahen, geladen. Die Vorbereitungen, bis sie losgeschossen wurden, und endlich das Abbrennen selbst war mit einem so entsetzlichen Lärm verbunden, daß die Lüfte vom Angstgeschrei der Damen widerhallten. Die jungen Fräuleins Wardle waren so erschrocken, daß Herr Trundle genötigt war, eine derselben zu halten, während Herr Snodgraß die andere stützte, und Herrn Wardles Schwester wurde von so furchtbaren Krämpfen befallen, daß es Herr Tupman für unumgänglich notwendig fand, seinen Arm um ihren Leib zu legen, um sie nur aufrechtzuerhalten. Alles war in der größten Aufregung, bis auf den fetten Jungen, der so sanft schlief, als wäre der Kanonendonner sein Wiegenlied.

»Joe, Joe!« rief der Stattliche, als die Zitadelle genommen war, und Belagerer und Belagerte sich’s bequem machten, um ihre Mahlzeit zu halten. »Der verdammte Junge schläft schon wieder. Haben Sie die Güte, mein Herr, ihn in die Waden zu zwicken, sonst ist er nicht zu wecken. So – ich danke Ihnen, Sir. Den Korb ausgepackt, Joe!«

Der fette Junge, der wirklich durch den Wink aufgewacht war, den ihm Herr Winkle gab, indem er einen Teil seiner Wade zwischen Daumen und Zeigefinger preßte, rutschte vom Bock hinunter und begann den Korb auszupacken, wobei er einen größeren Eifer entwickelte, als man von seiner gewöhnlichen Trägheit erwartet hätte.

»Jetzt müssen wir etwas zusammenrücken«, sagte der Stattliche.

Eine Menge Witze über die weiten Ärmel der Damen, die jetzt augenscheinlich Not leiden mußten, wurden gemacht; und die scherzhaften Vorschläge, die Damen sollten den Herren auf den Schoß sitzen, trieben den Frauenzimmern einmal über das andere das Blut in die Wangen. Dann endlich war die ganze Gesellschaft in dem Wägelchen bequem untergebracht, und der stattliche Herr empfing den Inhalt des Korbes aus den Händen des fetten Jungen, der zu diesem Zwecke hinten auf den Wagen gestiegen war.

»Jetzt, Joe, Messer und Gabeln!«

Die Messer und Gabeln wurden gebracht, und die Damen und Herren im Wagen und Herr Winkle außen auf dem Bock mit diesen nützlichen Werkzeugen versehen.

»Teller, Joe, Teller!«

Die Teller wurden auf gleiche Weise verteilt.

»Jetzt, Joe, das Geflügel. Der verdammte Junge, da schläft er schon wieder. Joe, Joe!« (Einige Winke mit einem Stock auf den Kopf, und der fette Junge erwachte langsam aus seiner Schlaftrunkenheit.) »Geschwind, gib die Speisen her!«

Es lag etwas in dem Klange der letzten Worte, was den Speckjungen lebendig machte. Er hüpfte auf, und die schweren Augen, die zwischen den dicken Pausbacken hindurchblinzelten, starrten mit fürchterlicher Gier auf die Speisen, die er aus dem Korbe nahm.

»Nun, rasch!« rief Herr Wardle; denn der fette Junge warf äußerst verliebte Blicke auf einen Kapaunen, von dem er sich fast unmöglich trennen zu können schien. Er seufzte tief, und mit einem glühenden Blick auf den wohlgemästeten Gegenstand seiner Sehnsucht übergab er ihn endlich mit widerstrebender Hand seinem Herrn.

»So ist’s recht – sieh genau nach. Jetzt die Zunge – die Taubenpastete. Reiche mir auch den Braten und den Schinken – vergiß die Hummer nicht – nimm den Salat aus dem Tuche – gib mir das Zubehör.«

Das waren die eiligen Befehle, die über Herrn Wardles Lippen sprudelten, während er die genannten Dinge in Empfang nahm und jedem eine Menge Teller in die Hand gab oder auf die Knie setzte.

»Nun, ist das nicht köstlich?« fragte der heitere Mann, als das Werk der Zerstörung begonnen hatte.

»Köstlich!« sagte Herr Winkle, der ein Huhn auf dem Bocke zerlegte.

»Belieben Sie ein Glas Wein?«

»Wenn ich bitten darf.«

»Ich will Ihnen lieber eine Flasche hinausgehen – nicht wahr?«

»Sie sind sehr gütig.«

»Joe!«

»Ja, Herr!« – Er schlief nicht, weil er soeben ein Kalbfleischpastetchen weggeschnappt hatte.

»Eine Flasche Wein dem Herrn auf dem Bock. Zum Wohl, mein Herr!«

»Danke.«

Herr Winkle füllte sein Glas und stellte die Flasche neben sich auf den Bock.

»Darf ich mir die Ehre geben, mein Herr?« sagte Herr Trundle zu Herrn Winkle.

»Mit größtem Vergnügen«, antwortete Herr Winkle.

Und die beiden Herren stießen miteinander an, und die ganze Gesellschaft nahm daran teil.

»Wie die liebe Emilie mit dem fremden Herrn flirtet!« flüsterte Fräulein Wardle, die Tante, mit echtem Altjungfernneid ihrem Bruder zu.

»Wüßte nicht«, sagte der lustige alte Herr; »finde es ganz natürlich; wahrhaftig – nichts Außerordentliches. Herr Pickwick, belieben Sie etwas Wein?«

Herr Pickwick, der inzwischen tief in den Bauch einer Taubenpastete eingedrungen war, sagte bereitwilligst »Ja«.

»Liebe Emilie,« sagte die Jungfer Tante mit Gouvernantenmiene, »sprich doch nicht so laut.«

»Ach Gott, Tante!«

»Die Tante und der kleine alte Herr wollen, glaube ich, allein das Recht haben, zu reden«, flüsterte Fräulein Isabelle Wardle ihrer Schwester Emilie zu.

Die jungen Damen lachten herzlich, und die Alte wollte liebenswürdig aussehen, was ihr aber nicht gelang.

»Die jungen Mädchen sind zu lebhaft«, sagte Tante Wardle zu Herrn Tupman mit der Miene des Mitleidens, als ob Lebhaftigkeit Zollware und ohne höhere Erlaubnis sündhaft und verbrecherisch wäre.

»Sie sind lustig«, versetzte Herr Tupman auf eine Weise, die ihrer Erwartung nicht ganz entsprach. »Es ist zum Entzücken.«

»Hm!« erwiderte die jungfräuliche Tante etwas verstimmt.

»Darf ich mir die Freiheit nehmen?« sagte Herr Tupman im einschmeichelndsten Tone, indem er mit der linken Hand Rachels reizendes Händchen ergriff und mit der rechten die Flasche emporhiclt, »darf ich mir die Freiheit nehmen?«

»Ach, mein Herr!«

Tupmans Augen funkelten vor Vergnügen, und Rachel drückte die Besorgnis aus, man möchte noch mehr Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich wieder auf seinen Beistand rechnen würde.

»Wie gefallen Ihnen meine Nichten?« flüsterte die zärtliche Tante Herrn Tupman zu.

»Vortrefflich, wenn ihre Tante nicht da wäre«, versetzte der gewandte Pickwickier, einen zärtlichen Blick auf die Fragerin heftend.

»Sie Spötter –, aber wirklich, wenn ihre Gesichtsfarbe ein wenig* besser wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – bei Licht, meine ich.«

»Ja, ich glaube es«, erwiderte Herr Tupman mit gleichgültiger Miene.

»O, Sie Schalk – ich weiß, was Sie sagen wollen.«

»Was?« fragte Herr Tupman, dem es nicht in den Sinn gekommen war, überhaupt etwas sagen zu wollen.

»Sie wollten sagen, daß Isabelle etwas hinkt – ich weiß es – die Männer beobachten gar scharf. Ja, ja, es ist so; ich kann es nicht leugnen, und gewiß, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es Hinken. Ich sage ihr oft, in wenigen Jahren werde sie dadurch fürchterlich verunstaltet werden. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!«

Herr Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines scharfen Beobachters zu kommen. Er nahm eine schlaue Miene an und lächelte geheimnisvoll.

»Welch ein sarkastisches Lächeln!« sagte Rachel im Tone der Bewunderung. »Ich versichere Sie, ich fürchte mich vor Ihnen.«

»Sie fürchten sich vor mir

»O, Sie können mir nichts verhehlen; ich weiß, was dieses Lächeln auf sich hat – sehr gut weiß ich’s.«

»Was?« fragte Herr Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

»Sie denken«, sagte die liebenswürdige Tante, ihre Stimme dämpfend – »Sie denken, Isabellens Hinken ist noch nicht so schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich härme mich oft stundenlang deswegen ab. – Mein lieber Bruder ist so gut, so ohne allen Argwohn, daß er es gar nicht sieht. O, wenn er es gewahr würde, es müßte ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte glauben, es sei nur ein angenommenes Wesen – und hoffe auch, daß es wirklich der Fall ist« – hier stieß die zärtliche Verwandte einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

»Die Tante spricht von uns«, flüsterte Fräulein Emilie Wardle ihrer Schwester zu – »ich wette darauf – sie sieht so bösartig aus.«

»Glaubst du?« fragte Isabella. – »Hm! Tante, liebe Tante!«

»Was, meine Liebe?«

»Ich fürchte, Sie erkälten sich, Tante. Binden Sie doch ein seidenes Tuch um ihren Kopf – nehmen Sie sich mehr in acht – bedenken Sie Ihr Alter!«

So wohlverdient diese Revanche auch sein mochte, so war sie doch so rachsüchtig, wie sie nur immer hätte sein können. Es ist nicht wohl, zu erraten, auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, hätte nicht Herr Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andere Richtung gegeben, indem er laut nach Joe rief.

»Der verdammte Junge,« sagte er, »jetzt schläft er schon wieder.«

»Ein außerordentlicher Bursche,« bemerkte Herr Pickwick, »ist er immer so schläfrig?«

»Schläfrig!« sagte der alte Herr. »Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein, und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert.«

»Sehr seltsam«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ja, in der Tat, seltsam«, versetzte der alte Herr. »Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde ihn unter keiner Bedingung von mir lassen – wahrhaftig, er ist eine Naturmerkwürdigkeit! He, Joe – Joe – räume diese Sachen ab, und öffne eine neue Flasche – hörst du?«

Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, schluckte das ungeheure Stück Taubenfleisch hinunter, das er eben unter den Zähnen hatte, als ihn der Schlaf überfallen, und gehorchte langsam dem Befehle seines Herrn, schmachtende Blicke auf die Überbleibsel des Mahles werfend, als er das Geschirr abräumte und in den Korb legte. Die neue Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz – der fette Junge stieg auf den Bock – die Brillen und die Ferngläser wurden wieder hervorgenommen, und die Bewegungen des Heeres begannen aufs neue. Das Geschütz brüllte, die Damen kreischten – eine Mine wurde gesprengt; alles jauchzte, und als die Mine aufgeflogen war, folgten die Soldaten und unsere Gesellschaft ihrem Beispiele und brachen ebenfalls auf.

»Nun, ich denke –« sagte der alte Herr, als er am Schlüsse der Unterhaltung, die die Zwischenakte des militärischen Schauspiels ausfüllte, Herrn Pickwick die Hand drückte – »ich denke, wir werden Sie alle morgen wiedersehen.«

»Ganz gewiß«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sie haben doch meine Adresse?«

»Manor Farm in Dinglen Dell«, sagte Herr Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

»Ganz recht,« versetzte der alte Herr, »und ich denke. Sie unter einer Woche nicht fortzulassen. Sie sollen alles sehen, was sehenswert ist. Wenn es Ihnen um das Landleben zu tun ist, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – der verdammte Junge, jetzt schläft er wieder – Joe, hilf Tom einspannen.«

Die Pferde wurden eingespannt – der Kutscher bestieg seinen Bock – der fette Junge rutschte an dessen Seite – man verabschiedete sich gegenseitig – und der Wagen rollte von dannen. Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und er schlief in aller Ruhe.

 

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Herr Pickwick reist nach Ipswich und besteht mit einer Dame von mittlerem Alter mit gelben Haarwickeln ein romantisches Abenteuer.

»Ist dies das Gepäck deines Herrn, Sammy?« fragte Herr Weiler senior seinen lieben Sohn, als er mit einer Reisetasche und einem kleinen Mantelsack in den Hof des Gasthauses zum Ochsen zu Whitechapel trat.

»Wie schlau Ihr doch zu raten wißt!« erwiderte Herr Weller der jüngere, seine Bürde im Hofe ablegend und sich daraufsetzend. »Der Herr wird den Augenblick selbst hier sein.«

»Er kommt vermutlich in einer Droschke?« fragte der Vater.

»Jawohl, er hat für acht Pence sich das Vergnügen gekauft, zwei Meilen lang ein bißchen geschunden zu werden«, antwortete der Sohn. »Wie steht’s heute morgen mit der Frau Stiefmutter?«

»Wunderlich, Sammy, wunderlich«, erwiderte der ältere Herr Weller mit ernstem Tone; »sie ist neuerdings unter die Pietisten gegangen, Sammy, und ich kann dich versichern, daß sie nun gewaltig fromm ist. Es ist ein zu gutes Geschöpf für mich, Sammy – ich fühle es, ich verdiene sie nicht.«

»Das ist viel Selbstverleugnung von Euch«, bemerkte Herr Samuel.

»Wahrhaftig«, versetzte sein Vater mit einem Seufzer. »Sie hält’s jetzt mit einer neuen Erfindung – erwachsene Leute wiedergeboren werden zu lassen – die neue Geburt, glaube ich, nennen sie es. Ich wäre nur begierig, das System in Anwendung bringen zu sehen, Sammy, und möchte Zeuge sein, wie deine Stiefmutter wiedergeboren wird, da ich sie dann doch zu einer Amme bringen müßte. – Was glaubst du, was die Weiber vor einigen Tagen gemacht haben?« fuhr Herr Weller nach einer kurzen Pause fort, und legte dabei seinen Zeigefinger ein halbes dutzendmal bedeutungsvoll an die Nase; »was meinst du, was sie vor ein paar Tagen gemacht haben?«

»Weiß nicht«, erwiderte Sam.

»Gehen hin und geben einem Kerl, den sie ihren Hirten nennen, ein großes Teetrinken. Ich stand eben am Bilderladen auf unserm Platz und besah die Bilder, als ich unter andern auch einen kleinen Zettel sah, worauf zu lesen stand, die Karte koste eine halbe Krone. ›Man wende sich an das Komitee, Sekretär: Madame Weller.‹ Und wie ich heimkam, da hielt das Komitee seine Sitzung in unserer hinteren Stube – vierzehn Weiber: ich wollte, du hättest sie gehört, Sammy. Sie stimmten über Beschlüsse ab, votierten Beiträge und machten allerhand solches Zeug. Na, schön, da mich deine Stiefmutter plagte, hinzugehen, und ich selbst auch wunderliche Dinge zu sehen hoffte, wenn ich ihr folgte, so unterschrieb ich mich auch für eine Karte. Freitag abends sechs Uhr putzte ich mich ordentlich heraus und mache mich mit der Alten auf den Weg. Da treten wir in eine muffige Diele, wo Teeschalen da waren für dreißig Personen, und ein ganzer Schwarm von Weibern, die anfingen, miteinander zu flüstern und mich anzugaffen, als wenn sie noch nie einen stattlichen Achtundfünfziger gesehen hätten. Bald drang lautes Gepolter die Treppe herab, und ein langbeiniger Kerl mit roter Nase und weißer Halsbinde stürmt herein und singt: ›der Hirte kommt zu seiner treuen Herde‹: ihm folgt ein fetter Schwarzkittel mit einem breiten, blassen Gesicht, der in einem fort den Mund zum Lächeln verzieht, wie ein Affe. Ein solcher Kerl kommt also, Sammy: ›den Friedenskuß‹, sagt der Hirte, und dann küßt er alle die Weiber ringsherum, und als er damit fertig ist, fängt der mit der roten Nase an. Ich dachte eben daran, ob ich’s nicht auch so machen sollte, besonders da eine sehr hübsche Frau neben mir saß, als eben der Tee und deine Mutter, die ihn gebraut hatte, die Treppe herabkam. Und nun ging’s los. Was das für ein herrlicher lauter Gesang war, Sammy, während der Tee bereitet wurde: was für ein Beten und Essen und Trinken! Ich wollte, du hättest den Hirten in den Schinken und die Semmelkuchen einhauen sehen! So sah ich noch niemand essen und trinken. Der Rotnasige war schon keiner, den du gern auf deinen gedeckten Tisch losgelassen hättest: aber gegen den Hirten war er nichts. Gut; nachdem der Tee vorüber war, stimmten sie einen andern Lobgesang an, und danach begann der Hirte zu predigen, und es war gar nicht übel, wenn man bedenkt, wie schwer ihm die Semmeln im Magen liegen mußten. Auf einmal bricht er los und schreit: ›wo ist der Sünder, wo ist der erbärmliche Sünder?‹ und alle Weiber sehen auf mich und fangen an zu schluchzen, als lägen sie im Sterben. Das Ding kam mir etwas seltsam vor, aber ich sagte nichts. Plötzlich bricht er wieder los, sieht mich scharf an und sagt: ›wo ist der Sünder, wo ist der erbärmliche Sünder?‹ und alle Weiber schluchzen wieder, noch zehnmal lauter als vorher. Darauf werde ich ein bißchen wild. Ich trete etwas vor und sage, ›mein Freund‹, sage ich, ›gilt diese Bemerkung mir?‹ – Statt mich um Verzeihung zu bitten, wie es ein Gentleman getan hätte, treibt er es noch massiver als vorher, und nennt mich ›ein Gefäß‹, Sammy, ›ein Gefäß des Zorns‹ – und dergleichen mehr. Mein Blut war natürlich etwas aufgeregt. Ich gab ihm zwei oder drei für sich selber und dann noch zwei oder drei, die er dem Kerl mit der roten Nase einhändigen konnte, und ging fort. Ich wollte, du hättest gehört, Sammy, wie die Weiber schrien, als sie den Hirten unter den Tisch hervorzogen. – Holla, das ist ja dein Herr leibhaftig.«

Während Herr Weller so sprach, stieg Herr Pickwick aus einer Droschke und trat in den Hof.

»Ein schöner Morgen, Sir«, sagte Herr Weller senior.

»In der Tat sehr schön« – erwiderte Herr Pickwick.

»In der Tat sehr schön«, wiederholte ein rothaariger Mann mit einer naseweisen Nase und einer blauen Brille, der sich zu gleicher Zeit mit Herrn Pickwick aus der Droschke geschoben hatte. »Reisen nach Ipswich, Sir?«

»Ja«, antwortete Herr Pickwick.

»Außerordentlicher Zufall. Ich auch.«

Herr Pickwick verbeugte sich.

»Haben Ihren Sitz oben?« fragte der Rothaarige.

Herr Pickwick verbeugte sich wieder.

»Seltsam, seltsam – ich sitze auch oben«, sagte der Rothaarige. – »Wir fahren also positiv miteinander.«

Und der Rothaarige, der eine sehr wichtig aussehende, spitznasige, geheimnisvoll tuende Person war, und den Vögeln die Gewohnheit abgesehen zu haben schien, jedesmal, wenn er etwas vorbrachte, den Kopf in die Höhe zu werfen – lächelte, als hätte er eine der wichtigsten Entdeckungen gemacht, auf die jemals der menschliche Geist gekommen war.

»Ich freue mich sehr auf Ihre Gesellschaft, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»Ach«, erwiderte der neue Ankömmling, »es ist angenehm für uns beide – oder nicht? Gesellschaft, sehen Sie – Gesellschaft ist – ist – ist ein ganz anderes Ding, als Einsamkeit – nicht wahr?«

»Das wird niemand leugnen«, sagte Herr Weller, sich mit einem freundlichen Lächeln in die Unterhaltung mischend. »Ich nenne so etwas eine Binsenwahrheit, wie der Mann meinte, der Hundefleisch verkaufte, als ihm die Magd sagte, er wäre kein Gentleman.«

»Ah«, bemerkte der Rothaarige, Herrn Weller mit einem vornehmen Blick von Kopf bis zu Fuß betrachtend. »Ein Freund von Ihnen, Sir?«

»Nicht direkt ein Freund«, erwiderte Herr Pickwick halblaut: »er ist mein Diener. Aber ich erlaube ihm manche Freiheiten, da ich ihn, unter uns gesagt, für einen originellen Kopf halte, auf den ich mir etwas zugute tue.«

»Tja«, sagte der Rothaarige, »sehen Sie, das ist Geschmacksache. Ich bin kein Freund von Originalität; ich kann sie nicht leiden; sehe die Notwendigkeit davon nicht ein. – Ihr Name, Sir?«

»Hier ist meine Karte, Sir«, erwiderte Herr Pickwick, durch die schnell aufgeworfene Frage und die sonderbaren Manieren höchlich ergötzt.

»Ah«, sagte der Rothaarige, die Karte in seine Brieftasche legend, »Pickwick; sehr schön. Es ist mir lieb, wenn ich den Namen eines Menschen weiß; man erspart sich manche Verlegenheit. Hier ist meine Karte, Sir. Magnus, Sie werden bemerken, Sir, Magnus heiße ich. Ein hübscher Name, nicht wahr?«

»In der Tat ein sehr hübscher Name«, versetzte Herr Pickwick, und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Ich halte ihn auch dafür«, erwiderte Herr Magnus. »Sie werden bemerken, es steht auch ein schöner Taufname davor. Erlauben Sie, mein Herr, wenn Sie die Karte ein wenig schief halten, auf diese Art, so fällt das Licht auf den Hauptstrich. Hier – Peter Magnus – klingt gut, glaube ich, Sir?«

»Sehr«, bestätigte Herr Pickwick.

»Seltsam mit diesen Anfangsbuchstaben, Sir«, sagte Herr Magnus. »Sie werden bemerken – P. M. – post meridian Post meridian (aus lateinisch » post meridiem«) heißt »vom Nachmittage«, »nachmittäglich«; daher das nachfolgende Wortspiel.. In der Eile unterzeichne ich mich oft in Briefen an genaue Bekannte ›Nachmittag‹. Nein, wie das dann meine Freunde amüsiert, Herr Pickwick.«

»Es läßt sich denken, daß ihnen das viel Spaß macht«, versetzte Herr Pickwick, Herrn Magnus Freunde um die Leichtigkeit beneidend, womit sie zu unterhalten waren.

»Nun, meine Herren«, rief der Hausknecht, »es ist angespannt. Wenn es Ihnen recht ist –«

»Ist all‘ mein Gepäck drin?« fragte Herr Magnus.

»Alles in Ordnung, Sir.«

»Ist der rote Reisesack drin?«

»Alles in Ordnung, Sir.«

»Und der gestreifte Sack?«

»Vorn im Kutschenkorb, Sir.«

»Und das Löschpapierpaket?«

»Unter dem Sitz, Sir.«

»Und das lederne Hutfutteral?«

»Alles drin, Sir!«

»Nun, wollen Sie einsteigen?« fragte Herr Pickwick.

»Sie entschuldigen«, antwortete Magnus, auf dem Rade, auf das er bereits getreten war, stehenbleibend; »in diesem Zustande der Ungewißheit kann ich nicht einsteigen. Ich sehe es diesem Menschen an, daß das lederne Hutfutteral nicht darin ist.«

Die feierlichen Verwahrungen des Hausknechts waren gänzlich fruchtlos, und das lederne Hutfutteral mußte aus dem tiefsten Grunde des Kutschenkorbs herausgerissen werden, um Herrn Magnus zu überzeugen, daß es gut aufgehoben wäre. Nachdem er sich über diesen Punkt beruhigt hatte, fühlte er eine innere Ahnung, erstens sein roter Reisesack sei verlegt, und zweitens sein gestreifter Sack sei gestohlen, und endlich, das Löschpapierpaket sei aufgegangen. Als ihm alles vor Augen geführt worden war und er sich durch persönliche Inspektion mit seinem Sinn von der Haltlosigkeit aller seiner Befürchtungen überzeugt hatte, ließ er sich bereden, ganz auf die Droschke zu klettern; und da nun jeder Stein von seinem Herzen gewälzt war, fühlte er sich behaglich und glücklich.

»Sie sind etwas ängstlich – nicht wahr, Sir?« fragte Herr Weller senior, den Fremden von der Seite ansehend, al« er seinen Platz bestieg.

»Ja, ich bin um diese Kleinigkeiten etwas besorgt«, sagte der Fremde; »aber jetzt ist alles in Ordnung – alles ganz in Ordnung.«

»Nun, das ist ein großes Glück«, sagte Herr Weller. »Sammy, hilf deinem Herrn auf den Bock! Das andere Bein, Sir – das da: geben Sie mir Ihre Hand, Sir: so – jetzt, auf. Sie waren leichter, als Sie noch ein Kind waren, Sir.«

»Das ist nicht zu bestreiten, Herr Weller«, sagte der atemlose Herr Pickwick in guter Laune, als er den Kutschersitz erklommen hatte.

»Schwinge dich vorn hinauf, Sammy«, sagte Herr Weller. »Nun, William, laß laufen. Nehmen Sie sich in acht vor dem Torweg, meine Herren. ›Kopf ab‹, wie jener Pastetenbäcker sagte. – So ist’s recht, William. Laß jetzt los.«

Und die Kutsche fuhr Whitechapel hinan, zur Bewunderung der ganzen Einwohnerschaft dieses ziemlich stark bevölkerten Viertels.

»Das ist keine hübsche Nachbarschaft, Sir«, bemerkte Sam, an den Hut greifend, wie er es immer machte, wenn er eine Unterhaltung mit seinem Herrn anknüpfte.

»Wahrhaftig, nein, Sam«, erwiderte Herr Pickwick, die vollgepfropfte Straße übersehend, durch die sie fuhren.

»Es ist doch äußerst merkwürdig, Sir«, sagte Sam, daß Armut und Austern immer beisammen zu sein scheinen.«

»Ich verstehe dich nicht, Sam«, versetzte Herr Pickwick.

»Ich meine damit, Sir«, erwiderte Sam, »daß, je ärmer ein Ort, desto stärker die Nachfrage nach Austern ist. Sehen Sie hier, Sir, allemal das sechste Haus ist ein Austernladen – die Straßen sind ganz voll davon. Es kommt mir, meiner Seele, vor, daß, wer recht arm ist, aus dem Hause läuft und aus lauter Verzweiflung Austern frißt.«

»Das ist ganz gewiß«, sagte Herr Weller senior, »und ebenso ist es auch mit dem Lachs.«

»Das sind zwei höchst merkwürdige Tatsachen, die mir vorher nie aufgefallen sind«, sagte Herr Pickwick. »Auf der ersten Station, wo wir anhalten, will ich sie notieren.«

Inzwischen hatten sie den Schlagbaum zu Mile End erreicht. Ein tiefes Schweigen herrschte nun während der ersten zwei bis drei Meilen, als sich Herr Weller senior plötzlich an Herrn Pickwick wandte, und folgendermaßen begann:

»So ein Baumwächter, Sir, führt doch ein wunderliches Leben.«

»Ein was?« fragte Herr Pickwick.

»Ein Baumwächter.«

»Was verstehst du unter einem Baumwächter?« fragte Herr Peter Magnus.

»Der Alte meint einen Schlagbaumwächter, meine Herren«, kommentierte Herr Weller junior.

»Ah, ich verstehe«, sagte Herr Pickwick. »Ja, ein sehr sonderbares Leben. Sehr unbequem.«

»Es sind aber auch lauter Leute, die irgendeinmal in ihrem Leben Schiffbruch gelitten haben«, bemerkte Herr Weiler senior.

»So so«, rief Herr Pickwick.

»Ja. Und die Folge davon ist, daß sie sich von der Welt zurückziehen und bei den Schlagbäumen ihr Heil finden, teils in der Absicht, um allein zu sein, teils um sich an den Menschen zu rächen, indem sie ihnen Zoll abnehmen.«

»Das habe ich freilich noch nicht gewußt«, sagte Herr Pickwick.

»Tatsache, Sir«, versetzte Herr Weller. »Wenn es Herren der Gesellschaft wären, so würde man sie Menschenverächter nennen, so aber sind es bloß Baumwächter.«

Durch solche Unterhaltung, die den unschätzbaren Reiz hatte, das Nützliche mit dem Angenehmen zu vereinen, verkürzte Herr Weller während des größten Teils des Tages die Langeweile der Reise. An Stoff zum Gespräch fehlte es nie, denn selbst in dem Fall, daß in Herrn Wellers Redseligkeit eine Pause eintrat, wurde sie durch Herrn Magnus mehr als hinreichend ergänzt, der ein außerordentliches Verlangen zeigte, sich mit allen Verhältnissen seiner Reisegefährten bekanntzumachen, und sich auf jeder Station mit lauter Stimme ängstlich nach der Sicherheit der beiden Säcke, des ledernen Hutfutterals und des Löschpapierpakets erkundigte.

In der Hauptstraße von Ipswich, linker Hand, nicht weit von dem freien Platz, der vor dem Rathause liegt, steht ein Gasthof, der weit und breit unter dem Namen »Das große weiße Roß« bekannt ist, und durch ein steinernes, wütendes Tier mit fliegender Mähne und fliegendem Schweif über der Haupttür, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem wahnsinnigen Karrengaul hat, noch mehr in die Augen fallt. Das große weiße Roß ist in der Nachbarschaft wegen derselben Eigenschaft berühmt, wie ein Preisochse oder eine in der Grafschaftsgeschichte aufgezeichnete Rübe, oder ein ungeheures Schwein – nämlich wegen seiner riesenhaften Größe. Nirgends trifft man wieder solche Labyrinthe von Gängen ohne Fußteppiche, solche Reihen dumpfiger, finsterer Zimmer, soviel Speise- oder Schlafhöhlen unter einem Dache, wie zwischen den vier Wänden des großen, weißen Rosses zu Ipswich.

Vor diesem ungeheuren Gasthof war es, wo die Londoner Postkutsche jeden Abend zur selben Stunde hielt, und eben diese Londoner Postkutsche war es, von der gerade an dem Abend, da dieses Kapitel unserer Geschichte spielt, Herr Pickwick, Sam Weller und Herr Peter Magnus hinabstiegen.

»Steigen Sie hier ab, Sir?« fragte Herr Peter Magnus, als der gestreifte Sack und der rote Sack und das lederne Hutfutteral und das Löschpapierpaket sämtlich im Hausgange untergebracht waren. »Steigen Sie hier ab, Sir?«

»Ja«, entgegnete Herr Pickwick.

»Wie seltsam!« rief Herr Magnus. »Ein außerordentlicheres Zusammentreffen kann ich mir nicht vorstellen. Ich steige auch hier ab. Ich hoffe, wir speisen zusammen?«

»Mit Vergnügen«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich weiß übrigens nicht gewiß, ob ich hier nicht einige Freunde treffe. – Ist ein Herr Tupman hier abgestiegen, Kellner?«

Ein korpulenter Mann mit einer Serviette von vierzehn Tagen unter dem Arm und mit gleich alten Strümpfen an den Beinen unterbrach auf Herrn Pickwicks Frage seine Beschäftigung, die Straße hinunterzusehen. Nachdem er das Äußere des Fragestellers vom Deckel seines Hutes bis zum untersten Knopfe seiner Gamaschen eine Minute lang gemustert hatte, sagte er mit Nachdruck:

»Nein!«

»Auch kein Herr namens Snodgraß?« fragte Herr Pickwick.

»Nein!«

»Oder Winkle?«

»Nein!«

»So sind meine Freunde heute noch nicht gekommen«, bemerkte Herr Pickwick. »Wir werden also allein speisen. – Geben Sie uns ein eigenes Zimmer, Kellner.«

Auf diese Aufforderung hin ließ sich der korpulente Mann herab, dem Hausknecht zu befehlen, das Gepäck der Herren hineinzutragen, und führte sie sodann durch einen langen, finsteren Gang in ein großes schlechtes Zimmer mit einem rußigen Kamin, auf dem sich ein kleines Feuerchen jämmerlich abmühte, behagliche Wärme aufzubringen, obgleich ihm vor der deprimierenden Umgebung fast die Puste ausging. Nach einer Stunde wurde den Reisenden ein Stück Fisch und Beefsteak vorgesetzt, und als der Tisch abgeräumt war, zogen die Herren Pickwick und Peter Magnus ihre Stühle ans Feuer, wo sie auf ihre Bestellung zum Besten des Gastgebers eine Flasche von dem möglichst schlechtesten Portwein zu dem möglichst höchsten Preis erhielten, und zu ihrem eigenen Besten Branntwein und Wasser tranken.

Herr Peter Magnus hatte von Natur einen sehr großen Hang, sich mitzuteilen. Der Grog brachte eine so wunderbare Wirkung hervor, daß er die verborgensten Geheimnisse seiner Brust offenbarte. Nachdem er viel von sich, seiner Familie, seinen Verbindungen, seinen Freunden, seinen Erholungen, seinen Geschäften und seinen Brüdern (gesprächige Leute haben immer viel von ihren Brüdern zu reden) erzählt hatte, nahm er Herrn Pickwick mehrere Minuten lang durch seine gefärbten Brillengläser in blauen Augenschein, und fragte dann mit bescheidener Miene.

»Und warum denken Sie wohl – warum denken Sie wohl, Herr, Pickwick – daß ich hierher gereist bin?«

»Auf mein Wort«, erwiderte Herr Pickwick, »ich kann unmöglich raten. Geschäfte halber vielleicht?«

»Zum Teil getroffen, Sir«, versetzte Herr Peter Magnus; »zum Teil aber auch fehlgeschossen. Raten Sie noch einmal, Herr Pickwick.«

»Da muß ich mich Ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben, ob Sie’s mir sagen wollen oder nicht, wie Sie es für gut halten: denn erraten kann ich es nicht, und wenn ich die ganze Nacht darüber nachdächte.«

»Nun denn, hihihi!« sagte Herr Peter Magnus mit verschämtem Kichern, »was würden Sie denken, Herr Pickwick, wenn ich hierhergekommen wäre, um einen Heiratsantrag zu machen? hihihi.«

»Was ich denken würde? Je nun, daß Sie höchstwahrscheinlich damit Erfolg haben werden«, erwiderte Herr Pickwick mit dem freundlichsten Lächeln.

»Ach«, sagte Herr Magnus, »denken Sie das wirklich, Herr Pickwick? Meinen Sie das?«

»Sicher«, antwortete Herr Pickwick.

»Nicht doch, Sie scherzen.«

»Nein, gewiß nicht.«

»Nun denn«, sagte Herr Magnus; »um Ihnen ein kleines Geheimnis zu entdecken – ich glaube es auch. Auch will ich’s Ihnen verraten, Herr Pickwick, obwohl ich von Natur fürchterlich eifersüchtig bin – die Dame ist hier im Hause.«

Damit nahm Herr Magnus seine Brille ab, um zu blinzeln, und setzte sie dann wieder auf.

»Das war es also, warum Sie vor dem Essen so oft aus dem Zimmer liefen?« fragte Herr Pickwick neckisch.

»Pst – ja, Sie haben recht; das war’s. Doch war ich nicht blind verliebt genug, um mich ihr zu zeigen.«

»Nicht?«

»Nein; Sie wissen, das geht nicht, wenn man eben erst von der Reise kommt; will warten bis morgen, Sir – dann habe ich noch einmal so gute Aussichten. In diesem Reisesack, Herr Pickwick, befindet sich ein Anzug, und in diesem Futteral ein Hut, wovon ich mir einen außerordentlichen Eindruck verspreche.«

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Ja; Sie müssen bemerkt haben, wie ich heute so besorgt darum war. Ich glaube, daß ein solcher Anzug und ein solcher Hut nirgends sonst für Geld zu haben ist, Herr Pickwick.«

Herr Pickwick wünschte dem beglückten Eigentümer der unwiderstehlichen Kleidungsstücke zu ihrer Erwerbung Glück, und Herr Peter Magnus versank auf einige Augenblicke in tiefes Nachsinnen.

»Es ist ein hübsches Geschöpf«, sagte Herr Magnus.

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Sehr hübsch«, erwiderte Herr Magnus, »sehr hübsch. Sie wohnt ungefähr 20 Meilen von hier, Herr Pickwick. Ich erfuhr, daß sie heute abend und morgen noch den ganzen Vormittag hier bleiben wird, und nun bin ich hergereist, um diese günstige Gelegenheit zu benutzen. Meiner Ansicht nach ist ein Gasthof ein sehr geeigneter Platz, um einem ledigen Frauenzimmer einen Antrag zu machen. Auf der Reise wird ihr die Verlassenheit ihrer Lage fühlbarer, als wenn sie zu Hause ist. Was halten Sie davon, Herr Pickwick?«

»Ich halte das für sehr gut möglich«, versetzte der Angeredete.

»Verzeihung, Herr Pickwick«, sagte Herr Peter Magnus, »aber ich bin von Natur etwas neugierig; was mag Sie hierhergeführt haben?«

»Ein weit weniger angenehmes Geschäft«, erwiderte Herr Pickwick, dem bei der Erinnerung das Blut in die Wangen stieg – »ich bin hierhergekommen, Sir, um die Verräterei und Falschheit einer Person zu entlarven, in deren Ehre und Treue ich unbegrenztes Vertrauen gesetzt habe.«

»Ach, um Gottes willen«, sagte Herr Peter Magnus, »das ist sehr unangenehm. Es ist vermutlich eine Dame? Nicht wahr? Ach, schlau, Herr Pickwick, schlau. Doch, Herr Pickwick, ich möchte Ihren Gefühlen um alles in der Welt nicht zu nahe treten. Schmerzlich so was, Sir, sehr schmerzlich. Scheuen Sie sich nicht, Herr Pickwick, wenn Sie Ihren Gefühlen Luft zu machen wünschen. Ich weiß, was es heißt, in der Liebe getäuscht zu werden, Sir; ich selbst habe schon drei- oder viermal solche Erfahrung gemacht.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Teilnahme an dem, was Sie für den Grund meines Ärgers halten, sehr verbunden«, sagte Herr Pickwick, seine Uhr aufziehend und auf den Tisch legend, »aber –«

»Nein – nein«, fiel Herr Peter Magnus ein: «kein Wort mehr. – Es tut Ihnen weh, ich seh‘ es. Wieviel Uhr haben wir, Herr Pickwick?«

»Zwölf Uhr durch.«

»Himmel, dann ist es aber höchste Zeit, schlafen zu gehen. Ich darf nicht länger aufbleiben, da ich sonst morgen blaß aussehen würde, Herr Pickwick.«

Und erschreckt von dem bloßen Gedanken an ein solches Unglück, klingelte Herr Peter Magnus dem Stubenmädchen. Nachdem der gestreifte Reisesack, der rote Reisesack, das lederne Hutfutteral und das Löschpapierpaket in sein Schlafzimmer gebracht worden waren, zog er sich mit einem lackierten Leuchter nach dem einen Ende des Hauses zurück, während Herr Pickwick und ein anderer lackierter Leuchter durch eine Unzahl verschlungener Gänge nach dem andern geführt wurde.

»Das ist Ihr Zimmer, Sir«, bemerkte das Stubenmädchen.

»Gut«, erwiderte Herr Pickwick, sich rings umsehend.

Es war ein ziemlich geräumiges, mit zwei Betten versehenes Gemach, in dem ein Feuer brannte – jedenfalls ein weit wohnlicherer Aufenthalt, als Herr Pickwick vermöge seiner kurzen Erfahrung von den Bequemlichkeiten des großen weißen Rosses erwartet hatte.

»Im andern Bette schläft natürlich niemand?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, Sir.«

»Schön. Sagen Sie meinem Diener, ich brauche ihn nicht mehr, aber morgen möchte er mir um halb neun Uhr warmes Wasser heraufbringen.«

»Ja, Sir.«

Und Herrn Pickwick eine gute Nacht wünschend, zog sich das Stubenmädchen zurück und ließ ihn allein.

Herr Pickwick setzte sich vor das Feuer, und eine Reihe von Bildern zog an seinem Geiste vorüber. Zuerst dachte er an seine Freunde, und grübelte darüber nach, wann sie etwa kommen würden; dann kehrten seine Gedanken bei Frau Martha Bardell ein, und von dieser Dame wanderten sie vermöge einer natürlichen Ideenfolge in die düstere Schreibstube von Dodson und Fogg. Von Dodson und Fogg flogen sie in einem rechten Winkel unmittelbar in den Mittelpunkt der Geschichte von dem seltsamen Klienten; und dann kehrten sie in das große weiße Roß zu Ipswich zurück, wo sie sein Bewußtsein noch klar genug fanden, um ihn gewahren zu lassen, daß er eben im Begriff sei, einzuschlafen. Er erhob sich also von seinem Stuhl und begann sich auszukleiden, als er sich erinnerte, daß er seine Uhr unten auf dem Tische habe liegen lassen. Diese Uhr aber stand bei Herrn Pickwick in besonderer Gunst, da er sie eine größere Anzahl von Jahren, als wir uns hier anzugeben berufen fühlen, unter dem Schatten seiner Weste mit sich herumgetragen hatte. Noch nie hatte Herr Pickwick auch nur an die Möglichkeit gedacht, einzuschlafen, ohne sie unter seinem Kopfkissen oder in seiner Uhrtasche über seinem Kopfe ticken zu hören. Aber es war schon spät, und da er zu dieser Stunde der Nacht die Glocke nicht mehr ziehen wollte, so schlüpfte er in seinen Rock, den er soeben abgelegt hatte, nahm den lackierten Leuchter und ging still die Treppe hinunter.

Je mehr Treppen aber Herr Pickwick hinunterging, desto mehr schien er wieder hinaufsteigen zu müssen, und so ging es fort und fort; wenn Herr Pickwick in einen schmalen Gang gekommen war und sich bereits Glück zu wünschen anfing, den Hausflur erreicht zu haben, so zeigte sich eine neue Treppe vor seinen erstaunten Blicken. Endlich kam er in einen mit Steinplatten belegten Vorsaal, den er, soviel er sich erinnerte, beim Eintritt in das Haus gesehen hatte. Er durchsuchte Gang für Gang, öffnete Zimmer für Zimmer, und endlich, als er bereits im Begriff stand, in der Verzweiflung seine Nachforschungen aufzugeben, fand er die Tür des Zimmers, in dem er den Abend zugebracht hatte, und sah sein vemißtes Eigentum auf dem Tische liegen. Er ergriff die Uhr im Triumph und begab sich sofort auf den Rückweg nach seinem Schlafzimmer. War aber seine Herreise mit Schwierigkeiten und Gefahren verbunden gewesen, so war sein Rückzug noch unendlich schwieriger.

In jeder Richtung verzweigten sich Reihen von Türen, vor denen Stiefel von jeglicher Gestalt, Fasson und Größe standen. Ein Dutzendmal faßte er behutsam den Griff einer Schlafzimmertür an, die die seinige zu sein schien, als eine barsche Stimme im Innern ertönte, »zum Teufel, wer ist da?« oder »was wollt Ihr hier?« worauf er sich mit einer wahrhaft bewundernswürdigen Schnelligkeit auf den Zehen davonmachte. Er war bereits am Rande der Verzweiflung, als endlich eine offene Tür seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er blickte hinein – endlich die rechte.

Dort standen zwei Betten, deren Lage ihm noch vollkommen erinnerlich war, und auf dem Kamin brannte noch das Feuer. Seine Kerze, die schon, als er sie empfangen, nicht zu den längsten gehörte, war in dem Luftzuge, dem er auf seiner Wanderung durch die langen Gänge ausgesetzt gewesen, herabgebrannt, und fiel, als er eben die Tür hinter sich schloß, in die Röhre des Leuchters hinunter. »Hat nichts zu bedeuten«, meinte Herr Pickwick: »ich kann mich ebensogut beim Schein des Feuers auskleiden.«

Die Betten standen, das eine rechts, das andere links von der Tür, und waren von der Wand durch einen Gang getrennt, der breit genug war, daß man von ihm aus ins Bett steigen konnte. Nachdem er die Vorhänge seines Bettes auf der Außenseite sorgfältig zugezogen hatte, setzte sich Herr Pickwick auf den Strohsessel, der am Ende des besagten Ganges neben dem Bett stand, und entledigte sich langsam seiner Schuhe und Gamaschen. Dann legte er seinen Rock, seine Weste und seine Halsbinde ab, setzte bedächtig seine mit einer Troddel versehene Nachtmütze auf und befestigte sie auf seinem Kopf, indem er die Bänder, die an diesem Teile seines Bettanzugs nie fehlten, unter dem Kinn zusammenknüpfte. In diesem Augenblick dachte er an die närrische Verlegenheit, in der er

 

sich eben befunden hatte, lehnte sich in den Strohsessel zurück, und lachte so herzlich über sich selbst, daß es für einen jeden Mann von wohlbestelltem Gemüt höchst ergötzlich gewesen wäre, das Lächeln zu beobachten, das seine liebenswürdigen Züge unter der Nachtmütze verklärte.

»Kann man sich auch etwas Possierlicheres träumen«, sagte Herr Pickwick zu sich selbst, und lachte dabei so herzlich, daß beinahe die Bänder seiner Nachtmütze krachten – »kann man sich auch etwas Possierlicheres träumen, als sich in diesem Gebäude zu verlieren, und auf den Treppen umherzuirren? Drollig, drollig, sehr drollig.«

Hier lachte Herr Pickwick wieder, und zwar herzlicher als je, und stand im Begriff, in der möglich besten Laune das Geschäft des Auskleidens fortzusetzen, als er plötzlich durch eine höchst unerwartete Unterbrechung gestört wurde. Es trat nämlich jemand mit einem Licht ins Zimmer, verschloß die Tür hinter sich, und stellte das Licht auf das Nachttischchen.

Das Lächeln, das auf Herrn Pickwicks Zügen spielte, ward augenscheinlich in einen Blick grenzenlosesten Erstaunens verwandelt. Die Person, wer sie auch immer sein mochte, war so plötzlich und mit so wenig Geräusch eingetreten, daß Herr Pickwick keine Zeit gehabt hatte, zu rufen, oder sich ihrem Eintritt zu widersetzen. Wer konnte es sein? Ein Räuber? Irgendein Spitzbube, der ihn vielleicht, mit der schönen Uhr in der Hand, die Treppe heraufkommen sah? Was war zu tun?

Der einzige Weg, um den geheimnisvollen Besuch mit so wenig Gefahr für sich selbst als möglich zu beobachten, war der, ins Bett zu schlüpfen und hinter den Vorhängen der entgegengesetzten Seite hinauszuspähen. Hierzu nahm Herr Pickwick also seine Zuflucht. Er hielt die Vorhänge vorsichtig mit der Hand zusammen, so daß man nichts als sein Gesicht und seine Nachtmütze sehen konnte, setzte seine Brille auf, nahm sein Herz in beide Hände und lugte hinaus.

Herr Pickwick fiel vor Schrecken beinahe in Ohnmacht. Denn vor dem Toilettenspiegel stand eine Dame von mittlerem Alter mit gelben Haarwickeln, die eifrig damit beschäftigt war, dasjenige zu bürsten, was die Damen ihren »Wilhelm« nennen. Wie nun auch die arglose Dame von mittlerem Alter in das Zimmer gekommen sein mochte, soviel war gewiß, daß sie die Nacht über hier zu bleiben gesonnen war, denn sie hatte ein Nachtlicht mit einem Lichtschirm mitgebracht, das sie mit lobenswerter Vorsicht gegen Feuersgefahr in ein Waschbecken auf den Boden gestellt hatte, wo es, gleich einem riesenhaften Leuchtturm in einem ungemein kleinen See, fortglimmte.

»Gott im Himmel«, dachte Herr Pickwick, »was für ein furchtbares Ereignis.«

»Hem!« machte die Dame, und Herrn Pickwicks Kopf fuhr mit der Schnelligkeit eines Taschenspielers zurück.

»So etwas Fürchterliches ist mir noch nie begegnet« – dachte der arme Pickwick, indem kalte Schweißtropfen durch seine Nachtmütze drangen. »Noch nie. Das ist ja schauderhaft.«

Er konnte unmöglich dem dringenden Verlangen widerstehen, zu beobachten, was nun weiter vor sich gehen sollte. Herrn Pickwicks Kopf zeigte sich also wieder zwischen den Vorhängen. Der Anblick, der sich ihm darbot, war noch entsetzlicher als vorher. Die Dame von mittlerem Alter hatte ihr übriges Haar zurechtgebürstet, sorgfältig in eine musselinene, mit schmalen, gefalteten Spitzen besetzte Schlafhaube verhüllt, und sah gedankenvoll ins Feuer.

»Die Sache fängt an, bedenklich zu werden«, überlegte Herr Pickwick bei sich selbst. »So kann es nicht fortgehen. Die Unbefangenheit dieser Dame ist mir ein klarer Beweis, daß ich ins falsche Zimmer geraten sein muß. Wenn ich sie anrufe, so bringt sie das ganze Haus in Aufruhr, und wenn ich ruhig bleibe, so können die Folgen noch fürchterlicher sein.«

Es ist durchaus nicht nötig, zu bemerken, daß Herr Pickwick einer von den bescheidensten und zartfühlendsten Sterblichen war. Der bloße Gedanke, seine Nachtmütze einer Dame zu zeigen, erfüllte ihn mit Schauder, aber er hatte die verdammten Bänder in einen Knoten zusammengezogen, den er um alle Welt nicht aufzulösen vermochte. Und doch mußte er sich entdecken. Es stand ihm nur noch ein Ausweg zu Gebote. Er zog sich hinter die Vorhänge zurück, und gab die Laute von sich –

»Ha – Hm!«

Daß die Dame bei diesen unerwarteten Tönen außerordentlich erschrak, war offenbar, denn sie stolperte gegen den Lichtschirm, und daß sie sich überredete, es müsse nur Einbildung gewesen sein, war ebenfalls klar, denn als Herr Pickwick, den die voraussichtliche Ohnmacht der Dame beinahe versteinert hatte, wieder hinauszuspähen wagte, blickte sie wie zuvor nachdenklich ins Feuer.

»Ein recht resolutes Frauenzimmer das«, dachte Herr Pickwick und hustete wieder: »ha – hm.«

Die letzteren Töne, die denen so sehr glichen, wodurch der wilde Riese Blunderbore, nach der Erzählung des Märchens, gewöhnlich seine Ansicht ausdrückte, daß es Zeit sei, den Tisch zu decken, waren zu deutlich, um noch einmal als Wirkungen der Einbildungskraft zu gelten.

»Gott sei mir gnädig!« rief die Dame von mittlerem Alter; »was ist das?«

»Es ist – es ist – nur ein Herr, Madame«, sagte Herr Pickwick hinter den Vorhängen.

»Ein Herr!« rief die Dame, mit einem furchtbaren Entsetzensschrei.

»Jetzt ist’s aus«, dachte Herr Pickwick.

»Eine fremde Mannsperson!« schrie die Dame.

Noch einen Augenblick, und das Haus kam in Aufruhr. Ihre Kleider rauschten, als sie der Tür zueilte.

»Madame«, – rief Herr Pickwick, seinen Kopf hervorstreckend, in der äußersten Verzweiflung. »Madame.«

Obgleich Herr Pickwick keinen bestimmten Zweck dabei hatte, als er den Kopf hinausstreckte, so brachte er dadurch doch augenblicklich eine gute Wirkung hervor. Wie wir bereits gemeldet haben, war die Dame nahe an der Tür. Sie mußte sie passieren, um die Treppe zu erreichen, und würde sie zweifelsohne bereits erreicht haben, hätte sie nicht die plötzliche Erscheinung von Herrn Pickwicks Nachtmütze in die entfernteste Ecke des Zimmers zurückgetrieben, von wo aus sie wilde Blicke auf Herrn Pickwick schoß, die von Herrn Pickwick seinerseits erwidert wurden.

»Elender!« – sagte die Dame, die Hand vor die Augen haltend, »was suchen Sie hier?«

»Nichts, Madame – durchaus nichts, Madame«, antwortete Herr Pickwick ernsthaft.

»Nichts?« rief die Dame, die Augen aufschlagend.

»Nichts, Madame, auf meine Ehre«, versicherte Herr Pickwick, mit so nachdrücklichem Kopfschütteln, daß die Troddel seiner Nachtmütze hin und her tanzte. »Ich sinke vor Scham, eine Dame in meiner Nachtmütze anzureden (hier riß die Dame ihre Schlafmütze hastig herunter) beinahe in die Erde, aber ich kann den Knoten nicht lösen, Madame (hier zog Herr Pickwick, zum Beweis für seine Behauptung, mit furchtbarer Gewalt an den Bändern). Es ist mir jetzt klar, Madame, daß ich in das falsche Zimmer geraten bin. Ich war noch nicht fünf Minuten hier, als Sie plötzlich eintraten.«

»Wenn diese unwahrscheinliche Geschichte wirklich wahr sein soll« – sagte die Dame unter heftigem Schluchzen, »so werden Sie sich augenblicklich entfernen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Madame« – erwiderte Herr Pickwick.

»Augenblicklich, Sir«, wiederholte die Dame.

»Gewiß, Madame«, fiel Herr Pickwick eiligst ein. »Gewiß, Madame. Ich – ich – bin untröstlich, Madame«, sagte Herr Pickwick, indem er sich unten am Bettgestell zeigte, »die unschuldige Ursache dieser Unruhe und Aufregung gewesen zu sein: ganz untröstlich, Madame!«

Die Dame deutete auf die Tür.

In diesem Augenblick zeigte sich trotz der ungemein mißlichen Umstände eine vorzügliche Eigenschaft von Herrn Pickwicks Charakter. Obgleich er nach Art der alten Nachtwächter seinen Hut hastig über die Nachtmütze gedrückt hatte: obgleich er seine Schuhe und Gamaschen in der Hand und seinen Rock und seine Weste auf den Armen trug, so konnte doch nichts seine angeborene Höflichkeit zurückdrängen.

»Ich bin über die Maßen untröstlich, Madame«, sagte Herr Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung.

»Wenn Sie das sind, so werden Sie das Zimmer sogleich verlassen«, erwiderte die Dame.

»Unverzüglich, Madame: augenblicklich, Madame«, sagte Herr Pickwick, die Tür öffnend, wobei seine Schuhe mit großem Gepolter zu Boden fielen.

»Ich hoffe, Madame –« begann Herr Pickwick wieder, seine Schuhe aufnehmend und sich mit einer wiederholten Verbeugung nach der Dame umwendend, »ich hoffe, Madame, mein unbescholtener Charakter und die große Achtung, die ich Ihrem Geschlecht zolle, werden ein gutes Wörtchen zur Entschuldigung für mich –«

Doch ehe Herr Pickwick seinen Satz vollenden konnte, hatte ihn die Dame bereits in den Gang gedrängt, und die Tür hinter ihm verschlossen und verriegelt.

So viele Gründe Herr Pickwick auch haben mochte, sich Glück zu wünschen, daß es bei der ungeheuren Gefahr, die ihm gedroht hatte, so gnädig abgegangen war, war doch seine gegenwärtige Lage durchaus nicht beneidenswert. Er war allein, in einem offenen Gang, in einem fremden Hause, nur halb angekleidet, mitten in der Nacht. In der undurchdringlichen Finsternis konnte er unmöglich den Weg nach einem Zimmer finden, das er mit dem Licht nicht entdeckt hatte, und wenn er bei seinen fruchtlosen Versuchen das geringste Geräusch machte, so lief er Gefahr, von irgendeinem wachsamen Reisenden erschossen zu werden. Es blieb ihm daher nichts übrig, als zu bleiben, wo er war, bis der Tag anbrach. Er tappte noch einige Schritte vorwärts und stolperte dabei zu seinem unendlichen Schrecken über mehrere Paar Stiefel, dann drückte er sich in eine kleine Nische in der Wand, um den Morgen mit soviel philosophischer Ruhe wie möglich zu erwarten.

Er war aber nicht dazu bestimmt, diese neue Geduldsprobe voll durchmachen zu müssen: denn er war noch nicht lange in seinem Schlupfwinkel versteckt, als sich zu seinem unaussprechlichen Schrecken am Ende des Ganges ein Mann mit einem Lichte zeigte. Aber plötzlich verwandelte sich sein Schrecken in Freude, als er die Gestalt seines treuen Dieners erkannte. Es war in der Tat Samuel Weller, der eben im Begriff war, sich zur Ruhe zu begeben. Er hatte sich solange mit dem Hausknecht unterhalten, der die Briefpost erwartete.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, plötzlich vor ihn hintretend, »wo ist mein Schlafzimmer?«

Herr Weller starrte seinen Herrn mit größtem Erstaunen an, und erst nachdem dieser die Frage dreimal wiederholt hatte, wandte er sich um und führte ihn nach dem lange gesuchten Zimmer.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, als er zu Bett ging, »ich habe heute nacht einen der außerordentlichsten Mißgriffe getan, die man je erlebt hat.«

»Sehr glaublich, Sir«, erwiderte Herr Weller trocken,

»Aber ich bin entschlossen, Sam«, fuhr Herr Pickwick fort, »mich, wenn wir auch noch ein halbes Jahr in diesem Hause bleiben sollten, nie wieder allein in dieses Labyrinth zu wagen.«

»Das ist der klügste Entschluß, den Sie fassen können, Sir«, versetzte Herr Weller. »Sie sollten jemand haben, der nach Ihnen sieht, wenn Ihr Verstand auf die Wanderschaft geht.«

»Was meinst du damit, Sam?« fragte Herr Pickwick, indem er sich im Bett aufrichtete und die Hand hervorstreckte, als wolle er noch mehr sagen, dann aber hielt er plötzlich inne, legte sich auf die Seite und wünschte seinem Diener gute Nacht.

»Gute Nacht, Sir«, antwortete Herr Weller, ging zur Tür hinaus – blieb stehen – schüttelte den Kopf – ging weiter – stand still – putzte das Licht – schüttelte den Kopf wieder – und trat endlich langsam in sein Schlafzimmer, offenbar in das tiefste Nachdenken versunken.

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

In dem Herr Samuel Weller alle seine Kräfte aufbietet, mit Herrn Trotter eine alte Rechnung auszugleichen.

In einem kleinen Gemach, in der Nähe der Ställe, saß am Morgen, der auf Herrn Pickwicks Abenteuer mit der Dame von mittlerem Alter und den gelben Haarwickeln folgte, Herr Weller senior, mit den Vorbereitungen zu seiner Reise nach London beschäftigt. Seine Stellung war ganz dazu geeignet, sein Porträt zu zeichnen, weshalb wir es dem Leser vorführen wollen.

Es ist wohl möglich, daß Herrn Wellers Profil in einer früheren Periode seines Lebens kühne und scharfe Umrisse darbot. Aber unter dem Einfluß des »guten Lebens« und einer außerordentlichen Neigung zur Indolenz hatte er seine Dimensionen vergrößert, und seine kühnen fleischigen Formen waren so weit über die ihnen von Natur angewiesenen Grenzen getreten, daß es sehr schwer hielt, etwas mehr als die äußerste Spitze einer hochroten Nase zu entdecken, wenn man sein Gesicht nicht ganz en face betrachtete. Sein Kinn hatte aus derselben Ursache jene würdevolle und imposante Form angenommen, die man gewöhnlich durch Vorsehung des bedeutungsvollen »doppel« zu bezeichnen pflegt, und seine Gesichtsfarbe war aus jenen eigentümlichen Mischungen des Kolorits zusammengesetzt, die man nur bei Herren seines Gewerbes und bei halbgarem Rostbeef findet. Um seinen Nacken schlang sich ein karmoisinrotes Halstuch, wie man es auf Reisen zu tragen pflegt, und ging in so unmerklichen Stufen in das Kinn über, daß man kaum die Falten des einen von denen des andern unterscheiden konnte. Über den Enden des Tuches trug er eine lange Weste von rotgestreiftem Zeuge, und darüber wieder einen grünen Rock mit breitem Saum und großen Metallknöpfen, von denen die beiden, die in der Taille saßen, so weit von einander abstanden, daß man sie unmöglich zu gleicher Zeit sehen konnte. Sein kurzes, glattes, schwarzes Haar lugte kaum unter der breiten Krempe eines niederen braunen Hutes hervor. Seine Beine steckten in kurzen Hosen und farbigen Stulpenstiefeln: und von seiner geräumigen Westentasche hing eine kupferne Uhrkette, die ein einziges Petschaft und einen Schlüssel von gleichem Material endigte, nachlässig herunter.

Wir haben gesagt, Herr Weller sei mit den Vorbereitungen zu seiner Reise nach London beschäftigt gewesen; er nahm nämlich zur Stärkung ein entsprechende« Frühstück zu sich. Auf dem Tische vor ihm stand eine Flasche Ale Ein Bier, das ohne Hopfen bereitet wird., ein kaltes Stück Ochsenfleisch, ein mächtiger Laib Brot, und jedem dieser Gegenstände schenkte er mit der strengsten Unparteilichkeit abwechslungsweise seine Gunst. Er hatte soeben ein mächtiges Stück von dem letzteren abgeschnitten, als Fußtritte nahten; er hob den Kopf und sah seinen Sohn, der eben in das Zimmer trat.

»’n Morgen, Sammy«, sagte der Vater.

Der Sohn näherte sich dem Bierkruge, winkte seinem Vater zu, und verhalf sich, als Erwiderung des Grußes, zu einem kräftigen Schlucke.

»Du hast einen guten Zug, Sammy«, bemerkte Herr Weller der ältere, in den Krug hineinsehend, den sein Erstgeborener bis zur Hälfte geleert hatte. »Du hättest ja eine ungewöhnlich noble Auster Weil die Auster in ihrem Saft schwimmt, nimmt Vater Weiler diesen Vergleich auf. abgegeben, Sammy, wenn du auf dieser Lebensstufe geboren worden wärest.«

»Ja, ich darf sagen, ich hätte mir da auch etwas Ordentliches gegönnt«, erwiderte Sam , sich mit respektablem Eifer über das kalte Ochsenfleisch hermachend.

»Es schmerzt mich tief, Sammy«, sagte der ältere Herr Weller, schüttelte als Vorbereitung zum Trinken das Bier und beschrieb mit dem Krug kleine Kreise. »Es schmerzt mich sehr, Sammy, aus deinem Munde zu hören, daß du dich von dem maulbeerfarbenen Kerl für’n Narren halten ließest. Vor drei Tagen dachte ich noch, Sammy, die Namen Weller und Narr könnten niemals miteinander in Berührung kommen.«

»Doch natürlich den Fall ausgenommen, wo es sich um gewisse Witwen handelt«, fiel Sammy ein.

»Witwen, Sammy«, erwiderte Herr Weller, die Farbe etwas verändernd, »Witwen sind Ausnahmen von jeder Regel. Ich habe mal davon gehört, wieviel durchschnittliche Jungfern von einer Witwe aufgewogen werden, wenn es sich darum handelt, einen hinters Licht zu führen; ich glaube fünfundzwanzig, doch weiß ich nicht gewiß, ob es nicht mehr sind.«

»Nun, das ist doch ziemlich viel«, sagte Sam.

»Übrigens«, fuhr Herr Weller fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, »ist das etwas ganz anderes. Du weißt Sammy, wie jener Advokat sagte, als er den Herrn verteidigte, der seine Frau mit dem Schüreisen schlug, wenn er lustig wurde. ›Und am Ende, Mylord‹, sagte er, ›ist es nichts weiter, als eine liebenswürdige Schwachheit.‹ Und das sage ich in bezug auf meine Neigung zu Witwen, Sammy, und so wirst auch du sagen, wenn du so alt bist, wie ich.«

»Ich weiß«, versetzte Sam, »ich hätte sollen gescheiter sein.«

»Sollen gescheiter sein?« wiederholte Herr Weller mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Sollen gescheiter sein? Ja, ich kenne einen jungen Burschen, der nicht den vierten Teil von deiner Erziehung genossen hat – der noch keine sechs Monate auf den Marktplätzen kampierte – der hätte sich nicht so anführen lassen. Nein, Sammy, dem wäre das nicht passiert, Sammy.«

In der Gemütserregung, die durch diese peinlichen Gedanken hervorgerufen wurde, zog Herr Weller die Glocke und befahl einen zweiten Krug Ale.

»Aber das Schwatzen nützt jetzt nichts mehr«, sagte Sam; »es ist vorbei und die Sache läßt sich nicht mehr ändern. Das ist mein Trost, wie sie in der Türkei sagen, wenn sie dem Unrechten den Kopf abgeschlagen haben. Jetzt ist die Reihe an mir, Vater, und wenn ich diesen Trotter hier unter die Klauen bekomme, so soll er seine Lebtage daran denken.«

»Das hoffe ich von dir, Sammy, das hoffe ich von dir«, antwortete Herr Weller. »Auf dein Wohl, Sammy! und mögest du bald die Schmach abwaschen, mit der du unsern Familiennamen befleckt hast.«

Zu Ehren dieses Toastes nahm Herr Weller wenigstens zwei Drittel von dem Inhalte des neu hingestellten Kruges zu sich, und händigte ihn seinem Sohne ein, daß dieser über den Rest verfüge.

»Und nun Sammy«, sagte Herr Weiler, die große doppelgehäusige silberne Uhr, die am Ende der kupfernen Kette hing, zu Rate ziehend. »Nun ist’s Zeit, daß ich auf die Post gehe, um mich dort einschreiben zu lassen und zuzusehen, wie die Kutsche geladen wird; denn Postkutschen, Sammy, sind wie Kanonen, die mit großer Sorgfalt geladen werden müssen, ehe sie losgehen.«

Diesen seinem Gewerbe entlehnten Scherz des Vaters begleitete Herr Weller junior mit dem Lächeln kindlicher Liebe. Sein verehrter Erzeuger fuhr mit feierlichem Tone fort. –

»Mein Sohn Samuel, ich verlasse dich jetzt, und niemand weiß, wann ich dich wiedersehe. Deine Stiefmutter ist mir dann vielleicht zuviel geworden, und tausend Dinge können sich ereignet haben, bis du wieder etwas von dem berühmten Herrn Weller von Bell Savage hörst. Der Familienname hängt nun größtenteils von dir ab, Samuel, und ich hoffe, du wirst ihm keine Schande machen. In allen geringeren Stücken der Erziehung kann ich mich, das weiß ich, so gut auf dich verlassen, wie auf mich selbst. Ich habe dir also nur noch einen Rat zu geben. Wenn du in die Fünfzig kommst und Neigung fühlst, dich mit irgendeiner Person zu verheiraten – gleichviel, wer es sei – so schließe dich in dein Kämmerlein ein, wenn du eins hast, und vergifte dich unverzüglich. Hängen ist etwas Gemeines, also daran darfst du nicht denken. Vergifte dich, mein Sohn Samuel, vergifte dich, und du wirst nachher froh darüber sein.«

Bei diesen liebevollen Ermahnungen sah Herr Weller seinem Sohne ernst ins Gesicht. Dann machte er eine imposante Verbeugung, indem er den rechten Fuß vorrückte und mit dem Absatz einen Halbkreis beschrieb. Schließlich verschwand er aus Sams Augen.

In der ernsten Stimmung, die diese Worte hervorgerufen, verließ Herr Samuel Weller das große weiße Roß und richtete seine Schritte gegen die St.-Klemens-Kirche, wo er versuchte, seine Schwermut zu vergessen. Er schlenderte um die altertümliche Umgebung dieses Gebäudes herum. Nach einiger Zeit sah er sich auf einem abgelegenen Platze – in einer Art Hof von ehrwürdigem Ansehen – der, wie er bemerkte, keinen andern Ausgang hatte, als die Öffnung, durch die er eingetreten war. Er war eben daran, wieder umzukehren, als er durch eine plötzliche Erscheinung gleichsam an die Erde gebannt wurde, wie der Leser sogleich hören wird. In seine Gedanken vertieft, hatte Herr Samuel Weller von Zeit zu Zeit an den roten Backsteinhäusern hinaufgesehen, und dabei manchem rotwangigem Dienstmädchen zugenickt, das einen Vorhang aufzog oder ein Fenster in einem Schlafzimmer öffnete. Da ging das grüne Gartentor am Ende des Hofes auf, und ein Mann, der eintrat, schloß es wieder sorgfältig hinter sich ab, worauf er mit schnellen Schritten der Stelle zuging, wo Herr Weller stand.

Als Einzeltatsache, ohne alle Nebenumstände betrachtet, lag nicht gerade etwas Außerordentliches in dieser Erscheinung; denn in vielen Teilen der Welt kommen Männer aus Gärten, schließen grüne Tore hinter sich ab und gehen rasch ihres Weges weiter, ohne die Augen der Welt in besonderem Grade auf sich zu ziehen. Es ist also klar, daß an der Person, oder in den Manieren dieses Mannes, oder in beiden etwas liegen mußte, was Herrn Wellers Aufmerksamkeit besonders anzog. Ob das der Fall war oder nicht, müssen wir der Beurteilung des Lesers überlassen, wenn wir das Benehmen des fraglichen Individuums geschildert haben werden.

Als der Mann das grüne Tor hinter sich abgeschlossen hatte, ging er, wie wir schon zweimal bemerkt haben, mit schnellen Schritten im Hofe vorwärts. Aber kaum hatte er Herrn Weller zu Gesicht bekommen, als er anhielt und stillstand, als ob er im Augenblicke unschlüssig geworden wäre, was er tun sollte. Da das grüne Tor hinter ihm abgeschlossen war, und der Hof keinen andern Ausgang hatte, als den in der Front, so gelangte er natürlich bald zu dem Entschluß, er müsse an Herrn Samuel Weller vorbei, um hinauszukommen. Er nahm also seinen schnellen Schritt wieder auf und starrte gerade vor sich hin, während er weiterging. Das Außerordentlichste an dem Mann war aber, daß er sein Gesicht in die fürchterlichsten und entsetzlichsten Fratzen verzerrte, die man jemals gesehen hat. Noch nie ward ein Gebilde der Natur durch plastische Verstellung in einem Augenblicke so kunstreich maskiert, wie das Gesicht dieses Menschen durch seine Mimik.

»Nun« – sagte Herr Weller zu sich selbst, als der Mann näher kam. »Ich hätte darauf schwören mögen, er sei’s.«

Der Mann kam herbei, und sein Gesicht war noch furchtbarer entstellt, als je.

»Ich könnte einen Eid darauf ablegen, es ist sein schwarzes Haar und sein maulbeerfarbener Anzug«, sagte Herr Weller: »nur habe ich bis jetzt noch nie ein solches Gesicht gesehen.«

Während Herr Weller das sagte, nahmen die Züge des Mannes einen dämonischen, scheußlichen Ausdruck an. Er mußte jedoch ganz nahe an Sam vorüber, und der forschende Blick dieses Herrn erkannte trotz dieser furchtbaren Gesichtsverzerrungen doch etwas, was Herrn Hiob Trotters kleinen Äuglein glich, deutlich genug, um vor einer Verwechselung sicher zu sein.

»Holla, guter Freund«, schrie Sam überlaut.

Der Fremde stand still.

»Holla«, widerholte Sam in noch rauherem Tone.

Der Mann mit dem fürchterlichen Gesicht sah mit der größten Überraschung den Hof hinauf und den Hof hinunter und an den Fenstern der Häuser empor – überall hin, nur nicht auf Sam Weller – und tat dann einen Schritt weiter, als er durch einen dritten Ruf wieder zum Stehen gebracht wurde.

»Holla, mein guter Freund«, – schrie Sam zum drittenmal.

Jetzt gab’s kein Ausweichen mehr; der Fremde mußte endlich Sam Wellern gerade ins Gesicht sehen.

»Es hilft doch nichts – Hiob Trotter«, sagte Sam. »Lassen Sie diese Alfanzereien. Sie sind nicht so außerordentlich schön, daß Sie die paar natürlichen Züge in Ihrem Gesicht wegzuwerfen brauchen. Bringen Sie Ihre Augen nur wieder in gewöhnliche Lage, oder ich schlage sie Ihnen aus dem Kopf heraus. Hören Sie?«

Da Herr Weller durchaus geneigt schien, seine Worte zur Tat werden zu lassen, so gestattete Herr Trotter seinem Gesicht, allmählich seinen ursprünglichen Ausdruck wieder anzunehmen, und rief mit freudigem Erstaunen:

»Was seh‘ ich? Herr Walker!«

»Ach was!« versetzte Sam, »es macht Ihnen Freude, mich zu sehen, – nicht wahr?«

»Freude!« rief Hiob Trotter – »o, Herr Walker, hätten Sie nur gewußt, wie ich mich nach diesem Wiedersehen sehnte. Es ist zu viel, Herr Walker; ich kann es nicht ertragen, nein, ich kann nicht.«

Und mit diesen Worten brach Herr Trotter in einen Strom von Tränen aus, umschlang Herrn Weller mit den Armen und drückte ihn, im Übermaß der Freude, fest ans Herz.

»Gehen Sie«, rief Sam, über dieses Benehmen höchlich entrüstet und vergeblich bemüht, sich der Umarmung seines enthusiastischen Freundes zu entziehen. – »Gehen Sie weg, sag‘ ich Ihnen. Was heulen Sie denn so über mich hinein, Sie Handfeuerspritze?«

»Weil es mir so viel Freude macht. Sie zu sehen«, versetzte Hiob Trotter, Herrn Weller allmählich loslassend, nachdem die ersten Symptome von dessen Kampfbegierde verschwunden waren. »Oh, Herr Walker, das ist zu viel.«

»Zu viel?« wiederholte Sam, »Ich glaube auch, es ist zu viel.«

»Nun, was haben Sie mir denn zu sagen, he?«

Herr Trotter gab keine Antwort, denn sein kleines rosafarbenes Taschentuch hatte vollauf zu tun.

»Was haben Sie mir denn zu sagen, ehe ich Ihnen den Kopf einschlage?« wiederholte Weller in drohendem Tone.

»Wie?« rief Herr Trotter, mit einem Blicke tugendhaften Erstaunens.

»Was haben Sie mir zu sagen?«

»Ich, Herr Walker?«

»Nennen Sie mich nicht Walker. Mein Name ist Weller, Sie wissen das gut genug. Was haben Sie mir zu sagen?«

»Ach Gott, Herr Walker – Weller, meine ich – eine Menge Dinge, wenn Sie mich dahin begleiten wollen, wo wir ungestört miteinander sprechen können. Wenn Sie wüßten, wie sehr mich nach Ihnen verlangt hat, Herr Weller –«

»Mag freilich gewaltig gewesen sein«, bemerkte Sam trocken.

»Außerordentlich, außerordentlich, lieber Herr«, erwiderte Herr Trotter, ohne eine Miene zu verziehen. »Aber geben Sie mir die Hand, Herr Weller.«

Sam betrachtete seinen Kameraden einige Sekunden lang und erfüllte dann, wie durch plötzliche Eingebung dazu getrieben, sein Verlangen.

»Was macht –« fragte Hiob Trotter, als sie miteinander weitergingen – »was macht Ihr lieber, guter Herr? Oh, das ist ein würdiger Mann, Herr Weller. Ich hoffe, er hat sich in jener fürchterlichen Nacht doch keine Erkältung zugezogen?«

Es lag ein vorübergehender Ausdruck tief versteckter Bosheit in Hiob Trotters Auge, als er dies sagte, und ein Schauer durchrieselte Herrn Wellers geballte Faust, der ihm ein heftiges Verlangen einflößte, Herrn Trotters Rippen eine nähere Erklärung darüber abzufordern. Aber Sam bezwang sich und antwortete, seinem Herrn gehe es recht gut.

»O, wie mich das freut«, versetzte Herr Trotter. »Ist er hier?«

»Ist Ihr Herr hier?« fragte Sam dagegen.

»Oh ja, er ist hier, und es schmerzt mich, Herr Weller, Ihnen sagen zu müssen, daß er’s ärger treibt, als je.«

»Wirklich?« sagte Sam.

»Ja: ’s ist zum Erbarmen – schrecklich!«

»In einer Mädchenschule?« fragte Sam.

»Nein, in keiner Mädchenschule,« erwiderte Hiob Trotter, mit demselben boshaften Blick, den Sam vorhin bemerkt hatte – »in keiner Mädchenschule.«

»In dem Hause mit dem grünen Tor?« fragte Sam weiter, seinen Kameraden genau ins Auge fassend.

»Nein – nein – oh, dort nicht«, versetzte Hiob mit einer Eile, die man durchaus nicht an ihm gewohnt war.

»Was taten denn Sie dort?« fragte Sam, ihn scharf ansehend. – »Gingen Sie vielleicht bloß zufälligerweise durch das Tor?«

»Nun, Herr Weller,« erwiderte Hiob, »ich trage keine Bedenken, Ihnen meine kleinen Geheimnisse mitzuteilen, denn Sie wissen, was für eine Neigung wir gleich beim ersten Zusammentreffen für einander faßten. Sie erinnern sich, wie angenehm jener Morgen war?«

»Oh ja,« antwortete Sam ungeduldig; »ich erinnere mich. Nun?«

»Nun,« fuhr Hiob in dem leisen abgemessenen Tone eines Menschen fort, der jemandem ein wichtiges Geheimnis mitteilt, »in jenem Hause mit dem Tore, Herr Weller, ist eine zahlreiche Dienerschaft.«

»Das sieht man ihm an«, fiel Sam ein.

»Nun, und unter dieser Dienerschaft«, sprach Herr Trotter weiter, »befindet sich eine Köchin, die sich eine Kleinigkeit erspart hat, Herr Weller, und die, wenn sie sich häuslich niederlassen kann, einen kleinen Kramladen anzulegen gesonnen ist.«

»So?«

»Ja, Herr Weller. Nun, Freundchen, ich traf sie in einer Kapelle, die ich gewöhnlich besuche – ein sehr hübsches Kapellchen in dieser Stadt, Herr Weller, wo man aus Nummer vier der Sammlung geistlicher Lieder singt, die ich gewöhnlich in einem kleinen Buche bei mir trage. Sie haben es vielleicht in meiner Hand gesehen – und ich wurde mit ihr bekannt, Herr Weller, und daraus entspann sich ein näheres Verhältnis zwischen uns, und ich darf Ihnen sagen, Herr Weller, daß ich Aussicht habe, in dem Laden der Krämer zu werden.«

»Ei, und Sie werden ein sehr liebenswürdiger Krämer werden«, versetzte Sam, einen Seitenblick tiefgewurzelten Widerwillens auf Hiob werfend.

»Der große Vorteil ist der, Herr Weller,« fuhr Hiob fort, während sich seine Augen mit Tränen füllten, »daß ich dann meinen gegenwärtigen, schimpflichen Dienst bei dem gottlosen Mann verlassen und mich einem besseren und tugendhafteren Leben weihen kann – einem Leben, das meiner Erziehung mehr entspricht, Herr Weller.«

»Sie müssen sehr gut erzogen worden sein«, bemerkte Sam.

»O gewiß, Herr Weller, gewiß«, erwiderte Hiob.

Und bei der Erinnerung an die Unschuld seiner jugendlichen Tage zog Herr Trotter das rosafarbene Taschentuch hervor, und weinte reichliche Tränen.

»Sie müssen ein ungemein gutes Kind gewesen sein, als Sie noch in die Schule gingen«, bemerkte Sam.

»Das war ich, Sir«, erwiderte Hiob mit einem schweren Seufzer, »ich war der Abgott der Schule.«

»Ach, das wundert mich nicht«, meinte Sam, »Was muß das für Ihre glückliche Mutter eine Freude gewesen sein!«

Bei diesen Worten drückte Herr Hiob Trotter einen Zipfel des rosafarbenen Taschentuchs in den Winkel eines jeden seiner beiden Augen und fing bitterlich zu weinen an.

»Was ist’s doch eigentlich mit diesem Menschen?« sagte Sam unwillig. »Die Wasserwerke von Chelsea sind nichts gegen Sie: was zerfließen Sie schon wieder in Tränen – macht’s etwa das Bewußtsein Ihrer Schurkerei?«

»Ich kann meine Gefühle nicht unterdrücken, Herr Weller«, antwortete Hiob nach einer kurzen Pause. »Wer hatte sich auch träumen lassen, daß mein Herr das Gespräch argwöhnte, das ich mit dem Ihrigen hatte, und daß er mich in einer Postkutsche wegbringen lassen würde, nachdem er zuvor die sanfte junge Dame und die Vorsteherin der Schule zu der Aussage überredet hatte, sie wüßten nichts von ihm. Ach, es schaudert mich, Herr Weller, wenn ich daran denke, daß er die Arme nur verließ, um einer besseren Spekulation nachzugehen.«

»Also so verhielt sich die Sache – wirklich?« fragte Herr Weller.

»Sie dürfen mir aufs Wort glauben«, erwiderte Hiob.

»Gut«, sagte Sam, als sie jetzt am Gasthofe angekommen waren; »ich möchte gern ein wenig mit Ihnen plaudern, Hiob. Wenn Sie sonst nicht versagt sind, würde es mich freuen, Sie so gegen acht Uhr im großen weißen Rosse zu sehen.«

»Ich werde mich mit Vergnügen einfinden«, sagte Hiob.

»Sie werden wohl daran tun«, erwiderte Sam mit einem vielsagenden Blick, »oder ich suche Sie sonst vielleicht hinter dem grünen Tore auf, und dann wäre es möglich, daß ich Sie ausstäche.«

»Ich werde mich gewiß einstellen,« bemerkte Herr Trotter, drückte Herrn Weller mit dem größten Eifer die Hand und entfernte sich.

»Nimm dich in acht, Hiob Trotter«, sagte Sam, ihm nachsehend; »nimm dich in acht, oder du dürftest diesmal den Kürzeren ziehen; denn gewiß, ich lasse mich nicht zum zweitenmal hinters Licht führen.«

Nachdem Herr Weller diesen Monolog gehalten und Hiob so lange mit seinen Blicken verfolgt hatte, bis dieser verschwunden war, machte er sich auf den Weg nach seines Herrn Schlafzimmer.

»Es ist alles im Zug, Sir«, sagte Sam.

»Was ist im Zug, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Ich habe sie ausfindig gemacht, Sir«, antwortete Sam.

»Ausfindig gemacht? Wen?«

»Den sauberen Spitzbuben und den melancholischen Kerl mit dem schwarzen Haar.«

»Unmöglich, Sam!« rief Herr Pickwick heftig aus. »Wo sind sie, Sam – wo sind sie?«

»Pst – pst«, erwiderte Herr Weller und setzte Herrn Pickwick, während er ihm beim Ankleiden half, den Operationsplan auseinander, den er entworfen hatte.

»Aber wann soll dieses geschehen, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Alles zu rechter Zeit, Sir«, erwiderte Sam.

Ob es übrigens zu rechter Zeit geschah oder nicht, werden wir später sehen.

 

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Worin Herr Peter Magnus eifersüchtig wird und die Dame von mittlerem Alter einen Verdacht schöpft, der die Pickwickier dem Arme der Gerechtigkeit überliefert.

Als Herr Pickwick in das Zimmer trat, worin er mit Herrn Peter Magnus den vorhergehenden Abend verbracht, hatte sich dieser bereits mit dem größten Teil des Inhalts der beiden Reisesäcke, des ledernen Hutfutterals und des Löschpapierpakets so vorteilhaft wie möglich herausgeputzt, und ging im Zustande der höchsten Aufregung und Gemütsbewegung im Zimmer auf und nieder.

»Guten Morgen, Sir«, begann Herr Peter Magnus. »Was sagen Sie zu mir?«

»Das muß einen großen Effekt machen – in der Tat«, erwiderte Herr Pickwick, den Anzug des Herrn Magnus mit gutmütigem Lächeln betrachtend.

»Ja, ich glaube es selbst«, sagte Herr Magnus. »Herr Pickwick, ich habe meine Visitenkarte hinaufgeschickt.«

»Was Sie da sagen!« entgegnete Herr Pickwick.

»Ja: und sie ließ mir durch den Kellner sagen, sie erwarte mich um elf Uhr – um elf Uhr, Sir: es fehlt nur noch eine Viertelstunde.«

»Eine kurze Zeit«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ja, sie ist ziemlich kurz«, erwiderte Herr Magnus, »etwas zu kurz, um sich wohl dabei zu fühlen – meinen Sie nicht, Herr Pickwick?«

»Selbstvertrauen tut in solchen Fällen sehr viel«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ich glaube das auch, Sir«, sagte Herr Peter Magnus. »Ich habe übrigens großes Selbstvertrauen, Sir. Und in der Tat, Herr Pickwick, ich sehe nicht ein, warum ein Mann in einem Fall, wie diesem, sich fürchten sollte. Es ist ja nichts, dessen man sich zu schämen braucht. Es ist eine Sache gegenseitiger Übereinkunft, weiter nichts. Der Gatte auf der eine Seite, die Gattin auf der andern. Das ist meine Ansicht von der Sache, Herr Pickwick.«

»Sie ist sehr philosophisch«, versetzte Herr Pickwick. »Aber das Frühstück wartet, Herr Magnus: kommen Sie.«

Sie setzten sich zum Frühstück, aber trotz der Prahlerei des Herrn Peter Magnus konnte man nicht verkennen, daß sein Nervensystem in hohem Grade angegriffen war, wovon Mangel an Appetit, eine Neigung, das Teegeschirr umzustoßen, ein vergebliches Bemühen, lustig zu sein und ein unwiderstehlicher Hang, alle Augenblicke auf die Uhr zu sehen, die hauptsächlichsten Symptome waren.

»Hihihi«, kicherte Herr Magnus mit erkünstelter Heiterkeit, indem er vor innerer Bewegung keuchte. »Es sind nur noch zwei Minuten, Herr Pickwick. Sehe ich blaß aus, Sir?«

»Nicht sehr«, erwiderte Herr Pickwick.

Es trat eine kurze Pause ein.

»Verzeihung, Herr Pickwick, waren Sie je in Ihrem Leben in einer solchen Lage?«

»Sie meinen in der Lage eines Freiers?« fragte Herr Pickwick.

»Ja.«

»Noch nie«, erwiderte Herr Pickwick mit großem Nachdruck. »Noch nie.«

»Sie wissen also nicht, wie man sich dabei zu benehmen hat?« fragte Herr Magnus.

»Nun, ich habe auch schon meine Gedanken darüber gehabt«, antwortete Herr Pickwick; »aber da ich sie noch nie auf dem Prüfstein der Erfahrung erprobt habe, möchte ich Ihnen nicht raten, Ihr Benehmen danach einzurichten.«

»Ich wäre Ihnen aber für jede Andeutung sehr verbunden, Sir«, sagte Herr Magnus, mit einem Blick auf die Uhr, deren Zeiger bereits auf fünf Minuten nach elf wies.

»Wohlan, Sir«, begann Herr Pickwick, mit dem feierlichen Tone, womit der große Mann, wenn er wollte, seinen Bemerkungen einen ungemeinen Nachdruck verleihen konnte –, »ich würde zuerst der Schönheit und den vortrefflichen Eigenschaften der Dame meine Huldigung zollen und dann auf meine eigene Unwürdigkeit übergehen.«

»Ganz gut«, bemerkte Magnus.

»Verstehen Sie mich recht – Unwürdigkeit nur ihr gegenüber«, fuhr Herr Pickwick fort: »denn um zu zeigen, daß ich nicht im allgemeinen unwürdig sei, würde ich kurz mein früheres Leben und meine gegenwärtige Stellung schildern. Daraus würde ich nach dem Gesetze der Analogie folgern, daß ich für jede andere Person ein höchst wünschenswerter Gegenstand sein müßte: dann würde ich mich über die Glut meiner Liebe und die Tiefe meines Gefühls verbreiten und mich vielleicht auch versucht finden, ihre Hand zu fassen.«

»Ja, ich begreife«, bemerkte Herr Magnus; »das wäre ein höchst wichtiger Punkt.«

»Dann, Sir, würde ich«, fuhr Herr Pickwick fort, indem er immer wärmer wurde, je glühender die Farben waren, in denen sich ihm der Gegenstand darstellte – »dann würde ich ihr die offene und einfache Frage vorlegen: ›Wollen Sie mich?‹ und ich glaube zu der Annahme berechtigt zu sein, daß sie daraufhin ihr Gesicht abwenden würde.«

»Glauben Sie, das sicher annehmen zu dürfen?« fragte Herr Magnus: »denn täte sie das nicht zu rechter Zeit, so käme ich in Verlegenheit.«

»Ich glaube, daß sie es tun wird«, meinte Herr Pickwick. »Dann, Sir, würde ich ihre Hand drücken, und ich glaube – ich glaube, Herr Magnus – wenn ich das einmal getan hätte, würde ich, vorausgesetzt, sie hätte sich das gefallen lassen, sachte das Taschentuch, das sie in diesem Augenblicke, wie mich meine geringe Kenntnis der menschlichen Natur vermuten läßt, vor die Augen halten dürfte, wegziehen und ihr mit aller Achtung einen Kuß rauben. Ich glaube, ich würde sie küssen, Herr Magnus. Was aber diesen speziellen Punkt betrifft, so bin ich entschieden der Meinung, die Dame würde mir sodann, wenn sie mich überhaupt wollte, ein verschämtes ›Ja‘ in die Ohren flüstern.«

Herr Magnus schauderte zusammen, blickte in Herrn Pickwicks geistvolles Gesicht, schüttelte ihm nach einer kurzen Pause (der Zeiger wies auf zehn Minuten nach elf) mit Wärme die Hand, und rannte wie ein Verzweifelter aus dem Zimmer.

Herr Pickwick war einige Schritte gegangen, und der große Zeiger der Uhr war, auch wie Pickwick weitergehend, auf Halb angelangt, als sich plötzlich die Tür öffnete. Er wandte sich um und wollte eben Herrn Peter Magnus begrüßen, erblickte aber statt seiner das fröhliche Antlitz des Herrn Tupman, das heitere Gesicht des Herrn Winkle und die geistvollen Züge des Herrn Snodgraß.

Während sie Herr Pickwick bewillkommte, trippelte Herr Peter Magnus ins Zimmer.

»Meine Freunde – der Herr, von dem ich sprach, Herr Magnus«, sagte Herr Pickwick.

»Ihr Diener, meine Herren«, sprach Herr Magnus, offenbar in großer Aufregung: »Herr Pickwick, erlauben Sie mir, einen Augenblick mit Ihnen zu sprechen.«

Bei diesen Worten steckte Herr Magnus seinen Zeigefinger in Herrn Pickwicks Knopfloch und sagte, ihn in eine Fenstervertiefung ziehend:

»Wünschen Sie mir Glück, Herr Pickwick, ich befolgte ihren Rat buchstäblich.«

»Und es lief alles gut ab, nicht wahr?« fragte Herr Pickwick.

»Ganz gut, Sir – hätte nicht besser gehen können«, erwiderte Herr Magnus, »sie ist mein.«

»Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück«, versetzte Herr Pickwick, seinem neuen Freunde mit Wärme die Hand schüttelnd.

»Sie müssen sie sehen, Sir«, sagte Herr Magnus; »kommen Sie bitte. – Sie entschuldigen einen Augenblick, meine Herren.«

Und Herr Magnus zog Herrn Pickwick aus dem Zimmer und ging eilends mit ihm fort. Er blieb an der nächsten Türe im Gang stehen und pochte leise an.

»Herein!« rief eine weibliche Stimme.

Und sie gingen hinein.

»Fräulein Witherfield«, sagte Herr Magnus, »erlauben Sie mir, Ihnen meinen vertrauten Freund, Herrn Pickwick, vorzustellen. – Herr Pickwick, ich wünschte, daß Sie Fräulein Witherfield kennenlernten.«

Die Dame stand am oberen Ende des Zimmers; Herr Pickwick verbeugte sich, nahm die Brille aus seiner Westentasche und setzte sie auf. Diese Handlung war nicht sobald vorüber, als er mit einem Ausbruch der Überraschung einige Schritte zurückwich, und die Dame mit einem halbunterdrückten Schrei die Hände vors Gesicht hielt und auf einen Stuhl sank, worüber Herr Peter Magnus fassungslos wurde und mit dem Ausdruck der höchsten Bestürzung bald die eine, bald die andere Person anstarrte.

Solch Benehmen war doch wahrhaft unbegreiflich. Aber die Sache war die: Herr Pickwick hatte nicht sobald seine Brille aufgesetzt, als er in der künftigen Frau Magnus die Dame erkannte, in deren Zimmer er in der vorhergehenden Nacht auf eine so unverantwortliche Weise eingedrungen war; und die Brille saß nicht sobald auf Herrn Pickwicks Nase, als die Dame plötzlich das Gesicht erkannte, das sie mit allen Schrecknissen einer Nachtmütze umgeben gesehen hatte.

Die Dame schrie, und Herr Pickwick starrte sie an.

»Herr Pickwick«, rief Herr Magnus ganz bestürzt, »was soll das heißen, Sir? – Was soll das heißen?« fügte er in einem noch lauteren, drohenden Tone hinzu.

»Sir«, sagte Herr Pickwick, über die Art und Weise etwas unwillig, womit ihn Herr Peter Magnus so plötzlich angefahren hatte. »Ich muß die Beantwortung dieser Frage ablehnen.«

»Sie lehnen sie ab, Sir?« fragte Magnus.

»Ja, das tue ich, Sir«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich werde nichts sagen, was die Dame kompromittieren oder unangenehme Erinnerungen in ihrer Brust erwecken könnte, ohne ihre Erlaubnis und Zustimmung.«

»Fräulein Witherfield«, sagte Herr Peter Magnus, »kennen Sie diese Person?«

»Ob ich sie kenne?« erwiderte die Dame von mittlerem Alter zögernd.

»Ja, ob Sie ihn kennen, Madame; ich fragte, ob Sie ihn kennen?« fragte Herr Magnus wild.

»Ich habe ihn schon gesehen«, versetzte die Dame von mittlerem Alter.

»Wo?« rief Herr Magnus, »wo?«

»Das würde ich um alles in der Welt nicht offenbaren«, erwiderte die Dame von mittlerem Alter, von ihrem Sitze aufstehend und ihr Gesicht abwendend.

»Ich verstehe Sie, Madame«, sagte Herr Pickwick. »Ich achte Ihr Zartgefühl; auch durch mich soll es nicht offenbar werden, verlassen Sie sich darauf.«

»Auf mein Wort, Madame«, bemerkte Herr Magnus, »in Anbetracht des Verhältnisses, in dem ich zu Ihnen stehe, behandeln Sie diese Sache ziemlich gleichgültig – ziemlich gleichgültig, Madame.«

»Grausamer Herr Magnus«, entgegnete die Dame von mittlerem Alter, und vergoß reichliche Tränen.

»Richten Sie Ihre Vorwürfe an mich, Sir«, fiel Herr Pickwick ein; »ich allein bin zu tadeln, wenn irgend jemand zu tadeln ist.«

»Ah, Sie allein sind zu tadeln, Sir?« sagte Herr Magnus. »Ich – ich – durchschaue das, Sir. Sie bereuen jetzt Ihren Entschluß – nicht wahr?«

»Meinen Entschluß?« bemerkte Herr Pickwick.

»Ihren Entschluß, Sir. Starren Sie mich nur nicht so an, Sir«, sagte Herr Magnus: »ich erinnere mich noch recht wohl Ihrer Worte von gestern abend. Sie kamen hierher, Sir, die Treulosigkeit und Falschheit einer Person zu entlarven, auf deren Ehre und Treue Sie alles gebaut hatten – nicht wahr?«

Hier verzog Herr Peter Magnus sein Gesicht in spöttisches Lächeln, und seine grüne Brille abnehmend – die er wahrscheinlich bei seinem Anfall von Eifersucht für überflüssig hielt – rollte er seine kleinen Äuglein auf eine wirklich schauderhafte Weise.

»Nicht wahr?« fragte Herr Magnus und wiederholte sein Lächeln mit größerem Effekt. »Doch, Sie sollen mir antworten, Sir.«

»Antworten? auf was?« fragte Herr Pickwick.

»Schon gut, Sir«, versetzte Herr Magnus, im Zimmer auf und ab schreitend – »schon gut.«

Es muß etwas Umfassendes in dem Ausdruck »schon gut!« liegen, denn wir erinnern uns nicht, irgendeinen Wortwechsel auf der Straße, im Theater, im Wirtshaus oder sonstwo erlebt zu haben, wo dies nicht die stehende Erwiderung auf alle herausfordernden Fragen gewesen wäre, »Und Sie nennen sich einen Gentleman, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – »Habe ich mir eine Äußerung gegen dieses junge Frauenzimmer erlaubt, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – »Soll ich Ihnen den Kopf gegen die Wand stoßen, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – Es muß auch in diesem allgemein angenommenen Ausdruck »schon gut« ein versteckter Spott liegen, der in dem Busen dessen, an den er gerichtet ist, größeren Unwillen erwecken muß, als die beredtesten Schimpfwörter hervorrufen können.

Wir behaupten damit keineswegs, daß die Anwendung dieser lakonischen Redeweise in Herrn Pickwicks Seele genau den Unwillen erregte, den er in einer gewöhnlichen Brust hervorgerufen haben würde. Wir erinnern nur daran, daß Herr Pickwick die Tür öffnete und hastig rief:

»Tupman, kommen Sie herein!«

Herr Tupman erschien augenblicklich mit dem Blicke des höchsten Erstaunens.

»Tupman«, sagte Herr Pickwick, »ein Geheimnis von etwas zarter Natur, das diese Dame berührt, ist die Ursache eines Streites, der sich zwischen diesem Herrn und mir erhoben hat. Ich versichere ihm in Ihrer Gegenwart, daß dies Geheimnis aber ganz und gar nichts mit seinen Angelegenheiten zu tun hat. Zugleich bitte ich Sie dringend, ihm klarzumachen, daß er bei Fortsetzung des Streites und bei weiterem Zweifel an meine Wahrhaftigkeit mich aufs höchste beleidigt.«

Während Herr Pickwick das sagte, sah er Herrn Peter Magnus mit einem Blick an, der mehr sagte als ganze Bände.

Herrn Pickwicks offenes, ehrenhaftes Benehmen, verbunden mit jener Kraft und Energie der Sprache, die ihn so sehr auszeichnete, würden einen vernünftigen Menschen beruhigt haben, aber unglücklicherweise war gerade in diesem Augenblick der Geist des Herrn Peter Magnus in einer Verfassung, auf die sich das Eigenschaftswort »vernünftig« nicht recht anwenden ließ. Anstatt also Herrn Pickwicks Erklärung aufzunehmen, wie er sie hätte aufnehmen sollen, fuhr er fort, sich in eine glühende, verzehrende Leidenschaft zu versetzen, und von dem, was er seinen Gefühlen schuldig sei, und andern dergleichen Dingen zu sprechen, wobei er seiner Deklamation dadurch Nachdruck gab, daß er in schnellen Schritten auf und nieder ging, sich durch die Haare fuhr und gelegentlich Herrn Pickwicks menschenfreundlichem Gesicht die Faust unter die Nase hielt.

Herr Pickwick hatte im Bewußtsein seiner Unschuld und Redlichkeit und in dem aufregenden Gefühle, die Dame von mittlerem Alter unglücklicherweise in eine so unangenehme Lage versetzt zu haben, nicht die ruhige Fassung, die man an ihm gewohnt war. Die Folge davon war, daß die Worte hitzig und die Stimmen heftiger wurden, und Herr Magnus endlich Herrn Pickwick bemerkte, »er werde von ihm hören«, worauf Herr Pickwick mit lobenswerter Höflichkeit erwiderte: »je früher er von ihm hören würde, desto lieber wäre es ihm.« Voll Schrecken stürzte die Dame von mittlerem Alter aus dem Zimmer, und Herr Tupman zog Herrn Pickwick mit sich fort, Herrn Peter Magnus sich und seinen Gedanken überlassend.

Hätte die Dame von mittlerem Alter viel mit der großen Welt zu tun gehabt, oder überhaupt die Art und Weise derer gekannt, die Gesetze machen und Gebräuche feststellen, so würde sie gewußt haben, daß solche stürmische Auftritte zu den harmlosesten Dingen von der Welt gehören. Aber da sie die größte Zeit über auf dem Lande gelebt und noch nie Parlamentsverhandlungen gelesen hatte, so war sie in diesen besonderen Verfeinerungen des zivilisierten Lebens wenig bewandert. Als sie ihr Zimmer erreicht und sich eingeschlossen hatte, drangen sich beim Nachdenken über die Szene, von der sie soeben Zeuge gewesen, ihrer Phantasie die fürchterlichsten Bilder von Blutvergießen und Mord auf, unter denen ein Bildnis des Herrn Peter Magnus in Lebensgröße, von vier Mann nach Hause getragen und mit einem ganzen Faß voll Kugeln in seiner linken Seite geschmückt, eines der allerkleinsten war. Je mehr die Dame von mittlerem Alter nachdachte, desto mehr erschrak sie, und endlich beschloß sie, sich in das Haus des ersten Beamten der Stadt zu begeben und ihn zu ersuchen, die Personen des Herrn Pickwick und des Herrn Tupman unverzüglich in Sicherheit zu bringen.

Zu diesem Entschluß wurde die Dame von mittlerem Alter durch verschiedene Betrachtungen bestimmt, von denen der unwiderlegliche Beweis, den sie dadurch von ihrer Ergebenheit gegen Herrn Peter Magnus lieferte, und ihre Besorgnis für sein Leben, die hauptsächlichsten waren. Sie war mit seinem eifersüchtigen Temperament zu wohl bekannt, um auch nur die leiseste Anspielung auf den eigentlichen Grund ihrer Aufregung beim Anblicke des Herrn Pickwick zu wagen, und setzte so viel Vertrauen auf ihren Einfluß und ihre Überredungsgabe, daß sie sich mit der Hoffnung schmeichelte, seine stürmische Eifersucht beruhigen zu können, wenn Herr Pickwick entfernt wäre und kein neuer Streit entstehen könnte. Von diesem Gedanken erfüllt, hüllte sich die Dame von mittlerem Alter in Haube und Schal und begab sich geraden Weges nach der Wohnung des Bürgermeisters.

Nun war George Nupkins, Esquire, der besagte erste Beamte, eine so bedeutende Person, wie der schnellste Läufer am einundzwanzigsten Juni, der nach Angabe des Kalenders der längste Tag im ganzen Jahr ist und also die größte Zeit zum Suchen gestattet, nur eine zwischen Sonnenauf- und -niedergang finden könnte. Gerade an diesem Morgen war Herr Nupkins in einem Zustande besonderer Aufregung, denn es hatte eine Revolution in der Stadt gegeben. Sämtliche Schüler der größten Schule hatten sich verschworen, einem Obsthändler, der ihnen ein Dorn im Auge war, die Fenster einzuwerfen, den Büttel ausgespottet und den Polizeimeister, einen ältlichen Mann in Stulpenstiefeln, der beordert war, den Aufruhr zu unterdrücken, und der wenigstens schon ein halbes Jahrhundert lang den Frieden der Stadt in seiner Obhut gehabt hatte – mit Kot beworfen. Und Herr Nupkins saß in seinem Sorgenstuhle, runzelte majestätisch die Stirne und kochte vor Wut, als eine Dame gemeldet wurde, die ihn in einer besonderen und dringenden Privatangelegenheit zu sprechen wünsche. Herr Nupkins nahm einen ruhig-furchtbaren Blick an und befahl, die Dame hereinzuführen, ein Befehl, dem wie allen Verordnungen von Kaisern, Königen und andern großen Mächten der Erde Folge geleistet wurde, und Fräulein Witherfield ward also im Zustande reizender Aufregung hereingeführt.

»Muzzle!« rief der Beamte.

Muzzle war ein Diener von untersetzter Statur, mit einem langen Leib und kurzen Beinen.

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Bring einen Stuhl und verlaß das Zimmer!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Nun, Madame, wollen Sie mir Ihre Angelegenheit mitteilen?« sagte der Beamte.

»Sie ist sehr schmerzlicher Art, Sir«, bemerkte Fräulein Witherfield.

»Wohl möglich, Madame«, versetzte der Beamte. »Beruhigen Sie sich, Madame.«

Herr Nupkins nahm einen wohlwollenden Blick an.

»Und dann sagen Sie mir, Madame, was für eine gesetzliche Angelegenheit Sie zu mir führt.« Hier triumphierte der Beamte über den Menschen, und sein Blick wurde wieder streng.

»Es ist sehr betrübend für mich, Ihnen diese Mitteilung machen zu müssen«, sagte Fräulein Witherfield, »aber ich fürchte, es soll hier einen Zweikampf geben.«

»Hier, Madame?« rief der Beamte. »Wo, Madame?«

»In Ipswich.«

»In Ipswich, Madame? – Einen Zweikampf in Ipswich?« sagte der Beamte, bei dem bloßen Gedanken daran ganz außer sich vor Schrecken. »Unmöglich, Madame, so etwas kann in dieser Stadt nicht beabsichtigt werden, davon bin ich überzeugt. – Beim Himmel, Madame, wissen Sie nichts von der Tätigkeit unserer städtischen Polizei? Haben Sie nie davon gehört, Madame, daß ich am 4. Mai dieses Jahres, nur von sechzig Sicherheitspolizisten begleitet, in einen Wettkampfkreis eindrang, und auf die Gefahr hin, der wilden Leidenschaft eines wütenden Pöbels zum Opfer zu fallen, einen Boxkampf zwischen Dumpling von Middlesex und Bantam von Suffolk verhinderte? – Ein Duell in Ipswich, Madame! Ich glaube es nicht – ich glaube es nicht«, fuhr der Beamte, mit sich selbst redend, fort, »daß zwei Menschen die Kühnheit haben sollten, einen solchen Friedensbruch in dieser Stadt zu beabsichtigen.«

»Meine Angabe ist leider nur zu richtig«, sagte die Dame von mittlerem Alter. »Ich war beim Streit gegenwärtig.«

»Es ist ein ganz außerordentlicher Fall«, bemerkte der erstaunte Beamte. »Muzzle!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Rufe sogleich Herrn Jinks – augenblicklich.«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

Muzzle entfernte sich, und ein blasser, spitznasiger, halbverhungerter, schäbig gekleideter Schreiber von mittlerem Alter trat ins Zimmer.

»Herr Jinks«, rief der Beamte – »Herr Jinks!«

»Sir«, erwiderte Herr Jinks.

»Diese Dame, Herr Jinks, spricht von einem Duell, das in dieser Stadt beabsichtigt sein soll.«

Herr Jinks, der nicht bestimmt wußte, wie er sich benehmen sollte, lächelte mit der Miene des Untergebenen.

»Was lachen Sie darüber, Herr Jinks?« fragte der Beamte.

Herr Jinks nahm augenblicklich eine ernste Miene an.

»Herr Jinks«, sagte der Beamte, »Sie sind ein Narr.«

Herr Jinks blickte demütig zu dem großen Manne empor und nagte an seiner Feder.

»Sie können etwas Komisches in dieser Angabe finden, Sir, aber ich muß Ihnen sagen, Herr Jinks, daß Sie sehr wenig Grund haben, darüber zu lachen,« sagte der Beamte.

Der halbverhungerte Jinks seufzte, als wäre er sich vollkommen bewußt, daß er sehr wenig Grund habe, zu lachen: und nachdem er den Befehl erhalten hatte, die Aussage der Dame zu Protokoll zu nehmen, setzte er sich und schrieb sie nieder.

»Dieser Pickwick ist also die Hauptveranlassung, wie ich höre?« fragte der Beamte, als das Protokoll geschlossen war.

»Ja«, erwiderte die Dame von mittlerem Alter.

»Und der andere Aufrührer – wie ist sein Name, Herr Jinks?«

»Tupman, Sir.«

»Tupman ist der zweite?«

»Ja, Sir.«

»Die andere Hauptperson, sagen Sie, ist verschwunden, Madame?«

»Ja«, erwiderte Fräulein Witherfield mit einem kurzen Hüsteln.

»Ganz gut«, sagte der Beamte. »Das sind zwei Gurgelabschneider von London, die hierher gekommen sind, um Seiner Majestät Untertanen zu töten, weil sie denken, in dieser Entfernung von der Hauptstadt sei der Arm des Gesetzes schwach und gichtbrüchig. Ich will ein Erempel an ihnen statuieren. Setzen Sie die Verhaftbefehle auf, Herr Jinks. – Muzzle!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden.«

»Ist Grummer unten?«

»Ja, Euer Gnaden.«

»Schick‘ ihn herauf.«

Der gehorsame Muzzle ging und kehrte bald mit dem Herrn in den Stulpenstiefeln zurück, der sich hauptsächlich durch eine Kupfernase, eine heisere Stimme, einen schnupftabakfarbenen Überrock und einen unsteten Blick auszeichnete.

»Grummer!« rief der Beamte.

»Euer Gnaden?«

»Ist die Stadt jetzt ruhig?«

»Ziemlich, Euer Gnaden«, erwiderte Grummer. »Die Gemüter sind etwas beruhigt, weil die Knaben zum Kricketspiel sind.«

»Nur energische Maßregeln dringen in diesen Zeiten durch, Grummer«, sagte der Beamte in entschiedenem Ton. »Wenn das Ansehen der königlichen Beamten für nichts geachtet wird, so müssen wir die Aufruhrakte verlesen lassen. Wenn die Zivilbehörde die Fenster nicht schützen kann, so muß die militärische Macht die Zivilbehörde und die Fenster schützen. Ich glaube, das ist ein Grundsatz der Verfassung, Herr Jinks?«

»Gewiß, Sir«, versetzte Jinks.

»Ganz recht«, sagte der Beamte, die Verhaftbefehle unterzeichnend. »Grummer, Sie werden mir heute Nachmittag diese Personen vorführen. Sie finden sie im großen weißen Roß. Sie erinnern sich des Falls Dumpling von Middlesex und Bantam von Suffolk, Grummer?«

Herr Grummer deutete durch Kopfnicken an, daß er ihn nicht vergessen werde – was auch wirklich nicht leicht geschehen konnte, da er täglich daran erinnert wurde.

»Dies ist noch verfassungswidriger«, sagte der Beamte: »dies ist ein noch größerer Friedensbruch, ein noch größerer Eingriff in Seiner Majestät Vorrechte. Ich glaube, das Duell ist eines der unbestrittensten Vorrechte Seiner Majestät, Herr Jinks?«

»In der Magna Carta ausdrücklich stipuliert, Sir«, antwortete Herr Jinks.«

»Einer von den glänzendsten Juwelen in der britischen Krone, von Seiner Majestät durch die politische Union den Baronen aus den Händen gewunden, glaube ich, Herr Jinks?« sagte der Beamte.

»So ist es«, versetzte Herr Jinks.

»Ganz recht«, bemerkte der Beamte, sich stolz aufrichtend: »es soll in diesem Landesteile von Seiner Majestät Besitzungen nichtverletzt werden. Grummer, verschaffen Sie sich Beistand und vollziehen Sie diese Verhaftbefehle so bald wie möglich. – Muzzle!«

»Hier, Euer Gnaden.«

»Begleiten Sie diese Dame.«

Fräulein Witherfield zog sich zurück, mit hoher Bewunderung über die Gelehrsamkeit und den Scharfsinn des Beamten erfüllt. Herr Nupkins zog sich zum Essen zurück. Herr Jinks zog sich in sich selbst zurück, und das war, mit Ausnahme des Ruhebettes in seinem kleinen Stübchen, das bei Tag von der Familie seiner Hauswirtin bewohnt wurde, der einzige Rückzug, der ihm gestattet war. Schließlich zog sich auch Herr Grummer zurück, um durch Vollziehung des ihm gewordenen Auftrags die Schmach abzuwaschen, die ihm und dem andern Repräsentanten Seiner Majestät – dem Büttel – im Laufe des Vormittags angetan war.

Während diese bestimmten und entschlossenen Vorbereitungen zur Erhaltung des Friedens Seiner Majestät getroffen wurden, hatten sich Herr Pickwick und seine Freunde, die großen Ereignisse, die im Werden waren, nicht von ferne ahnend, ruhig zur Tafel gesetzt und waren alle sehr gesprächig und in bester Unterhaltung begriffen. Herr Pickwick erzählte eben zum großen Ergötzen seiner Freunde, besonders des Herrn Tupman, sein nächtliches Abenteuer, als sich die Tür öffnete und ein etwas abschreckendes Gesicht in das Zimmer spähte. Die Augen dieses Gesichts ruhten einige Sekunden forschend auf Herrn Pickwick und waren allem Anschein nach mit dem Ergebnis ihrer Untersuchung zufrieden; denn der Leib, zu dem das abschreckende Gesicht gehörte, schob sich langsam ins Zimmer und zeigte die Gestalt einet ältlichen Person in Stulpenstiefeln: kurz, um den Leser nicht länger in Unwissenheit zu lassen, die Augen waren die unsteten Augen des Herrn Grummer, und der Leib war das Eigentum des gleichen Herrn.

Herrn Grummers Verfahren war seinem Berufe angemessen, aber eigentümlich. Seine erste Handlung war Verriegelung der Tür. Seine zweite sorgfältige Abtrocknung seines Kopfes und Gesichts mit einem baumwollenen Taschentuch, seine dritte die, daß er seinen Hut mit dem baumwollenen Taschentuche darin auf einen Stuhl stellte, und die vierte, daß er einen kurzen, mit einer messingenen Krone versehenen Stab mit gravitätischer und geisterhafter Miene gegen Herrn Pickwick schwang.

Herr Snodgraß war der erste, der das Schweigen der Überraschung brach. Er sah Herrn Grummer einige Minuten lang fest an und deutete ihm dann mit Nachdruck:

»Das ist ein Privatzimmer, Sir – ein Privatzimmer.«

Herr Grummer schüttelte den Kopf und erwiderte:

»Es gibt kein Privatzimmer vor Seiner Majestät, wenn einmal die Hausschwelle überschritten ist. Das ist Gesetz. Viele Leute behaupten, eines Engländers Haus sei seine Burg. Das ist aber Larifari.«

Die Pickwickier starrten einander mit verwunderten Augen an.

»Wer ist Herr Tupman«, fragte Herr Grummer. Herrn Pickwick hatte er nämlich vermöge seiner Auffassungsgabe sogleich erkannt.

»Ich heiße Tupman«, sagte der Betreffende.

»Und ich heiße Gesetz«, erwiderte Herr Grummer

»Wie?« fragte Herr Tupman.

»Gesetz«, wiederholte Herr Grummer, »Gesetz, Zivil- und Exekutivgewalt, das sind meine Titel; und hier ist meine Vollmacht, lautend auf Tupman und Pickwick – wegen Friedensbruch gegen unsern regierenden Herrn, den König – auf diesen besondern Fall ausgestellt – und alles regulär. – Ich verhafte Euch, Pickwick; Tupman – die Besagten.«

»Was wollen Sie mit dieser Unverschämtheit?« fragte Herr Tupman aufspringend. »Verlassen Sie das Zimmer – verlassen Sie das Zimmer.«

»Holla«, rief Herr Grummer, sich eiligst an die Tür machend und sie einen oder zwei Zoll öffnend: »Dubbley!«

»Gut«, antwortete eine Baßstimme aus dem Gang.

»Kommt herein, Dubbley«, rief Herr Grummer.

Auf dieses Kommandowort schob sich ein sechs Fuß hoher und verhältnismäßig dicker Mann mit einem schmutzigen, roten Gesicht durch die halbgeöffnete Tür ins Zimmer, wobei er besagtem Gesicht den Vortritt ließ und die übrigen Körperteile nachzog.

»Sind die andern Gerichtsdiener draußen, Dubbley?« fragte Herr Grummer.

Herr Dubbley, der seine Worte sparte, nickte bejahend.

»So ruft die Abteilung herein, Dubbley«, sagte Herr Grummer.

Herr Dubbley tat, wie ihm befohlen, und ein halbes Dutzend Männer, jeder mit kurzem Stabe und messingener Krone, stellten sich im Zimmer auf. Herr Grummer steckte seinen Stab in die Tasche und sah auf Herrn Dubbley. Herr Dubbley steckte seinen Stab in die Tasche und sah auf seine Abteilung! und die Abteilung steckte ihre Stäbe in die Tasche und sah auf die Herren Tupman und Pickwick.

Herr Pickwick und seine Schüler erhoben sich wie ein Mann.

»Was soll dieses stürmische Eindringen in ein Privatzimmer?« fragte Herr Pickwick.

»Wer wagt es, mich zu verhaften?« rief Herr Tupman.

»Was habt ihr hier zu suchen, ihr Schufte?« sagte Herr Snodgraß.

Herr Winkle sagte nichts, sondern heftete nur seine Augen auf Grummer und schleuderte ihm einen Blick zu, der, hätte dieser nur einiges Gefühl gehabt, seinen Hirnschädel durchbrochen und auf der andern Seite wieder herausgekommen wäre. Aber so äußerte er durchaus keine sichtbare Wirkung.

Als die Exekutivgewalt bemerkte, daß Herr Pickwick und seine Freunde geneigt waren, sich dem Ansehen des Gesetzes zu widersetzen, stülpte sie sehr bedeutungsvoll ihre Rockärmel hinauf, als ob es in ihrem Berufe läge und sich gleichsam von selbst verstände, daß sie die Herren vorerst zu Boden schlagen und dann mitnehmen müßte. Diese Demonstration verfehlte ihre Wirkung auf Herrn Pickwick nicht.

Er besprach sich einige Minuten lang leise mit Herrn Tupman, erklärte sich dann bereit, nach des Bürgermeisters Wohnung mitzugehen, und bat nur noch die Anwesenden, davon Kenntnis zu nehmen, daß es sein fester Entschluß sei, im Augenblicke, wo er wieder in Freiheit sein würde, diese ungeheure Verletzung seiner Vorrechte als Engländer zu ahnden. Darüber schlugen die Eindringlinge ein lautes Gelächter an – den einzigen Herrn Grummer ausgenommen, der zu bedenken schien, daß der geringste Eingriff in das göttliche Recht der Obrigkeit eine Art Gotteslästerung sei, die man nicht dulden könne.

Als aber Herr Pickwick sich bereit erklärt hatte, sich den Gesetzen seines Landes zu fügen, und die Kellner, Hausknechte, Stubenmädchen und Postjungen, die von der angedrohten Widersetzlichkeit einen ergötzlichen Aufstand erwartet hatten, enttäuscht und mißmutig auseinandergingen, erhob sich eine Schwierigkeit, die man nicht vorhergesehen hatte.

Trotz seiner Verehrung der bestehenden Behörden weigerte sich Herr Pickwick bestimmt, sich gleich einem gemeinen Verbrecher, von den Dienern der Gerechtigkeit umringt und bewacht, über die öffentliche Straße führen zu lassen. Ebenso bestimmt weigerte sich Herr Grummer bei der noch immer herrschenden Erregung der Gemüter (denn es war ein halber Feiertag und die Schuljugend noch nicht nach Hause zurückgekehrt) auf der andern Seite der Straße zu gehen und Herrn Pickwicks Ehrenwort anzunehmen, daß er sich geraden Wegs zum Bürgermeister verfügen wolle. Beide, Herr Pickwick und Herr Tupman, weigerten sich ebenso bestimmt, die Kosten einer Postkutsche zu bezahlen, die das einzige anständige Vehikel war, das man bekommen konnte. Der Streit wurde hitzig, das Deklamieren zog sich in die Länge, und eben war die Exekutionsgewalt im Begriff, Herrn Pickwicks Weigerung durch ein ganz gewöhnliches Auskunftsmittel zu beseitigen: ihn nämlich nach dem Hause des Bürgermeisters zu schleppen, als man sich erinnerte, daß im Hofe eine alte Sänfte stand, die ursprünglich für einen mit der Gicht behafteten Grundeigentümer gemacht war und Herrn Pickwick und Herrn Tupman wenigstens ebenso anständig befördern konnte, als eine moderne Postkutsche. Die Sänfte wurde geholt und auf den Hausflur gebracht. Herr Pickwick und Herr Tupman schlüpften hinein und ließen die Vorhänge nieder; ein paar Träger wurden bald gefunden, und der Zug setzte sich in bester Ordnung in Bewegung. Die Gehilfen der Diener der Gerechtigkeit umgaben das Vehikel; Herr Grummer und Herr Dubbley schritten triumphierend voran, Herr Snodgraß und Herr Winkle gingen Arm in Arm hinterdrein, und die, die hinter den Ohren noch nicht trocken waren, von Ipswich bildeten den Nachtrab.

Die Krämer der Stadt hatten zwar nur eine sehr unbestimmte Vorstellung von der Natur des Vergehens, wurden aber doch durch dieses Schauspiel höchlich erbaut. Es war der starke Arm des Gesetzes, der mit der Kraft von tausend Pferdestärken auf zwei Verbrecher aus der Hauptstadt selbst fiel. Die gewaltige Maschine wurde durch ihren eigenen Bürgermeister geleitet und durch ihre eigenen Amtsdiener befördert, und durch ihre vereinten Anstrengungen waren die Frevler in dem engen Raum einer Sänfte sicher aufgehoben. Mancher Zuruf des Beifalls und der Bewunderung begrüßte Herrn Grummer, als er den Zug, mit dem Stab in der Hand, anführte. Laut und anhaltend war das Geschrei, das die hinter den Ohren noch nicht Trockenen erhoben, und mitten unter diesen vereinigten Zeugnissen des öffentlichen Beifalls bewegte sich der Zug langsam und feierlich vorwärts.

Herr Weller kehrte gerade in seiner Morgenjacke mit den schwarzen Kattunärmeln ziemlich niedergeschlagen von einer erfolglosen Beaugenscheinigung des geheimnisvollen Hauses mit dem grünen Tor zurück, als er, die Augen erhebend, eine die Straße hinabwogende Volksmenge sah, die einen Gegenstand umgab, der sehr viel von dem Ausehen einer Sänfte hatte. Gerne seine Gedanken von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen ablenkend, trat er beiseite, um die Menge vorbeizulassen, und da er hörte, daß sie größtenteils zu ihrem Privatvergnügen schrie und lärmte, begann er sofort, nur um sich aufzuheitern, ebenfalls aus vollem Halse zu schreien.

Herr Grummer ging vorüber, Herr Dubbley ging vorüber, die Sänfte ging vorüber, die Leibwache ging vorüber, und Sam stimmte noch immer in das enthusiastische Geschrei der Menge. Dabei schwenkte er seinen Hut, als ob er den höchsten Grad der wildesten Lust erreicht hätte, denn er ahnte die Wahrheit nicht im mindesten, als er plötzlich bei der unerwarteten Erscheinung der Herren Winkle und Snodgraß verstummte.

»Was ist los, meine Herren«, rief Sam. »Wen tragen sie denn da in diesem Trauerschilderhaus?«

Beide Herren antworteten zugleich, aber ihre Worte verhallten im allgemeinen Lärmen.

» Wer ist’s?« schrie Sam wieder.

Und wieder erfolgte eine gleichzeitige Antwort: und ob er gleich die Worte nicht vernehmen konnte, so sah er doch an der Bewegung der beiden Lippenpaare, daß sie das Zauberwort »Pickwick« aussprachen.

Das war genug. – In der nächsten Minute hatte sich Herr Weller Bahn gebrochen, brachte die Träger zum Stehen und trat vor den stattlichen Grummer hin.

»Holla, Alter«, rief Sam: »wen habt Ihr da in dieser Tragbahre?«

»Zurück«, rief Herr Grummer, dessen Würde, wie die Würde einer Menge anderer Leute, durch das bißchen Volksgunst wunderbar gehoben wurde.

»Schlagt ihn nieder, wenn er nicht weicht«, sagte Herr Dubbley.

»Ich bin Euch sehr verbunden, Alter«, versetzte Sam, »daß Ihr wenigstens meine Neigung um Rat fragt, und noch mehr bin ich es dem andern Herrn, der aussieht, als wäre er eben einer Riesenkarawane entlaufen, für seinen hübschen Vorschlag verpflichtet. Aber lieber wäre es mir, ihr gebet mir eine Antwort auf meine Frage, wenn es euch nichts verschlägt. – Wie geht es Ihnen, Sir?« Diese letztere Bemerkung war mit der Miene des Gönners an Herrn Pickwick gerichtet, der durch das Vorderfenster spähte.

Herr Grummer war völlig sprachlos vor Entrüstung. Er zog seinen Stab mit der messingenen Krone aus der Tasche hervor und schwenkte ihn vor Sams Augen.

»Ach«, sagte Sam, »recht hübsch, besonders die Krone, die ungemein viel Ähnlichkeit mit einer Königskrone hat.«

»Zurück!« schrie der entrüstete Herr Grummer.

Und um diesem Befehl mehr Kraft zu geben, stieß er mit der einen Hand das metallene Sinnbild des Stabs in Sams Halstuch, faßte ihn mit der andern am Kragen, eine Artigkeit, die Herr Weller dadurch zu erwidern suchte, daß er ihn alsbald zu Boden schlug, nachdem er zuvor mit der größten Bedachtsamkeit einen Träger niedergeschlagen hatte, auf dem Grummer nun liegen konnte.

Ob Herr Winkle von einem vorübergehenden Anfalle jener Art von Wahnsinn befallen war, die au« einem Gefühl des erduldeten Unrechts entspringt, oder ob er durch Herrn Wellers Tapferkeit angesteckt wurde, läßt sich nicht ermitteln. Aber gewiß ist, daß er nicht sobald Herrn Grummer stürzen sah, als er einen furchtbaren Angriff auf einen kleinen jungen machte, der neben ihm stand, worauf Herr Snodgraß mit echt christlichem Sinn, und um niemanden unversehens zu überfallen, mit sehr lauter Stimme ankündigte, er werde jetzt beginnen – eine Erklärung, nach der er mit der größten Überlegung seinen Rock auszog. Er wurde jedoch sogleich umringt und festgenommen; und es ist bloße Gerechtigkelt gegen ihn und Herrn Winkle, wenn wir sagen, daß beide nicht den geringsten Versuch machten, sich oder Herrn Weller zu befreien, der nach dem tapfersten Widerstände durch die Überzahl überwältigt und festgenommen wurde. Der Zug stellte sich wieder in Ordnung, die Träger traten an ihre Plätze, und alles setzte sich wieder in Bewegung.

Herrn Pickwicks Entrüstung während dieses ganzen Vorfalls kannte keine Grenzen. Er sah nur, wie Sam die Gehilfen der Gerechtigkeit in allen Richtungen niederwarf – das einzige, dessen er gewahr werden konnte, da er weder die Tür der Sänfte zu öffnen noch die Vorhänge aufzuziehen vermochte. Endlich gelang es ihm mit Hilfe des Herrn Tupman, die Decke durchzustoßen, und auf den Sitz steigend, auf dem er sich so fest wie möglich zu halten suchte, indem er seine Hand auf seines Freundes Schulter legte, begann er eine Rede an das Volk zu halten, worin er sich über die unverantwortliche Art beklagte, mit der er behandelt worden, und alle zu Zeugen aufrief, daß sein Diener zuerst angegriffen worden sei. In dieser Ordnung erreichten sie das Haus des Bürgermeisters; die Sänfteträger trabten, die Gefangenen folgten, Herr Pickwick hielt Reden und die Menge schrie.

 

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Worin unter andern ergötzlichen Dingen gezeigt wird, welche Würde und Unparteilichkeit Herr Nupkins an den Tag legte, und wie Herr Weller Herrn Hiob Trotters Ball mit derselben Kraft zurückschlug, mit der er geworfen wurde – nebst andern Begebenheiten, die man am gehörigen Ort finden wird.

Herrn Wellers Entrüstung, als er fortgebracht wurde, war nicht gering, und sprach sich in zahllosen Anspielungen auf die Persönlichkeit und Handlungsweise Herrn Grummers und seines Amtsgenossen, sowie in heldenmütigen Herausforderungen gegen seine sechs Untergebenen aus.

Herr Snodgraß und Herr Winkle lauschten mit tiefem Respekt auf den Strom der Beredsamkeit, den ihr Meister von der Sänfte herabgoß, und dessen reißendem Lauf die ernstlichen Bitten Herrn Tupmans, den Deckel des Vehikels zu schließen, nicht einen Augenblick aufzuhalten vermochten. Doch Herrn Wellers Zorn wich plötzlich der Neugierde, als der Zug in denselben Hofraum einbog, in dem er den Ausreißer Hiob Trotter getroffen hatte. Die Neugierde machte einem Gefühle der freudigsten Überraschung Platz, als der allgewichtige Herr Grummer den Trägern Halt zu machen gebot, mit würdevollem und festem Gang auf dasselbe grüne Tor, durch das Hiob Trottcr herausgekommen war, zuschritt, und hastig am Glockenzuge riß, der an der Seite desselben hing. Auf dieses Zeichen erschien eine schmucke, rotwangige Dirne, die vor Erstaunen über das rebellische Aussehen der Gefangenen und die leidenschaftliche Sprache Herrn Pickwicks die Hände über dem Kopf zusammenschlug und Herrn Muzzle herbeirief. Herr Muzzle öffnete den einen Flügel des Tores, um die Sänfte, die Gefangenen und die Diener des Gerichts einzulassen, und schlug sie augenblicklich der andringenden Menge wieder vor der Nase zu, worauf diese voll Entrüstung und Neugierde ihren Gefühlen dadurch Luft machte, daß sie noch eine oder zwei Stunden lang an das Tor polterte und an der Glocke zog. Alle nacheinander nahmen an dieser Unterhaltung Teil: nur drei oder vier Glückliche hatten eine Ritze im Tor entdeckt, die eine freie Aussicht auf nichts gestattete. Nun starrten sie mit jener unermüdeten Beharrlichkeit in das Innere, mit der sich der Pöbel an den Fenstern des vorderen Zimmers eines Wundarztes die Nasen abstößt, wenn ein Betrunkener, der auf der Straße von einem Hundekarren überfahren wurde, im hinteren Zimmer der chirurgischen Inspektion unterworfen wird.

Am Fuße einer Treppe, die zur Haustür führte und die auf beiden Seiten von einer amerikanischen Aloe in grünem Topfe bewacht wurde, machte die Sänfte halt. Herr Pickwick und seine Freunde wurden in den Hausflur geführt, aus dem sie, nach vorhergegangener Anmeldung durch Muzzle, zu Herrn Nupkins gewiesen und sofort der hochachtbaren Person dieses patriotischen Beamten vorgestellt wurden.

Die Szene war ergreifend und ganz darauf berechnet, das Herz des Schuldbewußten mit Schrecken zu erfüllen und ihm einen richtigen Begriff von der Strenge und Majestät des Gesetzes beizubringen. Vor einem großen Bücherkasten, an einem großen Tisch, hinter einem großen Buche, in einem großen Stuhl saß Herr Nupkins, noch weit größer, als irgendeiner von den genannten Dingen, so groß diese auch immer waren. Der Tisch war mit Säulen von Akten geschmückt, und am entfernteren Ende desselben ragten Kopf und Schultern des Herrn Iinks hervor, der in dem eifrigen Geschäft begriffen war, so geschäftig wie möglich auszusehen. Nachdem die ganze Gesellschaft eingetreten, verschloß Muzzle sorgfältig die Tür und stellte sich hinter den Stuhl seines Herrn, um seine Befehle zu erwarten. Herr Nupkins lehnte sich mit feierlicher Würde zurück und betrachtete die Gesichter seiner unfreiwilligen Gäste mit durchbohrenden Blicken.

»Wer ist die Person, Grummer?« sagte Herr Nupkins, auf Herrn Pickwick deutend, der als Sprecher mit dem Hut in der Hand dastand und sich mit der äußersten Höflichkeit und Ehrerbietung verneigte.

»Ihr Gestrengen, das ist der Pickwick«, erwiderte Grummer.

»Keinen solchen Ton, alte Lichtschere«, fiel Herr Weller ein, sich mit Ellbogenstößen in die vorderste Reihe drängend – bitt‘ um Verzeihung, Sir, aber dieser – Ihr dienstbarer Geist in den Stulpenstiefeln – würde als Zeremonienmeister nirgends ein anständiges Auskommen finden. Dies, Sir«, fuhr Herr Weller, Grummer zurückdrängend, mit launiger Vertraulichkeit gegen den Oberbeamten fort – »dies ist Pickwick, Esquire; dies Herr Tupman; jener Herr Snodgraß, und der andere neben ihm Herr Winkle, lauter vortreffliche Ehrenmänner, deren Bekanntschaft zu machen Sie sich sehr glücklich schätzen werden. Je schneller Sie übrigens Ihre Amtsdiener auf einen Monat oder zwei ins Kittchen schicken, desto schneller und besser werden wir uns verständigen. Zuerst das Geschäft, dann das Vergnügen, wie König Richard der Dritte sagte, als er den andern König im Tower erstach, und ehe er die Kleinen erwürgte.«

Am Schlusse dieser Anrede bürstete Herr Weller seinen Hut mit dem rechten Ellenbogen und nickte Jinks huldvoll zu, der ihn mit unaussprechlichem Entsetzen zu Ende gehört hatte.

»Wer ist dieser Mensch, Grummer?« fragte der Oberbeamte.

»Ein ganz verzweifelter Kerl, Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer. »Er suchte die Gefangenen zu befreien und griff die Diener des Gesetzes an – wir nahmen ihn deswegen fest und brachten ihn hierher.«

»Daran habt ihr ganz recht getan«, entgegnete der Oberbeamte. »Es ist augenscheinlich ein ganz unglaublicher Halunke.«

»Es ist mein Diener, Sir«, sagte Herr Pickwick zornig.

»So, es ist Ihr Diener – so?« fragte Herr Nupkins. – »Also eine Verschwörung, dem Ansehen der Gesetze zu trotzen und die Boten des Gerichts zu ermorden. Pickwicks Diener! – Schreiben Sie das nieder, Herr Jinks.«

Herr Jinks schrieb.

»Euer Name, Bursche«, donnerte Herr Nupkin«.

»Weller«, antwortete Sam.

»Ein sehr hübscher Name für die Liste von Newgate Newgate ist das älteste Gefängnis in London.«, bemerkte Herr Nupkins.

Das war ein Scherz; folglich brachen Jinks, Grummer, Dubbley, sämtliche Gerichtsboten und Muzzle in ein Gelächter aus, das fünf Minuten lang dauerte.

»Notieren Sie den Namen, Herr Jinks«, sagte der Beamte.

»Zwei L, alter Knabe«, rief Sam.

Hier lachte ein unglücklicher Gerichtsbote wieder, worüber ihm der Beamte alsbald mit Verhaftung drohte. Es ist in solchen Fällen etwas Gefährliches, über den Unrechten zu lachen.

»Wo seid Ihr zu Hause?« fragte der Oberbeamte.

»Überall und nirgends«, erwiderte Sam.

»Notieren Sie das, Herr Jinks«, sagte der Beamte, der in eine förmliche Wut geriet.

»Unterstreichen Sie es auch«, bemerkte Sam.

»Er ist ein Landstreicher, Herr Jinks«, rief der Beamte, »ein Landstreicher nach seinem eigenen Geständnis – nicht wahr, Herr Jinks.«

»Ganz gewiß, Sir.«

»Ich will ihn einsperren lassen – ich will ihn einsperren lassen, als einen Landstreicher«, sagte Herr Nupkins.

»Das ist mir eine saubere Justiz hierzulande«, bemerkte Sam; »da gibt es keinen Beamten, der nicht zwei Streiche macht, wenn er andere Leute wegen eines einsperrt.«

Über diesen Witz lachte ein anderer Gerichtsdiener und machte dann eine so krampfhafte Anstrengung, eine ernste Miene zu erzwingen, daß der Beamte den Täter augenblicklich entdeckte.

»Grummer«, rief der Beamte, vor Wut ganz karfunkelrot werdend, »wie können Sie es wagen, einen so unverantwortlichen Taugenichts zum Gehilfen der Gerechtigkeit zu machen? Wie können Sie es wagen, Sir?«

»Es tut mir herzlich leid. Euer Gestrengen«, stammelte Grummer.

»Herzlich leid?« rief der wütende Beamte. »Sie sollen mir büßen für diese Pflichtvergessenheit, Herr Grummer; ich will ein Exempel an Ihnen statuieren. Nehmen Sie dem Burschen den Stab ab. Er ist betrunken. Ihr seid betrunken, Kerl.«

»Ich bin nicht betrunken. Euer Gnaden«, erwiderte der Mann.

»Ihr seid betrunken«, entgegnete der Beamte. »Wie könnt Ihr Euch unterfangen, zu sagen. Ihr seid nicht betrunken, wenn ich sage, Ihr seid es? Riecht er nicht nach Schnaps, Grummer?«

»Entsetzlich, Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer, der eine entfernte Ahnung hatte, daß es irgendwo nach Rum rieche.

»Ich wußte es, daß er danach riecht«, bemerkte Herr Nupkins, »Gleich beim Eintritt ins Zimmer sah ich es ihm an seinen aufgelaufenen Augen an, daß ei betrunken ist. Haben Sie seine aufgelaufenen Augen nicht bemerkt, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Ich habe diesen Morgen nicht einen Tropfen Branntwein gesehen«, sagte der Mann, der so nüchtern war, wie er nur sein konnte.

»Wie wagt Ihr es, mir eine Lüge ins Gesicht zu sagen?« rief Herr Nupkins. »Ist er nicht in diesem Augenblick betrunken, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir«, versetzte Jinks.

»Herr Jinks«, bemerkte der Beamte, »ich lasse den Kerl einsperren wegen Unverschämtheit. Setzen Sie den Verhaftungsbefehl auf, Herr Jinks.«

Und der Gerichtsdiener wäre ohne weiteres eingesperrt worden, allein Jinks, der der Ratgeber des Beamten war und drei Jahre lang in der Schreibstube eines Grafschaftsanwalts gelernt hatte, flüsterte dem Beamten zu, er glaube, das gehe nicht wohl an. Darauf hielt der Beamte eine Rede, worin er sagte, er wolle es aus Rücksicht auf die Familie des Gerichtsdieners beim Verweise und bei der Entlassung bewenden lassen. Demgemäß wurde derselbe eine Viertelstunde lang tüchtig gewaschen und seiner Verpflichtung enthoben; und Grummer, Dubbley, Muzzle und sämtliche übrigen Gerichtsdiener bewunderten murmelnd Herrn Nupkins Großmut.

»Jetzt, Herr Jinks, lassen Sie Grummer schwören«, sagte der Beamte.

Grummer wurde sofort vereidigt; aber da er etwas verworren sprach, und Herrn Nupkins‘ Mittagessenszeit nahe war, so machte dieser die Sache kurz und legte Grummern die Antworten auf die Zunge, die denn auch immer so bejahend wie möglich ausfielen. Das Verhör ging also seinen Gang, und Herr Weller wurde zweier tätlicher Angriffe, Herr Winkle einer Drohung und Herr Snodgraß eines Stoßes überführt. Als das alles zur Zufriedenheit des Beamten erledigt war, hielten der Beamte und Herr Jinks eine stille Beratung.

Die Beratung dauerte ungefähr zehn Minuten; dann zog sich Herr Jinks auf seinen Platz am Ende des Tisches zurück, und der Beamte setzte sich nach einem vorbereitenden Räuspern in seinen Stuhl und war eben im Begriff, seine Anrede zu beginnen, als Herr Pickwick mit den Worten einfiel:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, wenn ich Sie unterbreche«, sagte Herr Pickwick, »aber bevor Sie das Urteil, das Sie auf die stattgehabten Verhandlungen gegründet haben mögen, aussprechen und in Vollzug setzen, muß ich mein Recht in Anspruch nehmen, gehört zu werden, insofern die Sache meine Person betrifft.«

»Halten Sie den Mund«, rief ihm der Beamte kategorisch zu.

»Ich muß Sie aber darauf aufmerksam machen, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»Halten Sie den Mund«, unterbrach ihn der Beamte, »oder ich werde meinen Gerichtsdiener befehlen. Sie abzuführen.«

»Sie mögen Ihrem Gerichtsdiener befehlen, was Ihnen beliebt, Sir«, fiel Herr Pickwick ein; »und nach dem, was ich von der Subordination gesehen habe, die unter Ihnen gehandhabt wird, zweifle ich nicht, daß sie alles ausführen, was Sie ihnen nur immer befehlen; aber ich muß mir die Freiheit nehmen, Sir, so lange mein Recht, gehört zu werden, zu beanspruchen, bis ich mit Gewalt entfernt werde.

»Pickwick und Grundsatz!« rief Herr Weller mit sehr vernehmlicher Stimme.

»Sam, sei ruhig«, sagte Herr Pickwick.

»Stumm wie eine durchlöcherte Trommel«, entgegnete Sam.

Herr Nupkins betrachtete Herrn Pickwick mit dem Blicke des höchsten Erstaunens, als er eine so unerhörte Keckheit an den Tag legte, und war augenscheinlich im Begriff, eine sehr zornige Erwiderung zu geben, als ihn Herr Jinks an den Ellenbogen stieß und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Auf dieses gab der Beamte eine halbvernehmliche Antwort, und dann erneuerte sich das Geflüster.

Endlich wandte sich der Beamte, seinen Verdruß hinunterschluckend, an Herrn Pickwick, und sagte in scharfem Tone – »was haben Sie mir zu sagen?«

»Vorerst«, begann Herr Pickwick, einen Blick durch seine Brille werfend, vor dem sogar Herr Nupkins die Augen niederschlug – »vorerst wünschte ich zu erfahren, warum ich und meine Freunde hierher gebracht wurden?«

»Muß ich es ihm sagen?« flüsterte der Beamte Jinks zu.

»Ich denke, es wird das beste sein, Sir«, flüsterte Jinks dem Beamten zu.

»Es ist mir eine polizeiliche Anzeige zugekommen, daß man besorgt. Sie wollen einen Zweikampf ausfechten, und daß die andere Person, Tupman, Ihr Sekundant und Helfershelfer sei. Deshalb – nun, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Deshalb fordere ich Sie beide auf, eine – nicht wahr, so ist’s richtig, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Eine – eine – was, Herr Jinks?« fragte der Beamte ärgerlich,

»Eine Bürgschaft zu stellen, Sir.«

»Ja. Deshalb fordere ich Sie beide auf – wie ich eben sagen wollte, als ich durch meinen Schreiber unterbrochen wurde – eine Bürgschaft zu stellen.«

»Eine gute Bürgschaft«, flüsterte Herr Jinks.

»Ich verlange eine gute Bürgschaft«, sagte der Beamte.

»Von Bürgern aus der Stadt«, flüsterte Jinks.

»Es müssen Bürger aus der Stadt sein«, sagte der Beamte.

»Fünfzig Pfund jeder«, flüsterte Jinks! »und natürlich Hausbesitzer.«

»Ich verlange zwei Bürgen, jeden von fünfzig Pfund«, sagte der Beamte laut, mit großer Würde, »und es müssen natürlich Hausbesitzer sein.«

»Aber ums Himmels willen, Sir«, rief Herr Pickwick, gleich Herrn Tupman vor Erstaunen und Unwillen außer sich: «wir sind in dieser Stadt völlig fremd. Ich kenne ebensowenig einen Hausbesitzer hier, wie ich mit irgend jemandem einen Zweikampf auszufechten gedenke.«

»Ich bin meiner Sache gewiß«, versetzte der Beamte, »ich bin meiner Sache gewiß – Sie nicht auch, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Haben Sie noch mehr zu bemerken?« fragte der Beamte.

Herr Pickwick hatte allerdings noch weit mehr zu bemerken und würde es auch, obwohl nicht sehr zu seinem Vorteil oder zur Zufriedenheit des Beamten, getan haben, wäre er nicht in dem Augenblick, wo er zu sprechen aufhörte, von Herrn Weller an den Ellenbogen gestoßen worden. Darauf ließ er sich mit dem genannten Herrn in eine so ernste Unterhaltung ein, daß er die Frage des Beamten völlig überhörte. Herr Nupkins war indes nicht der Mann, eine Frage von der Art zweimal zu stellen, und so begann er denn nach einem zweiten vorbereitenden Geräusper seine Entscheidung auszusprechen, während die Gerichtsboten voll Ehrfurcht und Bewunderung stillschweigend zuhörten.

Herr Weller sollte für den ersten Angriff um zwei, und für den zweiten um drei, Herr Winkle um zwei und Snodgraß um ein Pfund gestraft werden, und außerdem, lautete Herrn Nupkins Erkenntnis, den Frieden gegen seiner Majestät Untertanen und namentlich gegen seinen Gerichtsdiener Daniel Grummer beschwören. Von Pickwick und Tupman hatte er bereits die Bürgschaft gefordert.

Kaum hatte der Beamte zu sprechen aufgehört, als Herr Pickwick mit einem Lächeln, das sich über sein wieder aufgeheitertes Gesicht verbreitete, einige Schritte vortrat und sagte:

»Ich bitte den Bürgermeister um Verzeihung, aber darf ich die Erlaubnis nachsuchen, Sie in einer für Sie selbst sehr wichtigen Angelegenheit fünf Minuten lang insgeheim zu sprechen?«

»Was?« fragte der Beamte.

Herr Pickwick wiederholte sein Gesuch.

»Das ist eine sehr außerordentliche Bitte«, sagte der Beamte – »eine geheime Unterredung?«

»Eine geheime Unterredung«, wiederholte Herr Pickwick mit festem Tone: »nur wünschte ich, daß mein Diener dabei gegenwärtig wäre, insofern ich die Mitteilung, die ich Ihnen zu machen habe, zum Teil ihm verdanke.«

Der Beamte sah voll Erstaunen auf Herrn Jinks, Herr Jinks auf den Beamten, und die Gerichtsdiener auf einander. Herr Nupkins erbleichte plötzlich. Konnte Weller in einer Anwandlung von Gewissensbissen irgendeine heimliche Verschwörung gegen sein Leben entdeckt haben? Es war ein furchtbarer Gedanke. Er war ein Staatsbeamter, und er wurde blasser, als er an Julius Cäsar und Herrn Perceval dachte.

Der Beamte sah wieder auf Herrn Pickwick und winkte Herrn Jinks.

»Was halten Sie von diesem Gesuch, Herr Jinks?« flüsterte Herr Nupkins.

Herr Jinks, der nicht genau wußte, was er davon halten sollte und anzustoßen fürchtete, lächelte bedenklich und schüttelte langsam den Kopf, während er seine Mundwinkel hinaufzog.

»Herr Jinks«, sagte der Beamte mit strengem Tone. »Sie sind ein Esel, Sir.«

Als er diese lakonische Ansicht ausgesprochen hatte, lächelte Herr Jinks wieder – doch etwas weniger als zuvor – und zog sich allgemach in seinen Winkel zurück.

Herr Nupkins ging einige Minuten mit sich selbst zu Rate, erhob sich dann von seinem Stuhl, bedeutete Herrn Pickwick und Sam Weller, ihm zu folgen, trat in ein kleines Zimmer, das an die Amtsstube stieß, ersuchte hierauf Herrn Pickwick, sich bei der gegenüberliegenden Wand des Gemaches aufzustellen. Dann erklärte er sich bereit, die Mitteilungen, welcher Art sie auch sein möchten, anzuhören, wobei er die Hand an der halbgeschlossenen Tür hatte, um sogleich entrinnen zu können, im Falle die Herren nur die geringste Miene machen sollten, Feindseligkeiten zu beginnen.

»Ich will sofort zur Sache kommen, Sir«, begann Herr Pickwick; »es betrifft Sie und Ihre Ehre wesentlich. Ich habe allen Grund zu der Vermutung, Sir, daß Sie einem groben Betrüger in Ihrem Hause Ein- und Ausgang gestatten.«

»Zwei«, unterbrach ihn Sam, »das maulbeerfarbene Untier steckt voll Tränen und Schurkerei.«

»Sam«, fiel Herr Pickwick ein; »wenn ich mich diesem Herrn verständlich machen soll, so muß ich dich bitten, deinen Gefühlen Einhalt zu tun.«

»Tut mir sehr leid, Sir«, versetzte Herr Weller; »aber wenn ich bedenke, was der Hiob für ein Kerl ist, so kann ich mir nicht helfen; ich muß die Klappe einen oder zwei Zoll weit aufmachen.«

»Mit einem Wort, Sir«, sagte Herr Pickwick, »ist mein Diener recht daran, wenn er vermutet, daß ein gewisser Kapitän Fitz-Marshall hier aus- und eingeht? – Denn«, fügte Herr Pickwick hinzu, als er sah, daß Herr Nupkins im Begriff stand, ihn zornig zu unterbrechen – »denn wenn er recht hat, so kenne ich diese Person als einen –«

»Pst, pst«, fiel Herr Nupkins, die Tür schließend, ein. »Sie kennen ihn – als was?«

»Als einen nichtswürdigen Abenteurer – einen ehrlosen Halunken – einen Mann, der die Gesellschaft plündert und die Leute mit seinen Schurkereien, seinen albernen, dummen, erbärmlichen Schurkereien hinters Licht führt«, rief der aufgeregte Herr Pickwick,

»Ach Gott«, seufzte Herr Nupkins, tief errötend und plötzlich sein ganzes Benehmen ändernd. »Ach Gott, Herr –«

»Pickwick«, ergänzte Sam.

»Pickwick«, sagte der Beamte, »ach Gott, Herr Pickwick – bitte, nehmen Sie Platz – das kann nicht Ihr Ernst sein. Kapitän Fitz-Marshall?«

»Nennen Sie ihn nicht Kapitän«, fiel Sam ein, »auch nicht Fitz-Marshall: er ist weder das eine noch das andere. Er ist ein herumziehender Komödiant, weiter nichts. Sein Name ist Jingle: und wenn es je einen Wolf in maulbeerfarbener Haut gab, so ist es Hiob Trotter.«

»Es ist reine Wahrheit, Sir«, sagte Herr Pickwick, als ihn der Beamte voll Bestürzung anstarrte. »Ich habe in dieser Stadt nichts anderes zu tun, als die Person, von der wir sprechen, zu entlarven.«

Und Herr Pickwick begann dem schreckensbleichen Herrn Nupkins einen kurzen Abriß von Herrn Jingle zu geben. Er erzählte, wie er ihn zuerst kennengelernt, wie er Fräulein Wardle entführt, wie er die Dame gegen ein Lösegeld gerne wieder freigegeben, wie er ihn um Mitternacht in eine Mädchenschule gelockt, und wie er (Herr Pickwick) es jetzt für seine Pflicht halte, seine Ansprüche auf seinen Stand und Namen in ihrer Nichtigkeit darzustellen. Während dieser Erzählung stieg alles warme Blut, das in Herrn Nupkins‘ Adern kreiste, bis in die äußersten Spitzen seiner Ohren. Er hatte den Kapitän bei einem Pferderennen in der Nachbarschaft zufälligerweise getroffen. Entzückt durch seine lange Liste aristokratischer Bekanntschaften, seine ausgedehnten Reisen und sein fashionables Benehmen, hatten Frau Nupkins und Fräulein Nupkins Herrn Kapitän Fitz- Marshall und wieder Kapitän Fitz-Marshall und Kapitän Fitz- Marshall hinten und vorn bei allen Matadoren ihrer auserlesenen Gesellschaft eingeführt, bis endlich ihre Busenfreundinnen, Frau Porkenham und das Fräulein Porkenham und deren Bruder, Herr Sidney Porkenham, vor Eifersucht und Verzweiflung beinahe platzten. Und nun, nach all diesem hören zu müssen, er sei ein elender Abenteurer, ein herumziehender Komödiant und, wo nicht ein Betrüger, doch wenigstens ein Mann, der einem solchen so ähnlich sah, daß es schwer hielt, einen Unterschied zu entdecken. Himmel! was würden die Porkenham sagen? Wie würde Herr Sidney Porkenham triumphieren, wenn er erführe, daß man ihn um eines solchen Nebenbuhlers willen hintangesetzt? Wie konnte er bei der nächsten Quartalsitzung dem alten Porkenham unter die Augen treten, und wenn die Geschichte bekannt wurde, wie hätte er dadurch der Opposition der herrschenden Partei das Messer selbst in die Hand gegeben?«

»Aber bei alledem«, sagte Herr Nupkins, dessen Gesicht sich nach einem langen Stillschweigen wieder für einen Augenblick aufheiterte: »bei alledem ist das eine bloße Behauptung. Fitz-Marshall ist ein sehr einnehmender Mann – und hat ohne Zweifel viele Feinde. Welche Beweise haben Sie für die Wahrheit Ihrer Angaben?«

»Stellen Sie ihn mir gegenüber«, erwiderte Herr Pickwick: »das ist alles, was ich verlange und alles, was ich mir ausbitte. Stellen Sie ihn mir und meinen Freunden gegenüber, so werden Sie keiner weiteren Beweise bedürfen.«

»Nun«, versetzte Herr Nupkins, »das läßt sich sehr leicht bewerkstelligen, denn er wird diesen Abend hier sein, und dann würde zugleich das Aufsehen vermieden. Es wäre mir bloß – bloß – um den jungen Mann selbst, Sie verstehen mich. Ich – ich möchte aber doch vorerst Madame Nupkins über das Geeignete eines solchen Schrittes um Rat fragen. Auf alle Fälle, Herr Pickwick, müssen wir unser Amtsgeschäft ins reine bringen, ehe wir an etwas anderes gehen können. Haben Sie die Güte, wieder in das andere Zimmer zu treten.«

Sie kehrten in das Amtszimmer zurück.

»Grummer«, rief der Beamte mit feierlichem Tone.

»Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer mit dem Lächeln eines Günstlings.

»Gehen Sie«, sagte der Beamte streng, »und nehmen Sie sich in acht, daß Sie sich künftig nicht mehr übereilen. Es geziemt Ihnen gar nicht, und ich kann Sie versichern, Sie haben sehr wenig Ursache, darüber zu lächeln. War der Bericht, den Sie mir soeben erstattet, durchaus der Wahrheit getreu? Besinnen Sie sich wohl, Mensch.«

»Ihr Gestrengen«, stotterte Grummer, »ich –«

»Ah, Sie kommen in Verwirrung – nicht wahr?« sagte der Beamte. »Herr Jinks, bemerken Sie seine Verwirrung?«

»Jawohl, Sir«, erwiderte Jinks.

»Wiederholen Sie jetzt Ihre Aussagen, Grummer«, sagte der Beamte; »und noch einmal warne ich Sie, besinnen Sie sich wohl. – Herr Jinks, nehmen Sie seine Angaben zu Protokoll.«

Der unglückliche Grummer begann also seinen Bericht aufs neue: allein die Art und Weise, wie Herr Jinks seine Worte zu Protokoll und der Beamte sie auf die Wagschale legte, verbunden mit seinem natürlichen Hang zu Weitschweifigkeiten und seiner außerordentlichen Verwirrung, verwickelte ihn in einem Zeitraum von weniger als drei Minuten in eine solche Menge von Widersprüchen, daß Herr Nupkins auf einmal erklärte, er könne ihm keinen Glauben schenken. Die Strafen wurden also erlassen, und Herr Jinks wußte im Augenblick ein paar Bürgen. Als nun die ganze feierliche Gerichtsverhandlung zur allgemeinen Zufriedenheit geschlossen war, wurde Herr Grummer schimpflich hinausgewiesen – ein furchtbarer Beweis der Unbeständigkeit menschlicher Größe und der unsicheren Stellung eines Günstlings der Großen. –

Frau Nupkins war eine majestätische Person in einem blauen Gazeturban und lichtbraunen falschen Haaren. Fräulein Nupkins besaß alles Hochfahrende ihrer Mama, außer dem Turban, und alles Falsche dieser, außer den Haaren. Wenn die Ausübung dieser liebenswürdigen Eigenschaft Mutter und Tochter, wie es nicht selten der Fall war, in eine unangenehme Lage versetzte, so kamen beide darin überein, die Schuld auf Herrn Nupkins‘ Schultern zu legen. Als daher Herr Nupkins Frau Nupkins aufsuchte und ihr verriet, was Herr Pickwick ihm anvertraut hatte, erinnerte sich Frau Nupkins plötzlich, daß sie immer so etwas der Art erwartet, daß sie immer gesagt, dahin würde es noch kommen; daß man nie auf ihren Rat geachtet, daß sie wirklich gar nicht wisse, wofür Herr Nupkins sie halte, und so weiter.

»Der Gedanke«, sagte Fräulein Nupkins, aus jedem Augenwinkel eine Träne von kaum bemerkbaren Dimensionen hervorpressend: »der Gedanke, so zum besten gehalten worden zu sein –«

»Dafür kannst du dich bei deinem Papa bedanken«, fiel Frau Nupkins ein. »Wie habe ich den Mann gebeten und beschworen, sich nach des Kapitäns Familienverhältnissen zu erkundigen: wie bin ich in ihn gedrungen, einen entscheidenden Schritt zu tun! Ich weiß gewiß, niemand wird mir’s glauben – niemand.«

»Aber meine Liebe«, sagte Herr Nupkins.

»Entschuldige dich nicht, du machst die Sache nur schlimmer: entschuldige dich nicht«, fiel Frau Nupkins ein.

»Meine Liebe«, begann Herr Nupkins aufs neue, »du hast doch selbst Kapitän Fitz-Marshall so sehr begünstigt; hast ihn beständig zu uns eingeladen, meine Liebe, und hast keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ihn auch in andere Gesellschaften einzuführen.«

»Hab ich es nicht gesagt, Henriette?« entgegnete Frau Nupkins, sich mit der Miene des schwer beleidigten Weibes an ihre Tochter wendend: hab‘ ich es nicht gesagt, dein Papa werde es umdrehen und alles mir aufbürden? Hab‘ ich es nicht gesagt?«

Hier schluchzte Frau Nupkins.

»Ach, Papa!« rief Fräulein Nupkins und schluchzte ebenfalls.

»Ist es nicht himmelschreiend? Nachdem er alle diese Schmach über uns gebracht und uns lächerlich gemacht hat, treibt er noch seinen Spott mit mir und sagt, ich sei schuld daran!« rief Frau Nupkins.

»Wie können wir uns je wieder in Gesellschaft blicken lassen?« sagte Fräulein Nupkins.

»Wie können wir den Porkenhams unter die Augen treten?« fragte Frau Nupkins.

»Oder den Grigs?« sagte Fräulein Nupkins.

»Oder den Slummintowkens?« fragte Frau Nupkins. »Doch was kümmert das deinen Papa? Was gilt das ihm?«

Bei diesem furchtbaren Gedanken weinte Frau Nupkins so heftig, wie man nur im tiefsten Seelenschmerz weinen kann, und Fräulein Nupkins folgte ihrem Beispiele.

Frau Nupkins Tränen fuhren fort, mit großer Geschwindigkeit zu fließen, bis sie ein wenig Zeit gewonnen hatte, die Sache zu überdenken. Darauf fiel dann ihre Entscheidung dahin aus, es werde das beste sein, wenn man Herrn Pickwick und seine Freunde bis zur Ankunft des Kapitäns zu bleiben bäte, um Herrn Pickwick die gewünschte Gelegenheit zu verschaffen. Würden sich dann seine Angaben als wahr herausstellen, so könnte der Kapitän ohne weiteres Aufsehen aus dem Hause gewiesen und den Porkenhams leicht vorgespielt werden, er sei durch den Einfluß seiner Familie bei Hof zum Generalgouverneur von der Teufelsinsel oder vom Pfefferland oder irgendeiner andern Kolonie in jenen gesunden Himmelsstrichen ernannt worden, die die Europäer so sehr bezaubern, daß sie, wenn sie einmal dort sind, nicht mehr leicht zur Rückkehr bestimmt werden können.

Als Frau Nupkins ihre Tränen trocknete, trocknete auch Fräulein Nupkins die ihren, und Herr Nupkins war äußerst froh, daß die Sache so abgemacht wurde, wie Frau Nupkins vorgeschlagen hatte. Also wurde Herr Pickwick mit seinen Freunden, nachdem sie sich zuvor von allen Spuren ihres letzten Erlebnisses rein gewaschen hatten, den Damen vorgestellt und bald darauf in einen Speisesaal geführt. Herr Weller, in dem der Beamte vermöge des ihm eigenen Scharfblicks binnen einer halben Stunde einen der feinsten Burschen von der Welt entdeckt hatte, wurde der Sorgfalt und Pflege Herrn Muzzles empfohlen, dem besonders eingeschärft wurde, Weller mit sich herunter zu nehmen und mit der gehörigen Achtung zu behandeln.

»Wie geht es Ihnen, Sir?« fragte Herr Muzzle, als er Herrn Weller die Küchentreppe hinunterführte.

»Nun, es hat seit der kurzen Zeit, daß ich Sie in der Amtsstube hinter dem Stuhle Ihres Herrn aufgepflanzt sah, keine große Veränderung in meinen inneren Zuständen stattgefunden«, versetzte Sam.

»Sie werden mich entschuldigen, daß ich Ihnen damals so wenig Aufmerksamkeit erwiesen«, bemerkte Herr Muzzle. »Sie wissen, mein Herr hatte Sie mir noch nicht vorgestellt. Himmel, wie er jetzt so große Stücke auf Sie hält, Herr Weller! Sie dürfen dessen versichert sein!«

»Ach, was er für ein artiger Herr ist!« sagte Sam.

»Nicht wahr?« erwiderte Muzzle.

»Soviel Humor«, meinte Sam.

»Und ein so beredter Mann«, sagte Muzzle, »seine Gedanken fließen – nicht wahr?«

»Wundervoll«, versetzte Sam; »sie stürzen heraus und stoßen die Köpfe so hart aneinander, daß sie sich ganz verwirrt machen; man weiß oft kaum, was er damit will – nicht wahr?«

»Das ist eben die große Kunst, die in seinem Vortrage liegt«, bemerkte Herr Muzzle. »Geben Sie acht, hier kommt die letzte Stufe, Herr Weller. Wollen Sie sich nicht die Hände waschen, Sir, ehe wir zu den Damen gehen? Hier ist ein Becken mit Wasser, Sir, und hinter der Tür ein reines Handtuch.«

»Es könnte nicht schaden, wenn ich mich etwas säuberte«, erwiderte Herr Weller, das Handtuch dick mit Seife überschmierend und das Gesicht reibend, bis es wieder schimmerte. »Wie viele Damen sind hier?«

»Nur zwei sind in unserer Küche«, antwortete Herr Muzzle, »eine Köchin und ein Stubenmädchen. Wir halten einen Jungen für die gewöhnlichen Arbeiten, und außerdem noch ein Laufmädchen; aber sie essen im Waschhause.«

»Ah, sie essen im Waschhause – wirklich?« fragte Herr Weller.

»Ja«, versetzte Herr Muzzle: »wir versuchten es anfangs, sie an unsere Tafel zu ziehen, aber es ging nicht. Das Laufmädchen hat so furchtbar ungebildete Manieren und der Junge schnauft so schrecklich, wenn er ißt, daß wir es unmöglich fanden, mit ihnen bei Tisch zu sitzen.«

»Etwa wie ein junger Haifisch?« bemerkte Herr Weller. »O, fürchterlich«, erwiderte Herr Muzzle. »Das ist das schlimmste an einem Dienst auf dem Lande, Herr Weller: die jüngeren sind immer so außerordentlich roh. Bitte wollen Sie gefälligst hierher sich bemühen, Sir, hierher.«

So ging er Herrn Weller mit der größten Höflichkeit voran und führte ihn in die Küche.

»Marie«, sagte Herr Muzzle zu dem hübschen Stubenmädchen: »dies ist Herr Weller, ein Gentleman, den der Herr herunterschickt und unserer Fürsorge für seine Unterhaltung aufs beste empfiehlt.«

»Und Ihr Herr ist ein Kenner – und hat mich gerade an den rechten Platz geschickt«, bemerkte Herr Weller, indem er Marie mit einem Blick der Bewunderung betrachtete. »Wenn ich Herr im Hause wäre, Stoff zur Unterhaltung würde ich überall finden, wo Marie ist.«

»Bitte, Herr Weller«, sagte Marie errötend.

»Schön, von mir will niemand was«, rief die Köchin aus.

»Beim Himmel, ich habe nicht an Sie gedacht, Köchin«, sagte Herr Muzzle. »Erlauben Sie mir, Herr Weller, Sie vorzustellen.«

»Wie geht es Ihnen, Madame?« fragte Herr Weller. »Freut mich unendlich, Ihre Bekanntschaft zu machen, und ich hoffe, sie soll von langer Dauer sein, wie der Kavalier zu der Fünfpfundnote sagte.«

Als diese Vorstellungszeremonie vorüber war, zogen sich die Köchin und Marie an das Ende der Küche zurück, um zehn Minuten lang zu kichern, und kamen dann mit hochroten, lachenden Gesichtern wieder zur Gesellschaft, die sich sofort zu Tisch setzte.

Herrn Wellers Gewandtheit und Unterhaltungsgabe äußerten einen so unwiderstehlichen Einfluß auf seine neuen Freunde, daß sie, noch ehe das Mittagessen halb vorüber war, bereits auf dem vertrautesten Fuße mit ihm standen und in die Schurkenstreiche Hiob Trotters völlig eingeweiht waren.

»Ich konnte diesen Hiob nie ausstehen«, sagte Marie.

»Das war auch nicht wohl anders möglich, mein Schätzchen«, versetzte Herr Weller.

»Warum nicht?« fragte Marie.

»Weil sich Häßlichkeit und Schurkerei nie mit Schönheit und Tugend verschwistern können«, antwortete Herr Weller. »Nicht wahr, Herr Muzzle?«

»Sie haben ganz recht«, sagte dieser.

Hier lachte Marie und sagte, die Köchin habe sie zum Lachen gebracht, und die Köchin lachte und sagte, es sei nicht wahr.

»Ich habe kein Glas«, sagte Marie. ,

»Trinken Sie mit mir, meine Teuerste«, sagte Herr Weller; »setzen Sie Ihre Lippen an meinen Becher, so kann ich Sie durch Vermittlung küssen.«

»Schämen Sie sich, Herr Weller«, meinte Marie.

»Warum schämen, meine Teuerste?«

»Daß Sie so reden.«

»Pah; es ist ja nichts Arges. Es ist etwas Natürliches; nicht wahr, Jungfer Köchin?«

»Fragen Sie mich nicht so närrisch«, erwiderte die Köchin in der besten Laune. Darauf lachten die Köchin und Marie wieder solange, bis die letztgenannte Dame vom Bier, von der kalten Küche und dem Gelächter so angegriffen wurde, daß sie beinahe erstickte – eine gefährliche Krisis, die sie nur überstand mit Hilfe mehrerer Schläge auf den Rücken und anderer erforderlicher Aufmerksamkeiten, die ihr auf die zarteste Weise von Herrn Samuel Weller erwiesen wurden.

Diese laute Fröhlichkeit wurde plötzlich durch starkes Läuten am Gartentor unterbrochen, worauf der junge Herr, der seine Mahlzeit im Waschhause hielt, alsbald öffnete. Herr Weller widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem hübschen Stubenmädchen. Herr Muzzle war durch das Servieren in Anspruch genommen, und die Köchin hatte eben zu lachen aufgehört und führte gerade ein beträchtliches Stück Fleisch nach ihren Lippen, als die Küchentür aufging und Herr Hiob Trotter hereintrat.

Wir haben gesagt, daß Herr Hiob Trotter hereintrat, aber diese Behauptung kann auf die gewöhnliche Gewissenhaftigkeit der Geschichtsschreiber keinen Anspruch machen. Die Tür ging auf, und Herr Trotter erschien. Er wäre hereingetreten, und war wirklich im Begriff, hereinzutreten, als er beim Anblick des Herrn Weller unwillkürlich ein paar Schritte zurückbebte und vor Bestürzung und Schrecken die unerwartete Szene völlig regungslos anstarrte.

»Da ist er«, sagte Sam, vergnügt aufstehend. »Wir sprachen soeben von Ihnen. Wie geht es Ihnen? Wo haben Sie sich befunden? Treten Sie ein.«

Und seine Hand auf den maulbeerfarbenen Kragen des widerstandslosen Hiob legend, zog ihn Herr Weller in die Küche, schloß die Tür ab und händigte den Schlüssel Herrn Muzzle ein, der ihn ganz kaltblütig in seine Seitentasche steckte.

»Das ist höchst lustig«, rief Sam. »Denken Sie nur, mein Herr hat das Vergnügen, den Ihren oben zu sehen, und ich habe die Freude, Sie hier unten zu begrüßen. Wie steht es mit Ihnen und wie steht es mit dem Kramladen? Nun, es freut mich sehr, Sie zu treffen. Wie gut Sie aussehen! Es ist eine wahre Lust, Sie zu betrachten – nicht wahr, Herr Muzzle?«

»Gewiß«, meinte Herr Muzzle.

»Er ist so zutraulich«, bemerkte Sam.

»So aufgeräumt«, bestätigte Muzzle.

»Und so glücklich, uns zu sehen – das macht ihn so heiter«, sagte Sam. »Setzen Sie sich: setzen Sie sich.«

Herr Trotter ließ sich in einen Stuhl zwängen, der am Feuer stand, richtete seine Äuglein zuerst auf Herrn Weller, dann auf Herrn Muzzle und sagte nichts.

»Nun hätte ich Lust«, sagte Sam, »Sie aus einer Art von Neugierde in Gegenwart dieser Damen zu fragen, ob Sie sich nicht für einen so hübschen und artigen jungen Ehrenmann halten, wie nur je einer ein rotgewürfeltes Taschentuch und Nummer vier der geistlichen Liedersammlung bei sich trug.«

»Und wie nur je einer im Begriff war, sich mit einer Köchin zu verheiraten«, fügte die Dame unwillkürlich hinzu. »Der Schurke!«

»Ha, ha; sich von seinen bösen Wegen bekehren und dann einen Kramladen errichten!« sagte das Stubenmädchen.

»Jetzt will ich Euch was sagen, junger Mann«, begann Herr Muzzle, den die beiden letzteren Anspielungen in Wut versetzten, mit strengem Tone; »mit dieser Dame (auf die Köchin deutend) gedenke ich eine Verbindung fürs Leben zu schließen; und wenn Sie sich erdreisten, davon zu sprechen, Sie wollten mit ihr eine Verbindung zu einem Kramladen eingehen, so beleidigen Sie mich in einem der empfindlichsten Punkte, worin nur ein Mann den andern beleidigen kann. Verstehen Sie das, Sir?«

Hier schwieg Herr Muzzle, der einen großen Begriff von seiner Beredsamkeit hatte; denn er ahmte darin seinem Herrn nach, und wartete auf Antwort. ,

Aber Herr Trotter gab keine Antwort. Und so fuhr denn Herr Muzzle in strengem Ton fort:

»Es ist sehr wahrscheinlich, Sir, daß man Sie oben für einige Minuten nötig haben wird, Sir; denn mein Herr ist in diesem Augenblick damit beschäftigt, mit Ihrem Herrn, Sir, ein Hühnchen zu rupfen. Darum haben Sie einstweilen Muße, mit mir eine kleine Privatunterredung zu haben, Sir. Verstehen Sie das, Sir?«

Herr Muzzle wartete wieder auf Antwort, aber Herr Trotter täuschte abermals seine Erwartung.

»Nun denn«, sagte Herr Muzzle, »es tut mir sehr leid, mich in Gegenwart der Damen erklären zu müssen; aber das Dringende des Falls wird mich entschuldigen. Das anstoßende Gemach ist leer, Sir, wenn Sie dort hineintreten wollen, Sir; und Herr Weller wird nichts dagegen haben, und wir können unsere Sache dann ausfechten, bis die Glocke ertönt. Folgen Sie mir, Sir.«

Während Herr Muzzle also sprach, ging er ein paar Schritte der Tür zu, und um Zeit zu ersparen, zog er während des Gehens seinen Rock aus.

Kaum hatte die Köchin die letzten Worte dieser furchtbaren Herausforderung gehört, und gesehen, wie Herr Muzzle im Begriff war, sie zur Ausführung zu bringen, als sie einen lauten, durchdringenden Schrei ausstieß und auf Herrn Hiob Trotter losstürzte. Dieser war eben von seinem Stuhl aufgestanden, und nun zerkratzte und zerschlug sie ihm sein breites, plattes Gesicht mit jener Energie, die aufgeregten Damen eigentümlich ist. Sie fuhr ihm mit den Händen in sein langes, schwarzes Haar und riß ihm soviel davon aus, daß man fünf bis sechs Dutzend der größten Trauerringe 1 hätte daraus flechten können. Als sie dieses Bravourstück mit all jener Begeisterung vollbracht hatte, die ihr die feurige Liebe zu Herrn Muzzle einflößte, taumelte sie zurück, und da sie eine Dame von sehr erregbaren und feinen Gefühlen war, so fiel sie augenblicklich ohnmächtig unter den Tisch.

In diesem Augenblick ertönte die Glocke.

»Das gilt Ihnen, Hiob Trotter«, sagte Sam; und bevor Herr Trotter etwas antworten konnte – ja sogar bevor Herr Trotter Zeit hatte, die Wunden zu verstopfen, die ihm die besinnungslose Dame beigebracht – nahm ihn Sam an einem und Herr Muzzle an dem andern Arm, und indem ihn der eine vorn zog und der andere hinten schob, brachten sie ihn die Treppe hinauf ins Wohnzimmer.

Ein imposantes Bild entfaltete sich vor ihnen. Alfred Jingle, Esquire, alias Kapitän Fitz-Marshall, stand mit dem Hute in der Hand und einem Lächeln auf seinem trotz seiner höchst unangenehmen Lage völlig ruhigen Gesicht, an der Tür. Ihm gegenüber stand Herr Pickwick, der soeben eine strenge moralische Vorlesung gehalten haben mußte; denn seine linke Hand ruhte auf seiner Hüfte und seine rechte schwebte in der Luft – eine Haltung, die ihm eigen war, wenn er eine nachdrückliche Rede hielt. In einiger Entfernung stand Herr Tupman mit zornigem Gesicht und wurde von seinen beiden jüngeren Freunden sorglich zurückgehalten. Weiter hinten im Zimmer sah man Herrn Nupkins, Frau Nupkins und Fräulein Nupkins, großartig düster und wild empört.

»Was hindert mich«, sagte Herr Nupkins mit der Würde des Herrschers, als Hiob hereingebracht wurde – »was hindert mich, diese Menschen als Landstreicher und Betrüger verhaften zu lassen? Es ist törichte Nachsicht. Was hindert mich?«

»Stolz, alter Kamerad, Stolz«, erwiderte Jingle ganz wohlgemut. »Ließe sich nicht machen – ginge nicht – einen Kapitän ins Garn gelockt, he? – ha! ha! sehr hübsch – einen Mann für die Tochter – saurer Apfel – öffentlich werden – um alle Welt nicht – sehen verblüfft drein, ganz verblüfft.«

»Schändlicher!« rief Frau Nupkins; »wir verachten Ihre gemeinen Anspielungen.«

»Ich habe ihn von jeher gehaßt«, fügte Henriette hinzu.

»Ha, natürlich«, bemerkte Jingle. »Schlanker junger Mann – alter Liebhaber – Sidney Porkenham – reich – seiner Bursche – doch nicht so reich als der Kapitän, he? – Gebt ihm den Abschied – fort mit ihm – alles für den Kapitän – gibt nur einen Kapitän – alle Mädchen – rasend verliebt – he, Hiob he?«

Hier lachte Herr Jingle aus vollem Halse, und Hiob rieb sich die Hände vor Vergnügen und gab den ersten Laut von sich, seit er ins Haus getreten war – ein leises, kaum vernehmliches Kichern, das anzudeuten schien, wie er sich seines Lachens zu sehr freute, um es von sich zu geben.

»Nupkins«, bemerkte die ältere Dame, »unsere Unterhaltung ist nicht dazu geeignet, Dienstboten zu Zeugen zu haben. Schaffe die Schurken fort.«

»Jawohl, meine Liebe«, versetzte Herr Nupkin«. »Muzzle!«

»Ihro Gnaden –«

»Machen Sie die Tür auf.«

»Ja, Ihro Gnaden.«

»Verlassen Sie dieses Haus«, sagte Herr Nupkins, mit nachdrucksvoller Bewegung seiner Hand.

Jingle lächelte und ging auf die Tür zu.

»Halt!« rief Herr Pickwick.

Jingle blieb stehen.

»Ich hätte«, sagte Herr Pickwick, »eine weit empfindlichere Rache für die Behandlung nehmen sollen, die mir von Ihnen und Ihrem heuchlerischen Freunde widerfahren ist.«

Hier macht Hiob Trotter eine sehr höfliche Verbeugung und legte seine Hand aufs Herz.

»Ich wiederhole«, fuhr Herr Pickwick, immer zorniger werdend, fort: »ich hätte eine empfindlichere Rache nehmen sollen, aber ich begnüge mich damit, Sie zu entlarven, und ich glaube, das der Gesellschaft schuldig zu sein. Es ist das eine Nachsicht, Sir, für die Sie hoffentlich ein dankbares Gedächtnis haben werden.«

Als Herr Pickwick soweit gekommen war, hielt Hiob Trottet mit ironischer Würde die Hand ans Ohr, als läge ihm alles daran, ja keine Silbe von Herrn Pickwicks Rede zu verlieren.

»Und ich habe nur noch hinzuzufügen, Sir«, fuhr Herr Pickwick, außer sich vor Zorn, fort, »daß ich Sie für einen Schurken und einen – einen Galgenstrick – und – einen größeren Schandbuben halte, als mir je einer vorgekommen ist, oder als ich je von einem gehört habe, mit Ausnahme des höchst frommen und heiligen Landstreichers in der maulbeerfarbigen Livree.«

»Ha–ha–ha«, lachte Jingle. »Ehrlicher Kerl, Pickwick – gute Seele – wackerer alter Knabe – aber müssen nicht leidenschaftlich werden – bös‘ Ding das, sehr bös‘ – nun, nun – sehen uns wohl wieder – nur den Mut nicht sinken lassen – jetzt Hiob – komm.«

Mit diesen Worten setzte Herr Jingle den Hut in seiner gewohnten Weise auf und schritt aus dem Zimmer. Hiob Trotter blieb stehen, sah sich ringsum, lächelte, machte gegen Herrn Pickwick eine spöttisch-feierliche Verbeugung, warf Herrn Weller einen Blick zu, dessen freche Pfiffigkeit jeder Beschreibung spottet, und folgte den Fußtapfen seines hoffnungsvollen Herrn.

»Sam!« rief Herr Pickwick, als Herr Weller ihm nacheilte.

»Sir.«

»Bleib!«

Herr Weller schien unschlüssig.

»Bleib«, wiederholte Herr Pickwick.

»Darf ich diesen Hiob nicht im Garten noch etwas ausstäuben?« fragte Herr Weller.

»Nein«, erwiderte Herr Pickwick.

»Darf ich ihm nicht am Gartentor noch einen Fußtritt geben, Sir?« fragte Herr Weller.

»Nein, unter keinen Umständen«, entgegnete sein Herr.

Zum ersten Male seit seiner Anstellung sah Herr Weller für einen Augenblick mißvergnügt und unglücklich aus. Aber bald klärte sich sein Gesicht auf, denn der schlaue Herr Muzzle, der sich hinter die Haustür versteckt hatte, brach gerade im rechten Moment hervor und hatte das Glück, durch seine außerordentliche Gewandtheit Herrn Jingle und seinen Adjutanten kopfüber die Treppe hinab in die Töpfe zu werfen, worin die amerikanischen Aloen standen.

»Nachdem ich meine Pflicht erfüllt habe, Sir«, sagte Herr Pickwick zu Herrn Nupkins, »will ich mich jetzt mit meinen Freunden von Ihnen verabschieden. Wir danken Ihnen für die uns erwiesene Gastfreundschaft. Erlauben Sie mir, Sie in unser aller Namen zu versichern, daß wir diese nie in Anspruch genommen, noch uns auf eine solche Weise aus unserer früheren Verlegenheit gezogen hätten, wären wir nicht durch ein strenges Pflichtgefühl dazu bestimmt worden. Wir kehren morgen nach London zurück. Ihr Geheimnis ist sicher bei uns aufgehoben.«

Das war der Entgelt, mit dem Herr Pickwick gegen die Behandlung protestierte, die ihnen am Morgen widerfahren war. Er machte den Damen eine tiefe Verbeugung und verließ, ungeachtet der dringenden Einladung der Familie, mit seinen Freunden das Zimmer.

»Nimm deinen Hut, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Er ist unten, Sir«, erwiderte Sam, und eilte hinunter, um ihn zu holen.

Nun war aber niemand in der Küche als das hübsche Stubenmädchen, und da Sams Hut verlegt war, so mußte er ihn suchen, und das hübsche Stubenmädchen leuchtete ihm. Sie mußten die ganze Küche durchsuchen, und das hübsche Stubenmädchen ließ sich in ihrer Besorgnis um den Hut auf ein Knie nieder und durchstöberte alles, was in dem kleinen Winkel hinter der Tür aufgehäuft lag. Es war ein unbequemer Winkel, man konnte nicht hinkommen, ohne vorher die Tür zu schließen.

»Hier ist er«, rief das hübsche Stubenmädchen: »das ist er, nicht wahr?«

»Zeigen Sie«, sagte Sam.

Das hübsche Stubenmädchen hatte das Licht auf den Boden gestellt, und da es nur einen matten Schein von sich warf, war Sam genötigt, sich ebenfalls auf die Knie niederzulassen, um zu sehen, ob es wirklich sein Hut war oder nicht. Der Winkel war außerordentlich eng, und deswegen – es trug niemand anders die Schuld, als der Mann, der das Haus gebaut hatte – kamen Sam und das hübsche Stubenmädchen notwendig sehr nahe zusammen.

»Ja, da« ist er«, sagte Sam. »Leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl«, antwortete das hübsche Stubenmädchen.

»Leben Sie wohl«, sagte Sam: und als er das sagte, ließ er den Hut fallen, dessen Auffindung so viele Mühe gekostet hatte.

»Wie ungeschickt Sie sind«, rief das hübsche Stubenmädchen aus. »Sie werden ihn wieder verlieren, wenn Sie nicht besser acht geben.«

Und um dem vorzubeugen, setzte sie ihm selber den Hut auf den Kopf.

Ob nun das Gesicht des hübschen Stubenmädchens noch hübscher aussah, als es dem Gesichte Sams zugekehrt war, oder ob es eine zufällige Folge des Umstandes war, daß sie einander so nahe waren, das ist eine Frage, die bis auf diesen Tag noch nicht entschieden ist – kurz, Sam küßte sie.

»Sie haben das doch nicht absichtlich getan?« fragte das hübsche Stubenmädchen errötend.

»Nein«, antwortete Sam, »aber jetzt will ich es absichtlich tun.«

Somit küßte er sie wieder.

»Sam!« rief Herr Pickwick von der Treppe her.

»Ich komme, Sir«, erwiderte Sam, hinaufeilend.

»Wo bist du solange gewesen?« fragte Herr Pickwick.

»Es lag etwas hinter der Tür, Sir; darum konnten wir sie solange nicht aufmachen«, antwortete Sam.

Und das war der erste Akt von Herrn Wellers erster Liebe.

  1. Eine längst aus der Mode gekommene Liebhaberei, aus Menschenhaar künstliche Blumen, Schleifen und Schmucksachen, wie auch Trauerhalsketten und Trauerringe zu flechten.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Das eine kurze Erzählung von dem weitern Verlauf des Prozesses zwischen Bardell und Pickwick enthält.

Da Herr Pickwick durch Jingles Entlarvung den Hauptzweck seiner Reise erreicht hatte, so beschloß er, alsbald nach London zurückzukehren, um sich mit den Maßregeln bekannt zu machen, die die Herren Dodson und Fogg während dieser Zeit ergriffen haben mochten. Diesen Entschluß mit der ganzen Kraft und Entschiedenheit seines Charakters verfolgend, stieg er am Morgen nach den merkwürdigen Ereignissen, die wir in den beiden vorhergehenden Kapiteln der Länge nach erzählt haben, auf den Rücksitz der ersten Kutsche, die Ipswich verließ, und langte mit seinen drei Freunden und Herrn Samuel Weller am selben Abend glücklich und wohlbehalten in der Hauptstadt an.

Hier trennten sich die Freunde auf kurze Zeit. Die Herren Tupman, Snodgraß und Winkle zogen sich in ihre verschiedenen Wohnungen zurück, um die Vorbereitungen zu treffen, die ihr bevorstehender Besuch zu Dingley Dell erforderte, und Herr Pickwick und Sam schlugen ihr einstweiliges üuartier in einem sehr guten, altmodischen und bequemen Gasthofe, nämlich bei »Georg und Geier«, Gast- und Kaffeehaus, George Jard, Lombard-8treet, auf.

Herr Pickwick hatte gespeist, seine zweite Flasche extra guten Portweins geleert, sein seidenes Taschentuch über den Kopf gezogen, seine Füße gegen das Kamingitter gestellt und sich in einen bequemen Armstuhl zurückgelehnt, als ihn der Eintritt des Herrn Weller mit seinem Mantelsack aus seinen stillen Betrachtungen weckte.

»Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Sir«, antwortete Herr Weller.

»Ich habe soeben daran gedacht«, sagte Herr Pickwick, »daß ich bei Frau Bardell in der Goswellstraße noch viele von meinen Sachen liegen habe, die ich gern holen lassen möchte, ehe ich die Stadt wieder verlasse.«

»Ganz recht, Sir«, versetzte Herr Weller.

»Ich könnte sie zwar für den Augenblick bei Herrn Tupman unterbringen«, fuhr Herr Pickwick fort, »aber bevor wir sie dort hinholen, müssen sie notwendig durchgemustert und zusammengepackt werden. Ich wünsche daher, daß du in die Goswellstraße gingest und sie in Ordnung brächtest.«

»Sogleich, Sir?« fragte Herr Weller.

»Sogleich«, erwiderte Herr Pickwick.

»Und halt, Sam«, fügte Herr Pickwick hinzu, indem er seine Börse hervorzog. »Wir sind noch mit der Hausmiete im Rückstand. Die Miete ist zwar erst Weihnachten fällig, aber bezahle sie nur, dann ist die Sache im reinen. Wir haben monatliche Kündigung. Hier ist der Mietvertrag. Gib ihn Frau Bardell und sage ihr, sie könne die Wohnung abgeben, wann es ihr beliebe.«

»Ganz recht, Sir«, versetzte Herr Weller.

»Haben Sie sonst noch etwas zu befehlen, Sir?«

»Nein, Sam.«

Herr Weller ging langsam nach der Tür, als warte er noch auf etwas, öffnete sie langsam, trat langsam hinaus und zog sie langsam bis auf ein paar Zoll zu, als ihm Herr Pickwick nachrief –

»Sam!«

»Hier, Sir«, erwiderte Herr Weiler, eiligst zurückkehrend und die Tür hinter sich schließend.

»Ich habe nichts dagegen, Sam, wenn du zu erfahren versuchst, wie Frau Bardell gegenwärtig gegen mich gesinnt ist, und ob wohl die niederträchtige, grundlose Klage bis aufs äußerste getrieben werden soll. Ich sage, ich habe nichts dagegen, wenn du das tun willst, sofern dir selbst daran liegt, Sam«, sagte Herr Pickwick.

Sam nickte beifällig mit dem Kopfe und verließ das Zimmer. Herr Pickwick zog das seidene Taschentuch noch weiter über den Kopf herunter und schickte sich zu einem Schläfchen an. Herr Weller ging rasch seines Weges weiter, um seinen Auftrag auszurichten.

Es war nahe an neun Uhr, als er die Goswellstraßc erreichte. Im kleinen Wohnzimmer vorn brannten ein paar Kerzen, und in der Fensterblende schatteten sich ein paar Hauben ab. Frau Bardell hatte Gesellschaft.

Herr Weller pochte an die Tür, und nach ziemlich langer Zeit, währenddessen Sam eine Melodie pfiff und die Hausbesitzerin eine kurze, widerspenstige Kerze zu überreden suchte, sich anzünden zu lassen, klapperten ein paar kleine Stiefel über den Hausflur, und der junge Herr Bardell stand vor dem harrenden Weller.

»Nun, junger Dachs«, sagte Sam, »wie steht’s mit der Frau Mutter?«

»Es geht ihr ganz gut«, erwiderte Master Bardell; »und mir auch.«

»Na, Gott sei Dank«, versetzte Sam; »sag ihr, ich möchte sie gern sprechen, mein Goldkind.«

Also gebeten stellte Master Bardell das Licht unten an die Treppe und verschwand hinter der Tür des Wohnzimmers, um seine Botschaft auszurichten.

Die beiden Hauben, die sich an der Fensterblende abzeichneten, gehörten einigen von Frau Bardells vertrautesten Freundinnen, die soeben gekommen waren, um in Ruhe eine Tasse Tee zu trinken und sich ein paar Ferkelfüßchen mit geröstetem Käse schmecken zu lassen. Der Käse schmorte auf eine höchst einladende Weise in einem kleinen holländischen Backofen vor dem Feuer, und die Ferkelfüßchen schwammen ganz köstlich in einem zinnernen Topf. Frau Bardell und ihre beiden Freundinnen schwammen ebenfalls ganz köstlich in einer ruhigen Unterhaltung, die sich mit allen ihren vertrauten Bekannten und Freundinnen befaßte. Da kam Master Bardell von der Haustür zurück und richtete die Botschaft aus, die ihm Herr Samuel Weller anvertraut hatte.

»Herrn Pickwicks Diener?« rief Frau Bardell erblassend.

»Gott steh uns bei!« sagte Frau Cluppins.

»Wahrlich, das hätte ich nicht geglaubt, wenn ich nicht zufälligerweise selbst hier wäre«, rief Frau Sanders.

Frau Cluppins war eine kleine, rührige, geschäftig aussehende Frau, und Frau Sanders eine große, wohlbeleibte Person mit einem Vollmondsgesicht. Und diese beiden bildeten die Gesellschaft.

Frau Bardell hielt es für zweckmäßig, die Aufgeregte zu spielen! und da keine von den dreien genau wußte, ob unter den obwaltenden Umständen Herrn Pickwicks Diener ohne die Vermittlung der Herren Dodson und Fogg eine Mitteilung angenommen werden könne, so waren alle in einiger Bestürzung. In diesem Stande der Unentschiedenheit war das erste, was sie tun zu müssen glaubten, den Knaben dafür zu knuffen, daß er Herrn Weller an der Tür gefunden hatte. Seine Mutter versetzte ihm also verschiedene Püffe, und der Knabe schrie nach Noten.

»Halt dein Maul, du junger Taugenichts«, rief Frau Bardell.

»Ja; plage deine arme Mutter nicht so«, sagte Frau Sanders.

»Sie ist ohnehin schon geplagt genug, Tommy«, fügte Frau Cluppins mit teilnehmender Resignation hinzu.

»Ach, wie unglücklich das arme Lamm ist!« rief Frau Sanders aus.

Bei all diesen moralischen Betrachtungen heulte Master Bardell nur um so lauter.

»Was soll ich jetzt tun?« sagte Frau Bardell zu Frau Cluppin«.

»Ich denke, Sie sollten ihn vorlassen«, erwiderte Frau Cluppin«: »aber auf keinen Fall ohne einen Zeugen.«

»Ich meine, zwei Zeugen wären noch gesetzmäßiger«, bemerkte Frau Sanders, die, wie die andere Freundin, vor Neugierde beinahe platzte.

»Es ist vielleicht am geratensten, ihn hereinkommen zu lassen«, sagte Frau Bardell.

»Ohne Zweifel«, versetzte Frau Cluppins, den Gedanken begierig auffassend. »Treten Sie herein, junger Mann, und schließen Sie vorher noch gefälligst die Haustür.«

Herr Weller folgte der Einladung sogleich, trat ins Wohnzimmer und begann sich seines Auftrags an Frau Bardell mit folgenden Worten zu entledigen:

»Tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen persönlich beschwerlich falle, wie jener Räuber zu der alten Dame sagte, als er in ihr Haus eingebrochen war und sie auf das Feuer legte. Aber da ich und mein Herr eben erst in der Stadt angekommen sind und wir sogleich wieder abreisen wollen, so wollte ich Ihnen doch wenigstens meine Aufwartung machen.«

»Natürlich, der junge Mann ist an dem Fehler seines Herrn unschuldig«, sagte Frau Cluppins, von Herrn Wellers Persönlichkeit und Begrüßung tief ergriffen.

»Ohne Zweifel«, stimmte Frau Sanders ein, die, nach gewissen sehnsüchtigen Blicken auf die kleine Zinnplatte zu urteilen, eine genaue Berechnung anzustellen schien, wieweit wohl die Ferkelfüßchen reichen dürften, im Falle Sam zum Abendessen eingeladen würde.

»Alles, weswegen ich gekommen bin, ist kurz dies«, sagte Sam, ohne die Unterbrechung zu beachten. – »Erstens, den Mietvertrag meines Herrn zurückzugeben – hier ist er. Zweitens, die Miete zu bezahlen – hier ist sie. Drittens, zu sagen, daß alle seine Sachen zusammengepackt und einer Person eingehändigt werden sollen, die er danach schicken wird. Viertens, daß Sie die Wohnung, sobald es Ihnen beliebt, vermieten können – und das ist alles.«

»Was immer auch vorgefallen sein mag«, sagte Frau Bardell, »ich habe es immer gesagt und werde es immer sagen, daß sich Herr Pickwick in jeder Rücksicht, außer in einer, stets wie ein vollendeter Gentleman benommen hat. Das Geld war immer so sicher – wie die Bank von England – immer.«

Während Frau Bardell das sagte, hielt sie ihr Taschentuch vor die Augen und ging aus dem Zimmer, um die Quittung zu schreiben.

Sam wußte sehr gut, daß er nur zu schweigen brauchte, um die Weiber zum Sprechen zu bringen; er blickte daher in tiefer Stille abwechselnd nach der zinnernen Platte, dem gerösteten Käse, der Wand und der Zimmerdecke.

»Arme Freundin«, seufzte Frau Cluppins.

»Armes Ding«, rief Frau Sanders aus.

Sam sagte nichts. Er sah, daß sie zur Sache kamen.

»Ich kann mich wahrlich gar nicht fassen«, bemerkte Frau Cluppins, »wenn ich an eine solche Treulosigkeit denke. Ich möchte nicht gern etwas sagen, was Ihnen wehtun könnte, junger Mann, aber Ihr Herr ist ein Ungeheuer, und ich wollte, er wäre hier, daß ich es ihm ins Gesicht sagen könnte.«

»Auch ich wünschte, er wäre hier«, erwiderte Sam.

»Es ist schrecklich mit anzusehen, wie entsetzlich sie sich’s zu Herzen nimmt, wie schwermütig sie umherwankt, und wie sie an nichtmehr Vergnügen findet, außer wenn ihre Freundinnen aus christlichem Mitleid herüberkommen, um sie zu besuchen und zu trösten«, sagte Frau Cluppins mit einem Seitenblick auf die zinnerne Platte und den holländischen Backofen. »Ja, wahrhaft schrecklich!«

»Barbarisch«, rief Frau Sanders.

»Und Ihr Herr, junger Mann, ein Gentleman mit Vermögen, der den Aufwand für eine Frau gar nicht spürt«, fuhr Frau Cluppins mit großer Zungengeläufigkeit fort, »der also keinen Schatten von Entschuldigung für sich hat. – Warum heiratet er sie nicht?«

»Ja«, erwiderte Sam, »das ist eben die Frage, um die es sich handelt.«

»Frage? wahrlich«, entgegnete Frau Cluppins: »wenn sie meinen Geist hätte, sie würde ihn nicht lange fragen. Es gibt noch Gesetze für uns Frauen, zu welch erbärmlichen Geschöpfen sie uns auch machen möchten, wenn sie könnten, und das wird Ihr Herr auf seine Kosten erfahren, ehe er ein halbes Jahr älter ist.«

Bei dieser tröstlichen Betrachtung klärte sich Frau Cluppins‘ Gesicht auf, und sie lächelte Frau Sanders zu, und diese lächelte ihr wieder zu.

»Der Prozeß nimmt also seinen Fortgang; da ist kein Zweifel«, dachte Sam, als Frau Bardell mit der Quittung erschien.

»Hier ist die Quittung, Herr Weller«, sagte Frau Bardell, »und hier ist das Geld, das Sie noch herausbekommen. Ich hoffe. Sie werden einen Tropfen annehmen, um sich zu erwärmen, wäre es auch nur um der alten Bekanntschaft willen, Herr Weller.«

Sam sah den Vorteil ein, den er dadurch errang, und nahm das Anerbieten an, worauf Frau Bardell aus einem kleinen Schrank eine dunkle Flasche und ein Weinglas herausnahm. Sie war so tief in ihren Seelenschmerz versunken, daß sie nach Auffüllung von Herrn Wellers Glas noch drei weitere Glaser zutage förderte und sie ebenfall« füllte.

»Ach du meine Güte, Frau Bardell«, rief Frau Cluppins aus; »wo sind Sie, und was machen Sie da?«

»Wie kommen Sie mir vor?« fiel Frau Sanders ein.

»Ach, mein armer Kopf!« seufzte Frau Bardell mit trübem Lächeln.

Sam verstand natürlich das alles, darum sagte er ohne weitere«, er könne vor Tisch nie trinken, außer es trinke eine Dame mit ihm. Darauf wurde denn weidlich gelacht, und Frau Sanders erklärte sich bereit, ihn in dieser Hinsicht zufriedenzustellen: sie schlürfte also einen Tropfen aus ihrem Glase. Dann meinte Sam, es müsse herumgehen und so nahmen denn alle ein kleines Schlückchen. Dann schlug die Frau Cluppins den Toast vor: »auf guten Erfolg des Prozesses Bardell gegen Pickwicks, und dann leerten die Damen ihre Gläser zu Ehren dieses Trinkspruches und wurden alsbald sehr gesprächig.

»Ich vermute. Sie haben vernommen, was vorgeht, Herr Weller?« sagte Frau Bardell.

»Ich habe davon reden hören«, erwiderte Sam.

»Es ist entsetzlich, auf diese Art zum Stadtgespräche zu werden, Herr Weller«, sagte Frau Bardell. »Aber ich sehe nun ein, daß es das einzige war, was ich tun konnte, und meine Rechtsbeistände, die Herren Dodson und Fogg sagen mir, daß wir mit den Beweisen, die wir vorlegen können, gewinnen müssen. Ich wüßte wirklich nicht, was ich tun sollte, wenn es fehlschlüge, Herr Weller.«

Der bloße Gedanke, Frau Bardell könnte möglicherweise ihren Prozeß verlieren, ergriff Frau Sanders so heftig, daß sie sich in die Notwendigkeit versetzt sah, augenblicklich ihr Glas wieder zu füllen und wieder zu leeren. Sie fühlte, wie sie nachher gestand, sie wäre unfehlbar umgesunken, wenn sie nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, dieses Mittel zu ergreifen.

»Wann wird wohl der Termin stattfinden?« fragte Sam.

»Entweder im Februar oder im März«, erwiderte Frau Bardell.

»Was für eine Menge von Zeugen da auftreten werden!« rief Frau Cluppins au«.

»O gewiß«, versetzte Frau Sanders.

»Und würden die Herren Dodson und Fogg nicht rasend werden, wenn die Klägerin nicht gewönne«, fügte die Frau Cluppins hinzu, »da sie den Prozeß auf Spekulation anfangen?«

»O gewiß«, sagte Frau Sander«.

»Aber die Klägerin muß gewinnen«, bemerkte Frau Cluppins,

»Ich hoffe es«, sagte Frau Bardell.

»O, darüber kann gar kein Zweifel obwalten«, setzte Frau Sanders hinzu.

»Nun«, sagte Sam aufstehend und sein Gla« niederstellend, »alles, was ich sagen kann, ist, daß ich wünsche. Sie mögen ihn gewinnen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Weller«, erwiderte Frau Bardell mit Inbrunst.

»Und was Dodson und Fogg betrifft, die solche Dinge aus Gewinnsucht betreiben«, fuhr Herr Weller fort, »sowie die übrigen liebevollen und großmütigen Männer ihres Gewerbes, die die Leute für nichts und wieder nichts aufeinander Hetzen und ihre Schreiber dazu brauchen, unbedeutende Zwistigkeiten zwischen Nachbarn und Bekannten aufzustöbern und an die Vermittlung des Gesetzes zu verraten – was diese betrifft, so kann ich nur soviel sagen, daß ich wünsche, sie möchten den Lohn bekommen, den ich ihnen gern gäbe.«

»O, ich wünsche, sie möchten den Lohn bekommen, den ihnen jedes liebevolle und großmütige Herz zu geben geneigt wäre«, sagte Frau Bardell, durch diese Worte völlig gewonnen.

»Dazu sage ich Amen«, versetzte Sam, »und sie sollten nur dabei kräftig und glücklich werden! Wünsche Ihnen gute Nacht, meine Damen.«

Zur großen Beruhigung der Frau Sanders durfte Sam sich entfernen, ohne von der Hauswirtin eine Einladung zu den Ferkelfüßchen und dem gerösteten Käse zu erhalten. Diesen Leckerbissen ließen die Damen unter dem jugendlichen Beistand von Master Bardell alsbald vollste Gerechtigkeit widerfahren. Die Gerichte verschwanden wirklich spurlos unter ihren Bemühungen.

Herr Weller wandte seine Schritte zu »Georg und Geier« zurück, und er gab getreulich seinem Herrn Bescheid über die wohlberechneten Anschläge der Herren Dodson und Fogg, die er bei seinem Besuche in Frau Bardells Hause erfahren hatte. Eine Unterredung mit Herrn Perker, die am folgenden Tage stattfand, bestätigte Herrn Wellers Angaben nur zu sehr. Herr Pickwick aber traf Vorbereitungen zu seinem Weihnachtsbesuche in Dingley Dell mit dem erfreulichen Vorgefühl, daß zwei bis drei Monate später vor dem Gerichtshof von Common- Pleas eine Entschädigungsklage wegen Bruchs eines Eheversprechens gegen ihn anhängig gemacht werden würde. Dabei würde die Klägerin alle Vorteile für sich haben, die sich nicht nur aus der Gewalt der Umstände, sondern auch aus der Gewandtheit und dem Scharfsinn der Herren Dodson und Fogg für sie ergeben mußten.

Achtundzwanzigstes Kapitel.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Samuel Weller macht eine Wallfahrt nach Dorking und sieht seine Stiefmutter.

Da bis zur Zeit, die zur Abreise der Pickwickier nach Dingley Dell anberaumt war, noch zwei Tage fehlten, so setzte sich Herr Weller, nachdem er früh zu Mittag gespeist hatte, bei »Georg und Geier« in ein Hinterstübchen, um darüber nachzudenken, wie er diese Zeit am zweckmäßigsten anwenden könnte. Es war ein außerordentlich schöner Tag, und er hatte noch keine zehn Minuten lang in seinem Geiste nachgedacht, als er plötzlich einen Anfall von kindlicher Liebe und Zärtlichkeit verspürte. Der Gedanke, seinen Vater besuchen und seiner Stiefmutter sich vorstellen zu müssen, stand so gebieterisch vor seiner Seele, daß er ganz erstaunt war, wie er bisher diese Pflicht so gänzlich vergessen haben konnte. Um die Versäumnis unverzüglich wieder einzuholen, ging er sofort zu Herrn Pickwick hinauf und bat ihn um Urlaub, damit er seinen lobenswerten Entschluß ausführen konnte.

»Von Herzen gern, Sam, von Herzen gern«, sagte Herr Pickwick, dessen Augen vor Freude über diesen Beweis der zärtlichen Gefühle seines Dieners funkelten; »von Herzen gern, Sam.«

Herr Weller verneigte sich dankbar.

»Ich sehe mit Vergnügen«, sagte Herr Pickwick, »daß du ein so zartes Gefühl für deine kindlichen Pflichten hast, Sam.«

»Das habe ich immer gehabt, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Es freut mich sehr, das von dir zu hören«, sagte Herr Pickwick beifällig.

»Ja, Sir«, versetzte Herr Weller: »so oft ich etwas von meinem Vater haben wollte, bat ich ihn jedesmal auf die artigste und höflichste Weise darum, und wenn er es mir nicht gab, so nahm ich es selber, aus Furcht, ich möchte mich zu einer Unart verleiten lassen, wenn ich es nicht bekäme. Ich ersparte ihm auf diese Weise unendlich viel Verdruß, Sir.«

»Das ist es nicht gerade, was ich meine, Sam«, versetzte Herr Pickwick kopfschüttelnd mit leichtem Lächeln.

»Hatte immer ein zartes Gefühl, Sir – immer die besten Absichten, wie jener Herr sagte, als er sein Weib im Stich ließ, weil sie unglücklich mit ihm zu sein schien.«

»Du kannst gehen, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Herr Weller: und nachdem er seine zierlichste Verbeugung gemacht und seine besten Kleider angelegt hatte, setzte er sich oben auf die Kutsche von Arundel und fuhr nach Dorking.

Der »Marquis von Granby« John Manners Marquis of Granby (1721–1770) war ein populärer englischer General, der bei der englischen Hilfsaktion für Friedrich den Großen im Siebenjährigen Krieg nach Deutschland entsandt wurde und sich hier militärisch sehr auszeichnete. war zu Wellers Zeiten das Muster eines Landstraßenwirtshauses der besseren Klasse – gerade groß genug, um bequem, und klein genug, um behaglich zu sein. An der Straßenseite des Hauses war ein großes Schild hoch oben angebracht, das den Kopf und die Schultern eines Mannes von dickblütigcm Naturell in rotem Rocke mit dunkelblauen Aufschlägen und einem dreieckigen Hute unter einem Himmel von gleich blauer Farbe darstellte. Über ihm waren ein paar Fahnen und unter seinem untersten Rockknopfe ein paar Kanonen angebracht. Das ganze aber sollte eine auffallende, unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Marquis von Granby glorreichen Angedenkens haben.

Am Fenster des Schenkstübchens präsentierte sich eine erlesene Sammlung von Geranien und eine Reihe dick mit Staub bedeckter Branntweinflaschen. Die offenen Fensterladen waren mit einer Menge goldener Inschriften dekoriert, die gute Betten und vorzügliche Weine verhießen, und die ebenso erlesene Gesellschaft von Bauern und Hausknechten, die an der Stalltüre neben den Futtertrögen herumlungerten, gaben einen Beweis von vornherein für die Vortrefflichkeit des Ales und Branntweins, die im Hause verkauft wurden. Sam Weller stieg ab und blieb vor der Haustür stehen, um mit dem Auge eines erfahrenen Reisenden alle diese kleinen Anzeichen eines lebhaften Geschäftsbetriebs zu mustern. Darauf ging er, mit den Ergebnissen seiner Beobachtungen völlig zufrieden, raschen Schrittes hinein.

»Bitte schön«, rief eine gellende weibliche Stimme in dem Augenblick, da Sam seinen Kopf zur Tür hineinsteckte, »was wünschen Sie, junger Mann?«

Sam sah sich in der Richtung, aus der die Stimme kam, um. Sie gehörte einer ziemlich wohlbeleibten Dame von behaglichem Aussehen, die im Schenkstübchen neben dem Kamin saß und das Feuer unter dem Teekessel anblies. Sie war nicht allein, denn auf der andern Seite der Feuerstätte saß in einem Stuhl mit hohem Rücken ein Mann in fadenscheinigen schwarzen Kleidern, mit einem Rücken, der beinahe ebenso lang und straff war, wie die Lehne des Stuhles, und dieser Mann erregte sogleich Sams besondere Aufmerksamkeit.

Er hatte ein langes, schmales, heuchlerische« Gesicht, eine rote Nase und ein stechendes Auge, das an eine Klapperschlange erinnerte und entschieden auf eine schlechte Gesinnung hindeutete. Er trug sehr kurze Beinkleider und schwarze baumwollene Strümpfe, die gleich seinem übrigen Anzüge sehr abgeschabt waren. Seine Blicke waren steif, aber sein weißes Halstuch war es nicht, und die langen, schmalen Zipfel desselben hingen auf eine für das Auge sehr beleidigende Weise über seine eng zugeknöpfte Weste herab. Ein paar alte, abgetragene Biberhandschuhe, ein breitkrempiger Hut und ein verschossener grüner Regenschirm mit einer Menge von hervorstehenden Fischbeinen, die den Mangel eines Handgriffes am oberen Ende ersetzen zu müssen schienen, lagen auf dem Stuhl neben ihm. Die Ordnung und Sorgfalt aber, womit diese Dinge untergebracht waren, schienen darauf hinzudeuten, daß der Mann mit der roten Nase, wer er auch sein mochte, nicht die Absicht hatte, so schnell wieder weiterzugehen.

Um jedoch dem Mann mit der roten Nase Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen wir bemerken, daß er keineswegs weise gewesen wäre, wenn er solche Absicht, weiterzugehen, gehabt hätte. Er hätte wahrhaftig einen ausgezeichneten Kreis von Bekannten haben müssen, wenn er es irgendwo anders hatte behaglicher bekommen können. Das Feuer brannte hell unter dem Einflüsse des Blasebalgs, und der Kessel summte vergnüglich unter dem Einfluß beider. Auf dem Tische stand ein kleines Teeservice, und auf einer Platte vor dem Feuer rösteten langsam einige Butterbrotschnitten. Der Mann mit der roten Nase aber war eifrig damit beschäftigt, ein großes Stück Brot mittels einer langen messingenen Gabel in den genannten Leckerbissen zu verwandeln. Neben ihm stand ein Glas duftenden warmen Ananasgrogs mit einer Zitronenscheibe darin. So oft der Mann mit der roten Nase die Brotschnitte vors Auge hielt, um zu untersuchen, wie weit sie gar sei, nahm er ein paar Tropfen von dem warmen Ananasgrog zu sich und lächelte der ziemlich wohlbeleibten Dame zu, während sie das Feuer anblies.

Sam hatte sich so sehr in die Betrachtung dieser behaglichen Szene verloren, daß er die erste Frage der ziemlich Wohlbeleibten gänzlich überhörte. Erst als sie zweimal, und zwar jedesmal mit gellenderem Tone wiederholt worden war, kam er zu dem Bewußtsein der Unschicklichkeit seines Betragens.

»Ist der Herr zu Hause?« fragte Sam in Erwiderung der Frage der Dame.

»Nein«, versetzte Frau Weller, denn die ziemlich Wohlbeleibte war niemand ander«, als die weiland Witib und Universalerbin des seligen Herrn Clarke: – »nein, er ist nicht zu Hause, und ich erwarte ihn auch nicht.«

»Er ist wohl ausgefahren?« fragte Sam.

»Kann sein: vielleicht aber auch nicht«, erwiderte Frau Weller, eine Brotschnitte, die der Mann mit der roten Nase eben abgeschnitten hatte, mit Butter bestreichend: »ich weiß es nicht, und überdies kümmert es mich auch nicht. Sprechen Sie einen Segen, Herr Stiggins.«

Der Mann mit der roten Nase tat, was man verlangt hatte, und fiel dann augenblicklich mit großer Gefräßigkeit über die Brotschnitten her.

Gleich auf den ersten Blick hatte Sam aus dem Äußern des Mannes mit der roten Nase deutlich genug den Schluß gezogen, es möchte der Helfer des Hirten sein, von dem sein achtbarer Vater gesprochen. In dem Augenblick, da er ihn essen sah, waren alle seine Zweifel darüber behoben. Er merkte sogleich, daß er, um einstweilen sein Quartier hier aufschlagen zu können, unverzüglich festen Fuß fassen müsse. Demgemäß begann er damit, daß er seinen Arm über die Halbtür des Schenkstübchens legte, kaltblütig aufschloß und gemächlich hineinging.

»Stiefmutter«, sagte er, »wie geht’s Euch?«

»Wahrhaftig, ich glaube es ist ein Weller«, rief sie, ihre Augen mit nicht sehr vergnügtem Ausdruck auf Sams Gesicht richtend.

»Ich glaube es beinahe auch«, sagte der unerschütterliche Sam, »und ich hoffe, Hochwürden hier werden mich entschuldigen, wenn ich den Wunsch ausdrücke, Euer Weller zu sein, Stiefmutter.«

Das war doppelte Ladung; denn er gab damit zu verstehen, daß Frau Weller eine sehr anmutige Frau sei, und zugleich, daß Herr Stiggins ein geistliches Aussehen habe. Das Kompliment machte auch einen sichtbaren Eindruck auf beide, und Sam verfolgte seinen Vorteil, indem er seine Stiefmutter küßte.

»Ach, gehen Sie«, sagte Frau Weller, ihn von sich stoßend.

»Pfui, junger Mann«, schalt der Herr mit der roten Nase.

»Keine Beleidigung, Sir, keine Beleidigung«, versetzte Sam. »Doch Sie haben ganz recht; es ist aber auch etwas Mißliches, wenn Stiefmütter jung und hübsch sind – nicht wahr, Sir?«

»Es ist alles vergänglich«, sagte Herr Stiggins.

»Ach ja«, seufzte Frau Weller, ihre Haube zurechtsetzend.

Sam war der gleichen Meinung, verschloß sie aber in seine Brust.

Der Hirtenhelfer schien über Sams Ankunft keineswegs sehr erfreut. Als die erste Begeisterung über das Kompliment verflogen war, sah man es sogar Frau Weller an, daß sie Sams Gegenwart ohne die geringste Unzufriedenheit hätten entbehren können. Aber er war nun einmal da, und da man ihn anstandshalber nicht hinausweisen konnte, so setzten sich alle drei zum Tee.

»Und was macht der Vater?« fragte Sam.

Auf diese Frage hob Frau Weller Hände und Augen empor, als wäre der Gegenstand zu schmerzlich, um ihn zu berühren.

Herr Stiggins seufzte.

»Was hat dieser Herr?« fragte Sam.

»Er beklagt den Weg, den Ihr Vater wandelt«, erwiderte Frau Weller.

»Wirklich?« fragte Sam.

»Und er hat nur zu triftige Gründe dazu«, fuhr Frau Weller mit ernstem Tone fort.

Herr Stiggins nahm eine frische Butterschnitte und stieß einen schweren Seufzer aus.

»Es ist ein schrecklich ruchloser Mensch«, sagte Frau Weller.

»Ein Mensch, der einen empören kann«, setzte Herr Stiggins hinzu, biß ein großes, halbkreisförmiges Stück aus der Buttertoast heraus und seufzte wieder.

Sam fühlte sich sehr dazu aufgelegt, dem ehrwürdigen Herrn Stiggins Anlaß zum Seufzen zu geben, aber er bezwang seine Neigung und fragte nur:

»Nun, was ist’s denn mit dem Alten?«

»Was es mit ihm ist?« versetzte Frau Weller. »Oh, er hat ein verstocktes Herz. Alle Abende kommt dieser vortreffliche Mann – zürnen Sie nicht, Herr Stiggins, ich darf es behaupten, Sie sind ein vortrefflicher Mann – und bleibt vier Stunden lang bei uns, und das macht nicht den geringsten Eindruck auf ihn.«

»Ach, das ist freilich sonderbar«, bemerkte Sam. »Auf mich würde es einen starken Eindruck machen, wenn ich an seiner Stelle wäre, das weiß ich.«

»Die Sache ist die, mein junger Freund«, sagte Herr Stiggins mit feierlichem Tone, »er hat ein verhärtetes Herz. O, mein junger Freund, wer hätte den inständigen Bitten von sechzehn unserer schönsten Schwestern widerstehen können? Wer hätte ihren Ermahnungen sein Ohr verschlossen, unserer trefflichen Gesellschaft beizutreten, die Negerkinder in Westindien mit Flanelljacken und moralischen Taschentüchern versieht?«

»Was ist denn ein moralisches Taschentuch?« fragte Sam. »Ich habe noch nie solche Ware gesehen.«

»Taschentücher, die das Vergnügen mit der Belehrung verbinden, mein junger Freund«, erwiderte Herr Stiggins. »Es sind auserlesene Erzählungen mit Holzschnitten darauf gedruckt.«

»Ach, ich erinnere mich«, sagte Sam; »sie hängen in den Leinwandläden mit Betteleien und anderm dergleichen Zeug darauf.«

Herr Stiggins machte sich an eine dritte Butterschnitte und nickte beifällig.

»Und er wollte sich von den Damen nicht dazu bewegen lassen?« fragte Sam.

»Saß da und rauchte seine Pfeife und sagte, die Negerkinder wären – was, sagte er, was die Negerkinder seien?« sprach Frau Weller.

»Quatsch«, erwiderte Herr Stiggins höchst entrüstet.

»Sagte, die Negerkinder wären Quatsch«, wiederholte Frau Weller.

Und beide seufzten über das gottlose Benehmen des ältern Herrn Samuel.

Es wären noch eine Menge anderer Ruchlosigkeiten ähnlicher Art an den Tag gekommen. Aber da die Buttertoaste alle verspeist waren, der Tee immer schwächer wurde und da Sam nicht im geringsten Miene machte, sich zu entfernen, so erinnerte sich Herr Stiggins plötzlich daran, daß er eine höchst dringende Angelegenheit mit dem Hirten zu besprechen habe, und verabschiedete sich.

Kaum war das Teegeschirr abgetragen und der Herd ausgewaschen, als die Londoner Postkutsche Herrn Weller senior vors Haus brachte, seine Beine ihn in das Schenkstübchen trugen und seine Augen ihm seinen Sohn zeigten.

»Was, Sammy?« rief der Vater.

»Was, alter Adam!« rief der Sohn, und sie schüttelten sich herzlich die Hände.

»Freut mich sehr, dich zu sehen, Sammy«, sagte der ältere Herr Weller; »obschon es ein Geheimnis für mich ist, wie du es angefangen, deine Stiefmutter für dich einzunehmen. Ich wünschte nur, du schriebest mir das Rezept auf: das wär‘ mir das liebste.«

»Pst«, machte Sam, »sie ist zu Hause, Alter.«

»Sie hört nichts«, versetzte Herr Weller. »Nach dem Tee geht sie allemal und läuft sich ein paar Stunden lang auf dem Hausflur außer Atem, und so können wir uns mittlerweile etwas anfeuchten, Sammy.«

Sprach’s, mischte zwei Gläser Branntwein und Wasser und holte ein paar Pfeifen. Vater und Sohn setzten sich einander gegenüber, Sam auf der einen Seite des Kamins in den Stuhl mit der hohen Lehne, und Herr Weller senior auf der andern in einen gleichen von derselben Bequemlichkeit, und so hatten sie gegenseitig an einander ihre Freude – natürlich aber in den Schranken der gebührenden Würde.

»Jemand hier gewesen, Sammy?« fragte Herr Weller senior trocken, nach einem langen Stillschweigen.

Sam bejahte die Frage mit einem bedeutungsvollen Kopfnicken.

»Der rotnasige Kerl?« fragte Herr Weller.

Sam nickte wieder.

»Ein liebenswürdiger Mann das, Sammy«, bemerkte Herr Weller heftig rauchend.

»Scheint so«, antwortete Sam.

»Viel Talent fürs Rechnungswesen«, sagte Herr Weller.

»So?« fragte Sam.

»Borgt am Montag achtzehn Pence, verlangt am Dienstag einen Schilling, um die halbe Krone vollzumachen, will am Mittwoch noch eine halbe Krone, daß es fünf Schilling ausmacht, und so doppelt er fort, bis er eine Fünfpfundnote hat, ehe man sich’s versieht: als ob er ein Hexenrechenbuch hätte, Sammy.«

Sam nickte.

»Ihr wolltet Euch also für die Flanelljacken nicht unterschreiben?« fragte Sam nach einer Pause, während man sich beiderseits mit Rauchen die Zeit vertrieb.

»Nein, wirklich nicht«, erwiderte Herr Weller. »Was sollen die jungen Neger mit Flanelljacken. Aber ich will dir was sagen, Sammy«, fuhr Herr Weller fort, indem er seine Stimme dämpfte und sich über den Kamin herüberbeugte, »gegen Zwangsjacken für gewisse Leute in unserm Lande hätte ich gar nichts einzuwenden.«

Bei diesen Worten versetzte sich Herr Weller langsam wieder in seine frühere Stellung und gab seinem Erstgeborenen einen bedeutungsvollen Wink.

»Ebenso seltsam kommt mir der Einfall vor, Taschentücher unter Leute auszuteilen, die sie gar nicht zu gebrauchen wissen«, bemerkte Sam.

»Sie machen einen Streich über den andern, Sammy«, versetzte sein Vater. »Letzten Sonntag gehe ich die Straße hinauf. Wen sehe ich an der Kirchentür stehen mit einem blauen Suppenteller in der Hand? Niemand anders als deine Stiefmutter. Ich glaube wahrhaftig, es war Münze für ein paar Goldmünzen drin, lauter Halbpennystücke, und als die Leute aus der Kirche kamen, regnete es Pence, daß man hatte glauben sollen, kein sterblicher Teller, der jemals aus der Werkstätte eines Töpfers hervorging, könnte diese Hülle und Fülle tragen. Wofür meinst du, daß da gebettelt wurde?«

»Vielleicht wieder für einen Tee?« fragte Sam.

»Bewahre«, erwiderte der Vater; »aber für des Hirten Wassersteuer, Sammy.«

»Des Hirten Wassersteuer?« fragte Sam.

»Ja«, erwiderte Herr Weller: »er war noch mit drei Quartalen im Rückstand – vielleicht hegte er die Ansicht, das Wasser sei für ihn ein ziemlich unnützer Artikel; denn er trinkt sehr wenig von dieser Flüssigkeit, Sammy, sehr wenig. Er kennt anderes Wasser, das wenigstens sechsmal mehr wert ist. Gut, dem sei wie ihm wolle; es war einmal nicht bezahlt und sie verschlossen ihm die Leitung. Was tut der Hirte? Er geht in die Kirche, gibt sich für einen Märtyrer aus und sagt, er hoffe, der Aufseher, der ihm das Wasser abgeschnitten hätte, werde in sich gehen und auf den rechten Weg zurückkehren. Aber in seinem Herzen denkt er, der Teufel möge ihn in sein Kundenbuch eintragen. Daraufhin berufen die Weiber eine Versammlung ein, singen einen Psalm, setzen deine Stiefmutter auf den Präsidentenstuhl, veranstalten auf den nächsten Sonntag eine Kollekte und händigen alles dem Hirten ein. Und wenn er nicht genug bekam, sich für sein ganzes Leben lang von der Wassersteuer freizumachen«, schloß Herr Weller seinen Vortrag, »so bin ich ein Esel und du bist auch einer, Sam, und damit basta.«

Herr Weller rauchte einige Minuten still und begann dann aufneue.

»Das Schlimmste an diesen Hirten ist, daß sie den jungen Weibern die Köpfe verdrehen. Der Herr erbarme sich über die guten Geschöpfe: sie glauben, es habe alles seine Richtigkeit, und wissen es nicht besser; aber man treibt nur sein Spiel mit ihnen, Samuel, man treibt nur sein Spiel mit ihnen.«

»Das denke ich auch«, sagte Sam.

»Das ist es«, versetzte Herr Weller mit ernstem Kopfschütteln; »und was mich am meisten ärgert, Samuel, sie vergeuden all ihre Zeit und Mühe damit, Kleider für kupferfarbige Leute zu machen, die sie nicht nötig haben, und keine Rücksicht auf fleischfarbige Christen nehmen, die sie nötig hätten. Wenn ich Herr wäre, Samuel, ich würde einige von diesen faulen Hirten hinter einen schweren Schiebkarren stellen, den sie mir Tag für Tag auf einem vierzehn Zoll breiten Brett auf und nieder fahren müßten. Das würde ihnen womöglich doch die Mücken aus dem Kopfe jagen.«

Als Herr Weller dieses freundliche Mittel mit großem Nachdruck empfohlen hatte, heftig dazu nickte und mit den Augen zwinkerte, leerte er sein Glas auf einen Zug und klopfte mit der ihm angeborenen Würde die Asche aus seiner Pfeife.

Als er so beschäftigt war, ließ sich im Gange eine gellende Stimme vernehmen.

»Das ist deine liebe Verwandte, Sammy«, sagte Herr Weller; und ins Zimmer herein stürmte seine Frau Gemahlin.

»Ach, du bist wieder zurückgekommen?« fragte Frau Weller.

»Ja, meine Liebe«, erwiderte Herr Weller, sich eine frische Pfeife stopfend.

»Ist Herr Stiggins wieder hier gewesen?« fragte Frau Weller.

»Nein, meine Liebe, er war nicht hier«, antwortete Herr Weller. Er nahm eine glühende Kohle mit der Zange aus dem Feuer, hielt sie über den Pfeifenkopf und zündete sich so seine Pfeife an. »Überdies«, fuhr er fort, »dächte ich, meine Liebe, es überleben zu können, wenn er gar nicht mehr käme.«

»Pfui, du ruchloser Mensch«, rief Frau Weller aus.

»Ich danke dir, meine Liebe«, erwiderte Herr Wellwer.

»Geht, geht, Vater«, sagte Sam, »keine Liebeserklärungen vor Fremden, hier kommen Hochwürden wieder.«

Daraufhin wischte Frau Weller hastig die Tränen ab, die sie so eben hervorzupressen angefangen hatte, und Herr Weller rückte seinen Stuhl unmutig in die Ecke des Kamins.

Herr Stiggins war leicht zu bewegen, ein Glas warmen Ananasgrog anzunehmen und ein zweites und ein drittes darauf folgen zu lassen, sich dann aber durch ein kleines Abendessen zu erquicken, bevor er sich wieder aufs neue mit dem Geschäft des Trinkens befaßte. Er saß an der gleichen Seite mit Herrn Weller, und so oft dieser Gentleman der Beobachtung seiner Frau entging, deutete er seinem Sohne die Regungen, die in der Tiefe seines Herzens versteckt lagen, dadurch an, daß er seine Faust über dem Kopfe des Hirtenhelfers hin- und herbewegte. Diese Geste machte seinem Sohne die ungetrübteste Freude, und sie war um so größer, als Herr Stiggins ruhig seinen Ananasgrog trank und gar nicht ahnte, was hinter ihm vorging.

Die Unterhaltung führten hauptsächlich Frau Weller und der ehrwürdige Herr Stiggins. Das abgehandelte Thema aber betraf die Tugenden des Hirten, die Trefflichkeit seiner Herde und die schweren Sünden und Verbrechen aller übrigen Menschen: Abhandlungen, die der ältere Herr Weller gelegentlich durch halbunterdrückte Anspielungen auf einen Gentleman namens Walker und andere naheliegende Kommentarien unterbrach.

Endlich ergriff Herr Stiggins, als er entschieden so viel Ananasgrog zu sich genommen, wie er schicklicherweise vertragen konnte, seinen Hut und verabschiedete sich. Gleich darauf wurde Sam von seinem Vater in sein Schlafgemach geführt. Der achtbare alte Herr schüttelte seinem Sohne feurig die Hand und schien geneigt, noch weiter sein Herz auszuschütten, aber als er sah, daß ihm Frau Weller folgte, gab er seine Absicht auf und wünschte ihm eine gute Nacht.

Sam war am folgenden Tage beizeiten auf. Als er in aller Eile gefrühstückt hatte, schickte er sich zur Rückkehr nach London an. Er hatte kaum den Fuß aus dem Hause gesetzt, als sein Vater vor ihm stand.

»Du gehst, Sammy?« fragte Herr Weller.

»Bin gerade im Begriff«, erwiderte Sam.

»Ich wünschte, du könntest diesen Stiggins unsichtbar machen und mitnehmen«, sagte Herr Weller.

»Ich schäme mich für Euch, alter Knabe«, sagte Sam mit vorwurfsvollem Tone. »Warum leidet Ihr es denn, daß er seine rote Nase in den »Marquis von Granby« hineinsteckt?«

Der ältere Herr Weller heftete einen ernsten Blick auf seinen Sohn und antwortete –

»Weil ich ein verheirateter Mann bin, Samuel; weil ich ein verheirateter Mann bin. Wenn du einmal ein verheirateter Mann bist, Samuel, so wirst du eine Menge Dinge verstehen lernen, die du jetzt nicht verstehst. Aber ob es der Mühe wert ist, so viel durchzumachen, um so wenig zu lernen, wie jener Waisenknabe sagte, als er mit dem Alphabet zu Ende war, das ist Geschmacksache. Ich bin der Meinung, daß es nicht der Mühe wert ist.«

»Na denn«, sagte Sam; »lebe wohl.«

»Halt, halt, Sammy«, erwiderte sein Vater.

»Ich habe nur noch das zu sagen«, sprach Sam, stehenbleibend: »wenn ich der Besitzer des »Marquis von Granby« wäre, und dieser Stiggins käme mir und fräße Buttertoaste in meinem Schenkstübchen, ich würde ihm –«

»Was?« fragte Herr Weller mit großer Hitze. »Was?«

»– Seinen Grog vergiften.«

»Wirklich?« fragte Herr Weller, seinem Sohne feurig die Hand schüttelnd. »Würdest du das wirklich, Sammy?– Würdest du das?«

»Ich würde es«, sagte Sam. »Anfangs würde ich zwar nicht so hart mit ihm verfahren, sondern ihn nur in die Wasserkufe stecken und den Deckel zuschlagen, und wenn ich dann fände, daß er gegen diese Güte unempfindlich wäre, würde ich ihn durch das andere Mittel zu bekehren suchen.«

Der ältere Herr Weller heftete einen Blick hoher, unaussprechlicher Bewunderung auf seinen Sohn und drückte ihm noch einmal die Hand. Dann aber ging er langsam weg und gab sich den zahllosen Gedanken hin, die der Rat seines Erstgeborenen in ihm erweckt hatte.

Sam sah so lange zurück, bis die Straße um eine Ecke bog. Dann verfolgte er seinen Weg nach London. Anfangs dachte er über die mutmaßlichen Wirkungen seines Rates und die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit nach, daß sein Vater ihn befolgen würde. Schließlich aber schlug er sich diesen Gedanken mit dem Trost aus dem Sinn, daß das nur die Zeit lehren könne, und so zu verfahren, wollen wir auch dem Leser raten.

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

Ein angenehmer Tag mit einem unangenehmen Schluß.

Die Vögel, die zum Glück für ihre Gemütsruhe und ihr körperliches Wohlbehagen in seliger Unwissenheit über die Vorbereitungen blieben, die am ersten September zu ihrer Beunruhigung getroffen wurden, begrüßten ohne Zweifel den Morgen dieses Tages als einen der schönsten, den sie in dieser Jahreszeit je gesehen hatten, Manches junge Rebhuhn, das mit der ganzen Ziererei der Jugend selbstgefällig auf dem Stoppelfelde einherstolzierte, und manches alte, das ebensowenig das Gericht ahnend, das über sie ergehen sollte, mit der verächtlichen Miene der Weisheit und Erfahrung dessen leichtfertigem Treiben aus den runden Äuglein zuschaute, badete sich voll wonnetrunkener Gefühle in der frischen Morgenluft und lag wenige Stunden nachher leblos am Boden. Doch wir werden sentimental. Fahren wir in unserm Texte fort.

Es war also, um prosaisch zu berichten, ein schöner Morgen – so schön, daß man kaum geglaubt hätte, die wenigen Monate eines englischen Sommers seien schon vorübergeflogen. Hecken, Felder und Bäume, Hügel und Moorland boten dem Auge die wechselreichen Schattierungen eines vollen, saftigen Grüns. Kaum ein Blatt war gefallen, kaum ein gelbes Pünktchen mischte sich mit der Farbe des Sommers und verriet den Anfang des Herbstes. Der Himmel war wolkenlos; die Sonne schien hell und warm. Der Gesang der Vögel und das Gesumme von Myriaden Sommerinsekten erfüllte die Luft. Die Gärten prangten voller Blumen jeglicher Farbe in üppiger Schönheit und funkelten im Morgentau gleich Beeten blitzender Juwelen. Alles trug den Stempel des Sommers und noch war nicht eine von seinen schönen Farben verblichen.

An einem solchen Morgen hielt ein offener Wagen mit drei Pickwickiern (Herr Snodgraß hatte es vorgezogen zu Hause zu bleiben) nebst den Herren Wardle, Trundle und Sam Weller, der neben dem Kutscher auf dem Bock saß, vor einem Tor an der Landstraße. Hinter diesem hatten sich ein großer, starkknochiger Wildhüter und ein Junge in Halbstiefeln und Lederhosen postiert, jeder mit einer Jagdtasche von bedeutender Größe und ein paar Hühnerhunden versehen.

»Sie denken doch nicht«, flüsterte Herr Winkle Herrn Wardle zu, als man den Wagentritt niederließ, »daß wir Hühner genug schießen werden, um diese Jagdtaschen zu füllen?«

»Füllen?« rief der alte Wardle. »Was denn sonst? Sie sollen die eine füllen und ich die andere; und wenn wir damit fertig sind, so geht es erst noch an die Taschen unserer Jagdwämser.«

Herr Winkle stieg ab, ohne auf diese Bemerkung etwas zu erwidern, dachte aber in seinem Herzen, wenn die Gesellschaft so lange im Freien bleiben würde, bis er eine von den Jagdtaschen gefüllt hatte, so würde sie sich wohl einen bedeutenden Schnupfen holen,

»Na, Juno, schön – na, altes Mädchen! – leg dich, Daphne, leg dich«, sagte Wardle, die Hunde liebkosend. »Herr Geoffrey ist natürlich noch in Schottland, Martin?«

Der große Wildhüter bejahte und sah staunend auf Herrn Winkle, der seine Flinte so hielt, als ob er den Wunsch hegte, seine Rocktasche möchte ihm die Mühe ersparen, den Hahn zu spannen und dann auf Herrn Tupman, der sie so trug, als ob er sich vor ihr fürchtete – welch letztere Annahme zu bezweifeln eigentlich auch kein vernünftiger Grund vorhanden war.

»Meine Freunde sind noch nicht oft dabei gewesen, Martin«, sagte Wardle, der den Blick bemerkte. »Da heißt’s: ›Leben und Lernen‹. Aber sie werden schon noch tüchtige Schützen werden. Bitte übrigens um Verzeihung, Herr Winkle, Sie haben etwas Übung.«

Herr Winkle lächelte auf dieses Kompliment aus seiner blauen Halsbinde hervor und verwickelte sich in seiner bescheidenen Verwirrung so seltsam in seine Flinte, daß er sich, wenn sie geladen gewesen wäre, notwendig auf der Stelle hätte erschießen müssen.

»Sie müssen das Ding da anders halten, wenn es einmal geladen ist«, sagte der große Wildhüter mürrisch, »oder der Teufel soll mich holen, wenn Sie so nicht einen von uns kalt machen.«

Herr Winkle, veränderte auf die Ermahnung plötzlich seine Stellung und brachte den Flintenlauf dabei in ziemlich kräftige Berührung mit Herrn Wellers Kopf.

»Holla«, rief Sam, den heruntergeschlagenen Hut aufhebend und seine Schläfe reibend: »holla, mein Herr: wenn Sie so kommen, können Sie mit einem Schlag eine von diesen Taschen füllen, und noch mehr dazu.«

Hier lachte der lederhosige Junge aus vollem Halse und versuchte dabei auszusehen, als ob es jemand anders gewesen wäre, worüber Herr Winkle voll Majestät die Stirn runzelte.

»Wo haben Sie dem Jungen gesagt, daß er uns mit dem Korbe erwarten solle?« fragte Wardle.

»Dort an dem großen Baume auf dem Hügel um zwölf Uhr, Sir.«

»Der gehört, glaube ich, nicht zu Herrn Geoffreys Gut – oder?«

»Nein, Sir, aber er ist nahe dabei. Der Platz gehört dem Kapitän Boldwig; aber es wird uns niemand stören. Auch ist dort prächtiger Rasen.«

»Sehr schön«, versetzte der alte Wardle. »Aber nun ist’s Zeit. Je bälder, je besser! Wollen Sie uns also um zwölf Uhr treffen, Pickwick?«

Herr Pickwick hatte eine besondere Sehnsucht, der Jagd zuzusehen, zumal, da es ihm um Herrn Winkles Leib und Leben bange war und es an einem so einladenden Morgen wahre Tantalusqual gewesen wäre, wieder umzukehren und seinen Freunden den Genuß allein zu überlassen. Er erwiderte deshalb mit einer sehr traurigen Miene:

»Tja, ich denke, daß ich wohl muß.«

»Ist der Herr kein Schütze, Sir?« fragte der lange Wildhüter.

»Nein«, antwortete Wardle: »und außerdem kommt er mit seinem Beine nicht recht fort.«

»Ich würde sehr gern mitgehen«, sagte Herr Pickwick – »sehr gern.«

Es entstand eine kleine Pause des Bedauerns.

»Jenseits der Hecke ist eine Schiebkarre«, sagte der Junge. »Wenn darauf der Diener seinen Herrn auf den Pfaden nachrollen würde, der Karren läßt sich leicht über die Schranken heben.«

»Ganz recht«, sagte Herr Weller, der recht interessiert war, weil er selbst ein brennendes Verlangen hatte, die Jagd mit anzusehen. »Ganz recht, ein guter Einfall, du Stöpsel: in einer Minute will ich ihn da haben.«

Aber es erhob sich eine Schwierigkeit. Der lange Wildhüter protestierte feierlich dagegen, daß ein Gentleman auf einer Schiebkarre zu einer Jagdpartie fahren sollte, und nannte das eine grobe Verletzung aller weidmännischen Regeln und Gebräuche.

Da war nun guter Rat teuer, aber er war nicht unbezahlbar. Der Wildhüter erhielt Geld und gute Worte, und machte nun seinem Herzen dadurch Luft, daß er dem erfinderischen Jungen, der zuerst das Vehikel vorgeschlagen hatte, eins hinter die Ohren versetzte. Herr Pickwick wurde auf den Karren gesetzt, und die Jagdgesellschaft brach auf, wobei Wardle und der lange Wildhüter den Zug anführten und Herr Pickwick von Sam hinterher geschoben wurde.

»Halt, Sam!« rief Herr Pickwick, als sie in der Mitte des ersten Feldes angekommen waren.

»Was gibt’s?« fragte Wardle.

»Der Karren soll mir keinen Schritt weiter«, sagte Herr Pickwick entschlossen, »bis Herr Winkle seine Flinte anders hält.«

»Wie soll ich sie denn halten?« fragte der unglückliche Winkle.

»Die Mündung gegen den Boden gekehrt«, versetzte Herr Pickwick.

»Das ist nicht weidmännisch«, meinte Winkle.

»Ich kümmere mich nicht darum«, erwiderte Herr Pickwick, »ob es weidmännisch ist oder nicht: ich will nun einmal niemanden zulieb – um einer bloßen Förmlichkeit willen, auf einen Karren erschossen werden.«

»Ich wette, der Herr wird den Schuß jemand in den Leib jagen, ehe er daran denkt«, brummte der Lange.

»Nun, mir soll’s auch so recht sein«, sagte der arme Herr Winkle, seinen Flintenschaft nach oben kehrend. – »So!«

»Es geht doch nichts über ein ruhiges Leben«, sagte Herr Weller; und der Zug bewegte sich wieder vorwärts.

»Halt!« rief Herr Pickwick, als sie wieder einige Meter vorwärts gedrungen waren.

»Was gibt’s schon wieder?« fragte Wardle.

»Tupmans Flinte ist nicht gesichert; ich seh es, sie ist nicht gesichert«, rief Herr Pickwick.

»Wie? was? nicht gesichert?« fragte Herr Tupman im Tone großer Angst.

»Ich meine, wie Sie sie tragen«, sagte Herr Pickwick. »Es tut mir leid, wieder eine Störung zu veranlassen, aber ich kann nicht zugeben, daß es weiter geht, bis Sie Ihr Gewehr halten, wie Herr Winkle.«

»Ich dächte auch, Sie ließen sich raten, Sir«, sagte der lange Wildhüter, »oder es könnte ebensowohl der Fall sein, daß der Schuß in Ihre eigene Hüfte führe, als in eine andere.«

Herr Tupman brachte mit der verbindlichsten Hast sein Feuergewehr in die verlangte Richtung, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die beiden Jagdliebhaber schritten mit umgekehrten Waffen daher, wie ein paar Soldaten bei einem königlichen Leichenbegängnis.

Plötzlich standen die Hunde. Die Gesellschaft stahl sich noch einen Schritt weiter und blieb gleichfalls stehen.

»Was machen denn die Hunde mit ihren Beinen?« flüsterte Herr Winkle. »Sie stehen so wunderlich da,«

»Pst! sehen Sie’s denn nicht?« versetzte Wardle leise: »sie stellen etwas.«

»Stellen etwas?« fragte Herr Winkle, umherschauend, als ob er irgend etwas Besonderes in der Landschaft zu entdecken erwartete, dem die scharfsinnigen Tiere eine vorzugsweise Aufmerksamkeit widmeten. »Stellen etwas? Und was stellen sie denn?«

»Sperren Sie Ihre Augen auf«, sagte Herr Wardle in der Aufregung des Augenblicks, ohne die Frage zu beachten. »Los!«

Ein scharfes, schwirrendes Geräusch, und Herr Winkle bebte zurück, als wäre er erschossen. Piff, paff erscholl es: der Rauch schwebte schnell über das Gefilde und verschwand in der Luft.

»Wo sind sie?« fragte Herr Winkle, in dem Zustande der höchsten Aufregung sich nach allen Richtungen umsehend. »Wo sind sie? Sagen Sie mir, wann ich schießen soll. Wo sind sie – wo sind sie?«

»Wo sie sind?« entgegnete Wardle, ein paar Hühner aufhebend, die die Hunde zu seinen Füßen gelegt hatten. »Wo sie sind? Nun, hier sind sie.«

»Nein, nein – ich meine die andern«, sagte der verwirrte Winkle.

»Für diesmal weit genug weg«, erwiderte Wardle, seine Flinte kaltblütig wieder ladend.

»In fünf Minuten werden wir wahrscheinlich eine zweite Kette antreffen«, sagte der lange Wildhüter. »Wenn der Herr jetzt zu schießen anfängt, so kann der Schuß gerade in dem Augenblicke aus dem Lauf kommen, wo sie auffliegen.«

»Ha, ha, ha!« lachte Herr Weller.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, der seinen Gefährten wegen seiner Verwirrung und Verlegenheit bemitleidete.

»Sir!«

»Lache nicht.«

»Gewiß nicht, Sir!« antwortete Herr Weller und verzerrte seine Gesichtszüge hinter dem Schiebkarren zur großen Belustigung des Jungen mit den Lederhosen, der deshalb in ein wieherndes Gelächter ausbrach und von dem langen Wildhüter einige Puffe bekam. D.h. dieser suchte damit nur einen Vorwand, sich umzudrehen und seine eigene Lachlust zu verbergen.

»Bravo, alter Kamerad«, sagte Herr Wardle zu Herrn Tupman: »Sie feuerten doch wenigstens.«

»O ja«, erwiderte Herr Tupman mit stolzem Selbstgefühl: »ich schoß.«

»Bravo: Sie werden das nächste Mal treffen, wenn Sie gut zielen. Es ist sehr leicht – nicht wahr?«

»Ja, es ist sehr leicht«, sagte Herr Tupman. »Übrigens erhielt ich dabei einen Stoß an die Schulter, der mich fast zu Boden geworfen hätte. Ich ließ mir’s nicht träumen, daß die kleinen Dinger hinten ausschlagen könnten.«

»Ah«, sagte der alte Herr lächelnd, »Sie werden sich daran mit der Zeit schon gewöhnen. Nun – alles bereit? – Alles in Ordnung mit dem Schiebkarren hier?«

»Alles in Ordnung, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»So komm.«

»Halten Sie sich fest, Herr«, sagte Sam, den Schiebkarren aufhebend.

»O weh, o weh«, rief Herr Pickwick; und vorwärts ging’s, so schnell wie es nötig war.

»Halten Sie jetzt mit dem Schiebkarren«, rief Wardle, als dieser über eine Schranke in das nächste Feld gehoben worden war und Herr Pickwick wieder darauf Platz genommen hatte.

»Ganz recht, Sir«, versetzte Herr Weller und hielt.

»Nun folgen Sie mir langsam, Winkle«, sagte der alte Herr, »und kommen Sie diesmal nicht zu spät.«

»Sorgen Sie nicht für mich«, antwortete Herr Winkle. »Stehen sie?«

»Nein, noch nicht; ruhig jetzt, ruhig.«

Sie schlichen vorwärts und würden in aller Stille hingekommen sein, hätte nicht Herr Winkle bei Ausführung einer sehr schwierigen Wendung mit seiner Flinte in dem entscheidenden Augenblick zufälligerweise den Drücker berührt. Der Schuß ging über den Kopf des Jungen weg genau dorthin, wo des großen Mannes Hirnschale geragt hätte, wenn dieser statt jenem dagestanden wäre.

»Was in aller Welt haben Sie gemacht?« fragte der alte Wardle, als die Hühner lustig davonflogen.

»Eine solche Flinte habe ich in meinem Leben nicht gesehen«, bemerkte der alte Winkle, das Schloß betrachtend, als ob das irgend etwas hülfe. »Sie geht von selbst los.«

»Ach was – geht von selbst los!« versetzte Wardle mit etwas gereiztem Tone; »ich wollte, sie würde auch von selbst etwas treffen.«

»Oh, das kann in kurzem geschehen, Sir«, bemerkte der Lange mit dumpfer, prophetischer Stimme.

»Was wollen Sie mit dieser Bemerkung, Sir?« fragte Herr Winkle ärgerlich.

»Nichts Besonderes, Sir – nichts Besonderes«, erwiderte der Wildhüter. »Ich selbst habe keine Familie, Sir; und dieses Jungen Mutter bekäme was Hübsches von Herrn Geoffrey, wenn er auf seinem Gute erschossen würde. Laden Sie wieder, Sir – laden Sie wieder.«

»Nehmt ihm die Flinte ab!« rief Herr Pickwick vom Schiebkarren herunter, über die schwarzen Ahnungen des Langen von Schauern geschüttelt, »Nehmt ihm die Flinte ab! Hört mich niemand?«

Aber niemand wollte dem Befehle Folge leisten, und Herr Winkle, der einen rebellischen Blick auf Herrn Pickwick schoß, lud seine Flinte auf’s neue und ging mit der übrigen Gesellschaft weiter.

Wir sind verpflichtet, unter Berufung auf Herrn Pickwicks Autorität ausdrücklich zu bemerken, daß Herr Tupman in seinem Verfahren weit mehr Klugheit und Besonnenheit an den Tag legte, als Herr Winkle. Doch wollen wir damit den Kenntnissen des letztgenannten Herrn in allen Fächern der Jagdwissenschaft keineswegs zunahe treten. Wie nämlich Herr Pickwick schon bemerkte, so ist es, was auch immer Schuld daran sein mag, schon seit fast undenklichen Zeiten immer wieder vorgekommen, daß oft gerade die besten und größten Philosophen, die in die Tiefe der Wissenschaft eingedrungen waren, nicht das Glück hatten, die Theorie auf die Praxis zu übertragen.

Herrn Tupmans Verfahren war, wie das bei den größten Entdeckungen gewöhnlich der Fall ist, äußerst einfach. Mit dem schnellen Scharfblick des Genies hatte er die beiden Hauptsachen, auf die es ankam, mit einem Male gefunden – erstens sein Gewehr abzuschießen, ohne sich selbst zu verletzen, und zweitens, es abzuschießen ohne Gefahr für die Umstehenden. Nachdem er nun die Schwierigkeit, überhaupt zu schießen, überwunden hatte, war natürlich das Beste, was er tun konnte, die Augen fest zuzudrücken und in die Luft zu feuern.

Einmal sah Herr Tupmann, als er nach dieser Heldentat die Augen wieder aufschlug, ein fettes Rebhuhn verwundet zu Boden fallen. Er stand eben im Begriff, Wardle zu seinem unwandelbaren Glück zu gratulieren, als dieser Herr auf ihn zutrat, und ihm warm die Hand drückte.

»Tupmann«, sagte der alte Herr, »Sie hatten es gerade auf dieses Huhn abgesehen?«

»Nein«, sagte Herr Tupman, »nein.«

»Sie haben es«, erwiderte Wardle; »ich sah es, wie Sie’s gemacht haben – ich bemerkte, wie Sie es herausgeschossen haben – ich beobachtete Sie, wie Sie Ihre Flinte nahmen und darauf zielten, und ich kann Ihnen sagen, der beste Schütze auf der Welt hätte es nicht hübscher machen können. Sie sind geschickter, als ich geglaubt hatte, Herr Tupman; – Sie sind schon besser bei der Sache.«

Vergeblich lehnte Herr Tupmann mit einem Lächeln und einer Selbstverleugnung, die sonst nie zu seinen Tugenden gehörte, die Ehre ab. Aber eben dieses Lächeln wurde für einen Beweis des Gegenteils angesehen; und von dem Augenblicke an stand sein Ruf fest begründet. Das ist aber nicht der einzige Ruhm, der so leicht erworben worden; auch sind so glückliche Umstände nicht allein auf die Hühnerjagd beschränkt.

Herr Winkle schoß fort und fort, und der Rauch wirbelte dahin, ohne weitere bemerkenswerte Ergebnisse herbeizuführen; bald feuerte er seine Flinte in die Luft, bald ging der Schuß so nahe am Boden hin, daß er das Leben der beiden Hunde in eine unsichere und heikle Lage versetzte. Als Liebhaberpröbchen betrachtet, hatten seine Schüsse sehr viel Abwechselndes und Kunstvolles. Sollte aber ein bestimmtes Ziel gesetzt sein, so waren seine Versuche wohl als ganz mißlungen zu betrachten. Es ist ein anerkannter Grundsatz, jede Kugel hat ihr Ziel. Wenden wir diesen Satz aber auf Herrn Winkles Schrotkörner an, so waren es unglückliche Findelkinder, die, ihrer natürlichen Rechte beraubt, nirgends zu Hause sind und ohne Zweck und Ziel umherirren.

»Das ist ein schwüler Tag – nicht wahr?« sagte Wardle, als er auf den Schiebkarren zuging und sich den Schweiß von seinem glühend roten Gesicht wischte.

»Sicherlich«, versetzte Herr Pickwick. »Die Sonne ist fürchterlich heiß, sogar für mich. Wie es erst Sie empfinden müssen!«

»Ja«, sagte der alte Herr; »es ist ziemlich heiß. Doch es ist zwölf Uhr vorbei. Sehen Sie dort den grünen Hügel?«

»Gewiß.«

»Dort werden wir unsern Lunch halten: und, bei Jupiter, da ist auch der, Junge schon mit dem Korbe, so pünktlich wie eine Sekundenuhr.«

»Das ist er«, sagte Herr Pickwirk aufgeheitert. »Ein guter Junge das. Ich will ihm gleich einen Schilling geben. Los, Sam, fahre mich hin!«

»Halten Sie sich fest, Sir«, sagte Herr Weller, durch die Aussicht auf den Jagdschmaus gestärkt: »aus dem Weg, du Lederhosenjunge. Wenn Ihr mein kostbares Leben schätzt, so werft mich nicht um, wie der Gentleman zu dem Kutscher sagte, als man ihn zum Galgen führte.«

Und seinen Schritt in starken Trab verwandelnd, fuhr Herr Weller seinen Herrn schnell auf den grünen Hügel, setzte ihn geschickt neben dem Korbe ab und fing mit der größten Eile an auszupacken.

»Eine Kalbspastete«, begann Herr Weller seinen Monolog, als er die Speisen auf den Rasen legte. »Etwas Gutes um eine Kalbspastete, wenn man die Dame kennt, die sie zubereitet hat, und man sicher ist, daß sie von keiner Katze kommt. Und doch – worin liegt der Unterschied, wenn beide einander so ähnlich sind, daß sie selbst die Pastetenbäcker nicht unterscheiden können?«

»Können Sie das in der Tat nicht, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, Herr«, antwortete Herr Weller, nach seinem Hute greifend. »Logierte einmal im nämlichen Hause mit einem solchen Pastetenbäcker, und das war ein recht hübscher Mann – ein durchtriebener Kauz – konnte aus allem Pasteten machen. ›Was für ne Riesenmenge Katzen halten Sie doch, Herr Brooks?‹ fragte ich ihn im Vertrauen. – ›O ja‹, sagte er, ›es sind ziemlich viele.‹ – ›Sie müssen ein großer Katzenfreund sein‹, sagte ich. – ›Andere Leute sind’s‹, sagte er mir zuwinkend: ›sie haben aber jetzt ihre Zeit nicht bis der Winter kommt.‹ – ›Sie haben ihre Zeit nicht?‹ fragte ich. – ›Nein‹, sagte er: ›Früchte haben ihre im Sommer, Katzen im Winter.‹ – ›Was meinen Sie damit?‹ fragte ich. – ›Meinen?‹ sagte er. ›Nun, ich meine, daß ich mich mit der Schlächterzunft nicht einlassen will, um die Fleischpreise zu steigern‹, sagte er. ›Herr Weller‹, sagte er, meine Hand heftig drückend und mir in die Ohren flüsternd – ›sagen Sie das nicht weiter, es liegt nur an der Zubereitung. Meine Fabrikate werden aus lauter solchen edlen Tieren gemacht‹, sagte er, auf ein sehr hübsches, gestreiftes Kätzchen deutend, ›und ich stutze sie zu Ochsenfleisch, Kalbfleisch oder Nieren zu, wie es verlangt wird: und noch mehr‹, sagte er, ›ich kann in einer Minute aus Kalbfleisch Ochsenfleisch, oder aus Ochsenfleisch Nieren, oder aus einem von diesen Hammelfleisch machen, wie der Markt wechselt und der Geschmack verschieden ist.‹«

»Sam, das muß ein sehr erfinderischer junger Mann gewesen sein«, sagte Herr Pickwick mit einem leichten Schauder.

»Das war er, Sir«, versetzte Herr Weller, in seinem Zuge fortfahrend: »und die Pasteten waren schön. – Eine Zunge – es ist was Gutes um eine Zunge, wenn es keine Weiberzunge ist. Brot, Schweinsknöchel, man könnte sie nicht schöner malen – kaltes Rindfleisch in Schnitten, sehr gut. Was ist in den steinernen Krügen, du junger Dachs?«

»In diesen ist Bier«, antwortete der Junge, ein paar große steinerne Flaschen, die mit einem ledernen Riemen zusammengebunden waren, von der Schulter nehmend: »in den andern kalter Punsch.«

»Ein hübsche» Zwischenmahl, wenn man’s so im Ganzen beisammen hat«, sagte Herr Weller, die Gänge der Mahlzeit mit großem Behagen überblickend. »Nun, meine Herren: drauf los, wie der Engländer zu dem Franzosen sagte, als sie die Bajonette aufsteckten.«

Es bedurfte keiner zweiten Einladung für die Gesellschaft, dem Mahle seine volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ebenso waren keine dringenden Bitten nötig, Herrn Weller, den langen Wildhüter und die beiden Jungen dahin zu bringen, daß sie sich in einiger Entfernung ins Gras streckten und eine dezente Portion von den Speisen nahmen. Eine alte Eiche diente der Gruppe zu einem freundlichen Obdach, Ackerland und Wiesen, von üppigen Hecken durchschnitten, üppig mit Wald ausgeschmückt, lag zu ihren Füßen.

»Es ist entzückend – ganz entzückend!« sagte Herr Pickwick, dessen ausdrucksvolles Gesicht durch die Wirkung der Sonne schnell fast bis zum Bersten der Haut aufgetrieben wurde.

»Ja, das ist’s – das ist’s, alter Kamerad«, versetzte Wardle. »Kommen Sie: ein Glas Punsch.«

»Mit großem Vergnügen«, sagte Herr Pickwick, und die Heiterkeit seines Gesichtes, nachdem er es getrunken, zeugte von der Aufrichtigkeit seiner Antwort. »Gut«, meinte Herr Pickwick, mit den Lippen schnalzend. »Sehr gut. Ich möchte noch eins. Kühlend, sehr kühlend. Kommen Sie, meine Herren«, fuhr Herr Pickwick fort, noch immer den Krug festhaltend: »einen Toast. Unsere Freunde zu Dingley Dell!«

Der Toast wurde mit lautem Beifall aufgenommen.

»Ich will Ihnen sagen, was ich tun will, um wieder zu einem guten Schuß zu kommen«, sagte Herr Winkle, der Brot und Hammelfleisch mit einem Taschenmesser zerschnitt und verspeiste. »Ich will ein ausgestopftes Rebhuhn auf eine Stange stecken und mich daran üben, indem ich mich zuerst in geringer Entferung davon aufstelle und allmählich meine Schußlinie verlängere. Ich glaube, das ist eine treffliche Übung.«

»Ich kenne einen Gentleman, Sir«, sagte Herr Wellcr, »der es auch so machte und mit einem Meter anfing. Aber er versuchte es nicht zum zweitenmal, denn er blies den Vogel auf den ersten Schuß so rein herunter, daß niemand mehr eine Feder von ihm sah.«

»Sam«, rief Herr Pickwick.

»Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Sei so gut und behalte deine Anekdoten für dich, bis man dich fragt.«

»Sehr wohl, Sir.«

Und Freund Weller kniff das eine Auge zu, das nicht durch die eben an die Lippen geführte Bierkanne verdeckt war. Er tat es auf eine so spaßhafte Weise, daß die beiden Jungen mit Lachen nicht mehr aufhören konnten und sogar der Lange sich zu lächeln herabließ.

»Ja, gewiß, das ist ein vorzüglicher kalter Punsch«, bemerkte Herr Pickwick, den steinernen Krug betrachtend: »’s ist aber auch ein warmer Tag und – Tupman, mein lieber Freund, ein Glas Punsch?«

»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Herr Tupman.

Nachdem er das Glas geleert hatte, trank Herr Pickwick ein anderes, bloß mal, um zu sehen, ob Pomeranzenschalen in dem Punsch seien, denn Pomeranzenschalen waren ihm von jeher zuwider. Da er aber fand, daß keine darin waren, trank er noch ein weiteres Glas auf die Gesundheit ihres abwesenden Freundes, und dann fühlte er sich gebieterisch aufgefordert, noch ein anderes zu Ehren des unbekannten Punschbereiters vorzuschlagen.

Diese Reihe von Gläsern verfehlte nicht ihre entsprechende Wirkung auf Herrn Pickwick. Sein Gesicht funkelte im sonnigsten Lächeln: Fröhlichkeit spielte um seine Lippen, und rosige Laune glänzte in seinem Auge. Allmählich geriet Herr Pickwick immer mehr unter den Einfluß des Getränks, dessen anregende Eigenschaft durch die Hitze noch erhöht wurde. Herr Pickwick konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Gesang vorzutragen, den er in seiner Kindheit gehört hatte; und da der Versuch mißlang, suchte er sein Gedächtnis durch eine noch größere Anzahl von Gläsern zu erhöhter Tätigkeit anzuspornen. Das schien jedoch eine ganz entgegengesetzte Wirkung hervorzubringen. Hatte er nämlich zuvor die Worte des Gesangs vergessen, so vergaß er jetzt, wie man überhaupt in artikulierten Tönen sprechen muß; und endlich, nachdem er sich auf seine Beine gestellt hatte, um eine ergreifende Rede an die Gesellschaft zu halten, fiel er auf den Schiebkarren und schlief augenblicklich ein.

Nachdem der Korb wieder gepackt war, und man es rein unmöglich gefunden hatte, Herrn Pickwick aus seinem Todesschlafe zu wecken, fand eine Beratung statt, ob es besser sei, wenn Herr Weller seinen Herrn wieder zurückführe, oder wenn er ihn liegen lasse, wo er lag, bis sich alle wieder auf den Rückweg begeben würden. Schließlich entschied man sich für das Letztere. Da die weitere Expedition nur noch eine knappe Stunde dauern sollte und Herr Weller sehr inständig bat, die Gesellschaft begleiten zu dürfen, so wurde beschlossen, Herrn Pickwick auf dem Karren zu lassen und ihn auf dem Rückweg wieder mitzunehmen, Man machte sich also auf, und Herr Pickwick schnarchte ganz behaglich im Schatten fort.

Daß Herr Pickwick im Schatten fortgeschnarcht hätte, bis seine Freunde zurückgekommen wären, oder statt dessen geschnarcht hätte, bis sich die Schatten des Abends auf das Gefilde lagerten, scheint unzweifelhaft, wenn man nur voraussetzt, daß er es ungestört hätte tun können. Das war aber leider nicht der Fall. Es kam anders.

Kapitän Boldwig war ein kleiner rasch aufbrausender Mann, in einer steifen, schwarzen Halsbinde und einem blauen Überrock. Zuweilen ließ er sich herab, sein Gut zu inspizieren und vergaß dann nie, ein dickes spanisches Rohr mit messingner Zwinge, einen Gärtner und Untergärtner mit sehr ergebenen Gesichtern mitzunehmen. Diesen (den Gärtnern, nicht dem Stock) erteilte Kapitän Boldwig mit aller gebührenden Hoheit und Barschheit seine Befehle. Denn Kapitän Boldwigs Schwägerin hatte einen Marquis geheiratet, und des Kapitäns Wohnsitz war eine Villa. Sein Grundstück war ein Landgut, und es war alles sehr großartig und auf großen Fuß eingerichtet,

Herr Pickwick hatte noch keine halbe Stunde geschlafen, als der kleine Kapitän Boldwig, von seinen beiden Gärtnern begleitet, so schnell daherschritt, wie es seine Wichtigkeit und Würde erlaubte. Als nun Kapitän Boldwig an die Eiche kam, blieb er stehen, holte tief Atem, sah sich in der Gegend um, als ob die Gegend sich hochgeehrt fühlen müßte, daß er sie in Augenschein nahm, stieß dann mit seinem Stock kräftig auf den Boden und wandte sich an seinen Obergärtner.

»Hunt!« rief Kapitän Boldwig.

»Ja, Sir«, sagte der Gärtner.

»Harke diesen Platz morgen früh – hörst du, Hunt?«

»Ja, Sir.«

»Und sorge dafür, daß er überhaupt in ordentlichem Stande erhalten wird – hörst du, Hunt?«

»Ja, Sir.«

»Und erinnere mich daran, anschlagen zu lassen, daß niemand ungestraft mein Landgut betreten darf. Auch Selbstschüsse muß ich anbringen und überhaupt alles tun, was das gemeine Pack fernhält. Hörst du, Hunt? Hörst du?«

»Wird besorgt, Sir.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte der andere, mit der Hand an den Hut greifend.

»Nun, Wilkins, was ist’s mit dir?« fragte Kapitän Boldwig.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir – aber ich meine, man hat heute schon Ihr Gebot übertreten.«

»Was!!« rief der Kapitän, sich rings umschauend.

»Ja, Sir. – Man hat, glaube ich, hier gezecht.«

»Gnade Gott den Verwegenen, wenn sie das riskierten!« sagte Kapitän Boldwig, als er die Überbleibsel, die auf dem Rasen zerstreut lagen, gewahrte. »Wahrhaftig, sie haben hier wirklich ein Gelag gehalten. Ich wollte, ich hätte die Landstreicher hier«, sprach der Kapitän, seinen Knotenstock schwingend.

»Ich wollte, ich hätte die Landstreicher hier«, wiederholte der Kapitän wütend.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sprach Wilkins, »aber –«

»Aber was? He?« brüllte der Kapitän, und den furchtsamen Blicken Wilkins folgend, fielen seine Augen auf den Schiebkarren und Herrn Pickwick.

»Wer seid Ihr, Spitzbube?« rief der Kapitän, Herrn Pickwick mit seinem Stocke einige Stöße versetzend. »Wie heißt Ihr?«

»Kalter Punsch«, murmelte Herr Pickwick und sank wieder in Schlaf.

»Wie?« fragte Kapitän Boldwig.

Keine Antwort.

»Wie sagte er, daß er heiße?« fragte der Kapitän wieder.

»Punsch Das englische Punch bezeichnet zugleich einen Hanswurst. glaube ich, Sir«, erwiderte Wilkins.

»Das ist eine Unverschämtheit, eine verfluchte Unverschämtheit«, sagte Kapitän Boldwig. »Er stellt sich nur, als ob er schlafe«, fuhr der Kapitän ganz empört fort. »Es ist ein Betrunkener; es ist ein betrunkener Plebejer. Bring‘ ihn weg, Wilkins, bring‘ ihn auf der Stelle weg.«

»Wohin soll ich ihn bringen, Sir?« fragte Wilkins ganz schüchtern.

»Bring‘ ihn zum Teufel«, antwortete Kapitän Boldwig.

»Sehr wohl, Sir«, entgegnete Wilkins.

»Halt!« rief der Kapitän.

Wilkins hielt.

»Führe ihn« – sagte der Kapitän – »sperr‘ ihn in einen Tierstall, und wir wollen sehen, ob er sich auch Punsch nennt, wenn er zu sich kommt. Er soll mich nicht für den Narren halten – nein, er soll mich nicht für den Narren halten. Schaff‘ ihn weg.«

Auf diesen diktatorischen Befehl wurde Herr Pickwick weggeschafft, und der große Kapitän Boldwig setzte voll Zorn seinen Spaziergang fort.

Unbeschreiblich war das Erstaunen der kleinen Gesellschaft, als sie bei ihrer Rückkehr fand, daß Herr Pickwick samt dem Schiebkarren verschwunden war. Es war das rätselhafteste, unerklärlichste Ereignis, von dem man jemals gehört hatte. Wenn sich ein Lahmer ohne weiteres auf die Füße geholfen hätte und auf und davon gegangen wäre, so würde das schon ein sehr außerordentlicher Fall gewesen sein. Aber wenn dazu noch ein schwerer Karren kam, den er zu seinem Vergnügen vor sich herschob, so steigerte das die Sache bis zum wahrhaften Wunder. Sie durchsuchten jeden Winkel im ganzen Umkreis, sowohl miteinander, als auch einzeln. Sie schrien, pfiffen, lachten, riefen ihn beim Namen – alles mit gleichem Mißerfolg. Herr Pickwick war nicht aufzufinden, und nach einigen Stunden fruchtlosen Nachsuchens gelangten sie zu dem unerfreulichen Schluß, daß sie ohne ihn nach Hause zurückkehren müßten.

Mittlerweile war Herr Pickwick nach dem Stall geschafft und dort glücklich abgesetzt worden. Zum außerordentlichen Vergnügen und zur Belustigung nicht nur aller Jungen im Dorfe, sondern von dreiviertel der Bevölkerung überhaupt, die sich rings um ihn versammelt hatten, um sein Erwachen abzuwarten, schlief er noch immer auf seinem Schiebkarren. Hatte es ihnen den höchsten Genuß gewährt, ihn hereingeschafft zu sehen, wieviel hundertmal größer war ihr Entzücken, als er ein paar Mal verdröselt nach Sam rief und sich auf seinem Schiebkarren halb aufrichtete. Mit grenzenlosem Erstaunen betrachtete er die Gesichter vor sich.

Sein Erwachen begleitete ein allgemeines Jubelgeheul. Seine vertatterte Frage: »Was ist denn los?« veranlaßte ein zweites, das womöglich noch lauter war als das erste.

»Das ist ein Hauptspaß«, brüllte das Volk.

»Wo bin ich?« rief Herr Pickwick.

»Im Tierstall«, hieß es.

»Wie kam ich hierher? Was hab ich getan? Von wem bin ich hergebracht worden?«

»Boldwig – Kapitän Boldwig«, war die einzige Antwort.

»Laßt mich hinaus«, rief Herr Pickwick. »Wo ist mein Diener? wo sind meine Freunde?«

»Ihr habt ja schöne Freunde, Hurra!«

Eine Rübe flog ihm an den Kopf, dann eine Kartoffel, dann ein Ei, dann folgten noch andere praktische Beweise der Volkslaune.

Wie lange dieser Auftritt gedauert, oder wieviel Herr Pickwick noch gelitten haben würde, kann niemand sagen, wäre nicht plötzlich ein Wagen herbeigekommen, aus dem der alte Wardle und Sam Weller stiegen. Der alte Wardle bahnte sich in kürzerer Zeit, als man es, wenn auch nicht lesen, doch wenigstens schreiben kann, zu Herrn Pickwick eine Gasse und hob ihn in demselben Augenblicke in den Wagen, als Freund Weller im Boxkampf mit dem Amtsbüttel den dritten und letzten Gang gemacht hatte.

»Lauft zur Polizei«, schrie ein Dutzend Stimmen.

»Lauft nur brav«, sagte Herr Weller, sich auf den Bock schwingend. »Mein Kompliment – Master Wellers Kompliment – an den Amtmann, und sagt ihm, ich habe ihm seinen Büttel lahmgeschlagen. Wenn er einen neuen anstellen wolle, so werde ich morgen wieder kommen und ihn gleichfalls lahmschlagen! Fahr zu, alter Knabe!«

»Ich werde vor allem eine Klageschrift gegen diesen Kapitän Boldwig wegen grundloser Verhaftung einreichen und sie gleich morgen nach London senden«, sagte Herr Pickwick, sobald die Kutsche zum Flecken hinausfuhr.

»Wir haben uns, scheint es, eine Überschreitung der Grenze zuschulden kommen lassen«, sagte Wardle.

»Das geht mich gar nichts an«, erwiderte Herr Pickwick: »ich bringe die Klage an.«

»Das lassen Sie lieber bleiben«, sagte Wardle.

»Nein, gewiß nicht; bei –« doch da Herr Pickwick Wardles ironisches Lächeln wahrnahm, so hielt er inne, und fragte – »Warum denn nicht?«

»Weil«, antwortete der alte Wardle, vor Lachen beinahe platzend, »weil man den Stiel umdrehen und sagen könnte, wir hätten zu viel kalten Punsch getrunken.«

Herrn Pickwicks Gesicht lächelte, er mochte sich sträuben wie er wollte: das Lächeln wurde zum Lachen, das Lachen zum Wiehern, und das Wiehern wurde allgemein. Um ihre gute Laune zu erhalten, stiegen sie am ersten Wirtshause an der Straße ab und befahlen ein Glas Grog pro Kopf und eine Flasche Steifen für Herrn Samuel Weller.

Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Das zeigt, wie Dodson und Fogg Männer vom Geschäft und ihre Schreiber Männer von Welt sind; und wie ein rührendes Zusammentreffen zwischen Herrn Weller und seinem lange vermißten Vater stattfindet; ferner zeigt es, was für ausgezeichnete Geister in der Elster zusammenkommen und was für ein Kapitalkapitel das folgende Kapitel sein wird.

In einem schmutzigen Hause am äußersten Ende von Freemans Court Cornhill saßen in einem Vorderzimmer des Erdgeschosses die vier Schreiber der Herren Dodson und Fogg, zweier Anwälte seiner Majestät bei den Gerichtshöfen von Kings Bench und Common Pleas zu Westminsier und Prokuratoren beim Oberkanzleigericht. Vorbesagte Schreiber erfreuten sich im Laufe ihrer Kanzleistunden ungefähr ebenso vieler günstiger Licht- und Sonnenblicke, wie jemand zu erhalten hoffen darf, der in einem Brunnen von ordentlicher Tiefe steht, ohne jedoch den Vorteil zu haben, den dieser seinem abgeschlossenen Aufenthalt verdankt – den Vorteil nämlich, die Sterne bei Tage zu sehen.

Die Schreibstube der Herren Dodson und Fogg war ein dunkles, dumpfiges, muffiges Zimmer mit einem Nebengemach, das die Schreiber durch eine hohe spanische Wand von dem gemeinen Volke trennte. Außerdem waren da ein paar alte hölzerne Stühle, eine sehr laut tickende Uhr, ein Kalender, ein Regenschirmständer, eine Reihe hölzerner Hutnägel, einige Wandbretter, worauf verschiedene schmutzige Aktenfaszikel lagen, einige alte hölzerne Schubladen mit Aufschriften und allerlei baufällige, steinerne Tintenkrüge von verschiedener Gestalt und Größe. Eine Glastür führte in das Vorzimmer der Amtsstube: und auf der andern Seite der Glastür zeigte sich am nächsten Freitag morgen nach dem Ereignis, von dem wir im letzten Kapitel getreuen Bericht erstatteten, Herr Pickwick nebst Herrn Weller, der seinem Gebieter auf dem Fuße folgte.

»Na los, herein!« rief eine Stimme aus dem Verschlag auf Herrn Pickwicks bescheidenes Anklopfen.

Also eingeladen, traten Herr Pickwick und Sam ein.

»Ist Herr Dodson oder Herr Fogg zu Hause?« fragte Herr Pickwick artig und näherte sich mit dem Hut in der Hand dem Verschlage.

»Herr Dodson ist nicht zu Hause und Herr Fogg hat dringende Geschäfte«, knurrte die Stimme; und zugleich sah der Kopf des Redners mit einer Feder hinter dem Ohr über die spanische Wand nach Herrn Pickwick.

Es war ein unförmlicher Kopf, feuerfarbenes Haar, sorgfältig nach der einen Seite gescheitelt und mit Pomade glattgestrichen, umschattete in kleinen, halbkreisförmigen Locken ein glattes Gesicht mit kleinen Äuglein, das von einem sehr schmutzigen Hemdkragen und einer schwarzen, strickartigen Halsbinde eingefaßt war.

»Herr Dodson ist nicht zu Hause und Herr Fogg hat dringende Geschäfte«, sagte der Mann, dem der Kopf gehörte.

»Wann wird Herr Dodson zurückkommen, Sir?« fragte Herr Pickwick.

»Weiß nicht.«

»Wird Herr Fogg lange beschäftigt sein, mein Herr?«

»Keine Ahnung.«

Nun begann der Mann mit großer Überlegung seine Feder zu schneiden, während ein anderer Schreiber, der ein abführendes Brausepulver mischte, unter dem Schutzdache seines Lichtschirmes beifällig lachte.

»So will ich warten«, sagte Herr Pickwick.

Keine Antwort folgte, und so setzte sich Herr Pickwick unaufgefordert und horchte auf die laut tickende Uhr, wie auch auf die murmelnde Unterhaltung der Schreiber.

»Das war ein Spaß, nicht wahr?« sagte einer von den Herren in einem braunen Rock mit messingnen Knöpfen und tintenfarbenen Tuchhosen am Schlusse einer unglaublichen Erzählung seiner Abenteuer vom vorigen Abend.

»Verdammt nett – verdammt nett«, sagte der Brausepulvermann.

»Tom Eummins führte den Vorsitz«, fuhr der Mann mit dem braunen Rock fort. »Es war halb fünf Uhr, als ich nach Somers Town kam, und ich hatte mir so schön einen angesäuselt, daß ich das Schlüsselloch nicht finden konnte und die Alte aus den Federn pochen mußte. Möchte nur wissen, was der alte Fogg sagen würde, wenn er das erführe. Ich könnte, glaub‘ ich, hier Abschied feiern, nicht wahr?«

Sie lachten zusammen über die geistreiche Glosse.

»Mit Fogg war es diesen Morgen ein rechter Spaß«, sagte der Mann in dem braunen Rock, »während Jack im obern Stock die Papiere sortierte und ihr beide auf dem Stempelbureau waret. Fogg war hier und las die Briefe durch, als der Kerl von Camberwell – ihr wißt es ja, der, dem wir die Klageschrift gemacht hatten – hereinkam; wie hieß er doch?«

»Ramsey«, antwortete der Schreiber, der mit Herrn Pickwick gesprochen hatte.

»Ach ja, Ramsey – ein amüsanter Kunde mit jämmerlichem Gesicht. ›Nun, Sir‹, sagte der alte Fogg mit einem stolzen Blick – Ihr kennt seine Weise – ›nun, Sir, kommen Sie, um die Sache abzumachen?‹ – ›Ja, Sir‹, sagte Ramsey, seine Hand in die Tasche steckend und das Geld herausziehend; ›die Schuld macht zwei Pfund, zehn Schilling, und die Kosten drei Pfund fünf Schilling; da –‹; und er seufzte tief, als er das Geld hinlegte, das in Löschpapier gewickelt war. Der alte Fogg sah zuerst auf das Geld, dann auf ihn, und endlich räusperte er sich in seiner Manier, daß ich schon merkte, wo er hinaus wollte. ›Sie wissen wohl nicht, daß eine Deklaration eingegeben ist, wodurch die Kosten bedeutend vermehrt werden?‹ sagte Fogg. – ›Das kann unmöglich sein, Sir‹, sagte Ramsey zurückbebend: ›die Zeit war erst gestern Abend abgelaufen, Sir.‹ – ›Ich sage Ihnen, es ist so‹, erwiderte Fogg! ›meine Schreiber haben sie soeben eingegeben. Herr Wicks, ist nicht Herr Jackson fort, um die Deklaration in der Sache Bullman und Ramsey einzureichen?‹ Natürlicherweise sagte ich ja, und dann hustete Fogg wieder und sah auf Ramsey. ›Mein Gott‹, sagte Ramsey, ›ich habe mich beinahe zu Tode gemartert, um dieses Geld aufzutreiben und es zu rechter Zeit abzuliefern, und jetzt soll alles umsonst gewesen sein?‹ – ›Durchaus nicht‹, versetzte Fogg kaltblütig!; ›Sie brauchen nur zurückzukehren, etwas mehr aufzutreiben und es zu rechter Zeit zu bringen.‹ – ›Ich kann’s, bei Gott, nicht mehr zusammenbringen‹, sagte Ramsey, mit der Faust auf den Tisch schlagend. ›Beleidigen Sie mich nicht, Sir‹, sagte Fogg, absichtlich aufbrausend. ›Ich beleidige Sie nicht, Sir‹, sagte Ramsey. – ›Sie entfernen sich, Sir‹, versetzte Fogg; ›Sie entfernen sich aus dieser Schreibstube, Sir, und kommen erst wieder, Sir, wenn Sie sich zu betragen gelernt haben.‹ Ramsey wollte etwas erwidern, aber Fogg ließ ihn nicht zum Wort kommen. Er, d. h. Ramsey, steckte daher sein Geld wieder ein und schlich hinaus. Die Tür war kaum geschlossen, als der alte Fogg sich mit süßem Lächeln zu mir wandte und die Deklaration aus seiner Rocktasche zog. ›Hier Wicks, nehmen Sie eine Droschke, fahren Sie so schnell wie möglich in den Temple hinab und reichen Sie das ein. Die Kosten stehen ganz sicher, denn es ist ein zuverlässiger Mann mit einer großen Familie und einem wöchentlichen Einkommen von fünfundzwanzig Schillingen. Wenn er es zu einem Verhaftbefehl kommen läßt, wie er schließlich muß, so weiß ich, daß die Leute, in deren Dienst er steht, schon für die Bezahlung Sorge getragen werden. So zwicken wir ihm ab so viel wir können, Herr Wicks; es ist das eine christliche Handlungsweise, denn bei seiner großen Familie und seinem schmalen Einkommen kann ihm solche Lektion nur eine heilsame Warnung sein, sich nicht wieder in Schulden zu stürzen – nicht wahr, Herr Wicks, nicht wahr?‹ – und Fogg lächelte beim Hinausgehen so gutmütig, daß es eine Lust war, ihn anzusehen. »Er ist ein Muster von Geschäftemann«, sagte Wicks im Tone der höchsten Bewunderung, »ein Muster – nicht wahr?«

Die drei andern stimmten von Herzen bei, und waren ganz begeistert von der Mitteilung.

»Feine Leute das, Sir«, flüsterte Herr Weller seinem Herrn zu: »haben einen sehr hübschen Begriff von einem Spaß, Sir.«

Herr Pickwick nickte beifällig und hustete, um die Aufmerksamkeit der jungen Herrn hinter dem Verschlage auf sich zu lenken.

 

Diese ließen sich nun nach dem Genuss ihrer Unterhaltung herab, von den Fremden Notiz zu nehmen.

»Ich möchte wissen, ob Fogg jetzt seine Geschäfte beendet hat«, sagte Jackson.

»Will nachsehen«, erwiderte Wicks, gemächlich vom Stuhle aufstehend. »Wen soll ich Herrn Fogg melden?«

»Pickwick«, antwortete der berühmte Held dieser Memoiren.

Herr Jackson ging die Treppe hinauf, kehrte aber bald wieder mit der Meldung zurück, Herr Fogg würde in fünf Minuten für Herrn Pickwick zu sprechen sein, und setzte sich wieder hinter sein Pult.

»Wie, sagte er, daß er heiße«, flüsterte Wicks.

»Pickwick«, antwortete Jackson. »Er ist der Beklagte in der Sache Bardell und Pickwick.«

Nun ließ sich ein Scharren mit den Füßen, verbunden mit dem Tone eines unterdrückten Lachens hinter dem Verschlag hören.

»Sie beobachten Sie, Sir«, flüsterte Herr Weller.

»Sie beobachten mich, Sam?« versetzte Herr Pickwick. »Was willst du damit sagen?«

Herr Weller deutete mit dem Daumen über seine Schulter, und als Herr Pickwick aufsah, bemerkte er die erfreuliche Tatsache, dass alle vier Schreiber mit dem Ausdrucke größten Vergnügens ihre Köpfe über die spanische Wand reckten, um Gesicht und Gestalt des Mannes, der mit einem weiblichen Herzen gespielt und die Ruhe eines Frauenzimmers gestört haben sollte, genau zu betrachten. Als er aber aufblickte, verschwand die Kopfreihe rasch. Im nächsten Augenblick hörte man Schreibfedern heftig über die Papiere hinkratzen.

Plötzlich ertönte die Glocke, die in der Schreibstube hing, und rief Herrn Jackson in Foggs Zimmer. Jackson kam zurück und meldete, Herr Fogg sei bereit, Herrn Pickwick zu empfangen, wenn er sich die Treppe hinaufbemühen wolle.

Also ging Herr Pickwick die Treppe hinauf und ließ Sam Weller unten. An der Tür eines nur eine Treppe höher gelegenen Hinterzimmers standen in mächtigen Buchstaben die imponierenden Worte: »Herr Fogg.« Jackson pochte und führte auf das »Herein« Herrn Pickwick ins Zimmer.

»Ist Herr Dodson da?« fragte Herr Fogg.

»Soeben ist er gekommen, Sir«, erwiderte Jackson.

»Sagen Sie ihm, er möchte hierher kommen.«

»Ja, Sir«, antwortete Jackson und entfernte sich.

»Nehmen Sie Platz, Sir«, sagte Fogg. »Hier ist das Papier. Mein Kollege wird sogleich hier sein; wir können dann über die Sache reden.«

Pickwick nahm einen Stuhl und das Papier, aber anstatt das Blatt zu lesen, schielte er darüber weg und fasste den Geschäftsmann ins Auge. Es war ein ältlicher Herr mit einem sinnigen Gesicht, ein Vegetarier, in schwarzem Rock, dunkel melierten Beinkleidern und kurzen, schwarzen Gamaschen – eine Art von Wesen, das mit dem Pulte, an dem es schrieb, verwachsen und ungefähr ebensoviel, wie dieses, zu denken oder zu fühlen schien.

Nach einigen Minuten Schweigen erschien Herr Dodson, ein plumper, stämmig gebauter Mann, mit strengem Blick und lauter Stimme; die Unterhaltung begann sofort.

»Das ist Herr Pickwick«, sagte Fogg.

»Ah, Sie sind der Beklagte in der Sache Bardell und Pickwick?« fragte Dodson.

»Ja, Sir«, versetzte Pickwick.

»Nun, Sir«, fuhr Dodson fort, »was machen Sie für einen Vorschlag?«

»Ja«, wiederholte Fogg, die Hände in die Taschen seiner Beinkleider steckend und sich in seinem Armstuhl zurücklehnend: »was machen Sie für einen Vorschlag, Herr Pickwick?«

»Pst, Fogg«, sagte Dodson, »lassen Sie mich hören, was Herr Pickwick zu sagen hat.«

»Ich komme, meine Herren«, erwiderte Herr Pickwick mit einem gelassenen Blick auf die beiden Kollegen: »ich komme, meine Herren, um die Überraschung auszudrücken, womit ich Ihr gestriges Schreiben las, und Sie zu fragen, was Sie für einen Grund haben, eine Klage gegen mich vorzubringen?«

»Grund, eine –«

So weit war Fogg gekommen, als er von Dodson unterbrochen wurde.

»Herr Fogg«, erklärte Dodsun, »ich will sprechen.«

»Verzeihung, Herr Dodson«, sagte Fogg.

»Was den Grund zur Klage betrifft, Sir«, fuhr Dvdson mit Würde und Salbung fort, »so können Sie Ihr eigenes Gewissen und Ihre eigenen Gefühle fragen. Wir lassen uns gänzlich durch die Angabe unseres Klienten leiten, mag dieselbe nun wahr oder falsch, glaubhaft oder unglaubhaft sein. Aber wie dem auch sei – ich sage Ihnen unumwunden, unsere Gründe sind stark und unumstößlich. Sie mögen ein unglücklicher Mann sein, oder aus Absicht gehandelt haben; aber wenn man mich als Geschworenen bei meinem Eide aufforderte, eine Meinung über Ihr Betragen abzugeben, so würde ich unumwunden sagen, daß darüber nur eine Ansicht statthaben könne.«

Hier richtete sich Dodson mit der Miene beleidigter Tugend auf und sah auf Fogg, der seine Hände tiefer in die Taschen steckte und mit klugem Kopfschütteln im Tone vollkommenster Beistimmung sagte:

»Ganz gewiß.«

»Wohlan, Sir«, bemerkte Herr Pickwick, auf dessen Gesicht sich die innere Pein ausdrückte: »Sie werden mir erlauben. Sie zu versichern, daß ich, was diesen Fall anbetrifft, ein sehr unglücklicher Mann bin.«

»Ich hoffe, Sie sind es, Sir«, erwiderte Dodson, »und ich will auch glauben, daß einem so etwas passieren kann. Wenn Sie aber wirklich an dem, was man Ihnen zur Last legt, unschuldig sind, so sind Sie unglücklicher, als ich je geglaubt hätte, daß irgend jemand möglicherweise sein könnte. Was sagen Sie dazu, Herr Fogg?«

»Ich sage ganz dasselbe, was Sie sagen«, versetzte Fogg mit ungläubigem Lächeln.

»Mein Herr, die Schrift, die die Klage einleitet«, fuhr Dodson fort, »ist regelrecht ausgestellt. Herr Fogg, wo ist das Einschreibebuch?«

»Hier«, antwortete Fogg, einen Quartband in Pergament herüberreichend.

»Hier ist eingetragen«, begann Dodson wieder, »›Middlesex. Klagschrift von Martha Bardell, Witwe, gegen Samuel Pickwick. Schadenersatz 1500 Pfund. Dodson und Fogg für die Klägerin, den 28. August 1830.‹ Alles regelrecht, Sir; vollkommen regelrecht.«

Und Dodson hustete und sah auf Fogg, der in sein ›vollkommen regelrecht‹ einstimmte, worauf beide Herrn Pickwick wieder mit ihren Blicken aufs Korn nahmen.

»Verstehe ich Sie recht«, bemerkte Herr Pickwick, »und ist es wirklich Ihre Absicht, diese Klage einzureichen?«

»Verstehen, Sir? – Sie verstehen uns ganz recht«, erwiderte Dodson mit so viel Lächeln, als es die Wichtigkeit seiner Person zuließ.

»Und die Entschädigung soll sich wirklich auf fünfzehnhundert Pfund belaufen?« fragte Herr Pickwick.

»Zu dem, daß Sie uns recht verstehen«, erwiderte Dodson, »kann ich noch die Versicherung hinzufügen, daß sie sich auf den dreifachen Betrag belaufen würde, wenn wir etwas über unsere Klientin vermocht hätten.«

»Ich glaube, Madame Bardell hat noch ausdrücklich bemerkt«, warf Fogg mit einem Blicke auf Dodson hin, »sie würde sich auf keinen Pfennig weniger einlassen.«

»Das ist keine Frage«, versetzte Dodson ernst: »denn die Klage war eben erst eingeleitet, und es wäre Herrn Pickwick nicht einmal gestattet worden, sich gleich anfangs zu vergleichen, selbst wenn er Lust dazu gehabt hätte.«

»Wenn Sie keine Vorschläge machen, Sir«, sagte Dodson, ein Stück Pergament in seiner rechten Hand auseinanderlegend und mit seiner linken Hand Herrn Pickwick ein Papier aufdrängend, das die Kopie enthielt, »so tue ich wohl besser, Ihnen eine Abschrift von diesem Blatte zu überreichen. Hier ist das Original.«

»Sehr gut, meine Herren«, sagte Herr Pickwick, voll Ingrimm aufstehend: »mein Rechtsanwalt wird Ihnen das weitere sagen.«

»Wir werden uns sehr glücklich schätzen, es zu hören«, versetzte Fogg, sich die Hände reibend.

»Sehr«, sagte Dodson, die Tür öffnend.

»Und ehe ich gehe, meine Herren«, bemerkte Herr Pickwick, sich oben an der Treppe noch einmal umwendend, »erlauben Sie mir zu sagen, daß von allem schändlichen und niederträchtigen Vorgehen –«

»Halten Sie, mein Herr, halten Sie«, unterbrach ihn Dodson mit großer Höflichkeit. »Herr Jackson – Herr Wicks –«

»Sir!« riefen die beiden Schreiber, am Fuße der Treppe erscheinend.

»Ich bedarf Ihrer gerade dazu, daß Sie hören, was dieser Herr sagt«, versetzte Dodson. »Bitte, fahren Sie fort, Sir – schändliches und niederträchtiges Vorgehen – haben Sie, glaube ich, gesagt?«

»Allerdings«, antwortete Herr Pickwick in höchstem Zorne. »Ich habe gesagt, Sir, daß von allem schändlichen und niederträchtigen Vorgehen, das je geschah, dies das niederträchtigste ist. Und ich wiederhole es, mein Herr.«

»Sie hörten das, Herr Wicks?« rief Dodson.

»Sie werden diese Ausdrücke nicht vergessen, Herr Jackson«, sagte Fogg.

»Vielleicht beliebt es Ihnen, uns Betrüger zu nennen, Sir?« fragte Dodson. »Bitte Sie, Sir, wenn Sie sich aufgelegt fühlen – tun Sie es, Sir.«

»Ich tue es auch«, sagte Herr Pickwick; »Sie sind Betrüger.«

»Sehr schön«, versetzte Dodson, »Sie können es doch unten hören, Herr Wicks?«

»O ja, Sir«, antwortete Wicks.

»Sie werden besser tun, eine oder zwei Stufen weiter heraufzukommen, wenn Sie es nicht verstehen«, fügte Herr Fogg hinzu.

»Fahren Sie fort, mein Herr, fahren Sie fort. Es wäre noch besser, wenn Sie uns Diebe nennen würden, Sir; oder vielleicht beliebt es Ihnen, einen von uns tätlich anzugreifen? Tun Sie sich keinen Zwang an, Sir, wenn Sie Lust dazu haben; wir werden nicht den geringsten Widerstand leisten. Bitte, probieren Sie es nur!«

Da sich Fogg lockender Weise in den Bereich von Herrn Pickwicks geballter Faust stellte, so wäre zweifelsohne seine Bitte erfüllt worden, hätte sich nicht Sam, der Zeuge des Streites war, ins Mittel gelegt. Er rannte plötzlich aus der Schreibstube die Treppe hinauf und ergriff seinen Herrn beim Arm.

»Kommen Sie mit fort«, sagte Herr Weller. »Ballschlagen ist ein sehr hübsches Spiel, wenn nicht Sie der Ball und zwei Rechtsgelehrte die Ballschläger sind. In diesem Fall ist es zu erhitzend, um lustig zu sein. Kommen Sie mit mir, Sir. Wenn Sie sich dadurch Luft machen wollen, daß Sie jemand durchbläuen, so kommen Sie heraus in den Hof und bläuen Sie mich durch, aber hier ist die Sache etwas zu kostspielig.«

Und ohne die geringsten Umstände zog Herr Weller seinen Herrn die Treppe hinunter in den Hof. Nachdem er ihn sicher bis Cornhill gebracht hatte, trat er hinter ihn und schickte sich an, ihm zu folgen, wohin er ihn auch führen würde.

Herr Pickwick ging zerstreut vorwärts, bis er dem Rathaus gegenüberstand, und wandte dann seine Schritte Cheapside zu. Sam wurde neugierig, wohin es jetzt gehen sollte, als sich sein Herr umwandte:

»Sam, ich gehe jetzt gleich zu Herrn Perker.«

»Dahin hätten Sie gestern abend schon gehen sollen, Sir«, versetzte Herr Weller.

»Ich glaube das auch«, bemerkte Herr Pickwick.

»Und ich weiß es«, erwiderte Herr Weller.

»Nun, nun, Sam«, entgegnete Herr Pickwick, »’s ist auch jetzt noch nicht zu spät. Aber vorerst muß ich ein Glas Grog haben, denn ich bin etwas aus der Fassung gebracht worden. Wo ist das wohl zu bekommen, Sam?«

Herrn Wellers Lokalkenntnisse in London waren ausgebreitet und speziell. Er antwortete, ohne sich im geringsten zu besinnen –:

»Im zweiten Hofe rechter Hand – das vorletzte Haus auf derselben Seite der Straße –- Sie setzen sich an die Tafel neben dem Kamin; denn die andern haben alle ein Bein in der Mitte, und das ist sehr unbequem.«

Herr Pickwick hielt sich genau an seines Dieners Angaben und trat, von diesem gefolgt, in die bezeichnete Schenke, wo ihm der warme Grog alsbald vorgesetzt wurde, während sich Herr Weller in achtungsvoller Entfernung, obwohl am gleichen Tische, niederließ und mit einer Pinte Porter bedient wurde.

Das Zimmer war recht ordinär und stand augenscheinlich unter dem besonderen Schutze der Lohnkutscher: denn verschiedene Herren, die ganz den Anschein hatten, als gehörten sie dieser gelehrten Profession an, tranken und rauchten an den verschiedenen Wandtischen. Unter ihnen zog besonders ein stämmiger, ältlicher Mann mit rotem Gesicht Herrn Pickwicks Aufmerksamkeit auf sich. Er saß am gegenüberstehenden Wandtische und rauchte ganz gewaltig. Aber jedesmal nach einem halben Dutzend Paffs nahm er seine Pfeife aus dem Mund und sah zuerst auf Herrn Weller und dann auf Herrn Pickwick. Dann begrub er in einem Maßkruge so viel von seinem Gesicht, als die Dimensionen des Gefäßes zu fassen vermochten, und warf seine Blicke abermals auf Sam und Herrn Pickwick. Das wiederholte er jedesmal, wenn er seiner Pfeife zugesprochen hatte, aus der er mit der Miene tiefen Nachdenkens qualmende Wolken blies. Endlich legte er seine Beine auf die Bank, lehnte sich rückwärts an die Wand und begann ohne weitere Unterbrechung zu paffen und durch den Rauch die neuen Ankömmlinge zu betrachten, als ob er sich vorgenommen hätte, ihnen so viel als immer möglich abzusehen.

Anfangs waren die Bewegungen des stämmigen Mannes der Beobachtung Herrn Wellers entgangen. Als er aber sah, daß sich Herrn Pickwicks Augen immer von neuem nach ihm hinwandten, sah er ebenfalls dorthin und legte dabei die Hand über die Augen, als ob er den Gegenstand, den er betrachtete, halb erkennte und sich nur noch der Identität versichern wollte. Seine Zweifel wurden jedoch schnell behoben; denn nachdem der Stämmige eine dichte Rauchwolke vor sich hergeblasen hatte, kam eine rauhe Stimme, die irgendeiner seltsamen Anstrengung der Bauchrednerkunst abgezwungen zu sein schien, hinter dem großen Tuche hervor, das ihm Hals und Brust verhüllte; und langsam erklang es – »Wie, Sammy?«

»Wer ist das, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, das hätte ich nicht geglaubt, Sir«, versetzte Herr Weller mit erstaunter Miene; »es ist der Alte.«

»Der Alte?« fragte Herr Pickwick; »was für ein Alter?«

»Mein Vater, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Wie geht’s, Alter?«

Nach dieser schönen Aufwallung kindlicher Zärtlichkeit machte Herr Weller neben sich Platz, und der Stämmige kam mit der Pfeife im Munde und dem Krug in der Hand herüber, seinen Sohn zu begrüßen.

»Na, Sammy«, sagte der Alte, »ich habe dich seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen.«

»Es ist noch länger, Alter«, erwiderte der Sohn. »Was macht die Stiefmutter?«

»Ei, ich will dir was sagen, Sammy«, antwortete Herr Weller senior mit feierlicher Miene; »es gab nie ein hübscheres Weib, so lange sie noch Witfrau war, denn ich bin doch schon ihr Zweiter – – ein mildes Ding war sie, Sammy, und nun kann ich von ihr sagen, weil sie eine so ungemein angenehme Witfrau war, so ist es sehr schade, daß sie ihren Stand verlassen hat. Sie hätte nicht mehr heiraten sollen; sie benimmt sich nicht wie ein Eheweib, Sammy.«

»Ach nein – ist das wahr?« fragte Herr Weller Junior.

Herr Weller senior schüttelte den Kopf und fügte mit einem Seufzer:

»Ich habe es einmal zu oft getan, Sammy; ich habe es einmal zu oft getan. Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater, Junge, und hüte dich dein ganzes Leben lang vor Witfrauen, besonders wenn sie ein Wirtshaus gehabt haben, Sammy.«

Als er diesen väterlichen Rat mit großem Pathos erteilt hatte, stopfte er seine Pfeife aus einer zinnernen Tabaksdose, die er in der Tasche bei sich trug. Er zündete die frische Pfeife an der Asche der alten an und fuhr fort mit großem Eifer zu rauchen.

»Bitt‘ schön, Herr, Verzeihung, Herr«, sagte er, auf denselben Gegenstand zurückkommend, nach einer langen Pause zu Herrn Pickwick; »ich hoffe, ich war doch nicht persönlich, Sir? Ich hoffe, Sie haben doch keine Witwe geheiratet?«

»Nein«, versetzte Herr Pickwick lachend, und während er lachte, flüsterte Sam Weller seinem Vater zu, in welchem Verhältnisse er zu dem Herrn stehe.

»Bitt‘ schön, Herr, Verzeihung«, sagte Herr Weller senior, seinen Hut abnehmend; »ich hoffe, Sie haben doch an Sammy nichts auszusetzen, Sir.«

»Durchaus nichts«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sehr erfreut, dies zu hören, Herr«, sagte der alte Mann; »gab mir auch Mühe mit seiner Erziehung; ließ ihn auf der Gasse herumlaufen, als er noch ganz klein war: da hilf dir selbst. Es ist das einzige Mittel, einen Jungen gescheit zu machen, Herr.«

»Ein etwas gewagtes Verfahren, sollte ich meinen«, sagte Herr Pickwick lächelnd.

»Und kein ganz zuverlässiges«, fügte Weller junior bei. »Ich habe es dieser Tage erfahren.«

»Nicht doch«, sagte der Vater.

»Ich habe es erfahren«, erwiderte der Sohn, und begann so kurz wie möglich zu erzählen, wie ihn Hiob Trotter mit seiner Kriegslist an der Nase herumgeführt hatte.

Herr Weller senior lauschte mit größter Aufmerksamkeit, und am Schlusse sagte er –

»War nicht einer von diesen Kerlen schlank und hoch gewachsen – hatte langes Haar und schwatzte im Galopp?«

Herr Pickwick verstand das letzte nicht ganz, aber da er das erste begriff, sagte er auf gut Glück: »Ja.«

»Der andere ist ein schwarzhaariger Kerl in einer maulbeerfarbenen Livree, mit einem sehr großen Kopf?«

»Ja, ja, er ist’s«, fielen Herr Pickwick und Sam hastig ein.

»Dann weiß ich, wo sie sind, und wies mit ihnen steht«, sagte Herr Weller. »Sie sind beide zu Ipswich Ipswich, eine aufblühende Stadt im südöstlichen England. und zwar in guter Ruhe.«

»Was Sie sagen«, rief Herr Pickwick.

»Es ist Tatsache«, erwiderte Herr Weller, »und ich will Ihnen sagen, woher ich es weiß. Ich fahre dann und wann mit einer Ipswicher Kutsche für einen Freund. Ich fuhr gerade an dem Tage, wo Sie die Nacht vorher den Repfmatisimus holten. Im Mohrenknaben zu Chelmsford – sie waren da gerade angelangt – nahm ich sie auf und führte sie direkt nach Ipswich. Dort sagte mir der Diener – ich meine den Maulbeerfarbigen – sie würden sich hier geraume Zeit aufhalten.«

»Ich will ihm nach«, sagte Herr Pickwick. »Wir können Ipswich so gut besuchen, wie jeden andern Ort. Ja, ja, ich will ihm nach.«

»Seid Ihr auch ganz gewiß, daß sie es waren, Alter?« fragte Weller junior.

»Ganz gewiß, Sammy«, erwiderte sein Vater; »denn ihr Äußeres war sehr auffallend. Außerdem wunderte ich mich, wie ich sah, daß der Herr so vertraut mit seinem Diener war, und noch mehr – als sie vorn saßen, gerade hinter dem Bock. Da hörte ich sie lachen und sagen, wie sie mit dem alten Hitzkopf gespielt hätten.«

»Alten – was?« fragte Herr Pickwick.

»Alten Hitzkopf, Sir, womit ohne Zweifel Sie gemeint waren, Sir.«

Es liegt eigentlich nichts Gemeines oder Beschimpfendes in der Benennung »alter Hitzkopf«, aber es ist doch nicht gerade eine achtungsvolle oder schmeichelhafte Bezeichnung. Die Erinnerung an alle Widerwärtigkeiten, die ihm schon durch Jingle widerfahren waren, hatte sich in Herrn Pickwicks Geist gesammelt, sobald Herr Weller zu sprechen angefangen hatte. Es bedurfte nur noch eines Tropfens, um das Maß voll zu machen, und der »alte Hitzkopf« brachte das fertig.

»Ich will ihm nach«, rief Herr Pickwick mit einem heftigen Schlag auf den Tisch.

»Ich werde übermorgen vom Ochsen in Whitechapel aus nach Ipswich hinunterfahren«, sagte Herr Weller der Ältere, »und wenn Sie wirklich hinreisen wollen, so fahren Sie am besten mit mir.«

»Sehr wahr«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich kann nach Bury schreiben, daß ich in Ipswich zu treffen sei. Wir fahren mit Euch. Aber eilt nicht so sehr, Herr Weller. Wollt Ihr nicht noch eins trinken?«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, antwortete Herr Weller stockend. – »Vielleicht ein Gläschen Branntwein auf Ihre Gesundheit und auf Sammys Glück würde nichts schaden.«

»Gewiß nicht«, versetzte Herr Pickwick. »Ein Glas Branntwein hierher.«

Der Branntwein wurde gebracht. Herrn Wellers Haarmähne flog dankbar nickend auf Herrn Pickwick und Sam zu, und das Getränk stürzte in seine geräumige Kehle hinab, als wäre es ein Fingerhütchen voll gewesen.

»Schon recht, Vater«, sagte Sam; »aber nehmt Euch in acht, alter Knabe, oder Ihr werdet wieder einen Besuch von Eurem alten Freunde, dem Podagra, bekommen.« –

»Ich habe ein Prachtmittel dagegen gefunden, Sammy«, erwiderte Herr Weller und setzte das Glas nieder.

»Ein Prachtmittel gegen das Podagra?« sagte Herr Pickwick und zog hastig sein Notizbuch hervor. »Und was wäre das?«

»Das Podagra, Sir«, versetzte Herr Weller; »das Podagra ist ein Übel, das von einem zu bequemen und behaglichen Leben herrührt. Wenn Sie jemals von dem Podagra befallen werden, Sir, so heiraten Sie eine Witfrau, die eine gute laute Stimme hat und sie auch zu gebrauchen weiß, und Sie werden es nie wieder bekommen. Das ist ein Prachtrezept, Herr. Ich nahm es regelmäßig, und ich bürge dafür; es vertreibt jede Krankheit, die von zu großem Wohlbehagen herrührt.«

Als Herr Weller dieses unschätzbare Geheimnis preisgegeben hatte, trank er sein Glas vollends aus, blinzelte wehmütig, seufzte tief und entfernte sich langsam.

»Nun, was denkst du von dem, was dein Vater sagt, Sam?« fragte Herr Pickwick lächelnd.

»Was ich denke, Sir?« erwiderte Herr Weller. »Nun, ich denke, er ist ein Opfer der Ehe, wie Blaubarts Hauskaplan mit einer Träne des Mitleids sagte, als er ihn begrub.«

Herr Pickwick antwortete nichts auf diesen sehr passend angebrachten Schluß, bezahlte die Rechnung und machte sich auf den Weg nach Grays Inn. Als er das entlegene Viertel erreicht hatte, war es bereits acht Uhr vorüber, und der ununterbrochene Strom von Herren in bespritzten Stiefeln, schmutzigen weißen Hüten und abgetragenen Kleidern, der zu den verschiedenen Ausgängen herauswogte, sagte ihm, daß die Mehrzahl der Schreibstuben für diesen Tag geschlossen sei. –

Nachdem er zwei steile und schmutzige Treppen erstiegen hatte, fand er seine Ahnung bestätigt. Herrn Perkers Außentür war verschlossen, und die Grabesstille, die auf Herrn Wellers wiederholtes Anklopfen sich einstellte, verkündete, daß die Schreiber Feierabend gemacht hätten.

»Das ist eine schöne Geschichte, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Ich hätte keine Stunde verlieren sollen, um ihn zu sprechen; denn ich weiß wohl, daß ich jetzt die ganze Nacht kein Auge schließen kann, weil ich nun nicht das ruhige Gefühl habe, die Angelegenheit einem Fachmann übergeben zu haben.«

»Hier kommt eine alte Frau die Treppe herauf, Sir«, bemerkte Herr Weller. »Vielleicht weiß sie, wo wir jemand finden können. Holla, alte Dame, wo sind Herrn Perkers Leute?«

»Herrn Perkers Leute?« sagte ein dürres, elend aussehendes, altes Weib, oben an der Treppe stehenbleibend, um Atem zu schöpfen: »Herrn Perkers Leute sind fort, und ich will eben die Schreibstube schließen.«

»Sind Sie Herrn Perkers Magd?« fragte Herr Pickwick.

»Ich bin Herrn Perkers Wäscherin«, antwortete das alte Weib.

»Komisch«, sagte Herr Pickwick halb seitwärts zu Sam; »es ist doch sonderbar, Sam, daß man die alten Weiber in diesem Viertel Wäscherinnen nennt. Möchte doch wissen, warum das geschieht?«

»Es kommt, glaube ich, daher, daß ihnen das Waschen in den Tod zuwider ist.«

»Sollte mich nicht wundern«, erwiderte Herr Pickwick mit einem Blick auf die Alte, deren Äußeres sowie der Zustand der Schreibstube, die sie jetzt geöffnet hatte, einen eingewurzelten Widerwillen gegen die Anwendung von Seife und Wasser verriet. »Wissen Sie, wo ich Herrn Perker finden kann?«

»Nein, ich weiß es nicht«, antwortete die Alte mürrisch; »er ist jetzt in der Stadt.«

»Das ist mißlich«, versetzte Herr Pickwick. »Können Sie mir nicht sagen, wo sein Schreiber ist?«

»O ja; aber er würde mir’s nicht sehr danken, wenn ich es Ihnen sagte«, erwiderte die Wäscherin.

»Ich habe ein ganz besonderes Geschäft mit ihm«, fuhr Herr Pickwick fort.

»Läßt sich das nicht morgen auch noch erledigen?« fragte das Weib.

»Nicht gut«, erwiderte Herr Pickwick.

»Nun ja, wenn es etwas ganz Besonderes ist«, sagte die Alte, »so will ich sagen, wo er ist; ich hoffe, ich werde keinen Ärger davon haben. Wenn Sie jetzt gerade in die Elster gehen und am Schenktisch nach Herrn Lowten fragen, so wird man Sie zu ihm führen, denn so heißt Herrn Perkers Schreiber.«

Nachdem Herr Pickwick noch ferner belehrt worden war, das fragliche Gasthaus stehe in einem Hofe und habe den doppelten Vorteil, daß es in der Nähe von Clare Market sei und an die Rückseite von New-Inn stoße, so kam er mit Sam die gefährliche Treppe glücklich wieder hinunter und suchte die Elster auf.

Diese beliebte Schenke, die Herr Lowten und Konsorten zum Schauplatz ihrer Zechgelage machten, war, was gewöhnliche Leute mit dem Namen »Kneipe« bezeichnet haben würden. Der Wirt war ein Mann, der sich aufs Geldmachen verstand. Das bezeugte ein kleiner Verschlag unter dem Schenkzimmerfenster, der an Gestalt und Größe einer Sänfte ähnlich sah und um billigen Preis an einen Schuhflicker vermietet war. Daß der Wirt aber zugleich ein menschenfreundliches Gemüt hatte, bezeugte seine Fürsorge für einen Pastetenbäcker, der seine Leckerbissen ungestört an der Türschwelle verkaufte. An den niederen Fenstern, die mit safranfarbenen Vorhängen geziert waren, steckten zwei bis drei gedruckte Karten und empfahlen Devonshire-Apfelwein und Danziger Sprossenbier. Eine große schwarze Tafel mit weißen Buchstaben aber zeigte einem verehrlichen Publikum an, daß 500 000 Fässer Doppelbier in den Kellern des Etablissements lägen, wobei sie den Geist in einer nicht unangenehmen Ungewißheit über die Richtung ließen, in der sich diese ungeheuren Gewölbe ausdehnen möchten. Fügen wir noch hinzu, daß ein wetterbeschädigtes Schild das halbverblichene Abbild einer Elster darstellte, die eine krumme Linie von brauner Farbe aufmerksam betrachtete – ein Gekleckse, das man den Nachbarn von Jugend auf als einen Baumstumpf bezeichnet hatte, so haben wir von dem Äußeren des Gebäudes alles gesagt, was nötig ist.

Als sich Herr Pickwick vor dem Schanktisch blicken ließ, trat eine ältliche Frau hinter einem darinstehenden Schirm hervor.

»Ist Herr Lowten hier, Madame?« fragte Herr Pickwick.

»Ja, Sir«, erwiderte die Wirtin. »Charley, führe den Herrn zu Herrn Lowten.«

»Der Herr kann jetzt nicht hinein«, erwiderte ein hinkender Laufjunge mit rotem Kopfe, »denn Herr Lowten singt eben ein lustiges Lied, und er würde ihn aus der Rolle bringen. Es wird indessen im Augenblick aus sein, Sir.«

Der rotköpfige Laufjunge hatte kaum zu sprechen aufgehört, als ein allgemeines Hämmern auf die Tische, und ein lebhaftes Klingeln der Gläser ankündete, daß der Gesang eben beendet worden war. Herr Pickwick überließ es seinem Diener, sich am Ausschank zu stärken, und wurde zu Herrn Lowten geführt.

Auf die Ankündigung, »es will Sie jemand sprechen, Sir«, richtete ein junger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, der den Stuhl am oberen Ende der Tafel einnahm, seine Blicke erstaunt nach der Gegend, aus der die Stimme kam. Sein Erstaunen schien sich keineswegs zu vermindern, als seine Augen auf einer Person haften blieben, die er nie zuvor gesehen hatte.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir«, begann Herr Pickwick, »und auch für die andern Herren tut es mir leid, daß ich Sie störe, aber ich komme in einer sehr dringenden Angelegenheit, und wenn Sie mir in einer Ecke dieses Zimmers fünf Minuten lang Gehör schenken wollen, so werden Sie mich sehr zu Dank verpflichten.«

Der junge Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht stand auf, zog einen Stuhl in einen dunklen Winkel zu Herrn Pickwick und lauschte aufmerksam seiner Schmerzensgeschichte.

»Ja«, sagte er, als Herr Pickwick geendet hatte, »Dodson und Fogg – erfahrene Praktiker das – Kapitalgeschäftsleute, Dodson und Fogg, Sir.«

Herr Pickwick gab die praktischen Kenntnisse der Herren Dodson und Fogg zu, und Lowten fuhr fort:

»Perker ist nicht hier und wird auch vor Ende der nächsten Woche nicht zurückkommen. Aber wenn Sie eine Entgegnung wünschen und mir die Abschrift der Klage mitteilen wollen, so kann ich alle Schritte einleiten, die bis zu seiner Zurückkunft nötig sind.«

»Eben deshalb bin ich hier«, sagte Herr Pickwick, ihm die Schrift einhändigend. »Wenn etwas Besonderes vorfällt, können Sie mir durch die Post nach Ipswich schreiben.«

»Ganz recht«, antwortete Herrn Perkers Schreiber: und als er sah, daß Herrn Pickwicks Augen neugierig über die Tafel liefen, fügte er hinzu: »Wollen Sie uns auf ein halbes Stündchen ihre Gesellschaft gönnen? Wir haben heute abend ein Kapitalklübchcn beisammen. Hier ist Samkins und Greens Sekretär und Smithers und Prices Kanzlist und Pimkins und Thomas‘ Schreiber – singt vortrefflich, ja, das tut er – und da ist ferner noch Jack Bamber und so weiter. Sie kommen vermutlich vom Lande, wollen Sie nicht mitmachen?«

Pickwick konnte der lockenden Gelegenheit, die menschliche Natur zu studieren, nicht widerstehen. Er ließ sich an die Tafel führen und der Gesellschaft in gehöriger Form vorstellen. Als ihm ein Sitz neben dem Präsidenten eingeräumt war, bestellte er ein Glas von seinem Lieblingsgetränk.

Ganz gegen die Erwartung Herrn Pickwicks erfolgte tiefe Stille.

»Ich hoffe, der Glimmstengel wird Ihnen nicht unangenehm sein, Sir?« sagte sein Nachbar zur Rechten, in einem gestreiften Hemd mit Mosaikknöpfen, mit einer Zigarre im Munde.

»Nicht im geringsten«, erwiderte Herr Pickwick: »ich bin ein sehr großer Freund davon, obgleich ich selbst nicht rauche.«

»Das möchte ich von mir nicht behaupten«, fiel ein anderer Herr an der gegenüberstehenden Seite des Tisches ein. »Rauchen ersetzt mir Wohnung, Speise und Trank.«

Herr Pickwick sah den Sprecher an und dachte: »wenn es ihm auch die weiße Wäsche ersetzen würde, so wäre es noch besser.«

Eine neue Pause trat ein. Herr Pickwick war ein Fremder, und seine Gegenwart hatte offenbar etwas Drückendes für die Gesellschaft.

»Herr Grundy wird uns mit einem Liedchen erfreuen«, sagte der Präsident.

»Nein, er wird es nicht«, sagte Herr Grundy.

»Warum nicht?« fragte der Präsident.

»Weil ich nicht kann«, versetzte Herr Grundy.

»Sie würden besser sagen, ›weil ich nicht mag‹«, erwiderte der Präsident.

»Nun denn, ich mag nicht«, sagte Herr Grundy.

Und Herrn Grundys bestimmte Weigerung, die Gesellschaft zu unterhalten, veranlaßte abermaliges Schweigen.

»Will niemand die Unterhaltung beleben?« fragte der Präsident mit dem Tone der Mutlosigkeit.

»Warum beleben Sie sie nicht selbst, Herr Präsident?« sagte ein junger Mann mit einem Backenbart, einem schielenden Auge und einem schmutzigen, offenen Hemdkragen, am untern Endes des Tisches.

»Hört, hört!« rief der rauchende Herr mit den Mosaikknöpfen.

»Weil ich nur ein einziges Lied kann und es bereits gesungen habe«, versetzte der Präsident: »es kostet ja ein Strafglas für jeden in der Gesellschaft, wenn man an einem Abend dasselbe Lied zweimal singt.«

Dagegen ließ sich nichts einwenden, und das Gespräch stockte abermals.

»Ich war heute abend«, sagte Herr Pickwick, »der Hoffnung, etwas zur Sprache zu bringen, wobei die ganze Gesellschaft an der Unterhaltung teilnehmen könnte – ich war heute abend an einem Orte, den Sie alle ohne Zweifel sehr gut kennen, den aber ich seit vielen Jahren nicht mehr besucht hatte, und von dem ich überhaupt sehr wenig weiß; ich meine Grays Wirtschaft, meine Herren. Merkwürdige kleine Winkel an einem großen Ort, wie London, diese alten Gastwirtschaften.«

»Wahrhaftig«, flüsterte der Präsident Herrn Pickwick über den Tisch zu, »Sie haben hier etwas angeschnitten, das wenigstens einen von uns für immer in Anspruch nehmen würde. Der alte Jack Bamber wird bald herausrücken; man hat ihn noch nie über etwas anderes sprechen hören, als über die Gastwirtschaften, in denen er einsam sein Leben verbrachte, bis er beinahe wahnsinnig wurde.«

Der Mensch, auf den Lowten anspielte, war ein kleiner gelber hochschultriger Mann, dessen Gesicht Herrn Pickwick bis jetzt noch nicht ins Auge gefallen war, weil er die Gewohnheit hatte, vor sich niederzusehen, wenn er schwieg. Als aber der Alte seine gefurchte Stirn erhob, und sein helles, graues Auge mit einem forschenden, durchdringenden Blick auf ihn richtete, mußte er sich doch wundern, daß so ausdrucksvolle Züge seiner Aufmerksamkeit auch nur für einen Augenblick entgangen waren. Auf seinen Zügen lag beständig ein unveränderliches bitteres Lächeln. Sein Kinn ruhte in einer langen fleischlosen Hand, mit Nägeln von außerordentlicher Länge. Als er seinen Kopf auf die Seite neigte und unter seinen borstigen, grauen Augenbrauen hervorschaute, lag in seinem durchdringenden Blick ein seltsamer Ausdruck grollender Schlauheit, vor dem man das Auge unwillkürlich niederschlug. Das war der Mann, der jetzt sein Gesicht der Gesellschaft zukehrte und seine Gedanken in einen lebendigen Strom von Worten ergoß. Da jedoch dieses Kapitel lang und der Alte eine merkwürdige Person war, so erfordert es die Achtung vor ihm und die Konsequenz vor uns, ihn in einem neuen sprechen zu lassen.