Achtes Kapitel


Achtes Kapitel

Wie Herr Winkle, anstatt auf die Taube zu schießen und die Krähe zu töten, auf die Krähe schoß und die Taube verwundete; wie der Kricketklub von Dingley Dell gegen Muggleton spielte, und wie Muggleton auf Kosten von Dingley Dell speiste, nebst andern anziehenden und lehrreichen Gegenständen.

Die ermüdenden Abenteuer des Tages oder die einschläfernde Wirkung der Erzählung des Geistlichen hatten einen solchen Einfluß auf Herrn Pickwicks Schlafsucht ausgeübt, daß er wenige Minuten, nachdem er in sein behagliches Schlafzimmer geführt worden war, in einen gesunden und traumlosen Schlaf verfiel, aus dem er nicht eher erwachte, als bis die goldenen Strahlen der Morgensonne vorwurfsvoll in sein Zimmer fielen. Da er nun gerade keine Schlafmütze war, so sprang er aus seinem Bett wie ein kampflustiger Krieger aus seinem Zelt.

»Eine reizende, sehr reizende Landschaft«, seufzte er entzückt, als er sein Gitterfenster öffnete. »Wer könnte Tag für Tag auf Ziegel- und Schieferplatten starren, wenn er jemals die Wirkung einer solchen Natur empfunden? Wer könnte bleiben, wo man keine andern Kühe sieht, als die Kühe auf den Porzellantöpfen, keinen andern Schmelz als Schmelztiegel; kein anderes Gestein als das Steinpflaster? Wer könnte an einem solchen Orte vegetieren? Wer, frage ich, könnte es aushalten?« Und nachdem er sich die gerühmtesten Reize des Landlebens gehörig ausgemalt hatte, steckte er den Kopf durchs Gitter und blickte ins Freie.

Die süßen Wohlgerüche der Rosengehänge drangen zu ihm empor; die balsamischen Düfte des kleinen Blumengartens füllten die Luft um ihn her: die dunkelgrünen Wiesen glänzten im Morgentau, der auf jedem Blättchen schimmerte, wenn es vom sanften Lufthauch erbebte, und die Vögel sangen, als wäre jeder Tautropfen eine Quelle der Begeisterung. Herr Pickwick versank in süße, wonnige Träumerei, aus der ihn plötzlich ein »Holla« weckte.

Er wandte sich zur Rechten, sah aber niemand; er wandte sich zur Linken und suchte irgend etwas Außergewöhnliches zu entdecken; es war vergeblich. Er sah zu den Wolken empor, aber sie schienen sein nicht zu begehren. Endlich tat er, was ein gewöhnlicher Mensch gleich anfangs getan haben würde – er sah in den Garten und entdeckte Herrn Wardle.

»Wie befinden Sie sich«, fragte dieser gutmütige Herr, schon im voraus seine Freude zeigend. »Ein schöner Morgen – nicht wahr? Freut mich, daß Sie so früh auf sind. Geschwind, kommen Sie herunter, ich will hier auf Sie warten.«

Herr Pickwick bedurfte keiner zweiten Aufforderung. Zehn Minuten reichten hin, seine Toilette zu vollenden, und nach Ablauf dieser Zeit stand er an der Seite des alten Herrn.

»Holla!« sagte Herr Pickwick seinerseits, als er seinen Freund mit einer Flinte bewaffnet, und eine zweite neben ihm im Grase liegen sah. »Was haben Sie im Sinne?«

»Ei, Ihr Freund und ich«, antwortete der Gefragte, »wollen vor dem Frühstück auf den Krähenstrich. Er ist ein guter Schütze – nicht wahr?«

»Ich hörte ihn sagen, er sei ein Kapitalschütze,« versetzte Herr Pickwick, »habe ihn aber noch nie etwas schießen sehen.«

»Nun,« sagte der alte Herr, »ich wollte, er käme. Joe – Joe!«

Der fette Junge, der unter dem belebenden Einflüsse des Morgens nicht halb so schläfrig zu sein schien wie sonst, trat aus dem Hause.

»Geh‘ hinauf und rufe den Herrn. Sage ihm, er werde mich und Herrn Pickwick auf dem Krähenstrich finden. Zeige dem Herrn den Weg – hörst du?«

Der Knabe entfernte sich, um seinen Auftrag auszurichten, und der alte Herr verließ, ein zweiter Robinson Crusoe, beide Flinten tragend, mit seinem Begleiter den Garten.

»Hier sind wir an Ort und Stelle«, sagte der alte Herr, als sie nach einem Gange von wenigen Minuten in eine Allee gekommen waren.

Die Bemerkung war unnötig: denn das unaufhörliche Geschrei der nichts ahnenden Krähen verriet ihren Aufenthalt ohne weitere Belehrung.

Der alte Herr legte die eine Flinte auf den Boden und lud die andere.

»Hier sind sie«, sagte Herr Pickwick, und wie er so sprach, erschienen die Gestalten der Herren Tupman, Snodgraß und Winkle im Hintergrunde. Der fette Junge, der nicht ganz gewiß war, welchen Herrn er rufen sollte, hatte scharfsinnigerweise alle gerufen, um der Möglichkeit eines Irrtums vorzubeugen.

»Kommen Sie herauf«, rief der alte Herr, sich an Herrn Winkle wendend; »ein kühner Schütze wie Sie sollte schon lange bei der Hand sein, und wäre die Arbeit noch so unbedeutend.«

Herr Winkle antwortete mit einem gezwungenen Lächeln, und nahm die herrenlose Flinte mit der Miene eines gelassenen Missetäters, der den Verkünder seines gewaltsamen Todes vor sich sieht. Es mag Mut gewesen sein, aber es sah der Angst merkwürdig ähnlich.

Der alte Herr winkte, und zwei zerlumpte Jungen begannen alsbald auf zwei von den Bäumen zu klettern.

»Was haben diese Burschen vor?« fragte Herr Pickwick rasch.

Er war etwas unruhig, denn er wußte nicht, ob sich die Jungen nicht vielleicht aus Armut, von der er schon oft und viel gehört hatte, daß sie auf dem Lande zu Hause sei, zur Zielscheibe ungeschickter Schützen hergäben, um durch dieses gefährliche Mittel ein zweifelwürdiges Dasein zu fristen.

»Nur das Wild aufzuscheuchen«, antwortete Herr Wardle lachend.

»Wie?« fragte Herr Pickwick.

»Nun, in klaren Worten, die Krähen aufschrecken.«

»O! sonst nichts?«

»Sind Sie jetzt beruhigt?«

»Vollkommen.«

»Schön. Wollen wir anfangen?«

»Wenn es Ihnen gefällig ist«, sagte Herr Winkle, froh, noch eine kleine Frist zu erhalten.

»Treten Sie auf die Seite. Nun also.«

Der Junge schrie und schüttelte einen Ast, auf dem sich ein Nest befand. Ein halbes Dutzend junger Krähen, in lebhafter Unterhaltung begriffen, flogen aus, um nachzuspüren, was es gäbe. Der alte Herr gab ihnen eine Ladung zur Erwiderung. Eine Krähe fiel, und die andern flogen davon.

»Nimm sie, Joe«, sagte der alte Herr.

Ein lächeln spielte um die Mundwinkel des Jungen, als er auf die Leiche zuging. Unbestimmte Visionen von einer Krähenpastete schwebten seiner Einbildungskraft vor. Er lachte, als er mit dem Vogel zurückkam – er war sehr fett.

»Nun, Herr Winkle,« sagte der alte Herr, seine Flinte von neuem ladend, »schießen Sie.«

Herr Winkle trat vor und legte seine Flinte an. Herr Pickwick und seine Freunde bückten sich unwillkürlich, um von keiner der Krähen getroffen zu werden, die, wie sie zuversichtlich glaubten, auf den mörderischen Schuß ihres Freundes zu Dutzenden herabfallen würden. Es war eine feierliche Pause – ein Geräusch wie von Flügelschlägen – ein Laut wie vom Abdrücken eines Schießgewehrs.

»Holla!« rief der alte Herr.

»Will es nicht losgehen?« fragte Herr Pickwick.

»Es hat versagt«, antwortete Herr Winkle, totenblaß, wahrscheinlich wegen dieses Zufalls.

»Seltsam«, sagte der alte Herr, die Flinte betrachtend. »Noch nie hat eine von ihnen versagt. Wie, ich sehe ja kein Zündhütchen.«

»Meiner Treu,« sagte Herr Winkle, »ich habe das Zündhütchen vergessen.«

Das Versäumte wurde nachgeholt, und Herr Pickwick bückte sich wieder. Herr Winkle trat mit der Miene der Entschlossenheit vorwärts, und Herr Tupman stellte hinter einem Baume seine Beobachtungen an. Der Junge schrie: – vier Vögel flogen auf. Herr Winkle drückte ab. Man hörte einen Schrei – nicht von einer Krähe – einen Angstschrei. Herr Tupman hatte das Leben einer Anzahl von Vögeln gerettet, indem ihm ein Teil der Ladung in den linken Arm fuhr.

Die Verwirrung, die jetzt erfolgte, läßt sich nicht beschreiben. Wie Herr Pickwick im ersten Ausdrucke der Gemütsbewegung Herrn Winkle einen »Schurken« nannte; wie Herr Tupman am Boden lag, und wie Herr Winkle von Schauern geschüttelt neben ihm kniete: wie Herr Tupman in der Bestürzung einen weiblichen Taufnamen nannte, zuerst ein und dann das andere Auge öffnete, worauf er ohnmächtig wurde und beide wieder schloß: all das wäre ebenso unmöglich zu beschreiben, wie der weitere Verlauf – wie das unglückliche Opfer allmählich wieder ins Leben zurückkehrte – wie man seinen Arm mit Taschentüchern verband – und wie er mit langsamen Schritten auf die Arme seiner besorgten Freunde gestützt nsch Hause geführt wurde.

Sie näherten sich dem Landhause. Die Damen standen an der Gartentür und warteten auf ihre Rückkehr zum Frühstück. Jungfer Tante zeigte sich: sie lächelte und bat sie, schneller zu gehen. Sie wußte offenbar nichts von dem Unglück. Armes Geschöpf! Es gibt Fälle, wo die Unwissenheit ein Glück ist.

Sie kamen näher.

»Nun, was ist’s mit dem alten Herrn?« fragte Isabelle Wardle.

Jungfer Tante achtete nicht auf die Frage: sie glaubte, sie beziehe sich auf Herrn Pickwick. In ihren Augen war Tracy Tupman jung, sie betrachtete seine Jahre durch ein Verkleinerungsgla«.

»Seid unbesorgt«, rief Herr Wardle, um seine Töchter zu beruhigen.

Die kleine Gesellschaft hatte sich so dicht um Herrn Tupman zusammengedrängt, daß sie die wahre Natur des Unfalls nicht genau zu erkennen vermochte.

»Seid unbesorgt«, sagte Herr Wardle.

»Was ist’s denn?« riefen die Damen.

»Herrn Tupman ist ein kleiner Unfall begegnet: das ist alles.«

Jungfer Tante stieß einen durchdringenden Schrei aus, schlug ein krampfhaftes Aachen auf, und fiel rücklings in die Arme ihrer Nichten.

»Bespritzt sie mit kaltem Wasser«, sagte der alte Herr.

»Nein, nein«, murmelte Jungfer Tante: »es ist mir schon besser. Bella, Emilie – einen Wundarzt? Ist er verwundet? – Ist er tot? – Ist er – ha, ha, ha!«

Hier erlitt Jungfer Tante den zweiten Anfall von krampfhaftem Lachen, durch Schluchzen unterbrochen.

»Beruhigen Sie sich,« sagte Herr Tupman, durch diesen Beweis von Teilnahme an seinem Leiden beinahe bis zu Tränen gerührt: »teuerstes Fräulein, beruhigen Sie sich.«

»Es ist seine Stimme!« rief Jungfer Tante, und heftige Symptome des dritten Anfalls stellten sich ein.

»Seien Sie unbesorgt, ich bitte Sie, meine Teuerste«, bat Herr Tupman in einschmeichelndem Tone. »Die Verletzung ist ganz unbedeutend, ich versichere Sie.«

»So sind Sie also nicht tot?« schrie die hysterische Dame. »O, sagen Sie, daß Sie nicht tot sind.«

»Sei nicht närrisch, Rachel«, bemerkte Herr Wardle in etwas rauherem Tone, als sich mit der poetischen Natur des Auftritts vertrug. »Was zum Kuckuck soll es denn helfen, wenn er sagt, er sei nicht tot.«

»Nein, nein, ich bin nicht tot«, sagte Herr Tupman. »Ich verlange keinen Beistand als den Ihren. Erlauben Sie mir, mich auf Ihren Arm zu stützen,« fügte er flüsternd hinzu, »ach, Fräulein Rachel!«

Die geängstigte Dame trat vor und bot ihm den Arm. Sie gingen ins Frühstückszimmer. Herr Tracy Tupman preßte ihre Hand zärtlich an seine Lippen und sank auf das Sofa.

»Fühlen Sie sich schwach?« fragte die besorgte Rachel.

»Nein«, antwortete Herr Tupman. »Es ist nichts; es wird mir im Augenblick besser werden.«

Er schloß die Augen.

»Er schläft«, flüsterte Jungfer Tante. Seine Sehwerkzeuge blieben beinahe zwanzig Sekunden geschlossen. »Lieber – lieber – Herr Tupman!«

Herr Tupman sprang auf – »O, sagen Sie diese Worte noch einmal!« rief er aus.

Die Dame war bestürzt. »Sie haben es doch nicht gehört«, sagte sie beschämt.

»Jawohl, ich habe sie gehört«, versetzte Herr Tupman, »wiederholen Sie sie. Wenn Sie wünschen, daß ich genesen soll, wiederholen Sie sie.«

»Pst!« sagte die Dame. »Mein Bruder.«

Herr Tracy Tupman nahm seine frühere Lage wieder ein, und Herr Wardle trat mit einem Wundarzt ins Zimmer.

Der Arm wurde untersucht, die Wunde verbunden und für höchst unbedeutend erklärt. Die Gesellschaft beruhigte sich und ging an die Befriedigung ihres Appetits mit Mienen, auf der wieder der frühere Ausdruck der Heiterkeit lag. Nur Herr Pickwick war still und zurückhaltend. Zweifel und Enttäuschung spiegelten sich in seinen Zügen. Sein Vertrauen auf Herrn Winkle hatte durch die Vorfälle des Morgens einen Stoß erlitten – einen großen Stoß.

»Spielen Sie Kricket?« fragte Herr Wardle den Schützen.

Zu einer andern Zeit würde Herr Winkle die Frage bejaht haben. Aber jetzt antwortete er mit einem bescheidenen »Nein«: er fühlte das Heikle seiner Lage.

»Spielen Sie Kricket, mein Herr?« fragte Herr Snodgraß.

»Früher«, antwortete der alte Herr; »aber ich habe es aufgegeben: ich gehöre zwar noch zu der hiesigen Gesellschaft, spiele aber nicht mehr mit.«

»Heute findet, glaube ich, ein großes Ballspiel statt?« sagte Herr Pickwick.

»Ja«, erwiderte der alte Herr. »Natürlich werden Sie es auch sehen wollen.«

»Ich sehe sehr gern solchen Spielen zu,« versetzte Herr Pickwick, »wo man seines Lebens sicher ist und keine Gefahr läuft, durch die ungeschickte Hand von Dilettanten darum zu kommen.« Herr Pickwick schwieg und sah starr auf Herrn Winkle, der unter seinen Flammenblicken beinahe zu Boden sank. Nach einigen Minuten wandte der große Mann seine Augen weg und fügte hinzu: »Können wir mit gutem Gewissen den Verwundeten der Pflege der Damen überlassen?«

»Sie können mich in keine besseren Hände geben«, sagte Herr Tupman.

»Unmöglich«, bemerkte Herr Snodgraß.

Es wurde also beschlossen, Herr Tupman sollte unter der Pflege der Damen zu Hause bleiben, und die übrigen Gäste unter der Führung Herrn Wardles dem Spiele beiwohnen, das Muggleton aus seinem Schlummer geweckt und in Dingley Dell erregendes Fieber hervorgerufen hatte.

Da ihr Weg, der nicht mehr als zwei (englische) Meilen betrug, durch schattige Heckengänge und über abgelegene Fußpfade führte, und sich ihre Unterhaltung um die reizende Landschaft drehte, die sie rings umgab, war Herr Pickwick beinahe geneigt, den Ausflug, den sie gemacht hatten, satt zu bekommen, als er sich in der Hauptstraße der Stadt Muggleton befand.

Wer nur einigermaßen einen Sinn für Topographie hat, weiß, daß Muggleton eine Landstadt ist mit einem Bürgermeister, Beigeordneten und bevorrechteten Bürgern, die die durch das Parlament bestimmte Vorrechte einer Korporation genießen. Wer je die Adressen des Bürgermeisters an die Bürger, oder der Bürger an den Bürgermeister, oder beider an den Magistrat oder aller drei an die Stadtverordnetenversammlung gelesen hat, wird daraus ersehen, was er schon zuvor hätte wissen sollen, daß Muggleton eine alte und loyale Stadt ist, die mit einem großen Eifer für die Grundsätze des Christentums eine innige Anhänglichkeit an die Handelsgerechtsame verbindet. Demzufolge haben der Bürgermeister, der Magistrat und andere Einwohner zu verschiedenen Zeiten nicht weniger als tausendvierhundertzwanzig Eingaben wider den Sklavenhandel und eine gleiche Zahl von Eingaben gegen die Abschaffung des Fabriksystems im Vaterland, achtundsechzig für Gestaltung des Verkaufs von Kirchenpfründen und sechsundachtzig für Abstellung des öffentlichen Kaufs und Verkaufs an Sonntagen eingeschickt.

Herr Pickwick stand in der Hauptstraße dieser berühmten Stadt und betrachtete die Dinge, die ihn umgaben, voll Neugierde und Teilnahme. Er sah einen viereckigen Marktplatz, und mitten darauf einen großen Gasthof mit einem Schilde, der einen in der Kunst sehr gewöhnlichen, in der Natur aber höchst seltenen Gegenstand darstellte: einen blauen Löwen, der drei Beine in die Lüfte streckte, und auf der Spitze der mittleren Klaue seines vierten Beines herumbalancierte. In der Nähe wohnte ein Auktionator, ein Agent der Feuerversicherungsgesellschaft, ein Kornhändler, ein Leineweber, ein Sattler, ein Branntweinbrenner, ein Kolonialwarenkaufmann und ein Schuhmacher. Dieser hatte einen Laden, in dem außer den Erzeugnissen seiner Kunst auch noch Hüte, Mützen, Kleider, baumwollene Regenschirme und gemeinnützige Kenntnisse zu haben waren. Hier stand ein Haus aus roten Backsteinen in einem gepflasterten Hofe, dem jedermann ansah, daß es dem Staatsanwalt gehörte, dort ein anderes aus Backsteinen erbautes Haus mit venetianischen Fensterblenden und einer großen Messingplatte an der Tür, worauf sehr leserlich geschrieben stand, daß hier ein Wundarzt wohne. Einige Jungen eilten dem Schauplätze des Wettspiels zu, und zwei oder drei Krämer standen unter ihren Ladentüren und sahen aus, als hätten sie ebenfalls Lust, der Festlichkeit beizuwohnen, was sie auch ohne große Beeinträchtigung ihres Berufs getrost hätten wagen dürfen. Nachdem Herr Pickwick diese Beobachtungen gemacht hatte, um sie später in sein Gedenkbuch einzutragen, eilte er schnell seinen Freunden nach, die die Hauptstraße verlassen hatten und bereits den Kampfplatz vor sich sahen.

Die Pfähle waren eingerammt und ein paar Zelte für die Kämpfer aufgeschlagen, worin sie ausruhen und Erfrischungen zu sich nehmen konnten. Das Spiel hatte aber noch nicht begonnen. Zwei oder drei Dingleydeller und einige Muggletoner belustigten sich damit, den Ball mit wichtiger Miene lustig von Hand zu Hand fliegen zu lassen: einige andere Herren in derselben Tracht, mit Strohhüten, Flanelljacken und weißen Hosen – ein Anzug, in dem sie wie Steinmetzen aussahen – standen um die Zelte herum, und Herr Wardle führte seine Gesellschaft eben in ein solches ein.

Einige Dutzend »Wie geht’s?« begrüßten den alten Herrn, und ein allgemeines Hutabnehmen und Hinunterziehen der Flanelljacken folgte der Einführung seiner Gäste, die er als Herren aus London vorstellte. Sie wären außerordentlich begierig, den Feierlichkeiten des Tages beizuwohnen, die, wie er nicht zweifle, ihren vollen Beifall finden würden.

»Wollen Sie nicht lieber ins Hauptzelt treten, Sir?« sagte ein sehr stattlich aussehender Gentleman. Sein Leib und seine Beine sahen aus, als stünde die Hälfte eines riesigen Flanellballens auf ein Paar ausgestopften Kissen.

»Sie sehen es hier weit besser«, sagte ein anderer stattlicher Gentleman, der genau der zweiten Hälfte des vorerwähnten Flanellballens entsprach.

»Sie sind sehr gütig«, versetzte Herr Pickwick.

»Hierher«, sagte der erstgenannte Herr; »hier wird aufgeschrieben – es ist der beste Punkt auf dem ganzen Felde.« Und der Kricketspieler schritt der Gesellschaft voran in das bezeichnete Zelt.

»Fabelhaftes Spiel – famoses Vergnügen – schöne Übung – äußerst schön«, waren die Worte, die an Herrn Pickwicks Ohren schlugen, als er in das Zelt trat. Der erste Gegenstand, dem seine Blicke begegneten, war sein grüngekleideter Freund von der Rochester Postkutsche. Er machte die Unterhaltung vor einem erlesenen Kreise der Honoratioren von Muggleton zu nicht geringer Ergötzung und Erbauung seines Auditoriums. Sein Anzug hatte sich etwas gebessert und er trug Stiefel: aber man erkannte ihn auf den ersten Blick.

Auch der Fremde erkannte seine Freunde sogleich. Er sprang auf, nahm Herrn Pickwick bei der Hand und führte ihn mit seiner gewohnten Hast zu einem Sitze, indem er unaufhörlich schwatzte, als ob das Ganze unter seiner besonderen Leitung und Obhut stände.

»Hierher – hierher – Kapitalspaß – Bier eimerweise – Rinderportionen – ganze Ochsen – Senf – Wagen voll – glorreicher Tag – setzen Sie sich – tun Sie, als ob Sie zu Hause wären – freut mich, Sie zu sehen – außerordentlich.«

Herr Pickwick setzte sich, weil man es so haben wollte. Die Herren Winkle und Snodgraß fügten sich ebenfalls in den Willen ihres geheimnisvollen Freundes. Herr Wardle sah mit stummer Verwunderung zu.

»Herr Wardle – ein Freund von mir«, sagte Herr Pickwick.

»Ein Freund von Ihnen? – Wie geht es Ihnen, mein Wertester? – Ein Freund von meinem Freunde. Ihre Hand, mein Herr.«

Und der Fremde ergriff Herrn Wardles Hand mit aller Glut einer mehrjährigen innigen Freundschaft, trat dann einen oder zwei Schritte zurück, als wollte er ihn erst recht genau von Angesicht zu Angesicht betrachten. Dann schüttelte er seine Hand von neuem und womöglich noch wärmer als zuvor.

»So, so, und wie kommen Sie hierher?« fragte Herr Pickwick mit einem Lächeln, in dem Wohlwollen mit Überraschung kämpfte.

»Hierher kommen?« erwiderte der Fremde – »in der Krone abgestiegen – Krone zu Muggleton – eine Gesellschaft getroffen – Flanelljacken – weiße Hosen – Sandwichschnitten mit Sardellen – saure Nieren – treffliche Gesellen – fabelhaft.«

Herr Pickwick war mit dem stenographischen System des Fremden hinlänglich bekannt, um aus diesen abgebrochenen Mitteilungen zu entnehmen, daß er auf die eine oder andere Weise mit den Muggletonern eine Bekanntschaft angeknüpft hatte. Er hatte diese dann mit dem ihm eigenen Verfahren auf den Grad einer Kameradschaft gesteigert, worauf leicht eine allgemeine Einladung erfolgt sein mochte. Seine Neugierde war also befriedigt. Er setzte sich seine Brille auf und schickte sich an, dem Spiele zuzusehen, das eben seinen Anfang nahm.

Muggleton hatte den Vortritt, und die Teilnahme wurde ungeheuer, als die beiden berühmtesten Mitglieder des ausgezeichnetsten Klubs, Herr Dumkins und Herr Podder, mit den Ballhölzern in der Hand an ihre Pfähle traten. Herr Luffey, der Stolz Dingley Dells, ward aufgestellt, gegen den furchtbaren Dumkins den Ball zu werfen, und Herr Struggles ausersehen, dem niebesiegten Podder denselben Freundschaftsdienst zu erweisen. Einige Spieler wurden beordert, an verschiedenen Stellen des Feldes »aufzupassen«. Jeder nahm die erforderliche Stellung ein, indem er die Hände auf die Knie stemmte, als wollte er eben einen Reiter Huckepack nehmen. Alle ordentlichen Ballspieler verfuhren so; und es gilt allgemein als unmöglich, bei einer andern Stellung gehörig aufzupassen.

Die Schiedsrichter stellten sich hinter die Pfähle: die Punktzähler waren bereit, aufzuschreiben. Eine atemlose Stille trat ein. Herr Luffey zog sich einige Schritte hinter den Pfahl des untätigen Podder zurück und hielt einige Sekunden lang den Ball an sein rechtes Auge. Dumkins erwartete voll Zuversicht dessen Ankunft, die Blicke unverwandt auf Luffey geheftet.

»Achtung!« rief auf einmal der Ballwerfer.

Der Ball flog aus seiner Hand pfeilschnell und geradeswegs nach dem mittleren Knopf des Pfahles. Dumkins war auf der Hut; er fing ihn mit der Spitze seines Bauholzes auf, und der Ball flog über die Köpfe der Aufpasser weg, die sich gerade tief genug bückten, um ihn über sich wegsausen zu lassen.

» Ein Strich – ein Strich – ein anderer. – Nun, geworfen – auf damit – aufgefangen – einen andern – nein – ja – nein – geworfen, geworfen.«

Das waren die Rufe, die dem Schlag folgten, worauf den Muggletonern zwei angeschrieben wurden.

Podder erntete Lorbeeren genug, um sich und ganz Muggleton damit zu bekränzen. Er schlug die zweifelhaften Bälle nieder, ließ die schlechten vorbeifliegen, fing die guten auf und warf sie nach allen Richtungen. Die Aufpasser waren erhitzt und müde: die Ballwerfer wechselten ab und schlugen die Bälle, daß sie den Arm nicht mehr aufheben konnten; nur Dumkins und Podder blieben unermüdet. Versuchte ein älterer Herr, den Flug eines Balles zu hemmen, so rollte er ihm zwischen die Beine oder schlüpfte ihm durch die Hände.

Wollte ihn ein flinker Bursche auffangen, so traf er ihn auf die Nase und flog mit doppelter Kraft lustig zurück, während sich die Augen des flinken Burschen mit Tränen füllten und der Angstschweiß auf seine Stirn trat. Als Dumkins und Podder rechneten, zählte Muggleton vierundfünfzig, während das Kerbholz der Dingley Deller so weiß war wie ihre Gesichter: der Vorsprung war zu groß, um wieder eingeholt werden zu können. Vergebens boten der gewandte Luffey und der begeisterte Struggles ihre ganze Geschicklichkeit und Erfahrung auf, um das Feld wieder zu erobern, das Dingley Dell im Kampfe verloren hatte; – es war umsonst, und kaum hatte Dingten Dell einige Nummern, so gab es sich gefangen und erkannte Muggleton als Sieger an.

Der Fremde hatte mittlerweile unaufhörlich gegessen, getrunken und gesprochen. Bei jedem guten Schlag drückte er in der herablassenden Weise des Gönners seine Zufriedenheit und seinen Beifall aus, wodurch sich die betreffende Partie notwendig sehr geschmeichelt fühlen mußte. Bei jedem Fehlschlage dagegen gab er vor seinen demütigen Zuhörern sein persönliches Mißfallen durch Worte, wie »ach, ach – dumm – Butterfinger – pfui« – und ähnliche zu erkennen. Ausrufe, die ihn in den Augen sämtlicher Anwesenden als einen vorzüglichen und unfehlbaren Richter der ganzen geheimnisvollen Kunst des edlen Kricketspiels erscheinen ließen.

»Kapitalspiel – gut gespielt – einige bewundernswerte Schläge«, sagte der Fremde, als sich nach dem Spiele beide Parteien in dem Zelte versammelten.

»Haben Sie auch schon gespielt, Sir?« fragte Herr Wardle, der sich an seiner Geschwätzigkeit sehr ergötzte.

»Gespielt? Denke wohl, ich habe Kricket gespielt – tausendmal – nicht hier – Westindien – ungeheure Anstrengung – heiße Arbeit – sehr heiß.«

»Es muß freilich unter jenem Himmelsstriche keine Kleinigkeit sein«, bemerkte Herr Pickwick.

»Kleinigkeit? – Heiß – brennend heiß – glühend. Spielte einst um eine Wette – ein einziger Pfahl – mein Freund, der Oberst – Sir Thomas Blazo – wer die meisten Läufe bekommen sollte. – Gewann den Wurf – Vorhand – sieben Uhr abends – sechs Eingeborene zum Aufpassen – kamen; hielten mit – enorme Hitze – die Eingeborenen alle ohnmächtig – weggebracht – ein neues Halbdutzend aufgestellt – auch ohnmächtig – Blazo ballschlagend – von zwei Eingeborenen unterstützt – konnte mich nicht ausstechen – auch ohnmächtig – weggebracht der Oberst – wollte sich nicht geben – treuer Diener – Guanko Samba – der letzte Mann übrig – Sonne so heiß, daß die Ballhölzer glühten und der Ball schwarz wurde – fünfhundertsiebzig Läufe – ganz erschöpft – Guanka strengte letzte Kräfte an – hielt auch aus – nahm ein Bad, wankte zur Tafel.«

»Und was wurde aus dem – wie nannten Sie ihn?« fragte ein alter Herr.

»Blazo?«

»Nein, der andere.«

»Guanko Samba?«

»Ja, mein Herr.«

»Armer Guanko – erholte sich nicht mehr – zielte nach mir – hat ausgezielt – tot, Sir.«

Hier begrub der Fremde sein Gesicht in einen braunen Krug: ob er seine Rührung verbergen oder den Inhalt bis zum letzten Tropfen aufsaugen wollte, kann ich nicht bestimmt entscheiden. Wir wissen nur, daß er plötzlich absetzte, lang und tief Atem schöpfte und sich neugierig umsah. Da traten zwei von den ersten Mitgliedern des Dingleydellklubs mit den Worten zu Herrn Pickwick:

»Wir werden im blauen Löwen ein Essen einnehmen, Sir. Wir hoffen, Sie und Ihre Freunde werden uns die Ehre schenken.«

»Natürlich«, sagte Herr Wardle. »Zu unsern Freunden zählen wir auch Herrn – – –« hier sah er den Fremden an.

»Jingle«, sagte der gewandte Mann, den Wink augenblicklich auffassend. »Jingle – Alfred Jingle, Ritter von Ohneschloß auf Nirgendheim.«

»Ich bin überzeugt, daß es mir dort sehr gefallen wird«, sagte Herr Pickwick.

»Mir auch«, sagte Herr Alfred Jingle, faßte Herrn Pickwick an dem einen und Herrn Wardle an dem andern Arm, und flüsterte Pickwick mit dem Tone der Zuversicht ins Ohr:

»Verdammt gutes Essen – kalt, aber kapital – schielte diesen Morgen ins Zimmer – Geflügel, Pasteten und alles Mögliche – lustige Kerle das – auch gut benommen – sehr gut.«

Da man weiter keine Vorbereitungen mehr zu treffen hatte, schlenderte die Gesellschaft in Gruppen zu zwei und drei langsam in die Stadt. Nach einer Viertelstunde saßen alle im großen Saale des blauen Löwen von Muggleton – Herr Dumkins führte den Vorsitz, und Herr Luffey hatte die Würde des Vizepräsidenten.

Nun ging ein allgemeines Geplauder an: Messer, Gabeln und Teller wurden mit großem Geräusch in Bewegung gesetzt. Drei dickköpfige Aufwärter liefen unaufhörlich aus und ein, und die deftigen Speisen verschwanden mit Blitzesschnelle von der Tafel. Zur Steigerung der allgemeinen Aufregung aber trug der scherzhafte Herr Jingle wenigstens sechsmal soviel bei als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft.

Nachdem jeder gegessen, was er konnte, wurde abgedeckt, damit Flaschen, Gläser und Dessert Raum gewännen. Die Kellner trugen ab, oder, um es deutlicher zu sagen, trugen die Reste der Speisen und Getränke, deren sie noch habhaft werden konnten, aus dem Saal, um sie zu eigenem Gebrauch und Nutzen zu verwenden.

Mitten in dem allgemeinen Getöse der Tafelfreuden und der einsetzenden Unterhaltung fiel ein kleiner Mann auf mit einem wichtigtuenden Gesicht, das zu sagen schien: störe mich nicht in meinen Betrachtungen, oder ich will euch allen widersprechen. Er rührte sich nicht und warf nur zuweilen, wenn das Gespräch stockte, Blicke um sich, als wollte er irgend etwas höchst Gewichtiges vorbringen. Dann und wann räusperte er sich auch mit unbeschreiblicher Würde. Endlich rief er während einer kleinen Pause mit sehr lauter, feierlicher Stimme:

»Herr Luffey!«

Jedermann schwieg, als der Angeredete antwortete:

»Sir!«

»Ich wünsche einige Worte an Sie zu richten, Sir, wenn Sie die Herren bitten wollen, ihre Gläser zu füllen.«

Herr Jingle ließ im Tone der Gönnerschaft ein »Hört! Hört!« vernehmen, das von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft wiederholt wurde. Nachdem die Gläser gefüllt waren, nahm der Vizepräsident eine Miene der gespanntesten Aufmerksamkeit an und sagte:

»Herr Staple.

»Sir,« begann der kleine Mann aufstehend, »ich wünsche das, was ich zu sagen habe, an Sie zu richten, statt an unsern würdigen Präsidenten, weil unser würdiger Präsident gewissermaßen – ich darf sagen, in hohem Grade – der Gegenstand dessen ist, was ich zu sagen oder vielmehr zu – zu –«

»Vorzutragen habe«, ergänzte Herr Jingle.

»– Ja, vorzutragen«, sagte der Kleine: »ich danke meinem ehrenwerten Freunde, wenn er mir erlauben will, ihn so zu nennen – (vier »Hört«, von denen gewiß eines aus dem Munde des Herrn Jingle kam) um der Gefälligkeit willen, womit er mir auf den rechten Ausdruck geholfen. Mein Herr, ich bin ein Deller – ein Dingleydeller (Beifall). Ich kann keinen Anspruch auf die Ehre machen, ein Glied der Bevölkerung von Muggleton zu sein, und ich gestehe es offen, Sir, ich begehre auch diesen Vorzug nicht. Das Warum sollen Sie gleich hören, Sir. (Hört.) Ich gönne Muggleton alle und jede Ehre und Auszeichnung, die es mit so großem Recht beanspruchen kann. Seine Verdienste sind zu zahlreich und zu allgemein bekannt, als daß ich sie hier aufzählen sollte. Doch wenn ich daran denke, daß Muggleton einen Dumkins und einen Podder hervorgebracht, so laßt uns auch nicht vergessen, daß Dingley Dell einen Luffey und einen Struggles aufzuweisen hat. (Lärmender Beifall.) Glaubt ja nicht, ich wolle die Verdienste der erstgenannten Herren herabsetzen. Nein, Sir; ich beneide Sie um Ihre seligen Gefühle bei dieser Gelegenheit (Beifall). Jeder von diesen Herren ist wahrscheinlich mit der Antwort jenes Mannes bekannt, die er von seiner Tonne aus dem Kaiser Alexander gab: – ›Wenn ich nicht Diogenes wäre,‹ sagte er, ›so möchte ich Alexander sein.‹ Ich stelle mir vor, diese Herren denken auch: ›wenn ich nicht Dumkins wäre, so möchte ich Luffen sein; wenn ich nicht Podder wäre, so möchte ich Struggles sein.‹ (Stürmischer Beifall.) Doch, meine Herren von Muggleton, ist es bloß im Kricket, daß sich Ihre Mitbürger so sehr auszeichnen? Haben Sie von Dumkins und seiner Entschlossenheit gehört? Haben Sie nie gelernt, mit dem Namen Podder den Begriff der strengsten Rechtlichkeit zu verbinden? (Großer Beifall.) Sind Sie je bei der Verteidigung Ihrer Rechte, Ihrer Freiheiten, Ihrer Privilegien, wenn auch nur für einen Augenblick, in Mutlosigkeit und Verzweiflung versetzt worden? Und wenn sie niedergedrückt waren, hat nicht der Name Dumkins das erloschene Feuer in Ihrer Brust wieder angefacht? Und ist es nicht durch ein Wort von diesem Manne wieder aufgelodert, als wäre es nie erloschen? (Großer Beifall.) Meine Herren, ich bitte Sie, den vereinten Namen Dumkins und Podder ein donnerndes Lebehoch zu bringen.«

Der Kleine schwieg, und die Gesellschaft schrie, schlug auf den Tisch und fand für den ganzen Abend des Lärmens kein Ende. Es wurden wieder heitere Toaste ausgebracht. Herr Luffey und Herr Struggles, Herr Pickwick und Herr Jingle wurden nacheinander in prächtigen Reden bis in den Himmel gehoben, und jeder bedankte sich pflichtschuldigst für die ihm erwiesene Ehre.

Wir sind begeistert von der großen Sache, der wir uns gewidmet haben. Wir haben das stolze Bewußtsein von einer Leistung, die uns die Unsterblichkeit sichern müßte. Aber ach, sie schwindet wieder! Denn fürwahr: wir könnten uns über uns selbst erheben, vermöchten wir unsern wißbegierigen Lesern auch nur eine bescheidene Skizze von den Reden zu geben, die bei dieser Festivität noch alle gehalten wurden. So bot Herr Snodgraß wie gewöhnlich eine Fülle von Aphorismen, die uns ohne Zweifel die unterrichtendsten und schätzbarsten Belehrungen gegeben haben würden, hätte nicht der Feuerström der Rede oder der fiebererregende Einfluß des Weines die Hand unseres Berichterstatters so unsicher gemacht, daß seine Schrift ebenso unleserlich wie seine Darstellung verworren wurde. Unserm unermüdeten Forschungseifer verdanken wir es, daß wir einige flüchtige Andeutungen hinzuwerfen imstande waren, die den Zügen der Sprecher nicht ganz unähnlich sind, und wir glauben auch den Anfang eines Liedes herausbringen zu können (wenn es anders auch wirklich von Herrn Jingle gesungen wurde), in dem die Worte »Bowl«, »Glanz«, »Rubin«, »Goldschimmer« und »Wein« nach kurzen Zwischenräumen wiederholt vorkommen. Wir glauben auch am Schlusse der Notizen etwas von »Zänkerei und Schlägerei« und dann die Worte »kalt« und »draußen« zu finden: doch da jede Vermutung, die wir darauf bauen könnten, notwendig bloß auf Mutmaßungen hinauslaufen würde, so wollen wir gar keinen Folgerungen nachdenken, auf die wir etwa stoßen könnten.

Wir wollen deshalb zu Herrn Tupman zurückkehren und am Schlusse nur noch bemerken, daß man wenige Minuten vor zwölf Uhr den Kern der Dingtey Deller und Mungletoner Honoratiorenschaft noch mit großem Gefühl und Nachdruck das schöne und geistvolle Nationallied singen hörte:

»Wir gehn nicht heim bis morgen,
Wir gehn nicht heim bis morgen.
Wir gehn nicht heim bis morgen,
Bis uns die Sonne leuchtet.«

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Ein kurzes Kapitel, in dem unter anderm berichtet wird, wie Herr Pickwick es auf sich nehm, den Wagen zu lenken, und Herr Winkle zu reiten, und wie sie beide damit zurechtkamen.

Hell und heiter war der Himmel, balsamisch die Luft und alles umher köstlich anzuschauen, als Herr Pickwick an der Balustrade der Brücke von Rochester lehnte, die herrliche Natur betrachtete und das Frühstück erwartete. Die sich vor seinen Blicken ausbreitende Landschaft bot in der Tat eine so reizende Aussicht, daß sie auch wohl auf ein weniger beschauliches Gemüt ihren entzückenden Eindruck nicht verfehlt haben würde.

Dem Beschauer zur Linken lag die verfallene Mauer, an manchen Stellen zurücktretend und an andern in rohen und schweren Massen über das schmale Ufer vorhängend. Die ausgezackten und scharfgezeichneten Uferfelsen bedeckten dichte Bündel von Seegewächsen, die bei jedem Lufthauch erzitterten, und der grüne Efeu rankte sich melancholisch um das düstere, verfallene Gemäuer. – Hinter demselben erhob sich das alte Schloß mit seinen dachlosen Türmen, deren massive Mauern zerbröckelten, aber ebenso stolz von ihrer früheren Macht und Festigkeit erzählten, wie damals, als sie vor siebenhundert Jahren von Waffenklang oder festlichem Geräusch ertönten. Auf jeder Seite dehnten sich die Ufer des Medway, mit Saatfeldern und Wiesen bedeckt, hier und dort mit einer Windmühle oder einer fernen Kirche, so weit wie das Auge sehen konnte, eine reiche und bunte Landschaft zeigend, deren Reiz die wechselnden Schatten noch erhöhten, die ebenso schnell darüber hineilten, wie die leichten Wolken in dem Licht der Morgensonne fortzogen. – Der geräuschlos dahingleitende Fluß spiegelte das klare Himmelsblau, und die Ruder der Fischer tauchten mit Hellem plätschernden Ton in das Wasser, wie ihre schweren, aber malerischen Boote langsam den Strom abwärts glitten.

Herr Pickwick wurde aus seinen angenehmen Träumen, in die ihn diese Szenerie eingewiegt hatte, durch einen tiefen Seufzer und einen leichten Schlag auf seine Schulter geweckt, und als er sich umwandte, stand der trübsinnige Jemmy vor ihm.

»Betrachten Sie die Aussicht?« fragte der Trübsinnige.

»Jawohl«, versetzte Herr Pickwick.

»Und gratulieren sich selbst zu Ihrem frühen Aufstehen?«

Herr Pickwick nickte mit dem Kopfe.

»Ach, man sollte immer früh aufstehen, um die Sonne in ihrem vollen Glänze zu sehen; denn sie strahlt selten so hell während des übrigen Tages. Der Morgen des Tags und der Morgen des Lebens gleichen sich nur zu sehr.«

»Sie haben recht, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»Wie oft pflegt man zu sagen«, fuhr der Trübsinnige fort, »›der Tag fängt zu schön an, um so zu bleiben‹, und wie gut läßt sich dies auf unser tägliches Leben anwenden! A Gott, was wollte ich darum geben, wenn ich die Tage meiner Kindheit zurückrufen oder sie für immer vergessen könnte!«

»Sie haben viel Trauriges erlebt?« sagte Pickwick teilnehmend.

»Allerdings,« versetzte der Trübsinnige hastig, »mehr als einer, der mich jetzt sieht, für möglich halten sollte.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ist Ihnen wohl je an einem Morgen schon der Gedanke gekommen, daß im Ertrinken Friede und Seligkeit liegen könnten?«

»Gott steh mir bei, nein«, erwiderte Herr Pickwick, etwas von der Balustrade zurücktretend, weil ihn der Gedanke an die Möglichkeit erschreckte, daß der Trübsinnige ihn hinunterschleudern könnte, um ihn den Versuch machen zu lassen.

»Ich bin schon oft mit dem Gedanken umgegangen«, fuhr der Trübsinnige fort, ohne Herrn Pickwicks Bewegung zu beobachten. »Das stille kühle Wasser scheint mir eine Einladung zur Ruhe und zum Frieden zu murmeln. –- Ein Sprung – ein Plätschern – ein kurzer Kampf – es gibt einen augenblicklichen Wasserwirbel – er nimmt allmählich ab, und wirft immer kleinere Wellen –- die Gewässer schließen sich über dem Kopf, und alle Erdenleiden sind vorüber.«

Die eingesunkenen Augen des trübsinnigen Mannes leuchteten hell, während er so sprach; doch seine momentane Erregung wich sogleich wieder seiner gewohnten Ruhe, und er fuhr gelassen fort:

»Genug davon! Ich möchte wegen einer andern Angelegenheit mit Ihnen sprechen. Sie baten mich vorgestern abend, Ihnen vorzulesen, und hörten aufmerksam zu, während ich das tat.«

»Allerdings,« versetzte Herr Pickwick, »und ich meinte wirklich –«

»Ich bat nicht um Ihre Meinung, und ich bedarf derselben nicht«, unterbrach ihn der Trübsinnige. »Sie reisen zum Vergnügen und zur Belehrung. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen ein interessantes Manuskript mitteilte? – doch merken Sie wohl, interessant, nicht etwa wegen seines widernatürlichen und unwahrscheinlichen Inhalts, sondern als ein Blatt aus der Romantik des wirklichen Lebens. Würden Sie es wohl dem Klub mitteilen, den Sie so häufig erwähnten?«

»Unfehlbar«, erwiderte Herr Pickwick, »wenn Sie es wünschen: es würde sodann den Klubakten einverleibt werden.«

»Sie sollen es haben«, fuhr der Trübsinnige fort, und fragte nach Herrn Pickwicks Adresse.

Nachdem ihm Herr Pickwick seine und seiner Freunde wahrscheinlichen Reiseweg bezeichnet hatte, notierte sie der Trübsinnige sorgfältig in einer schmutzigen Brieftasche, lehnte Herrn Pickwicks dringende Einladung zum Frühstück ab, begleitete ihn bis nach seinem Gasthaus, und ging darauf langsam vondannen.

Herr Pickwick wurde von seinen drei Reisegefährten beim Frühstück erwartet, das bereits in lockendem Arrangement aufgetragen war. Sie nahmen Platz, und gekochter Schinken, Eier, Tee und Kaffee begannen mit einer Schnelligkeit zu verschwinden, die von der Trefflichkeit der Tafel, wie von dem gutem Appetit der Reisenden zeugte.

»Aber jetzt müssen wir an Manor Farm denken«, sagte Herr Pickwick. »Wie wollen wir die Reise dahin machen?«

»Es wäre vielleicht das Beste, wenn wir den Kellner darüber fragten«, versetzte Herr Tupman, und infolge dieses Vorschlags wurde der Kellner gerufen.

»Dingley Dell – fünfzehn Meilen, meine Herren – Feldwege – Postpferde, meine Herren?«

»In einer Postkutsche würden nur zwei von uns Platz haben«, bemerkte Herr Pickwick.

»Das ist wahr, Sir – bitte um Entschuldigung, Sir – sehr hübscher vierräderiger Wagen, Sir – ein Sitz für zwei Herren – einer für den, der fährt – o, ich bitte um Vergebung, Sir – hat nur für drei Platz.«

»Was ist da zu tun?« fragte Herr Snodgraß.

»Vielleicht beliebt es einem von den Herren, zu reiten?« versetzte der Kellner, nach Herrn Winkle blickend. »Sehr gute Reitpferde, Sir. – Wenn einer von Herrn Wardles Leuten nach Rochester kommt, kann er es zurückbringen, Sir.«

»Das läßt sich hören«, sagte Herr Pickwick. »Winkle, wollen Sie reiten?«

In den verborgensten Tiefen von Herrn Winkles Herzen stiegen schlimme Ahnungen bei dem Gedanken an eine Probe auf, die er von seiner Reitkunst ablegen sollte: weil er aber seine Leistungsfähigkeit um keinen Preis beargwöhnt wissen wollte, so erwiderte er sogleich mit der größten Zuversicht:

»Mit Vergnügen. Ich gebe dieser Art zu reisen vor jeder andern den Vorzug.«

Herr Winkle hatte das Schicksal herausgefordert: jetzt konnte er nicht anders.

»Um elf Uhr muß der Wagen und das Reitpferd bereitstehen«, sagte Herr Pickwick.

»Sehr wohl, Sir«, versetzte der Kellner und entfernte sich.

Nach dem Frühstück verfügten sich die Reisenden auf ihre Zimmer, um die Kleider zu wechseln und ihre Sachen einzupacken. Herr Pickwick hatte seine Vorbereitungen beendigt, und betrachtete eben vom Fenster des Gastzimmers aus die Vorübergehenden auf der Straße, als der Kellner eintrat und ankündigte, daß der Wagen bereit sei – eine Meldung, die durch das Erscheinen des Kabriolets vor dem Hotel sogleich bestätigt wurde.

Es war ein seltsamer, kleiner grüner Wagenkasten auf vier Rädern mit einem niedrigen schmalen Sitz für zwei Personen und einem hohen Bock für eine dritte, von einem mächtigen Braunen gezogen, der in seinem Knochenbau eine kräftige Symmetrie entwickelte. Daneben stand ein Stallknecht, ein anderes ungeheuer großes Pferd am Zügel haltend, anscheinend ein naher Blutsverwandter des Tieres vor dem Wagen, und das war für Herrn Winkle gesattelt.

»Allmächtiger Himmel,« rief Herr Pickwick aus, als er mit seinen Freunden vor die Tür trat. »Allmächtiger Himmel, wer soll denn das dirigieren? Das hätte ich mir nicht vorgestellt!«

»Das müssen natürlich Sie tun«, sagte Herr Tupman.

»Natürlich«, pflichtete Herr Snodgraß bei.

»Ich?« entgegnete Herr Pickwick.

»Seien Sie nur außer aller Sorge, Sir«, fiel der Stallknecht ein. »Ich versichere Sie, der Braune ist geduldig wie ein Lamm: ein Kind kann ihn lenken.«

»Er ist also nicht scheu?« fragte Herr Pickwick.

»Scheu, Sir? – Er würde nicht scheuen, und wenn er an einem ganzen Wagen voll Affen mit verbrannten Schwänzen vorbei müßte.«

Solche Empfehlung war unwiderleglich. Herr Tupman und Herr Snodgraß stiegen ein, und Herr Pickwick setzte sich auf den Bock.

»Nun, heller William,« sagte der Stallknecht zu seinem Gehilfen, »gib dem Herrn die Zügel.«

Der helle William, wahrscheinlich wegen seines glatten Haares und seines pauspackigen Gesichts so genannt, legte die Zügel in Herrn Pickwicks linke Hand, und der Stallknecht reichte ihm die Peitsche in seine Rechte.

»Brrrr!« rief Herr Pickwick, als das große Tier eine entschiedene Neigung an den Tag legte, den Wagen rückwärts nach dem Fenster des Gastzimmers zu drängen.

»Brrrr!« wiederholten Herr Snodgraß und Herr Tupman aus dem Wagen.

»Es ist nur seine Munterkeit, Sir«, sagte der Stallknecht ermutigend. »Halt ihn fest, William!«

Der Gehilfe bändigte die Lebhaftigkeit des Tieres, und der Stallknecht trat zu Herrn Winkle, um ihm beim Aufsteigen behilflich zu sein.

»Auf der andern Seite, Sir, wenn’s gefällig ist«, sagte der Stallknecht.

»Hol’s der Teufel, der Herr will auf der unrechten Seite aufsteigen«, murmelte ein grinsender Postknecht gegen den außerordentlich vergnügten Kellner.

Herr Winkle klomm nach dieser Weisung in den Sattel, beinahe mit derselben Leichtigkeit, als wenn er die Wand eines Linienschiffes hätte ersteigen müssen.

»Alles in Ordnung?« fragte Herr Pickwick mit einem inneren Vorgefühl, daß die Verwirrung nun erst recht einsetzen würde.

»Alles in Ordnung!« versetzte Herr Winkle mit beklommener Stimme.

»Nun denn, in Gottes Namen!« sagte der Stallknecht, indem er das Pferd losließ.

Und fort rollte der Wagen, und fort sprengte Herr Winkle zur großen Belustigung des ganzen dienenden Gasthofpersonals.

»Warum geht denn der Gaul so zur Seite?« rief Herr Snodgraß im Wagen Herrn Winkle im Sattel zu.

»Es ist mir unerklärlich«, erwiderte Herr Winkle, dessen Pferd in der seltsamsten Weise – den Kopf nach der einen, und den Schweif nach der andern Seite der Straße gekehrt – dahinstelzte.

Herr Pickwick hatte keine Zeit, dies oder sonst irgend etwas zu beachten: denn alle seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten waren auf die Lenkung seines eigenen Pferdes konzentriert. Und dieses entwickelte allerlei Eigentümlichkeiten, die zwar von hohem Interesse für den Zuschauer, aber keineswegs für die im Wagen Sitzenden gleich unterhaltend waren. Abgesehen davon, daß es auf eine höchst unangenehme und für Herrn Pickwick sehr unbequeme Weise den Kopf beständig in die Höhe warf und so stark an den Zügeln riß, daß der Lenker diese kaum festzuhalten vermochte, zeigte es auch eine sonderbare Neigung, bald plötzlich einen Seitensprung zu machen, bald ebenso plötzlich wieder stillzustehen und dann wieder etliche Minuten so rasch davonzujagen, daß es Pickwick fast unmöglich fand, die Zügel festzuhalten.

»Ich bitte Sie, was in aller Welt hat das Tier im Sinn?« sagte Herr Snodgraß, als das Pferd dieses Manöver zum zwanzigsten Male wiederholte.

»Das weiß der Himmel!« versetzte Herr Tupman; »es hat ganz den Anschein, als ob es scheute – meinen Sie nicht auch?«

Herr Snodgraß war im Begriff zu antworten, als er durch den Ausruf des Herrn Pickwick unterbrochen wurde: »Oha, ich habe die Peitsche verloren!«

»Winkle,« rief Herr Snodgraß, als der Reiter auf seinem hohen Roß herantrabte, den Hut über die Ohren gezogen und von der heftigen Bewegung am ganzen Leibe zitternd, als wenn er zusammenbrechen wollte, »o lieber Winkle, bitte, heben Sie die Peitsche auf!«

Herr Winkle zog an den Zügeln des kapitalen Tieres, bis er ganz blau im Gesicht war, und als es ihm endlich glückte, das Pferd zum Stehen zu bringen, stieg er ab, gab Herrn Pickwick die Peitsche und schickte sich an, wieder aufzusteigen.

Ob nun das große Pferd bei seinem munteren Temperament ein Verlangen fühlte, sich mit Herrn Winkle einen kleinen unschuldigen Spaß zu machen, oder ob es ihm einfiel, daß es die Reise zu seinem Vergnügen ebensogut ohne Reiter, als mit einem solchen, vollenden könne – das sind Fragen, die wir natürlich nicht mit Bestimmtheit zu beantworten vermögen. Jedenfalls ist aber soviel gewiß, daß, welchen Beweggründen das Tier auch folgen mochte, Herr Winkle kaum den Fuß in den Steigbügel gesetzt hatte, als es durch eine rasche Bewegung die Zügel über den Kopf schnellte und um eine volle Länge zurückwich.

»Ruhig, ruhig, mein gutes Tier«, rief Herr Winkle besänftigend: »komm, gutes, altes Pferd!«

Allein »das gute Tier« war taub gegen alle Schmeicheleien. Je mehr sich Herr Winkle bemühte, ihm an die Seite zu kommen, um desto mehr wich es zurück, und trotz aller möglichen guten Worte drehten sich Herr Winkle und das Pferd wohl zehn Minuten im Kreise herum und waren nach dieser Zeit doch noch ebensoweit von einander entfernt, als beim Beginne ihres Tanzes – eine fatale Geschichte unter allen Umständen, besonders aber auf einem einsamen Feldwege, wo kein Beistand zu erwarten war.

»Was soll ich nur machen?« rief Herr Winkle, nachdem er seine Experimente noch eine geraume Zeit vergeblich fortgesetzt hatte; »ich kann dem Bieste gar nicht beikommen.«

»Sie werden wohl am besten tun, es zu führen, bis wir an einen Schlagbaum gelangen«, rief ihm Herr Pickwick zu.

»Aber es geht nicht mit mir«, rief Herr Winkle zurück. »Kommen Sie doch und halten Sie es.«

Herr Pickwick war die Güte und Gefälligkeit selbst: er warf also seinem Pferde die Zügel auf den Rücken, stieg vom Bocke und eilte, Herrn Snodgraß und Herrn Tupman im Wagen zurücklassend, seinem armen Gefährten zu Hilfe.

Kaum sah das Pferd Herrn Pickwick mit der Peitsche in der Hand herankommen, da wandelte es seine vorher im Kreis sich drehende Bewegung in eine so entschieden rückläufige, daß es Herrn Winkle, der immer noch das Ende der Zügel festhielt, fast im Trabe mit sich fortriß. – Herr Pickwick eilte, ihm beizustehen: doch je schneller dieser vorwärts lief, desto schneller ging das Pferd rückwärts. Es scharrte dabei mit den Füßen, wühlte den Staub auf, und endlich mußte Herr Winkle, dem die Arme fast ausgerissen wurden, die Zügel fahren lassen. Das Pferd stutzte, schüttelte den Kopf, machte rechtsum, trabte ruhig nach Rochester zurück und überließ es Herrn Winkle und Herrn Pickwick, sich gegenseitig in stummer Bestürzung anzustarren. Ein rasselndes Geräusch in einer kleinen Entfernung erregte jetzt ihre Aufmerksamkeit. Sie blickten auf.

»Gott steh mir bei!« rief der mit allen Ängsten ringende Herr Pickwick aus; »da geht auch das andere Pferd durch.«

Es war nur zu wahr. Das sich selbst überlassene Tier war durch das Geräusch erschreckt worden. Was darauf geschah, läßt sich leicht vermuten. Es jagte mit dem Wagen davon. Herr Tupman sprang in die Hecke und Herr Snodgraß folgte seinem Beispiel, worauf das Pferd den Wagen an einem Brückengeländer zerschmetterte, so daß die Räder aus den Achsen fielen und der Kutschkasten von dem Bock getrennt wurden. Endlich blieb es stehen und betrachtete gelassen die Verheerung, die es angerichtet hatte.

Es war jetzt die erste Sorge Herrn Pickwicks und Herrn Winkles, ihren unglücklichen Freunden beizuspringen, wobei sie sich zu ihrer großen Beruhigung überzeugten, daß sie außer einigen Rissen an ihren Kleidern und Ritzungen der Haut von den Dorngesträuchen keinen weiteren Schaden gelitten hatten. Das nächste, was nun zu tun blieb, war, das Pferd aus seinem Geschirr zu entwirren. – Endlich war diese komplizierte Aufgabe erledigt, und nun gingen sie langsam weiter, das Pferd mit sich führend, und überließen den Wagen seinem Schicksal.

Nach Verlauf von einer Stunde erreichten sie ein kleines Wirtshaus, vor dem zwei Ulmen, eine Krippe und ein Pfahl mit einem Schilde standen: hinter demselben befand sich ein kleines, von wilden Hecken umgebenes Feld und zur Seite ein Küchengarten; baufällige Scheunen und Außenbauten lagen in seltsamer Verwirrung umher. In dem Garten arbeitete ein rotköpfiger Mann, dem Herr Pickwick zurief:

»Heda! holla!«

Der Rotkopf richtete sich empor, hielt die Hand über die Augen und starrte Herrn Pickwick und seine Gefährten eine geraume Weile gleichgültig an.

»Holla!« wiederholte Herr Pickwick.

»Holla!« war die Antwort des Rotkopfs.

»Wie weit ist es wohl bis nach Dingley Dell?«

»Gute sieben Meilen.«

»Ist der Weg gut?«

»Nein, schlecht.«

Nach dieser kurzen Antwort fing der rotköpfige Mann, der nun seine Neugier hinlänglich befriedigt zu haben schien, wieder an zu arbeiten.

»Wir möchten gerne dieses Pferd hier einstellen – ich denke, das wird wohl angehen?« sagte Herr Pickwick.

»Möchtet das Pferd hier einstellen – so?« wiederholte der Rotkopf, sich auf seinen Spaten stützend.

»Freilich«, erwiderte Herr Pickwick, der sich unterdessen, das Tier an der Hand, der Gartenhecke genähert hatte.

»Frau!« rief der Rotkopf, aus dem Garten tretend, und das Pferd scharf in das Auge fassend: »Frau!«

Eine große, knöcherne Frau in einer groben blauen Jacke, deren Taille einen oder zwei Zoll unter den Achselgruben saß, trat zu ihm hinaus.

»Können wir wohl dieses Pferd hier unterbringen, gute Frau?« fragte Herr Tupman, indem er sich ihr näherte und seinen schmeichelndsten Ton annahm.

Die Frau betrachtete die Reisenden mißtrauisch, und der Rotkopf flüsterte ihr etwas in das Ohr.

»Nä,« antwortete sie nach einiger Überlegung, »ich getraue mich nicht, es zu tun.«

»Nicht getrauen?« rief Herr Pickwick aus. »Vor was fürchtet sich denn die gute Frau?«

»Es hat uns erst das vorige Mal Ungelegenheit gemacht«, sagte die Frau, wieder in das Haus gehend: »ich mag mich nicht damit befassen.«

»Nun, so etwas ist mir doch in meinem Leben noch nicht vorgekommen!« sagte Herr Pickwick höchst verwundert.

»Ich – ich glaube wirklich,« flüsterte Herr Winkle seinen um ihn stehenden Freunden zu, »daß die Leute am Ende gar denken, wir wären auf eine unehrliche Weise zu dem Pferde gekommen.«

»Wie?« rief Herr Pickwick höchlich entrüstet aus.

Herr Winkle wiederholte bescheiden seine Vermutung.

»Heda, Bursche,« sagte Herr Pickwick zornig, »glaubt Ihr, daß wir dieses Pferd gestohlen haben?«

»Das glaub‘ ich ganz gewiß«, erwiderte der Rotkopf mit einem Grinsen, das seinen Mund von einem Ohr bis zu dem andern verzerrte. Dann begab er sich gleichfalls ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

»Es ist wie ein Traum – wie ein abscheulicher Traum!« rief Herr Pickwick aus. »Sich den ganzen Tag mit einem schrecklichen Pferde herumschleppen zu müssen, das man nicht loswerden kann!«

Die deprimierten Pickwickier gingen jetzt weiter, die pompöse Rosinante, die ihnen im höchsten Grade verekelt war, hinter sich herziehend.

Es war bereits spät am Nachmittage, als die vier Freunde mit ihrem vierfüßigen Gefährten in den nach Manor Farm führenden Seitenweg einbogen, und obgleich sie nun dem Orte ihrer Bestimmung nahe waren, so wurde doch das Vergnügen, das sie sonst empfunden hätten, durch den Gedanken an ihre sonderbare Erscheinung und lächerliche Lage wesentlich verringert. Zerfetzte Kleider, zerkratzte Gesichter, bestaubte Schuhe, erschöpftes Aussehen und dazu noch das Pferd – das unglückliche Pferd! O, wie Herr Pickwick das Vieh zu allen Henkern wünschte! Er hatte schon zuvor das edle Roß von Zeit zu Zeit mit Blicken des Hasses und der Rache angesehen, und mehr als einmal überlegt, wieviel es ihn kosten würde, wenn er ihm den Hals abschnitte, und jetzt fühlte er sich um so stärker versucht, es entweder umzubringen, oder in die weite Welt laufen zu lassen. Indessen wurde er bei einer Wendung des Weges aus seinem unheilschwangeren Brüten durch die plötzliche Erscheinung zweier Gestalten geweckt. Es waren Herr Wardle und dessen treuer Gefährte, der fette Junge.

»Mein Gott, wo haben Sie solange gesteckt?« begann der gastliche alte Herr. »Ich habe den ganzen Tag auf Sie gewartet. Und wie strapaziert Sie aussehen! – Was? zerkratzte Gesichter? Doch keinen wesentlichen Schaden genommen, hoffe ich – wie? Nun, Gott sei Dank! Umgeworfen? – Nun, das kommt oft in unserer Gegend vor. Joe! – der verwünschte Bursche schläft schon wieder – Joe, nimm dem Herrn das Pferd ab und bring‘ es in den Stall!«

Der fette Junge schleifte das Pferd langsam nach, während Herr Wardle den Besuchern sein Bedauern über ihr Abenteuer ausdrückte, soweit sie die Mitteilung desselben für schicklich gefunden hatten, und sie sodann in die Küche führte.

»Hier wollen wir Sie vor allen Dingen ein wenig zurechtstutzen«, sagte der alte Herr, »und Sie dann zu der Gesellschaft in das Wohnzimmer führen. Emma, den Kirschengeist! Hannchen, eine Nähnadel und Zwirn! Marie, Waschwasser und Handtücher! Rasch, Mädel, eilt euch!«

Drei oder vier handfeste Mägde eilten sogleich, um die verschiedenen Dinge herbeizuschaffen. Zwei männliche Dienstboten aber mit großen Köpfen und runden Gesichtern standen von ihren Sitzen in der Kaminecke – wo sie, ob es gleich Mai war, am Feuer hockten, als wenn es um Weihnachten gewesen wäre – auf und verschwanden in dunklen Winkeln, aus denen sie bald nachher mit einem halben Dutzend Bürsten und mit Schuhwichse wieder auftauchten.

»Rasch!« sagte der alte Herr nochmals.

Es bedurfte aber dieser Mahnung nicht, denn die eine Magd schenkte bereits Kirschengeist ein, eine andere brachte Waschwasser, und einer von den Männern faßte Herrn Pickwick am Bein, auf die Gefahr hin, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und fing an, dessen Stiefel dermaßen zu bürsten, daß sie brennend heiß wurden. Der andere bearbeitete Herrn Winkle mit einer mächtigen Kleiderbürste, und gab bei dieser Operation den zischenden Ton von sich, den Stallknechte gewöhnlich hören lassen, wenn sie ein Pferd striegeln.

Nachdem Herr Snodgraß sich gewaschen hatte, stellte er sich mit dem Rücken an das Feuer und überschaute, behaglich seinen Kirschengeist schlürfend, die Küche. Er beschreibt sie als einen großen, mit Backsteinen gepflasterten und mit einem geräumigen Kamin versehenen Raum, die Decke verziert mit Schinken, Speckseiten und Zwiebelreihen, die Wände mit Hetzpeitschen, Sätteln, Zäumen und einem alten verrosteten Gewehr, unter welchem stand »Geladen!«, was es auch, laut derselben Quellenangabe, vor wenigstens einem halben Jahrhundert gewesen ist. In der einen Ecke tickte eine ehrwürdige alte Wanduhr, und eine silberne von gleichem Alter hing an einem der vielen Haken über dem Anrichttisch.

»Fertig?« fragte der alte Herr, als seine Gäste gewaschen, geflickt, gebürstet und mit Branntwein erquickt waren.

»Stehen zu Diensten«, versetzte Herr Pickwick.

»So bitte ich Sie, mit mir zu kommen«, fuhr Herr Wardle fort und führte sie durch mehrere dunkle Gänge in das Wohnzimmer, gefolgt von Herrn Tupman, der einige Augenblicke gezögert hatte, um von Emma einen Kuß zu erhaschen, wofür er gebührend durch einige Püffe gezüchtigt wurde.

»Willkommen«, sagte der gastliche Wirt, öffnete die Tür und trat ein, um sie anzumelden. »Willkommen, meine Herren, in Manor Farm!«

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Eine altmodische Spielpartie. – Die Verse des Geistlichen. – Erzählung von der Rückkehr des Sträflings.

Mehrere der in dem alten Wohnzimmer versammelten Gäste standen auf, um Herrn Pickwick und seine Freunde bei ihrem Eintreten zu begrüßen, und während der Zeremonie des mit allen nötigen Formalitäten behandelten Vorstellen« fand Herr Pickwick Muße, das Äußere der Anwesenden zu prüfen und Vermutungen über ihren Stand und Charakter anzustellen – eine Gewohnheit, der er, gleich manchen andern großen Äüännern, gern nachzuhängen pflegte.

Eine sehr alte Dame mit einer hohen Haube und in einem verblichenen seidenen Kleide – keine geringere Person als Herrn Wardles Mutter – hatte den Ehrenplatz im rechten Kaminwinkel: dort prangten verschiedene Zeugnisse, daß sie ihrem Jugendgeschmack auch im Alter treu geblieben, in der Form alter Muster, gewirkter Landschaften von gleichem Alter und rotseidener Teekesselhalter von einer neueren Periode, an den Wänden.

Die Tante, die zwei jungen Damen und Herr Wardle umdrängten den Lehnstuhl der alten Frau und wetteiferten miteinander, ihr unablässig ihre Aufmerksamkeiten zu bezeigen. Die eine hielt ihr das Hörrohr, die andere eine Pomeranze, die dritte ein Riechfläschchen, während der vierte eifrig damit beschäftigt war, die Kissen zu ordnen, in die sie sich lehnte. Gegenüber saß ein alter Herr mit kahlem Kopf und einem Gesicht, in dem sich Wohlwollen und guter Humor ausdrückten – der Geistliche von Dingley Dell – und neben ihm seine Ehehälfte, eine rüstige, blühende alte Dame, die ganz so aussah, als ob sie nicht allein die Kunst, Herzstärkungen zu anderer Leute Zufriedenheit zu bereiten, gründlich verstünde, sondern dieselben auch gelegentlich zu ihrer eigenen kostete. In einem Winkel des Zimmers sprachen ein kleiner Mann mit einem Gesicht wie ein Borstorfer Apfel und ein dicker alter Herr miteinander: und noch zwei oder drei alte Herren und noch zwei oder drei alte Damen saßen kerzengerade und regungslos auf ihren Stühlen und glotzten Herrn Pickwick und seine Reisegefährten an.

»Herr Pickwick, Mutter!« schrie Herr Wardle der alten Dame ins Ohr.

»Ah,« sagte sie, den Kopf schüttelnd, »ich kann es nicht verstehen.«

»Herr Pickwick, Großmutter!« schrien die beiden jungen Damen zugleich.

»Ah«, rief die alte Dame. »Doch es kommt auf eins heraus: er wird sich wohl um eine alte Frau, wie ich bin, wenig kümmern.«

»Ich versichere Sie, Madame,« versetzte Herr Pickwick, ihre Hand erfassend und so laut redend, daß sein menschenfreundliches Antlitz von der Anstrengung krebsrot wurde, »ich versichere Sie, Madame, daß mich nichts mehr erfreut, als der Anblick einer Dame in Ihren Jahren im Kreise einer so edlen Familie, deren Haupt sie ist, zumal wenn sie dabei noch so jugendlich und wohl aussieht.«

»Ach,« erwiderte die alte Dame nach einer kleinen Pause, »das ist gewiß alles sehr schön gesagt, aber ich kann nichts davon hören.«

»Großmutter ist gerade nicht in bester Laune«, sagte Fräulein Isabella Wardle mit leiser Stimme; »sie wird aber bald mit Ihnen sprechen.«

Herr Pickwick gab durch Nicken seine Bereitwilligkeit zu erkennen, gegen die Schwächen des Alters nachsichtig zu sein, und knüpfte mit der übrigen Gesellschaft ein allgemeines Gespräch an.

»Herrn Wardles Wohnung hat eine herrliche Lage«, sagte Herr Pickwick.

»Herrliche Lage!« wiederholten die Herren Snodgraß, Winkle und Tupman.

»Der Meinung bin ich auch«, sagte Herr Wardle.

»Es gibt kein besseres Ackerland in ganz Kent, Sir«, bemerkte der kleine Mann mit dem Borstorferapfel-Gesicht; »nein, Sir, ich kann es ganz bestimmt behaupten, Sir.«

Und darauf blickte er triumphierend umher, als ob ihm von jemand hartnäckig widersprochen worden wäre und er diesen doch zuletzt aus dem Felde geschlagen hätte.

»Es gibt kein besseres Ackerland in ganz Kent«, wiederholte er nach einer Pause.

»Ausgenommen Mullins‘ Meadows«, bemerkte der dicke Mann in feierlichem Tone.

»Mullins‘ Meadows?« rief der andere mit tiefer Verachtung.

»Allerdings, Mullins‘ Meadows!« wiederholte der dicke Mann,

»Sehr gutes Land das«, fiel ein zweiter dicker Mann ein.

»Ja, in der Tat sehr gutes Land«, fügte ein dritter dicker Mann hinzu.

»Wie jedermann weiß«, sagte der umfangreiche Hauswirt.

Der kleine Mann mit dem Borstorferapfel-Gesicht blickte zweifelnd umher; doch als er sah, daß er die Minderheit bildete, nahm er eine mitleidige Miene an und sagte nichts weiter.

»Wovon spricht man?« fragte die alte Dame eine ihrer Enkelinnen mit sehr lauter Stimme; denn, wie die meisten schwerhörigen Leute, war sie der Meinung, nur in dieser Weise sich vernehmlich machen zu können,

»Vom Lande, Großmutter.«

»Vom Lande? Was denn? – es ist doch nicht etwa ein Unglück vorgefallen?«

»Nein, nein: Herr Miller sagte, daß unser Land besser wäre als Mullins‘ Meadows.«

»Wie kann er etwas davon wissen?« erwiderte die alte Dame etwas ärgerlich. »Herr Miller ist ein eingebildeter Geck, das kannst du ihm sagen.«

Und ohne zu ahnen, daß ihr lautes Sprechen kein Flüstern gewesen, richtete sie sich in ihrem Lehnstuhl empor und warf dem Verbrecher mit dem Borstorferapfel-Gesicht giftige Blicke zu.

»O, lassen wir das!« sagte der besorgte Wirt, und versuchte, der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. »Was meinen Sie zu einer Partie Whist, Herr Pickwick?«

»Ich ziehe dieses Spiel allen andern vor«, versetzte Herr Pickwick: »aber ich muß bitten, nur nicht gerade um meinetwillen.«

»O, ich versichere Sie, meine Mutter spielt es gleichfalls sehr gern«, sagte Herr Wardle; »nicht wahr, Mutter?«

Die alte Dame, die bei diesem Gegenstand weit weniger taub zu sein schien, als bei einem andern, bejahte.

»Joe, Joe!« rief der alte Herr – »Joe – der verwünschte – ach, da ist er ja! – Joe, die Spieltische!«

Der phlegmatische Jüngling stellte zwei Spieltische auf, den einen zum Pope Joan »Papst Johann«-Spiel, ein Gesellschaftsspiel. und den andern zum Whist Whist heißt eigentlich »Still!« – »Ruhig!«. Die Whistspieler waren Herr Pickwick und die alte Dame, Herr Miller und einer der dicken Herren: die übrigen setzten sich zum Gesellschaftsspiel.

Am Whisttische herrschte jene Würde und Stille, die den Namen des Spiels rechtfertigen soll. Ist es doch eigentlich ein feierliche« Beginnen, dem nach unserer Meinung der unehrwürdige und herabwürdigende Name »Spiel« gar nicht beigelegt werden sollte. Bei dem Rundspiel dagegen an dem andern Tische ging es so laut und lustig her, daß Herr Miller in seiner Aufmerksamkeit gestört wurde und mehrere Fehler machte, die in so hohem Grade den Zorn des dicken Herrn erregten und in gleichem Maße die gute Laune der alten Dame weckten.

»Da!« sagte Herr Miller mit einem triumphierenden Blick, als er eben einen Trick machte, »das hätte, wie ich mir schmeichle, gar nicht besser gespielt werden können – es war nicht möglich, noch einen Trick mehr zu machen.«

»Miller hätte den Buben stechen sollen, nicht wahr, Sir?« sagte die alte Dame.

Herr Pickwick nickte bejahend.

»Hätte ich sollen?« fragte der Unglückliche mit einem triumphierenden Blick auf seinen Mitspieler.

»Allerdings hätten Sie sollen, Sir!« sagte der dicke Herr in zurechtweisendem Tone.

»Ich bedaure sehr«, erwiderte der gedemütigte Miller.

»Bin es bei Ihnen schon gewohnt«, brummte der dicke Herr.

»Zwei Honneurs – machen uns acht –«, sagte Herr Pickwick.

»Können Sie den Trick machen?« fragte die alte Dame.

»Jawohl«, versetzte Herr Pickwick. »Double, simple – und den Rubber!«

»Solches Glück ist mir noch nicht vorgekommen!« rief Herr Miller.

»Und mir sind nie so schlechte Karten in die Hände gekommen«, meinte der dicke Herr.

Es folgte feierliches Schweigen: Herr Pickwick zeigte gute Laune, die alte Dame Ernst, der dicke Mann Verdruß, und Herr Miller Verlegenheit.

»Ein zweiter Double«, rief die Dame aus, und bezeichnete diese Tatsache triumphierend damit, daß sie einen Sixpence und einen abgenutzten halben Penny unter den Leuchter legte.

»Ein Double, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»Habe es schon gesehen«, erwiderte der dicke Herr in scharfem Tone.

Ein zweites Spiel hatte denselben Mißerfolg durch ein Versehen Millers, worüber der dicke Herr ganz außer sich geriet. Er konnte seine Wut über das ganze Spiel nicht mehr unterdrücken. Nach Schluß der Partie zog er sich für eine ganze Stunde und siebenundzwanzig Minuten nach einem Winkel zurück, wo er seinen Ärger stumm austoben ließ. Endlich kam er wieder aus seinem Schmollwinkel hervor und bot Herrn Pickwick eine Prise an mit der Miene eines Mannes, der es über sich gewonnen hatte, das erlittene Unrecht mit dem Mantel der christlichen Liebe zu bedecken. Das Gehör der alten Dame hatte sich indessen merklich gebessert, und der unglückliche Miller fühlte sich so ganz außer seinem Element, wie ein Delphin in einem Schilderhaus.

Mittlerweile nahm das Gesellschaftsspiel am andern Tische desto munterer seinen Fortgang. Miß Isabelle Wardle und Herr Trundle wurden Kompagnons: desgleichen Emilie und Herr Snodgraß, und selbst Herr Tupman und die alte Tante fanden sich zusammen. Der alte Wardle war in seiner besten Laune und handhabte die Tafel so spaßhaft, und die Damen strichen ihren Gewinn so eilig ein, daß an dem Tisch fortwährend ein schallendes Gelächter herrschte. Eine alte Dame hatte stets ein halbes Dutzend Karten zu bezahlen, worüber jedesmal alles lachte, und sah sie dabei verdrießlich aus, so wurde nur noch lauter gelacht. Wenn sie es merkte, so heiterte sich ihre Mene allmählich auf, und sie lachte noch lauter als alle übrigen. Bekam die Tante »Ehestand«, so kicherten die jungen Damen von neuem, und die Tante schien dann empfindlich werden zu wollen, bis sie Herrn Tupmans Händedruck unter dem Tische fühlte und eine heitere Miene annahm, als ob sie sagen wollte, daß sie wohl nicht so gar ferne vom Ehestand wäre, als vielleicht manche Leute meinen möchten.

Dann lachten alle, und besonders Herr Wardle, der, wo es einen Spaß galt, so heiter wie der jüngste war, abermals. Herr Snodgraß flüsterte Emilien fortwährend poetische Phrasen ins Ohr, und das veranlaßte einen alten Herrn zu vielen Bemerkungen und Anspielungen auf Kompagniegeschäfte im Spiel und Leben, worüber die Gesellschaft aufs neue in ein herzliches Gelächter ausbrach, namentlich die Ehehälfte des alten Herrn. Auch Herr Winkle tat sich in Witzen hervor, die in der Stadt abgedroschen, aber auf dem Lande noch unbekannt waren, und da alle darüber lachten und sie ganz köstlich fanden, so tat er sich viel darauf zugute. Der wohlwollende Geistliche sah heiter zu, denn die vielen glücklichen Gesichter, die er an dem Tische sah, erwärmten das Herz des guten alten Mannes. Wenn auch die Lust etwas lärmend war, so kam sie doch aus dem Herzen, nicht bloß von den Lippen, und darin besteht doch eigentlich die wahre Heiterkeit.

Bei dieser fröhlichen Unterhaltung verstrich der Abend sehr schnell, und als die Gesellschaft nach dem zwar ländlichen, aber schmackhaften Abendessen einen Halbkreis am Kamin bildete, war es Herrn Pickwick, als hätte er sich in seinem ganzen Leben nicht so glücklich und so geneigt gefühlt, den Zauber des Augenblicks in so vollen Zügen zu genießen.

»Gerade so,« sagte der gastliche Wirt, der neben dem Lehnstuhl der alten Dame saß und ihre Hand in der seinigen hielt – »gerade so habe ich es gern. Die glücklichen Augenblicke meines Lebens entschwanden mir an diesem Kamine, und ich liebe ihn darum so sehr, daß ich jeden Abend Feuer machen lasse, bis man es vor Hitze fast nicht mehr aushalten kann. Meine gute alte Mutter freute sich schon auf jenem kleinen Stuhl dieses Kamins, al» sie noch ein Kind war – nicht wahr, Mutter?«

Die Träne, die unwillkürlich bei der Erinnerung an vergangene Zeiten und das Glück früherer Jahre das Auge schimmern machte, glitt über die Wange der alten Dame, als sie mit melancholischem Lächeln den Kopf schüttelte.

»Sie müssen mir mein Schwatzen über diesen alten Ort zugute halten, Herr Pickwick«, hob der Wirt nach einer kleinen Pause wieder an: »aber ich liebe dergleichen und kenne fast keine andere. Die alten Gebäude und Felder sind mir wie lebende Freunde, und so auch unsere kleine Kirche mit dem Efeu, den, beiläufig bemerkt, unser vortrefflicher Freund hier bei dem Antritt seiner Stelle durch ein Gedicht verherrlichte. – Herr Snodgraß, haben Sie etwas in Ihrem Glas?«

»Es ist noch voll, ich danke«, erwiderte der Gentleman, dessen poetische Neugier durch die letzte Bemerkung des Sprechers im höchsten Grade rege gemacht worden war. »Ich bitte um Verzeihung, Sie erwähnten da ein Gedicht über den Efeu?«

»Sie müssen sich deshalb an unsern, Ihnen gegenübersitzenden Freund wenden«, sagte der Wirt, indem er mit einer leichten Verbeugung auf den Geistlichen deutete.

»Dürfte ich Sie wohl um die Mitteilung desselben bitten?« sagte Herr Snodgraß.

»Ach, es ist nicht viel daran,« versetzte der Geistliche, »und ich kann die Abfassung nur damit entschuldigen, daß ich, als ich es dichtete, noch Jüngling war. Doch wenn Sie es wünschen, so sollen Sie es hören: ich muß aber um Nachsicht bitten.«

Auf diese Worte folgte ein neugieriges Gemurmel, und nun begann der alte Herr mit einiger Hilfe seiner Frau die betreffenden Verse zu rezitieren. »Ich habe sie betitelt«, sagte er:

»Der Efeu.«

»Ein köstlich Gewächs ist der Efeu grün,
Der das alte Gemäuer umspannt.
Ein leckeres Mahl ist bereitet für ihn
An der kalten, einsamen Wand.
Er höhlt die Mauer, durchwühlt den Stein,
Der verzehrenden Gier nur bedacht.
Welch herrliches Mahl der Staub muß sein,
Den Jahrhunderte ihm vermacht!
Wo kein Leben mehr will erblühn,
Blüht noch der alte Efeu grün.

Fest klammert er sich auch ohne Arm,
Hat ein kräftiges altes Herz;
Er ranket sich und schmiegt sich warm
An die Freundin, die Eiche, himmelwärts;
Ihn überwölbend still mit Laub,
Wo er sich um die Gräber schmiegt.
Sich nährend von moderndem Staub,
Wo der grimmige Tod erschien.
Blüht noch der alte Efeu grün.

Wenn Menschenalter der Tod entführt.
Wenn Völker mit ihren Werken verblühn,
Sein saftig lebendiges Grün.
In seinen einsamen Tagen lebt
Unsterblich er von der Vergangenheit;
Der stolzeste Bau, den der Mensch erhebt,
Ist ihm endlich zur Speise geweiht.
Wo die Zeit schon gekommen hin.
Blüht noch der alte Efeu grün.«

Während der alte Herr diese Verse nochmals wiederholte, um es Herrn Snodgraß zu ermöglichen, sie zu notieren, betrachtete Herr Pickwick die Gesichtszüge des Geistlichen mit großem Interesse, und als der alte Herr mit Diktieren fertig war und Herr Snodgraß sein Notizbuch in die Tasche gesteckt hatte, begann das würdige Pickwickier -Haupt:

»Sie entschuldigen, Sir, daß ich mir nach einer so kurzen Bekanntschaft eine Bemerkung erlaube. Ich sollte meinen, ein Mann wie Sie müßte während seiner Amtsführung als Diener des Evangeliums so manche der Mitteilung werte Szenen und Ereignisse erlebt haben.«

»Allerdings erlebte ich schon vieles«, erwiderte der Geistliche; »aber die meisten Ereignisse und Charaktere, die mir vorkamen, waren bei meinem beschränkten Wirkungskreise nur gewöhnlicher Art.«

»Ich nehme indessen an. Sie haben sich einiges über John Edmunds aufgezeichnet, nicht wahr?« fragte Herr Wardle, der ihn im Interesse seiner neuen Gäste zum Erzählen anzuregen suchte.

Der alte Herr nickte bejahend, wollte jedoch dem Gespräch eine andere Wendung geben, als Herr Pickwick sagte:

»Um Vergebung, Sir, wenn ich fragen darf, wer war denn dieser John Edmunds?«

»Ja, das wollte ich eben auch fragen«, fiel Herr Snodgraß rasch ein.

»Sie verstehen sich ja auf solche Dinge«, sagte der aufgeräumte Wirt. »Und es hilft Ihnen nichts, Sie müssen die Neugier dieser Herren früher oder später doch einmal befriedigen. Das Beste wäre, wenn Sie der jetzigen Aufforderung Gehör gäben und es gleich täten.«

Der alte Herr lächelte gutmütig und rückte seinen Stuhl weiter vor. Die übrige Gesellschaft setzte sich enger zusammen, besonders Herr Tupman und die Jungfertante, die etwas schwerhörig sein mochte, und nachdem der alten Dame das Hörrohr an das Öhr gesetzt, und Herr Miller, der während der Rezitation der Verse in Schlaf gefallen, durch ein anregendes Kneipen unter dem Tische von seiten seines Ausspielgefährten, des feierlichen dicken Mannes, aufgeweckt worden war, begann der Geistliche ohne weitere Vorrede folgende Erzählung, die wir uns zu betiteln erlauben:

»Die Rückkehr des Sträflings.«

»Als ich mich – es sind jetzt bereits fünfundzwanzig Jahre – hier in diesem Dorfe niederließ, war ein Pächter, Namens Edmunds, das verrufenste Individuum in meinem Kirchspiel. Er war ein mürrischer, bösartiger Mann, träge und Ausschweifungen ergeben, dabei wild und grausam von Gemüt. Mit Ausnahme weniger liederlicher Gesellen, mit denen er herumzustreichen und sich in den Bier- und Branntweinschenken zu betrinken pflegte, hatte er keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit dem Manne verkehren, den viele fürchteten. Alle aber verabscheuten ihn, und so ward er denn von jedermann gemieden.

Dieser Mann hatte ein Weib und einen Sohn, der zur Zeit, wo ich hierher kam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie diese ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel mag es mir verzeihen, wenn ich dem Manne unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes, und wie unglaublich das auch vielen vorkommen mag, um seines Vaters willen. So roh er nämlich auch war, und so grausam er mit ihr umging, sie hatte ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrem Herzen, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß beim Weibe findet.

Sie waren arm – wie hätte es auch anders sein können, wo der Mann auf solchen Pfaden wandelte? Doch der unablässige und angestrengte Fleiß der Frau wendete gänzlichen Mangel ab. Freilich wurden ihr diese Anstrengungen schlecht vergolten. Leute, die noch spät in der Nacht an ihrer Wohnung vorbeigingen, erzählten, sie hätten das Wehklagen und Jammern einer Frau und den Schall von Schlägen gehört; und mehr als einmal hatte der Knabe lange nach Mitternacht noch an einem Nachbarhause geklopft, um sich vor der Wut seines betrunkenen, unnatürlichen Vaters zu retten.

Während dieser ganzen Zeit besuchte die arme Frau, die die Spuren der üblen Behandlung nicht immer ganz verbergen konnte, regelmäßig unsere kleine Kirche. Jeden Sonntag, im Früh- und Nachmittagsgottesdienst, saß sie mit ihrem Knaben an derselben Stelle: und obgleich beide nur ärmlich – und zwar noch ärmlicher, als viele ihrer noch bedürftigeren Nachbarn – gekleidet waren, so war ihr Anzug doch immer sauber. Jedermann hatte einen freundlichen Gruß und ein tröstendes Wort für die arme Frau. Wenn sie bisweilen nach dem Gottesdienste unter den Ulmenbäumen vor der Kirche stehen blieb, um ein paar Worte mit einer Nachbarin zu wechseln, oder mit all dem Stolz und all der Liebe einer Mutter ihrem blühenden Knaben zuzuschauen, wie er sich mit seinen kleinen Gespielen herumtummelte, dann röteten freudige Empfindungen ihr von Sorgen gebleichtes Gesicht, und sie sah, wenn auch nicht froh und glücklich, doch ruhig und zufrieden aus.

So verstrichen fünf bis sechs Jahre, und der Knabe war zu einem starken, wohlgebauten Jünglinge herangewachsen. Die Zeit, die den zarten Gliederbau des Kindes zu männlicher Kraft reifte, hatte die Gestalt der Mutter gebeugt und ihre Schritte wankend gemacht: aber der Arm, der sie hatte stützen sollen, ergriff nicht mehr den ihrigen: das Antlitz, das sie hätte erheitern sollen, war ihrem Anblick entzogen. Sie behauptete ihren Platz in der Kirche, aber die Stelle neben ihr war leer. Sie hielt die Bibel so andächtig wie immer in der Hand, aber es war niemand da, sie mit ihr zu lesen, und schwere Tränentropfen fielen auf das Buch, so daß ihr die heiligen Worte vor den Augen verschwammen. Die Nachbarn waren gegen sie noch ebenso freundlich wie vorher, aber sie vermied ihre Grüße mit abgewandtem Gesicht. Sie weilte nicht mehr zögernd unter den Ulmenbäumen – kein süßer Vorgenuß künftigen Glücks war übriggeblieben. Die verlassene Frau zog den Strohhut tiefer ins Gesicht und ging eilenden Schrittes von dannen.

Muß ich erst sagen, daß der junge Mensch bei dem Rückblick auf die Tage seiner frühesten Kindheit sich an nichts erinnern konnte, was nicht auf irgendeine Weise mit einer langen Reihe von freiwilligen Entbehrungen, die sich seine Mutter um seinetwillen auferlegte, von Kränkungen und Leiden, die sie für ihn ertragen hatte, zusammenhing? Muß ich sagen, daß er sich mit gefühlloser Gleichgültigkeit gegen ihren grenzenlosen Kummer und ihre zärtliche Mutterliebe in verstockter Vergessenheit all dessen, was sie für ihn erduldet, einer Rotte von nichtswürdigen, verworfenen Menschen anschloß, daß er in tollem Übermut eine verderbliche Bahn betrat, die ihm den Tod und der Mutter Schande bereiten mußte? Ach, was ist es um die Natur des Menschen! Ihr habt es wohl schon lange erraten.

Das Maß des Elends der unglücklichen Frau sollte sich bald erfüllen. Zahlreiche Untaten waren in der Umgegend begangen worden. Da jedoch die Verbrecher unentdeckt blieben, so trieben sie ihr Unwesen nur um so dreister. Endlich veranlaßte eine mit beispielloser Frechheit verübte Räuberei eine ungewöhnlich strenge Nachforschung, die man nicht vermutet hatte. Es fiel Verdacht auf den jungen Edmunds und seine drei Spießgesellen. Er wurde verhaftet – vor Gericht gestellt – für schuldig erkannt – und zum Tode verurteilt.

Der wilde, durchdringende Schrei einer weiblichen Stimme, der durch den Gerichtssaal tönte, als der feierliche Spruch gefällt wurde, klingt noch in meinen Ohren. Er füllte das Herz des Verbrechers, auf den das Verhör, die Verurteilung, das Nahen des Todes keinen Eindruck machte, mit Schrecken. Die Lippen, die bisher starrköpfiger Trotz verschlossen hatte, bebten und öffneten sich unwillkürlich; das Gesicht nahm eine erdfahle Farbe an, als der kalte Schweiß aus allen Poren drang. Die derben Glieder des Verbrechers zitterten, und er wankte in den Kerker zurück.

In den ersten Ausbrüchen ihrer Seelenangst warf sich die leidende Mutter zu meinen Füßen auf die Knie und flehte inbrünstig zum Allmächtigen, der ihr bisher in all ihrem Trübsal beigestanden, sie von einer Welt voll Elend und Jammer zu erlösen und das Leben ihres einzigen Kindes zu schonen. Darauf folgte ein Ausbruch des Schmerzes und ein Kampf, wie ich ihn in meinem Leben nicht mehr zu erleben hoffe. Ich sah, daß ihr Herz in dieser Stunde für immer brach, aber niemals trat wieder eine Klage oder ein Murren über ihre Lippen.

Es war ein trauriger Anblick, das Weib Tag für Tag in den Gefängnishof gehen zu sehen, um das harte Herz des verstockten Sohnes mit den heißen Bitten der Mutterliebe zu erweichen. Sie mühte sich umsonst. Er blieb verschlossen, starrköpfig und ungerührt. Nicht einmal die unvorhergesehene Verwandlung seiner Todesstrafe in vierzehnjährige Strafverschickung konnte seinen Starrsinn auch nur auf einige Augenblicke beugen.

Aber der Geist der Ergebung und Standhaftigkeit, der sie solange aufrechterhalten hatte, vermochte der körperlichen Schwäche und Entkräftung nicht mehr zu widerstehen. Sie fiel krank darnieder. Noch einmal wollte sie ihren Sohn besuchen und wankte mit ihren zitternden Gliedern aus dem Zimmer, aber die Kräfte verließen sie und sie sank ohnmächtig zu Boden.

Jetzt wurde der Gleichmut des jungen Mannes, womit er geprahlt halte, wirklich auf die Probe gestellt, und dir Vergeltung, die über ihn kam, war von der Art, daß sie ihn beinahe wahnsinnig machte. Ein Tag verfloß, und seine Mutter war nicht da; ein anderer ging vorüber, und sie kam nicht zu ihm. Der dritte Abend verging, und noch hatte er sie nicht gesehen, und in vierundzwanzig Stunden sollte er von ihr getrennt werden – vielleicht auf immer.

Wie tauchten die langvergessenen Erinnerungen an die früheren Tage in seinem Geiste auf, wenn er im schmalen Hofe seines Gefängnisses auf und ab schritt, als müßte seine Eile die ersehnten Nachrichten um so schneller herbeilocken – und wie bitter war das Gefühl seiner hilflosen Lage und Verlassenheit, das in ihm aufstieg, als er die Wahrheit vernahm! Seine Mutter, die einzige Verwandte, die er je gekannt hatte, lag krank darnieder – vielleicht in den letzten Zügen –, kaum eine Viertelstunde von ihm entfernt. Wäre er frei und fessellos, in wenigen Minuten stünde er an ihrer Seite. Er ging ans Gitter und rüttelte an den Eisenstäben mit der Kraft der Verzweiflung, bis sie erklirrten, und stemmte sich gegen die dicke Mauer, als müßte er durch das Gestein dringen; aber das Gebäude spottete seiner schwachen Anstrengungen. Er schlug die Hände zusammen und weinte wie ein Kind.

Ich brachte dem Sohne die Verzeihung und den Segen der Mutter in das Gefängnis, und der Kranken seine feierliche Versicherung der Reue und seine flehentliche Bitte um Vergebung vor das Sterbebett. Ich hörte mit innigem Mitleiden den Reuigen tausend Pläne entwerfen, wie er seine Mutter unterstützen wollte, wenn er zurückgekehrt wäre; aber ich wußte, daß seine Mutter schon lange aus der Welt geschieden sein würde, wenn er den Art seiner Bestimmung erreicht hätte.

Er wurde bei Nacht weggebracht. Wenige Wochen nachher schwang sich die Seele des Weibes, wie ich zuversichtlich hoffe und glaube, zu den Statten der ewigen Seligkeit und Ruhe empor. Ich hielt den Totengottesdienst. Sie liegt auf unserm kleinen Kirchhof. Kein Stein erhebt sich über ihrem Grabe. Ihre Leiden waren den Menschen, ihre Tugenden Gott bekannt.

Es war vor der Strafverschickung des Unglücklichen ausgemacht worden, daß er unter meiner Adresse an seine Mutter schreiben sollte, sobald er die Erlaubnis dazu erhalten würde. Der Vater hatte sich von dem Augenblicke der Verhaftung an bestimmt geweigert, seinen Sohn zu sehen; und es war ihm gänzlich gleichgültig, ob er hingerichtet oder begnadigt würde. Eine Reihe von Jahren ging vorüber, ohne daß man Nachricht von ihm erhielt, und als mehr als die Hälfte seiner Strafzeit verflossen war und ich noch immer keinen Brief erhielt, vermutete ich, er wäre gestorben, was ich beinahe auch hoffte.

Edmunds war bei seiner Ankunft auf der Insel weit in das Innere des Landes geführt worden, und diesem Umstände mochte es vielleicht zuzuschreiben sein, daß, obgleich viele Briefe an mich abgeschickt wurden, doch keiner in meine Hände kam. Die ganze Zeit seiner Verbannung blieb er an dem gleichen Platze. Nach deren Ablauf kehrte er, seinem Entschlüsse und dem Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte, getreu, unter unzähligen Schwierigkeiten nach England zurück und langte zu Fuß in seinem Geburtsort an.

An einem schönen Sonntagabend im Monat August kam John Edmunds zu Fuß in das Dorf, das er vor siebzehn Jahren in Schmach und Schande verlassen hatte. Sein Weg führte ihn über den Kirchhof. Die schlanken alten Ulmen, durch deren Zweige die scheidende Sonne hier und da einen Strom von Licht auf die schattigen Pfade goß, erweckten in ihm die Erinnerung an seine frühesten Tage. Er stellte sich vor, wie, er damals an seiner Mutter Hand friedlich zur Kirche wallte. Er erinnerte sich, wie er zu ihr emporzuschauen pflegte in ihr blasses Gesicht; und wie ihre Äugen sich bisweilen mit Tränen füllten, wenn sie in seine Züge blickte – Tränen, die auf seiner Stirne brannten, wenn sie stehen blieb, um ihn zu küssen, und ihn gleichfalls weinen machten, ob er schon nicht ahnte, warum ihre Tränen so bitter waren. Er dachte daran, wie oft er mit einigen Spielkameraden lustig den Pfad durchlaufen hatte, wie er sich dabei alle Augenblicke rückwärts wandte, um das Lächeln seiner Mutter zu sehen oder den Ton ihrer süßen Stimme zu hören. Ein Schleier schien von seinem Gedächtnisse weggezogen zu sein, und Worte unerwiderter Liebe, verachtete Warnungen und gebrochene Versprechen drangen sich seiner Erinnerung auf, bis sein Herz zu brechen drohte, und er es nicht länger ertragen konnte.

Er trat in die Kirche. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber, und die Gemeinde hatte sich verlaufen, aber es war noch nicht geschlossen. Seine Tritte hallten in der niederen Wölbung wieder. Ein Schauer überfiel ihn, wenn er daran dachte, daß er allein sei, so still und ruhig war es. Er sah sich um. Nichts war verändert. Der Raum kam ihm kleiner vor als früher. Aber es waren noch die alten Grabmäler, auf denen sein Auge tausendmal mit kindischer Scheu verweilt hatte. Die kleine Kanzel mit ihren verblichenen Kissen, der Altar, vor dem er so oft die Gebete hergesagt, die er als Knabe verehrt und als Mann vergessen hatte. Er trat an den alten Kirchenstuhl; er hatte ein kaltes und düsteres Aussehen. Das Kissen war fort, und die Bibel lag nicht mehr da. Vielleicht nahm seine Mutter jetzt einen geringeren Stuhl ein, oder war sie zu schwach geworden, um die Kirche allein besuchen zu können. Er wagte es nicht, an das zu denken, was er fürchtete. Ein kalter Schauer überlief ihn, und er zitterte heftig, als er sich wegwandte.

Ein alter Mann trat eben zur Kirchtüre herein, als er hinauswollte. Edmunds bebte zurück, denn er kannte ihn wohl: manchmal hatte er ihm zugesehen, wie er ein Grab im Kirchhof grub. Was mag wohl der Greis zu dem Unglücklichen gesagt haben? Er starrte dem Fremden ins Gesicht, bot ihm guten Abend und ging langsam an ihm vorbei. Er hatte ihn vergessen.

Er schritt die Anhöhe hinab durch das Dorf. Das Wetter war warm, und die Einwohner saßen vor ihren Haustüren oder ergingen sich in ihren Gärten, um sich von der Arbeit zu erholen und den heiteren Abend zu genießen. Manche Blicke sahen ihm nach, und oft schielte er verstohlen auf die Seite, um zu sehen, ob ihn jemand erkenne und ihm absichtlich aus dem Wege gehe. Es waren beinahe lauter fremde Gesichter; bisweilen erkannte er die stattliche Gestalt eines alten Schulkameraden, der noch Knabe gewesen, als er ihn zum letzten Male gesehen hatte, von einer Schar lustiger Kinder umgeben. Dann sah er einen schwachen, entkräfteten Greis, dessen er sich noch als eines gesunden, rüstigen Arbeiters erinnerte, in einem behaglichen Lehnstuhl vor seiner Haustür sitzen. Aber sie hatten ihn alle vergessen, und er ging unerkannt vorüber.

Die letzten milden Strahlen der scheidenden Sonne fielen auf die Erde, warfen ihren feurigen Glanz auf das wogende Kornfeld und verlängerten die Schatten der Fruchtbäume des Gartens, als er vor dem alten Hause stand: der Heimat seiner Kindheit, nach der er sich während der ganzen langen Jahre seiner Gefangenschaft und seines Elends so unbeschreiblich gesehnt hatte. Die Umzäunung war niedrig, wiewohl er sich der Zeit noch erinnerte, wo sie ihm wie eine hohe Wand vorgekommen war, und er sah über sie in den alten Garten. Er erblickte mehr Pflanzen und schönere Blumen, als sonst hier zu finden waren. Aber die Bäume waren noch die alten – derselbe Baum, unter dem er tausendmal im Schatten gelegen, wenn er des Spielens in der Sonne überdrüssig war, unter dem ihn so oft der sanfte Schlaf der glücklichen Kindheit befallen hatte. Er hörte Stimmen im Hause. Er lauschte, aber sie schlugen fremdartig an sein Ohr: er kannte sie nicht. Sie waren zu fröhlich, und er wußte wohl, daß seine arme Mutter nicht heiter sein konnte, solange sie ihn fern wußte. Die Tür öffnete sich, und eine Schar kleiner Kinder hüpfte schreiend und schäkernd heraus. Der Vater erschien auf der Schwelle mit einem Knäbchen auf dem Arme. Sie drängten sich um ihn und zogen ihn mit ihren zarten Händchen heraus, damit er an ihren fröhlichen Spielen teilnehme. Der Arme dachte daran, wie oft er an dieser Stelle vor dem strengen Gesicht seines Vaters geflohen. Er erinnerte sich, wie oft er seinen zitternden Kopf unter der Bettdecke versteckt, und die rauhen Worte, die harten Schläge und das Jammern seiner Mutter gehört. Wenn er nun auch in tiefem Seelenschmerz laut aufschluchzte, als er den Ort verließ, so hatte doch eine grimme, tödliche Leidenschaft seine Fäuste geballt und seine Zähne übereinander gebissen.

Das also war die Rückkehr, nach der er so viele Jahre lang geschmachtet, und für die er so manche Leiden erduldet hatte? Keine Miene des Willkomms, kein Blick der Verzeihung, kein gastfreundliches Haus, keine hilfreiche Hand – und alles das in seinem väterlichen Dorfe! Was war seine Einsamkeit in den dichten Wäldern, in die noch keines Menschen Fuß gedrungen, gegen diese Gefühle!

Er sah, da er sich seinen Geburtsort im fernen Lande seiner Verbannung und Schmach gedacht hatte, wie er ihn verlassen, nicht wie er ihn bei seiner Rückkehr finden würde. Die traurige Wirklichkeit verwundete sein Herz tief und schlug seinen Mut völlig nieder. Er getraute sich nicht, die einzige Person, von der er eine mitleidige und liebevolle Aufnahme erwarten konnte, zu erfragen und aufzusuchen. Langsam ging er weiter und vermied wie ein schuldbewußter Verbrecher den gewöhnlichen Pfad. Er schlug den Weg nach einer wohlbekannten Wiese ein, warf sich ins Gras und barg das Gesicht in die Hände.

Er hatte nicht bemerkt, daß ein Mann neben ihm auf dem Boden lag. Seine Kleider knitterten, als er sich umwandte, um einen verstohlenen Blick auf den neuen Ankömmling zu werfen, und Edmunds hob den Kopf in die Höhe.

Der Mann hatte eine sitzende Stellung angenommen. Sein Leib war gekrümmt, sein Gesicht durchfurcht und blaßgelb. Sein Anzug kennzeichnete ihn als einen Bewohner des Armenhauses. Er sah sehr alt aus: aber das schien mehr die Wirkung von Ausschweifungen und Krankheit, als von einem langen Leben zu sein. Lange starrte er den Fremden an. Seine Augen, die anfangs matt und glanzlos waren, nahmen allmählich den Ausdruck einer außerordentlichen Unruhe an und glühten immer unheimlicher und unheimlicher, bis sie aus ihren Höhlen zu springen drohten. Edmunds richtete sich langsam auf seine Knie empor und sah dem alten Mann immer aufmerksamer ins Gesicht. Sie starrten einander schweigend an.

Der Greis war geisterblaß. Er schauderte und trat zitternd auf seine wankenden Füße. Edmunds näherte sich ihm. Er bebte einen oder zwei Schritte zurück. Edmunds trat auf ihn zu.

›Laßt mich Eure Stimme hören‹, sagte der Verbannte mit dumpfer, bebender Stimme.

›Weg von mir‹, rief der Greis mit einem schrecklichen Fluche. Der Verbannte trat näher.

›Weg von mir‹, schrie der Greis. Wütend erhob er seinen Stock und versetzte Edmunds einen derben Schlag über die Nase.

›Vater! – Teufel!‹ murmelte der Verbannte zwischen den Zähnen. Er sprang wild auf und packte den Alten bei der Kehle – aber es war sein Vater, und sein Arm fiel kraftlos nieder.

Der Greis stieß einen gellenden Schrei aus, der über die einsamen Felder hintönte, wie das Geheul eines bösen Geistes. Sein Gesicht wurde schwarzblau. Das Blut strömte ihm aus Mund und Nase und färbte das Gras dunkelrot. Er wankte und fiel zu Boden. Ein Blutgefäß war ihm gesprungen, und er lag da – eine Leiche, ehe noch sein Sohn ihn aus der Blutlache aufrichten konnte.«

 

»In dem Winkel des Kirchhofs,« fuhr der alte Herr nach minutenlangem Schweigen fort, »in der Ecke des Kirchhof«, von dem wir gesprochen haben, ruht ein Mann, der nach diesem Ereignis drei Jahre lang mein Arbeiter gewesen, und der die demütigste Reue und Zerknirschung zeigte, die nur jemals auf einem Sterblichen gelastet hat. Niemand außer mir wußte zu seinen Lebzeiten, wer er war oder woher er kam – es war John Edmunds, der zurückgekehrte Verbannte.«

 

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Die Reise des ersten Tages und die Abenteuer des ersten Abends nebst ihren Folgen.

Die pünktliche Allerweltsdienerin, die Sonne, war eben aufgegangen und begann mit ihren Strahlen den Morgen des dreizehnten Mais Eintausendachthundertundsiebenundzwanzig zu erhellen, als sich Herr Samuel Pickwick gleich einer zweiten Sonne von seinem Lager erhob, das Fenster seines Schlafgemachs aufriß und auf die Welt unter ihm hinunterblickte. Goswellstreet lag zu seinen Füßen, Goswellstreet zu seiner Rechten – soweit sein Auge reichte, dehnte sich Goswellstreet zur Linken aus, und die Häuser der andern Seite von Goswellstreet befanden sich ihm gerade gegenüber.

»So sind die engherzigen Ansichten jener Philosophen,« dachte Pickwick, »die sich begnügen, die Dinge, die vor ihnen liegen, zu untersuchen, ohne sich um die Wahrheiten zu kümmern, die sich jenseits bergen. Ebensogut könnte ich zufrieden sein, immer die Goswellstraße anzusehen, ohne mir die mindeste Mühe zu geben, die geheimen Gegenden zu durchforschen, die sie von allen Seiten umgeben.«

Nachdem Herr Pickwick dieser schönen Betrachtung Lust gemacht hatte, schlüpfte er in seine Kleider und packte noch weitere in seinen Mantelsack. Große Männer sind selten in ihrem Anzuge sehr bedenklich. Das Geschäft des Rasierens, des Ankleidens und Kaffeetrinkens war bald vorüber, und nach einer zweiten Stunde langte Herr Pickwick, den Mantelsack in der Hand, sein Fernrohr in der Überrocktasche und seinen Briefblock bereit, alle merkwürdigen Entdeckungen aufzunehmen, bei dem Kutscherstand zu Saint Martin le Grand an,

»Droschke!« rief Herr Pickwick.

»Hier, Sir!« brüllte ein Kabinettstück der kaukasischen Rasse in einer sackleinenen Jacke, einer gleichen Schürze und einem mit seiner Nummer versehenen Messingschilde um die Schulter, als wäre er für eine Raritätensammlung registriert. Dies war der Pferdewärter. »Hier, Sir! Erste Droschke vor!« Der Kutscher wurde nun aus dem Wirtshause, wo er eben seine erste Pfeife geraucht hatte, geholt, und Herr Pickwick nebst seinem Mantelsack in die Droschke geschoben.

»Golden Croß«, sagte Herr Pickwick.

»Ist wohl der Mühe wert, Tommy« – rief der Kutscher verdrießlich seinem Freunde, dem Pferdewärter zu Der Kutscher findet den kurzen Weg nicht lohnend genug, um überhaupt erst loszufahren., der ihm diesen Kunden zugewiesen, indem er zugleich sein Pferd antrieb.

»Wie alt ist dieses Tier, mein Freund?« fragte Herr Pickwick, indem er mit dem Schilling, den er als Fuhrlohn bereits herausgenommen hatte, die Nase rieb.

»Zweiundvierzig«, versetzte der Kutscher mit einem forschenden Blick auf seinen Passagier.

»Was?« rief Herr Pickwick, nach seinem Briefblock greifend.

Der Kutscher wiederholte die frühere Behauptung. Herr Pickwick sah ihm scharf ins Gesicht, und als er dessen unbewegliche Züge bemerkte, notierte er sofort die Tatsache.

»Und wie lange lassen Sie es hintereinander arbeiten?« fragte Herr Pickwick weiter.

»Zwei oder drei Wochen«, entgegnete der Mann.

»Wochen?« sagte Herr Pickwick erstaunt und griff wieder nach seinem Briefblock.

»Es hat seinen Stall in Pentonville,« bemerkte der Kutscher kaltblütig, »aber ich nehme es selten mit heim, wegen seiner Schwäche.«

»Wegen seiner Schwäche?« wiederholte der verblüffte Herr Pickwick.

»Es stürzt immer, wenn es aus der Droschke genommen wird,« fuhr der Kutscher fort; »aber eingespannt zieht man es dicht an und hält es kurz im Zügel, daß es nicht leicht fallen kann. Auch haben wir ein paar köstliche breite Räder; wenn sich der Gaul rührt, so laufen sie ihm nach – und vorwärts muß er, er mag wollen oder nicht.«

Herr Pickwick verzeichnete jedes Wort dieser Angabe in seinem Taschcnbuche, da er im Sinn hatte, die Tatsache als ein merkwürdiges Beispiel von der Zähigkeit der Pferde, selbst unter den kümmerlichsten Verhältnissen, dem Klub mitzuteilen. Er war indes kaum mit seinem Geschäfte fertig geworden, als sie in Golden Croß anlangten. Der Kutscher sprang herunter und half Herrn Pickwick heraus, worauf sich Herr Tupman, Herr Snodgraß und Herr Winkle, die ihren vortrefflichen Führer schon lange mit Sehnsucht erwarteten, alsbald um ihn drängten, um ihn zu bewillkommnen.

»Da ist Euer Fuhrlohn«, sagte Herr Pickwick, dem Kutscher den Schilling darreichend.

Aber wer beschreibt das Erstaunen des gelehrten Mannes, als dieser rätselhafte Mensch das Geld auf das Straßenpflaster warf, und in handgreiflichen Ausdrücken um das Vergnügen bat, sich mit Herrn Pickwick boxen zu dürfen.

»Seid Ihr toll?« fragte Herr Snodgraß.

»Oder betrunken?« meinte Herr Winkle.

»Oder beides zusammen?« sagte Herr Tupman.

»Heran!« rief der Droschkenlenker, indem er mit den Fäusten in der Luft herumfuchtelte. »Heran – mit euch allen Vieren.«

»Da gibt’s einen Jux!« schrie ein halbes Dutzend Mietkutscher. »Ans Werk, Sam« – und sie drängten sich mit lustigen Gesichtern im Kreise um die Gesellschaft.

»Was hast du denn, Sam?« fragte ein Herr in schwarzen Kattunärmeln.

»Was ich habe?« fragte der Droschkenlenker. »Wozu braucht er meine Nummer?«

»Ich wollte eure Nummer nicht«, entgegnete der bestürzte Herr Pickwick.

»Warum haben Sie sie denn in Ihr Buch hineingeschrieben?« fragte der Kutscher.

»Das tat ich nicht«, antwortete Herr Pickwick unwillig.

»Sollte es wohl jemand glauben«, fuhr der Kutscher, sich an die Menge wendend, fort, »sollte es wohl jemand glauben, daß mir da ein Spion in die Droschke steigt, der nicht nur meine Nummer, sondern auch noch obendrein jedes Wort, das ich gesagt habe, aufschreibt?«

Jetzt ging Herrn Pickwick ein Licht auf – der Mann meinte nämlich seinen Briefblock.

»Wie – tat er das?« fragte ein anderer Kutscher.

»Ja, das tat er,« versetzte der Droschkenmann – »und um mir besser zu Leibe gehen zu können, bestellt er da auch noch drei Zeugen, um ihn zu unterstützen. Aber ich will’s ihm geben, und wenn ich sechs Monate dafür ins Loch muß. Kommt her« – der Kutscher warf dabei, mit beispielloser Rücksichtslosigkeit für sein Eigentum, seinen Hut auf die Erde, schlug Herrn Pickwick die Brille aus dem Gesichte, und ließ diesem Angriff unmittelbar einen Schlag auf Herrn Pickwicks Nase und einen weiteren auf dessen Brust folgen. Ein dritter traf Herrn Snodgraß‘ Auge, und ein vierter zur Abwechslung Herrn Tupmans Weste. Dann tanzte der Mann in der Straße herum, kam wieder auf den Fußsteig zurück und versetzte Herrn Winkle einen so kräftigen Puff vor den Bauch, daß demselben augenblicklich der Atem verging, ein Manöver, das im ganzen kaum mehr als sechs Sekunden dauerte.

»Wo ist die Polizei?« rief Herr Snodgraß.

»Bringt sie unter die Brunnenpumpe«, meinte ein Pastetenverkäufer.

»Ihr sollt mir’« entgelten!« keuchte Herr Pickwick.

»Spione!« brüllte die Menge.

»Kommt her!« rief der Droschkenlenker, der die ganze Zeit über seine Boxergeberden ohne Unterlaß fortgesetzt hatte.

Die Anwesenden waren bisher nur passive Zuschauer des Auftritts gewesen. Sobald sich aber die Kunde verbreitete, die Pickwickier wären Spione, so wurden mit großer Lebhaftigkeit Stimmen über die Zweckmäßigkeit des von dem Pastetenverkäufer gemachten Vorschlags gesammelt: und es ist ungewiß, wie weit die Gewalttätigkeiten um sich gegriffen hätten, wenn der Sache nicht durch die Einmischung eines neuen Ankömmlings ein Ende gemacht worden wäre.

»Was gibt’s da für einen Spektakel?« fragte ein hoher, schmächtiger, junger Mann in einem grünen Rocke, der plötzlich aus dem Kutschenhofe hervorkam.

»Spione!« schrie die Menge abermals.

»Wir sind keine«, jammerte Herr Pickwick in einem Tone, der jeden leidenschaftslosen Zeugen überführt haben müßte.

»Ist’s wahr? Sind Sie keine Spione?« fragte der junge Mann, der sich durch das unfehlbare Mittel von Ellenbogenstößen nach den Gesichtern der Menge bis zu Herrn Pickwick Bahn gebrochen hatte.

Der gelehrte Mann erklärte ihm mit wenigen hastigen Worten den wahren Stand der Sache.

»So kommen Sie denn«, sagte der Grünrock, indem er, ohne Unterlaß fortsprechend, Herrn Pickwick mit Gewalt nach sich zog. »Da, Nummer 924, nimm dein Geld und packe dich – ein respektabler Herr – kenne ihn wohl – fort mit eurem Unsinn – kommen Sie hierher, Sir – wo sind Ihre Freunde? – Ein Mißverständnis, wie ich sehe – hat nichts auf sich – kommt bisweilen vor – beste Familien – es geht nicht ans Leben – stecken Sie den Unfall ein – regt sonst nur auf – kommt alles Wetter über einen – verdammte Kerle.«

So redete er noch eine Weile in abgebrochenen Sätzen fort, die er mit einer außerordentlichen Zungengeläufigkeit heraussprudelte, und ging nach dem Passagierzimmer voran, wohin ihm Herr Pickwick mit seinen Jüngern folgte.

»Da, Kellner«, rief der Fremde, ungestüm an der Klingel ziehend. »Gläser her – Branntwein und Wasser, heiß, stark, süß und in Fülle – das Auge beschädigt, Sir? Kellner, rohes Kalbfleisch für das Auge des Herrn – nichts besser als rohes Kalbfleisch für eine Quetschung, Sir; kalter Laternenpfahl sehr gut, aber Laternenpfahl ungesund – verdammt ungesund, eine halbe Stunde auf der Straße zu stehen, wenn man das Auge gegen einen Laternenpfahl gerannt hat – oh –- sehr gut – ha! ha!«

Und der Fremde, ohne auch nur einen Augenblick innezuhalten, stürzte, um zu Atem zu kommen, nun ein volles halbes Maß der dampfenden Flüssigkeit in seine Kehle und warf sich mit einer Behaglichkeit auf einen Stuhl, als ob gar nichts vorgefallen wäre.

Während seine Gefährten dem neuen Bekannten ihren Dank abstatteten, hatte Herr Pickwick Muße, dessen Kleidung und Äußeres genauer zu betrachten.

Er war von mittlerer Größe, aber die Schmächtigkeit seines Körpers und die Länge seiner Beine ließen ihn viel größer erscheinen. Sein grüner Rock mochte zur Zeit, als der Schwalbenschwanz Mode war, hübsch gewesen sein, hatte aber augenscheinlich damals einem weit kleineren Manne gehört, da die beschmutzten und verschossenen Ärmel dem Fremden kaum bis ans Handgelenk reichten. Er war, auf die Gefahr hin, daß die Nähte des Rückens platzten, bis ans Kinn zugeknöpft, und keine Spur von Hemdkragen zierte den Hals seines Besitzers. Die knappen schwarzen Beinkleider zeigten da und dort so fadenscheinige Stellen, daß man wohl sah, sie hatten lange Dienste geleistet, und waren so straff über ein Paar geflickte Schuhe gezogen, als beabsichtigten sie, die schmutzigen weißen Strümpfe zu verbergen, die aber dennoch sichtbar blieben. Sein langes schwarzes Haar quoll in nachlässigen Locken zu beiden Seiten seines eingedrückten alten Hutes hervor, und hin und wieder ließ sich das nackte Armgelenk zwischen den Enden seiner Handschuhe und den Aufschlägen seiner Rockärmel sehen. Sein Gesicht war schmal und hager; aber ein unbeschreiblicher Ausdruck von leichtfertiger Unverschämtheit und vollkommenem Selbstvertrauen sprach sich in dem Äußern des Mannes aus.

Das war die Person, die Herr Pickwick durch seine Brille, die er glücklicherweise wieder gefunden hatte, beaugenscheinigte, und der er sich näherte, als seine Freunde sich in den wärmsten und gewähltesten Dankesergießungen für seinen gelegen gekommenen Beistand erschöpft hatten.

»Ist gern geschehen«, sagte der Fremde, die Anrede kurz abschneidend – »Kein Wort mehr; ein schlimmer Kunde, jener Droschkenmann – nimmt’s mit fünfen auf; wäre ich aber ihr Freund Grünjacke dagewesen – hol mich dieser und jener – wollt ihm den Kopf zerdroschen haben – ja, das wollt ich – Kellner, einen Schweinsrüssel – und den Pastetenmann dazu – keinen Schinken.«

Diese zusammenhängende Rede wurde durch den Eintritt des Rochesterkutschers unterbrochen, der die Ankündigung brachte, daß der Kutscher im Begriff wäre, abzufahren.

»Kutscher?« sagte der Fremde aufspringend. »Meine Kutsche – eingeschrieben – ein Außensitz – zahlen Sie meinen Grog – müßte ne Krone wechseln lassen – abgegriffenes Silber – pure Knöpfe – geht nicht – wie?« Und dabei schüttelte er gar bedächtig den Kopf.

Nun hatten aber zufällig Herr Pickwick und seine Begleiter Rochester zu ihrem ersten Absteigeposten bestimmt, weshalb sie ihren neuen Bekannten davon unterrichteten und mit ihm übereinkamen, daß sie den Hintersitz des Wagens nehmen wollten, wo sie alle nebeneinander Platz hatten.

»Nun, hinauf mit Ihnen«, sagte der Fremde, indem er Herrn Pickwick mit einer solchen Hast auf das Kutschendach half, daß das Gravitätische seiner Haltung bedeutend Not darunter litt.

»Haben Sie Gepäck, Sir?« fragte der Kutscher.

»Wer – ich? Da, dieses Löschpapierpaket, weiter nichts: das andere Gepäck ist zu Wasser fort – Kisten, zugenagelt und groß wie die Häuser – schwer, schwer, verdammt schwer«, versetzte der Fremde, indem er von seinem Paket, das sehr verdächtige Anzeichen trug, ein Hemd und ein Taschentuch zu enthalten, soviel wie möglich in die Tasche zwängte.

»Köpfe weg. Köpfe weg, nehmt die Köpfe in acht«, rief der geschwätzige Fremde, als sie unter einem niedrigen Bogengang durchfuhren, der damals die Einfahrt in den Kutschenhof bildete. »Schrecklicher Platz – gefährliche Lage – vorgestern – fünf Kinder – Mutter – große Dame, die belegte Butterbrote aß – vergaß den Bogen – Krack – Kinder sehen um – Mutter ohne Kopf – Butterbrote in ihrer Hand – kein Mund, um ihn hineinzustecken – Haupt der Familie tot – ergreifend – herzbrechend. Sie sehen nach Whitchall Whitehall, »Weiße Halle«, breite Straße London«, die vom Trafalgar Square nach Westminster führt, benannt nach einem alten königlichen Palast, der zur Zeit der Tudors und Stuarts eine große Rolle spielte. In diesem ward der intrigante König Karl I. am 30.Januar 1649 hingerichtet. Darauf spielt Dickens im folgenden an., Sir? Schöner Ort – kleines Fenster – sonst iemands Kopf dort ab – was meinen Sie, Sir? – Nahm sich auch nicht genug in acht – nicht wahr, Sir?«

»Ich dachte eben darüber nach,« sagte Herr Pickwick, »wie sich die menschlichen Dinge so seltsam verändern können.«

»Ah, ich verstehe – den einen Tag zur Türe des Palastes hinein, am nächsten durchs Fenster hinaus. Philosoph, Sir?«

»Ein Beobachter der menschlichen Natur, Sir«, versetzte Herr Pickwick.

»Ah, das bin ich auch. Die meisten Leute sind es, wenn sie wenig zu tun und noch weniger zu essen haben. Poet, Sir?«

»Mein Freund, Herr Snodgraß, ist auf diesem Felde heimisch«, entgegnete Herr Pickwick.

»Ich gleichfalls«, sagte der Fremde. »Episches Gedicht – zehntausend Verse – Julirevolution Ein Anachronismus des Autors, vgl. Eingang dieses Kapitels. – an Ort und Stelle verfaßt – Mars bei Tag, Apollo bei Nacht – Feuer der Kanonen – Feuer der Phantasie.«

»Sie waren bei jenem glorreichen Schauspiele anwesend, Sir?« fragte Herr Snodgraß.

»Anwesend? Will’s meinen – schoß meine Muskete –erglühte von einer Idee– schlüpfte in ein Weinhaus – schrieb sie nieder – wieder zurück – Schuß auf Schuß – eine andere Idee – abermals ins Weinhaus – Feder und Tinte – aufs neue zurück – gestochen und gehauen – großartiger Augenblick, Sir. – Jagdliebhaber, Sir?« wandte er sich plötzlich an Herrn Winkle.

»Ein wenig, Sir«, versetzte Herr Winkle.

»Schöne Beschäftigung, Sir – sehr schöne Beschäftigung. Hunde, Sir?«

»Jetzt gerade nicht«, entgegnete Herr Winkle.

»Ah, Sie müssen Hunde halten – herrliche Tiere – schlaue Geschöpfe – hatte selbst einmal einen – Hühnerhund – merkwürdiger Instinkt – gehe eines Tage« auf den Anstand – trete in eine Umzäunung – pfeife – der Hund hält an – pfeife wieder – Ponto – rührt sich nicht – rufe nochmal – Ponto, Ponto – geht nicht von der Stelle – wie festgewurzelt – stiert auf ein Brett – sehe auf und lese die Inschrift – ›der Wildhüter hat Befehl, alle Hunde, die er im Bereich dieser Umzäunung antrifft, totzuschießen‹ – wundervoller Hund – unschätzbarer Hund das – gewiß.«

»In der Tat, da« ist einzig in seiner Art«, sagte Herr Pickwick. »Erlauben Sie, daß ich mir’s notieren darf Anmerkung von Dicken«: Obgleich wir diesen Umstand »als einzig in seiner Art« in Herrn Pickwicks Notizbuch aufgezeichnet finden, so können wir doch nicht umhin» eine von der Ansicht des gelehrten Mannes verschiedene Meinung auszusprechen. Die Anekdote ist nicht halb so wunderbar, als einige aus Herrn Jesses »Ährenlese«. Ponto ist gar nichts gegen da«, was dort von dem Verstande der Hunde erzählt wird.

»Gewiß, Sir, gewiß – können noch hundert Geschichtchen von demselben Tier haben. – Schönes Mädchen, Sir« (dies galt Herrn Tracy Tupman, der eben einer jungen Dame am Wege einige nicht sehr pickwickische Blicke zugeworfen hatte).

»Sehr schön«, versetzte Herr Tupman.

»Die englischen Mädchen sind nicht so schön wie die spanischen – edle Gestalten – pechschwarzes Haar – dunkle Augen – liebliche Formen – süße Wesen – bezaubernd.«

»Sie sind in Spanien gewesen, Sir?« fragte Herr Tracy Tupman.

»Ach, lebte dort – ein halbes Menschenalter.«

»Viele Eroberungen, Sir?« fragte Herr Tupman weiter.

»Eroberungen? Tausende. Don Bolaro Fizzgig – Grande – einzige Tochter – Donna Christina – herrliches Wesen – liebte mich bis zum Wahnsinn – scheelsüchtiger Vater – hochherzige Tochter – schöner Engländer – Donna Christina in Verzweiflung – Blausäure – Magenpumpe in einem Mantelsack – glücklich beendigte Operation – der alte Bolaro in Verzückung – willigt in unsere Verbindung – Händedrücke und Tränenströme – romantische Geschichte – gewiß.«

»Ist die Dame jetzt in England, Sir?« entgegnete Herr Tupman, auf den die Schilderung ihrer Reize einen mächtigen Eindruck geübt hatte.

»Tot, Sir – tot«, sagte der Fremde, indem er den spärlichen Überrest eines sehr alten Batistschnupftuches an sein rechtes Auge führte. »Nie ganz genesen, trotz der Magenpumpe – untergrabene Gesundheit – wurde ein Opfer.«

»Und ihr Vater?« fragte der poetische Snodgraß.

»Elend und Gewissensbisse«, versetzte der Fremde. »Plötzliches Verschwinden – Stadtgerede – überall Nachforschungen – kein Erfolg – öffentlicher Brunnen auf dem Hauptplatze hört auf zu springen – Wochen vergehen – Wasser kommt nicht – Werkleute reinigen – schöpfen aus – finden meines Schwiegervaters Kopf in der Hauptröhre stecken und ein ausführliches Bekenntnis in seinem rechten Stiefel – nehmen ihn heraus, und der Brunnen springt wieder, so gut wie je.«

»Erlauben Sie mir, Sir, daß ich diesen kleinen Roman niederschreibe?« sagte Herr Snodgraß tief gerührt.

»Immerzu, Sir, immerzu – noch fünfzig andere, wenn Sie zuhören wollen – ein seltsames Leben, das meinige – merkwürdige Geschichte – nicht ungewöhnlich, aber höchst interessant.«

In diesem Zuge schwatzte der Fremde fort; nur hin und wieder, wenn die Kutschpferde gewechselt wurden, durch den Genuß eines Glases Bier unterbrochen, bis sie die Rochester Brücke erreichten, zu welcher Zeit Herr Pickwick und Herr Snodgraß ihre Briefblöcke mit einer Auswahl ihrer Abenteuer bereits vollständig angefüllt hatten.

»Großartige Ruine!« sagte Herr Augustus Snodgraß mit all jener poetischen Glut, der er seinen Dichterruhm verdankte, als sie des schönen alten Schlosses ansichtig wurden.

»Welche herrliche Studien für einen Altertumsforscher!« ließ sich Herr Pickwick vernehmen, als er sein Fernrohr ans Auge brachte.

»Ah, schöner Platz«, sagte der Fremde – »glorioses Gebäude – zürnende Mauern – wankende Bogen – dunkle Nischen – krachende Stiegen – auch ein alter Dom – dumpfer Geruch – alte Schemel, ausgehöhlt von den Knien der Pilgrime – kleine sächsische Türen – Beichtstühle wie Theaterkassenlogen – wunderliche Käuze, diese Mönche – Päpste, Lordschatzmeister und alle Arten alter Knaben mit großen roten Gesichtern und abgebrochenen Nasen – alle Tage zu sehen – auch Koller aus Büffelshaut – Luntengewehre – Sarkophage – herrlicher Ort – alte Legenden – wunderliche Historien – kapital«: und der Fremde fuhr in diesem Selbstgespräche fort, bis sie das Wirtshaus zum Ochsen auf der Landstraße erreichten, wo die Kutsche haltmachte.

»Bleiben Sie hier, Sir?« fragte Nathanael Winkle.

»Hier? – Ich nicht – aber Sie werden wohl daran tun – gutes Haus – herrliche Betten – Wrights Hotel nebenan, teuer – sehr teuer – ’ne halbe Krone auf die Rechnung, wenn Sie den Kellner nur ansehen – fordern Ihnen mehr ab, wenn Sie bei einem Freunde, als wenn Sie an der Table d’hote speisen – verwünschte Kerle –.«

Herr Windle wandte sich an Herrn Pickwick und flüsterte ihm einige Worte zu, worauf sich Herr Pickwick mit Herrn Snodgraß, und Herr Snodgraß mit Tupman leise besprach – eine geheime Verständigung, die von allen mit einem beifälligen Kopfnicken begleitet wurde.

»Sie haben uns diesen Morgen einen sehr wesentlichen Dienst geleistet, Sir«, redete endlich Herr Pickwick den Fremden an. »Wollen Sie uns gestatten. Ihnen einen kleinen Beweis unserer Dankbarkeit zu geben, indem wir Sie um die Ehre Ihrer Gesellschaft bei Tisch bitten?«

»Mit großem Vergnügen – will zwar nichts vorschreiben, aber Masthähne und Champignons – kapitales Essen! Wieviel Uhr?«

»Lassen Sie sehen«, versetzte Herr Pickwick, seine Uhr zu Rate ziehend: »es ist bald drei Uhr. Wollen wir um fünf sagen?«

»Paßt mir ausgezeichnet,« entgegnete der Fremde – »präzis fünf Uhr – bis dahin habe ich die Ehre –«

Der Fremde lüftete seinen zerdrückten Hut um einige Zolle, setzte ihn nachlässig wieder aufs Ohr, begab sich dann mit seinem Löschpapierpaketchen rasch in den Hof und ging auf die Straße hinaus.

»Augenscheinlich ein vielgereister Mann und ein trefflicher Beobachter der Menschen und Dinge«, sagte Herr Pickwick.

»Ich möchte wohl sein Epos lesen«, versetzte Herr Snodgraß.

»Und ich hätte seinen Hund sehen mögen«, entgegnete Herr Winkle.

Herr Tupman sagte nichts: aber er dachte an Donna Christina, die Magenpumpe und den Springbrunnen, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

Sie nahmen ein gemeinschaftliches Zimmer, und nachdem sie die Betten untersucht und ein Mittagessen bestellt hatten, verließen sie den Gasthof, um sich die Stadt und ihre Umgebung anzusehen.

Nach einem sorgfältigen Durchlesen von Herrn Pickwicks Notizenbuch finden wir nicht, daß seine Bemerkungen über die vier Städte Stroud, Rochester, Chatam und Brompton Stroud, eine kleine Stadt in Gloucestershire. Nochester, Chatam und Brompton, heute zusammenhängende Stadtgebiete in Kent, bedeutend durch Hafenanlagen bereits aus der Zeit der Königin Elisabeth sowie Handel und Industrie. sich von denen anderer Reisenden, die gleichfalls diese Orte besuchten, wesentlich unterscheiden. Wir können das Allgemeine seiner Schilderung kurz zusammenfassen.

»Die Haupterzeugnisse dieser Städte«, sagt Herr Pickwick, »scheinen Soldaten, Matrosen, Juden, Kreide, Krabben, Polizeidiener und Werftarbeiter zu sein. Die Haupthandelsartikel, die man in den Straßen ausgestellt sieht, sind Schiffsbedarf, Zwieback, Apfel, Schollen und Austern. Die Straßen geben ein sehr belebtes Bild, besonders wegen der Lustigkeit des Militärs. Es ist in der Tat für ein philanthrophisches Herz ergötzlich, diese Braven unter dem Gewichte physischer und materieller Begeisterung einhertaumeln zu sehen, besonders wenn wir in Betracht ziehen, daß sie den ihnen nachziehenden Gassenjungen eine wohlfeile, unschuldige Unterhaltung und Anlaß zu tausend Scherzen bieten. Nichts (fügt Herr Pickwick bei) kommt der Gutmütigkeit eines Soldaten gleich. Nur einen Tag vor unserer Ankunft wurde ein solcher in dem Hause eines Schenkwirts gröblich beleidigt. Das Schenkmädchen weigerte sich nämlich entschieden, ihm weiteren Branntwein zu geben, wogegen er – natürlich nur im Scherze – das Bajonett herausriß und das Mädchen damit an der Achsel verwundete. Und doch war dieser Ehrenmann der erste, der am nächsten Morgen wieder in diesem Hause erschien und sich dadurch geneigt erklärte, den ihm zugefügten Schimpf zu übersehen und den Vorfall der Vergessenheit anheimzugeben.«

»Der Verbrauch von Tabak«, fährt Herr Pickwick fort, »muß in diesen Städten sehr groß sein, wie auch der Geruch desselben, der die Straßen erfüllt, denen, die das Rauchen sehr lieben, ungemein angenehm sein mag. Ein oberflächlicher Beobachter würde sich vielleicht über den Schmutz in denselben beschweren; wenn man jedoch in Betracht zieht, daß er nur ein Beweis von dem lebhaften und blühenden Handelsverkehr ist, so kann man sich natürlich nur darüber freuen.«

Punkt fünf Uhr kam der Fremde und bald nachher das Mittagessen. Er hatte sich seines Löschpapierpaketchens entledigt, ohne daß jedoch eine Veränderung in seinem Anzuge vorgegangen wäre; auch war er womöglich noch geschwätziger als je.

»Was ist das?« fragte er, als der Kellner den Deckel von einer der Schüsseln entfernte.

»Seezungen, Sir.«

»Seezungen – ah! – kapitale Fische – kommen alle von London – Postwageneigentümer geben politische Diners – Wagen voll Seezungen – Dutzende von Körben – pfiffige Burschen. Glas Wein, Sir?«

»Mit Vergnügen«, sagte Herr Pickwick.

Und der Unbekannte trank zuerst mit Herrn Pickwick, dann mit Herrn Snodgraß, dann mit Herrn Tupman, dann mit Herrn Winkle, und dann auf die Gesundheit der ganzen Gesellschaft – all dies fast ebenso schnell hintereinander, als er sprach.

»Teufelslärm auf der Treppe, Kellner,« sagte der Fremde – »Bänke hinauf – Zimmerleute herunter – Lampen, Gläser, Harfen. – Was gibt’s denn?«

»Einen Ball, Sir«, versetzte der Kellner.

»Gesellschaftsball – wie?«

»Nein, Sir, kein Gesellschaftsball – einen Ball für wohltätige Zwecke, Sir.«

»Wissen Sie nicht, Sir, ob viele schöne Damen in der Stadt sind?« fragte Herr Tupman angelegentlich.

»Prächtig – kapital. Kent, Sir – alle Welt spricht von Kent – Äpfel, Kirschen, Hopfen und Damen. Glas Wein, Sir?«

»Mit größtem Vergnügen«, versetzte Herr Tupman.

Der Fremde füllte und leerte.

»Ich würde wohl gern daran teilnehmen«, sagte Herr Tupman, dem der Ball nicht aus dem Kopfe wollte.

»Eintrittskarten sind zu einer halben Guinee Eine Guinee war eine, zuerst 1622 in Verkehr gekommene Goldmünze aus afrikanischem Gold (Guinea), im Wert von 21,5 Mark. Herr Tupman soll also recht anständig bezahlen. am Schenktisch zu haben, Sir«, entgegnete der Kellner.

Herr Tupman drückte abermals den Wunsch aus, die Festlichkeit mit zu begehen, da er aber in dem umdunkelten Auge des Herrn Snodgraß und in den gedankenvollen Zügen des Herrn Pickwick keiner Zustimmung begegnete, so machte er sich mit großem Eifer an den Portwein und das Dessert, die eben aufgetragen worden waren. Der Kellner entfernte sich, und die Gesellschaft blieb allein, um die der Mahlzeit folgenden Stunden in traulicher Unterhaltung zu verbringen.

»Sie entschuldigen, Sir,« sagte der Fremde – »Flasche ruht – muß kreisen – der Sonne gleich – zum letzten Tropfen – keine Restchen.«

Er leerte sein Glas, das er ungefähr zwei Minuten zuvor gefüllt hatte und goß sich mit der Miene eines tüchtigen Zechbruders aufs neue ein.

Die Flasche machte die Runde, und dann wurde weiterer Vorrat bestellt. Der Fremde schwatzte und die Pickwickier hörten zu. Herr Tupman fühlte sich mit jedem Augenblicke geneigter, den Ball zu besuchen. Herrn Pickwicks Gesicht erglühte in einem Ausdruck alles umfassender Philanthropie, und Herr Winkle und Herr Snodgraß verfielen in festen Schlaf.

»Sie fangen bereits an,« sagte der Fremde – »hören Sie die Fußtritte – Geigenstimmen – jetzt die Harfe – ’s geht los.«

Die ebengenannten verschiedenen Töne fanden den Weg nach dem tiefer liegenden Stockwerk herunter und verkündeten den Beginn der ersten Quadrille.

»Ach, ich ginge gar zu gerne«, begann Herr Tupman abermals.

»Ich auch,« versetzte der Fremde – »verwünscht, mein Gepäck – schwerfällige Kähne – keinen passenden Anzug – ärgerlich, nicht wahr?«

Nun war aber allgemeines Wohlwollen einer der Hauptzüge der Pickwickiertheorie, und niemand erwies sich eifriger in Vollführung dieses edlen Grundsatzes, als Herr Tracy Tupman. Die Zahl der in den Akten der Gesellschaft aufgeführten Beispiele, in denen dieser vortreffliche Sohn des Klubs Hilfsbedürftige wegen abgelegter Kleider oder Gcldunterstützung nach den Häusern anderer Mitglieder schickte, ist fast unglaublich.

»Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen zu diesem Zwecke einen Anzug borgen zu können,« sagte Herr Tracy Tupman, »aber Sie sind ziemlich schlank und ich –«

»Etwas beleibt – ein echter Bacchus – ohne Kranz – vom Faß gestiegen und in Kammgarn geschlüpft, he? – nicht doppelt destilliert, sondern doppelt gemahlen – ha! ha! – Geben Sie den Wein herüber.«

Ob Herr Tupman etwas verdutzt über den bestimmten Ton war, in dem der Fremde die Einhändigung der Flasche verlangte, die er so wacker zu bearbeiten verstand, oder ob er sich durch den schmählichen Vergleich eines der bedeutendsten Pickwick-Klub-Mitglieder mit einem unberittenen Bacchus verletzt fühlte, eine Frage, die sich nicht mit Sicherheit aufklären läßt. Er bot ihm indes den Wein an, hustete ein paarmal und filierte den Unbekannten einige Sekunden mit finsterem Gesicht. Als er aber bemerkte, daß sich diese Persönlichkeit durch seine Blicke nicht im geringsten stören ließ, gewannen seine Züge allmählich einen milderen Ausdruck, und er brachte aufs neue den Ball zur Sprache.

»Ich wollte bemerken, Sir,« sagte er, »daß vielleicht, wenn auch mein Anzug für Sie zu weit ist, doch der meines Freundes, des Herrn Winkle, Ihnen besser passen würde.«

Der Fremde maß Herrn Winkle mit den Augen, und seine Züge strahlten von Zufriedenheit, als er sagte:

»Wie angegossen.«

Herr Tupman sah sich um. Der Wein, der bereits bei einer früheren Gelegenheit seine schlafbringenden Kräfte an Herrn Snodgraß und Herrn Winkle erwiesen, hatte eine gleiche Wirkung auch an Herrn Pickwick geübt. Dieser Gentleman hatte allmählich die verschiedenen Stufen durchlaufen, die der durch eine reichliche Mahlzeit veranlagten satten Trägheit und ihren Folgen vorangehen, indem er die gewöhnlichen Übergänge von der Höhe der Heiterkeit zu der Tiefe der Abstumpfung, von der Tiefe der Abstumpfung zu der Höhe der Heiterkeit durchmessen hatte. Wie eine Gaslampe im Freien, durch deren Röhre der Wind streicht, hatte er für einen Augenblick einen unnatürlichen Glanz verbreitet, dann war aber sein Licht zu einem kaum bemerklichen Flämmlein zusammengeschmolzen, das nach einer Weile für einen Moment wieder mit irrem und unsicherem Scheine aufflackerte, um schließlich ganz zu verlöschen. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken, und ein fortwährendes Schnarchen, gelegentlich durch einen Erstickungsanfall unterbrochen, war das einzige hörbare Merkmal von der Anwesenheit des großen Mannes.

Die Versuchung, den Ball zu besuchen und die Schönheit der Kenter Damen auf seine Sinne wirken zu lassen, übte einen gewaltigen Einfluß auf Herrn Tupman, und nicht minder groß war die Versuchung, den Fremden mitzunehmen. Letzterer schien Ort und Einwohner so gut zu kennen, als ob er von Kindheit auf daselbst gelebt hätte – ein Vorteil, der dem Pickwickier durchaus abging. Herr Winkle schlief, und Herr Tupman hatte in solchen Dingen genug Erfahrung, um zu wissen, daß sein Freund, sobald er erwachte, dem Laufe der Natur zufolge sich schwerfällig nach seinem Bette schleppen würde. Er war unschlüssig.

»Füllen Sie Ihr Glas und geben Sie die Flasche herüber«, rief der unermüdliche Gast.

»Winkles Schlafgemach liegt neben dem meinigen«, sagte Herr Tupman. »Wenn ich ihn jetzt weckte, so würde ich ihm nicht gut begreiflich machen können, was ich von ihm will; aber er hat einen Anzug in seinem Mantelsack. Ich denke, Sie könnten ihn wohl auf dem Ball tragen; ich brächte ihn nachher wieder an Art und Stelle, ohne daß er überhaupt etwas von der Sache erführe.«

»Kapital!« meinte der Fremde; »herrlicher Plan – verdammt verdrießliche Lage – vierzehn Anzüge in den Kisten –- und jetzt eines andern Kleider anziehen müssen – sehr guter Gedanke das – gewiß.«

»Wir müssen aber jetzt unsere Billette lösen«, sagte Herr Tupman.

»Nicht der Mühe wert, eine Guinee zu halbieren«, versetzte der Fremde. »Wollen aufwerfen, wer für beide zahlt – ich rate – Sie werfen: nun – Frauenzimmer – Frauenzimmer – holdes Frauenzimmer.«

Das Goldstück fiel nieder und der Drache (den man aus Galanterie Frauenzimmer nennt) kam nach oben zu liegen.

Herr Tupman klingelte, kaufte die Billette und rief, man solle ihnen leuchten. In einer Viertelstunde stak der Fremde ganz in Nathanael Winkles Kleidern.

»Es ist ein neuer Frack«, sagte Herr Tupman, als sich der Fremde mit großer Selbstgefälligkeit in einem Ankleidespiegel betrachtete; »der erste, der mit unsern Klubknöpfen gemacht wurde.«

Er lenkte dabei die Aufmerksamkeit des andern auf die großen vergoldeten Knöpfe, die zu beiden Seiten von Herrn Pickwicks Brustbild die Buchstaben P.K. erkennen ließen.

» P.K.« sagte der Fremde, – »schnurriger Einfall – Bild des alten Knaben und P.K. Was soll dieses P.K.? – Seltsamer Anzug – wie?«

Herr Tupman erklärte ihm mit steigendem Unwillen und großer Wichtigkeit die Bedeutung der geheimnisvollen Devise.

»Etwas kurz in der Taille – nicht wahr?« meinte der Fremde, über die Schultern blickend, um im Spiegel die hinteren Knöpfe zu besehen, die allerdings so ziemlich in der Mitte seiner Rückenlänge saßen. »Gerade wie eine Briefträgerjacke – wunderliche Fräcke das – kontraktmäßig angefertigt – kein Maß genommen – geheimnisvolle Schickung der Vorsehung – alle kleinen Leute kriegen lange Röcke und alle großen kriegen kurze.«

So fortschwatzend machte sich Herrn Tupmans neuer Freund seinen –oder vielmehr Herrn Winkles– Anzug zurecht und ging, von Herrn Tupman begleitet, die Treppe hinauf nach dem Ballsaal voran.

»Ihre Namen, meine Herren«, sagte der Türsteher.

Herr Tupman wollte eben vortreten, um seinen Namen und Titel anzugeben, als ihn der Fremde daran hinderte.

»Durchaus keine Namen« – und dann flüsterte er Herrn Tupman zu – »braucht keine Namen – nicht bekannt – zwar gut in ihrer Weise, aber nicht berühmt genug – ganz herrliche Namen für eine kleine Gesellschaft, aber machen keinen Eindruck in öffentlichen Ballgesellschaften – inkognito ist besser – Herren von London – ausgezeichnete Fremde – so etwas.«

Die Tür wurde geöffnet und Herr Tracy Tupman trat mit dem Fremden in den Ballsaal.

Es war ein langer Raum mit scharlachrot ausgeschlagcnen Bänken, der durch Wachskerzen auf gläsernen Wandleuchtern erhellt wurde. Die Musiker befanden sich auf einer erhöhten Tribüne, und die Quadrillen wurden durch zwei oder drei Reihen von Tänzern systematisch durchgeführt. Zwei Spieltische waren in einem anstoßenden Zimmer, und zwei Paar alte Damen mit einer entsprechenden Anzahl Herren daselbst im Kartenspielen begriffen.

Die Tour war zu Ende: die Tänzer und Tänzerinnen gingen in dem Saale auf und ab, und Herr Tupman pflanzte sich mit seinem Gefährten in einer Ecke auf, um die Gesellschaft zu beobachten.

»Bezaubernde Frauenzimmer«, sagte Herr Tupman.

»Warten Sie noch ein Weilchen«, sagte der fremde; »wird bald kurzweiliger. – Vornehme noch nicht da – wunderlicher Ort – oberste Arsenalbeamte kennen nicht die unteren – untere Arsenalbeamte nicht den niederen Adel – niederer Adel nicht die Kaufleute – Arsenaldirektor kennt keinen Menschen.«

»Was ist das für ein junger Mensch – der dort mit dem blonden Haare, den kleinen Augen und dem modischen Anzuge?« fragte Herr Tupman.

»Pst! Bitte – kleine Augen – modischer Anzug – junger Mensch – nur gescheit – ist Fähnrich im siebenundvierzigsten Regiment. – Der ehrenwerte Wilmot Snipe – große Familie – die Snipen – sehr große Familie.«

»Sir Thomas Clubber, Lady Clubber und Fräulein Töchter!« rief der Mann an der Türe mit einer Stentorstimme.

Dies erregte große Sensation, und unmittelbar darauf trat ein stattlicher Mann in blauem Rock mit blanken Knöpfen, begleitet von einer großen Dame in blauem Atlasgewand und zwei jungen Fräuleins in modischen Anzügen von derselben Farbe, in den Saal.

»Direktor – Vorstand des Arsenals – großer Mann – höchst bedeutender Mann«, flüsterte der Fremde Tupman zu, als der Wohltätigkeitsausschuß Sir Thomas Clubber nebst Familie nach dem oberen Teile des Saales führte. Der ehrenwerte Wilmot Snipe nebst andern ausgezeichneten Gentlemen drängten sich an die Fräuleins Clubbers, um ihnen ihre Huldigungen darzubringen; und Sir Thomas Clubber stand kerzengerade da und betrachtete über sein schwarzes Halstuch hinweg die versammelte Gesellschaft.

»Herr Smithie und Madame Smithie nebst Fräulein Töchter!« lautete die nächste Ankündigung.

»Wer ist Herr Smithie?« fragte Herr Tracy Tupman.

»Er ist Arsenalbeamter«, versetzte der Fremde.

Herr Smithie verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor Sir Thomas Clubber, und Sir Thomas Clubber erwiderte den Gruß mit stolzer Herablassung. Lady Clubber nahm einen Operngucker vor und beäugelte Madame Smithie nebst Familie, während Madame Smithie ihrerseits eine Madame So und So anstierte, deren Gatte nicht beim Arsenale angestellt war.

»Oberst Bulder nebst Frau Gemahlin und Fräulein Tochter«, waren die nächsten Ankömmlinge.

»Garnisonskommandant«, beantwortete der Fremde Herrn Tupmans fragenden Blick.

Fräulein Bulder wurde sehr warm von den Fräuleins Clubber bewillkommt, und auch zwischen der Frau Oberst und Lady Clubber fand eine über alle Beschreibung zärtliche Begrüßung statt. Oberst Bulder und Sir Thomas Clubber boten sich gegenseitig ihre Schnupftabaksdosen an und sahen ganz wie ein paar Alexander Selkirks Alexander Selkirk, der englische Matrose, dessen Geschichte Anlaß zu dem Robinson Crusoe gegeben haben soll. aus – Herrscher über alles, soweit sie schauen konnten.

Während die Aristokratie der Stadt – nämlich die Bulders, Clubbers und Snipes – in dieser Weise ihre Würde oben im Saal bewahrte, ahmten die übrigen Klassen der Gesellschaft ihr Beispiel in andern Teilen desselben nach. Die weniger aristokratischen Offiziere des Siebenundneunzigsten widmeten sich den Familien der untergeordneten Arsenalbeamten. Die Frauen der Anwälte und Weinhändler standen an der Spitze einer dritten Klasse (die Frau des Brauers machte den Bulders Besuch), und Madame Tomlinson, die Posthalterin, schien durch gegenseitige Übereinkunft zum Haupte der Frauen aus dem Handelsstande erwählt worden zu sein.

Eine der populärsten Personen in ihrem Kreise war ein kleiner, wohlbeleibter Mann, mit einem in die Höhe gestrichenen Kranz von schwarzen Haaren, der eine ungeheure Glatze auf dem Scheitel dieses Herrn umgab – Doktor Slammer, Regimentsarzt beim Siebenundneunzigsten. Der Doktor schnupfte mit jedermann, lachte, tanzte, machte Witze, spielte Karten, tat alles und war allenthalben. Diesen Beschäftigungen, so vielseitig sie auch waren, fügte der kleine Doktor eine noch weit wichtigere hinzu – er war nämlich unermüdlich, einer kleinen alten Witwe die größte Aufmerksamkeit zu erweisen, deren reiches Kostüm, überdies mit Juwelen überladen, sie als eine äußerst wünschenswerte Zugabe zu seinem beschränkten Einkommen kennzeichnete.

Herrn Tupmans und seines Gefährten Blicke waren schon einige Zeit auf den Doktor und die Witwe gerichtet, als der Fremde das Schweigen unterbrach.

»Schweres Geld – heiratslustige Alte – windbeuteliger Doktor – kein übler Gedanke – herrlicher Spaß«, waren die vernehmlichen Sentenzen, die seinen Lippen entströmten.

Herr Tupman sah ihm fragend ins Gesicht.

»Ich will mit der Witwe tanzen«, sagte der Fremde.

»Wer ist sie?« fragte Tupman.

»Weiß nicht – sah sie in meinem Leben nie – den Doktor ausstechen – da geht sie.«

Der Fremde schritt sofort durch den Saal, lehnte sich an das Kamingesims und begann dem fetten Gesichte der kleinen alten Dame Blicke achtungsvoller und melancholischer Bewunderung zuzuwerfen. Herr Tupman sah in stummem Erstaunen zu. Der Fremde machte, während der kleine Doktor mit einer andern Dame tanzte, reißende Fortschritte. Die Witwe ließ ihren Fächer fallen: der Fremde hob ihn auf, überreichte ihn – ein Lächeln – eine Verbeugung – ein Knix – einige verbindliche Worte. Er ging keck auf den Festordner los, kehrte mit ihm zurück – eine kleine einleitende Pantomime, und der Fremde trat mit Madame Budger in die Quadrille ein.

So groß auch Herrn Tupmans Überraschung über dieses abgekürzte Verfahren war, so wurde es doch durch die des Doktors bei weitem überboten. Der Fremde war jung und die Witwe fühlte sich geschmeichelt. Des Doktors Aufmerksamkeiten blieben fortan unbeachtet, und die entrüsteten Blicke, die er seinem unerschütterlichen Nebenbuhler zuschoß, waren verloren. Doktor Slammer meinte, der Schlag müsse ihn rühren. Er, der Doktor Slammer, Regimentarzt vom Siebenundneunzigsten – im Augenblicke verdunkelt von einem Menschen, den niemand zuvor gesehen, und von dem man auch jetzt noch nicht wußte, wer er war! Doktor Slammer – Doktor Slammer vom Siebenundneunzigsten verschmäht! Unmöglich! Es konnte nicht sein! Aber doch war es so: da standen sie. Was? Er stellt ihr seinen Freund vor? Konnte er seinen Augen trauen? Er sah abermals hin und fühlte die schmerzliche Notwendigkeit, sich zuzugestehen, daß ihn seine Sehorgane nicht betrogen. Madame Budger tanzte mit Herrn Tracy Tupman – da war kein Irrtum. Ja, es war leibhaftig die Witwe, die mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit an ihm vorbeihüpfte: und Herr Tracy hüpfte gleichfalls mit der allerfeierlichsten Miene umher und tanzte (wie es bei vielen Leuten der Fall ist), als sei eine Quadrille nichts Belustigendes, sondern eine ernste Prüfung der Gefühle, deren Bestehung eine unbeugsame Entschlossenheit fordere.

Der Doktor ertrug all dies schweigend und geduldig, ebenso auch das darauf folgende Präsentieren von Negus Ein Gemisch von Wein, Masser, Zucker, Zitronen und Muskat. und Süßigkeiten nebst dem Flirt, der diese Aufmerksamkeiten begleitete. Als jedoch der Fremde verschwand, um Madame Budger zu ihrem Wagen zu führen, stürzte Slammer rasch aus dem Saale, während jedes Teilchen des bisher eingestöpselten Grimms aufbrauste und ihm in großen Schweißtropfen an seinem zornroten Kopfe hervorsprudelte.

Der Fremde kehrte mit Herrn Tupman zurück. Er sprach leise und lachte. Der kleine Doktor dürstete nach seinem Blute – denn offenbar hatte sein Nebenbuhler gesiegt und frohlockte jetzt darüber.

»Sir!« sagte der Doktor mit furchtbarer Stimme, indem er eine Karte zum Vorschein brachte und seinen Feind in eine Ecke des Vorraums zog, »mein Name ist Slammer, Doktor Slammer, Sir – beim siebenundneunzigsten Regiment – Chatamkaserne – meine Karte, Sir, meine Karte.«

Er würde noch mehr gesagt haben, aber die Entrüstung erstickte seine Worte.

»Ah,« versetzte der Fremde kaltblütig, »Slammer – sehr verbunden – höfliche Aufmerksamkeit – jetzt nicht krank, Slammer – aber wenn ich es bin – nach Ihnen schicken.«

»Sie – Sie sind ein Schieber, Sir,« keuchte der wütende Doktor, »ein Gauner – eine Memme – ein Lügner – ein – ein – kann Sie nichts veranlassen, mir Ihre Karte zu geben, Sir?«

»O, ich sehe,« sagte der Fremde halb beiseite, – »starker Negus hier – liberaler Wirt – sehr einfältig – gewiß – Limonade viel besser – heiße Gemächer – ältliche Herrn – haben’s morgen zu büßen – grausam – grausam«; und er entfernte sich um einige Schritte.

»Sie wohnen hier im Hause, Sir«, sagte der zornige kleine Mann; »Sie sind jetzt betrunken, Sir; Sie werden morgen weiter von mir hören, Sir. Ich will Sie schon ausfindig machen, Sir – ja, ich will Sie schon ausfindig machen.«

»Meinetwegen machen Sie mich ausfindig, wenn Sie mich nur nicht zu Hause finden«, versetzte der unerschütterliche Fremde.

Doktor Slammer schoß Giftblicke, als er seinen Hut mit einem zornigen Klapse auf seinem Kopfe befestigte, und der Fremde ging mit Herrn Tupman nach dessen Schlafgemach, um das erborgte Gefieder wieder in den Reisesack des nichtsahnenden Winkle zu stecken.

Der letztere lag in tiefem Schlafe, und so war denn die Rückerstattung bald erledigt. Der Fremde scherzte viel, und der von Wein, Negus, Lichtern und Damen ganz verwirrte Herr Tracy Tupman meinte, daß dies ein ausgesuchter Spaß wäre. Sein neuer Freund entfernte sich, und nachdem der ehrenfeste Pickwickier nach einiger Mühe die ursprünglich für den Kopf berechnete Öffnung seiner Nachtmütze gefunden, und bei seinen Anstrengungen, dem Lichte einen passenden Platz anzuweisen, den Leuchter umgeworfen hatte, half er sich durch eine Reihe komplizierter Bewegungen nach seinem Bette, worin er alsogleich in tiefen Schlaf verfiel.

Am nächsten Morgen hatte es kaum sieben geschlagen, als Herrn Pickwicks reger Geist aus dem Zustande der Bewußtlosigkeit, in den er von dem Schlummer gewiegt worden war, durch ein lautes Pochen an seiner Zimmertür geweckt wurde.

»Wer ist da?« rief Herr Pickwick, von seinem Kissen auffahrend.

»Der Hausknecht, Sir.«

»Was wollt Ihr?«

»Verzeihen Sie, Sir, können Sie mir nicht sagen, welcher Herr von Ihrer Gesellschaft einen blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen trägt, auf denen die Buchstaben P. K. stehen?«

»Der Rock wird zum Ausbürsten hinausgegeben sein,« dachte Herr Pickwick, »und der Mann hat vergessen, wem er angehört. – Herr Winkle«, rief er laut: »im dritten Zimmer rechts.«

»Danke, Sir«, versetzte der Hausknecht und entfernte sich.

»Was gibt’s?« rief Herr Tupman, als ein lautes Klopfen an seiner Tür ihn aus seiner tiefen Ruhe aufschreckte.

»Kann ich mit Herrn Winkle sprechen, Sir?« entgegnete der Hausknecht von außen.

»Winkle – Winkle!« rief Herr Tupman ins Nebenzimmer.

»Holla!« antwortete eine matte Stimme unter der Bettdecke hervor.

»Es ist jemand an der Tür, der zu Ihnen will.«

Nachdem sich Herr Tracy Tupman soweit angestrengt hatte, legte er sich wieder aufs Ohr und fiel aufs neue in tiefen Schlaf.

»Zu mir?« sagte Herr Winkle, rasch aus seinem Bett springend und einige Kleidungsstücke anziehend. »Zu mir? in so weiter Entfernung von der Stadt? Wer um Himmels willen kann denn etwas von mir wollen?«

»Ein Herr im Gastzimmer, Sir«, versetzte der Hausknecht, als Herr Winkle die Tür öffnete, um den Anklopfenden hereinzulassen. »Der Herr sagte, er wolle Sie keinen Augenblick aufhalten, Sir; er könne aber durchaus keine Abweisung annehmen.«

»Höchst sonderbar!« sagte Herr Winkle. »Nun, ich will gleich hinunterkommen.«

Er hüllte sich rasch in einen Reiseschal, zog seinen Schlafrock an und ging die Stiege hinunter. Eine alte Frau und ein paar Kellner scheuerten das Gastzimmer, und ein Offizier in Halbuniform blickte aus dem Fenster. Er wandte sich mit einer steifen Kopfverbeugung an den eintretenden Winkle, hieß das Dienstpersonal sich entfernen und schloß sorgfältig die Tür.

»Herr Winkle, wie ich vermute?« begann der Offizier.

»So heiße ich allerdings, Sir.«

»Es wird Sie nicht überraschen, Sir, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich diesen Morgen Sie in der Angelegenheit eines Freundes – des Doktors Slammer vom Siebenundneunzigsten besuche.«

»Doktor Slammer?« sagte Herr Winkle.

»Doktor Slammer. Er bat mich, Ihnen in seinem Namen zu sagen, daß Ihr Benehmen an dem gestrigen Abend von der Art war, wie kein Mann von Ehre es sich gefallen lassen kann, und (fügte er bei) wie kein Mann von Ehre es sich gegen einen andern erlauben würde.«

Herrn Winkles Erstaunen war zu echt empfunden und zu augenfällig, um der Wahrnehmung von Herrn Slammers Freund zu entgehen; der letztere fuhr daher fort:

»Mein Freund, Doktor Slammer, ersuchte mich, hinzuzufügen, daß er fest überzeugt sei, Sie wären einen großen Teil des gestrigen Abends betrunken gewesen und wüßten daher vielleicht nichts mehr von dem Umfang der Beleidigung, die Sie sich zuschulden kommen ließen. Er trug mir daher auf, Ihnen zu sagen, daß er, wenn Sie diesen Umstand als eine Entschuldigung Ihres Benehmens geltend machen wollten, sich mit einer schriftlichen Abbitte, wie ich sie Ihnen in die Feder diktiere, begnüge.«

»Eine schriftliche Abbitte?« wiederholte Herr Winkle mit dem nachdrücklichsten Tone des Staunens.

»Sie kennen natürlich die andere Wahl, die Ihnen übrigbleibt«, versetzte der Offizier ruhig.

»Wurde Ihnen dieser Auftrag auf meinen Namen an mich übergeben?« fragte Herr Winkle, dem ob dem Gehörten der Verstand stillstand.

»Ich war nicht anwesend,« entgegnete der Besuch, »und infolge Ihrer entschiedenen Weigerung, Doktor Slammer Ihre Karte zu geben, hat mich besagter Gentleman gebeten, mir über die Identität des Besitzers eines höchst ungewöhnlichen Rocks – eines blauen Fracks mit vergoldeten Knöpfen, auf denen sich ein Brustbild und die Buchstaben P.K. befinden – Gewißheit zu verschaffen,«

Herr Winkle wäre vor Entsetzen beinahe zur Erde gesunken, als er seine eigene Tracht so genau beschreiben hörte. Doktor Slammers Freund fuhr fort:

»Der im Gasthause eben angestellten Nachfrage zufolge bin ich überzeugt, daß der Eigentümer des fraglichen Kleidungsstücks gestern nachmittag mit drei Herren hier angekommen ist. Ich sandte sogleich zu dem Herrn, der mir als mutmaßliche Hauptperson dieser Gesellschaft beschrieben wurde, und dieser hat mich an Sie verwiesen.«

Wenn es dem Hauptturm von Rochester-Castle plötzlich eingefallen wäre, seinen festen Standpunkt zu verlassen und sich gerade dem Gasthofe gegenüber aufzupflanzen, so hätte Herrn Winkles Überraschung lange nicht die Höhe erreichen können, die die gegenwärtige Anrede in ihm veranlaßte. Sein erster Gedanke war, sein Frack möchte ihm gestohlen worden sein.

»Nur einen Augenblick Verzug, wenn ich bitten darf«, sagte er.

»Recht gerne«, versetzte der unwillkommene Besuch.

Herr Winkle eilte hastig die Treppe hinauf und öffnete mit zitternden Händen seinen Reisesack. Aber das Kleidungsstück lag an seinem gewohnten Platze! eine genauere Besichtigung zeigte jedoch deutliche Spuren, daß es in der letzten Nacht getragen worden war. »Es muß doch seine Richtigkeit haben«, sagte Herr Winkle, indem ihm der Frack aus den Händen glitt. »Ich habe nach dem Mittagessen zuviel Wein getrunken und entsinne mich noch halb und halb, daß ich nachher auf der Straße spazieren ging und eine Zigarre rauchte, ’s ist schon so; ich war sehr betrunken – muß mich anders angekleidet – und jemand beleidigt haben, ’s ist wohl keine Zweifel – und meinem Rausche habe ich diese schrecklichen Folgen zu danken.«

Herr Winkle lenkte nun wieder seine Schritte nach der Richtung des Gastzimmers, mit dem düsteren und schrecklichen Entschlusse, die Herausforderung des kampflustigen Doktors Slammer anzunehmen und das Schlimmste, was daraus folgen konnte, über sich ergehen zu lassen.

Verschiedene Rücksichten drängten Herrn Winkle zu diesem verzweifelten Entschlusse, unter denen sein Ansehen im Klub nicht die geringste war. Er hatte bei Angelegenheiten offensiver, defensiver und inoffensiver Art, wenn sich’s dabei um Kraft und Gewandtheit handelte, stets als hohe Autorität gegolten: und wenn er bei dem ersten Anlasse, wo es galt, einen ritterlichen Sinn zu zeigen, unter den Augen seines Meisters scheu zurückbebte, so war sein Prestige für immer verloren. Außerdem erinnerte er sich, von Leuten, die in derlei Dingen Erfahrung hatten, gehört zu haben, daß vermöge eines geheimen Einverständnisses unter den Sekundanten die Pistolen selten mit Kugeln geladen würden; und dann zog er auch noch weiter in Betracht, daß Herr Snodgraß, wenn er denselben zum Sekundanten wählte und ihm die Gefahr in recht glühenden Farben schilderte, vielleicht Herrn Pickwick in Kenntnis setzen würde. Dieser würde dann ohne Zweifel keinen Augenblick säumen, den Beistand der Lokalbehörden aufzubieten, um auf diese Weise den Tod eines seiner Jünger zu verhindern.

Unter solchen Gedanken kehrte er in das Gastzimmer zurück und gab daselbst seine Absicht kund, die Herausforderung des Doktors anzunehmen.

»Wollen Sie mir einen Freund namhaft machen, mit dem ich Ort und Stunde der Zusammenkunft verabreden kann?« sagte der Offizier.

»Ganz unnötig«, versetzte Herr Winkle. »Sie können beides mir namhaft machen; für eine Begleitung werde ich sodann schon Sorge tragen.«

»Was meinen Sie – diesen Abend um Sonnenuntergang?« fragte der Offizier in gleichgültigem Tone.

»Sehr gut,« entgegnete Herr Winkle, meinte jedoch in seinem Innern, »sehr schlimm.«

»Sie kennen das Fort Pitt?«

»Ja, ich habe es gestern gesehen.«

»So nehmen Sie sich die Mühe, auf dem Felde, das den Laufgraben begrenzt, sobald Sie die Stelle erreichen, wo das Bollwerk einen Winkel bildet, den Fußpfad linker Hand einzuschlagen und geradeaus zu gehen, bis Sie meiner ansichtig werden. Ich will Sie dann nach einem verborgenen Plätzchen führen, wo die Angelegenheit abgemacht werden kann, ohne daß wir eine Unterbrechung zu befürchten haben.«

»Unterbrechung zu befürchten!« dachte Herr Winkle.

»Weiter wäre nichts mehr zu verabreden, denke ich«, sagte der Offizier.

»Ich wüßte gleichfalls nicht, was noch zu sagen wäre«, versetzte Herr Winkle.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen.«

Der Offizier pfiff eine lustige Arie und entfernte sich.

Beim Frühstück herrschte eine ziemlich trübselige Stimmung. Herr Tupman war nach der ungewohnten Nachtschwärmerei nicht in der Lage, aufstehen zu können; Herr Snodgraß schien mit einem Gedicht schwanger zu gehen, und selbst Herr Pickwick zeigte eine ungewöhnliche Vorliebe für Schweigen und Sodawasser. Herr Winkle paßte ängstlich auf eine günstige Gelegenheit, das, was sein Herz bedrückte, anzubringen. Sie blieb nicht lange aus. Herr Snodgraß machte den Vorschlag, das Schloß zu besuchen, und da Herr Winkle der einzige von der Gesellschaft war, der Lust zu einem Spaziergang bezeugte, so gingen sie.

»Snodgraß«, sagte Herr Winkle, als sie die besuchteren Straßen hinter sich hatten; »mein lieber Snodgraß, kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?« Als er so sprach, dachte er im innersten seiner Seele: »Ach, wäre es doch nicht der Fall«.

»Sie können es«, versetzte Herr Snodgraß. »Ich will es Ihnen bei allem –«

»Nein, nein«, unterbrach ihn Winkle, erschreckt durch den Gedanken, Herr Snodgraß könnte sich unwillkürlich durch einen Eid die Zunge binden. »Schwören Sie nicht – schwören Sie nicht; es ist ganz und gar unnötig.«

Herr Snodgraß ließ auf diese Aufforderung die Hand, die er in poetischem Schwunge zu den Wolken erhoben hatte, wieder sinken und nahm die Haltung gespannter Aufmerksamkeit an.

»Ich bedarf Ihres Beistandes in einer Ehrensache, lieber Freund«, sagte Herr Winkle.

»Den sollen Sie haben«, versetzte Herr Snodgraß, die Hand seines Freundes drückend.

»Mit einem Doktor – Doktor Slammer beim siebenundneunzigsten Regiment«, sagte Herr Winkle, der die Sache so feierlich wie möglich machen wollte; »eine Ehrensache mit einem Offizier, dem ein anderer Offizier sekundiert – heute abend um Sonnenuntergang, auf einem abgelegenen Felde in der Nähe des Forts Pitt.«

»Ich werde Sie begleiten«, sagte Herr Snodgraß.

Er war zwar erstaunt, aber keineswegs erschrocken. Es ist außerordentlich, wie kaltblütig alle – die Beteiligten ausgenommen – eine solche Sache nehmen. Herr Winkle hatte das außer acht gelassen und die Gefühle seines Freundes nach den eigenen bemessen.

»Die Folgen können schrecklich sein«, sagte Herr Winkle.

»Ich hoffe nicht«, versetzte Herr Snodgraß.

»Der Doktor, glaube ich, ist ein sehr guter Schütze«, sagte Herr Winkle.

»Das sind die meisten beim Militär«, bemerkte Herr Snodgraß ruhig; »aber Sie sind es auch – nicht wahr?«

Herr Winkle bejahte, und da er seinen Gefährten nicht hinreichend bestürzt sah, so änderte er seinen Feldzugsplan.

»Snodgraß,« sagte er mit vor Erregung bebender Stimme, »wenn ich falle, so werden Sie in einem Paket, das ich in Ihre Hände zu geben gedenke, einen Brief finden – an meinen Vater.«

Auch dieser Angriff schlug fehl. Herr Snodgraß war zwar gerührt, aber er übernahm die Besorgung des Schreibens so bereitwillig wie ein Briefträger.

»Wenn ich falle«, fuhr Herr Winkle fort, »oder wenn der Doktor fällt, so werden wir, als bei der Sache beteiligt, vor Gericht gestellt. Soll ich meinen Freund der Gefahr der Strafverbannung – vielleicht gar der seines Lebens aussetzen!«

Herr Snodgraß kratzte sich jetzt zwar ein wenig am Kopfe, aber sein Heldenmut war unüberwindlich.

»In Sachen der Freundschaft«, rief er begeistert, »biete ich allen Gefahren Trotz.«

Wie verwünschte Herr Winkle in seinem Innern die aufopfernde Freundschaft seines Gefährten, als sie einige Minuten schweigend nebeneinandergingen und jeder sich in seinen eigenen Betrachtungen vertiefte. Der Morgen entschwand – und Herr Winkle geriet in Verzweiflung.

»Snodgraß,« sagte er plötzlich haltmachend, »damit aber ja keine Störung dazwischen kommt! Sie dürfen durchaus nicht den Lokalbehörden eine Anzeige machen – keine Polizeibeamte aufrufen, um durch meine oder durch die Verhaftung des Doktors Slammer vom siebenundneunzigsten Regiment, einquartiert in der Chatamkaserne, diesem Duelle vorzubeugen. Ich sage Ihnen, tun Sie es nicht

Herr Snodgraß ergriff die Hand seines Freundes mit Wärme und versetzte mit Begeisterung:

»Nein, nicht um die Welt!«

Ein Schauder überlief Herrn Winkles Körper, als er die schreckliche Überzeugung gewann, daß er von der Furcht seines Freundes nichts zu hoffen habe, und daß er bestimmt sei, das lebendige Ziel einer Feuerwaffe zu werden.

Nachdem die Lage der Dinge mit allen Umständen Herrn Snodgraß mitgeteilt worden war, verfügten sich die beiden Freunde nach einem Kaufladen, um sich mit Pistolen, Pulver, Blei und Zündhütchen zu versehen, und kehrten sodann nach ihrem Gasthofe zurück – Herr Winkle, um über den bevorstehenden Kampf nachzudenken, und Herr Snodgraß, um die Waffen für den augenblicklichen Gebrauch instandzusetzen.

Es war ein trüber, unfreundlicher Abend, als sich beide für das unangenehme Geschäft auf den Weg machten. Herr Winkle hatte sich, um der Beobachtung zu entgehen, in einen ungeheuren Mantel gehüllt, und Herr Snodgraß trug unter dem seinigen die Werkzeuge der Zerstörung.

»Haben Sie alles bei sich«, fragte Herr Winkle mit erstickter Stimme.

»Alles«, versetzte Herr Snodgraß. »Auch Munition die Fülle, wenn die ersten Schüsse kein Resultat liefern sollten. Ich habe ein viertel Pfund Pulver in der Schachtel und zwei Zeitungen Die in England bekanntlich außerordentlich groß sind. zu Pfröpfen in der Tasche.«

Das waren Freundschaftsproben, für die sich jeder ungemein verpflichtet fühlen mußte. Wir vermuten daher, daß Herrn Winkles Dankesgefühle zu übermächtig waren, um sich in Worten ausdrücken zu lassen, denn er sagte nichts, sondern ging – freilich ziemlich langsam – weiter.

»Wir kommen ganz zur rechten Zeit«, sagte Herr Snodgraß, als sie über die Umzäunung des ersten Feldes wegkletterten. »Die Sonne ist eben im Untergehen begriffen.«

Herr Winkle blickte auf den sich senkenden Feuerball und dachte mit Schmerz an die Möglichkeit seines eigenen »Untergangs«, der ihn in so kurzer Frist treffen konnte.

»Dort ist der Offizier«, rief Herr Winkle, nachdem sie wieder einige Minuten gegangen waren.

»Wo?« fragte Herr Snodgraß.

»Dort! Der Herr im blauen Mantel.«

Herr Snodgraß blickte in die Richtung, die ihm der Finger seines Freundes anzeigte, und gewahrte eine in der beschriebenen Weise verhüllte Gestalt. Der Offizier gab durch ein Winken mit der Hand zu erkennen, daß er ihrer gleichfalls ansichtig geworden, und die Freunde folgten ihm in einiger Entfernung, während er auf den Ort des Stelldicheins losging.

Der Himmel wurde mit jedem Augenblick trüber, und ein melancholischer Wind heulte über die einsamen Felder, ähnlich einem fernen Reisenden, der nach seinem Hunde pfeift. Das Düstere der Umgebung versetzte Herrn Winkle in eine noch schwermütigere Stimmung. Er fuhr zusammen, als er an dem Winkel des Laufgrabens vorbeikam – der Graben sah aus wie ein ungeheures Grab.

Der Offizier bog plötzlich vom Fußpfade ab, klomm über ein Pfahlwerk, stieg über eine Hecke und gelangte auf ein abgeschlossenes Feld. Dort warteten zwei Herren, der eine ein kleiner wohlbeleibter Mann mit schwarzem Haar, der andere eine stattliche Gestalt in einem militärischen Überrock – letzterer mit vollkommenem Gleichmut auf einem Feldstuhle sitzend.

»Die Gegenpartei und ein Wundarzt, wie ich denke«, sagte Herr Snodgraß. »Nehmen Sie einen Tropfen Branntwein.«

Herr Winkle ergriff die Feldflasche, die ihm sein Freund hinreichte, und holte sich einen tiefen Schluck von der belebenden Flüssigkeit.

»Mein Freund, Herr Snodgraß, Sir«, sagte Herr Winkle, als der Offizier herantrat.

Doktor Slammers Freund verbeugte sich und brachte ein ähnliches Futteral, wie Herr Snodgraß eines bei sich führte, zum Vorschein.

»Ich denke, wir haben uns nichts weiteres zu sagen«, begann er kaltblütig, als er den Waffenbehälter öffnete, »da eine Abbitte entschieden abgelehnt wurde.«

»Nichts, Sir«, versetzte Herr Snodgraß, dem es jetzt bei der Sache etwas unwohl zu werden anfing.

»Wollen Sie vortreten?« sagte der Offizier.

»O ja«, entgegnete Herr Snodgraß.

Die Mensur wurde bestimmt und die weiteren Einleitungen getroffen.

»Sie werden diese besser als Ihre eigenen finden«, sagte der Sekundant der Gegenpartei, indem er seine Pistolen anbot. »Sie haben beim Laden zugesehen. Oder haben Sie etwas gegen deren Benutzung einzuwenden?«

»Nicht das mindeste«, entgegnete Herr Snodgraß.

Dieses Anerbieten wälzte ihm einen Stein vom Herzen, denn er hatte nur sehr unbestimmte und mangelhafte Begriffe vom Laden einer Pistole.

»So können wir, denke ich, jetzt unsere Duellanten aufstellen«, bemerkte der Offizier mit einer Gleichgültigkeit, als wären die beiden Gegner Schachfiguren und die Sekundanten die Spieler.

»Ich denke es auch«, erwiderte Herr Snodgraß, der, weil er nichts von der ganzen Sache verstand, zu jedem Vorschlage Ja gesagt haben würde.

Der Offizier verfügte sich zum Doktor Slammer, und Snodgraß trat an Herrn Winkles Seite.

»Es ist alles im reinen«, sprach er, indem er seinem Freunde die Pistole einhändigte. »Geben Sie mir Ihren Mantel.«

»Sie haben doch das Paket in treue Verwahrung genommen, mein lieber Freund?« sagte der arme Winkle.

»Alles in Ordnung«, versetzte Herr Snodgraß. »Zielen Sie ruhig und schießen Sie Ihren Feind in den Arm.«

Herr Winkle dachte, dieser Rat wäre etwa der gleiche, den man gewöhnlich bei einem Gassengefecht den kleinsten Knaben zu geben pflegt – nämlich: »Geh‘ hin und prügle ihn tüchtig durch« –, etwas, was sich recht gut hören läßt, wenn man nur wüßte, wie es anzugreifen wäre. Er legte jedoch schweigend seinen Mantel ab – er brauchte eine geraume Weile, bis er damit zustande kam – und ergriff die Pistole. Die Sekundanten traten zurück, der Mann auf dem Feldstuhle tat ein Gleiches, und die Duellanten gingen aufeinander los.

Herr Winkle stand in dem Rufe einer außerordentlichen Humanität. Vermutlich war auch sein Wunsch, keinen Menschen absichtlich zu verletzen, die einzige Ursache, warum er, sobald er an der verhängnisvollen Stelle angelangt war, die Augen schloß und daher das außerordentliche und unerklärliche Benehmen des Doktor Slammer nicht gewahren konnte. Dieser Herr stutzte nämlich, sah seinen Gegner an, trat zurück, rieb sich die Augen, sah wieder hin und rief endlich: »Halt! Halt!«

»Was soll das?« sagte Doktor Slammer, als die beiden Sekundanten herzutraten. »Das ist nicht der Mann.«

»Nicht der Mann?« versetzte Doktor Slammers Freund.

»Nicht der Mann?« sagte Herr Snodgraß.

»Nicht der Mann?« rief der Gentleman mit dem Feldstuhle in der Hand.

»Gewiß nicht«, entgegnete der kleine Doktor. »Das ist nicht die Person, die mich gestern nacht beleidigte.«

»Höchst sonderbar!« rief der Offizier.

»Gewiß sonderbar!« sagte der Gentleman mit dem Feldstuhle. »Es handelt sich indes jetzt darum, ob dieser Herr, da er auf dem Kampfplatz erschien, nicht formell als das Individuum betrachtet werden muß, das gestern nacht unsern Freund, Doktor Slammer, beleidigte, mag es nun dieselbe Person sein oder nicht.«

Nachdem der Mann mit dem Feldstuhle diese Ansicht mit einer gar weisen und geheimnisvollen Miene abgegeben hatte, nahm er eine starke Prise Tabak und blickte wie ein Mann umher, der in einer solchen Angelegenheit als Autorität gilt. Herr Winkle hatte jetzt die Augen geöffnet – und die Ohren dazu, als er seinen Gegner von Einstellung der Feindseligkeiten sprechen hörte. Er sah nun ein, daß – wie er später gleich am Anfang gewußt haben wollte – ohne Frage ein Mißverständnis stattfinden mußte, und daß er sein Ansehen ungemein steigern könnte, wenn er den wahren Grund seines Erscheinens auf dem Kampfplatze verschwieg. Er trat daher kühn vorwärts und sprach:

»Nein, ich bin’s nicht. Ich weiß es.«

»Dann ist es eine Verhöhnung des Doktor Slammer«, sagte der Mann mit dem Feldstuhl. »Grund genug, in der Sache fortzufahren.«

»Bitte, beruhigen Sie sich, Payne«, entgegnete ihm der Sekundant des Doktors. »Warum haben Sie mir das nicht heute morgen mitgeteilt, Sir?«

»Ja, ja; warum – warum?« fügte der Mann mit dem Feldstuhle unwillig zu.

»Ich bitte, lassen Sie mich machen, Payne«, sagte der Offizier. »Muß ich meine Frage wiederholen, Sir?«

»Weil Sie, Sir« – entgegnete Herr Winkle, der inzwischen Zeit gehabt hatte, über eine passende Antwort nachzudenken – »weil Sie, Sir, eine betrunkene und alles Anstandes bare Person als den Träger eines Rockes bezeichneten – den ich nicht nur zu tragen, sondern sogar erfunden zu haben die Ehre habe – der angenommenen Uniform des Pickwick-Klubs in London, Sir. Ich fühlte mich verpflichtet, die Ehre dieser Uniform zu verteidigen, und aus keinem andern Grunde, Sir, habe ich diese Herausforderung ohne weitere Nachfrage angenommen.«

»Mein lieber Herr,« sagte der gutmütige kleine Doktor, der mit ausgestreckter Hand herantrat, »ich ehre Ihren ritterlichen Mut. Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen zu sagen, daß ich Ihr Benehmen höchlich bewundere und daß ich außerordentlich bedauere, Sie für nichts und wieder nichts hierher bemüht zu haben.«

»Ich bitte, sprechen Sie nicht davon«, versetzte Herr Winkle.

»Ich werde stolz darauf sein, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Sir«, sagte der kleine Doktor.

»Auch mir gewährt es das größte Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben«, entgegnete Herr Winkle.

Und nun drückten sich der Herr Doktor und Herr Winkle die Hände; ein gleiches taten dann Herr Winkle und Leutnant Tappleton (der Sekundant des Doktors), dann Herr Winkle und der Mann mit dem Feldstuhl, und endlich Herr Winkle und Herr Snodgraß – der letztgenannte in einem Übermaße von Bewunderung über das noble Benehmen seines heldenmütigen Freundes.

»Ich denke, wir können jetzt wieder nach Hause gehen«, sagte Leutnant Tappleton.

»Gewiß«, erklärte der Doktor.

»Wenn nicht etwa« – fügte der Mann mit dem Feldstuhle hinzu – »wenn nicht etwa Herr Winkle sich durch die Herausforderung beleidigt fühlt, in welchem Falle er natürlich das Recht hat, Genugtuung zu verlangen.«

Herr Winkle erklärte mit großer Selbstverleugnung, daß ihm bereits hinlängliche Satisfaktion geleistet sei.

»Vielleicht fühlt sich aber der Sekundant des Gentleman durch einige Bemerkungen, die ich fallen ließ, verletzt«, fuhr der Mann mit dem Feldstuhl fort. »Wäre dies der Fall, so würde ich mich glücklich schätzen, ihm auf der Stelle Genugtuung zu bieten.«

Herr Snodgraß äußerte sogleich, er wäre dem Gentleman für sein schönes Anerbieten sehr verbunden, sehe sich im übrigen veranlaßt, es abzulehnen, da er durch den ganzen Verlauf der Sache sehr befriedigt worden. Die beiden Sekundanten schlossen ihre Waffenfutterale, und alle verließen den Kampfplatz heiterer, als sie sich diesem genähert hatten.

»Bleiben Sie lange hier?« fragte Doktor Slammer den Herrn Winkle, als sie ganz freundschaftlich nebeneinander hergingen.

»Ich denke, wir werden übermorgen Rochester verlassen«, lautete die Antwort.

»So hoffe ich, das Vergnügen zu haben, Sie und Ihren Freund auf meinem Zimmer zu sehen, damit wir nach diesem widerwärtigen Mißverständnis noch einen vergnügten Abend miteinander zubringen«, sagte der kleine Doktor. »Sie sind doch nicht für heute versagt?«

»Wir haben noch einige Freunde hier«, versetzte Herr Winkle, »von denen wir uns ungern trennen möchten. Vielleicht besuchen Sie und Ihre Freunde uns im Ochsen?«

»Mit vielem Vergnügen«, entgegnete der kleine Doktor. »Wird zehn Uhr zu spät sein, um noch ein halbes Stündchen bei Ihnen vorzusprechen?«

»Durchaus nicht«, erwiderte Herr Winkle. »Ich werde mich glücklich schätzen, Sie meinen Freunden, Herrn Pickwick und Herrn Tupman, vorzustellen.«

»Wird mir eine große Ehre sein«, meinte Doktor Slammer, der sich nicht träumen ließ, wer wohl Herr Tupman wäre.

»Wir dürfen also auf Sie zählen?« sagte Herr Snodgraß.

»Gewiß.«

Inzwischen hatten sie die Landstraße wieder erreicht. Sie nahmen herzlichen Abschied voneinander und trennten sich. Doktor Slammer begab sich mit seinen Freunden nach der Kaserne, und Herr Winkle kehrte, von Herrn Snodgraß begleitet, nach dem Gasthofe zurück.

Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Ein heiteres Weihnachtskapitel, das die Erzählung von einer Hochzeit und einigen andern Lustbarkeiten enthält, die zwar in ihrer Weise ebenso löbliche Gebräuche sind wie eine Heirat, aber in diesen entarteten Zeiten nicht mehr so gewissenhaft gefeiert werden.

So rührig wie Bienen, wenn auch nicht so leicht wie Feen, versammelten sich die vier Pickwickier am Morgen des 22. Dezember in dem Jahre des Heils, in dem diese mit der strengsten Gewissenhaftigkeit erzählten Abenteuer unternommen und ausgeführt wurden. Weihnachten stand vor der Tür mit all seiner schlichten Herzlichkeit. Es war die Zeit der Gastfreundschaft, der Erheiterung und der Offenherzigkeit. Das alte Jahr schickte sich gleich einem alten Philosophen an, mitten unter dem Geräusche der Festlichkeiten und Schmausereien freundlich und ruhig zu scheiden. Fröhlich und heiter war die Zeit, und recht fröhlich und heiter waren wenigstens vier von den zahlreichen Herzen, die durch das nahende Fest erfreut wurden.

Und zahlreich sind doch die Herzen, denen die Weihnachtstage eine kurze Zeit des Glücks und der Freude bringen. Wie viele Familien, deren Glieder in dem rastlosen Treiben der Welt weit und breit zerstreut und auseinander gesprengt worden sind, werden jetzt wieder vereint und finden sich in jenem glücklichen Zustande der gegenseitigen Freundschaft und Liebe zusammen: einer Quelle reiner und ungetrübter Freuden. Sie verträgt sich so wenig mit den Sorgen und Mühen der Welt, daß sie der religiöse Glaube der meisten zivilisierten Völker und die einfachen Traditionen der rohesten Wilden unter die höchsten Genüsse eines zukünftigen Lebens rechnen, zu dem die Seligen berufen sind!

Wie manche alte Erinnerungen, wie manche schlummernde Empfindungen des Herzens erweckt die Zeit der Weihnachten!

Wir schreiben diese Worte viele Meilen von dem Ort entfernt, wo wir Jahr für Jahr diesen Tag in einem heitern und fröhlichen Kreise verlebten. Manche von den Herzen, die damals so freudig pochten, haben aufgehört zu schlagen. Manche von den Blicken, die damals so hell strahlten, haben aufgehört zu leuchten. Die Hände, die wir drückten, sind kalt geworden. Die Augen, die wir suchten, haben ihr Licht im Grabe verborgen: und doch taucht das alte Haus, das Zimmer, die munteren Stimmen und die fröhlichen Gesichter, die Scherze, das Gelächter, die geringfügigsten und alltäglichsten Umstände, die sich an jene glücklichen Zusammenkünfte knüpfen, bei jeder Wiederkehr dieser Zeit in unserm Gedächtnisse auf, als hätte die letzte Versammlung erst gestern stattgefunden. Glückliche, glückliche Weihnachten, die uns die Träume unserer Kindheit wiederzubringen, die dem Greise die Freuden seiner Jugend zurückzurufen und den Seefahrer und Wanderer Tausende von Meilen an seinen Herd und seine stille Heimat zu versetzen imstande sind!

Doch wir haben uns in die Vorzüge des Christtags, der auf diese Art einem Landedelmann aus der alten Zeit gleicht, so sehr vertieft, daß wir Herrn Pickwick und seine Freunde an der Kutsche von Muggleton, die sie soeben, in schwere Mäntel, Halstücher und Schals eingehüllt, erreicht hatten, in der Kälte warten lassen.

Die Koffer und Reisetaschen sind untergebracht. Herr Weller und der Kutscher suchen einen riesigen Weihnachtskarpfen in den vorderen Packraum hineinzuzwängen, der für das Ungeheuer viel, viel zu klein ist. Das Tier lag friedlich in einem langen, braunen, mit Stroh bedeckten Korb, der bis zuletzt aufgespart worden war, um auf einem Halbdutzend Fäßchcn voll echter und gerechter Austern ungestört ruhen zu können. Diese Austern waren wie der Weihnachtsfisch Eigentum des Herrn Pickwick, und auf dem Boden des Kutschenkorbes in regelrechter Ordnung aufgestellt. Mit außerordentlicher Aufmerksamkeit verfolgte Herr Pickwick, wie Herr Weller und der Kutscher den Weihnachtskarpfen zuerst mit dem Kopf, dann mit dem Schwanz, dann auf dem Rücken, dann auf dem Bauch, dann von der Seite, und endlich der Länge nach hinabzudrücken suchen – lauter Kunstgriffe, denen das unerbittliche Tier einen hartnäckigen Widerstand entgegensetzt. Schließlich tritt der Kutscher zufälligerweise gerade in die Mitte des Korbes, worauf der Fisch augenblicklich im Packraum verschwindet. Zugleich aber werden Kopf und Schultern des Kutschers selbst unsichtbar. Obendrein empfängt dieser, als der passive Widerstand des Weihnachtsfisches unerwartet aufhört, dabei einen gehörigen Schubs zum außerordentlichen Vergnügen aller Gepäckträger und der andern Zuschauer. Herr Pickwick lächelt in der besten Laune, zieht einen Schilling aus seiner Westentasche, bittet den Kutscher, der sich wieder aus dem Packraum herausarbeitet, ein Glas Grog auf seine Gesundheit zu trinken, worauf der Kutscher auch lächelt, und die Herren Snodgraß, Tupman und Winkle alle zusammen lächeln. Der Kutscher und Herr Weller verschwinden auf fünf Minuten, um Grog zu sich zu nehmen; als sie zurückkehren, riechen sie sehr stark danach. Der Kutscher besteigt den Bock, Herr Weller schwingt sich hinten hinauf; die Pickwickier schlagen ihre Mäntel um die Beine und ihre Halstücher über die Nasen: die Handlanger nehmen den Pferden die Decken ab: der Kutscher ruft ein lustiges »All right!« und sie fahren ab.

Der Wagen ist über das Steinpflaster weggerasselt, und die Insassen sind gehörig durchgerüttelt. Endlich erreicht er das freie Feld: die Räder gleiten über den hartgefrorenen Boden hin. Die Pferde, durch einen kräftigen Peitschenknall in kurzen Galopp gesetzt, sprengen die Straße entlang, als wäre die Last hinter ihnen, die Kutsche, die Passagiere, der Weihnachtsfisch, die Austernfäßchen und der übrige Inhalt des Wagens nur eine Feder für ihre beschwingten Beine. Sie sind eine unbedeutende Anhöhe hinabgefahren und gelangen jetzt auf eine zwei Meilen lange Ebene, die so fest und trocken ist, wie ein Marmorblock. Ein zweiter Peitschenknall, und sie fliegen in vollem Galopp dahin. Sie schütteln die Köpfe und rasseln mit dem Geschirr, als freuten sie sich selbst über die Schnelligkeit, während der Kutscher, Peitsche und Zügel in einer Hand haltend, mit der andern seinen Hut abnimmt. Dann legt er diesen auf die Knie, zieht sein Taschentuch hervor und wischt sich das Gesicht ab, teils, weil es in seiner Gewohnheit liegt, teils, weil er den Passagieren zeigen will, wie furchtlos er ist und wie wenig Mühe es kostet, ein Viergespann zu regieren, wenn man soviel Übung hat wie er. Nachdem er das mit aller Gemächlichkeit ausgeführt hat – denn sonst würde die Wirkung bedeutend abgeschwächt worden sein –, steckt er sein Taschentuch wieder ein, setzt seinen Hut auf, zieht seine Handschuhe an, bringt seine Ellbogen in eine rechtwinklige Lage, knallt wieder mit der Peitsche, und die Pferde laufen noch munterer als vorher.

Einige auf beiden Seiten der Straße zerstreute Häuschen verraten die Nähe irgendeiner Stadt oder eines Dorfes. Die fröhlichen Töne des Posthorns zittern durch die reine kalte Luft und wecken den alten Herrn im Innern des Wagens. Er läßt sorgfältig das Fenster halb nieder, sieht ein wenig hinaus, um das Wetter zu beobachten, zieht das Fenster sorgfältig wieder zu und benachrichtigt seinen Nebenmann, daß man im Augenblick umspannen werde, worauf sich dieser ermuntert und den Entschluß faßt, die Fortsetzung seines Schläfchens solange zu verschieben, bis man wieder abfahren werde. Wieder ertönt das Posthorn in lustigen Weisen und ruft die Familie des Hausbewohners vor die Tür. Weib und Kinder blicken der Kutsche nach, bis sie um die Ecke biegt, und scharen sich dann wieder um das hellauflodernde Feuer und legen für den Vater, der bald nach Hause kommt, neuen Brennstoff auf. Der Vater aber, noch eine volle Meile vom Hause fern, wechselt eben einen freundlichen Blick mit dem Kutscher und wendet sich zurück, um dem dahinrollenden Wagen noch lange nachzusehen.

Nun bläst das Posthorn eine lustige Weise, als der Wagen über das schlechte Pflaster eines Landstädtchens rasselt. Der Kutscher löst die Schnalle, die seine Leine zusammenhält. Denn er will sie im Augenblick, wo er anfährt, über die Pferde werfen. Herr Pickwick taucht aus seinem Mantelkragen empor und sieht sich mit großer Neugierde um, worauf der Kutscher, der das merkt, Herrn Pickwick den Namen des Städtchens mitteilt und ihm sagt, es sei gestern Markt hier gewesen, beides Mitteilungen, die wiederum Herr Pickwick seinen Reisegefährten weitergibt, worauf auch diese aus ihren Mantelkragen auftauchen und sich umsehen. Herr Winkle, der auf dem äußersten Ende des Bockes sitzt, so daß das eine Bein in der Luft schwebt, wird beinahe auf die Straße hinabgeworfen, als der Wagen um die scharfe Ecke an dem Käseladen biegt und in den Marktplatz einlenkt. Aber ehe noch Herr Snodgraß, der ihm zunächst sitzt, sich von seinem Schrecken erholen kann, fahren sie beim Wirtshause vor, wo die frischen Pferde, mit Decken bedeckt, bereits harren. Der Kutscher wirft die Leine ab und schwingt sich dann herunter. Die Passagiere auf dem Bock steigen ebenfalls ab, nur die, die kein großes Zutrauen in ihre Geschicklichkeit, wieder hinaufzusteigen, setzen, bleiben wo sie sind und stoßen ihre Füße gegen die Kutsche, um sie zu wärmen, wobei sie das helle Feuer im Schenkstübchen und die Stechpalmenzweige mit den roten Beeren, die das Fenster verzieren, mit sehnsüchtigen Blicken und roten Nasen betrachten.

Der Kutscher hat im Magazin des Kornhändlers das braune Paket abgegeben, das er aus der kleinen, an Lederriemen ihm über die Schulter hängenden Tasche hervorgezogen hatte. Dann hat er nach den Pferden gesehen, daß sie gut versorgt würden. Den Sattel, der auf dem Kutschdache von London mitgebracht worden, hat er auf das Pflaster geworfen und an der Unterhaltung zwischen dem zweiten Kutscher und dem Hausknecht über den Grauschimmel teilgenommen, der sich am letzten Dienstag den Vorderfuß verstauchte. Er und Herr Weller sitzen bereits hinten und der zweite Kutscher auf seinem Bock.

Der alte Herr im Wagen, der die ganze Zeit über das Fenster zwei volle Zoll offen gehalten, hat es wieder zugezogen. Den Pferden sind die Decken abgenommen und alles ist zur Abfahrt bereit, mit Ausnahme der »zwei dicken Herren«, nach denen der Kutscher ungeduldig fragt. Hierauf rufen Kutscher, zweiter Kutscher, Sam Weller, Herr Winkle, Herr Snodgraß, sämtliche Hausknechte und Müßiggänger, die hier der Zahl nach stärker sind als alle übrigen zusammengenommen, nach den vermißten Herren, so laut sie nur können. Aus dem Hofe läßt sich von fern eine Antwort vernehmen, und Herr Pickwick und Herr Tupman laufen atemlos herbei; denn sie haben jeder ein Glas Ale getrunken, und Herrn Pickwicks Finger sind so steif vor Kälte, daß es volle fünf Minuten dauert, bis er die sechs Pence findet, die er dafür zu bezahlen hat. Der zweite Kutscher ruft ein ermahnendes »Rasch, rasch, meine Herren«, der erste wiederholt es – der alte Herr im Wagen findet es gar nicht in Ordnung, daß man absteigt, wenn man doch weiß, daß man keine Zeit dazu hat – Herr Pickwick klimmt auf der einen, Herr Tupman auf der andern Seite hinauf, Herr Winkle ruft »alles in Ordnung!«, und der Wagen rollt von dannen. Die Halstücher werden hinaufgezogen, die Mäntel hochgeschlagen. Das Pflaster nimmt ein Ende, die Häuser verschwinden. Wieder gleiten sie über die offene Straße hin, und die frische reine Luft bläst ihnen ins Gesicht und erquickt sie bis tief in die Brust.

Also fuhren Herr Pickwick und seine Freunde auf der Eilpost von Muggleton ihres Weges nach Dingley Dell dahin, und um drei Uhr nachmittags standen sie alle frisch und gesund, fröhlich und wohlgemut auf der Schwelle des Blauen Löwen. Sie hatten unterwegs eine ziemliche Menge Ale und Branntwein zu sich genommen, um dem Froste Trotz bieten zu können, der den Erdboden in ziemliche eiserne Fesseln schlägt und Bäume und Hecken mit seinem schönen Netzwerk umspannt. Herr Pickwick ist eifrig mit der Musterung der Austernfäßchen und der Aufsicht über die Ausladung des Weihnachtsfisches beschäftigt, als er sich sachte beim Rockzipfel gezupft fühlt. Als er sich umsieht, entdeckt er, daß das Individuum, das sich ihm auf diese Art bemerkbar machen will, kein anderes ist, als Herrn Wardles Lieblingspage, der den Lesern dieser schlichten Erzählung besser unter der bezeichnenden Benennung »der fette Junge« bekannt ist.

»Aha«, rief Herr Pickwick.

»Aha«, rief der fette Junge.

Und als der Junge das sagte, beäugelte er zuerst den Weihneichtsfisch, dann die Austernfäßchen und lachte voller Vergnügen. Er war fetter als je.

»Nun, du siehst ja recht blühend aus, junger Freund«, sagte Herr Pickwick.

»Ich habe eben vor dem Feuer im Schenkstübchen geschlafen«, antwortete der fette Junge, der sich durch ein Stündchen Schlaf bis zur Farbe eines neuen Kochtopfes erhitzt hatte. »Mein Herr hat mich mit dem Karren herübergeschickt, um Ihr Gepäck abzuholen. Er hätte einige Reitpferde geschickt, aber er dachte. Sie würden bei dem kalten Wetter lieber gehen.«

»Ja, ja«, sagte Herr Pickwick hastig, denn er erinnerte sich, wie er bei einer früheren Gelegenheit beinahe über dasselbe Feld gegangen war. »Ja, wir wollen lieber gehen. – Sam!«

»Sir«, rief Herr Weller.

»Hilf Herrn Wardles Diener das Gepäck in den Karren schaffen und fahre dann mit ihm. Wir wollen gleich vorangehen.«

Nachdem er diese Befehle erteilt und mit dem Kutscher ins reine gekommen, schlugen Herr Pickwick und seine drei Freunde den Fußpfad über die Felder ein und gingen munter ihres Weges, Herrn Weller und den fetten Jungen vorderhand beieinander lassend. Sam sah den fetten Jungen recht verdutzt an, sagte jedoch nichts. Er begann die Sachen eiligst in den Karren zu schaffen, während der fette Junge ruhig dabeistand und es sehr unterhaltend zu finden schien, daß Herr Weller so fleißig war.

»So«, sagte Sam, den letzten Koffer aufladend: »das wäre geschafft.«

»Ja«, versetzte der fette Junge im Tone großer Zufriedenheit, »das wäre geschafft.«

»Na, Sie junger Herkules«, sagte Sam, »Sie könnten sich für Geld sehen lassen, wahrhaftig.«

»Danke Ihnen für das Kompliment«, erwiderte der fette Junge.

»Sie haben wohl nichts im Kopfe, was Ihnen viel Kummer verursachte, nicht wahr?« fragte Sam.

»Nicht daß ich wüßte«, erwiderte der Junge.

»Wie ich Sie so ansah, hätte ich beinahe vermutet, Sie seufzen unter der Last einer unerwiderten Liebe zu einer jungen Dame«, sagte Sam.

Der fette Junge schüttelte den Kopf.

»Freut mich sehr, das zu hören«, versetzte Sam. »Trinken Sie gern?«

»Ich esse lieber«, erwiderte der Junge.

»Nun, das hätte ich voraussehen können«, sagte Sam. »Aber ich meine jetzt, ob Sie einen Tropfen zu sich nehmen würden, um sich zu erwärmen? Aber ich glaube. Sie haben unter Ihrem Speck noch nie gefroren – oder?«

»Mitunter doch«, versetzte der Knabe, »und ich trinke auch ein Schlückchen, wenn es gut ist.«

»Wirklich, tun Sie das?« sagte Sam. »Na, dann kommen Sie.«

Die Wirtsstube des Blauen Löwen war bald erreicht, und der fette Junge goß ein Glas Branntwein hinunter, ohne eine Miene zu verziehen – eine Heldentat, die ihn in Herrn Wellers Meinung außerordentlich hob. Als Herr Weller seinerseits ein ähnliches Geschäft vollbracht hatte, stiegen sie in den Karren.

»Können Sie fahren?« fragte der fette Junge.

»Ich sollt‘ es fast meinen«, erwiderte Sam.

»Dort hinein also«, sagte der fette Junge, ihm die Leine überlassend, indem er auf einen Feldweg deutete. »Immer geradeaus: Sie können nicht fehlen.«

Mit diesen Worten legte sich der fette Junge zärtlich neben den Weihnachtsfisch, und zum Kopfkissen ein Austernfäßchen benützend, fiel er augenblicklich in Schlaf.

»Nun«, sagte Sam, »von allen kaltblütigen Jungen, die meine Augen je gesehen haben, ist dieser junge Herr hier der kaltblütigste. Holla, aufgewacht, du Wassersuchtskandidat.«

Aber da der junge Wassersuchtskandidat kein Zeichen des wiederkehrenden Lebens von sich gab, so setzte sich Herr Weller vorn auf den Karren, schwang die Leine und brachte so die alte Mähre in Gang. Langsam humpelte der Karren Manor-Farm zu.

Mittlerweile hatten Herr Pickwick und seine Freunde ihr Blut in raschere Bewegung gesetzt und schritten munter voran. Der Pfad war hart, das Gras vom Frost gekräuselt, die Luft rein, trocken und kalt, und das rasche Nahen der grauen Dämmerung ließ sie sich im voraus auf die Bequemlichkeiten freuen, die sie bei ihrem gastfreundlichen Wirte erwarteten. Es war einer von jenen Abenden, die selbst ältliche Herren auf einem einsamen Felde verleiten könnte, ihre Mäntel abzuwerfen und zum Privatvergnügen über einander Bock zu springen. Wir glauben fest, hätte Herr Tupman in diesem Augenblicke den Rücken dargeboten, so würde Herr Pickwick dieses Anerbieten mit dem größten Vergnügen angenommen haben.

Herr Tupman schien sich aber nicht freiwillig zu einer solchen Belustigung hergeben zu wollen, und so verfolgten die Freunde ihren Weg unter heiteren Gesprächen weiter. Als sie in einen eingefriedeten Pfad einbogen, den sie zu gehen hatten, drangen Töne von verschiedenen Stimmen an ihr Ohr; und ehe sie Zeit gehabt, nachzuforschen, wem sie wohl angehören mochten, standen sie bereits vor der Gesellschaft, die ihre Ankunft erwartete. Mit lautem »Hurra« begrüßte der alte Wardle die Pickwickier, als diese ihm zu Gesicht kamen.

Wardle sah. womöglich noch munterer aus als je: dann war Bella da und ihr getreuer Trundle; dann Emilie und acht bis zehn junge Damen, die alle zu der kommenden Tageshochzeit gekommen waren. Sie kamen sich ungemein wichtig vor, wie gewöhnlich junge Damen bei solchen Gelegenheiten. Ihr Gelächter und fröhliches Geplauder hallte weit und breit über das Feld.

Bald hatte man sich begrüßt, und nun scherzte Herr Pickwick mit den jungen Damen, die, solange er zusah, nicht über das Geländer steigen wollten, oder im Bewußtsein ihrer hübschen Füße und unvergleichlichen Knöchel fünf Minuten lang darauf stehenblieben und erklärten, sie fürchteten sich zu sehr, um sich nur zu rühren – wir sagen, er scherzte mit ihnen so ungezwungen und vertraulich, als hätte er sie seit seiner Kindheit schon gekannt. Es muß auch bemerkt werden, daß Herr Snodgraß Emilien weit mehr Beistand leistete, als die Schrecken des Geländers (wiewohl es seine volle vier Fuß hoch war und nur ein paar Stufen hatte) unmittelbar zu erfordern schienen. Hingegen stieß eine schwarzäugige junge Dame mit sehr zierlichen Pelzstiefelchen einen markerschütternden Schrei aus, als ihr Herr Winkle hinüberhelfen wollte.

All das war sehr unterhaltsam und vergnüglich. Als nun endlich die Schwierigkeiten des Geländers überwunden waren und man sich wieder auf offenem Felde befand, erzählte der alte Wardle Herrn Pickwick, sie seien sämtlich unten gewesen, um Ausstattung und Einrichtung des Hauses in Augenschein zu nehmen, das das junge Paar nach Weihnachten beziehen sollte. Darüber wurden Bella und Trundle so rot, wie es der fette Junge in der Wirtsstube am Feuer geworden war. Die junge Dame mit den schwarzen Augen und den pelzverbrämten Stiefelchen flüsterte Emilie etwas ins Ohr und warf dann einen schlauen Seitenblick auf Herrn Snodgraß, worauf Emilie erwiderte, »sie sei ein dummes Ding«, aber nichtsdestoweniger ganz rot wurde. Herr Snodgraß aber, der so bescheiden war, wie es alle großen Geister gewöhnlich sind, fühlte das Blut bis in die äußersten Spitzen seiner Ohren steigen und hegte in den tiefsten Tiefen seines Herzens den innigen Wunsch, die vorbesagte junge Dame mit ihren schwarzen Augen und ihrem schlauen Seitenblick und ihren pelzverbrämten Stiefelchen möchte in aller Gemütsruhe dorthin versetzt werden, wo der Pfeffer wächst.

Waren sie aber schon außer dem Hause so vertraulich und glücklich, wie groß waren erst Wärme und Herzlichkeit, womit sie aufgenommen wurden, als sie die Farm erreichten! Sogar das Gesinde grinste vor Vergnügen, als es Herrn Pickwick erblickte; und Emma warf Herrn Tupman einen halb verschämten, halb verwegenen Blick des Wiedererkennens zu; einen Blick, der hingereicht hätte, um die Bildsäule Napoleons, die im Flur stand, zu ermutigen, ihre Arme zu öffnen und die Jungfrau in diese zu schließen.

Die alte Frau saß, wie gewöhnlich, in der vorderen Wohnstube, Aber sie war etwas verdrießlich und folglich ganz besonders taub. Sie ging nie aus und betrachtete es, wie viele andere alte Frauen von gleichem Kaliber, als einen Akt des Hochverrats am Hause, wenn sich jemand die Freiheit nahm, zu tun, was sie nicht mehr konnte. Sie saß also so aufrecht wie möglich in ihrem großen Lehnstuhl und legte möglichst viel Stolz in ihren Bick – und doch spiegelte sich Herzensgüte darin ab.

»Mutter«, sagte Herr Wardle, »Herr Pickwick, Sie werden sich seiner erinnern.«

»Bmühe dich nur nicht meinetwegen!« erwiderte die alte Dame mit großer Würde. »Mach Herrn Pickwick keine Mühe wegen einer alten Frau, wie ich es bin. Niemand bekümmert sich um mich, und das ist auch sehr natürlich.«

Hier schüttelte die alte Frau den Kopf und strich ihr lavendelfarbiges Seidenkleid mit zitternden Händen glatt.

»Wie, Madame?« sagte Herr Pickwick. »Nein, ich kann es nicht zugeben, daß Sie einen alten Freund auf diese Art abspeisen. Ich bin ausdrücklich deshalb heruntergekommen, um mich recht lang mit Ihnen zu unterhalten und eine Partie Whist mit Ihnen zu spielen; ja, und ehe achtundvierzig Stunden durchs Land gehen, wollen wir diesen Knaben und Mädchen zeigen, wie man ein Menuett tanzt.«

Die alte Frau war plötzlich umgestimmt, aber sie wollte es nicht auf einmal zeigen und sagte daher nur: »Ach, ich verstehe ihn nicht.«

»Nicht doch, Mutter, nicht doch«, bemerkte Wardle. »Seien Sie nicht so verdrießlich; es ist ein herzensguter Mann. Denken Sie an Bella. Kommen Sie; Sie müssen dem armen Mädchen Mut zusprechen!«

Die gute alte Frau verstand dies, denn ihre Lippen zitterten, als ihr Sohn also sprach. Aber das Alter hat seine schwachen Seiten, und sie ließ sich noch nicht ganz herumkriegen. Sie strich wieder an dem lavendelfarbigen Kleid hinunter und wandte sich zu Herrn Pickwick mit den Worten:

»Ach, Herr Pickwick, als ich noch ein Mädchen war, waren die jungen Leute ganz anders.«

»Daran ist nicht zu zweifeln, Madame«, versetzte Herr Pickwick, »und deshalb achte ich auch die wenigen Personen so hoch, die noch die Spuren der alten Zeit an sich tragen.«

Und während er also sprach, zog er Bella sanft an sich, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und bat sie, sich auf den kleinen Stuhl zu den Füßen ihrer Großmutter zu setzen. Rief der Ausdruck ihrer Züge, als sie ihr Gesicht dem Antlitz der alten Dame zukehrte, Erinnerungen an alte Zeiten zurück, oder wurde die alte Dame durch Herrn Pickwicks Herzensgüte gerührt, oder war es sonst etwas – kurz, sie wurde ganz weich, legte ihren Kopf auf den Nacken ihrer Enkeltochter und schwemmte ihre üble Laune durch eine Flut stiller Tränen fort.

Die Gesellschaft war an diesem Abend ganz glücklich. Gesetzt und feierlich war die Whistpartie, die Herr Pickwick und die alte Dame miteinander spielten, und lärmend war die Fröhlichkeit am runden Tisch. Lange nachdem sich die Damen zurückgezogen hatten, machte der Glühwein, der mit Rum und Gewürz versetzt war, die Runde aber- und abermal: und gesund war der Schlaf und süß die Träume, die darauf folgten. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß Herrn Snodgraß‘ Träume in beständiger Beziehung zu Emilie Wardle standen, und in Herrn Winkles Traumgesichten eine junge Dame mit schwarzen Augen, einem schlauen Lächeln und einem Paar außerordentlich niedlicher Pelzstiefelchen die Hauptrolle spielte.

Am andern Morgen wurde Herr Pickwick in aller Frühe durch ein Geräusch von Stimmen und Fußtritten ermuntert, die sogar den fetten jungen aus seinem harten Schlafe aufwecken mußten. Er setzte sich aufrecht ins Bett und lauschte. Die weibliche Dienerschaft und die weiblichen Gäste liefen unaufhörlich ab und zu. Unzählige Rufe nach warmem Nasser und oft wiederholte Bitten um Nadel und Faden ließen sich hören; auch eine Menge halblauter Gesuche »o komm doch und hilf mir, es ist eine liebe Not«. Daher kam Herr Pickwick in seiner Unschuld auf den Gedanken, es müsse irgend etwas Furchtbares vorgefallen sein, bis er nach und nach sein volles Bewußtsein erlangte und sich der Hochzeit erinnerte. Da das Fest höchst wichtig war, so kleidete er sich mit besonderer Sorgfalt an und ging zum Frühstück.

Alle Dienstmädchen liefen in nagelneuen Anzügen von fraisefarbenem Musselin mit weißen Schleifen an den Hauben, in einem Zustande von Aufregung und Unruhe im Hause umher, der unmöglich beschrieben werden kann. Die alte Dame hatte ein Brokatkleid an, das seit zwanzig Jahren das Tageslicht nicht mehr gesehen, wenn man jene müßigen Strahlen ausnimmt, die sich durch die Ritzen in die Truhe gestohlen hatten, darinnen es die ganze Zeit über aufbewahrt gewesen war. Herr Trundle zeigte sich in höchster Gala, schien aber trotz seines würdevollen Äußeren etwas verschüchtert. Der lustige alte Hauswirt suchte sehr aufgeräumt und unbefangen auszusehen, was ihm aber nicht ganz gelang. Alle Mädchen waren in Tränen und weißem Musselin gehüllt, mit Ausnahme von zwei oder drei Auserwählten, die die besondere Ehre genossen. Braut und Brautjungfern im oberen Saale unter vier Augen zu sehen. Auch alle Pickwickicr waren auf« festlichste herausgeputzt. Auf dem Grasplätze vor dem Hause machten sämtliche Männer und Kinder, die zum Pachtgut gehörten, und die alle eine weiße Schleife im Knopfloch trugen, mächtigen Lärm mit Singen und Springen. Dazu wurden sie von Herrn Samuel Weller, der sich die Volksgunst bereits im höchsten Grade erworben hatte und so heimisch geworden war, als wäre er auf dem Lande geboren, durch Wort und Tat aufgefordert und angespornt.

Eine Hochzeit ist eine Gelegenheit, bei der jeder seinen Spaß zu haben berechtigt ist, und doch gehört die Sache selbst gerade nicht zu den spaßhaftesten. Wir sprechen indes nur von der Feier und bitten den Leser, uns ja nicht so zu verstehen, als wollten wir damit eine versteckte Satire auf da« eheliche Leben bringen. Mit der Lust und der Freude des Feste« vermischen sich die schmerzlicheren Gefühle, die Heimat verlassen zu müssen, die Tränen über den Abschied des Vaters vom Kinde, das Bewußtsein, von den teueren und liebevollen Freunden der glücklichsten Zeit des menschlichen Lebens zu scheiden und sich mit andern, noch nicht erprobten und wenig bekannten in die Sorgen und Mühen der Welt zu stürzen – natürliche Empfindungen, mit deren Beschreibung wir die Heiterkeit dieses Kapitels nicht stören wollen und die wir noch weniger lächerlich zu machen gesonnen sind.

So wollen wir noch kurz anführen, daß die Trauung von dem alten Pfarrer in der Kirche zu Dingley Dell vollzogen, und daß Herrn Pickwicks Name in das Register eingetragen wurde, das noch in der Sakristei aufbewahrt wird. Daß die junge Dame mit den schwarzen Augen ihren Namen mit unsicherer und zitternder Hand eintrug, und daß die Unterschrift Emiliens, als der andern Brautjungfer, beinahe unleserlich war; daß alles in bewunderungswürdiger Ordnung vor sich ging; daß die jungen Damen im allgemeinen die Sache weit weniger schrecklich fanden, als sie erwartet hatten, und daß sich die Eigentümerin der schwarzen Augen und des schlauen Lächelns, die Herrn Winkle erklärte, sie werde sich ganz gewiß niemals zu einer so fürchterlichen Handlung entschließen können, sich in dieser Beziehung sehr täuschte. Zu alledem können wir noch hinzufügen, daß Herr Pickwick der erste war, der die Braut begrüßte und daß er ihr dabei eine reiche goldene Uhr mit Kette von gleichem Metall umhing; eine Uhr, die außer dem Juwelier noch keines Menschen Auge gesehen. Dann erklangen die alten Kirchenglocken so heiter, wie sie nur konnten; und die gesamte Gesellschaft kehrte zum Frühstück zurück.

»Wo sollen die Fleischpasteten hin, du Schlafmütze?« fragte Herr Weller den fetten Jungen, als er diejenigen Speisen ordnen half, die am vorhergehenden Abend nicht mehr bewältigt werden konnten.

Der fette Junge deutete auf den Platz hin, der für die Pasteten bestimmt war.

»Gut so«, sagte Sam, »stecken Sie nun ein bißchen Weihnachtsgrün hinein. Dort in die andere Platte. So; jetzt nehmen wir uns erst hübsch aus, wie jener Vater sagte, als er seinem jungen Buben den Kopf herunterschlug, um ihm das Schielen zu vertreiben.«

Während Herr Weller diesen Vergleich anstellte, wich er einen oder zwei Schritte zurück, um ihm mehr Nachdruck zu geben, und übersah dann die Vorbereitungen mit der größten Zufriedenheit.

Kaum hatten alle ihre Plätze eingenommen, als Herr Pickwick rief:

»Wardle, ein Glas Wein zu Ehren des frohen Festes!«

»Mit dem größten Vergnügen, Freundchen«, antwortete Wardle. »Joe – der verdammte Junge, er schläft wieder.«

»Nein, Sir, ich schlafe nicht«, rief der fette Junge, aus einer entfernten Ecke herkommend, wo er gleich dem heiligen Schutzpatron der fetten Jungen – dem unsterblichen Horner – eine Weihnachtspastete verschlungen hatte, ohne jedoch dabei den Gleichmut und die Reserve zu beobachten, die sonst diesen jungen Gentleman auszeichneten.

»Fülle Herrn Pickwicks Glas.«

»Ja, Sir.«

Der fette Junge füllte Herrn Pickwicks Glas und zog sich dann hinter den Stuhl seines Herrn zurück, von wo aus er dem Spiel der Messer und Gabeln und der Wanderung der erlesenen Bissen von den Platten in die Mäuler der Gesellschaft mit düsterer Freude zusah.

»Zum Wohl, alter Freund«, sagte Herr Pickwick.

»Prosit, Freundchen«, erwiderte Herr Wardle; und sie taten einander herzlich Bescheid.

»Frau Wardle«, sagte Herr Pickwick, »wir Alten müssen auch ein Gläschen Wein miteinander trinken zu Ehren dieses frohen Ereignisses.«

Die alte Dame war von Glanz und Größe umstrahlt: denn sie saß am oberen Ende des Tisches in ihrem Brokatkleide, und neben ihr hatte sie auf der einen Seite ihre neuvermählte Enkeltochter und auf der andern Herrn Pickwick, durch den die Gruppe erst recht gehoben wurde.

Herr Pickwick hatte nicht sehr laut gesprochen, aber sie verstand ihn gleich und leerte ein volles Glas auf sein Wohlergehen und langes Leben. Dann ließ sie sich in eine weitläufige und ausführliche Erzählung ihrer eigenen Hochzeit ein, knüpfte daran eine Abhandlung über die damalige Mode, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, und einige Einzelheiten aus dem Leben und den Abenteuern der schönen Lady Tollimglower. Sie lachte selbst über das alles herzlich, und die jungen Damen, die sich wunderten, wodurch um alle Welt die Großmama auf einmal so gesprächig geworden, stimmten mit ein.

Und wenn die jungen Damen lachten, so lachte die alte Dame noch zehnmal herzlicher und sagte, man habe diese Geschichten immer höchst interessant gefunden; eine Äußerung, die wieder neues Gelächter hervorrief, das die alte Dame in die allerbeste Laune versetzte. Dann wurde der Kuchen zerschnitten und machte die Runde um die Tafel, und die jungen Damen legten sich Stücke beiseite, um sie hernach unter das Kopfkissen zu legen, damit sie von ihren künftigen Männern träumen könnten: und das machte viel Spaß und rote Gesichter Auch in England herrscht der Glaube, daß in den »Wih-Nachten«, den geweihten Nächten, die Zukunft bzw. der Zukünftige des jungen Mädchens durch allerlei Hokuspokus beschworen und gesehen werden könnte..

»Herr Miller«, sagte Herr Pickwick zu seinem alten Bekannten, dem Herrn mit den starren Zügen, »ein Glas Wein?«

»Mit großem Vergnügen, Herr Pickwick«, versetzte der Herr mit den starren Zügen feierlich.

»Wollen Sie mich auch mit anschließen?« fragte der wohlwollende alte Geistliche.

»Mich auch«, fiel seine Frau ein.

 

»Mich auch, mich auch«, riefen ein paar arme Verwandte am unteren Ende der Tafel, die aus Herzenslust gegessen und getrunken und über alles gelacht hatten.

Herr Pickwick drückte seine herzliche Freude über jeden neuen Zuruf aus, und seine Augen funkelten vor Lust und Vergnügen.

»Meine Damen und Herren«, begann Herr Pickwick, plötzlich aufstehend –

»Hört, hört! Hört, hört! Hört, hört!« rief Herr Weller im Überschwang seiner Gefühle.

»Ruft die gesamte Dienerschaft herein«, befahl der alte Wardle, um Herrn Weller den öffentlichen Verweis zu ersparen, den dieser sonst ohne allen Zweifel von seinem Herrn erhalten hätte.

»Jedem ein Glas Wein, um den Toast mitzutrinken! Nun, Pickwick?«

Während sich die Gesellschaft still verhielt, die weibliche Dienerschaft flüsterte und die männliche verlegen dastand, fuhr Herr Pickwick fort:

»Meine Damen und Herren – nein, ich will nicht sagen, meine Damen und Herren, meine lieben Freundinnen und Freunde, wenn mir die Damen eine so große Freiheit erlauben wollen – –«

Hier wurde Herr Pickwick durch unermeßlichen Beifall von seiten der Damen unterbrochen; die Herren stimmten mit ein und die Eigentümerin der schwarzen Augen hörte man während des Lärmens ganz deutlich sagen, sie könnte diesen lieben Herrn Pickwick küssen, worauf Herr Winkle galant fragte, ob dafür nicht auch ein Stellvertreter in Betracht käme – eine Frage, die von der jungen Dame mit den schwarzen Augen mit einem »Gehen Sie mir weg« beantwortet, zugleich aber von einem Blicke begleitet wurde, der so deutlich, wie es nur ein Blick konnte, hinzusetzte – »wenn Sie können«.

»Meine teuren Freundinnen und Freunde«, nahm Herr Pickwick seine Rede wieder auf, »ich bin im Begriff, die Gesundheit der Braut und des Bräutigams auszubringen – Gott segne sie (Beifall und Tränen). Meinen jungen Freund Trundle halte ich für einen ausgezeichneten, charakterfesten Mann, und seine Frau kenne ich als ein sehr liebenswürdiges und achtungswertes Wesen, wohlgeeignet, das Glück, das sie zwanzig Jahre lang in ihres Vaters Haus um sich her verbreitet hat, in einen andern Wirkungskreis zu übertragen (hier brach der fette Junge in ein lautes Geheul aus und wurde von Herrn Weller am Rockkragen hinausgeführt). Ich wünschte«, fügte Herr Pickwick hinzu, »ich wünschte, ich wäre jung genug, um der Gatte ihrer Schwester zu sein (Beifall), aber da dies nun nicht der Fall ist, so bin ich doch so glücklich, alt genug zu sein, um ihr Vater sein zu können, und so bin ich denn über den Verdacht versteckter Absichten erhaben, wenn ich sage, daß ich sie beide bewundere, achte und liebe (Beifall und Schluchzen). Der Vater der Braut, unser guter Freund, ist ein edler Mann, und ich bin stolz darauf, ihn zu kennen (großes Beifallgeschrei). – Es ist ein liebevoller, vortrefflicher, edeldenkender, herzensguter, gastfreundlicher, freigebiger Mann. (Enthusiastischer Beifall von seiten der armen Verwandten bei allen diesen Lobesworten, besonders bei den beiden letzteren). Daß seiner Tochter all das Glück zuteil werde, das sie nur immer selbst wünschen kann, und daß sie aus dem stillen Genüsse ihres Glückes alle Freuden des Herzens und alle Ruhe der Seele sich holen möge, die sie so wohl verdient, ist, ich bin es überzeugt, unser aller Wunsch. So laßt uns denn auf ihre Gesundheit trinken und ihnen ein langes Leben und alles Heil wünschen!«

Unter stürmischem Beifall schloß Herr Pickwick seine Rede. Die Zungen der Überzähligen wurden unter Herrn Wellers Befehlen in die größte Tätigkeit versetzt. Herr Wardle schlug Herrn Pickwick und Herr Pickwick die alte Dame – Herr Snodgraß Herrn Wardle und Herr Wardle Herrn Snodgraß – einer von den armen Vettern Herrn Tupman und der andere arme Vetter Herrn Winkle zum weiteren Gegenstand eines Trinkspruches vor. Alles war lauter Lust und Freude, bis das geheimnisvolle Verschwinden der beiden armen Vettern unter den Tisch die Gesellschaft daran erinnerte, daß es Zeit sei, vom Frühstück aufzustehen.

An der Mittagstafel traf man wieder zusainmen, nachdem die männlichen Glieder der Gesellschaft auf Wardles Empfehlung fünfundzwanzig Meilen weit spazieren gegangen waren, um die Wirkungen des beim Frühstück genossenen Weines aufzuheben, während die armen Vettern den ganzen Tag im Bett lagen, um dasselbe Glück zu erzielen, aber wegen der Erfolglosigkeit ihrer Bemühungcn liegenbleiben mußten. Herr Weller hielt die Dienerschaft ununterbrochen heiter, und der fette Junge teilte seine Zeit zwischen Essen und Schlafen.

Das Mittagsmahl war ebenso vergnügt und ebenso geräuschvoll wie das Frühstück, aber Tränen kamen nicht vor. Dann trug man den Nachtisch auf und brachte noch verschiedene Gesundheiten aus. Hierauf folgten Tee und Kaffee und endlich der Ball.

Der beste Saal zu Manor-Farm hatte ein freundliches Aussehen, eine hübsche Länge, dunkles Tafelwerk, hohes Kamingesims und eine so geräumige Feuerstätte, daß eine von unseren neuen Patentdroschken samt Rädern und allem hätte hineinfahren können. Am oberen Ende des Gelasses saßen in einer schattigen Laube von Stechpalmen und Immergrün die beiden besten Geiger und die einzige Harfenspielerin von ganz Muggleton. In allen Nischen und auf allen Gesimsen standen alte, massive silberne Leuchter, jeder mit vier Armen, der Boden war mit Teppichen belegt; die Kerzen brannten hell, das Feuer loderte und knisterte im Kamin; heitere Stimmen und frohes Gelächter hallten durch den Saal. Wenn einige von den alten, englischen Landedelfrauen nach ihrem Tode in Feen verwandelt worden wären, so wäre gerade dies der Platz gewesen, an dem sie ihre Tänze gehalten hätten.

Wenn irgend etwas den interessanten Charakter dieser anmutigen Szene noch mehr hervorheben konnte, so war es die merkwürdige Tatsache, daß Herr Pickwick zum ersten Male, soweit das Gedächtnis seiner ältesten Freunde reichte, ohne Gamaschen erschien.

»Gedenken Sie zu tanzen?« fragte Wardle.

»Natürlich«, erwiderte Herr Pickwick. »Sehen Sie nicht, daß ich dazu angekleidet bin?«

Und Herr Pickwick lenkte die Aufmerksamkeit auf seine gesprenkelten seidenen Strümpfe und blank gewichsten Tanzschuhe.

» Sie in seidenen Strümpfen!« rief Herr Tupman in scherzhaftem Ton.

»Und warum nicht, Sir – warum nicht?« sagte Herr Pickwick, sich hitzig gegen ihn umwendend.

»Oh, es ist natürlich kein Grund vorhanden, warum Sie sie nicht tragen sollten«, antwortete Herr Tupman.

»Das will ich meinen, Sir – das will ich meinen«, sagte Herr Pickwick in sehr entschiedenem Tone.

Herr Tupman hatte Lust zum Lachen verspürt, aber er fand jetzt, daß die Sache ernster Natur war; er nahm deshalb auch eine ernste Miene an und sagte, die Strümpfe seien sehr hübsch.

»Ich hoffe es«, bemerkte Herr Pickwick mit einem festen Blick auf seinen Freund, »und ich hoffe, Sir, daß Sie an diesen Strümpfen, als Strümpfen, nichts Außerordentliches finden?«

»Gewiß nicht – oh, gewiß nicht«, erwiderte Herr Tupman.

Er ging weg und Herrn Pickwicks Gesicht nahm seinen gewohnten wohlwollenden Ausdruck wieder an.

»Wir sind, glaube ich, alle bereit«, sagte Herr Pickwick, der mit der alten Dame vorgetreten war, um den Ball zu eröffnen, und in seinem außerordentlichen Eifer bereits vier falsche Tritte getan hatte.

»So beginnen Sie also«, sagte Herr Wardle. »Nun.«

Die zwei Geigen und die Harfe erklangen, und Herr Pickwick begann den Tanz, als er durch ein allgemeines Händeklatschen und den Ruf: »Halt! Halt!« unterbrochen wurde.

»Was gibt’s?« rief Herr Pickwick, der nur durch das Verstummen der Geige und der Harfe zum Stehen gebracht werden konnte. Sonst hätte das keine andere irdische Gewalt erreichen können, und wäre das Haus in Flammen gestanden.

»Wo ist Arabella Allen?« rief ein Dutzend Stimmen.

»Und Winkle?« setzte Herr Tupman hinzu.

»Hier sind wir«, rief der genannte Herr, mit seiner hübschen Gefährtin aus einer Ecke hervortretend: und es würde schwer gehalten haben, zu bestimmen, wer von beiden ein röteres Gesicht hatte, er oder die junge Dame mit den schwarzen Augen.

»Was ist aber das für ein wunderliches Benehmen, Winkle«, sagte Herr Pickwick etwas ärgerlich, »daß Sie nicht schon vorher an Ihrem Platze waren?«

»Gar nicht wunderlich«, sagte Herr Winkle.

»Nun«, versetzte Herr Pickwick mit einem sehr ausdrucksvollen Lächeln, als seine Augen auf Arabella ruhten: »schon gut: ich will es jetzt nicht mehr behaupten, daß es ›wunderlich‹ war.«

Indessen hatte man keine Zeit mehr, weiter über diesen Gegenstand nachzudenken, denn Geigen und Harfe hoben jetzt voll an. Herr Pickwick schwebte dahin, von der Mitte bis zum äußersten Ende des Saals, an den Kamin und wieder zurück an die Türe – Poussette hin und Poussette her – lautes Stampfen auf den Boden – das nächste Paar – ab – die ganze Figur wiederholt – eine zweite Aufforderung, die Tour zu eröffnen.

Das nächste Paar vor, und das nächste Paar vor, und wieder das nächste Paar vor – nein, so was hatte man noch nie erlebt! und endlich, nachdem alle ausgetanzt, und volle vierzehn Paare nach der alten Name abgetreten und die Frau Pfarrerin die Stelle der Großmutter eingenommen, hielt Herr Pickwick noch immer aus, während man seiner Anstrengungen gar nicht mehr bedurfte; und solange die Musik rauschte, tanzte er ununterbrochen fort, seiner Tänzerin die ganze Zeit über mit unbeschreiblicher Freundlichkeit zulächelnd.

Lang eh sich Herr Pickwick müde getanzt hatte, war das neuvermählte Paar vom Schauplatz abgetreten. Unten erwartete die Gesellschaft ein vortreffliches Nachtessen, und lange und viel wurde dabei getafelt. Als Herr Pickwick am andern Morgen spät erwachte, hatte er eine verworrene Erinnerung, ungefähr fünfundvierzig Personen dringend eingeladen zu haben, sobald sie nach London kämen, im »Georg und Geier« mit ihm zu speisen – eine so große Gastfreundlichkeit, die Herr Pickwick für ein fast untrügliches Zeichen ansah, daß er in der vergangenen Nacht seinem Körper mehr zugemutet hatte, als die bloße Bewegung.

»Also diesen Abend wird sich die Familie in der Küche mit Gesellschaftsspielen unterhalten, meine Liebe?« fragte Sam Emma.

»Ja, Herr Weller«, antwortete Emma; »wir halten es immer so am Weihnachtsabend. Der Herr hält auf diesen Brauch.«

»Ihr Herr hält überhaupt auf einen, meine Teuerste«, sagte Herr Weller. »Ich habe noch nie einen so vollendeten Gentleman kennengelernt.«

»Ja, das ist er!« sagte der fette Junge, sich ins Gespräch mischend. »Zieht er nicht herrliche Ferkel auf?«

Und der fette Junge warf Herrn Weller einen beinahe kannibalischen Blick zu, als er an gebratene Knöchelchen und Schweinsbrühe dachte.

»Ah, Sie sind also doch endlich aufgewacht?« fragte Sam.

Der fette Junge nickte bejahend.

»Ich will Ihnen was sagen, junge Riesenschlange«, sagte Herr Weller mit Nachdruck. »Wofern Sie nicht etwas weniger schlafen und sich etwas mehr Bewegung machen, wenn Sie einmal ins männliche Alter kommen, werden Sie sich eine Unbequemlichkeit auf den Hals laden, wie der alte Herr mit der Zopfperücke.«

»Was war’s denn mit diesem?« fragte der fette Junge stotternd.

»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte Herr Weiler; »es war einer von den dicksten Schmerbäuchen, die sich je umgedreht haben – eine Art Mastochse, der fünfundvierzig Jahre lang seine eigenen Füße nicht sah.«

»Himmel!« rief Emma.

»Ja, wirklich, meine Teure«, sagte Herr Weller, »und wenn Sie ihm das genaueste Modell von seinen Beinen auf den Tisch gelegt hätten, er hätte sie nicht erkannt. Er ging immer in sein Geschäftszimmer mit einer sehr schönen goldenen Uhrkette, die anderthalb Fuß lang herabhing, und einer goldenen Uhr in seiner Westentasche, die – ich kann kaum sagen wieviel, aber immer soviel, als irgendeine Uhr wert war – ein großes, schweres, rundes Ding, als Uhr so dick wie er als Mann, mit einem verhältnismäßig breiten Zifferblatt. ›Sie sollten diese Uhr nicht tragen‘, sagten die Freunde des alten Herrn, ›man wird sie Ihnen noch stehlen‘, sagten sie. – ›Wie, das soll ich?‘ sagte er. – ›Ja, das sollen Sie‹, sagten sie. – ›Nun‹, sagte er, ›ich möchte den Dieb sehen, der die Uhr herausbrächt?! denn ich will verdammt sein, wenn ich sie selbst herausbringe. Es ist ein so plumpes Ding, und wenn ich je wissen will, wieviel Uhr es ist, so muß ich in die Bäckerläden gehen‹, sagte er. – Gut, dann lachte er so toll, als wollte er platzen, und ging wieder mit seinem gepuderten Kopf und Zopf aus. So wälzte er sich den Strand hinunter, und die Kette hing weiter herab als je, und die große, runde Uhr drückte beinahe ein Loch durch seine grauen Kirseyhosen. Es war kein Taschendieb in ganz London, der nicht schon an der Kette gerissen hatte, aber die Kette wollte nicht reißen, und die Uhr wollte nicht heraus, so daß sie es bald müde wurden, einen so schweren alten Herrn die Straße entlang zu ziehen. Da ging er denn nach Hause und lachte, daß sein Zopf wie der Perpendikel an einer Holländeruhr hin und her wackelte. Eines Tages wälzte sich der alte Herr wieder einmal spazieren und sah einen Taschendieb, den er auf den ersten Blick erkannte, Arm in Arm mit einem kleinen Jungen, der einen sehr großen Kopf hatte, auf sich zukommen. ›Das gibt einen Spaß‹, sagte der alte Herr bei sich selbst, ›die werden’s wieder probieren, aber sie werden sich brennen.‹ Er fing aus vollem Halse zu lachen an. Da ließ der kleine Junge plötzlich den Arm des Taschendiebes los und rannte mit dem Kopf gegen den Bauch des dicken Herrn und warf ihn zu Boden. ›Mörder‹, rief der alte Herr. – ›Alles in Ordnung, Sir‹, flüsterte ihm der Taschendieb ins Ohr. Und als er wieder auf den Beinen war, waren Uhr und Kette fort. Was aber noch schlimmer war: die Verdauung des alten Herrn ging nachher bis auf den letzten Tag seines Lebens nicht mehr in gehöriger Ordnung vor sich. – So sehen Sie also wohl zu, junger Herr, und nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht zu fett werden.«

Herr Weller schloß diese moralische Erzählung, von der der fette Junge sehr gerührt schien, und alle drei gingen in die große Küche, in der nach unendlich altem Brauch die Familie versammelt war.

Soeben hatte der alte Wardle im Mittelpunkt der Decke mit eigenen Händen einen großen [hier irrt der Übersetzer: Mistel ist richtig] Mispelzweig Jedes Paar, da« unter den aufgehängten Mispelzweig zu stehen kommt, ist nach alter englischer Weihnachtssitte verpflichtet, sich zu küssen. aufgehängt, und dieser

 

Mispelzweig veranlaßte augenblicklich ein allgemeines, höchst vergnügtes Gedränge. Mitten in dem Durcheinander nahm Herr Pickwick mit einer Galanterie, die einem Abkömmling der Lady Tollimglower Ehre gemacht hätte, die alte Dame bei der Hand, führte sie unter den geheimnisvollen Zweig und küßte sie mit Höflichkeit und allem Anstand. Die alte Dame unterwarf sich dieser Artigkeit mit aller Würde, die eine so wichtige und ernste Feier erforderte. Aber die jüngeren Damen, die keine so abergläubische Verehrung für das Herkommen hegten, oder der Meinung waren, der Wert eines Kusses werde bedeutend erhöht, wenn es einige Mühe koste, ihn zu erlangen, kreischten, schlugen um sich, liefen in die Ecken und taten alles mögliche; nur die Küche verließen sie nicht. Erst als einige von den weniger verwegenen Herren anfingen scheu zu werden und zu resignieren, fanden es auf einmal alle zwecklos, weiteren Widerstand zu leisten und unterwarfen sich dem Kusse freiwillig. Herr Winkle küßte die junge Dame mit den schwarzen Augen, Herr Snodgraß küßte Emilie, und Herr Weller, dem es nicht besonders um die Förmlichkeit zu tun war, daß es gerade unter dem Mispelzweig geschehen sollte, küßte Emma und die übrigen Dienstmädchen, wo er sie erhaschte. Was die armen Vettern betrifft, so küßten sie alle ohne Unterschied, nicht einmal den unansehnlicheren Teil der weiblichen Gäste ausgenommen, die in ihrer außerordentlichen Verwirrung gerade unter den Mispelzweig rannten, ohne es selbst zu wissen. Wardle kehrte dem Feuer den Rücken zu und übersah die ganze Szene höchst vergnügt, und der fette Junge ergriff die Gelegenheit, eine besonders schöne Fleischpastete, die für jemand anders sorgfältig zurückgelegt worden war, für sich zu requirieren und auf einmal zu verschlingen.

Der laute Jubel hatte jetzt nachgelassen. Die Gesichter glühten, die Locken waren in Verwirrung, und Herr Pickwick stand unter dem Mispelzweig, nachdem er, wie schon erwähnt, die alte Dame geküßt hatte, und sah mit sehr vergnügtem Gesicht dem Treiben um sich her zu. Da sprang die junge Dame mit den schwarzen Augen nach kurzem Geflüster mit den andern jungen Damen plötzlich auf ihn zu, legte ihren Arm um seinen Nacken und küßte ihn zärtlich auf die linke Wange. Und ehe Herr Pickwick recht wußte, was vorging, war er von der ganzen Gesellschaft umringt und von allen abgeküßt.

Es war ergötzlich, Herrn Pickwick mitten in dem Knäuel zu sehen, wie er bald da- bald dorthin gezerrt und zuerst auf das Kinn und dann auf die Nase und dann auf die Brille geküßt wurde. Alles lachte herzlich darüber. Aber es war ein noch heiterer Anblick, wie Herr Pickwick nachher mit einem seidenen Taschentuch um die Augen gegen die Wand rannte, in die Winkel tappte und mit dem größten Vergnügen auf alle Geheimnisse des Blindekuhspiels einging, bis er endlich einen von den armen Vettern erwischte; und wie er dann der blinden Kuh selbst aus dem Wege gehen mußte, was er mit einer Behendigkeit und Gewandtheit tat, die alle Zuschauer zur Bewunderung hinriß. Die armen Vettern fingen gerade die Personen, von denen sie glaubten, daß sie sich gerne fangen ließen, und als der Eifer abwellte, ließen sie sich selbst fangen. Als man genug Blindekuh gespielt hatte, wurde eine große Drachenschnappe Bei diesem Spiel werden Rosinen aus brennendem Branntwein geholt. aufgeführt, und als Finger genug dabei verbrannt und die Rosinen alle fortgeholt waren, setzte man sich neben dem hochlodernden Feuer zu einem tüchtigen Nachtessen und einer mächtigen Schüssel, die etwas kleiner war, als ein gewöhnlicher Waschkessel, und in der heiße Apfel so einladend und lustig zischten und tanzten, daß es in der Tat unwiderstehlich war.

»Das ist«, sagte Herr Pickwick, rund um sich blickend, »das ist wirklich köstlich.«

»So halten wir’s immer«, versetzte Herr Wardle. »Am Weihnachtsabend sitzen wir alle, wie Sie jetzt sehen, Herr und Diener zusammen, und hier warten wir, bis die Glocke zwölf Uhr schlägt, um den heiligen Christ zu empfangen, und vertreiben uns die Zeit mit Pfänderspielen und alten Geschichten. – Trundle, mein Junge, schüren Sie das Feuer.«

Die hellen Funken flogen zu Myriaden umher, als die Holzscheite aufgestöbert wurden, und die dunkelrote Flamme goß einen glänzenden Schein von sich, der in die entfernteste Ecke der Küche drang und jedes Gesicht mit heiterm Glanz bestrahlte.

»Kommen Sie«, sagte Wardle, »ein Lied – ein Weihnachtslied, ich will Ihnen eins singen in Ermangelung eines bessern.«

»Bravo«, rief Herr Pickwick.

»Füllen Sie die Gläser auf«, rief Wardle; »es wird zwei gute Stunden dauern, bis Sie durch die dunkelrote Farbe des Getränke den Boden der Bowle sehen; füllen Sie alle, und jetzt das Lied.«

Nach diesen Worten begann der muntere alte Herr mit einer schönen, vollen Männerstimme ohne weitere Umstände –

Ein Weihnachtslied.

Der Lenz, so viel er Rosen schickt,
Kann doch mich nicht berücken, –
Wenn heut ein Regen sie erquickt,
Ein Opfer seiner Tücken.
Ein Elfe, kennt er selbst sich nicht,
Den ganz Charakterlosen;
Er lacht dir freundlich ins Gesicht
Und würgt, ein kalter Bösewicht,
Die jüngsten seiner Rosen.

Die Sommersonne mag getrost
Sich einen Schleier weben,
Ich bin darüber nicht erbost;
Wenn sie ein Wolkenmeer umtost.
So kann ich’s überleben.
Der Wahnsinn ruht in ihrem Schoß
Mit seinen Fieberscharen,
Und ist die Liebe gar zu groß,
Hat sie ein kurzes Lebenslos,
Wie mancher schon erfahren.

Die freundliche Septembernacht
Im milden Mondenlichte
Ist’s, was mir mehr Vergnügen macht,
Als Mittagsglanz in seiner Pracht,
Mit seinem Glutgesichte;
Doch seh ich ein erstorben Blatt
Am kalten Boden liegen,
So bin ich schon des Herbstes satt;
So große Reize er auch hat.
Er bringt mir kein Vergnügen.

Jedoch die traute Weihnachtszeit,
Die wollen wir besingen;
Hoch lebe ihre Biederkeit
Mit ihrer Herzensoffenheit!
Laßt alle Gläser klingen!
Begrüßt sie mit der reinsten Lust
Die traute Nacht der Weihe,
Und drückt, der Freude nur bewußt,
Wie eine Braut sie an die Brust,
Und brecht ihr nie die Treue.

Sie hat ein narbiges Gesicht;
Ein sturmerprobter Sieger,
Schämt sie sich aber dessen nicht,
Es teilen dieses Angesicht
D’rum sing‘ ich, daß die Decke dröhnt.
Und daß in alle Weiten
Der Widerhall hinübertönt,
Der Königin der Zeiten.

Dieses Lied wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen; denn Freunde und Gesinde hatten gar aufmerksame Ohren. Besonders die armen Vettern waren vor Entzücken ganz außer sich. Das Feuer wurde von neuem geschürt und die Bowle machte wieder die Runde.

»Wie es schneit«, sagte einer von den Männern leise.

»Schneien?« fragte Wardle.

»Eine rauhe kalte Nacht, Sir«, erwiderte der Mann, »und ein Wind geht, der den Schnee in dicken weißen Wolken über die Felder jagt.«

»Was sagt Jem?« fragte die alte Dame, »es ist doch nichts Besonderes vorgefallen?«

»Nein, nein, Mutter«, erwiderte Wardle; er spricht nur von einem Schneegestöber und einem kalten schneidenden Wind. Man hört’s aber auch am Sausen im Kamin.«

»Ach«, sagte die alte Dame, »es ging gerade ein solcher Wind, und es fiel gerade ein solcher Schnee vor langen, langen Jahren, ich erinnere mich noch – es war gerade fünf Jahre vor dem Tod deines armen Vaters. Es war auch ein Weihnachtabend, und ich erinnere mich, daß er uns in derselben Nacht die Geschichte von den Gespenstern erzählte, die den alten Gabriel Grub holten.«

»Die Geschichte von was?« fragte Herr Pickwick.

»Ach nichts – nichts«, erwiderte Wardle. »Von einem alten Totengräber, von dem die guten Leute glauben, die Gespenster haben ihn geholt.

»Glauben?« rief die alte Dame au«. »Ist jemand so verstockt, um es nicht zu glauben? Glauben! Hast du nicht schon von deiner Kindheit an gehört, daß er von den Gespenstern geholt wurde, und weißt du nicht, daß es wirklich geschah?«

»Aber natürlich, Ntutter, es ist wahrhaftig geschehen, wenn Sie es so haben wollen«, sagte Wardle lachend. »Er wurde von den Gespenstern geholt, Pickwick, und damit lassen wir die Sache auf sich beruhen.«

»Nein, nein«, rief Herr Pickwick, »wir lassen die Sache nicht auf sich beruhen: denn ich muß auch wissen, wie und warum und unter welchen Umständen.«

Wardle lächelte, als er sah, daß jedermann begierig war, die Geschichte zu hören: und mit freigebiger Hand einschenkend, trank er Herrn Pickwick auf seine Gesundheit zu und begann wie folgt –

Doch der Himmel vergebe es unserm schriftstellerischen Gewissen – zu welch einem langen Kapitel haben wir uns hinreißen lassen! Wir erklären hiermit feierlich, daß wir unsere Sparsamkeit in bezug auf den Raum, den wir unserm Kapitel gönnen, gänzlich vergessen haben. So wollen wir denn das Gespenst gleich in ein neues Hinüberwerfen, und ich kann Sie versichern, meine Damen und Herrn, es geschieht das nicht aus Vergünstigung gegen die Gespenster, sondern bloß aus Rücksicht auf die Station.

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Die Geschichte von den Gespenstern, die einen Totengräber entführen.

In einer alten Klosterstadt in diesem Bezirke unserer Grafschaft wirkte vor langer, langer Zeit – vor so langer Zeit, daß die Geschichte wahr sein muß, weil unsere Urahnen schon unbedingt daran glaubten – ein gewisser Gabriel Grub als Totengräber auf dem Kirchhof. Daraus, daß ein Mann ein Totengräber und beständig von Sinnbildern der Sterblichkeit umgeben ist, folgt noch keineswegs, daß er ein mürrischer und melancholischer Mann sein muß. Unsere Leichenwärter sind die fröhlichsten Leute von der Welt. Ich hatte einmal die Ehre, mit einem Stummen Der Gehilfe des Totengräbers. auf dem vertrautesten Fuße zu stehen. Der war in seinem Privatleben und außer seinem Beruf ein so spaßhafter und jovialer Junge, als je einer ein lustig Liedchen pfiff, ohne von seinem Gedächtnis verlassen zu werden. Auch leerte er ein gutes, bis an den Rand gefülltes Glas Grog, ohne daß ihm die Puste ausging. Aber trotz alledem war Gabriel Grub ein verdrießlicher, mürrischer, grämlicher Geselle – ein trübsinniger, menschenscheuer Mann, der mit niemandem als mit sich selbst und mit einer alten in Weiden geflochtenen Fläche, die in seiner großen tiefen Westentasche steckte, Umgang hatte. Jedes fröhliche Gesicht, das ihm vorkam, sah er mit einem solch bösartigen und verdrießlichen Blick an, daß man ihm unmöglich begegnen konnte, ohne sich unheimlich berührt zu fühlen.

An einem Weihnachtabend, als es eben zu dämmern begann, schulterte Gabriel seinen Spaten, zündete seine Laterne an und begab sich nach dem alten Kirchhof; denn er mußte bis zum nächsten Morgen ein Grab fertigbringen. Da er sich gar nicht gut aufgelegt fühlte, dachte er, es könnte ihn vielleicht ermuntern, wenn er sich sogleich an die Arbeit machte. Als er die gewohnte Straße entlang ging, sah er das lustige Licht des lodernden Feuers durch die alten Fenster schimmern und hörte das laute Gelächter und den fröhlichen Lärm derer, die darum versammelt waren. Er gewahrte die geräuschvollen Vorbereitungen zur Bewillkommnung des folgenden Tages und roch die vielen herrlichen Düfte, die ihm aus den Küchenfenstern entgegenwallten. All das war dem Herzen Gabriels wie Gift und Galle. Scharen von Kindern sprangen aus den Häusern, trippelten über die Straße hinüber und, ehe sie noch an der gegenüberstehenden Tür anklopfen konnten, wurden sie von einem Halbdutzend kleinen Lockenköpfen empfangen, die sie umringten. Dann sprangen sie die Treppen hinauf, um den Abend mit Weihnachtsspielen zuzubringen. Gabriel aber lächelte darob grimmig, faßte den Handgriff seines Spatens fester an und dachte an Masern, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten und eine Menge anderer Trostquellen.

In dieser glücklichen Gemütsverfassung schritt Gabriel weiter, die freundlichen Grüße der Nachbarn, die dann und wann an ihm vorbeischritten, mit einem kurzen, mürrischen Knurren erwidernd, bis er in das dunkle Gäßchen einbog, das auf den Kirchhof führte.

Nun hatte sich Gabriel nach dem dunklen Gäßchen gesehnt, weil es überhaupt ein düstrer, trauriger Platz war, den die Leute aus der Stadt nur am hellen Mittag, wenn die Sonne schien, besuchten. Er war daher nicht wenig entrüstet, als er mitten in diesem Heiligtum, das seit den Tagen des alten Klosters und der geschorenen Mönche das Sarggäßchen genannt wurde, eine Kinderstimme ein lustiges Weihnachtslied singen hörte. Als er weiterging und der Stimme näherkam, fand er, daß sie einem kleinen Knaben angehörte, der mit schnellen Schritten das Gäßchen hinabeilte, um eine von den kleinen Gesellschaften in der alten Straße zu treffen, und teils zum Privatvergnügen, teils um seine Stimme für das Fest zu üben, aus vollem Halse sang. Gabriel wartete, bis der Knabe herbeikam, drückte ihn dann in eine Ecke und schlug ihm fünf- oder sechsmal die Laterne um den Kopf, nur um ihn dadurch das Modulieren zu lehren, und als der Knabe die Hand an den Kopf hielt und eine ganz andere Weise anstimmte, lachte Gabriel herzlich und trat in den Kirchhof, das Tor hinter sich schließend.

Er legte seinen Rock ab, stellte seine Laterne auf den Boden, stieg in das angefangene Grab und arbeitete wohl eine Stunde lang mit regem Eifer. Aber die Erde war vom Frost gehärtet, und es war nicht so leicht, sie aufzubrechen und hinauszuschaufeln. Obgleich der Mond am Himmel stand, war er kaum erst sichelförmig und warf nur einen matten Schein auf das Grab, das überdies noch im Schatten der Kirche lag. Zu anderer Zeit hätten diese Hindernisse unsern Gabriel Grub sehr verdrossen und mürrisch gemacht, aber es freute ihn so sehr, dem Jungen das Singen vertrieben zu haben, daß er sich über den langsamen Fortgang der Arbeit wenig grämte. Nachdem er sie für diesen Abend vollendet hatte, sah er mit grimmiger Lust in das Grab hinunter und brummte, sein Handwerkszeug zusammenraffend:

Ein hübscher Aufenthalt – ein hübscher Aufenthalt,
Ein wenig Erde naß und kalt;
Am Kopf ein Stein, am Fuß ein Stein,
Ein Schmaus für das Gewürm zu sein!
Ein grasbedecktes Moderbette,
Ein hübscher Ort, an heilger Stätte.

»Hu! ho!« lachte Gabriel Grub, als er sich auf einen niederen Grabstein setzte, auf dem er gewöhnlich ausruhte und seine Weidenflasche hervorzog. »Ein Sarg um Weihnachten – ein Weihnachtssarg. Ho! ho! ho!«

»Ho! ho! ho!« wiederholte eine Stimme dicht neben ihm.

Gabriel hielt, im Begriff, die Weidenflasche an die Lippen zu setzen, erschrocken inne und sah sich rings um. Der Grund des ältesten Grabes um ihn her war nicht stiller und ruhiger als der Kirchhof im blassen Mondlicht. Der kalte Reif funkelte auf den Grabsteinen und blitzte gleich Diamanten auf den Bildhauerarbeiten der alten Kirche. Der harte Schnee kräuselte sich auf dem Boden und breitete sich, eine weiße, glatte Decke, über die dicht verhüllten Grabhügel, daß es den Anschein gewann, als wären es lauter Leichen mit Sterbetüchern umwickelt. Nicht das geringste Geräusch unterbrach die tiefe Stille der feierlichen Szene. Der Schall selbst schien erfroren zu sein, so kalt und ruhig war alles.

»Es war der Widerhall«, sagte Gabriel Grub, die Flasche wieder an seine Lippen setzend.

»Nein, er war es nicht«, antwortete eine tiefe Stimme.

Gabriel sprang auf und blieb vor Bestürzung und Schrecken wie versteinert stehen; denn seine Augen ruhten auf einer Gestalt, die ihm das Blut erstarren machte.

Auf einem aufrechtragenden Grabstein, dicht neben ihm, saß eine seltsame, überirdische Gestalt, und Gabriel fühlte sogleich, daß es kein Wesen von dieser Welt war. Ihre langen, phantastisch aussehenden Beine, die den Boden leicht hätten erreichen können, waren hinaufgezogen und kreuzten sich auf seltsam phantastische Weise. Ihre starken Arme waren nackt und ihre Hände ruhten auf ihren Knien. Auf ihrem kurzen runden Leib trug sie ein eng anschließendes Gewand, das mit kleinen Litzen verziert war, und auf ihrem Rücken hing ein kurzer Mantel; der Kragen war in seltsame Spitzen ausgeschnitten, die dem Gespenst anstatt einer Krause oder eines Halstuchs dienten, und seine Schuhe krümmten sich an den Zehen in lange Hörner. Auf dem Kopfe trug es einen breitkrempigen, zuckerhutförmigen Hut, der mit einer einzigen Feder verziert und mit Reif überzogen war. Das Gespenst sah aus, als säße es schon zwei oder drei Jahrhunderte lang in voller Seelenruhe auf diesem Grabstein. Es war vollkommen still: seine Zunge hing ihm wie zum Spott aus dem Munde heraus. Dabei sah es unsern Gabriel Grub mit einem Grinsen an, wie nur ein Gespenst grinsen kann.

»Es war nicht der Widerhall«, sagte das Gespenst.

Gabriel Grub war wie gelähmt und konnte kein Wort hervorbringen.

»Was habt Ihr hier am Weihnachtabend zu schaffen?« fragte das Gespenst in strengem Ton.

»Ich mußte ein Grab machen, Sir«, stammelte Gabriel Grub.

»Welcher Sterbliche wandelt in einer Nacht, wie diese ist, auf Gräbern und Kirchhöfen?« sagte das Gespenst.

»Gabriel Grub! Gabriel Grub!« schrie ein Chor wilder Stimmen, der den Kirchhof zu füllen schien. Gabriel sah sich erschrocken ringsum, er entdeckte nichts.

»Was habt Ihr in dieser Flasche da?« fragte das Gespenst.

»Wacholder, Sir«, erwiderte der Totengräber, heftiger zitternd als je: denn er hatte ihn von den Schmugglern gekauft und dachte, der Fragesteller könnte vielleicht beim Zollamte der Gespenster angestellt sein.

»Wer wird auch in einer Nacht, wie diese ist, allein und auf einem Kirchhof Wacholder trinken?« fragte das Gespenst.

»Gabriel Grub! Gabriel Grub!« riefen die wilden Stimmen wieder. Das Gespenst warf einen boshaften Blick auf den erschrockenen Totengräber und rief dann, seine Stimme erhebend –

»Und wer ist also unser gesetzliches und rechtmäßiges Eigentum?«

Auf diese Frage antwortete der unsichtbare Chor mit einem Gesang, der von einer großen Menschenmenge herzurühren schien, die zum vollen Spiel der alten Kirchenorgel sang – ein Gesang, der wie auf einem sanften Winde zu den Ohren des Totengräbers getragen wurde und wie das leichte, vorüberschwebcnde Lüftchen hinwegstarb – aber der Refrain war immer der gleiche: »Gabriel Grub! Gabriel Grub!«

Das Gespenst grinste noch unheimlicher als zuvor und sagte:

»Nun, Gabriel, was meinst du dazu?«

Der Totengräber rang nach Atem.

»Was meinst du dazu, Gabriel?« sagte das Gespenst. Dabei zog es die Beine auf den Grabstein hinauf und beschaute die Hörner seiner Schuhe mit einem Wohlgefallen, als hätte es das modernste Paar Stulpenstiefel aus der ganzen Bond-Street.

»’s ist – ’s ist – ganz kurios, Sir«, versetzte der Totengräber halbtot vor Schrecken, »ganz kurios und ganz hübsch: aber ich denke, ich will wieder ans Geschäft gehen und meine Arbeit vollenden, wenn Sie’s erlauben.«

»Arbeit?« sagte das Gespenst, »welche Arbeit?«

»Das Grab, Sir, das Grab«, stammelte der Totengräber.

»Ei, das Grab«, sagte das Gespenst: »wer wird auch Gräber machen und Freude daran finden, wenn alle übrigen Menschenkinder fröhlich sind.«

Und wieder riefen die geheimnisvollen Stimmen: »Gabriel Grub! Gabriel Grub!«

»Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde verlangen nach dir«, sagte das Gespenst, seine Zunge noch weiter herausstreckend als je – und es war eine fürchterliche Zunge – »ich fürchte, Gabriel, meine Freunde verlangen nach dir.«

»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte der schreckensbleiche Totengräber, »das ist nicht wohl möglich, Sir: sie kennen mich nicht, Sir, und ich glaube nicht, daß mich die Herren je gesehen haben, Sir.«

»Da irrt Ihr Euch sehr«, versetzte das Gespenst: »wir kennen den Mann mit dem sauren Blick und dem finstern Gesicht, der heute abend die Straße heraufkam und seine boshaften Blicke auf die Kinder warf und dabei sein Grabscheit fester an sich drückte. Wir kennen den Mann, der in mißgünstiger Heimtücke den Knaben schlug, weil der Knabe heiter sein konnte und er nicht. Wir kennen ihn, wir kennen ihn.«

Hier schlug das Gespenst ein lautes, gellende« Gelächter an, das der Widerhall zwanzigfach zurückgab, und seine Beine hinaufziehend, stellte es sich auf dem schmalen Rand des Grabsteins auf den Kopf. Oder vielmehr es stellte sich auf die Spitze seiner zuckerhutförmigen Kopfbedeckung und machte dann mit außerordentlicher Gewandtheit einen Purzelbaum, der es gerade vor die Füße des Totengräbers niedersetzte, wo es sich in derjenigen Stellung aufpflanzte, die gewöhnlich die Schneider auf ihrem Arbeitstisch einnehmen.

»Ich – ich – bin untröstlich, daß ich Sie verlassen muß, Sir«, sagte der Totengräber und machte eine Bewegung, sich zu entfernen.

»Uns verlassen?« rief das Gespenst, »Gabriel Grub will uns verlassen. Ho! ho! ho!«

Während das Gespenst also lachte, sah der Totengräber die Fenster der Kirche auf einen Augenblick prachtvoll erleuchtet, als ob das ganze Gebäude in Flammen stände: die Lichter verschwanden, die Orgel ertönte in lieblicher Weise und ganze Trupps von Gespenstern, dem ersten wie aus dem Gesicht herausgeschnitten, wogten in den Kirchhof hinein und begannen über die Grabsteine »Bock zu springen«. Sie hielten keinen Augenblick an, um Atem zu schöpfen, und setzten mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einer nach dem andern über die höchsten Steine hinweg. Das erste Gespenst war ein ausgezeichneter Springer: mit ihm konnte sich kein anderes messen. Sogar in seiner furchtbaren Angst bemerkte der Totengräber unwillkürlich, daß es im Gegensatze zu seinen Freunden, die sich damit begnügten, über gewöhnliche Grabsteine hinwegzusetzen, Familiengewölbe samt ihren eisernen Gittern und allem dazu Gehörigen mit einer Leichtigkeit übersprang, als wären es Meilensteine gewesen.

Schließlich erreichte das Spiel eine betäubende Höhe. Die Orgel spielte schneller und schneller, und die Gespenster sprangen höher und höher, indem ste sich wie Kugeln zusammenballten und über den Boden hinrollten und gleich Federbällen über die Grabsteine wegschnellten. Dem Totengräber wirbelte der Kopf von der Schnelligkeit der Bewegungen, die er sah, und seine Beine wankten unter ihm, als die Geister vor seinen Augen vorüberflogen und der Gespensterkönig plötzlich auf ihn zusprang, ihn am Kragen nahm und mit ihm hinabfuhr.

Als Gabriel Grub wieder Zeit gewann, Atem zu schöpfen, den ihm die Schnelligkeit seiner Hinabfahrt für den Augenblick versagt hatte, sah er sich in einer Art großer Höhle, auf allen Seiten von einer Menge häßlicher, grimmig aussehender Gespenster umringt. In ihrer Mitte saß auf einem erhöhten Sitz sein Freund vom Kirchhof, und neben ihm stand völlig gelähmt Gabriel Grub.

»Eine kalte Nacht«, sagte der König der Gespenster, »eine sehr kalte Nacht. Holt uns ein Gläschen Warmen.«

Auf diesen Befehl verschwanden eilig ein halbes Dutzend dienstbare Geister, die beständig lächelten, so daß unser Gabriel vermutete, es möchten Höflinge sein. Sie kehrten sogleich mit einem Becher flüssigen Feuers zurück und reichten ihn dem König.

»Ah«, sagte das Gespenst, dessen Wangen und Kehle ganz durchsichtig waren, als er die Flamme in sich sog, »das wärmt; reicht Herrn Grub auch einen Becher.«

Der unglückliche Totengräber wendete vergebens ein, es sei ganz gegen seine Gewohnheit, bei Nacht etwas Warmes zu sich zu nehmen: eins von den Gespenstern hielt ihn fest, während ihm ein anderes die lodernde Flüssigkeit in die Kehle goß und die ganze Gesellschaft ein schallendes Gelächter anschlug, als er hustete und keuchte und die Tränen abwischte, die nach dem brennenden Trank seinen Augen entströmten.

»Und nun«, sagte der König, das spitzige Ende seines zuckerhutförmigen Huts auf gauklerartige Weise dem Totengräber ins Auge bohrend, so daß dieser die fürchterlichsten Schmerzen empfand – »und nun zeigt dem Mann des Unmuts und der Verdrossenheit einige von den Gemälden unserer großen Galerie.«

Während das Gespenst also sprach, verzog sich allmählich eine dichte Wolke, die den Hintergrund der Höhle in Dunkel gehüllt hatte. In großer Entfernung wurde ein kleines, sparsam ausgestattetes, aber niedliches und reinliches Gemach sichtbar. Eine Schar kleiner Kinder war um ein helles Feuer versammelt, die ihre Mutter am Kleide zerrte und um ihren Stuhl hertanzte. Von Zeit zu Zeit erhob sich die Mutter und zog den Fenstervorhang zurück, als ob sie nach einem erwarteten Etwas ausschaue; auf dem Tische stand bereits ein frugales Abendessen, und am Feuer sah man einen Armstuhl. Man hörte Pochen an der Tür, die Mutter öffnete, und die Kinder umringten sie und schlugen vor Freude in die Hände, als ihr Vater eintrat. Er war naß und müde und schüttelte den Schnee von seinen Kleidern, als sich die Kinder um ihn her drängten und ihm mit geschäftigem Eifer Mantel, Hut, Stock und Handschuhe abnahmen. Als er sich dann vor dem Feuer zum Mahl niedersetzte, kletterten die Kinder auf seine Knie und die Mutter setzte sich neben ihn, und alles schien voll Lust und Freude.

Aber fast unmerklich änderte sich die Szene. Das Zimmer verwandelte sich in ein kleines Schlafgemach, wo das schönste und jüngste Kind in den letzten Zügen lag. Die Rosen seiner Wangen waren verblichen und der Glanz seiner Augen erstorben. Sogar der Totengräber betrachtete es mit einer vorher nie gefühlten noch gekannten Teilnahme, als es verschied. Seine jungen Brüder und Schwestern versammelten sich um sein Bettchen und ergriffen die leblose Hand, die so kalt und schwer war, aber sie schraken vor der Berührung zurück und sahen mit schaudernder Ehrfurcht in das Gesicht des Kindes: denn so ruhig und still es war, und so schön und friedlich es dalag und zu schlummern schien, so sahen sie doch, daß es tot war, und wußten, daß es jetzt als Engel aus einem Himmel voll Pracht und Seligkeit auf sie herniedcrblickte.

Wieder zog sich die leichte Wolke über das Gemälde und wieder änderte sich die Szene. Vater und Mutter waren jetzt alt und hilflos, und die Zahl der ihrigen hatte sich um mehr als die Hälfte vermindert. Aber Zufriedenheit und Heiterkeit lag auf jedem Gesicht und strahlte aus allen Augen, als sie sich um das Feuer scharten und alte Geschichten aus früheren, vergangenen Tagen erzählten und hörten. Langsam und still sank der Vater ins Grab, und bald darauf folgte ihm die, welche an all seinen Sorgen und Mühen teilgehabt, zur Stätte der Ruhe und des Friedens. Die wenigen, die sie überlebten, knieten an ihrem Grabe und benetzten den Rasen, der es bedeckte, mit Tranen, standen dann auf und entfernten sich traurig und niedergeschlagen, aber nicht mit bitterem Jammergeschrei oder verzweiflungsvollem Wehklagen; denn sie wußten, daß sie sich einst wiederfinden würden. Sie gingen wieder an die Geschäfte des Tage« und erlangten die frühere Zufriedenheit und Heiterkeit. Die Wolke lagerte sich auf das Gemälde und entzog es den Blicken des Totengräbers.

»Was sagst du dazu?« fragte das Gespenst, sein breites Gesicht Herrn Gabriel Grub zukehrend.

Gabriel murmelte so etwas wie: »es sei recht hübsch«, und sah ziemlich beschämt drein, als das Gespenst seine feurigen Augen auf ihn heftete.

»Du bist ein jämmerlicher Mensch!« sagte das Gespenst im Ton grenzenloser Verachtung. »Du!« Es schien noch mehr hinzufügen zu wollen, aber der Unwille erstickte seine Stimme. Es hob eins von seinen äußerst geschmeidigen Beinen, schwenkte es über seinem Kopf hin und her, um sich seines Ziels zu versichern und versetzte dann unserm Gabriel einen derben Fußtritt, worauf sogleich sämtliche Gespenster den unglücklichen Totengräber umringten und schonungslos mit den Füßen mißhandelten, indem sie die wandellose, feststehende Gewohnheit der Höflinge auf Erden befolgten, die den treten, den der Herr tritt, und erheben, den der Herr erhebt.

»Zeigt ihm noch einige Bilder«, sagte der König der Gespenster.

Bei diesen Worten verschwand die Wolke wieder, und eine reiche schöne Landschaft entfaltete sich vor dem Auge – man sieht noch heutzutage eine halbe Meile von der alten Klosterstadt entfernt eine ähnliche. Die Sonne leuchtete am reinen blauen Himmelszelt; das Wasser funkelte unter ihren Strahlen, und die Bäume erschienen grüner und die Blumen heiterer unter ihrem belebenden Einfluß. Das Wasser schlug plätschernd ans Ufer, die Bäume rauschten im leichten Winde, der durch ihr Laubwerk säuselte, die Vögel sangen auf den Zweigen und die Lerche trillerte hoch in den Lüften ihr Morgenlied. Ja, es war Morgen, ein schöner, duftender Sommermorgen. Das kleinste Blatt, der dünnste Grashalm atmete Leben, die Ameise eilte an ihr Tagewerk; der Schmetterling flatterte spielend in den wärmenden Strahlen der Sonne; Myriaden von Insekten entfalteten ihre durchsichtigen Flügel und freuten sich ihres kurzen aber glücklichen Daseins, und der Mensch weidete sein Auge an der blühenden Schöpfung, und alles war voll Glanz und Herrlichkeit.

»Du bist ein erbärmlicher Mensch!« sagte der König der Gespenster noch verächtlicher als zuvor.

Und wieder hob der König der Gespenster sein Bein, und wieder sprang er auf die Schultern des Totengräbers, und wieder ahmten die untergebenen Gespenster das Beispiel ihres Oberhauptes nach. Noch vielmal verschwand und erschien die Wolke, und manche Lehre erhielt Gabriel Grub, der mit einer Teilnahme zusah, die nichts zu vermindern imstande war, so sehr ihn auch seine Schultern von den wiederholten Fußtritten der Gespenster schmerzten. Er sah, daß Menschen, die durch saure Arbeit ihr spärliches Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben, heiter und glücklich waren, und daß für die Ungebildetsten das freundliche Gesicht der Natur eine nie versiegende Quelle der Heiterkeit und des Genusses war. Er sah Leute, die in Hülle und Fülle erzogen worden, unter Entbehrungen heiter und über Leiden erhaben blieben. Manch andern von rauherer Art würden die Leiden niedergebeugt haben. Aber sie trugen die Stützen ihres Glücks, ihrer Zufriedenheit und Ruhe in ihrer eigenen Brust. Er sah, daß Weiber, die zartesten und hinfälligsten von allen Geschöpfen Gottes, am häufigsten Kummer, Widerwärtigkeiten und Ungemach überwanden. Er sah, daß der Grund davon in ihnen selbst lag, daraus für sie eine unerschöpfliche Quelle von Liebe und Hingebung floß. Nach alledem sah er, daß Leute, wie er, die den Frohsinn und die Heiterkeit der übrigen bekrittelten, das schlechteste Unkraut auf der schönen Erde waren; und alles Gute der Welt gegen das Böse haltend, gelangte er zu dem Schluß, daß es trotz allem eine sehr ordentliche und achtbare Welt sei. Kaum hatte er sich dieses Urteil gebildet, als die Wolke, die das letzte Bild verhüllt hatte, sich auf seine Sinne lagerte und ihn in Schlummer wiegte. Ein Gespenst nach dem andern zerfloß vor seinen Augen, und als das letzte verschwunden war, sank er in Schlaf.

Der Tag war angebrochen, als Gabriel Grub erwachte und seiner ganzen Länge nach auf dem platten Grabstein auf dem Kirchhof lag, und neben ihm die leere Weidenflasche und Rock, Spaten und Laterne – alles vom nächtlichen Reif überzogen. Der Stein, auf dem er das Gespenst hatte sitzen sehen, stand bolzgerade vor ihm, und nicht weit von ihm war das Grab, an dem er am Abend zuvor gearbeitet. Anfangs zweifelte er an der Wirklichkeit dessen, was er erlebt hatte. Aber der stechende Schmerz in seinen Schultern, wenn er aufzustehen versuchte, brachte ihn zur Überzeugung, daß die Austritte der Gespenster keine Phantasiebilder waren. Er wurde wieder unschlüssig, als er keine Fußtapfen im Schnee bemerkte, in dem die Gespenster mit den Grabsteinen Bockspringen gespielt hatten. Aber schnell erklärte er sich diesen Umstand, als er sich erinnerte, daß es Geister waren, die keine sichtbaren Eindrücke hinterlassen konnten, Gabriel Grub erhob sich also, so gut es ihm seine Rückenschmerzen erlaubten, und den Reif von seinem Rock schüttelnd, zog er sich an und kehrte sein Gesicht der Stadt zu.

Aber er war jetzt ein anderer Mensch und konnte den Gedanken nicht ertragen, an einen Ort zurückzukehren, wo man über seine Reue gespottet und seiner Bekehrung mißtraut hätte. Er schwankte einen Augenblick, dann wandte er sich nach einer andern Seite und verfolgte den nächsten besten Weg, wohin er auch führen mochte, um sein Brot an einem andern Ort zu suchen.

Laterne, Spaten und Weidenflasche wurden am nämlichen Tag auf dem Kirchhof gefunden. Anfangs stellte man allerlei Vermutungen über das Schicksal des Totengräbers an, aber bald setzte sich der Glaube fest, er sei von den Gespenstern entführt worden. Es fehlte nicht an sehr glaubwürdigen Zeugen, die ihn auf dem Rücken eines kastanienbraunen, einäugigen Rosses, mit dem Hinterteil eines Löwen und dem Schwanz eines Bären, deutlich durch die Luft hatten reiten sehen. Endlich wurde das alles steif und fest geglaubt, und der neue Totengräber pflegte den Neugierigen gegen ein geringes Trinkgeld ein recht ansehnliches Stück von dem Wetterhahn der Kirche zu zeigen, das von dem vorbesagtcn Pferde auf seiner Luftfahrt zufälligerweise abgestoßen und ein oder zwei Jahre nachher von ihm auf dem Kirchhof gefunden worden war.

Unglücklicherweise wurde der Glaube an diese Geschichte durch die unerwartete Erscheinung Gabriel Grubs selbst erschüttert. Er war jetzt zehn Jahre älter, ein geplagter, von der Gicht heimgesuchter, aber zufriedener Greis, und erzählte seine Geschichte dem Pfarrer und auch dem Bürgermeister. Im Laufe der Zeit wurde sie zur historischen Tatsache erhoben, als die sie noch bis auf diesen Tag gilt. Die aber, die an die Wetterhahngeschichte geglaubt und also ihren Glauben einmal verschwendet hatten, waren nicht so leicht zu bewegen, ihn zum zweiten Male aufs Spiel zu setzen, und so taten sie denn so weise wie sie konnten. Sie zuckten die Achseln, schüttelten die Köpfe und murmelten so etwas, als ob Gabriel Grub den Wacholderschnaps ganz ausgetrunken hätte, dann auf dem platten Grabsteine eingeschlafen wäre, und erklärten das, was er in der Gespensterhöhle gesehen haben wollte, dadurch, daß sie sagten: er habe die Welt gesehen und sei durch Erfahrung klüger geworden. Aber diese Ansicht, die nie viele Anhänger zählte, verlor sich allmählich, und die Sache mag sich nun verhalten wie sie will, da Gabriel Grub bis ans Ende seiner Tage von der Gicht heimgesucht wurde, so enthält diese Geschichte wenigstens eine Moral, und wenn sie auch nichts Besseres lehrt, so lehrt sie doch soviel: Wenn ein Mann um Weihnachten trübsinnig ist und für sich trinkt, so wird dadurch sein Befinden nicht im geringsten gebessert, das Getränk mag so gut sein, wie es will, oder sogar noch um viele Grade besser als das, was Gabriel Grub in der Gespensterhöhle sah.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Wie sich die Pickwickier die Bekanntschaft einiger feiner junger Männer aus einer liberalen Geschäftsbränche zunutze machen; wie sie sich auf dem Eise belustigen, und wie ihr Besuch endete.

»Nun, Sam«, sagte Herr Pickwick, als dieser geschätzte Diener am Morgen des Christtags mit warmem Wasser in sein Schlafzimmer trat, »ist’s noch immer gefroren?«

»Das Wasser im Waschbecken hat eine Eismaske vorgenommen, Sir«, antwortete Sam.

»Strenges Wetter, Sam«, bemerkte Herr Pickwick.

»Prächtiges Wetter, wenn man einen guten Pelz an hat, wie der Eisbär zu sich selbst sagte, als er sich im Schlittschuhlaufen erprobte«, erwiderte Herr Weller.

»Ich werde in einer Viertelstunde unten sein, Sam«, sagte Herr Pickwick, indem er seine Nachtmütze losband.

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte Sam. »Es sind ein paar Beinsäger drunten.«

»Ein paar was?« rief Herr Pickwick aus, indem er sich im Bett aufrichtete.

»Ein paar Knochensäger«, sagte Sam.

»Was ist denn das, Knochensäger?« fragte Herr Pickwick, nicht ganz gewiß, ob es ein lebendige« Geschöpf sei, oder etwas zu essen.

»Wie? wissen Sie nicht, was ein Knochensäger ist, Sir?« fragte Herr Weller: »ich dachte, jeder Mensch wüßte, daß ein Knochensäger ein Wundarzt ist.«

»O, ein Wundarzt also?« sagte Herr Pickwick lächelnd,

»Allerdings, Sir«, erwiderte Sam. »Die unten Befindlichen sind jedoch keine regelrecht durchstudierten Knochensäger, sondern nur ein paar Lehrlinge.«

»Mit andern Worten, sie sind Medizin Studierende, vermutlich?« sagte Herr Pickwick.

Sam Weller nickte.

»Das freut mich«, sagte Herr Pickwick und warf seine Nachtmütze kräftig auf die Bettdecke. »Das sind prächtige Kerle, vortreffliche Kerle, mit einem Urteil, das durch Beobachtung und Reflexion gereift ist, mit einem durch Lektüre und Studium verfeinerten Geschmack. Die Nachricht freut mich sehr.«

»Sie rauchen Zigarren beim Küchenfeuer«, sagte Sam.

»Ach«, bemerkte Herr Pickwick, indem er sich die Hände rieb, »sich gütlich tun bei geistigen Getränken – das sehe ich gern.«

»Und einer von ihnen«, fuhr Sam fort, ohne auf seines Herrn Unterbrechung zu achten, »einer von ihnen streckt seine Beine auf den Tisch und trinkt den puren Branntwein, während der andere – der mit der Brille – ein Fäßchen Austern zwischen seinen Beinen hat: er öffnet die Schalen wie mit Dampfkraft, und sobald er den Inhalt geleert hat, zielt er mit demselben nach unserm jungen Wassersüchtling, der fest eingeschlafen in der Kaminecke sitzt.«

»Exzentrizitäten des Genies, Sam« – sagte Herr Pickwick. »Du kannst gehen.«

Sam entfernte sich also, und Herr Pickwick ging nach Verlauf einer Viertelstunde zum Frühstück hinunter.

»Da ist er endlich«, sagte der alte Wardle. »Pickwick, das ist Miß Allens Bruder, Herr Benjamin Allen – Ben nennen wir ihn, und so können Sie ihn auch nennen, wenn Sie wollen. Dieser Herr ist sein spezieller Freund, Herr –«

»Herr Bob Sawyer«, unterbrach ihn Herr Benjamin Allen, worauf Herr Bob Sawyer und Herr Benjamin Allen zusammen lachten.

Herr Pickwick verbeugte sich gegen Bob. Sawyer und Bob Sawyer verbeugte sich gegen Herrn Pickwick; Bob und sein spezieller Freund machten sich hierauf mit großem Eifer über das ihnen vorgesetzte Essen her; und Herr Pickwick hatte Gelegenheit, beide näher zu beobachten.

Herr Benjamin Allen war ein kräftiger, derbgliederiger, untersetzter junger Mann, mit schwarzem, kurzgeschnittenem Haar und blassem, etwas langem Gesicht. Er hatte eine Brille und trug ein weißes Halstuch. Unter seinem einfachen schwarzen Oberrock, der bis ans Kinn zugeknöpft war, erschien die übliche Zahl pfeffer- und salzfarbiger Beine, die in ein paar halbgeputzter Stiefel endigten. Obwohl die Ärmel seines Rockes kurz waren, zeigte sich doch keine Spur von Manschetten. Auch sein Gesicht, das lang genug war, um eine Verkürzung durch Vatermörder zu ertragen, ließ auch nicht die entfernteste Andeutung eines solchen Weißzeugs blicken. Überhaupt schien das ganze Äußere des Jünglings vom Meltau befallen zu sein, während es zugleich ziemlich nach den Wohlgerüchen Kubas duftete.

Herr Bob Sawyer war in einen groben blauen Rock gekleidet, der weder ein Überrock noch ein Oberrock war, vielmehr Natur und Eigenschaften von beiden teilte. Herr Sawyer zeigte jene nachlässige Geziertheit und Renommiersucht junger Herren, die in den Straßen bei Tag rauchen, bei Nacht in ihnen toben und lärmen, die Kellner vertraut beim Vornamen rufen und diverse sonstige Handlungen kurzweiliger Art sich zuschulden kommen lassen. Er trug ein paar gestreifte Beinkleider, eine grobe geschlossene Weste mit zwei Reihen Knöpfen, und beim Ausgehen führte er einen dicken Stock mit einem großen Knopf bei sich. Er vermied Handschuhe und sah im ganzen aus wie ein liederlicher Robinson Crusoe.

Das waren die zwei Ehrenleute, denen Herr Pickwick vorgestellt wurde, als er am Christtagmorgen seinen Sitz am Frühstückstisch einnahm.

»Ein herrlicher Morgen, meine Herren«, sagte Herr Pickwick.

Herr Bob Sawyer nickte beifällig und bat Herrn Benjamin Allen um Senf.

»Kommen Sie weit her diesen Morgen, meine Herren?« fragte Herr Pickwick.

»Vom Blauen Löwen zu Muggleton«, antwortete Herr Allen kurz.

»Sie sollten gestern abend bei uns gewesen sein«, sagte Herr Pickwick.

»Wir sollten, ja«, erwiderte Bob Sawyer; »aber der Branntwein war zu gut, um so schnell von ihm loskommen zu können: nicht wahr, Ben?«

»Gewiß«, sagte Herr Benjamin Allen. »Auch die Zigarren waren nicht übel, und der Schweinebraten ebenfalls – nicht wahr, Bob?«

»Allerdings«, entgegnete Bob.

Und die Busenfreunde erneuerten ihren Angriff auf das Frühstück heftiger als zuvor, als ob die Erinnerung der gestrigen Abendmahlzeit die Eßlust aufs neue gereizt hätte.

»Leg nur tüchtig vor, Bob!« sagte ermunternd Herr Allen zu seinem Gefährten.

»Ja, gern«, erwiderte Bob Sawyer.

Und so tat er es denn, um seinen Freund zufriedenzustellen.

»Es geht nichts übers Sezieren; das macht Appetit«, sagte Herr Bob Sawyer, die Tafelrunde ringsum musternd.

Herrn Pickwick überfiel ein leichter Schauder.

»Beiläufig, Bob«, sagte Herr Allen, »bist du bald zu Ende mit deinem Fuß?«

»Nächstens«, erwiderte Sawyer, ihm während des Sprechens ein halbes Huhn vorlegend.

»Er ist sehr muskulös für einen Kinderfuß.«

»So?« versetzte Herr Allen nachlässig.

»Gewiß«, entgegnete Bob Sawyer mit vollem Munde.

»Ich habe auf einen Arm subkribiert«, sagte Herr Allen. »Wir legen zusammen; die Liste ist bald voll, nur konnten wir noch niemand bekommen, der einen Kopf braucht. Ich wünschte, du nähmest ihn.«

»Nein«, erwiderte Bob Sawyer, »kann solchen Aufwand nicht erschwingen.«

»Pah!« sagte Allen.

»In der Tat nicht«, entgegnete Bob Sawyer; »ein Gehirn wollte ich mir gefallen lassen, aber einen ganzen Kopf könnte ich nicht erstehen.«

»Still, still, meine Herren, bitte«, sagte Herr Pickwick, »ich höre die Damen.«

Während Herr Pickwick sprach, kamen die Damen, galant begleitet von den Herren Snodgraß, Winkle und Tupman, von einem Morgenspaziergang zurück.

»Um Gottes willen, Ben!« sagte Arabella in einem Ton, der mehr Erstaunen als Vergnügen beim Anblick ihres Bruders ausdrückte.

»Komme, dich morgen nach Hause mitzunehmen«, erwiderte Benjamin.

Herr Winkle erblaßte und kehrte sich um.

»Siehst du Bob Sawyer nicht, Arabella?« fragte Herr Benjamin Allen, wie im Tone des Vorwurfs.

Jetzt sah Arabella, daß auch Bob da war, und bot ihm graziös die Hand. Ingrimm erfüllte Herrn Winkles Herz, als Bob Sawyer die dargebotene Hand tüchtig drückte.

»Lieber Ben«, sagte Arabella errötend, »bist – bist du Herrn Winkle vorgestellt worden?«

»Bis jetzt nicht, werde mich aber glücklich schätzen, es zu werden, Arabella«, erwiderte ihr Bruder gravitätisch.

Hierbei verbeugte sich Herr Allen grämlich gegen Herrn Winkle, während Herr Winkle und Herr Bob Sawyer einander mit mißtrauischen Augen ansahen.

Die Ankunft der zwei neuen Gäste und die nun folgende Unterhaltung zwischen Herrn Winkle und der jungen Dame mit den Pelzstiefeln würde aller Wahrscheinlichkeit nach die bisherige Heiterkeit sehr unangenehm gestört haben, hätten nicht der fröhliche Sinn Herrn Pickwicks und der gute Humor des Hausherrn für das allgemeine Beste ihr möglichstes getan. Herr Winkle stieg allmählich in Gunst bei Herrn Benjamin Allen und knüpfte selbst mit Herrn Bob Sawyer eine freundliche Unterhaltung an, der durch Branntwein, Frühstück und Gespräch aufgelebt, allgemach in einen Zustand äußerster Munterkeit überging, Er erzählte mit viel Behagen eine angenehme Anekdote, nämlich die Beseitigung einer Geschwulst am Kopfe eines Patienten. Das Ganze erläuterte er mit seinem Austermesser und einem Stück Brot zur großen Erbauung der versammelten Gesellschaft. Dann ging der ganze Zug in die Kirche, wo Herr Benjamin Allen fest einschlief. Herr Bob Sawyer dagegen lenkte seine Gedanken von weltlichen Gegenständen dadurch ab, daß er auf den Einfall geriet, seinen Namen mit großen Buchstaben von ungefähr vier Zoll Länge in den Kirchstuhl einzuschneiden.

»Nun«, sagte Wardle, nachdem einem kräftigen Lunch mit den angenehmen Begleiterscheinungen von Doppelbier und Kirschgeist hinreichende Gerechtigkeit widerfahren war: »was sagen Sie zu einer Stunde Schlittschuhlaufen? Wir werden Zeit genug haben.«

»Fabelhaft!« sagte Herr Benjamin Allen.

»Vortrefflich!« rief Herr Bob Sawyer.

»Sie laufen natürlich Schlittschuh, Winkle?« fragte Wardle.

»Ja – ja, o ja«, erwiderte Herr Winkle. »Aber ich – ich – bin ein bißchen aus der Übung.«

»O, laufen Sie Schlittschuh, Herr Winkle«, sagte Arabella, »Ich sehe es so gern.«

»Es ist so graziös«, sagte eine andere junge Dame.

Ein dritte junge Dame meinte, es wäre elegant, und eine vierte sagte, daß es »schwanengleich« sei.

»Ich würde es mit Vergnügen tun«, sagte Herr Winkle rot werdend; »aber ich habe keine Schlittschuhe.«

Der Einwand war aber bald beseitigt. Trundle hatte ein Paar, und der fette Junge erklärte, drunten sei noch ein halbes Dutzend, worüber Herr Winkle große Freude bezeigte, obwohl er eine verlegene Miene machte.

Der alte Wardle schlug den Weg nach einer ziemlich ausgedehnten Eisfläche ein. Der fette Junge und Herr Weller schaufelten und kehrten den Schnee weg, der die Nacht über gefallen war. Herr Bob Sawyer schnallte seine Schlittschuhe mit einer Gewandtheit an, die Herrn Winkle völlig wunderbar vorkam. Er beschrieb mit seinem linken Fuß Zirkel und Figuren einer Acht und führte unermüdlich noch viele andere vergnügliche und in Erstaunen setzende Künste auf dem Eise aus, zur ausnehmenden Zufriedenheit des Herrn Pickwick, des Herrn Tupman und der Damen, deren Begeisterung aufs höchste gesteigert wurde, als der alte Wardle und Benjamin Allen, durch vorgenannten Bob Sawyer unterstützt, einige mystische Evolutionen formierten, die sie »Haspeltanz« nannten.

Die ganze Zeit über hatte Herr Winkle, blau vor Kälte an Gesicht und Händen, ein Loch in seine Fußsohlen gebohrt, die Schlittschuhe verkehrt angezogen und die Riemen in einen ganz komplizierten, verdrehten Zustand gebracht, wobei ihm Herr Snodgraß behilflich war, denn er verstand noch weniger als ein Hindu von Schlittschuhen. Endlich aber wurden mit Hilfe des Herrn Weller die unheilvollen Schlittschuhe befestigt, zugeschnallt, und Herr Winkle erhob sich auf seine Füße.

»Nun los, Sir«, sagte Sam ermunternd, »auf! und zeigen Sie, was Sie können.«

»Halt, Sam, halt«, sagte Herr Winkle, heftig zitternd und Sams Arme fassend wie einer der dem Ertrinken nahe ist. »Wie schlüpfrig es ist, Sam!«

»Nichts Ungewöhnliches auf’m Eis, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Stehen Sie nur gerade, Sir!«

Diese Bemerkung Herrn Wellers geschah mit Bezug auf eine Demonstration, die Herr Winkle gerade machte: denn er streckte wie ein Gaukler seine Füße in die Luft und schien mit dem Kopf auf dem Eis gehen zu wollen.

»Das – das – sind sehr ungeschickte Schlittschuhe; nicht wahr, Sam?« fragte Herr Winkle wankend.

»Ich glaube eher, es ist ein ungeschickter Herr auf ihnen, Sir«, erwiderte Sam.

»Nun, Winkle, kommen Sie; die Damen sind voller Erwartung«, schrie Herr Pickwick, ohne zu wissen, was vorging.

»Ja, ja«, erwiderte Herr Winkle mit bedenklichem Lächeln. »Ich komme.«

»Frisch drauf los«, sagte Sam, indem er sich loszumachen strebte. »Nun, Sir, auf und davon!«

»Halten Sie mich ein bißchen, Sam«, keuchte Herr Winkle, sich fest an Herrn Weller anklammernd. »Es fällt mir ein, ich habe ein paar Röcke zu Hause, die ich nicht brauche, Sam. Sie sollen sie haben, Sam.«

»Danke bestens, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Sie brauchen nicht an den Hut zu greifen, Sam«, sagte hastig Herr Winkle. »Machen Sie Ihre Hand nicht los. Ich wollte Ihnen diesen Morgen fünf Schillinge zum Christgeschenk geben, Sam. Sie sollen sie diesen Nachmittag erhalten, Sam.«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, erwiderte Weller.

»Halten Sie mich nur erst, Sam: wollen Sie?« sagte Herr Winkle. »Hier – so ist’s recht. Ich werde mich bald zurechtfinden, Sam. Nicht zu schnell, Sam, nicht zu schnell.«

Herr Winkle segelte, mit dem halben Leib vorwärts gebeugt, unter Beihilfe des Herrn Weller, auf eine ganz besondere unschwanengleiche Weise ab, als Herr Pickwick vom entgegengesetzten Ufer ganz unschuldig rief –

»Sam!«

»Herr?« sagte Herr Weller.

»Komm her. Ich brauche dich.«

»Lassen Sie mich los, Sir«, sagte Sam. »Hören Sie nicht, wie mein Herr ruft? Lassen Sie mich los, Sir.«

Mit gewaltsamer Anstrengung befreite sich Herr Weller von dem Griff des ringenden Pickwickiers, und als er das tat, brachte er dem unglücklichen Herrn Winkle einen ziemlichen Stoß bei. Mit einer Schnelligkeit, die weder das Resultat von Gewandtheit noch von Übung war, flog der unglückliche Herr in den Mittelpunkt des Haspels, im nämlichen Augenblick, als Herr Bob Sawyer einen Bogen von unvergleichlicher Schönheit beschrieb. Herr Winkle lief gegen ihn an, und mit lautem Krachen schlugen beide schwer hin. Herr Pickwick eilte zur Stelle. Bob Sawyer half sich wieder auf die Beine, aber Herr Winkle war viel zu klug, so etwas in Schlittschuhen zu tun. Er setzte sich, krampfhaft lächelnd, aufs Eis, aber die Angst stand in allen seinen Gesichtszügen.

»Haben Sie sich verletzt?« fragte Herr Benjamin Allen mit großer Besorgtheit.

»Nicht sehr«, sagte Herr Winkle, indem er seinen Rücken tüchtig rieb.

»Ich will Sie zur Ader lassen«, sagte Herr Benjamin mit großer Eilfertigkeit.

»Nein danke«, erwiderte entschlossen Herr Winkle.

»Aber es ist mein Ernst: es wäre besser, Sie ließen es geschehen«, sagte Allen.

»Danke Ihnen«, versetzte Herr Winkle, »ich meine nicht.«

»Was sagen Sie dazu, Herr Pickwick?« fragte Bob Sawyer.

Herr Pickwick war aufgebracht und unwillig. Er winkte Herrn Weller und sagte mit fester stimme:

»Nimm ihm seine Schlittschuhe ab.«

»Nein, ich habe ja eben erst recht angefangen«, entgegnete Herr Winkle.

»Nimm ihm seine Schlittschuhe ab«, wiederholte mit Bestimmtheit Herr Pickwick.

Der Befehl war nicht zu umgehen. Herr Winkle gestattete Sam stillschweigend Folge zu leisten.

»Hilf ihm auf«, sagte Herr Pickwick.

Und von Sam unterstützt stand er auf.

Herr Pickwick ging ein paar Schritte zurück, winkte seinen Freund, filierte ihn mit durchdringendem Blick, und sprach in leisem, aber vernehmlichem und kräftigem Ton die denkwürdigen Worte:

»Sie sind ein Aufschneider, Sir!«

»Was?« entgegnete Herr Winkle auffahrend.

»Ein Aufschneider, Sir. Ich will deutlicher sprechen, wenn Sie es wünschen. Ein Lügner, Sir.«

Mit diesen Worten drehte sich Herr Pickwick auf dem Absatz um und ging zu den andern Freunden.

Während Herr Pickwick sich so seinen Ärger herunterredete, hatten Herr Weller und der fette Junge durch vereinte Anstrengung eine Schleifbahn gemacht und übten sich darauf meisterhaft und glänzend. Sam Weller insbesondere gefiel sich besonders in jenen Schleifen, die man »Pochen an Schuhflickers Tür« nennt. Sie bestehen darin, daß man auf einem Fuß über das Eis hingleitet und ihm gelegentlich mit dem andern einen Doppelschlag gibt, wie ein Zweipenny-Briefträger. Es war eine gute, lange Schleifbahn, und die Bewegung hatte für Herrn Pickwick, der vom Stillstehen tüchtig durchgefroren war, etwas Beneidenswertes.

»Allem Anschein nach eine treffliche Übung, um sich warm zu machen – nicht wahr?« sagte er zu Herrn Wardle, der sich infolge seiner unermüdlichen Anstrengung, die Füße wie ein Paar Kompasse übereinander zu legen und komplizierte Figuren in das Eis zu zeichnen, ganz außer Atem gejagt hatte.

»Ja, das ist es«, erwiderte Wardle. »Schleifen Sie?«

»Ich pflegte wohl in Rinnsteinen zu schleifen, als ich noch ein Knabe war«, antwortete Herr Pickwick

»Versuchen Sie es mal«, sagte Wardle.

»O, machen Sie uns das Vergnügen, Herr Pickwick«, riefen sämtliche Damen.

»Ich würde mich sehr glücklich schätzen, zu Ihrer Erheiterung etwas beizutragen«, erwiderte Herr Pickwick; »aber ich habe es seit dreißig Jahren nicht mehr getan.«

»Ach was, Unsinn!« sagte Wardle, und legte seine Schlittschuhe mit dem Ungestüm weg, das alle seine Handlungen charakterisierte. »Hierher! ich werde Ihnen Gesellschaft leisten; kommen Sie mit.«

Und der aufgeräumte alte Knabe fuhr die Schleifbahn hinunter, mit einer Geschwindigkeit, die der des Herrn Weller sehr nahe kam und es jedenfalls dem fetten Jungen zuvortat.

Herr Pickwick besann sich eine Weile, zog seine Handschuhe aus, warf sie in seinen Hut, nahm zwei oder drei kurze Anläufe, hielt ebensooft wieder an, nahm zuletzt noch einen Anlauf und glitt mitten unter dem Beifallrufen aller Zuschauer langsam und gravitätisch die Bahn hinunter, die Füße ungefähr anderthalb Ellen auseinanderspreizend.

»Halten Sie den Topf im Kochen, Sir«, sagte Sam.

Dann nahm Wardle einen zweiten Anlauf, dann Herr Pickwick, dann Sam, dann Herr Winkle, dann Herr Bob Sawyer, dann der fette Junge, dann Herr Snodgraß, einer dem andern auf der Ferse folgend, und einer dem andern nachjagend, mit einem Eifer, als ob alle ihre künftigen Lebensaussichtcn von dieser Expedition abhingen.

Das Interessanteste dabei war, die Art zu beobachten, wie Herr Pickwick seine Rolle bei dieser Zeremonie spielte – die torturvolle Besorgnis zu bemerken, mit der er auf seinen Hintermann blickte, wenn er in Gefahr stand, überholt zu werden – zu sehen, wie die Kraft, wenn er begonnen, sich allgemach erschöpfte, und wie er sich langsam auf der Bahn umdrehte, mit dem Gesicht gegen den Punkt, von dem er abgestoßen – das heitere Lächeln zu betrachten, das sich über sein Antlitz verbreitete, wenn er am Ende der Bahn war – dann wieder die Geschwindigkeit, mit der er wieder einlenkte, seinem Vorgänger nachrannte, in seinen schwarzen Gamaschen behaglich durch den Schnee trippelte, und wie seine Augen von Frohsinn und Heiterkeit durch seine Brille strahlten. Wenn er umgeworfen wurde (was sich im Durchschnitt jedes dritte Mal zutrug), so war es der entzückendste Anblick, den man sich denken kann: ihm zuzusehen, wie er mit glühendem Gesicht Hut, Handschuhe und Taschentuch aufhob und seine Stelle in der Reihe mit feurigem Enthusiasmus wieder einnahm, den nichts dämpfen konnte.

Der Spaß war auf seinem Gipfel, das Schleifen rasch im Gange, das Gelächter wurde immer lauter, als man plötzlich ein starkes, heftiges Krachen hörte. Das war ein Rennen dem Ufer zu, ein wildes Schreien der Damen und ein Hilferufen Herrn Tupmans. Eine große Eismasse war geborsten, das Wasser wogte darüber her, und Herrn Pickwicks Hut, Handschuhe und Taschentuch schwammen auf der Oberfläche: das war alles, was man von Herrn Pickwick sehen konnte.

Schrecken und Angst malte sich auf jedem Gesicht, die Herren standen verblüfft und die Damen wurden ohnmächtig. Herr Snodgraß und Herr Winkle hielten einander bei der Hand und hefteten ihre starren Blicke auf die Stelle, wo ihr Führer untergegangen war: während Herr Tupman, um schleunige Hilfe zu schaffen und zugleich allen, die ihn holen konnten, die möglichst deutliche Vorstellung von dem Vorfall zu geben, eilig quer über das Feld rann und aus Leibeskräften »Feurio!« schrie.

Im nämlichen Moment, als der alte Wardle und Sam Weller sich dem Eisloche mit vorsichtigen Schritten näherten, und Herr Benjamin Allen eilig mit Herrn Bob Sawyer sich über die Zweckmäßigkeit beriet, der ganzen Gesellschaft zur Ader zu lassen, um sich ein wenig in ihrer Praxis zu üben – im nämlichen Moment tauchten ein Gesicht, Kopf und Schultern aus dem Wasser auf und zeigten Gesichtszüge und Brille des Herrn Pickwick.

»Halten Sie sich einen Augenblick – nur einen einzigen Augenblick«, kreischte Herr Snodgraß.

»Ja, tun Sie es: ich beschwöre Sie – um meinetwillen«, brüllte tief ergriffen Herr Winkle.

Die Beschwörung war freilich unnötig! denn wenn Herr Pickwick es auch abgelehnt hätte, sich um eines andern willen zu halten, so würde er es doch wahrscheinlich um seiner selbst willen getan haben.

»Fühlen Sie Boden, alter Freund?« sagte Wardle.

»Ja gewiß«, erwiderte Herr Pickwick, sich das Wasser von Kopf und Gesicht schüttelnd unö nach Luft schnappend. »Ich fiel auf den Rücken. Ich konnte anfangs nicht festen Fuß fassen.«

Der Schlamm auf Herrn Pickwicks Rock, soweit er sichtbar war, gab Zeugnis von der Richtigkeit seiner Behauptung; und da die Besorgnis der Zuschauer bei der plötzlichen Bemerkung des fetten Jungen, daß das Wasser nirgends über fünf Fuß tief sei, mehr und mehr verschwand, so wurden Kraftanstrengungen gemacht, ihn herauszuziehen. Unter vielen Kotspritzern und Krachen brachte man es endlich so weit, daß Herr Pickwick aus seiner unbehaglichen Stellung glücklich herausgezogen wurde und wieder auf trockenem Land stehen konnte.

»Ach, er wird den Tod haben von dieser Erkältung«, sagte Emilie.

»Lieber, alter Herr!« sagte Arabella. »Lassen Sie mich diesen Schal um Sie wickeln, Herr Pickwick.«

»Ja, das ist das beste, was Sie tun können«, sagte Wardle; »und wenn Sie ihn anhaben, so rennen Sie nach Hause, so schnell, wie Ihre Füße Sie tragen können, und gerade ins Bett hinein.«

Ein Dutzend Schals wurden im Augenblick dargeboten. Nachdem drei oder vier der dicksten ausgewählt worden, wurde Herr Pickwick eingewickelt; von Herrn Weller begleitet, machte er sich auf den Weg – ein sonderbarer Anblick, wie der alte Herr, triefend, ohne Hut, die Arme festgebunden, so bedenklich dahinhumpelte, als ob er sechs gute englische Meilen in der Stunde zu machen gehabt hätte.

Allein Herr Pickwick bekümmerte sich in einem so extremen Falle nicht um den Schein. Fortgezogen von Sam Weller eilte er was er nur konnte, bis Manor Farm erreicht war. Dort war Herr Tupman etwa fünf Minuten früher angekommen und hatte die alte Frau bis zum Herzklopfen erschreckt: denn in ihrer Taubheit hatte sie ihre fixe Lieblingsidee hervorgekramt, es brenne im Kamin – ein Unglück, das sie sich jedesmal in glühenden Farben vorstellte, wenn jemand in ihrer Nähe die geringste Unruhe zeigte.

Herr Pickwick eilte ins Bett zu kommen. Sam Weller machte ein helloderndes Feuer im Zimmer an und trug das Mittagessen auf. Nachher wurde eine Bowle Punsch gebracht und ein großes Trinkgelage zu Ehren seiner glücklichen Rettung veranstaltet. Der alte Wardle wollte nichts vom Aufstehen hören, und so führte Herr Pickwick im Bette den Vorsitz. Eine zweite und dritte Bowle wurde bestellt: und als Herr Pickwick am nächsten Morgen erwachte, war kein Symptom von Rheumatismus an ihm zu spüren, was beweist, wie Herr Bob Sawyer ganz richtig bemerkte, daß in solchen Fällen nichts über den Punsch geht, und daß, wenn je heißer Punsch als Vorbeugungsmittel nicht wirkte, der Grund einzig darin lag, daß der Patient nicht genug davon genommen hatte.

Am nächsten Morgen brach die heitere Gesellschaft auf. In jüngeren Jahren nimmt man’s damit nicht so schwer. Aber um so schmerzlicher sind Trennungen im spätern Leben. Der Tod, die Selbstsucht und Glückswechsel trennen jeden Tag manche glückliche Gruppe und zerstreuen sie weit und breit; und die Knaben und Mädchen kommen nie wieder zurück. Wir wollen damit nicht sagen, daß dies hier der Fall war, wir wollen dem Leser nur zu wissen tun, daß die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft sich in ihre betreffenden Wohnungen zerstreuten; daß Herr Pickwick und seine Freunde ihren Sitz oben in der Muggletonkutsche wieder einnahmen, und daß Arabella Allen unter dem Geleite und Schutze ihres Bruders Benjamin und seines Spezialfreundes, des Herrn Bob Sawyer, sich wieder an ihren Bestimmungsort begab, wo er auch liegen mochte – wir dürfen sagen, daß Herr Winkle ihn wußte; aber wir gestehen, wir wissen es nicht.

Ehe sie schieden, nahmen Herr Bob Sawyer und Herr Benjamin Allen mit einer geheimnisvollen Miene Herrn Pickwick beiseite. Herr Bob Sawyer legte seinen Zeigefinger zwischen zwei Rippen des Herrn Pickwick, wobei er, mit der ihm eigenen Spaßhaftigkeit seine Kenntnis der Anatomie des menschlichen Körpers entwickelnd, fragte –

»Alter Knabe, wo haben Sie Ihren Wohnsitz aufgeschlagen?«

Herr Pickwick erwiderte, daß er gegenwärtig sein Quartier im »Georg und Geier« habe.

»Ich wünschte, Sie kämen und besuchten mich«, sagte Bob Sawyer.

»Nichts würde mir größeres Vergnügen machen«, erwiderte Herr Pickwick.

»Meine Wohnung ist«, sagte Herr Bob Sawyer, eine Karte hervorziehend, »Landstraße, Borough, nahe bei Guys, und deshalb bequem für mich. Wenn Sie an der St. Georgenkirche vorbei sind, dreht sich der Weg ein klein wenig rechter Hand von der Landstraße ab.«

»Ich werde es finden«, sagte Herr Pickwick.

»Kommen Sie von Donnerstag über vierzehn Tage, und bringen Sie die andern Herrschaften mit«, sagte Herr Bob Sawyer; »ich werde selbigen Abend eine kleine medizinische Gesellschaft haben.«

Herr Pickwick erklärte, es würde ihm eine Freude sein, der medizinischen Gesellschaft beizuwohnen. Herr Bob Sawyer versicherte ihm, es würde lustig zugehen und sein Freund Ben sei auch dabei. Man schüttelte sich die Hände und verabschiedete sich.

Hier wird man nun wohl die Frage an uns stellen, ob Herr Winkle während dieser kurzen Unterhaltung mit Arabella Allen flüsterte, und wenn, was er sagte: und ferner, ob Herr Snodgraß im besonderen mit Emilie Wardle korwersierte, und wenn, was er sagte. Darauf bemerken wir, was immer sie zu den Damen gesagt haben mögen, zu Herrn Pickwick oder Herrn Tupman sagten sie achtundzwanzig Meilen weit gar nichts, seufzten sehr oft, verschmähten Ale und Branntwein und sahen nachdenklich darein. Wenn unsere nachdenkenden Leserinnen eine ersprießliche Nutzanwendung aus diesen Tatsachen machen können, so bitten wir sie, es nur immerhin zu tun.

 

Drittes Kapitel


Drittes Kapitel

Eine neue Bekanntschaft. Die Erzählung des wandernden Schauspielers. Eine unangenehme Störung und ein unerfreuliches Zusammentreffen.

Herr Pickwick war in Sorgen wegen des ungewöhnlich langen Ausbleibens seiner zwei Freunde, und ihr geheimnisvolles Benehmen während des ganzen Morgens trug keineswegs dazu bei, sie zu vermindern. Um so größer war seine Freude, als er sie wieder ins Zimmer treten sah; und nun ging es an ein Fragen, was ihn so lang ihrer Gesellschaft beraubt hätte. Herr Snodgraß schickte sich eben zur Beantwortung dieser Fragen an, eine getreue, umständliche Erzählung der Ereignisse des Tages zu beginnen, als er plötzlich innehielt, denn er bemerkte, daß außer Herrn Tupman auch noch ihr Reisegefährte von gestern und ein zweiter Fremder von gleich wunderlichem Äußeren zugegen waren. Der letztere war ein Mann, dessen fahles Gesicht und eingesunkene Augen die Spuren von Kummer trugen, während das straffe schwarze Haar, das ihm wirr über die Stirn herunterhing, die von Natur schon genug ausgeprägten Züge nur noch auffallender machte. Seine stechenden Augen hatten einen fast unnatürlichen Glanz, seine Backenknochen traten stark hervor und sein Unterkiefer war so lang und hager, daß man hätte glauben können, seine Züge wären durch Muskelanstrengung für einen Augenblick zusammengepreßt, wenn nicht der halbgeöffnete Mund und der unbewegliche Ausdruck angezeigt hätten, daß dies das natürliche Aussehen des Mannes sei. Um seinen Hals war eine dichte grüne Binde geschlungen, deren breite Enden über die Brust herunterhingen und sogar noch durch die Knopflöcher seiner alten Weste hervorsahen. Außerdem trug er noch einen langen schwarzen Überrock, weite braune Beinkleider und große, ziemlich schadhafte Stiefeln.

Herrn Winkles Blick fiel zuerst auf diese nicht sehr einladende Erscheinung, als Herr Pickwick mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging und ihm den Fremden mit der Meldung: »Ein Freund unseres Freundes hier«, vorstellte.

»Wir haben diesen Morgen in Erfahrung gebracht,« fuhr er fort, »daß unser Freund mit dem hiesigen Theater in Verbindung steht, obgleich er nicht wünscht, daß es allgemein bekannt werde, und gegenwärtiger Herr ist gleichfalls ein Schauspieler. Er war eben im Begriff, uns mit einer kleinen Theateranekdote zu erfreuen, als Sie eintraten.«

»Ein wahres Anekdotenbuch«, sagte der Grünrock von gestern in leisem, vertraulichem Tone, indem er auf Herrn Winkle zuging. »Possierlicher Bursche – bloß ein Spieler stummer Rollen – kein eigentlicher Schauspieler – wunderlicher Mensch – Unglück aller Art; wir kennen ihn nur unter dem Namen: trübsinniger Jemmy.«

Herr Winkle und Herr Snodgraß begrüßten den Herrn, der ihnen als der trübsinnige Jemmy bezeichnet war, höflich, riefen nach Branntwein und Wasser, um es der übrigen Gesellschaft gleich zu tun, und setzten sich an den Tisch.

»Nun, Sir,« begann Herr Pickwick, »wollen Sie uns das Vergnügen machen, in dem, was Sie uns zu erzählen beabsichtigten, fortzufahren?«

Der Trübsinnige nahm eine schmutzige Papierrolle au« seiner Tasche und wandte sich mit einer Grabesstimme, die zu seiner äußeren Erscheinung ganz und gar paßte, an Herrn Snodgraß, der eben sein Notizenbuch zur Hand genommen hatte.

»Sind Sie der Dichter?«

»Ich – ich versuchte mich bisweilen in poetischen Leistungen«, versetzte Herr Snodgraß etwas verblüfft über diese plötzliche Frage.

»Ach, Poesie ist für das Leben, was die Lichter und Musik für die Bühne. Nimmt man dem einen seinen falschen Glanz und der andern ihre Illusionen – bleibt dann in der Wirklichkeit noch etwas, für das man sich abmühen möchte?«

»Sehr wahr, Sir«, versetzte Snodgraß.

»Vor den Lampen des Proszeniums sitzen,« fuhr der Trübsinnige fort, »heißt soviel, als ein großartiges Hofgepränge schauen und die seidenen Gewänder der prachtliebenden Menge bewundern – hinter ihnen sein ist gleichbedeutend mit dem Verfertigen all dieses Prunks, wobei man unbeachtet bleibt und wo niemand sich darum kümmert, ob die armen Unglücklichen schwimmen oder sinken, leben oder Hungers sterben, wie es gerade das Schicksal fügt.«

»Sie haben da wohl recht«, entgegnete Herr Snodgraß, denn das eingesunkene Auge des Trübsinnigen ruhte auf ihm, und er fühlte die Notwendigkeit, etwas zu sagen.

»Weiter, Jemmy,« sagte der spanische Reisende, »nicht alles ins Tragische – kein Lamentieren – frisch – munter!«

»Wollen Sie sich nicht ein Glas einschenken, ehe Sie anfangen, Sir?« fragte Herr Pickwick.

Der Trübsinnige faßte diesen Wink auf, mischte sich ein Glas Grog, schluckte langsam die Hälfte herunter, öffnete dann seine Papierrolle und begann die folgende Geschichte, die sich in den Klubakten mit der Aufschrift ›Erzählung des wandernden Schauspielers‹ findet, halb lesend, halb aus dem Gedächtnis vorzutragen.

Viertes Kapitel


Viertes Kapitel

Die Erzählung des wandernden Schauspielers.

»Es ist nichts Außerordentliches – ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will«, begann der Trübsinnige. »Mangel und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als ihnen bei den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens gezollt wird. Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenes Übermaß von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.

Der Mann, von dem ich erzähle, war ein Schauspieler, der in den niedrig-komischen Rollen auftrat, und hatte sich, wie so viele seines Berufes, dem Trunke ergeben. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen geschwächt und durch Krankheit heruntergekommen war, hatte er gute Einnahme, die ihm bei einem geordneten Lebenswandel mehrere – freilich nicht viele – Jahre lang geblieben wäre: denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihre Existenz abhängt. Seine Leidenschaft beherrschte ihn in dem Grade, daß man ihn in kurzer Zeit für die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unbrauchbar fand. Das Wirtshaus hatte einen Zauber für ihn, dem er nicht widerstehen konnte. Krankheit ohne Pflege und Armut ohne Hoffnung mußten ebenso gewiß sein Los werden, wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte; dennoch ließ er nicht davon; und die Folgen lassen sich denken. Er konnte keine Anstellung mehr finden Und war brotlos.

Jeder, der nur einigermaßen mit dem Schauspielerstand bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Gefolge einer größeren Bühne befindet – keine ordentlich angenommenen Schauspieler, sondern Tänzer, Statisten, Gaukler und so weiter, die für eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwunge ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein besonderes Stück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs neue bedarf. Dazu mußte unser Schauspieler seine Zuflucht nehmen. Er stellte jeden abend auf irgendeinem kleinen Theater die Stühle auf, und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte. Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zu viel von seinem Erwerbe, um auch nur für die geringsten Bedürfnisse etwas übrig zu lassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab, oder trat auf irgendeinem Winkeltheater der gemeinsten Art auf; aber was er erhielt, wanderte treulich den gleichen Weg.

So hatte er sich länger als ein Jahr umhergetrieben, ohne daß man wußte wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite Surrey ist eine englische Grafschaft mit der Hauptstadt Guildford. des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam. Er war mir auf einige Zeit aus den Augen gekommen, denn ich hatte das Land durchreist, während er sich in den Winkeln Londons umhertrieb. Da klopfte er mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriffe war, das Schauspielhaus zu verlassen. Nie werde ich den erschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er war in die Tracht seines Handwerks gekleidet, und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanze, die fürchterlichsten Gestalten, die je der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zauberte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen. Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Mißgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde – die gläsernen Augen, die gegen das hochaufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, fürchterlich abstachen; der grotesk aufgeputzte, krampfhaft zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein gräßliches, unnatürliches Aussehen, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann, und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere. Seine Stimme war hohl und zitternd, als er mich beiseite nahm und mir in gebrochenen Worten ein Langes und Breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte, wobei er, wie gewöhnlich, mit der dringenden Bitte schloß, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken. Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das durch sein Auftreten auf den Brettern hervorgerufen wurde.

Einige Tage darauf legte mir eines Abends ein Knabe einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand, worauf mit Bleistift einige Worte gekritzelt waren, aus denen hervorging, daß der Mann gefährlich krank sei und mich ersuche, ihm nach der Vorstellung da und da – ich habe den Namen der Straße vergessen – nicht weit vom Schauspielhause, zu besuchen. Ich versprach zu kommen, sobald ich könnte, und kaum war der Vorhang gefallen, da trat ich meinen traurigen Weg an.

Es war spät, denn ich hatte im letzten Stück gespielt, und da es ein Benefiz gewesen, so hatte die Vorstellung ungewöhnlich lange gedauert. Es war eine finstere, traurige Nacht: ein naßkalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüren. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gäßchen zu Sümpfen angesammelt, und da die Heftigkeit des Windes, die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, so war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher. Doch hatte ich glücklicherweise den rechten Weg eingeschlagen und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – einen Kohlenschuppen mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.

Ein kläglich aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, er sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise ins Krankenzimmer und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.

Er lag in einem alten Bettgestelle, das den Tag über zurückgeschlagen werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tür eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte. In einem rostigen, freistehenden Becken glimmte ein mattes Kohlenfeuer, und vor demselben stand ein alter, dreieckiger, schmutziger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gerätschaften. In einem Bette auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm auf dem Stuhle saß die Frau. Auf zwei Regalen an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und unter ihnen hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war sonst nichts im Zimmer zu erblicken.

Ich hatte Zeit gehabt, diese Einrichtung zu mustern und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe er meiner gewahr wurde. Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine gute Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.

»Herr Hutley, John«, sagte sein Weib: »Herr Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast, wie du weißt.«

»Ach!« rief der Kranke, mit seiner Hand über die Stirne fahrend: »Hutley – Hutley – laß mich sehen.« Er schien seine Gedanken auf einige Sekunden sammeln zu wollen, dann faßte er mich heftig beim Handgelenke und sagte: »Verlaß mich nicht – verlaß mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.«

»Ist er schon lange so?« fragte ich mit einem Blicke auf sein weinendes Weib.

»Seit gestern abend«, antwortete sie. »John, John, kennst du mich nicht?«

»Laß sie nicht her«, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn hinbeugte. »Jage sie fort: ich kann sie nicht neben mir ertragen.« Er starrte sie wild und mit einem Blicke tödlicher Angst an, und flüsterte mir dann ins Ohr: »Ich schlug sie – ja, ich schlug sie gestern und schon manches Mal. Ich gab sie dem Hungertode preis und das Kind auch; und nun ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafür ermorden: ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört, wie ich, du wüßtest es auch. Halte sie fern.« Er ließ meine Hand los und sank erschöpft aufs Kissen.

Ich wußte nur zu wohl, was all das zu bedeuten hatte. Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so würde mich ein Blick in das blasse Gesicht und auf die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben. »Gehen Sie lieber beiseite«, sagte ich zu dem armen Geschöpf. »Sie können doch nichts für ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.« Sie ging ihrem Manne aus dem Gesicht. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Augen und sah sich ängstlich um.

›Ist sie fort?‹ fragte er hastig.

›Ja, ja‹, antwortete ich: ›sie wird dir nichts zu Leide tun.‹

›Ich will dir was sagen, Jem,‹ versetzte der Kranke mit leiser Stimme, ›sie tut mir etwas zu Leide. Es liegt in ihren Augen etwas, was eine so fürchterliche Angst in mir hervorbringt und was mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über waren ihre großen, starren Blicke und ihr bleiches Gesicht dicht vor mir: wohin ich mich wandte, wandten auch sie sich, und sooft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und stierte mich an.‹ Er zog mich näher zu sich, als er in einem tiefen, zitternden Tone flüsterte –* ›Jem, sie muß ein böser Geist sein – ein Teufel! Hu! ich weiß es, sie ist’s. Wäre sie ein Weib, so müßte sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht ertragen, was sie ertragen hat.‹

Ich schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Mißhandlungen, die vorangegangen sein mußten, um bei einem solchen Menschen einen solchen Eindruck hervorzubringen. Ich wußte nichts zu erwidern: denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?

Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, unaufhörlich seine Arme hin und her warf, und sich immer wieder von einer Seite auf die andere umwandte. Endlich verfiel er in eine Art von bewußtlosem Halbschlummer, in dein der Geist unruhig von Bild zu Bild, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen. Da ich aus seinen Delirien entnahm, daß dies bei ihm der Fall, und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich, indem ich dem bedauernswürdigen Weibe versprach, am nächsten Abende meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.

Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten aber eine furchtbare Veränderung hervorgebracht. Die Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten von einem entsetzlichen Glänze. Die Lippen waren vertrocknet und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockene harte Haut fühlte sich glühend heiß an, und in dem Gesichte des Kranken lag ein beinahe gespenstischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.

Ich setzte mich wie gestern abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das fühlloseste Herz hätten tief ergreifen müssen – die furchtbaren Phantasien eines Sterbenden. Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an seinem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verrenkt worden waren, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.

Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen in den Tagen der Gesundheit zurückkehren zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt: aber wenn diese Beschäftigungen von der Art sind, daß sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen, geradezu entgegengesetzt sind, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.

Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Phantasie des irren Elenden erging. Es war Abend, bildete er sich ein. Er mußte auftreten: es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen. Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel – er mußte gehen. Nein! sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Feinde. Eine kurze Pause, und er keuchte einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte. Er richtete sich im Bette auf, streckte seine welken Arme in die Höhe, und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: er spielte – er war auf der Bühne. Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlußreim eines Trinkliedes. Endlich hatte er die Schenke wieder erreicht: wie heiß war es in dem Zimmer. Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. Füllet sein Glas auf! Wer schlug es ihm vom Munde weg? Es war derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgt hatte. Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut. Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein ermüdendes Labyrinth niedriger, gewölbter Zimmer – so niedrig bisweilen, daß er auf allen Vieren fortkriechen mußte; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, häßliches Gewürm, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – fürchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer – das Gewölbe dehnte sich ins Ungeheure – fürchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, gräßlich verzerrt: sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnürten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut heraus spritzte. Er kämpfte fürchterlich um sein Leben.

Nach einem solchen Anfalle, während dem ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Vom langen Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir für einige Minuten die Augen zugefallen, als ich von einem heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte. Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine fürchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewußtsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich. Das Kind, das durch seine irren Reden lange Zeit eingeschüchtert gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge: aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen. Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände nach den Seinigen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch. Noch ein Röcheln in der Kehle – ein Blitzen im Auge – ein kurzer unterdrückter Seufzer – und der Unglückliche sank aufs Kissen zurück. Er war – tot!«

 

Es würde uns das größte Vergnügen machen, Herrn Pickwicks Ansicht über die vorhergehende Erzählung mitzuteilen, und wir wären zweifelsohne in der Lage, es tun zu können, hätte nicht ein ganz unglücklicher Zufall sein Veto dareingesprochen.

Herr Pickwick hatte das Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnitts der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – wirklich hatte er, um uns auf Herrn Snodgraß‘ Gedenkbuch zu berufen, bereits den Mund geöffnet – als der Kellner eintrat und »Einige Herren« anmeldete.

Es läßt sich denken, daß Herr Pickwick gerade auf dem Punkte stand, etwelche Bemerkungen, die – wenn auch nicht die Themse – doch die Welt erleuchtet haben würden, zum Besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde; denn er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Augen die Runde in der Gesellschaft machen, als wünsche er nähere Aufklärung über die Gemeldeten.

»O!« sagte Herr Winkle aufstehend, »einige Freunde von mir – führen Sie dieselben herein. Sehr angenehme Herrschaften,« fügte Herr Winkle hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte – »Offiziere vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich heute morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden mit ihnen zufrieden sein.«

Herrn Pickwicks Gleichmut war rasch wieder hergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.

»Leutnant Tappleton«, sagte Herr Winkle! »Leutnant Tappleton, Herr Pickwick – Doktor Payne, Herr Pickwick – Herr Snodgraß, den Sie bereits gesehen haben: mein Freund, Herr Tupman, Doktor Payne – Doktor Slammer, Herr Pickwick – Herr Tupman, Doktor Slam–«

Hier verstummte Herr Winkle plötzlich; denn auf dem Gesichte Herrn Tupmans und des Doktors war eine seltsame Erregung sichtbar.

»Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen«, sagte der Doktor mit starker Betonung.

»Wirklich?« versetzte Herr Winkle.

»Und – und, diese Person auch, wenn ich mich nicht irre«, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. »Ich glaube, ich ließ an diese Person gestern abend eine dringende Einladung ergehen, die sie ablehnen zu müssen vermeinte.«

Bei diesen Worten warf der Doktor einen stolzen, verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas in die Ohren.

»Wie – ist es Ihr Ernst?« sagte dieser, als er das Geflüster vernommen hatte.

»Mein vollkommener Ernst«, versetzte Doktor Slammer.

»Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben«, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.

»Seien Sie ruhig, Payne«, vermittelte der Leutnant. »Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr«, sagte er, sich an Herrn Pickwick wendend, der sich durch dieses höchst unhöfliche Zwischenspiel sehr beleidigt fühlte – »wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob diese Person zu Ihrer Gesellschaft gehört?«

»Nein, mein Herr«, erwiderte Herr Pickwick. »Er ist unser Gast.«

»Er ist einm Mitglied Ihres Klubs – oder irre ich mich?« fragte der Leutnant.

»Nein, gewiß nicht«, antwortete Herr Pickwick,

»Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?« fragte der Leutnant weiter.

»Nein – nie!« versetzte der erstaunte Herr Pickwick.

Leutnant Tappleton wandte sich an Doktor Slammer mit einem kaum bemerkbaren Achselzucken, als wollte er damit andeuten, daß ihm seines Freundes Gedächtnis zweifelhaft vorkäme. Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Herr Payne starrte wild in das strahlende Gesicht des staunenden Pickwick.

»Mein Herr«, begann der Doktor, sich plötzlich an Herrn Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebensosehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen – »Sie waren gestern abend auf dem Ball?«

Herr Tupman antwortete mit einem schwachen »Ja«; fortwährend auf Herrn Pickwick blickend.

»Diese Person war Ihr Begleiter?« fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.

Herr Tupman gab es zu.

»Nun, mein Herr,« sagte der Doktor zu dem Fremden, »ich frage Sie noch einmal in Gegenwart dieser Herren, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein, oder ob Sie mich in die Notwendigkeit versetzen wollen. Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?«

»Halten Sie inne, mein Herr«, sagte Herr Pickwick; »ich kann wirklich nicht dulden, daß die Sache weiter getrieben wird, ehe Sie mir irgendeine Auskunft geben. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!«

Also feierlich aufgefordert, berichtete Herr Tupman die Sache mit wenigen Worten. Das Entlehnen des Rockes berührte er nur leicht: einen großen Nachdruck legte er darauf, daß es »nach dem Mittagessen« stattgefunden hätte, deutete flüchtig auf eine kleine Reue über sein eigenes Betragen hin und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er konnte.

Dieser war eben im Begriffe, es zu tun, als ihn der Leutnant Tappleton, der ihn bisher mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:

»Habe ich Sie nicht auf dem Theater gesehen, mein Herr?«

»O ja«, erwiderte der Fremde unbefangen.

»Er ist ein wandernder Schauspieler«, sagte der Leutnant verächtlich, indem er sich an Doktor Slammer wandte. »Er tritt in dem Stücke auf, das morgen die Offiziere des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen lassen. Sie können in der Sache nicht weiter gehen, Slammer – unmöglich!«

»Nein, unmöglich!« sagte Payne pathetisch.

»Ich bedaure, Sie in diese Unannehmlichkeit versetzt zu haben« sagte Leutnant Tappleton, sich an Herrn Pickwick wendend. »Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, daß der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!« – und rasch verließ der Leutnant das Zimmer.

»Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr,« versetzte der reizbare Doktor Payne, »daß ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Sie und die sämtlichen Mitglieder dieser Gesellschaft geohrfeigt hätte. Ja, das hätte ich. Mein Name ist Payne, mein Herr – Doktor Payne vom dreiundvierzigsten Regiment. Guten Abend, mein Herr.«

Die vier letzten Worte sprach er in einem lauten, nachdrücklichen Tone und schritt sodann mit stolzer Würde aus dem Zimmer. Ihm folgte Doktor Slammer schweigend, und nur einen Blick voll Verachtung auf die Gesellschaft werfend.

Zorn und Wut hatte während der eben erwähnten Herausforderung Herrn Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Er stand regungslos, mit stieren Blicken da, und erst das Knarren der Tür brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen sprang er auf. Seine Hand hatte die Türklinke gefaßt, und im nächsten Augenblicke würde er den Doktor Payne vom dreiundvierzigsten Regiment an der Kehle gepackt haben, hätte nicht Herr Snodgraß seinen verehrten Lehrer am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.

»Haltet ihn«, rief Herr Snodgraß. »Winkle, Tupman – er darf sein kostbares Leben nicht um einer solchen Angelegenheit willen aufs Spiel setzen.«

»Lassen Sie mich los«, sagte Herr Pickwick.

»Haltet ihn fest«, schrie Herr Snodgraß; und durch die vereinten Kräfte der ganzen Gesellschaft ward Herr Pickwick in einen Armstuhl gedrängt.

»Ihn ruhig lassen«, sagte der grüngekleidete Fremde – »Branntwein und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!«

Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Pickwicks Lippen, und im nächsten Augenblicke war der Rest vollends verschwunden.

Es trat eine kurze Pause ein; das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Herrn Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.

»Diese Menschen verdienen nicht, daß Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir«, sagte der Trübsinnige.

»Sie haben recht, Sir,« versetzte Herr Pickwick, »sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, daß ich mich soweit vergessen konnte. Ziehen Sie Ihren Stuhl zu mir an den Tisch, Sir.«

Der Trübsinnige tat es: der Kreis versammelte sich wieder um den Tisch, und die frühere Eintracht fand sich wieder ein. In Herrn Winkles Brust schien indes noch ein heimlicher Unmut zurückzubleiben, der vielleicht von der zeitweisen Entwendung seines Rocks veranlaßt wurde – doch ist es kaum denkbar, daß ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Mißbehagens in der Seele eines Pickwickiers hervorgerufen haben sollte. Davon abgesehen, war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Die Musterung. – Neue Freunde. – Eine Einladung aufs Land.

Viele Schriftsteller haben eine ebenso törichte, wie unredliche Abneigung gegen die Angabe der Quellen, aus denen sie manche schätzbaren Nachrichten schöpfen. Wir kennen dieses Gefühl nicht. Unser einziges Bestreben geht dahin, unsern Pflichten als Herausgeber auf eine ehrenhafte Weise nachzukommen, und wie groß auch unter andern Umständen unser Ehrgeiz gewesen wäre, auf das Verdienst der Erfindung dieser Begebenheiten Anspruch zu machen, so verbietet uns doch die Liebe zur Wahrheit, mehr zu beanspruchen, als das Verdienst einer zweckmäßigen Zusammenstellung und unparteiischen Erzählung derselben. Die Pickwickpapiere sind unsere Quellenwerke, und wir sind mit der Wasserlieferungsgesellschaft zu vergleichen. Die Arbeiten anderer haben uns mit einem außerordentlichen Vorrat von Stoffen versehen, und wir geben sie der Welt, die nach der Bekanntschaft mit den Pickwickiern dürstet, in einem hellen und lieblichen Strome auf diesen Blättern.

In diesem Sinne handelnd und entschlossen, unsere Verbindlichkeiten gegenüber den Quellen zu erfüllen, aus denen wir schöpfen, sagen wir frei heraus, daß wir den Inhalt dieses und des folgenden Kapitels dem Memoirenbuche des Herrn Snodgraß verdanken – einen Inhalt, den wir jetzt, nachdem wir unser Gewissen entlastet, unsern Lesern ohne weiteren Kommentar vorlegen wollen:

Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften stand am folgenden Morgen, sobald der Tag graute, in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung auf. Es sollte an diesem Tage eine große Musterung stattfinden. Das Falkenauge des Obergenerals sollte die Manöver von einem halben Dutzend Regimenter inspizieren: man hatte Festungswerke errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen, genommen und eine Mine gesprengt werden.

Herr Pickwick war, wie unsere Leser aus dem kurzen Auszuge, den wir aus seiner Beschreibung von Chatam gegeben, gesehen haben, ein enthusiastischer Bewunderer des Heeres. Nichts konnte ihm einen höheren Genuß gewähren – nichts konnte mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen – wie ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatz der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.

Alles deutete darauf hin, daß etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Es waren Wachen ausgestellt, um den Raum für die Truppen freizuhalten; besonders beorderte Leute trugen Sorge, den Damen Plätze auf den Batterien zu verschaffen; Sergeanten rannten mit Pergamentbänden hin und her, und Oberst Bulder galoppierte in vollständiger Uniform von einer Stelle zur andern, indem er seine Reiterkünste in den kühnsten Schwenkungen zur Schau trug und sich ohne einen besonderen Grund heiser und blau schrie. Offiziere flogen auf und nieder, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und verschwanden zuletzt in den Reihen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, daß man über die hohe Bedeutung der Feierlichkeit keinen Augenblick im Zweifel sein konnte.

Herr Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Gedränge nahm mit jedem Augenblick zu, und die Anstrengungen, die sie machen mußten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, beschäftigten in den zwei folgenden Stunden ihre Aufmerksamkeit hinlänglich. Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Herr Pickwick einige Ellen weit vorwärtsgestoßen wurde und dabei eine Hast und Geschmeidigkeit zur Schau stellte, die mit dem Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand: bald ertönte ein gebieterisches »Zurück!« und das Ende eines Flintenkolbens fiel entweder auf Herrn Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle augenblickliche Folge zu geben. Spaßvögel machten sich wohl auch das Vergnügen, mit der ganzen Fülle ihrer Kraft gegen Herrn Snodgraß anzudrängen und ihn dann wegen seines Drückens zur Rechenschaft zu ziehen, und wenn Herr Winkle seine höchste Entrüstung über eine solche Ungebühr aussprach, schlug ihm irgendein Schalk von hinten den Hut über die Augen und ersuchte ihn, seinen Kopf in die Tasche zu stecken. Diese und andere handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Herrn Tupmans (der plötzlich verschwunden war), machten ihre Lage im ganzen weit eher unbehaglich, als angenehm und unterhaltsam.

Endlich lief ein Gemurmel durch die Menge, wie es gewöhnlich das Eintreten des Erwarteten bezeichnete. Aller Augen richteten sich nach dem Ausfallstor. Wenige Augenblicke gespannter Erwartung, und Fahnen flatterten lustig in der Luft: Waffen glänzten in der Sonne, und Abteilung um Abteilung rückte in die Ebene vor. Die Truppen machten halt und stellten sich in Reihe und Glied; das Kommandowort lief durch die Reihen: es ertönte ein allgemeines Flintengeklirre, als präsentiert wurde, und der Obergeneral, begleitet von Oberst Bulder und einer Menge anderer Offiziere, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen. Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und so weit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Beinkleidern, starr und regungslos.

Herr Pickwick hatte soviel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, daß er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was unter seinen Augen vorging, bis die Aufmarschentfaltungen soweit gediehen waren, wie wir soeben angegeben haben. Als er aber endlich fest auf den Beinen stand, kannte seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.

»Kann es etwas Schöneres, etwas Anziehenderes geben?« fragte er Herrn Winkle.

»Nein«, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer viertel Stunde ein kleiner Mann auf den Zehen stand.

»In der Tat ein großartiger, ein herrlicher Anblick,« sagte Herr Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst entbrannte, »die tapferen Verteidiger des Vaterlandes in ihrer glänzenden Rüstung vor den friedlichen Bürgern zu sehen, mit ihren glühenden Gesichtern – nicht von kriegerischer Wildheit, sondern von gesitteter Artigkeit – mit ihren flammenden Augen – nicht von dem rohen Feuer der Raubgier oder der Rachsucht, sondern von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz,«

Herr Pickwick ging völlig auf den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten: denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger, als der Ruf ertönte: »Augen geradeaus!« Die Zuschauer hatten einige Tausend Sehorgane vor sich, die ohne allen Ausdruck geradeaus starrten.

»Wir befinden uns jetzt in einer herrlichen Stellung«, sagte Herr Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Das Gedränge hatte sich aus ihrer Nähe verloren und sie waren beinahe allein.

»Herrlich«, wiederholten Herr Snodgraß und Herr Winkle.

»Was machen sie jetzt?« fragte Herr Pickwick, seine Brille aufsetzend.

»Ich – ich – glaube fast,« sagte Herr Winkle, die Farbe verändernd, »ich glaube fast, sie wollen schießen.«

»Unsinn«, versetzte Herr Pickwick hastig.

»Ich – ich – glaube wirklich, sie tun’s«, sagte Herr Snodgraß etwas unruhig.

»Unmöglich«, erwiderte Herr Pickwick.

Aber kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da legte das ganze Halbdutzend Regimenter die Flinten an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel – nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve, die je die Erde erschütterte oder einen alten Herrn aus dem Gleichgewicht brachte.

In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem Verderblichen Feuer blanker Musketen ausgesetzt zu sein, und auf der andern von den Truppen gedrängt, die ihnen auf den Leib rückten, zeigte Herr Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er nahm Herrn Winkle am Arm, und sich zwischen ihn und Herrn Snodgraß stellend, bat er sie ernstlich, sich daran zu erinnern, daß, außer der Möglichkeit, durch den Lärm ihres Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar nichts zu befürchten sei.

»Aber – aber – gesetzt den Fall, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?« bemerkte Winkle, ob dieser Besorgnis, die plötzlich seinen Geist bedrängte, erbleichend. »Ich habe ein Zischen gehört – ein starkes Zischen – hart an meinen Ohren.«

»Wir täten vielleicht besser, uns auf den Boden zu legen – meinen Sie nicht auch?« fragte Herr Snodgraß.

»Nein, nein – es ist vorüber«, antwortete Herr Pickwick. Seine Lippen bebten und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entschlüpfte der Zunge des unsterblichen Mannes.

Herr Pickwick hatte recht: das Schießen hörte auf, aber kaum hatte er Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Atmung Glück zu wünschen, als eine rasche Bewegung in den Reihen der Krieger sichtbar wurde. Der heisere Ruf des Kommandos lief die Front hinab, und ehe einer unserer Helden irgendeine Mutmaßung über das neue Manöver aufstellen konnte, rückte das ganze Halbdutzend Regimenter mit gefälltem Bajonett im Sturmschritt auf die Stelle zu, die Herr Pickwick und seine Freunde einnahmen.

Der Mensch ist sterblich, und es gibt einen gewissen Punkt, den der menschliche Mut nicht zu überschreiten vermag. Herr Pickwick starrte einen Augenblick die andrängenden Massen mit seiner Brille an, drehte ihnen dann hübsch den Rücken und – wir wollen nicht sagen – floh, einmal, weil dies ein unedler Ausdruck ist, und dann, weil Herrn Pickwicks Gesicht gar nicht mit dieser Art von Rückzug übereinstimmte, – sondern ging von dannen, jedenfalls aber so schnell, wie ihn seine Beine tragen konnten: ja, er beeilte sich so sehr, daß er das Fürchterliche seiner Lage in seinem ganzen Umfange nicht eher einsah, als bis es zu spät war.

Die Truppen, die Herrn Pickwick vor wenigen Sekunden durch ihren Anmarsch in Bewegung gejagt hatten, rückten vorwärts, um den verstellten Angriff der Belagerer der Zitadelle zurückzutreiben, und die Folge davon war, daß Herr Pickwick und seine beiden Begleiter sich plötzlich zwischen zwei Linien von unabsehbarer Ausdehnung eingeschlossen sahen: die eine rückte im Sturmschritt vorwärts, und die andere erwartete die Angreifenden schlagfertig.

»Halloh!« schrien die Offiziere der ersteren.

»Aus dem Wege!« riefen die Offiziere der letzteren.

»Wohin sollen wir?« kreischten die bestürzten Pickwickier.

»Halloh! Halloh! Halloh!« war die ganze Antwort.

Es war ein Augenblick grausenvoller Verwirrung; die Erde bebte unter den Fußtritten der Truppen; ein dumpfes Gelächter ließ sich vernehmen – das Halbdutzend Regimenter war noch einhalbtausend Ellen entfernt, und die Sohlen von Herrn Pickwicks Stiefeln schwebten in den Lüften.

Die beiden Herren, Snodgraß und Winkle, hatten jeder mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einen unwillkürlichen Purzelbaum geschlagen. Da war das erste, was Winkle sah, während er auf der Erde saß und den Lebenssaft, der aus seiner Nase stürzte, mit einem gelben seidenen Taschentuch verstopfte, sein ehrwürdiger Lehrer, der in einiger Entfernung seinem Hute nachlief. Dieser rollte nämlich in lustigen Sätzen vor ihm her.

Es gibt wenige Augenblicke in eines Menschen Leben, wo er so viel spaßhaftes Mißgeschick hat und so wenig Mitleid erfährt, als wenn er seinem Hute nachläuft. Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein besonderer Grad von Geistesgegenwart dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Man darf nicht zu sehr eilen, oder man überrennt ihn; man darf nicht zu langsam sein, oder man verliert ihn. Das Beste ist, auf den Gegenstand seiner Verfolgung genau acht zu geben, behutsam und vorsichtig zu sein, die Gelegenheit hübsch abzuwarten, ihm allmählich vorzukommen, dann plötzlich die Hand auszustrecken, ihn bei der Krempe zu ergreifen und fest auf den Kopf zu drücken, wobei man immer freundlich lächelt, als betrachte man den Vorfall ebensowohl von der scherzhaften Seite wie jeder andere.

Der Wind war schwach, und Herrn Pickwicks Hut rollte spielend vor ihm. Der Wind wehte stärker und Herr Pickwick wehte auch stärker, während der Hut sich so lustig überkugelte, wie ein Meerschwein in der Springflut, und er wäre wohl außer Herrn Pickwicks Bereich gerollt, hätte ihn nicht in dem Augenblicke, als der Unglückliche im Begriffe war, ihn seinem Schicksal zu überlassen, eine höhere Hand aufgehalten.

Herr Pickwick war völlig erschöpft und wie gesagt im Begriff, die Jagd aufzugeben, als der Hut mit einiger Heftigkeit an das Rad eines Wagens getrieben wurde, der neben einem halben Dutzend anderer Fuhrwerke stand, und zwar an der Stelle, auf die Herr Pickwick zusteuerte. Seinen Vorteil wahrnehmend, sprang unser Held rasch vor, versicherte sich seines Eigentums, pflanzte es auf seinen Kopf und hielt an, um Atem zu schöpfen. Er hatte noch keine halbe Minute dagestanden, als er sich laut beim Namen rufen hörte. Er erkannte mit einem Male die Stimme des Herrn Tupman, und als er aufblickte, sah er etwas, das ihn mit Verwunderung und Freude erfüllte.

In einer offenen Kutsche, deren Pferde ausgespannt waren, um mehr Platz auf dem engen Raum zu gewinnen, saß ein stattlicher alter Herr in einem blauen Rock mit weißen Knöpfen, Sonduroybeinkleidern* und Stulpenstiefeln, zwei junge Damen mit Schleier und Federhut, ein junger Herr, der in eine der beiden jungen Damen mit Schleier und Federhut verliebt zu sein schien, eine Dame von zweifelhaftem Alter, wahrscheinlich die Tante der Vorerwähnten, und Herr Tupman, so behaglich und ungeniert, als ob er von jeher zu der Familie gehört hätte. Hinten auf der Kutsche war ein Korb von ansehnlicher Größe aufgepackt – einer jener Körbe, die in einem phantasievollen Geiste Gedanken hervorrufen, mit der Vorstellung von kaltem Geflügel, Zungen und Weinflaschen zusammenhängend – und auf dem Bock saß ein fetter, rotbackiger Junge in einem Zustand von Schlaftrunkenheit, den kein aufmerksamer Beobachter einen Augenblick betrachten konnte, ohne ihn für eine Person anzusehen, die dazu angestellt war, den Inhalt des vorerwähnten Korbes zur geeigneten Zeit zutage zu fördern.

Herr Pickwick hatte auf diese anziehenden Dinge einen hastigen Blick geworfen, als er wieder von seinem treuen Schüler gegrüßt wurde.

»Pickwick – Pickwick,« sagte Herr Tupman, »geschwinde – kommen Sie herauf.«

»Kommen Sie, mein Herr, ich bitte, kommen Sie«, sagte der stattliche Herr. »Joe! – der verdammte Junge; jetzt schläft er wieder – Joe, laß den Tritt nieder.«

Der fette Junge schob sich langsam vom Bock herunter, ließ den Tritt nieder und hielt das Kutschentürchen offen. In diesem Augenblick kamen Herr Snodgraß und Herr Winkle nach.

»Platz für uns alle«, sagte der stattliche Herr. »Zwei innen und einer außen, Joe, mach Platz auf dem Bock für einen von diesen Herren. Nun, mein Herr, kommen Sie herauf«, und der stattliche Mann streckte seinen Arm aus und hob zuerst Herrn Pickwick und dann Herrn Snodgraß in den Wagen. Herr Winkle stieg auf den Bock, der Junge saß auf derselben Längsstange auf und schlief alsbald wieder ein.

»Ja, ja, meine Herren,« sagte der stattliche Mann, »es freut mich unendlich, Sie zu sehen. Kenne Sie sehr wohl, meine Herren, ob Sie sich gleich vielleicht meiner nicht erinnern. Ich brachte letzten Winter mehrere Abende in Ihrem Klub zu – stieß an diesem Morgen auf meinen Freund Tupman und war sehr erfreut, ihn zu sehen. Ja, ja, mein Herr, und wie geht es Ihnen? Sie sehen vorzüglich aus – wahrhaftig!«

Herr Pickwick dankte für das Kompliment und schüttelte dem stattlichen Herrn mit den Stulpenstiefeln herzlich die Hand.

»Ja, ja, und wie geht es Ihnen, mein Herr?« fragte der stattliche Herr, sich mit väterlicher Teilnahme an Herrn Snodgraß wendend. »Vortrefflich? – Nun, das ist schön – das ist schön. Und wie geht es Ihnen, mein Herr? (Zu Herrn Winkle.) Gut? Es freut mich zu hören, daß Sie sagen gut: es freut mich sehr, das muß ich sagen. Meine Töchter, meine Herren – meine Mädchen, und dies ist meine Schwester, Fräulein Rachel Wardle. Sie ist immer noch Fräulein, wie gern sie auch eine Frau sein möchte – was meinen Sie, mein Herr? – hihi!«

Und der stattliche Herr stieß Herrn Pickwick mit seinem Ellenbogen in die Rippen und lachte herzlich.

»Ach, Bruder!« sagte Fräulein Wardle mit einem bittenden Lächeln.

»Freilich, freilich«, erwiderte der stattliche Herr; »niemand kann’s in Abrede stellen. Meine Herren, ich bitte um Verzeihung; das ist mein Freund, Herr Trundle. Und nun Sie sich gegenseitig kennen, wollen wir es uns bequem machen und sehen, was da draußen alles vorgeht; weiter sage ich nichts.« Der Stattliche setzte seine Brille auf, Herr Pickwick nahm sein Fernglas, und jeder stand aufrecht im Wagen und sah über die Schultern seines Vordermannes den Bewegungen der Truppen zu.

Es wurden erstaunliche Dinge ausgeführt. Man sah eine Reihe Soldaten über den Köpfen einer andern wegfeuern und davonrenncn, worauf sie Karrees bildeten und die Offiziere in die Mitte nahmen. Dann kletterte man an Strickleitern auf der einen Seite der Schanze hinab und auf der andern wieder hinauf, riß Barrikaden von Schanzkörben nieder und benahm sich überhaupt so tapfer wie nur möglich. Dann wurden die ungeheuren Kanonen mit Instrumenten, die wie riesige Scheuerlappen aussahen, geladen. Die Vorbereitungen, bis sie losgeschossen wurden, und endlich das Abbrennen selbst war mit einem so entsetzlichen Lärm verbunden, daß die Lüfte vom Angstgeschrei der Damen widerhallten. Die jungen Fräuleins Wardle waren so erschrocken, daß Herr Trundle genötigt war, eine derselben zu halten, während Herr Snodgraß die andere stützte, und Herrn Wardles Schwester wurde von so furchtbaren Krämpfen befallen, daß es Herr Tupman für unumgänglich notwendig fand, seinen Arm um ihren Leib zu legen, um sie nur aufrechtzuerhalten. Alles war in der größten Aufregung, bis auf den fetten Jungen, der so sanft schlief, als wäre der Kanonendonner sein Wiegenlied.

»Joe, Joe!« rief der Stattliche, als die Zitadelle genommen war, und Belagerer und Belagerte sich’s bequem machten, um ihre Mahlzeit zu halten. »Der verdammte Junge schläft schon wieder. Haben Sie die Güte, mein Herr, ihn in die Waden zu zwicken, sonst ist er nicht zu wecken. So – ich danke Ihnen, Sir. Den Korb ausgepackt, Joe!«

Der fette Junge, der wirklich durch den Wink aufgewacht war, den ihm Herr Winkle gab, indem er einen Teil seiner Wade zwischen Daumen und Zeigefinger preßte, rutschte vom Bock hinunter und begann den Korb auszupacken, wobei er einen größeren Eifer entwickelte, als man von seiner gewöhnlichen Trägheit erwartet hätte.

»Jetzt müssen wir etwas zusammenrücken«, sagte der Stattliche.

Eine Menge Witze über die weiten Ärmel der Damen, die jetzt augenscheinlich Not leiden mußten, wurden gemacht; und die scherzhaften Vorschläge, die Damen sollten den Herren auf den Schoß sitzen, trieben den Frauenzimmern einmal über das andere das Blut in die Wangen. Dann endlich war die ganze Gesellschaft in dem Wägelchen bequem untergebracht, und der stattliche Herr empfing den Inhalt des Korbes aus den Händen des fetten Jungen, der zu diesem Zwecke hinten auf den Wagen gestiegen war.

»Jetzt, Joe, Messer und Gabeln!«

Die Messer und Gabeln wurden gebracht, und die Damen und Herren im Wagen und Herr Winkle außen auf dem Bock mit diesen nützlichen Werkzeugen versehen.

»Teller, Joe, Teller!«

Die Teller wurden auf gleiche Weise verteilt.

»Jetzt, Joe, das Geflügel. Der verdammte Junge, da schläft er schon wieder. Joe, Joe!« (Einige Winke mit einem Stock auf den Kopf, und der fette Junge erwachte langsam aus seiner Schlaftrunkenheit.) »Geschwind, gib die Speisen her!«

Es lag etwas in dem Klange der letzten Worte, was den Speckjungen lebendig machte. Er hüpfte auf, und die schweren Augen, die zwischen den dicken Pausbacken hindurchblinzelten, starrten mit fürchterlicher Gier auf die Speisen, die er aus dem Korbe nahm.

»Nun, rasch!« rief Herr Wardle; denn der fette Junge warf äußerst verliebte Blicke auf einen Kapaunen, von dem er sich fast unmöglich trennen zu können schien. Er seufzte tief, und mit einem glühenden Blick auf den wohlgemästeten Gegenstand seiner Sehnsucht übergab er ihn endlich mit widerstrebender Hand seinem Herrn.

»So ist’s recht – sieh genau nach. Jetzt die Zunge – die Taubenpastete. Reiche mir auch den Braten und den Schinken – vergiß die Hummer nicht – nimm den Salat aus dem Tuche – gib mir das Zubehör.«

Das waren die eiligen Befehle, die über Herrn Wardles Lippen sprudelten, während er die genannten Dinge in Empfang nahm und jedem eine Menge Teller in die Hand gab oder auf die Knie setzte.

»Nun, ist das nicht köstlich?« fragte der heitere Mann, als das Werk der Zerstörung begonnen hatte.

»Köstlich!« sagte Herr Winkle, der ein Huhn auf dem Bocke zerlegte.

»Belieben Sie ein Glas Wein?«

»Wenn ich bitten darf.«

»Ich will Ihnen lieber eine Flasche hinausgehen – nicht wahr?«

»Sie sind sehr gütig.«

»Joe!«

»Ja, Herr!« – Er schlief nicht, weil er soeben ein Kalbfleischpastetchen weggeschnappt hatte.

»Eine Flasche Wein dem Herrn auf dem Bock. Zum Wohl, mein Herr!«

»Danke.«

Herr Winkle füllte sein Glas und stellte die Flasche neben sich auf den Bock.

»Darf ich mir die Ehre geben, mein Herr?« sagte Herr Trundle zu Herrn Winkle.

»Mit größtem Vergnügen«, antwortete Herr Winkle.

Und die beiden Herren stießen miteinander an, und die ganze Gesellschaft nahm daran teil.

»Wie die liebe Emilie mit dem fremden Herrn flirtet!« flüsterte Fräulein Wardle, die Tante, mit echtem Altjungfernneid ihrem Bruder zu.

»Wüßte nicht«, sagte der lustige alte Herr; »finde es ganz natürlich; wahrhaftig – nichts Außerordentliches. Herr Pickwick, belieben Sie etwas Wein?«

Herr Pickwick, der inzwischen tief in den Bauch einer Taubenpastete eingedrungen war, sagte bereitwilligst »Ja«.

»Liebe Emilie,« sagte die Jungfer Tante mit Gouvernantenmiene, »sprich doch nicht so laut.«

»Ach Gott, Tante!«

»Die Tante und der kleine alte Herr wollen, glaube ich, allein das Recht haben, zu reden«, flüsterte Fräulein Isabelle Wardle ihrer Schwester Emilie zu.

Die jungen Damen lachten herzlich, und die Alte wollte liebenswürdig aussehen, was ihr aber nicht gelang.

»Die jungen Mädchen sind zu lebhaft«, sagte Tante Wardle zu Herrn Tupman mit der Miene des Mitleidens, als ob Lebhaftigkeit Zollware und ohne höhere Erlaubnis sündhaft und verbrecherisch wäre.

»Sie sind lustig«, versetzte Herr Tupman auf eine Weise, die ihrer Erwartung nicht ganz entsprach. »Es ist zum Entzücken.«

»Hm!« erwiderte die jungfräuliche Tante etwas verstimmt.

»Darf ich mir die Freiheit nehmen?« sagte Herr Tupman im einschmeichelndsten Tone, indem er mit der linken Hand Rachels reizendes Händchen ergriff und mit der rechten die Flasche emporhiclt, »darf ich mir die Freiheit nehmen?«

»Ach, mein Herr!«

Tupmans Augen funkelten vor Vergnügen, und Rachel drückte die Besorgnis aus, man möchte noch mehr Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich wieder auf seinen Beistand rechnen würde.

»Wie gefallen Ihnen meine Nichten?« flüsterte die zärtliche Tante Herrn Tupman zu.

»Vortrefflich, wenn ihre Tante nicht da wäre«, versetzte der gewandte Pickwickier, einen zärtlichen Blick auf die Fragerin heftend.

»Sie Spötter –, aber wirklich, wenn ihre Gesichtsfarbe ein wenig* besser wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – bei Licht, meine ich.«

»Ja, ich glaube es«, erwiderte Herr Tupman mit gleichgültiger Miene.

»O, Sie Schalk – ich weiß, was Sie sagen wollen.«

»Was?« fragte Herr Tupman, dem es nicht in den Sinn gekommen war, überhaupt etwas sagen zu wollen.

»Sie wollten sagen, daß Isabelle etwas hinkt – ich weiß es – die Männer beobachten gar scharf. Ja, ja, es ist so; ich kann es nicht leugnen, und gewiß, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es Hinken. Ich sage ihr oft, in wenigen Jahren werde sie dadurch fürchterlich verunstaltet werden. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!«

Herr Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines scharfen Beobachters zu kommen. Er nahm eine schlaue Miene an und lächelte geheimnisvoll.

»Welch ein sarkastisches Lächeln!« sagte Rachel im Tone der Bewunderung. »Ich versichere Sie, ich fürchte mich vor Ihnen.«

»Sie fürchten sich vor mir

»O, Sie können mir nichts verhehlen; ich weiß, was dieses Lächeln auf sich hat – sehr gut weiß ich’s.«

»Was?« fragte Herr Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

»Sie denken«, sagte die liebenswürdige Tante, ihre Stimme dämpfend – »Sie denken, Isabellens Hinken ist noch nicht so schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich härme mich oft stundenlang deswegen ab. – Mein lieber Bruder ist so gut, so ohne allen Argwohn, daß er es gar nicht sieht. O, wenn er es gewahr würde, es müßte ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte glauben, es sei nur ein angenommenes Wesen – und hoffe auch, daß es wirklich der Fall ist« – hier stieß die zärtliche Verwandte einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

»Die Tante spricht von uns«, flüsterte Fräulein Emilie Wardle ihrer Schwester zu – »ich wette darauf – sie sieht so bösartig aus.«

»Glaubst du?« fragte Isabella. – »Hm! Tante, liebe Tante!«

»Was, meine Liebe?«

»Ich fürchte, Sie erkälten sich, Tante. Binden Sie doch ein seidenes Tuch um ihren Kopf – nehmen Sie sich mehr in acht – bedenken Sie Ihr Alter!«

So wohlverdient diese Revanche auch sein mochte, so war sie doch so rachsüchtig, wie sie nur immer hätte sein können. Es ist nicht wohl, zu erraten, auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, hätte nicht Herr Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andere Richtung gegeben, indem er laut nach Joe rief.

»Der verdammte Junge,« sagte er, »jetzt schläft er schon wieder.«

»Ein außerordentlicher Bursche,« bemerkte Herr Pickwick, »ist er immer so schläfrig?«

»Schläfrig!« sagte der alte Herr. »Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein, und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert.«

»Sehr seltsam«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ja, in der Tat, seltsam«, versetzte der alte Herr. »Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde ihn unter keiner Bedingung von mir lassen – wahrhaftig, er ist eine Naturmerkwürdigkeit! He, Joe – Joe – räume diese Sachen ab, und öffne eine neue Flasche – hörst du?«

Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, schluckte das ungeheure Stück Taubenfleisch hinunter, das er eben unter den Zähnen hatte, als ihn der Schlaf überfallen, und gehorchte langsam dem Befehle seines Herrn, schmachtende Blicke auf die Überbleibsel des Mahles werfend, als er das Geschirr abräumte und in den Korb legte. Die neue Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz – der fette Junge stieg auf den Bock – die Brillen und die Ferngläser wurden wieder hervorgenommen, und die Bewegungen des Heeres begannen aufs neue. Das Geschütz brüllte, die Damen kreischten – eine Mine wurde gesprengt; alles jauchzte, und als die Mine aufgeflogen war, folgten die Soldaten und unsere Gesellschaft ihrem Beispiele und brachen ebenfalls auf.

»Nun, ich denke –« sagte der alte Herr, als er am Schlüsse der Unterhaltung, die die Zwischenakte des militärischen Schauspiels ausfüllte, Herrn Pickwick die Hand drückte – »ich denke, wir werden Sie alle morgen wiedersehen.«

»Ganz gewiß«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sie haben doch meine Adresse?«

»Manor Farm in Dinglen Dell«, sagte Herr Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

»Ganz recht,« versetzte der alte Herr, »und ich denke. Sie unter einer Woche nicht fortzulassen. Sie sollen alles sehen, was sehenswert ist. Wenn es Ihnen um das Landleben zu tun ist, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – der verdammte Junge, jetzt schläft er wieder – Joe, hilf Tom einspannen.«

Die Pferde wurden eingespannt – der Kutscher bestieg seinen Bock – der fette Junge rutschte an dessen Seite – man verabschiedete sich gegenseitig – und der Wagen rollte von dannen. Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und er schlief in aller Ruhe.