Vierundfünfzigstes Kapitel


Vierundfünfzigstes Kapitel

Enthält das endliche Abtreten des Herrn Jingle und Job Trotter nebst einem großen Geschäftsmorgen in Gray’s Inn Square. Es schließt mit einem doppelten Klopfen an Herrn Perkers Tür.

Als Arabella nach manchen zarten Vorbereitungen und vielen Versicherungen, daß durchaus kein Grund da sei, den Mut sinken zu lassen, von Herrn Pickwick das unbefriedigende Resultat seines Besuches in Birmingham erfahren hatte, brach sie in Tränen aus und klagte laut schluchzend in beweglichen Ausdrücken, daß sie die unglückselige Ursache einer Entfremdung zwischen Vater und Sohn sei.

»Mein liebes Kind«, sagte Herr Pickwick freundlich, »es ist nicht Ihre Schuld. Man konnte unmöglich voraussehen, daß der alte Herr so übel auf die Heirat seines Sohnes zu sprechen sein würde. Gewiß«, fügte er hinzu, indem er Arabella in das hübsche Gesichtchen schaute; »gewiß hat er nicht die entfernteste Vorstellung von dem Vergnügen, dessen er sich selbst beraubt.«

»Ach, mein teurer Herr Pickwick«, sagte Arabella: »was sollen wir tun, wenn er fortfährt, uns zu zürnen?«

»Nun, warten Sie es nur mit Geduld ab, liebes Kind, bis er besser von der Sache denkt«, erwiderte Herr Pickwick vergnügt.

»Aber, mein teurer Herr Pickwick, was soll aus Nathaniel werden, wenn sein Vater die Hand von ihm abzieht?« drängte Arabella.

»Für diesen Fall, meine Liebe«, versetzte Herr Pickwick, »will ich zu prophezeien wagen, daß er schon irgendeinen Freund finden wird, der ihm mit Vergnügen dazu hilft, es in der Welt zu etwas zu bringen.«

Der Sinn dieser Antwort war von Herrn Pickwick nicht so verschleiert gegeben, daß ihn Arabella nicht hätte verstehen können. Sie warf ihre Arme um seinen Nacken, küßte ihn zärtlich und schluchzte noch lauter als zuvor.

»Nur Mut!« sagte Herr Pickwick, ihre Hand ergreifend; »wir wollen hier noch einige Tage verweilen und sehen, ob er schreibt oder den Brief Ihres Mannes in einem andern Lichte auffaßt. Wo nicht, so habe ich schon ein Dutzend Pläne ausgesonnen, von denen jeder einzelne zu Ihrem Glücke führen muß. Beruhigen Sie sich nur, meine Liebe.«

Mit diesen Worten drückte Herr Pickwick freundlich Arabellas Hand und bat sie, ihre Augen zu trocknen und ihrem Mann keinen Kummer zu machen. Arabella, eines der besten Geschöpfe, die je gelebt haben, steckte auch wirklich ihr Taschentüchlein in ihren Pompadour, und als Herr Winkle zu ihnen kam, zeigte sie ihm in vollem Glanz dasselbe strahlende Lächeln und dieselben funkelnden Augen, die gleich im Anfang sein Herz gefesselt hatten.

»Die jungen Leute befinden sich doch in einer peinlichen Lage«, dachte Herr Pickwick, als er sich am folgenden Morgen ankleidete. »Ich will zu Perker gehen und ihn über die Sache um Rat fragen.«

Da Herr Pickwick noch einen andern sehnlichen Wunsch hatte, der ihn nach dem Grays Inn Square trieb, nämlich unverzüglich mit dem freundlichen kleinen Anwalt ein finanzielles Geschäft abzuwickeln, so nahm er in aller Geschwindigkeit ein Frühstück ein und führte seine Absicht so schleunig aus, daß es noch nicht zehn Uhr geschlagen hatte, als er Grays Inn erreichte.

Es fehlten noch zehn Minuten bis zehn Uhr, als er die Treppe hinaufgestiegen war, bei deren Stockwerk sich Perkers Zimmer befanden. Die Schreiber waren noch nicht da, und er vertrieb sich die Zeit mit Hinaussehen aus dem Treppenfenster.

Das gesunde Licht eines schönen Oktobermorgens machte sogar die trüben alten Häuser etwas erglänzen. Einige der staubbedeckten Fenster sahen wirklich lustig aus, als die Sonnenstrahlen sie anglühten; Schreiber um Schreiber eilten durch den einen oder andern Eingang in das Haus, blickten auf die Uhr der Halle und beschleunigten oder mäßigten ihre Art zu gehen je nach der Zeit, zu der ihre Kanzleistunden begannen. Die auf halb zehn Uhr bestimmten Leute schlugen plötzlich einen sehr raschen Schritt an, die auf zehn Uhr bestimmten Gentlemen wandelten mit höchst aristokratischer Gelassenheit einher. Es schlug zehn Uhr, und die Schreiber strömten schneller als je herein, immer einer in größerem Schritt als der andere. Das Geräusch des Schließens und Öffnens der Türen hallte von allen Seiten wider. Köpfe erschienen wie durch einen Zauberschlag an jeglichem Fenster; die Portiers stellten sich für das Heute auf ihre Posten; die Reinmachefrauen in ihren abgetretenen Schuhen eilten davon; der Briefträger rannte von Haus zu Haus, und der ganze juristische Bienenschwarm war in geschäftiger Aufregung.

»Sie kommen früh, Herr Pickwick«, sagte eine Stimme hinter ihm.

»Ah, Herr Lowten!« erwiderte dieser Gentleman, um sich blickend und seinen alten Bekannten erkennend.

»Köstlich warm heute«, sagte Lowten, indem er einen Bramahschlüssel mit einem kleinen Stöpsel darin, um ihn vom Staub rein zu halten, aus der Tasche zog.

»Ihnen scheint es wenigstens so zu sein«, versetzte Herr Pickwick, dem Schreiber, der wirklich feuerrot war, zulächelnd.

»Ich komme aber auch weit her, kann ich Ihnen sagen«, erwiderte Lowten. »Ich habe eine ganze halbe Stunde durch das Polygon gebraucht. Doch bin ich noch vor ihm hier, und das freut mich.«

Mit diesem Gedanken sich tröstend, zog Herr Lowten den Stöpsel aus dem Hausschlüssel, öffnete die Tür, verstöpselte und steckte seinen Bramah wieder ein, nahm die Briefe, die der Briefträger in den Kasten geworfen hatte und führte Herrn Pickwick ins Amtszimmer. Hier legte er hastig seinen Rock ab, zog eine fadenscheinige Jacke an, die er aus einem Kasten nahm, holte ein paar Bogen Schreib- und Löschpapier in abwechselnden Schichten hervor, steckte eine Feder hinter sein Ohr und rieb sich mit sehr vergnügtem Gesichte die Hände.

»Sehen Sie, Herr Pickwick«, sagte er; »jetzt bin ich fertig. Ich habe meinen Arbeitskittel angezogen, meine Schreibmaterialien in Bereitschaft gesetzt, und nun kann er kommen, sobald er mag. Haben Sie nicht vielleicht eine Prise Tabak bei sich?«

»Nein«, antwortete Herr Pickwick.

»Das tut mir leid«, sagte Lowten. »Doch gleichviel – ich will geschwind fortrennen und eine Flasche Sodawasser holen. Sehe ich nicht etwas sonderbar um die Augen herum aus, Herr Pickwick?«

Herr Pickwick betrachtete Herrn Lowtens Augen aus einiger Entfernung und meinte, es sei durchaus nichts Auffallendes daran zu sehen.

»Das freut mich«, sagte Lowten. »Wir waren gestern nacht ziemlich lange in der Elster, und es ist mir diesen Morgen nicht ganz geheuer. – Beiläufig gesagt, Perker hat das Geschäft für Sie zustande gebracht.«

»Welches Geschäft?« fragte Herr Pickwick – »die Kostensache für die Bardell?«

»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Lowton, »sondern wegen des Burschen, für den wir auf Ihre Rechnung zehn Schilling vom Pfund bezahlten, um ihn, wie Sie wissen, aus dem Fleet zu befreien und nach Demerara zu schaffen.«

»Ah so, Herr Jingle«, sagte Herr Pickwick hastig: »wie ging’s?«

»Ist alles in Ordnung«, versetzte Lowten, seine Feder ausbessernd. »Der Agent in Liverpool sagte, Sie haben ihm, als Sie dort in Geschäften gewesen, so viele Gefälligkeiten erwiesen, daß er ihn auf Ihre Empfehlung sehr gern annehme.«

»Nun, das freut mich«, sagte Herr Pickwick.

»Aber der andere«, fuhr Lowten fort, die Rückseite seiner Feder22 vorläufig schabend, um einen frischen Schlitz zu machen, »was der für ein empfindsamer Kerl ist.«

»Welcher andere?«

»Je nun, der Diener oder Freund, oder was er ist – Sie wissen ja schon: der Trotter.«

»Ah, so«, sagte Herr Pickwick mit einem Lächeln. »Den habe ich immer für sein wahres Gegenstück gehalten.«

»Ich auch: und ich hatte es bloß aus dem wenigen geschlossen, was ich von ihm sah«, erwiderte Lowten: »aber da sieht man, wie man sich in den Menschen irren kann. Was halten Sie davon, daß er ebenfalls nach Demerara geht?«

»Wie? – Und er macht keinen Gebrauch von dem, was ich ihm hier angeboten habe?« rief Herr Pickwick.

»Perkers Angebot von achtzehn Schilling wöchentlich mit der Aussicht auf mehr, wenn er sich gut anstellte, machte durchaus keinen Eindruck auf ihn«, erwiderte Lowten. »Er sagte, er müsse mit dem andern gehen. Sie überredeten Perker, noch einmal zu schreiben, und nun ist er auch dort untergebracht, wo er es, sagt Herr Perker, nicht halb so gut hat, wie es ein Verbrecher in Neusüdwales haben würde, wenn er in einem neuen Anzug vor Gericht erscheint.«

»Ein närrischer Kerl«, sagte Herr Pickwick mit funkelnden Augen; »wirklich, ein ganz närrischer Kerl.«

»O, es ist noch mehr als närrisch: es ist geradezu heillos, müssen Sie wissen«, versetzte Lowten mit verachtungsvollem Gesicht, seine Feder spitzend. »Er sagt, dies sei der einzige Freund, den er je gehabt: deswegen könne er auch nicht von ihm lassen, und solches Zeug. Die Freundschaft mag immerhin eine recht schöne Sache sein. Wir zum Beispiel sind in Stumpf und Elster alle recht freundschaftlich und vergnügt bei unserm Grog. Jeder zahlt für sich selbst, aber der Teufel sollte einen holen, wenn man sich wegen eines andern etwas versagen müßte. Der Mensch sollte eigentlich nie mehr als zwei Neigungen haben – die erste zu Nummer 1, das heißt zu sich selbst, und die zweite zu den Frauenzimmern: damit basta!«

Herr Lowten schloß mit einem lauten, halb lustigen und halb höhnischen Gelächter, das jedoch schnell abgebrochen wurde durch das Geräusch von Perkers Fußtritten auf der Treppe, bei dessen Nahen er sich mit der merkwürdigsten Behendigkeit auf seinen Stuhl schwang und eifrig schrieb.

Die Begrüßung zwischen Herrn Pickwick und seinem Rechtsfreunde war warm und herzlich. Der Klient hatte sich aber kaum in den Armstuhl des Anwaltes geworfen, als ein Klopfen an der Tür gehört wurde und eine Stimme fragte, ob Herr Perker drinnen sei?

»Ah«, sagte Perker: »da ist einer von unseren vagabundierenden Freunden: – Jingle, mein lieber Herr. Wollen Sie ihn sehen?«

»Was meinen Sie?« fragte Herr Pickwick zögernd.

»Ich denke, es wird das beste sein. He da, Sir, wie Sie heißen: wollen Sie nicht hereinkommen?«

Auf diese zwanglose Einladung hin traten Jingle und Job ins Zimmer, blieben aber, als sie Herrn Pickwick erblickten, verlegen stehen.

»Nun«, sagte Perker: »kennen Sie diesen Herrn nicht?«

»Guten Grund dazu«, versetzte Jingle vortretend. »Herr Pickwick – tiefstes Dankgefühl – Lebensretter – einen Menschen aus mir gemacht – sollen es nie bereuen, Sir.«

»Es freut mich, Sie so zu hören«, sagte Herr Pickwick. »Sie sehen bedeutend besser aus.«

»Dank Ihnen, Sir – große Veränderung – Fleet – ungesunder Ort – sehr ungesund«, versetzte Jingle, den Kopf schüttelnd.

Er war anständig und reinlich gekleidet, ebenso auch Job, der kerzengerade hinter ihm stand und Herrn Pickwick mit eisernem Gesichte anstarrte.

»Wann gehen sie nach Liverpool?« fragte Herr Pickwick leise seinen Advokaten.

»Heute abend, Sir, um sieben Uhr«, sagte Job, einen Schritt vortretend. »Mit der Citypostkutsche, Sir.«

»Haben Sie Ihre Plätze schon?«

»Ja, Sir«, antwortete Job.

»So sind Sie also fest entschlossen, zu gehen?«

»Ja, Sir.«

»Was die nötige Ausrüstung für Jingle betrifft«, sagte Perker laut zu Herrn Pickwick, »so habe ich es auf mich genommen, die Anordnung zu treffen, daß ihm eine kleine Summe von seinem Vierteljahrsgehalt abgezogen wird, um diese Ausgabe zu decken, was in einem Jahre geschehen ist. Ich erkläre mich entschieden dagegen, mein lieber Herr, daß Sie irgend etwas für ihn tun, wofern er es nicht durch Fleiß und gute Aufführung verdient.«

»Wird gewiß geschehen«, unterbrach ihn Jingle mit großer Festigkeit. »Klarer Kopf – Mann von Welt – ganz recht – vollkommen.«

»Durch die Befriedigung seiner Gläubiger, die Auslösung seiner Kleider, die Unterstützung, die Sie ihm im Gefängnis zukommen ließen, und die Bezahlung der Überfahrtskosten«, fuhr Perker, ohne die mindeste Rücksicht auf Jingles Bemerkung, fort, »haben Sie bereits über fünfzig Pfund verloren.«

»Nicht verloren«, sagte Jingle hastig. »Alles bezahlen – fleißig arbeiten – sparen – jeden Heller. Gelbes Fieber vielleicht – kann nicht helfen – wenn nicht –«

Hier hielt Herr Jingle inne, schlug mit großer Heftigkeit auf seinen Hut, fuhr mit der Hand über die Augen und setzte sich nieder.

»Er will damit sagen«, erläuterte Job, ein paar Schritte vortretend, »daß er, wenn ihn das Fieber nicht wegraffe, das Gold zurückbezahlen werde. Bleibt er am Leben, so tut er es gewiß, Herr Pickwick. Ich will selbst dafür sorgen, daß es geschieht – ich weiß, daß er es tun wird, Sir«, fügte er mit großem Nachdruck hinzu. »Ich könnte darauf schwören.«

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick, der Perker ein paar Dutzend zornige Blicke zugeworfen hatte, um ihm zu bedeuten, daß er die Aufzählung seiner Wohltaten unterlassen solle, worauf jedoch der kleine Anwalt hartnäckig keinen Bedacht nahm; »Sie müssen sich nur hüten, keine so verzweifelten Kricketpartien mehr zu machen, Herr Jingle, oder Ihre Bekanntschaft mit Sir Thomas Blazo zu erneuern: dann zweifle ich nicht, daß Sie Ihre Gesundheit erhalten werden.«

Herr Jingle lächelte über diesen witzigen Einfall, sah aber doch ein wenig verdutzt aus, und so gab Herr Pickwick dem Gespräch eine andere Wendung.

»Wissen Sie nicht vielleicht«, fragte er, »was aus einem andern Freunde von Ihnen geworden ist – einem etwas demütigeren, den ich in Rochester sah?«

»Meinen Sie den trübsinnigen Jemmy?« fragte Jingle.

»Ja.«

Jingle schüttelte den Kopf.

»Ein verschmitzter Bursche – ein närrischer Kerl – ein Lügengenie – Jobs Bruder.«

»Jobs Bruder?« rief Herr Pickwick. »Ja wahrhaftig, wenn ich ihn so in der Nähe ansehe, entdecke ich eine Ähnlichkeit.«

»Man hat uns immer für ähnlich gehalten, Sir«, sagte Job mit einem verschmitzten Blick, der in seinen Augenwinkeln lauerte: »nur war ich von jeher ernsthafter Natur und er niemals. Er wanderte nach Amerika aus, Sir, weil man ihm hier zu sehr auf die Finger sah, als daß er sich hätte behaglich fühlen können: und seitdem hat man nichts von ihm gehört.«

»Deswegen habe ich also die ,Seite aus dem Roman des wirklichen Lebens‘ nicht bekommen, die er mir eines Morgens versprach, als er auf der Rochesterbrücke stand und offenbar mit Selbstmordgedanken umging?« sagte Herr Pickwick lächelnd. »Ich brauche nicht zu fragen, ob sein trübseliges Benehmen natürlich war oder bloß erkünstelt.«

»Er konnte sich in jede Rolle hineinfinden, Sir«, sagte Job, »und Sie dürfen von großem Glück sagen, daß Sie ihm so wohlfeil entronnen sind. Bei genauerem Umgang würde er noch ein gefährlicherer Bekannter für Sie geworden sein, als« – Job blickte nach Jingle, stockte und setzte endlich hinzu: »als – als – ich selbst sogar.«

»Eine recht hoffnungsvolle Familie, Herr Trotter« sagte Perker, indem er einen Brief versiegelte, den er soeben beendet hatte.

«Ja, gewiß, Sir«, versetzte Job.

»Nun gut«, fuhr der kleine Mann lachend fort: »Sie werden hoffentlich aus der Art schlagen. Übergeben Sie diesen Brief dem Agenten, wenn Sie nach Liverpool kommen, und nehmen Sie den Rat von mir an, meine Herren, in Westindien nicht gar zu pfiffig aufzutreten. Verscherzen Sie diese Gelegenheit, so werden Sie beide unbedingt verdienen, gehenkt zu werden, und ich glaube auch fest, daß dies dann geschehen wird. Jetzt aber muß ich bitten, mich mit Herrn Pickwick allein zu lassen, denn wir haben noch andere Sachen zu besprechen, und die Zeit ist kostbar.«

Bei diesen Worten sah Perker nach der Tür mit einem Gesicht, das unbeirrt den Wunsch ausdrückte, die Herren möchten den Abschied so kurz wie möglich machen.

Von Herrn Jingles Seite war er kurz genug. Er dankte dem kleinen Anwalt in wenigen herausgehaspelten Worten für die Güte und Bereitwilligkeit, womit er ihm Beistand geleistet, wandte sich sofort zu seinem Wohltäter und stand einige Sekunden unentschlossen da, was er sagen oder wie er sich benehmen solle. Job Trotter erlöste ihn aus seiner Verlegenheit, indem er mit einer demütigen, dankbaren Verbeugung gegen Herrn Pickwick seinen Freund sachte am Arme nahm und hinausführte.

»Ein würdiges Paar«, sagte Perker, als sich die Tür hinter ihnen schloß.

»Ich hoffe, daß sie es werden«, erwiderte Pickwick. »Was meinen Sie? Ist Aussicht auf bleibende Besserung vorhanden?«

Perker zuckte zweifelhaft die Achseln; als er aber Herrn Pickwicks unruhigen und mißvergnügten Blick bemerkte, sagte er –

»Aussicht ist allerdings vorhanden, und ich hoffe, sie wird sich erfüllen. Sie sind jetzt ohne alle Frage bußfertig, aber Sie müssen bedenken, daß die Erinnerung an ihre kürzlich erstandenen Leiden noch ganz frisch bei ihnen ist. Was aus ihnen werden wird, wenn diese nach und nach verschwindet, ist ein Problem, das ich so wenig lösen kann wie Sie. Aber, mein lieber Herr«, fügte Perker, seine Hand auf Herrn Pickwicks Schulter legend, hinzu, »der Erfolg mag sein, wie er will, Ihre Absicht bleibt immer gleich ehrenhaft. Ob jene Art von Wohlwollen, die so unendlich behutsam und vorsichtig zu Werke geht, daß sie sich nur selten in Anwendung bringen läßt; damit ja der, dem sie gilt, nicht in seiner Eigenliebe gekränkt werde, wirkliche Menschenfreundlichkeit ist, oder bloß ein verfälschter Nachdruck davon, überlasse ich klügeren Köpfen auszumitteln. Wenn indes die zwei Burschen morgen schon einen nächtlichen Einbruch begingen, meine Meinung von Ihrem Benehmen würde demungeachtet gleich hoch bleiben.«

Mit diesen Bemerkungen, die mit weit lebhafterem Mitgefühl und Ernst gesprochen waren, als es bei den Herren Juristen sonst der Fall zu sein pflegt, rückte Herr Perker seinen Stuhl an sein Pult und ließ sich von Herrn Pickwick die Hartnäckigkeit des alten Herrn Winkle erzählen.

»Geben Sie ihm eine Woche Zeit«, sagte Perker, prophetisch mit dem Kopfe nickend.

»Meinen Sie, er werde weich werden?« fragte Herr Pickwick.

»Ja«, erwiderte Perker. »Wo nicht, so müssen wir die Überredungsgabe der jungen Dame erproben, womit jeder andere, als Sie, es gleich im Anfang erprobt hätte.«

Herr Perker nahm eine Prise und zuckte die Achseln in betreff der Überredungskräfte junger Damen. Da hörte man in der äußern Stube fragen und antworten, und unmittelbar darauf klopfte Lowten an die Tür.

»Herein!« rief der kleine Mann.

Der Schreiber kam und schloß mit sehr geheimnisvoller Miene hinter sich zu.

»Was gibt’s?« fragte Perker

»Man fragt nach Ihnen, Sir.«

»Wer?«

Lowten sah Herrn Pickwick an und hustete.

»Wer fragt nach mir? Können Sie nicht sprechen, Herr Lowten?«

»Nun, Sir«, erwiderte Lowten,- »es sind die Herren Dodson und Fogg.«

»Wahrhaftig!« sagte der kleine Mann, auf seine Uhr sehend: »ich habe sie auf halb zwölf zu mir bestellt, um Ihre Angelegenheit mit ihnen abzumachen, Herr Pickwick. Ich gab ihnen eine Anweisung, gegen die sie mir Ihre Entlassung aus dem Gefängnis zuschickten. Die Leute kommen sehr ungelegen, mein teurer Sir, was wollen Sie tun? Wollen Sie vielleicht in das andere Zimmer treten?«

Das andere Zimmer war indessen dasselbe, worin sich die Herren Dodson und Fogg befanden, und Herr Pickwick erklärte, er werde bleiben wo er sei, zumal die Herren Dodson und Fogg sich schämen müßten, ihm ins Gesicht zu sehen, während er sich keineswegs vor ihnen zu schämen hätte. Das bat er mit glühendem Gesicht und allen Zeichen der Entrüstung, Herrn Perker nicht zu vergessen.

»Ganz gut, mein lieber Herr, ganz gut«, erwiderte Perker: »soviel muß ich Ihnen aber sagen: wenn Sie glauben, daß Dodson oder Fogg auch nur die geringste Beschämung oder Verlegenheit an den Tag legen werden, weil sie Ihnen oder sonst jemand ins Gesicht sehen sollen, so sind Sie in Ihren Erwartungen der größte Optimist, der mir je vorgekommen ist. Führen Sie die Leute herein, Lowten.«

Herr Lowten verschwand mit Grinsen und kam sogleich zurück, um in gehöriger Form die Firma, Dodson zuerst und dann Fogg, einzuführen.

»Sie kennen Herrn Pickwick bereits, dächte ich«, begann Perker zu Dodson, indem er seine Feder nach der Richtung neigte, wo der Gentleman saß.

»Ah, Herr Pickwick, guten Tag. Wie geht es Ihnen?« sagte Dodson mit lauter Stimme.

»Ach ja, Herr Pickwick, wie geht es Ihnen?« rief Fogg. »Recht gut, wie ich hoffe, Sir? Ich will’s doch meinen, daß ich den Herrn kenne«, fügte er hinzu, indem er einen Stuhl nahm und sich lächelnd umschaute.

Herr Pickwick nickte zur Erwiderung auf diese Grüße nur ebenhin, und als er Fogg einen Pack Papiere aus seiner Rocktasche ziehen sah, stand er auf und ging ans Fenster.

»Herr Pickwick braucht sich nicht zu entfernen, Herr Perker«, sagte Fogg, indem er den roten Bindfaden löste, der seine Papiere zusammenfaßte, und noch süßer lächelte als zuvor. »Herr Pickwick kennt unsere Verhandlungen ziemlich genau, und ich dächte, wir haben hier keine Geheimnisse voreinander. Hihihi!«

»Das meine ich auch«, sagte Dodson. »Hahaha!«

Und nun lachten die beiden Associés miteinander vergnügt und lustig, wie die Leute meist tun, die im Begriff sind, Geld in Empfang zu nehmen.

»Herr Pickwick soll seine Neugierde büßen«, sagte Fogg mit vielem natürlichen Humor, als er seine Papiere ordnete. »Die taxierten Kosten belaufen sich auf hundertunddreiunddreißig Pfund, sechs Schilling und vier Pence, Herr Perker.«

Während nun Fogg und Perker zur Ermittlung dieser Berechnung von Profit und Verlust die Papiere verglichen und manche Blätter umschlugen, sagte Dodson in verbindlichem Tone zu Herrn Pickwick: –

»Es scheint mir. Sie sehen nicht mehr ganz so kräftig aus, wie an dem Tage, wo ich zum letztenmal das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, Herr Pickwick.«

»Mag wohl sein, Sir«, erwiderte Herr Pickwick, der Blicke wilden Ingrimms auf die beiden Gauner losgeschossen hatte, ohne jedoch den mindesten Eindruck auf sie hervorzubringen. »Es ist auch kein Wunder, Sir, denn ich bin in der letzten Zeit von Schurken verfolgt und gequält worden, Sir.«

Perker hustete heftig und fragte Herrn Pickwick, ob er nicht vielleicht die Zeitung ansehen wolle; eine Frage, die Herr Pickwick mit der entschiedensten Verneinung beantwortete.

»Ja«, sagte Dodson, »ich will es gern glauben, daß Sie im Fleet gequält worden sind: es gibt gar verschiedenartige Leute dort. Wo waren Ihre Gemächer, Herr Pickwick?«

»Meine einzige Stube«, erwiderte der schwergekränkte Mann, »befand sich im Restaurationsgang.«

»So?« sagte Dodson. »Meines Wissens ist das ein sehr angenehmer Teil des Gebäudes.«

»Sehr«, entgegnete Herr Pickwick trocken.

Der ganze Ton dieser Unterhaltung war so frostig, daß ein Mann von erregbarem Temperament unter solchen Umständen leicht aufs äußerste gereizt werden konnte. Herr Pickwick bezwang indessen seinen Ingrimm durch gigantische Anstrengungen. Als aber Perker einen Schein für die ganze Summe schrieb und Fogg denselben in eine kleine Brieftasche legte mit einem triumphierenden Lächeln auf seinen sinnigen Zügen, das sich sogar dem strengen Gesicht Dodsons mitteilte, da fühlte er, daß ihm sein Blut vor Zorn in den Wangen kochte.

»Jetzt, Herr Dodson«, sagte Fogg, die Brieftasche einsteckend und seine Handschuhe anziehend; »jetzt stehe ich zu Ihren Diensten.«

»Sehr gut«, sagte Dodson aufstehend; »ich bin ebenfalls bereit.«

»Ich schätze mich sehr glücklich«, bemerkte Fogg, durch den Wechsel in die beste Laune versetzt, »daß ich das Vergnügen gehabt habe, Herrn Pickwicks Bekanntschaft zu machen. Ich hoffe. Sie werden von uns nicht mehr ganz so übel denken, Herr Pickwick, wie damals, als ich zum erstenmal das Vergnügen hatte. Sie zu sehen.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Dodson im hohen Ton beleidigter Tugend. »Herr Pickwick kennt uns jetzt ohne Zweifel besser. Was auch Ihre Meinung von den Herren unseres Standes sein mag, Sir, ich erlaube mir, Sie zu versichern, daß ich durchaus keine Spur von Groll oder Rachegefühl gegen Sie hege wegen der Gefühle, die Sie bei der Gelegenheit, auf die mein Kollege sich soeben bezogen hat, auf unserm Büro im Freemans Court, Cornhill, auszudrücken beliebten.«

»O nein, nein, ich auch nicht«, sagte Fogg in einem sehr verzeihenden Tone.

»Unser Benehmen, Sir«, fügte Dodson hinzu, »wird für sich selbst sprechen und sich hoffentlich bei jeder Veranlassung rechtfertigen. Wir haben schon einige Jährchen praktiziert, Herr Pickwick, und sind mit dem Vertrauen vieler ausgezeichneter Klienten beehrt worden. Ich wünsche Ihnen guten Morgen, Sir.«

»Guten Morgen, Herr Pickwick«, sagte Fogg, nahm seinen Regenschirm unter den Arm, zog seinen rechten Handschuh aus und streckte die Hand zur Versöhnung dem ergrimmten Gentleman hin, der aber beide Hände unter seine Rockschöße steckte und den Advokaten mit Blicken verachtungsvollen Erstaunens anschaute.

»Lowten!« rief Perker in diesem Augenblick: »öffnen Sie die Tür.«

»Warten Sie noch einen Augenblick«, sagte Herr Pickwick: »Perker, ich will sprechen.«

»Mein lieber Herr, bitte, lassen Sie die Sache beruhen«, fiel der kleine Anwalt ein, der während der ganzen Szene in der peinlichsten Angst gewesen war: »bitte, Herr Pickwick –«

»Ich lasse es mir nicht nehmen, Sir«, erwiderte Herr Pickwick hastig. »Herr Dodson, Sie haben einige Bemerkungen an mich gerichtet.«

Dodson drehte sich um, neigte verbindlich den Kopf und lächelte.

»Bemerkungen an mich!« wiederholte Herr Pickwick beinahe atemlos: »und Ihr Associé hat mir die Hand geboten, und Sie haben beide einen verzeihenden, großmütigen Ton gegen mich angenommen, was ein Grad von Unverschämtheit ist, den ich selbst von Ihnen nicht erwartet hätte.«

»Wie, Sir?« rief Dodson.

»Wie, Sir?« wiederholte Fogg.

»Wissen Sie, daß ich das Opfer Ihrer Ränke und Kniffe geworden bin?« fuhr Herr Pickwick fort. »Wissen Sie, daß ich der Mann bin, den Sie ins Gefängnis gebracht und beraubt haben? Wissen Sie, daß Sie die Anwälte für die Klägerin im Prozeß Bardell und Pickwick waren.«

»Ja, Sir, das wissen wir«, erwiderte Dodson.

»Versteht sich, Sir«, fügte Fogg hinzu, indem er – vielleicht zufällig – an seine Tasche schlug.

»Ich sehe, daß Sie sich mit Vergnügen daran erinnern«, sagte Herr Pickwick, und versuchte zum erstenmal in seinem Leben zu hohnlächeln, was ihm jedoch gänzlich mißlang. »So sehr ich es schon längst gewünscht habe. Ihnen mit deutlichen Worten sagen zu können, was ich von Ihnen denke, so würde ich dennoch aus Rücksicht auf die Wünsche meines Freundes Perker sogar diese Gelegenheit vorübergelassen haben, hätten Sie nicht diesen unverantwortlichen Ton gegen mich angenommen und sich diese schamlose Vertraulichkeit erlaubt – ich sage schamlose Vertraulichkeit, Sir.«

Und nun wandte sich Herr Pickwick mit so wütender Gebärde gegen Fogg, daß dieser sich eiligst nach der Tür zurückzog.

»Nehmen Sie sich in acht, Sir«, sagte Dodson, der, obgleich der größte von allen Anwesenden, sich dennoch klüglich hinter Fogg verschanzte und mit käsebleichem Gesicht über dessen Kopf herübersprach. »Lassen Sie ihn nur zuschlagen, Herr Fogg: geben Sie unter keiner Bedingung einen Streich zurück.«

»Nein, nein, da werde ich mich wohl hüten«, sagte Fogg, ein wenig zurückweichend, zum offenbaren Nutzen seines Associé, der dadurch allmählich in den Stand gesetzt wurde, das äußere Zimmer zu erreichen.

»Sie sind«, fuhr Herr Pickwick, den Faden seiner Rede wieder aufnehmend, fort. »Sie sind ein trefflich zusammenpassendes Paar von niederträchtigen, schuftigen, zungendrescherischen Gaunern.«

»Nun, ist da« alles?« fiel Perker ein.

»Ja«, versetzte Herr Pickwick, »es ist alles in den Worten begriffen: es sind niederträchtige, schuftige, zungendrescherische Gauner.«

»Jetzt«, sagte Perker in einem höchst versöhnlichen Tone: »jetzt, meine werten Herrn, hat er alles gesagt, was er zu sagen hatte: ich bitte, gehen Sie endlich. Lowten, ist die Tür offen?«

Herr Lowten bejahte mit einem schlecht unterdrückten Kichern.

»Nun, nun – guten Morgen – guten Morgen – bitte, meine werten Herren – Herr Lowten, die Tür!« rief der kleine Mann, die Herren Dodson und Fogg unwillig aus seinem Zimmer treibend; »dahin, meine werten Herren – bitte, halten Sie sich nicht länger auf – zum Kuckuck auch, Herr Lowten! – Die Tür, Sir – warum sind Sie nicht bei der Hand?«

»Wenn es Gesetze in England gibt, Sir«, sagte Dodson, gegen Herrn Pickwick gewendet, als er seinen Hut aufsetzte, »so sollen Sie dafür büßen.«

»Sie sind ein Paar niederträchtige –«

»Bedenken Sie wohl, Sir, Sie müssen teuer dafür bezahlen«, sagte Fogg, seine Faust schüttelnd.

»Schuftige, zungendrescherische Gauner«, fuhr Herr Pickwick fort, ohne die geringste Notiz von diesen Drohungen zu nehmen.

»Gauner!« rief Herr Pickwick, an die Treppe springend, als die zwei Advokaten hinabgingen.

»Gauner!« schrie Herr Pickwick, sich von Lowten und Perker losreißend und den Kopf zum Fenster hinausstreckend!

Als Herr Pickwick seinen Kopf wieder hereinbrachte, schwebte ein mildes Lächeln auf seinem Gesicht! er ging ruhig auf das Bureau zurück und erklärte, er habe jetzt eine große Last von seinem Herzen gewälzt und fühle sich wieder vollkommen behaglich und vergnügt.

Perker sprach kein Wort, bis er seine Dose geleert und Lowten fortgeschickt hatte, um sie wieder zu füllen. Dann aber brach er in ein lautes Gelächter aus, das volle fünf Minuten dauerte, und nach Verlauf dieser Zeit sagte er, er sollte eigentlich sehr unwillig sein, aber für den Augenblick könne er der Sache keine ernste Seite abgewinnen – er werde übrigens schon noch bös werden.

»Jetzt will ich auch mit Ihnen abrechnen«, sagte Herr Pickwick.

»Etwa auch in dieser Weise?« fragte Perker, abermals ein Gelächter anschlagend.

»Das nun eben nicht«, erwiderte Herr Pickwick, seine Brieftasche herausziehend und dem kleinen Mann herzlich die Hand schüttelnd: »ich will bloß meine Geldrechnung berichtigen. Sie haben mir viele Gefälligkeiten erwiesen, die ich nicht bezahlen kann und auch nicht zu bezahlen wünsche, denn ich ziehe es vor. Ihr Schuldner zu bleiben.«

Nach dieser Vorrede versenkten sich die zwei Freunde in sehr verwickelte Rechnungen und Dokumente, die, nachdem Herr Perker sie alle pflichtgemäß vorgelegt und durchgegangen hatte, von Herrn Pickwick unter wiederholten Versicherungen seiner Achtung und Freundschaft bezahlt wurden.

Kaum war diese Sache abgemacht, als man ein sehr heftiges und überraschendes Klopfen an der Tür hörte. Es war kein gewöhnliches doppeltes Klopfen, sondern eine fortlaufende, ununterbrochene Reihenfolge der lautesten Einzelschläge, gleich als wäre der Türklopfer mit ewiger Bewegung begabt, oder als hätte die Person draußen vergessen, einmal aufzuhören.

»Mein Gott, was ist das?« rief Perker erschreckend.

»Ich denke, es ist ein Klopfen an die Tür«, sagte Herr Pickwick, als ob über diese Tatsache der geringste Zweifel hätte obwalten können.

Der Klopfer antwortete weit kräftiger, als mit Worten möglich gewesen wäre: denn er fuhr fort mit überraschender Gewalt und großem Lärmen darauf loszuhämmern, ohne einen Augenblick auszusetzen.

»Wahrhaftig«, sagte Perker, die Klingel ziehend, »wir müssen Lärm im Hause machen. – Herr Lowten, hören Sie kein Klopfen?«

»Ich will die Tür im Augenblick öffnen«, erwiderte der Schreiber.

Der Klopfer schien die Antwort zu hören und zu versichern, daß es rein unmöglich sei, so lange zu warten. Er machte ein entsetzliches Getöse.

»Das ist ja schrecklich«, sagte Herr Pickwick, seine Ohren verstopfend.

»Tummeln Sie sich, Herr Lowten«, rief Perker hinaus, »sonst wird ja die Tür eingeschlagen.«

Herr Lowten, der eben in einem dunklen Nebenstübchen seine Hände gewaschen hatte, sprang an die Tür, drückte die Schnalle auf und erblickte die Erscheinung, die im nächsten Kapitel beschrieben werden soll.

  1. Die Feder, die Herr Lowton in der guten alten Zeit gebrauchte.

Sechsundvierzigstes Kapitel


Sechsundvierzigstes Kapitel

Schildert eine rührende Zusammenkunft Herrn Samuel Wellers mit einem Familienkreis. Herr Pickwick macht die Runde in der kleinen Welt, darinnen er wohnt, und faßt den Entschluß, künftighin so wenig wie möglich mit ihr zu verkehren.

Einige Tage nach seiner Gefangensetzung ging Herr Samuel Weller des Morgens, nachdem er das Zimmer seines Herrn mit aller möglichen Sorgfalt in Ordnung gebracht hatte und seinen Herrn behaglich über seinen Büchern und Papieren sitzen sah, mit sich selbst zu Rate, wie er die nächsten zwei Stunden am angemessensten verwenden könnte. Der Morgen war schön, und Sam kam aus den Gedanken, daß eine Flasche Porter in der freien Luft seine nächste Viertelstunde ebensogut erheitern würde, als irgendeine andere kleine Erholung, deren er sich erfreuen könnte.

Auf diesen Schluß gekommen, ging er in die Schenkstube, und nachdem er das Bier und überdies noch die ehegestrige Zeitung bekommen hatte, begab er sich auf die Kugelbahn, setzte sich auf eine Bank und begann, sich auf eine sehr gesetzte und systematische Methode zu unterhalten.

Vor allem nahm er einen erfrischenden Schluck Bier zu sich, sah dann zu einem Fenster empor und beglückte eine junge Dame, die hinter diesem Kartoffeln schälte, mit einem platonischen Blinzeln. Dann entfaltete er die Zeitung und gab sich Mühe, die Polizeiberichte nach außen zu wenden. Da das bei dem sich darin verfangenden Winde eine anstrengende und schwierige Arbeit war, so nahm er nach deren Vollendung einen zweiten Schluck Bier. Dann las er zwei Zeilen und unterbrach diese Beschäftigung, um einigen Männern zuzusehen, die ein Racketspiel zum Schluß brachten, nach dessen Beendigung er beifälligerweise »sehr gut« rief. Dann ließ er seine Augen im Kreise der Zuschauer die Runde machen, um sich zu überzeugen, ob ihre Gefühle mit den seinen zusammenträfen. Weiter sah er sich veranlaßt, auch das Fenster hinaufzusehen: und da die junge Dame noch immer dort stand, so erforderte es die allgemeine Höflichkeit, ihr wieder zuzublinzeln und in einem andern Schluck Bier mit stummem Wink ihre Gesundheit zu trinken, was Sam sofort tat. Nachdem er einem jungen, der solchem Beginnen mit weitgeöffneten Augen zusah, einen furchtbaren Zornblick zugeworfen hatte, schlug er seine Beine übereinander und begann nun, die Zeitung mit beiden Händen haltend, in allem Ernste zu lesen.

Kaum hatte er sich in den erforderlichen Zustand des Nachdenkens versetzt, als er aus einem entfernten Gange seinen eigenen Namen zu hören glaubte. Das war auch keine Täuschung, denn der Name lief alsbald von Mund zu Mund, und in wenigen Sekunden erzitterte die Luft mit lauter »Weller«.

»Hier!« schrie Sam mit Stentorstimme. »Was gibt’s? Wer fragt nach ihm? Ist ein Eilbote gekommen, um zu melden, daß mein Landhaus in Flammen steht?«

»In der Halle fragt jemand nach Ihnen«, sagte ein Mann, der neben ihm stand.

»Geben Sie auf das Blatt und den Krug acht, alter Kamerad, wollen Sie?« bat Sam. »Ich komme. Bei Gott, wenn sie mich vor die Schranken riefen, so könnten sie keinen größeren Lärm machen.«

Diese Worte unterstrich er durch einen sanften Schlag an den Kopf des vorerwähnten jungen Herrn, der, die unmittelbare Nähe der verlangten Person nicht ahnend, aus Leibeskräften »Weller« schrie. Sam eilte über den Hof und sprang die Treppe hinauf in die Halle. Hier war das erste, was seine Augen sahen, sein geliebter Vater, der mit dem Hute in der Hand auf der untersten Treppenstufe saß und alle halbe Minuten aus vollem Halse »Weller« rief.

»Warum schreit Ihr denn so?« fragte Sam energisch, als der alte Herr eben einen weiteren Schrei ausgestoßen hatte. »Ihr macht Euch ja so heiß, daß Ihr wie ein geplagter Glasbläser ausseht. Was gibt’s?«

»Aha!« rief der alte Herr: »ich fürchtete schon, du möchtest einen Gang um den Regentschaftspark gemacht haben, Sammy.«

»Still!« sagte Sam, »niemand verhöhnt das Opfer des Geizes. Und geht von dieser Treppe weg. Warum sitzt Ihr denn hier? Da ist doch gewiß mein Logis nicht.«

»Ich muß dir einen Spaß erzählen, Sammy«, versetzte der ältere Weller aufstehend.

»Wartet einen Augenblick«, sagte Sam. »Ihr seid ganz weiß hinten.«

»Das ist recht, Sammy, bürste mich ab«, versetzte Herr Weller, als ihn sein Sohn abstäubte. »Es möchte hier ein außerordentliches Ereignis sein, wenn jemand etwas Weißes auf dem Leibe hätte – nicht wahr, Sammy?«

Als Herr Weller sich vor Lachen schütteln wollte, winkte ihm Sam, innezuhalten.

»Seid ruhig«, sagte Sam. »Ein solcher alter Narr ist doch noch nie auf die Welt gekommen. Was habt Ihr jetzt zu lachen?«

»Sammy«, versetzte Herr Weller sich die Stirne abwischend, »ich fürchte, mich trifft dieser Tage noch der Schlag vor lauter Lachen.«

»Warum setzt Ihr Euch dem aus?« fragte Sam. »Nun was wolltet Ihr mir erzählen?«

»Wer, glaubst du, daß mit mir hierher gekommen sei, Samuel?« fragte Herr Weller, einen oder zwei Schritte zurücktretend, indem er den Mund aufsperrte und die Brauen in die Höhe zog.

»Pell?« sagte Sam.

Herr Weller schüttelte den Kopf und dehnte seine roten Backen durch das Gelächter aus, das er hervorzudrängen versuchte.

»Der Buntscheckige vielleicht?« riet Sam.

Herr Weller schüttelte wieder den Kopf.

»Nun, wer, denn?« fragte Sam.

»Deine Stiefmutter«, erwiderte Herr Weller.

Und es war ein Glück, daß er das endlich verriet, sonst wären seine Backen bei der unmäßigen Anstrengung unvermeidlich geborsten.

»Deine Stiefmutter, Sammy«, sagte Herr Weller, »und die Rotnase, mein Junge, die Rotnase. Ho! Ho! Ho!«

Bei diesen Worten bekam Herr Weller Lachkrämpfe, während ihn Sam mit einem breiten Grinsen ansah, das sich allmählich über sein ganzes Gesicht verbreitete.

»Sie sind hierher gekommen, um dir ins Gewissen zu reden, Samuel«, sagte Herr Weller, sich die Augen wischend. »Laß nur nichts von deinem merkwürdigen Gläubiger merken, Sammy.«

»Was? Wissen sie nicht, wer es ist?« fragte Sam.

»Nicht im mindesten«, versetzte sein Vater.

»Wo sind sie?« fragte Sam, mit dem Alten um die Wette lachend.

»In der Snuggerey«, versetzte Herr Weller. »Glaubst du, die Rotnase gehe hin, wo es nichts Gebranntes gibt? Nie, Samuel – nie. Wir hatten diesen Morgen eine sehr hübsche Fahrt vom Marquis hierher«, sagte Herr Weller, als er vom Lachen wieder mehr zu sich kam. »Ich spannte den alten Schecken in das alte Wägelchen, das dem ersten Manne deiner Stiefmutter gehört hatte. Man hob einen Armstuhl für den Hirten hinauf; und ich will verdammt sein«, fügte Herr Weller mit dem Blicke tiefer Verachtung bei, »wenn sie nicht eine tragbare Treppe auf die Straße herausschleppten, um dem Hirten das Aufsteigen bequem zu machen.«

»Das kann doch unmöglich Euer Ernst sein?« bemerkte Sam.

»Purer Ernst«, versetzte sein Vater, »und ich wünschte nur, du hättest es gesehen, wie er sich beim Aufsteigen an den Leitern festklammerte, als fürchtete er, sechs volle Fuß hinabzustürzen und in Million Stücke zerschmettert zu werden. Endlich plumpte er hinein; wir fuhren von dannen, und ich meine fast, – ich sage, ich meine fast, Samuel – daß er ordentlich gerüttelt wurde, wenn’s um die Ecken ging.«

»Vermutlich fuhret Ihr an ein Paar Pfosten an?« fragte Sam.

»Ich fürchte«, versetzte Herr Weller im Feuer seines Gebärdenspiels – »ich fürchte, ich streifte an einem oder zwei vorbei, Sammy: er flog nach allen Seiten aus seinem Armstuhl heraus.«

Hier schüttelte der Alte seinen Kopf gewaltig und wurde von einem heiseren inneren Kollern befallen, das sein Gesicht bis zum Sprengen auftrieb – Symptome, die seinen Sohn nicht wenig beunruhigten.

»Sei unbesorgt, Sammy – sei unbesorgt«, sagte der Alte, als er nach ungeheurer Anstrengung und verschiedenen konvulsivischen Stößen gegen den Boden seine Stimme wiedererlangt hatte. »Es ist nur eine Art von stillem Lachen, das ich zum Ausbruch kommen lassen will, Sammy.«

»Nun, wenn es ist, was es ist«, sagte Sam, »so wäre es besser. Ihr ließet’s drinnen. Ihr werdet finden, daß diese Erfindung etwas gefährlicher Natur ist.

»Gefällt sie dir nicht, Sammy?« fragte der Alte.

»Nicht im geringsten«, versetzte Sam.

»Gut«, sagte Herr Weller, indem ihm immer noch die Tränen über die Wangen liefen, »es wäre eine große Erleichterung für mich gewesen, wenn mir’s gelungen wäre, und hätte mir und deiner Stiefmutter eine große Menge Reden erspart: aber ich fürchte, du hast recht, Sammy: es grenzt zu nahe an das Schlagartige – viel zu nahe, Samuel.«

So weit war die Unterhaltung gediehen, als sie an der Tür der Snuggery ankamen, in die Sam alsbald eintrat, nachdem er zuvor einen Augenblick stehengeblieben war, um über die Schulter weg einen schlauen Blick auf seinen verehrten Erzeuger zu werfen, der immer noch kicherte.

»Stiefmutter«, sagte Sam, die Dame höflich grüßend, »sehr verbunden für Ihren gütigen Besuch. Hirte, wie geht es Ihnen?«

»O Samuel!« sagte Frau Weller, »das ist fürchterlich.«

»Nicht im mindesten, Madame«, versetzte Sam; »oder ist es, das Hirte?«

Herr Stiggins hob seine Hände empor und verdrehte seine Augen, bis nur noch das Weiße oder vielmehr das Gelbe allein sichtbar war, erwiderte aber nichts.

»Ist der Herr mit einem schmerzhaften Leiden behaftet?« fragte Sam, seine Stiefmutter mit einem Blicke ansehend, der um Aufschluß bat.

»Der gute Mann ist bekümmert, Sie hier zu sehen, Samuel«, versetzte Frau Weller.

»So; wirklich?« sagte Sam. »Sein Betragen machte mich besorgter möchte es vergessen haben, die letzten Gurken, die er zu sich nahm, mit Pfeffer zu bestreuen. Setzen Sie sich, Sir; wir machen keine Zeche für das Sitzen, wie der König bemerkte, als er seine Minister absetzte.«

»Junger Mann«, versetzte Herr Stiggins hochtrabend, »ich fürchte, das Gefängnis hat Sie noch nicht gedemütigt.«

»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Sam, »was waren Sie so gütig zu bemerken?«

»Ich fürchte, junger Mann, Ihr Charakter ist durch diese Züchtigung nicht demütiger geworden«, sagte Stiggins mit lauter Stimme.

»Sie sind sehr gütig, Sir«, erwiderte Sam. »Ich hoffe, meine Natur gehört nicht zu den demütigen. Sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir.«

Bei diesem Teile des Gesprächs ließen sich in der Gegend des Stuhles, auf dem der ältere Herr Weller saß, aufreizende, gelächterartige Laute vernehmen, über die Frau Weller nach schneller Überlegung aller obwaltenden Umstände allmählich hysterische Krämpfe zu bekommen für ihre unerläßliche Pflicht hielt.

»Weller«, sagte Frau Weller (der Alte saß in einem Winkel): »Weller, komm hervor!«

»Sehr freundlich, meine Liebe«, versetzte Herr Weller: »aber ich fühle mich ganz behaglich, wo ich bin.«

Daraufhin brach Frau Weller in Tränen aus.

»Was fehlt Ihnen, Madame?« fragte Sam.

»O Samuel!« versetzte Frau Weller, »Ihr Vater macht mich ganz unglücklich. Will ihm denn gar nichts zur Raison bringen?«

»Hört Ihr’s«, rief Sam. »Die Dame möchte wissen, ob Euch gar nichts zur Raison bringen würde.«

»Ich bin der Frau Weller für ihre höflichen Fragen sehr viel Dank schuldig, Sammy«, erwiderte der Alte. »Ich denke, eine Pfeife würde mich zur Raison bringen. Könnte ich eine bekommen, Sammy?«

Hier vergoß Frau Weller einige Tränen weiter und Herr Stiggins schluchzte.

»Holla! diesem unglücklichen Herrn wird wieder übel«, sagte Sam, sich rund umsehend. »Wo schmerzt e« Sie jetzt, Sir?«

»Immer noch an der gleichen Stelle, junger Mann«, erwiderte Herr Stiggins: »immer noch an der gleichen Stelle.«

»Wo mag das sein, Sir?« fragte Sam anscheinend mit großer Einfalt.

»Im Herzen, junger Mann«, entgegnete Herr Stiggins, seinen Regenschirm an die Weste setzend.

Bei dieser rührenden Antwort konnte Frau Weiter ihre Gefühle unmöglich unterdrücken. Sie schluchzte laut und stellte die Behauptung auf, der Mann mit der roten Nase sei ein Heiliger; worauf Herr Weller senior mit gedämpftem Tone die Äußerung wagte, er müsse der Vertreter der vereinigten Gemeinden des heiligen Simon Außen und des heiligen Walker Innen sein.

»Ich fürchte, liebe Verwandte, dieser Herr mit seinen verdrehten Gesichtszügen bekommt Durst von dem traurigen Anblick, den er vor sich hat. Ist das der Fall, Frau Mutter?«

Die würdige Dame sah Herrn Stiggins forschend an, und der Herr ließ seine Augen rollen und faßte seine Kehle mit der rechten Hand an, wobei er die Handlung des Schlingens mimisch darstellte, um dadurch anzudeuten, daß er Durst habe.

»Ich fürchte, seine Gefühle haben ihn durstig gemacht«, bemerkte Herr Weller düster.

»Was ist Ihr gewöhnliches Getränk, Sir?« fragte Sam.

»O, mein lieber junger Freund!« versetzte Herr Stiggins, »Getränke sind Eitelkeiten.«

»Nur zu wahr; zu wahr, in der Tat«, bemerkte Frau Weller schluchzend, mit beifälligem Kopfnicken.

»Wohlan«, sagte Sam, »ich gebe es zu, Sir, aber Ihre Lieblingseitelkeit. Welche Eitelkeit schmeckt Ihnen am besten, Sir?«

»Ach mein lieber junger Freund«, versetzte Herr Stiggins, »ich verachte alle. Wenn«, fuhr Herr Stiggins fort, »wenn es eins gibt, das weniger gehässig ist, als ein anderes, so ist es der Geist, den man Rum nennt – warm, mein lieber junger Freund, mit drei Stückchen Zucker für das Glas.«

»Tut mir sehr leid. Ihnen sagen zu müssen«, versetzte Sam, »daß es nicht gestattet ist, Ihre Lieblingseitelkeit in diesem Lokale zu verkaufen.«

»Ach, über die Hartherzigkeit dieser verstockten Menschen!« rief Herr Stiggins aus. »Ach, über die fluchenswürdige Grausamkeit dieser unmenschlichen Verfolger!«

Mit diesen Worten hob Herr Stiggins wieder seine Augen auf und stieß den Regenschirm gegen seine Brust. Wir lassen dem ehrwürdigen Mann nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn wir sagen, sein Unwille war in der Tat aufrichtig und ungeheuchelt.

Nachdem Frau Weller und der Mann mit der roten Nase über diesen unmenschlichen Gebrauch aus allen Kräften losgezogen und gegen die Urheber desselben eine Menge frommer und heiliger Verwünschungen ausgestoßen hatten, schlug der letztere eine Flasche Portwein mit etwas warmem Wasser, Gewürz und Zucker vor, weil dieses dem Magen sehr dienlich sei und weniger nach Eitelkeit schmecke, als viele andere Mischungen. Es war also befohlen, ihn zu bereiten und während der Bereitung sahen der Mann mit der roten Nase und Frau Weller auf den älteren Weller und schluchzten.

»Nun, Sammy«, sagte dieser Gentleman, »ich hoffe, du bist über diesen leibhaftigen Besuch sehr erfreut? Eine sehr heitere und lehrreiche Unterhaltung, Sammy, nicht wahr?«

»Ihr seid ein Verworfener«, entgegnete Sam; »und ich wünschte, Ihr richtetet keine so ruchlosen Bemerkungen an mich.«

Weit entfernt, durch diese höchst zeitgemäße Erwiderung erbaut zu werden, verzog der ältere Herr Weller sein Gesicht plötzlich zu einem breiten Grinsen. Da dieses unveränderliche Benehmen die Dame und Herrn Stiggins veranlaßte, die Augen zu schließen und unruhig auf ihren Stühlen hin- und herzurücken, so führte er noch mehrere Pantomimen aus, die das Verlangen andeuteten, vorbesagten Stiggins eins auf die Nase zu versetzen – ein Verlangen, dessen Befriedigung sein Herz sehr zu erleichtern versprach. Die Gesten des alten Weller blieben übrigens jenen beiden kaum unbekannt. Herr Stiggins war nämlich bei einem zufälligen Blick auf den ankommenden Glühwein mit seinem Kopf heftig gegen die geballte Faust gestoßen, die Herr Weller einige Minuten lang, nur zwei Zoll von seinem Ohre entfernt, wie ein Feuerrad kreisen ließ.

»Was reckt Ihr Eure Hand auf diese rohe Weise nach dem Becher aus?« rief Sam plötzlich. »Seht Ihr denn nicht, daß Ihr den Herrn da stoßt?«

»Ich wollte das nicht, Sammy«, sagte Herr Weller, durch den Zusammenprall denn doch einigermaßen in Verlegenheit gebracht.

»Versuchen Sie einmal eine innerliche Medizin, Sir«, bemerkte Sam, als der rotnasige Herr sich mit kläglicher Miene am Kopf scheuerte. »Was halten Sie von einer solchen warmen Eitelkeit, Sir?«

Herr Stiggins antwortete nicht mit Worten, aber sein Benehmen war verständlich. Er kostete den Inhalt des Glases, das ihm Sam in die Hand gegeben hatte, und stieß seinen Regenschirm auf den Boden. Dann kostete er wieder, die Magengegend zwei- bis dreimal behaglich mit der Hand streichend; schließlich trank er das Ganze auf einen Zug aus, schmatzte mit den Lippen und hielt den Becher hin, um ihn zum zweitenmal füllen zu lassen.

Auch Frau Weller blieb nicht zurück, wo es galt, der Mischung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die gute Dame protestierte anfangs, sie könne keinen Tropfen trinken, – dann trank sie eine kleinen Tropfen –- dann einen großen Tropfen – und dann eine große Menge Tropfen, und da ihre Gefühle von der Natur derjenigen Substanzen waren, die durch Anwendung gebrannter Wasser stark angegriffen werden, so ließ sie bei jedem Tropfen Glühwein einen Tränentropfen fallen und ihre Gefühle so sehr zerfließen, daß sie endlich eine sehr anständige und imposante Höhe des Elends erreichte.

Der ältere Herr Weller gab bei der Beobachtung dieser Zeichen und Merkmale sein Mißfallen auf mannigfache Weise zu erkennen. Als nun Herr Stiggins, nach einem zweiten Kruge desselben Inhalts, kläglich zu seufzen anfing, so legte er seine Unzufriedenheit mit der ganzen Aufführung durch verschiedenes zorniges Gebrumme und Bemerkungen wie »Alfanzereien« offen an den Tag.

»Ich will dir sagen, was es ist, Samuel, mein Junge«, flüsterte der alte Herr, nach einer langen, aufmerksamen Beobachtung seiner Frau und Herrn Stiggins, seinem Sohn ins Ohr: »ich glaube, es muß deiner Stiefmutter und dem Rotnasigen im Leib nicht recht wohl sein.«

»Wie meint Ihr das?« fragte Sam.

»Ich meine, Sammy«, versetzte der alte Herr, »was sie trinken, scheint ihnen nicht zur Nahrung zu dienen: es verwandelt sich alles plötzlich in warmes Wasser und kommt durch die Augen wieder heraus. Ich versichere dich, Sammy, es ist ein Fehler in ihrer Konstitution.«

Herr Weller brachte seine wissenschaftliche Ansicht mit einer Menge bestätigender Winke und Gebärden vor: und als Frau Weller dieselben bemerkte und irgendeine mißliebige Beziehung auf sich oder Herrn Stiggins oder beide bezog, stand sie im Begriff, außerordentlich unwohl zu werden, während Herr Stiggins, sich so gut wie möglich auf die Beine helfend, in einer erbaulichen Rede fortfuhr, die auf das Seelenheil der Gesellschaft, insbesondere aber Herrn Samuels, abzielte. Er beschwor Weller Junior in rührenden Ausdrücken, die Sünde zu fliehen, der er anheimgefallen sei, alle Heuchelei und allen Hochmut zu meiden, und in allen Stücken ihn (Stiggins) zum Neuster und Vorbild zu nehmen. Dann könne er früher oder später zu dem köstlichen Bewußtsein gelangen, daß er, gleich ihm, ein höchst achtbarer und tadelloser Charakter und alle seine Bekannten und Freunde rettungslos verloren und verworfen seien – ein Bewußtsein, sagte er, das ihm die größte Seligkeit bereiten würde.

Er beschwor ihn ferner, vor allen Dingen das Laster der Trunkenheit zu fliehen, das er den unflätigen Gewohnheiten der Schweine und den giftigen und verderblichen Arzneien verglich, die in den Mund aufgenommen, das Gedächtnis vernichteten. An dieser Stelle seiner Rede wurde der ehrwürdige Herr mit der roten Nase besonders unzusammenhängend, und im Feuer der Beredsamkeit hin- und herschwankend, mußte er sich an der Stuhllehne halten, um das Gleichgewicht zu behaupten.

Herr Stiggins suchte seine Zuhörer zwar nicht vor den falschen Propheten und elenden Spöttern über die Religion zu warnen, die ohne den Verstand, die ersten Lehrsätze de« Glaubens auszulegen, oder ohne das Herz, die Grundwahrheiten zu empfinden, gefährlichere Mitglieder der Gesellschaft sind, als der gemeine Verbrecher: denn sie üben notwendig auf die Schwächsten und am wenigsten Unterrichteten die stärkste Herrschaft aus, setzen alles, was am heiligsten gehalten werden sollte, herab, machen es verächtlich und bringen ganze Klassen von tugendhaften und sittlich guten Menschen vieler wertvollen Sekten und Glaubenspartien in üblen Ruf. Aber da Herr Stiggins sich eine geraume Zeitlang an der Stuhllehne festhielt und das eine Auge geschlossen hatte, während er mit dem andern fortwährend blinzelte, so läßt sich annehmen, daß er an all das dachte, aber es weislich bei sich behielt.

Während dieser Predigt seufzte und weinte Frau Weller am Schlüsse der Abschnitte, während Sam mit übergeschlagenen Beinen und auf der Seitenlehne seines Stuhles ruhenden Armen den Sprecher mit einem süßen, milden Lächeln betrachtete, und gelegentlich einen Blick des Verständnisses auf den alten Herrn warf, der im Anfang entzückt war und ungefähr in der Mitte einschlief.

»Bravo! ganz vortrefflich!« rief Sam, als der Mann mit der roten Nase nach dem Schlüsse der Rede seine abgetragenen Handschuhe anzog und, während dieses Geschäft«, die Finger durch die durchlöcherten Enden steckte, bis die Knöchel sichtbar wurden – »ganz vortrefflich.«

»Ich hoffe, es wird bei Ihnen anschlagen, Samuel«, sagte Frau Weller feierlich.

»Ich denke auch, Stiefmutter«, versetzte Sam.

»Ich wollte, es schlüge auch bei Ihrem Vater an«, sagte Frau Weller.

»Danke dir, meine Teure«, erwiderte Herr Weller senior. »Welchen Eindruck macht es denn auf dich selbst, meine Liebe?«

»Spötter!« rief Frau Weller.

»Unerleuchteter Mann!« sagte der ehrwürdige Herr Stiggins.

»Wenn ich kein besseres Licht bekomme, als Ihren Mondschein, mein würdiges Goldkind«, versetzte der ältere Herr Weller, »so ist es sehr wahrscheinlich, daß ich ewig eine Nachtkutsche fahren werde, bis ich ganz von der Lebensstraße Abschied nehme. Jetzt aber, Frau Weller, wenn der Schecke noch länger am Futtertrog steht, so hält er mir auf dem Heimweg nicht mehr Stand und wirft vielleicht den Armstuhl samt dem Hirten in diese oder jene Hecke.«

Auf diese Bemerkung nahm Herr Stiggins in augenscheinlicher Bestürzung Hut und Regenschirm und drang auf alsbaldige Abreise, womit Frau Weller ebenfalls zufrieden war. Sam ging mit ihnen bis ans Gefängnistor, wo er einen zärtlichen Abschied von seinen Gästen nahm.

»Adio, Samuel«, sagte der alte Herr.

»Was heißt das, Adio?« fragte Sam.

»Nun denn: so lebe wohl«, sagte der alte Herr,

»Weiter habt Ihr nichts gewußt?« fragte Sam. »Nun, so lebt wohl, alter Racker.«

»Sammy«, flüsterte Herr Weller, vorsichtig um sich blickend, »meine Empfehlung an deinen Prinzipal, und wenn er sich einmal eines Besseren besinne, so solle er es nur mich wissen lassen. Ich und der Kunsttischler haben miteinander einen Plan ausgeheckt, ihn herauszukriegen. Ein Piano, Samuel – ein Piano!« fügte Herr Weller hinzu, indem er seinen Sohn mit der Rückseite seiner Hand auf den Brustkasten schlug und ein paar Schritte zurücktrat.

»Was meint Ihr damit?« fragte Sam.

»Ein Pianoforte, Samuel«, erwiderte Herr Weller noch geheimnisvoller; »er kann es mieten: so eins, wo man nicht darauf spielt, Sammy.«

»Und wozu soll das gut sein?« meinte Sam.

»Er soll zu meinem Freund, dem Kunsttischler schicken, und es holen lassen«, erklärte Herr Weiler. »Verstehst du mich jetzt?«

»Nein«, versicherte Sam.

»Es ist gar nichts dabei zu riskieren«, flüsterte sein Vater. »Er kann sich mit seinem Hut und seinen Schuhen hineinlegen, und durch das Gestell, das hohl ist, frische Luft schöpfen. Wir halten ein Schiff nach Amerika für ihn bereit. Die amerikanische Regierung gibt ihn nicht heraus, sobald sie sieht, daß er Geld zu verzehren hat, Sammy. Dort kann dein Prinzipal bleiben, bis Frau Bardell tot ist, oder die Herren Dodson und Fogg am Galgen hängen, welches letztere wahrscheinlich zuerst geschehen wird, Sammy. Dann soll er zurückkommen und ein Buch über die Amerikaner schreiben, das ihm alle seine Reisekosten und noch mehr einträgt, wenn er ihnen nur tüchtig heimleuchtet.«

Herr Weller flüsterte diesen kurzen Abriß von seinem Komplott dem Sohne erregt ins Ohr; dann aber gab er, als fürchte er, durch ein weiteres Gespräch die Wirkung seiner unerhörten Mitteilung zu schwächen, den Kutschergruß und verschwand.

Sam hatte kaum seine gewöhnliche Ruhe wieder erlangt, die durch die geheime Mitteilung seines verehrten Vaters gewaltig gestört worden war, als Herr Pickwick zu ihm trat.

»Sam«, sprach dieser Gentleman.

»Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Ich wünsche einen Gang durch das ganze Gefängnis zu machen, und du sollst mich dabei begleiten. Da kommt ja eben ein Gefangener, den wir kennen, Sam«, fügte Herr Pickwick lächelnd hinzu.

»Wer ist es, Sir?« fragte Herr Weller; »der Gentleman mit dem Krauskopf oder der interessante Herr in den Strümpfen?«

»Keiner von beiden«, erwiderte Herr Pickwick. »Ein viel älterer Freund von dir, Sam.«

»Von mir, Sir?« rief Herr Weller.

»Du mußt dich dieses Herrn noch ganz gut erinnern«, sagte Herr Pickwick, »sonst hättest du ja ein weit schlechteres Gedächtnis für alte Bekannte, als ich dir zutrauen kann. Still! kein Wort mehr, Sam – keine Silbe. Da ist er.«

Während Herr Pickwick sprach, kam Jingle herbei. Er sah weniger elend aus, als zuvor; denn er trug seine bloß halbabgenutzten Kleider, die er mit Herrn Pickwicks Hilfe aus der Gefangenschaft des Leihhauses gelöst hatte. Auch hatte er ein weißes Hemd an, und seine Haare waren frisch gestutzt. Gleichwohl war er sehr blaß und mager, und als er, auf einen Stock sich stützend, langsam heranschlich, konnte man ihm leicht ansehen, daß er durch Krankheit und Mangel hart gelitten hatte und noch immer äußerst schwach war. Er zog seinen Hut, als Herr Pickwick ihn grüßte, und beim Anblick Sam Wellers schien er sehr gedemütigt und beschämt.

Dicht hinter ihm erschien Job Trotter, in dessen Sündenregister jedenfalls Mangel an Treue und Anhänglichkeit an seinen Kameraden keinen Platz findet. Er war noch immer zerlumpt und schmutzig, sein Gesicht aber nicht mehr ganz so hohl, wie bei seinem ersten Zusammentreffen mit Herrn Pickwick vor einigen Tagen. Als er gegen unsern wohlwollenden alten Freund den Hut abnahm, murmelte er einige abgebrochene Ausdrücke der Dankbarkeit und stammelte etwas von Errettung vorm Hungertode.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick, ihn ungeduldig unterbrechend, »Sie können mit Sam nachkommen. Ich wünsche Sie zu sprechen, Herr Jingle. Können Sie gehen ohne seinen Arm?«

»O ja, Sir – ganz zu Diensten – nicht zu schnell – Beine schlottrig – Kopf betäubt – immer im Ring herum – erdbebenartige Empfindung – ganz erdbebenartig.«

»Da, geben Sie mir Ihren Arm«, sagte Herr Pickwick.

»Nein, nein«, erwiderte Jingle, »unmöglich, – zu viel Güte.«

»Unsinn!« sagte Herr Pickwick; »stützen Sie sich auf mich, ich will es so haben, Sir.«

Da Herr Pickwick sah, daß Jingle äußerst aufgeregt, verwirrt und unschlüssig war, so brach er den Handel kurz ab, indem er den Arm des kranken Komödianten durch den seinen steckte und ihn fortführte, ohne noch ein Wort darüber zu verlieren.

Während dieser ganzen Zeit zeigte Herrn Samuel Wellers Angesicht einen Ausdruck des überwältigendsten und überschwenglichsten Erstaunens, das sich die Einbildungskraft nur vormalen kann. Nachdem er in tiefem Schweigen von Job zu Jingle und von Jingle zu Job geblickt, stieß er endlich leise die Worte aus: »Nun, das ist wirklich …!« und wiederholte sie wenigstens zwanzig Mal. Nach dieser Übung aber schien er seiner Stimme gänzlich beraubt zu sein, und warf in Arger, Verworrenheit und Verwunderung seine Augen aufs neue zuerst auf den einen und dann auf den andern.

»Nun, Sam«, sagte Herr Pickwick sich umsehend.

»Ich komme, Sir«, erwiderte Herr Weller, indem er seinem Herrn mechanisch nachfolgte; und noch immer wandte er seine Augen nicht von Herrn Job Trotter ab, der schweigend ihm zur Seite ging.

Job heftete seine Blicke einige Zeit auf den Boden, und Sam, der die seinigen an Jobs Gesicht gleichsam geklebt hatte, rannte gegen alle Leute, die ihm begegneten, an, fiel über kleine Kinder, stolperte an Treppen und Geländern und schien von all dem nichts zu bemerken, bis Job verstohlen aufblickte und sagte:

»Wie geht es Ihnen, Herr Weller?«

»Ja, er ist’s!« rief Sam, und nachdem er Jobs Identität zweifellos festgestellt, schlug er sich auf das Bein und machte seinen Gefühlen in einem langen, lauten Pfeifen Luft.

»Mit mir hat es sich sehr geändert, Sir«, sagte Job.

»Das sehe ich«, rief Herr Weller, mit unverstellter Verwunderung die Lumpen seines Begleiters betrachtend. »Es ist aber ein schlechter Tausch gewesen, wie der Bauer sagte, als er zwei verdächtige Schillinge und sechs Pence in kleiner Münze für eine gute halbe Krone eingehandelt hatte.«

»Ja, es ist wahr«, versetzte Job den Kopf schüttelnd. »Die Zeit des Betrugs ist jetzt vorbei, Herr Weller. Tränen«, fügte er halb verschmitzt hinzu, – »Tränen sind weder die einzigen Beweise von Kummer und Elend, noch die besten.«

»Das weiß der liebe Gott!« erwiderte Sam ausdrucksvoll.

»Man kann sie auch künstlich hervorrufen, Herr Weller«, fuhr Job fort.

»Sehr richtig bemerkt«, versetzte Sam; »es gibt Leute, die immer welche in Bereitschaft halten und den Stöpsel herausziehen können, wann es ihnen paßt.«

»Ja, ja«, sagte Job; »aber, mein lieber Herr Weller, diese Dinge lassen sich doch nicht so leicht nachmachen, und es ist ein gar schmerzhafter Prozeß, sie künstlich hervorzurufen.«

So sprechend deutete er auf seine blassen, eingesunkenen Wangen, schlug seinen Rockärmel zurück und entblößte einen Arm, der aussah, als ob man ihn durch die geringste Berührung abbrechen könnte, so dünn und spitzig stachen die Knochen unter seiner dünnen Fleischdecke hervor.

»Was haben Sie mit sich selbst angefangen?« fragte Sam zusammenschauernd.

»Nichts«, erwiderte Job.

»Nichts?« wiederholte Sam.

»Ich habe schon viele Wochen gar nichts getan«, sagte Job, »und beinahe ebensowenig gegessen und getrunken.«

Sam warf einen umfassenden Blick auf Herrn Trotters dünnes Gesicht und seine ganze jammervolle Erscheinung; dann ergriff er ihn beim Arm und zog ihn rasch mit sich fort.

»Wohin wollen Sie, Herr Weller?« stöhnte Job, der sich aus dem mächtigen Griff seines alten Feindes vergeblich loszuringen suchte.

»Kommen Sie«, sagte Sam, »kommen Sie.«

Er würdigte ihn keiner weiteren Erklärung, bis sie die Snuggery erreicht hatten, wo er einen Krug Porter bestellte, der sogleich gebracht wurde.

»Da«, sagte Sam, »trinken Sie alles bis auf den letzten Tropfen, und dann kehren Sie den Krug um, damit ich sehe, wie Sie die Arznei eingenommen haben.«

»Aber mein bester Herr Weller«, wendete Job ein.

»Hinunter damit«, sprach Sam gebieterisch.

Dieser Aufforderung zufolge erhob Herr Trotter den Krug zu seinen Lippen und leerte ihn in kleinen, beinahe unmerkbaren Schlucken bis auf den Grund. Einmal, aber auch nur ein einziges Mal, pausierte er, um einen langen Atemzug zu tun, ohne aber sein Gesicht von dem Gefäße zu erheben, das er einige Augenblicke darauf mit ausgestrecktem Arm umgekehrt hinhielt. Nichts fiel auf den Boden, als ein paar Tröpfchen Schaum, die sich langsam vom Rande losmachten und träge hinabträufelten.

»Bravo«, sagte Sam. »Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Besser, Sir, ich glaube besser«, antwortete Job.

»Das versteht sich«, sagte San, überzeugt. »Es ist gerade, wie wenn man Gas in einen Luftballon bläst. Ich kann’s mit bloßen Augen sehen, daß Sie unter der Operation stärker werden. Was würden Sie von einer zweiten, ebenso kräftigen Dosis halten?«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir«, antwortete Job; »aber sie würde mir nicht gut sein.

»Nun, meinetwegen«, sagte Sam. »Aber etwas zwischen die Zähne; was würden Sie dazu sagen?«

»Dank sei Ihrem würdigen Herrn, Sir«, antwortete Herr Trotter; »wir haben heute um drei Viertel auf drei Uhr eine gebackene Hammelkeule nebst Kartoffeln gehabt, so daß uns das Kochen erspart war.«

»Was? Hat er für Sie gesorgt?« fragte Sam nachdrucksvoll.

»Ja, Sir«, erwiderte Job, »und noch mehr als das, Herr Weller. Da mein Herr sehr unwohl war, so hat er ein Zimmer für uns gemietet – wir bewohnten vorher ein wahres Hundeloch – und es bezahlt, Sir; auch ist er bei Nacht zu uns gekommen, damit es niemand erfahren sollte. Ja, Herr Weller«, fügte Job, diesmal mit wirklichen Tränen in den Augen hinzu, »diesem Gentleman könnte ich dienen, bis ich tot zu seinen Füßen niedersänke.«

»Bemühen Sie sich nicht, mein Freund«, entgegnete Sam, »kein Wort mehr.«

Job Trotter sah ihn verwundert an.

»Kein Wort mehr, junger Mann, sage ich«, wiederholte Sam fest. »Niemand dient ihm, als ich. Und da wir gerade daran sind, so will ich Sie noch in ein Geheimnis einweihen«, fügte Sam hinzu, indem er das Bier bezahlte. »Ich habe niemals gehört, oder in Geschichtsbüchern gelesen, oder auf Gemälden etwas gesehen von Engeln mit knappen Beinkleidern und Gamaschen – ja auch nicht einmal in Komödien, so viel ich mich erinnere, obgleich das auch aus andern Gründen geschehen sein mag: aber merken Sie sich’s, Job Trotter, er ist dessenungeachtet ein ganz echter und vollkommener Engel, und den Mann möchte ich sehen, der mir zu sagen wagte, er kenne eine besseren.«

Mit dieser Herausforderung steckte Herr Weller das herausbekommene Geld in eine Seitentasche, und unter bekräftigenden Winken und Gesten machte er sich auf, den Gegenstand seiner Rede zu suchen.

Sie fanden Herrn Pickwick auf dem Ballplatze, in einem sehr ernsthaften Gespräch mit Jingle begriffen. Er würdigte die buntscheckigen hier versammelten Gruppen keines Blickes, obschon sie es wohl verdient hätten, daß man sie wenigstens aus Neugier etwas näher ins Auge faßte.

»Gut«, sagte Herr Pickwick, als Sam und sein Begleiter näher kamen, »Sie werden sehen, wie Ihre Gesundheitsumstände sich gestalten, und die Sache inzwischen näher überlegen. Machen Sie mir eine Berechnung, sobald Sie sich stark genug fühlen; ich will es dann bedenken und weiter mit Ihnen sprechen. Jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer. Sie sind müde und dürfen nicht zu lange außen bleiben.«

Ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Funken von seiner alten Lebhaftigkeit oder auch nur von der trübseligen Heiterkeit, die er angenommen hatte, als Herr Pickwick zum ersten Mal in seinem Elend auf ihn stieß, verbeugte sich Herr Alfred Jingle tief, winkte Job, ihm noch nicht zu folgen, und ging langsam hinweg.

»Eine kuriose Szene das, nicht wahr, Sam?« sagte Pickwick, vergnügt um sich blickend.

»Ja, sehr kurios, Sir«, erwiderte Sam. »Die Wunder hören ja gar nicht auf«, fügte er mit sich selbst sprechend hinzu. »Ich müßte mich sehr irren, wenn dieser Jingle da sich nicht mit dem Wasserkarrengeschäft abgegeben hat.«

Der freie Raum, den die Mauer in dem Teile des Fleet, wo Herr Pickwick stand, bildete, war gerade groß genug, um einen passenden Ballplatz abzugeben. Die eine Seite bestand, wie sich von selbst begreift, aus der Mauer selbst, die andere aus dem Teile des Gefängnisses, der nach der St.-Pauls-Kirche18 zu lag. Hier schlenderten oder saßen in allen möglichen Stellungen gedankenlosen Müßiggangs eine Masse Schuldner herum, die größtenteils im Gefängnis den Tag abzuwarten hatten, wo ihre Sache vor dem Zahlungsunfähigkeits- Gericht verhandelt werden sollte, während andere auf verschiedene Termine verwiesen waren, die sie so gut wie möglich hinwegzufaulenzen sich bemühten. Einige waren schäbig gekleidet, andere geputzt, die meisten schmutzig und nur wenige reinlich: alle aber hungerten, waren Tagediebe und schlichen ohne Absicht und Zweck herum, wie die Tiere in einer Menagerie.

An den Fenstern, die die Aussicht auf den Spaziergang beherrschten, räkelten sich ebenfalls eine Menge Leute: Einige in geräuschvoller Unterhaltung mit ihren Bekannten unten begriffen, andere die Bälle auffangend und zurückschleudernd, die ihnen von außen zugeworfen wurden, noch andere den Ballspielern zusehend oder das lärmvolle Getreibe der Kinder überwachend. Schmutzige Weibspersonen mit abgetretenen Schuhen gingen hin und wieder nach der Küche, die sich in einem Winkel des Ballplatzes befand. Kinder schrien, balgten sich herum und spielten miteinander; das Gerassel der Kegel, das Geschrei der Spielenden vermischte sich unaufhörlich mit diesen und hundert andern Tönen. Ringsumher nichts als Getöse und Getümmel, nur in dem kleinen elenden Schuppen wenige Schritte davon nicht, wo ruhig und blaß der Leib des in der vorigen Nacht gestorbenen Kanzleigefangenen lag und das Possenspiel einer Totenschau erwartete. Der Leib! Dies ist der gerichtsgesetzliche Ausdruck für die ruhelos wirbelnde Masse von Sorgen und Ängsten, Gemütsbewegungen, Hoffnungen und Bekümmernissen, die den lebenden Menschen ausmachen. Dem Gesetz war sein Leib verfallen, und da lag er, in’s Grabtuch eingehüllt, ein schauderhafter Zeuge für dessen zärtliche, mitleidsvolle Fürsorge.

»Wünschen Sie vielleicht einen Pfeifladen zu sehen, Sir?« fragte Job Trottet.

»Was verstehen Sie darunter?« fragte Herr Pickwick.

»Ein Pfeifladen, Sir?« fiel Herr Weller ein.

»Was ist das, Sam? – etwa der Laden eines Vogelhändlers?« fragte Herr Pickwick.

»Gott bewahre«, erwiderte Job; »ein Pfeifladen, Sir, ist ein Laden, wo geistige Getränke verkauft werden!«

Herr Job Trotter setzte sofort kurz auseinander, es sei bei schwerer Strafe verboten, Spirituosen in die Schuldgefängnisse einzuführen. Da jedoch diese Artikel bei den allda befindlichen Ladies und Gentlemen in hohem Werte stehen, so sei ein spekulativer Schließer auf den sinnreichen Einfall geraten, zwei oder drei Gefangenen gegen gewisse einträgliche Erkenntlichkeiten den Kleinhandel mit ihrem Lieblingsartikel, Wacholderbeerbranntwein genannt, zu ihrem eigenen Nutzen und Vorteil zu gestatten.

»Dieses System«, fügte Herr Trotter hinzu, »ist, wie Sie sich überzeugen können, allmählich in allen Schuldtürmen eingeführt worden.«

»Ja«, sagte Sam, »und es hat den außerordentlichen Vorteil, daß die Schließer äußerst bedacht sind, jedermann, der diese Schlechtigkeit begehen will, ohne sie bezahlt zu haben, abzufangen, worauf die Sache in die Zeitungen kommt und sie wegen ihrer Wachsamkeit belobt werden. So fangen sie zwei Mücken auf einmal; andere Leute werden von dem Handel abgeschreckt, und sie selbst stellen sich in ein besseres Licht bei ihren Vorgesetzten.«

»Sehr wahr, Herr Weller«, bemerkte Job.

»Gut, aber werden denn diese Zimmer nie untersucht, ob keine geistigen Getränke eingeschmuggelt sind?« fragte Herr Pickwick.

»Freilich, Sir«, erwiderte Sam; »aber die Schließer wissen es vorher und melden es den Pfeifern; dann pfeift man dem Untersuchungsbeamten etwas, wenn er kommt.«

Mittlerweile hatte Job an eine Tür geklopft, die von einem Gentleman mit ungekämmtem Kopf geöffnet wurde. Er verriegelte sie sogleich wieder, als sie darin waren, und die Zähne fletschte, worauf Job ebenfalls die Zähne fletschte und Sam desgleichen. Herr Pickwick aber, in der Meinung, man erwarte dies von ihm, lächelte während der ganzen Dauer des Besuchs unausgesetzt.

Der Gentleman mit dem ungekämmten Kopf schien von dieser stummen Ankündigung ihres Begehrens vollkommen befriedigt. Er zog einen platten steinernen Krug, der etwa zwei Quart halten mochte, unter seiner Bettstelle hervor und schenkte drei Gläser Wacholderbranntwein ein, über die Job Trotter und Sam auf sehr fachmännische Weise verfügten.

»Noch ein Gläschen?« fragte der pfeifende Gentleman.

»Nein«, erwiderte Job Trotter.

Herr Pickwick bezahlte, die Tür wurde aufgeriegelt, und sie gingen hinaus, wobei der ungekämmte Gentleman Herrn Roker, den sein Weg in diesem Augenblick zufällig vorbeiführte, freundlich zuwinkte.

Herr Pickwick durchwanderte von da an noch sämtliche Galerien, ging alle Treppen auf und ab, und machte noch einmal die Runde um den ganzen Hofraum. Die große Masse der Bevölkerung des Gefängnisses schien auf und ab der Rasse Mivius oder Smangle, des Pfarrers, des Metzgers oder des Roßmaklers anzugehören. In allen Winkeln, den besten, wie den schlechtesten, derselbe Schmutz, dasselbe Getümmel und Getöse, dieselben allgemeinen Merkmale. In dieser ganzen Sphäre ein ruhelos verworrenes Umhertreiben: die Leute drängten und wälzten sich hin und her gleich den Schatten in einem unbehaglichen Traum.

»Jetzt habe ich genug gesehen«, sagte Herr Pickwick, als er sich auf seinem kleinen Zimmer in einen Stuhl warf. »Der Kopf tut mir weh von all diesen Szenen, und das Herz nicht minder. Ich will hinfort auf meinem eigenen Stübchen Gefangener bleiben.«

Und Herr Pickwick verharrte standhaft bei diesem Beschlusse. Drei lange Monate blieb er den ganzen Tag eingeschlossen und stahl sich nur bei Nacht, wenn der größere Teil seiner Mitgefangenen im Bett war oder auf seinen Zimmern zechte, hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Seine Gesundheit begann infolge dieses selbstauferlegten strengen Gewahrsam sichtbarlich zu leiden. Allein weder die vielfach wiederholten Bitten Perkers und seiner Freunde, noch die weit öfter wiederholten Warnungen und Mahnungen des Herrn Samuel Weller konnten ihn vermögen, auch nur ein Jota an seinem unbeugsamen Entschlusse zu ändern.

  1. Berühmte alte Kirche und Wahrzeichen Londons.

Siebenundvierzigstes Kapitel.


Siebenundvierzigstes Kapitel.

Erzählt einen rührenden, ober nicht betrüblichen Vorfall, herbeigeführt durch das Zartgefühl der Herren Dodson und Fogg.

Es war in der letzten Woche des Monats Juli, als eine Mietdroschke, jedoch ohne hintenanhängende Nummer, in raschem Trab die Goswellstraße hinauffuhr. Drei Personen waren darinnen eingepfercht, ohne den Kutscher, der, wie natürlich, seinen eigenen kleinen äußern Sitz auf der Seite hatte. Am ledernen Deckel hingen zwei Schals, allem Anschein nach zwei kleinen, streitsüchtig aussehenden Damen gehörig, zwischen denen, auf einen äußerst kleinen Umfang beschränkt, ein Gentleman von linkischem, unterwürfigem Benehmen eingezwängt saß, der, wenn er je eine Bemerkung zu machen wagte, jedesmal von einer der obenerwähnten streitsüchtigen Damen barsch angefahren wurde. Zu guter Letzt gaben die beiden Keiferinnen und der linkische Gentleman dem Kutscher widersprechende Anweisungen, die sämtlich auf den einen Punkt hinzielten, daß er vor Frau Bardells Tür anhalten solle, die, wie der linkische Gentleman in direkter Opposition gegen die streitsüchtigen Damen und ihnen zu Trotz behauptete, eine grüne Tür war und keine gelbe.

»An dem Haus mit der grünen Tür halt‘ an, Schwager«, sagte der linkische Gentleman.

»O du dummer, einfältiger Kerl!« rief eine der streitsüchtigen Ladies. »Nein, an dem Haus mit der gelben Tür, Kutscher!«

Daraufhin ließ der Kutscher, der bei seiner hastigen Bemühung, am Haus mit der grünen Tür zu halten, das Pferd so straff angezogen hatte, daß es beinahe rückwärts in die Droschke hineinfiel, die Vorderfüße seiner Mähre wieder auf den Boden sinken und pausierte.

»Wo soll ich denn halten?« fragte er. »Machen Sie es unter sich aus. Ich frage nur, wo?«

Hier erneuerte sich der Streit mit vermehrter Heftigkeit, und da das Pferd in diesem Augenblick von einer Fliege an seiner Nase beunruhigt wurde, so verwandte der Kutscher humanerweise seine Aufmerksamkeit, nach dem Grundsatz des Gegenreizes mit der Peitsche um dessen Kopf herumzufuchteln.

»Ein langweiliger Tag heute«, sagte endlich eine der streitsüchtigen Damen. »Das Haus mit der gelben Tür, Kutscher.«

Als aber die Droschke in Pracht und Herrlichkeit vor dem Haus mit der gelben Tür vorfuhr, wobei es, wie eine der streitsüchtigen Ladies triumphierend bemerkte, »wahrhaftig mehr Lärm machte, als wenn einer in seinem eigenen Wagen kommt«, und der Kutscher bereits abgestiegen war, eine der Damen herauszuhelfen – siehe, da steckte sich auf einmal der kleine Rundkopf des Masters Thomas Bardell zum Fenster eines Hauses mit einer roten Tür, wenige Nummern weiter, heraus.

»Eine ärgerliche Geschichte«, sagte die Keiferin, dem linkischen Gentleman einen vernichtenden Blick zuwerfend.

»Ich bin nicht daran schuld, liebe Frau«, versetzte der Gentleman.

»Sprich nicht mit mir, du Dummkopf!« erwiderte die Dame. »Das Haus mit der roten Tür, Kutscher. O, wenn je eine Frau mit einem boshaften Taugenichts betrogen worden ist, der seinen Stolz und sein Vergnügen darin sucht, sie bei jeder möglichen Gelegenheit vor Fremden zu blamieren, so bin ich’«!«

»Sie sollten sich vor sich selbst schämen, Raddle«, sagte das andere Frauchen, das niemand anders war als Frau Cluppins.

»Was habe ich denn getan?« fragte Herr Radle.

»Sprich nicht mit mir, du Vieh; ich könnte mich sonst bewogen finden, mein Geschlecht zu vergessen und dich zu schlagen«, sagte Frau Raddle.

Während dieses Zwiegesprächs führte der Kutscher höchst schimpflicherweise das Pferd am Zügel vor das Haus mit der roten Tür, das Master Bardell bereits geöffnet hatte. Wahrhaftig, eine niedrige, schmähliche Art, vor einem Freundeshaus anzukommen! – Kein ungestüm feuriges Heranfliegen von seiten des Tieres, kein Herabspringen und lautes Anklopfen von seiten des Kutschers, kein hastiges, knarrendes Aufreißen der Kutschentür, damit die Ladies nicht im Zug sitzen mußten, und dann der Mann, der die Schals bereithielt – gerade wie ein gemeiner Kutscher! Der ganzen Sache war der Eindruck bereits genommen – es wäre noch anständiger gewesen, zu Fuß zu erscheinen.

»Nun, Tommy«, begann Frau Cluppins, »wie geht es deiner lieben Mutter?«

»O, sehr gut«, erwiderte Master Bardell: »sie ist im Vorderzimmer – alles bereit. Ich bin auch bereit.«

Hier steckte Herr Bardell seine Hände in die Taschen und trippelte auf der untersten Stufe der Haustreppe hin und her.

»Geht sonst niemand mit, Tommy?« sagte Frau Cluppins, ihren Mantel zurechtmachend.

»Frau Sanders auch«, erwiderte Tommy. »Und ich gleichfalls.«

»Der verdammte Bube!« sagte die kleine Frau Cluppins. »Er denkt an nichts, als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!«

»Da bin ich«, sagte Master Bardell.

»Wer sonst noch, mein Lieber?« fuhr Frau Cluppins in einschmeichelnder Weise zu fragen fort.

»Frau Rogers auch, erwiderte Master Bardell, seine Augen sehr weit aufreißend, als er mit dieser Kunde heranrückte.

»Wie? die Dame, die bei euch wohnt?« rief Frau Cluppins.

Herr Bardell steckte seine Hände noch tiefer in seine Taschen und nickte geradezu fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andere sei.

»Wahrhaftig«, sagte Frau Cluppins, »das ist ja eine hübsche Gesellschaft!«

»Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie erst so sagen«, versetzte Master Bardell.

»Was ist’s, Tommy?« sagte Frau Clupping liebkosend. »Du sagst es mir gewiß, Tommy.«

»Nein, nein«, erwiderte Master Bardell, den Kopf schüttelnd und auf der Türschwelle hin- und hertänzelnd.

»Der Blitzjunge!« murmelte Frau Cluppins. »Wie der kleine Spitzbube einen necken kann! Komm, Tommy, sag es deiner lieben Cluppy!«

»Die Mutter hat gesagt, ich dürfe nicht«, entgegnete Master Bardell. »Ich bekomme auch etwas davon.«

Und voll Freude über diese Aussicht tänzelte der frühreife Knabe mit vermehrter Lebhaftigkeit weiter.

Während dieses Verhörs mit dem Kinde hatten Herr und Frau Raddle mit dem Kutscher Streit wegen des Fahrlohns, und als der Sieg sich für den letzteren entschieden hatte, wankte Frau Raddle die Treppe hinauf.

»He, Marianne! was gibt’s?« rief Frau Cluppins.

»Ich zittere am ganzen Leibe, Betty«, stöhnte Frau Raddle. »Raddle ist auch gar kein Mann; er hängt mir alles an den Hals.«

Das war gewiß nicht schön gegen den unglücklichen Herrn Raddle, der beim Beginn des Streits von seiner sanften Ehehälfte auf die Seite gestoßen worden war und den energischen Befehl erhalten hatte, sein Maul zu halten. Trotzdem war ihm keine Gelegenheit vergönnt, sich zu verteidigen: denn Frau Raddle entwickelte unzweideutige Zeichen einer Ohnmacht. Als Frau Bardell, Frau Sanders, ferner die Hausbewohnerin und ihre Magd vom Stubenfenster aus dies bemerkten, stürzten sie eifrig herbei und führten sie ins Haus, wobei sie alle zugleich sprachen und verschiedene Ausdrücke des Mitgefühls fallen ließen, als wäre die gute Frau eine der beklagenswertesten Sterblichen auf Erden. Sie wurde in das Vorderzimmer gebracht und auf ein Sofa niedergelassen. Die Dame vom ersten Stock rannte in den ersten Stock, kehrte mit einem Fläschchen Riechsalz zurück, und indem sie Frau Raddle in den Armen hielt, brachte sie das Riechsalz mit aller weiblichen Sorglichkeit und Zärtlichkeit an ihre Nase, bis diese Dame unter vielem Gestöhne und Sträuben endlich erklärte, es gehe ihr entschieden besser.

»Ach, die Ärmste«, sagte Frau Rogers; »ich kann mir nur zu gut denken, wie es ihr ums Herz sein mag.«

»Die Ärmste! ja, ich kann mir« auch denken«, sagte Frau Sanders.

Und nun fingen die Damen alle im Verein an, zu klagen und zu jammern, sagten, sie könnten sich’s denken, was es sei, und bemitleideten sie von ganzem Herzen; selbst das dreizehn Jahr alte und drei Fuß hohe Dienstmädchen murmelte sein Mitgefühl.

»Aber was hat’s denn gegeben?« fragte Frau Bardell.

»Ach, was hat Sie so angegriffen, Madame?« fragte Frau Rogers.

»O, ich bin abscheulich mißhandelt worden«, erwiderte Frau Raddle in vorwurfsvollem Ton.

Sämtliche Damen warfen entrüstete Blicke auf Herrn Raddle.

»Die ganze Sache ist die«, begann dieser unglückliche Gentleman vortretend: »als wir hier abstiegen, erhob sich ein Streit mit dem Droschkenkutscher – «

Bei Erwähnung dieses Wortes stieß seine Frau ein lautes Geschrei aus, das jede weitere Erklärung unverständlich machte.

»Sie würden besser daran tun, sie ganz uns zu überlassen, Raddle«, sagte Frau Cluppins. »So lange Sie da sind, wird es ihr nicht besser.«

Sämtliche Damen stimmten in dieser Ansicht überein. Herr Raddle wurde aus dem Zimmer getrieben und angewiesen, sich im hintern Hofraum zu ergehen, was er auch etwa eine Viertelstunde Während dieses Zwiegesprächs führte der Kutscher höchst schimpflicherweise das Pferd am Zügel vor das Haus mit der roten Tür, das Master Bardell bereits geöffnet hatte. Wahrhaftig, eine niedrige, schmähliche Art, vor einem Freundeshaus anzukommen! – Kein ungestüm feuriges Heranfliegen von seiten des Tieres, kein Herabspringen und lautes Anklopfen von seiten des Kutschers, kein hastiges, knarrendes Aufreißen der Kutschentür, damit die Ladies nicht im Zug sitzen mußten, und dann der Mann, der die Schals bereithielt – gerade wie ein gemeiner Kutscher! Der ganzen Sache war der Eindruck bereits genommen – es wäre noch anständiger gewesen, zu Fuß zu erscheinen.

»Nun, Tommy«, begann Frau Cluppins, »wie geht es deiner lieben Mutter?«

»O, sehr gut«, erwiderte Master Bardell; »sie ist im Vorderzimmer – alles bereit. Ich bin auch bereit.«

Hier steckte Herr Bardell seine Hände in die Taschen und trippelte auf der untersten Stufe der Haustreppe hin und her.

»Geht sonst niemand mit, Tommy?« sagte Frau Cluppins, ihren Mantel zurechtmachend.

»Frau Sanders auch«, erwiderte Tommy. »Und ich gleichfalls.«

»Der verdammte Bube!« sagte die kleine Frau Cluppins. »Er denkt an nichts, als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!«

»Da bin ich«, sagte Master Bardell.

»Wer sonst noch, mein Lieber?« fuhr Frau Cluppins in einschmeichelnder Weise zu fragen fort.

»Frau Rogers auch, erwiderte Master Bardell, seine Augen sehr weit aufreißend, als er mit dieser Kunde heranrückte.

»Wie? die Dame, die bei euch wohnt?« rief Frau Cluppins.

Herr Bardell steckte seine Hände noch tiefer in seine Taschen und nickte geradezu fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andere sei.

»Wahrhaftig«, sagte Frau Cluppins, »das ist ja eine hübsche Gesellschaft!«

»Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie erst so sagen«, versetzte Master Bardell.

»Was ist’s, Tommy?« sagte Frau Clupping liebkosend. »Du sagst es mir gewiß, Tommy.«

»Nein, nein«, erwiderte Master Bardell, den Kopf schüttelnd und auf der Türschwelle hin- und hertänzelnd.

»Der Blitzjunge!« murmelte Frau Cluppins. »Wie der kleine Spitzbube einen necken kann! Komm, Tommy, sag es deiner lieben Cluppy!«

»Die Mutter hat gesagt, ich dürfe nicht«, entgegnete Master Bardell. »Ich bekomme auch etwas davon.«

Und voll Freude über diese Aussicht tänzelte der frühreife Knabe mit vermehrter Lebhaftigkeit weiter.

Während dieses Verhörs mit dem Kinde hatten Herr und Frau Raddle mit dem Kutscher Streit wegen des Fahrlohns, und als der – ein Versuch, der dadurch im Keime erstickt wurde, daß es dem lieben Jungen einfiel, hinterm Rücken der Großen ein halbes Glas von dem alten Portwein hinabzugießen, wodurch sein Leben auf einige Sekunden in Gefahr geriet – brach die Gesellschaft auf, um eine Kutsche nach Hampstead zu suchen. Diese fand sich bald, und in ein paar Stunden langten sie wohlbehalten im spanischen Teegarten an, wo des unglücklichen Herrn Raddle erste Handlung seiner Gemahlin beinahe einen Rückfall zuzog; denn sie bestand in nichts Geringerem, als daß er sieben Portionen Tee bestellte, während doch, wie die Damen alle einstimmig bemerkten, nichts leichter gewesen wäre, als daß Tommy aus irgendeiner andern beliebigen Tasse getrunken hätte, wenn es der Kellner nicht gerade sah, wodurch dann eine ganze Portion von dem teuren Tee erspart worden wäre.

Aber die Sache ließ sich nun einmal nicht mehr ändern; das Teebrett kam mit sieben Ober- und sieben Untertassen und ebenso vielen Portionen Brot und Butter. Frau Bardell wurde einstimmig zur Präsidentin ernannt, Frau Rogers pflanzte sich zu ihrer Rechten, Frau Raddle zu ihrer Linken auf, und nun ging der Schmaus mit großer Lustigkeit und bestem Erfolg vor sich.

»Wie herrlich es doch auf dem Lande ist!« seufzte Frau Rogers; »ich möchte das ganze Jahr da leben.«

»Das kann unmöglich Ihr Ernst sein, Madame«, erwiderte Frau Bardell schnell; denn auf Rücksicht auf die zu vermietenden Wohnungen war es durchaus nicht ratsam, solche Ansichten zu er mutigen; »es würde Ihnen gewiß nicht gefallen, Madame.«

»Meiner Ansicht nach«, sagte die kleine Frau Cluppins, »sind Sie viel zu lebhaft und gesellschaftlich, um gern auf dem Lande zu wohnen, Madame.«

»Ja, das mag sein, Madame, das mag sein«, seufzte die Bewohnerin de« ersten Stocks.

»Für einsame Leute, die niemand haben, der für sie sorgt oder für den sie selbst sorgen müssen, oder deren Gemüt verletzt ist, oder etwas der Art«, bemerkte Herr Raddle, einige Lustigkeit erringend und um sich blickend, »für solche Leute ist das Landleben ganz gut. Das Land ist für ein krankes Herz, pflegt man zu sagen.«

Der unglückliche Mann hätte alles in der Welt sagen können, es wäre mehr am Platze gewesen, nur das nicht. Frau Bardell brach sogleich in Tränen aus und bat, man möchte sie augenblicklich vom Tische wegführen, worauf das liebe Kind ebenfalls höchst jämmerlich zu schreien begann.

»Sollte man es glauben, Madame«, rief Frau Raddle, sich ingrimmig an die Bewohnerin des ersten Stocks wendend, »sollte man es glauben, daß man einen so dummen Esel zum Mann haben kann, der imstande ist, den ganzen Tag mit den Gefühlen des weiblichen Herzens Spott zu treiben?«

»Aber, liebe Frau«, wandte Herr Raddle ein. »Ich habe es nicht bös gemeint, liebe Frau.«

»Du hast es nicht bös gemeint?« wiederholte Frau Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. »Geh‘ mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr ansehen, du Meerkalb.«

»Sie müssen sich nicht so erhitzen, Marianne«, fiel Frau Cluppins ein. »Sie sollten wirklich auf sich selbst mehr Rücksicht nehmen, was Sie nie tun. – Gehen Sie jetzt, Raddle, Sie machen der guten Seele nur Kummer.«

»Sie hätten besser daran getan, Sir, Ihren Tee für sich allein zu trinken«, sagte Frau Rogers, die dampfende Kanne aufs neue handhabend.

Frau Sanders, die ihrer Gewohnheit gemäß sehr mit dem Butterbrot beschäftigt war, drückte dieselbe Ansicht aus, und Herr Raddle zog sich gänzlich zurück.

Jetzt zappelte und wand sich Master Bardell, der fast schon zu groß zu solchen Liebkosungen war, gewaltig in den Armen seiner Mutter, bei welcher Operation er seine Stiefel auf den Teetisch brachte und einige Verwirrung unter den Tassen und Kannen anrichtete. Doch diese Art von Ohnmachtsanfällen, die bei den Frauen seuchenartig ist, dauert selten lange, und nachdem er sie tüchtig abgeküßt und auch ein wenig angeschrien hatte, kam Frau Bardell wieder zu sich, stellte ihn auf den Boden, wunderte sich, daß sie habe so närrisch sein können, und schenkte aufs neue Tee ein.

In diesem Augenblick vernahm man das Gerassel herannahender Räder. Die Damen blickten auf und sahen eine Mietkutsche am Gartentor anhalten.

»Da kommt noch mehr Gesellschaft«, sagte Frau Sanders.

»Es ist ein Gentleman«, bemerkte Frau Raddle.

»Ach du meine Güte! ist das nicht Herr Jackson, der junge Schreiber bei Dodson und Fogg?« rief Frau Bardell. »Lieber Himmel, am Ende hat Herr Pickwick doch die Entschädigung bezahlt.«

»Oder er will Sie jetzt heiraten!« sagte Frau Cluppins.

»Wahrhaftig, wie langsam der Gentleman ist!« rief Frau Rogers. »Warum tummelt er sich denn nicht?«

Während sie diese Worte sprach, wandte sich Herr Jackson von der Kutsche ab, wo er einige Bemerkungen an einen schäbig gekleideten Mann in schwarzen Beinkleidern gerichtet hatte, der soeben mit einem dicken Eschenstock in der Hand aus dem Wagen hervorgetaucht war, und ging, die Haare unter den Rand seines Hutes streichend, gerade auf die Damen zu.

»Was gibt’s? Ist etwas neues vorgefallen?« rief ihm Frau Bardell voll Eifer entgegen.

»Ganz und gar nichts, Madame«, erwiderte Herr Jackson. »Wie geht es Ihnen, meine Gnädigen? Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich mich eindränge – aber das Geschäft, meine Gnädigen, das Geschäft.«

Mit dieser Entschuldigung lächelte Herr Jackson, verbeugte sich vor allen zugleich und strich sein Haar abermals hinauf. Frau Rogers flüsterte Frau Raddle zu, es sei wirklich ein scharmanter junger Mensch.

»Ich war in der Goswellstraße«, fuhr Jackson fort, »und da ich von dem Mädchen hörte, daß Sie hier seien, nahm ich eine Kutsche und fuhr Ihnen nach. Meine Prinzipale bedürfen Ihrer sogleich in der Stadt, Frau Bardell.«

»Um Gottes willen!« rief die Dame, erschrocken über diese plötzliche Mitteilung.

»Ja«, sagte Jackson, sich in die Lippen beißend. »Es ist ein sehr wichtiges und dringendes Geschäft, das unter keinen Umständen aufgeschoben werden kann. Dodson hat es mir ausdrücklich gesagt, und Fogg ebenfalls. Ich habe die Kutsche eigens deshalb genommen, um Sie nach London zurückzuführen.«

»Sehr merkwürdig!« rief Frau Bardell.

Die Damen erklärten es ebenfalls für sehr merkwürdig, sprachen aber einstimmig ihre Ansicht dahin aus, die Sache müsse von großer Wichtigkeit sein, sonst würden Dodson und Fogg nicht nach ihr geschickt haben; und wegen dieser Dringlichkeit des Geschäfts solle sie sich unverzüglich zu ihrem Anwalt begeben.

Es war Frau Bardell keineswegs unlieb, daß ihre Rechtsfreunde in so besonderer Eile nach ihr verlangten. Sie glaubte dadurch sowohl überhaupt, als namentlich auch in den Augen der Bewohnerin ihres ersten Stocks bedeutend an Wichtigkeit zu gewinnen, ein Gedanke, der ihrer Eitelkeit nicht wenig schmeichelte. Sie lachte ein bißchen, stellte sich, als ob es ihr höchst unangenehm wäre und sie sich nicht entschließen könnte, kam aber doch zuletzt zu der Meinung, sie glaube, gehen zu müssen.

»Aber wollen Sie nach Ihrer Fahrt nicht eine kleine Erfrischung einnehmen, Herr Jackson?« fragte Frau Bardell in einladendem Ton.

»Ich danke vielmal, habe wirklich keine Zeit zu verlieren«, erwiderte Jackson; »auch habe ich einen Freund bei mir«, fuhr er fort, indem er auf den Mann mit dem Eschenstock sah.

»Aber so bitten Sie doch Ihren Freund hierher, Sir«, sagte Frau Bardell.

»Rufen Sie ihn doch zu uns, Sir.«

»Nein, ich danke sehr«, erwiderte Herr Jackson einigermaßen verlegen. »Er ist an Damengesellschaft nicht gewöhnt und wird da immer ganz blöde. Wenn Sie dem Kellner auch den Auftrag geben wollten, ihm ein Gläschen zu bringen, er würde es wahrhaftig nicht annehmen. – Doch, Sie können ja einen Versuch machen.«

Herrn Jacksons Finger wanderten dabei spielend um seine Nase, um seine Zuhörerinnen aufmerksam zu machen, daß er ironisch spreche.

Der Kellner wurde alsbald an den blöden Gentleman entsandt, und der blöde Gentleman genehmigte etwas; Herr Jackson genoß ebenfalls etwas und die Damen genossen, ihrem Gaste zu Ehren, auch noch etwas. Herr Jackson sagte sofort, er fürchte, es sei die höchste Zeit zu gehen, worauf Frau Sanders, Frau Cluppins und Tommy, die der Verabredung gemäß Frau Bardell begleiten und die übrigen dem Schutz des Herrn Raddle überlassen sollten, sich alsbald in die Kutsche verfügten.

»Jsack«, sagte Jackson, als Frau Bardell sich anschickte, einzusteigen und blickte dabei den Mann mit dem Eschenstock an, der auf dem Bock saß und eine Zigarre rauchte.

»Sir.«

»Das ist Frau Bardell.«

»O, ich wußte es schon lange«, sagte der Mann.

Frau Bardell stieg ein, Herr Jackson gleichfalls, und sie fuhren fort. Frau Bardell konnte nicht umhin, sich allerhand Gedanken darüber zu machen, was Herrn Jacksons Freund wohl gemeint habe.

»Schlaue Gesellen, diese Anwälte«, meinte sie: »Gott steh uns bei, wie sie die Leute überall ausfindig zu machen wissen.«

»Ein verdrießliches Ding um unsere Prozeßkosten«, sagte Jackson, als Frau Cluppins und Frau Sanders eingeschlafen waren: »die Kosten für Ihren Prozeß, meine ich.

»Es tut mir sehr leid, daß Sie nicht dazu kommen können«, versetzte Frau Bardell. »Aber wenn ihr Anwälte solche Sachen auf Spekulation übernehmt, so müßt ihr euch dann und wann auch einen Verlust gefallen lassen.«

»Sie haben Ihnen aber, soviel ich weiß, nach dem Prozeß eine Erkenntlichkeitsbestätigung für die Kosten ausgestellt«, sagte Jackson.

»Ja, aber bloß der Form wegen«, erwiderte Frau Bardell.

»Gewiß«, versetzte Jackson trocken. »Eine bloße Formsache – bloße Formsache.«

Sie fuhren weiter und Frau Bardell druselte ein. Nach einiger Zeit wurde sie durch das Anhalten der Kutsche geweckt.

»Mein Gott«, sagte die Dame, »sind wir schon in Freemans Court?«

»Wir fahren nicht ganz so weit«, erwiderte Jackson. »Haben Sie die Güte, hier auszusteigen.«

Frau Bardell tat es noch schlaftrunken. Es war ein sonderbarer Platz: – eine große Mauer mit einem Tor in der Mitte, und innen brannte ein Gaslicht.

»Nun, meine Damen«, rief der Mann mit dem Eschenstock, in die Kutsche hineinsehend und Frau Sanders aus dem Schlafe rüttelnd: »kommen Sie!«

Frau Sanders weckte ihre Freundin und stieg aus. Frau Bardell war, an Jacksons Arm gelehnt und Tommy bei der Hand führend, bereits zum Portal eingegangen. Die übrigen folgten.

Der Raum, in den sie jetzt traten, sah noch weit sonderbarer aus, als das Portal. Es standen so viele Leute herum und sie starrten einen so an!

»Wo sind wir denn?« fragte Frau Bardell, stehenbleibend.

»Bloß in einem unserer öffentlichen Büros«, erwiderte Jackson, sie schnell durch eine Tür ziehend und um sich blickend, ob die übrigen Damen nachfolgten. »Passen Sie gut auf, Isack.«

»Soll gar nicht fehlen«, erwiderte der Mann mit dem Eschenstock. Die Tür wurde rasch hinter ihnen zugeschlagen, und sie stiegen eine kleine Treppe hinab.

»Endlich wären wir da. Es ist alles nach Wunsch gegangen, Frau Bardell«, sagte Jackson, triumphierenden Blickes um sich schauend.

»Was meinen Sie damit?« fragte Frau Bardell mit klopfendem Herzen.

»Nichts Besonderes«, erwiderte Jackson, sie ein bißchen auf die Seite ziehend: »erschrecken Sie nur nicht, Frau Bardell. Es gibt keinen zartfühlenderen Mann als Dodson und keinen billigdenkenderen als Fogg. Als Geschäftsmänner wäre es ihre Pflicht gewesen. Ihnen wegen der Kosten Exekution einlegen zu lassen! aber sie wünschten um jeden Preis, Ihre Gefühle möglichst zu schonen. Wie tröstlich muß Ihnen der Gedanke sein, daß es so gegangen ist! Wir sind im Fleet, Madame. Wünsche Ihnen gute Nacht, Frau Bardell. Gute Nacht, Tommy.«

Da Jackson jetzt in Gesellschaft des Mannes mit dem Eschenstock davoneilte, so führte ein anderer Mann mit einem Schlüssel in der Hand, der bisher bloß zugeschaut hatte, die bestürzten Damen an eine zweite kleine Treppe, die zu einem Tor führte. Frau Bardell schrie laut auf: Tommy heulte; Frau Cluppins schauerte zusammen, und Frau Sanders nahm ohne weiteres Reißaus. Denn hier stand der schwerbeleidigte Herr Pickwick, der eben auf seinem nächtlichen Spaziergange begriffen war, und neben ihm lehnte Samuel Weller, der, als er Frau Bardell erblickte, mit spöttischer Ehrerbietung seinen Hut abnahm, während sein Gebieter unwillig ihr den Rücken zukehrte.

»Vexieren Sie die Frau nicht«, sagte der Schließer zu Weller: »sie ist soeben angekommen.«

»Als Gefangene?« sagte Sam, schnell den Hut wieder aufsetzend, »Wer sind die Kläger? Warum? Sprich, alter Knabe!«

»Dodson und Fogg«, erwiderte der Mann: »Exekution wegen Prozeßkosten.«

»He da, Job! Job!« rief Sam, sich in den Gang stürzend, »laufen Sie so schnell als Sie können zu Herrn Perker. Ich wünsche ihn sogleich zu sprechen. Das kann zu etwas Gutem führen. Ein Kapitalspaß! Hurra! Juchhe! Wo ist der Prinzipal?«

Aber diese Fragen blieben sämtlich unbeantwortet: denn Job war gleich nach Empfang seines Auftrags wie wild davongerannt: Frau Bardell aber war in wirklichem vollen Ernst in Ohnmacht gesunken.

 

Achtundvierzigstes Kapitel.


Achtundvierzigstes Kapitel.

Ist hauptsächlich Geschäftsangelegenheiten und dem zeitlichen Vorteil der Herren Dodson und Fogg gewidmet. – Herr Winkle tritt unter außerordentlichen Umständen wieder auf, und Herrn Pickwicks Wohlwollen erweist sich stärker als seine Hartnäckigkeit.

Job Trotter rannte, ohne von seiner Eilfertigkeit im mindesten abzulassen, Holborn hinauf, bald mitten in der Straße, bald auf dem Pflaster und bald in der Rinne, je nachdem die Gelegenheiten zu gehen mit dem Gedränge der Männer, Weiber, Kinder und Wagen auf jedem Teil des Weges abwechselten. Ohne auf irgendein Hindernis Rücksicht zu nehmen, blieb er keinen Augenblick stehen, bis er das Tor von Grays Inn erreicht hatte. Trotz aller seiner Hast war aber das Tor schon eine gute halbe Stunde geschlossen, als er davor anlangte. Er sah sich daher um und machte endlich Herrn Perkers Wäscherin ausfindig, die mit einer verheirateten Tochter zusammenlebte. Diese hatte ihre Hand fürs Leben einem nicht in London residierenden Kellner gegeben und bewohnte ein paar Zimmer in einer Straße dicht bei einer Brauerei etwas hinter Grays Inn Lane. Es waren noch fünfzehn Minuten bis zur allnächtlichen Schließungszeit des Gefängnisses. Herr Lowten mußte aus dem hinteren Zimmer der Elster herausgeklopft werden, und Job hatte dies Geschäft kaum vollendet und Sam Wellers Botschaft mitgeteilt, als die Glocke zehn Uhr schlug.

»Es ist zu spät«, sagte Lowten. »Sie können nicht mehr hineinkommen, oder haben Sie vielleicht den Schlüssel, mein Platze wären?« [**hier fehlt offenbar etwas]

»Sorgen Sie nicht für mich«, erwiderte Job; »ich kann überall schlafen. Aber würde es nicht besser sein, Herrn Perker heute nacht noch aufzusuchen, damit wir morgen in aller Frühe auf dem Platze wären?«

»Meinetwegen«, versetzte Lowten nach kurzer Überlegung. »Wenn es sich um irgend etwas anderes handelte, so würde Herr Perker über einen so späten Besuch sehr ungehalten sein; da es aber Herrn Pickwicks Sachen sind, so glaube ich wohl, einen Wagen nehmen und bei den Kosten berechnen zu dürfen.«

Nachdem Herr Lowten sich zu dieser Maßregel entschlossen hatte, nahm er seinen Hut, bat die versammelte Gesellschaft, während seiner zeitlichen Abwesenheit einen andern Präsidenten zu ernennen, steuerte auf den nächsten Kutschenplatz los, bestellte den Wagen, dessen Aussehen am meisten versprach, und befahl dem Kutscher, nach dem Montagueplatz, Russell Square zu fahren.

Herr Perker gab an diesem Tage einen Schmaus, wie aus den Lichtern hinter den Fenstern des Gesellschaftzimmers, aus den Tönen eines vervollkommneten großen Pianos, aus einer daraus hervordringenden, aber der Vervollkommnung noch sehr bedürftigen Stimme und dem beinahe überwältigenden Speiseduft im Entree zur Genüge hervorging. Da zufällig einige recht gute Kunden vom Lande zu gleicher Zeit in die Stadt gekommen waren, so hatte sich zu ihrem Empfang ein angenehmes Gesellschaftchen zusammengefunden, bestehend aus Herrn Snicks, dem Sekretär der Lebensversicherung, aus Herrn Prosee, dem ausgezeichneten Rechtskonsulenten, aus drei Anwälten, einem Kommissar vom Fallitengericht, einem speziellen Advokaten vom Temple, einem kleinäugigen, schmissigen jungen Gentleman, seinem Mündel, der ein scharfes Buch über das Legatengesetz mit einer ungeheuren Menge Randnoten und Zitaten geschrieben hatte, und mehreren andern hervorragenden, ja wirklich ausgezeichneten Personen. Von dieser Gesellschaft machte sich der kleine Herr Perker los, als ihm die Ankunft seines Schreibers zugeflüstert wurde. Er begab sich in das Speisezimmer und traf dort Herrn Lowten und Job Trotter beim trüben Dämmerschein eines Küchenlichtes, das der Gentleman, der sich herabließ, gegen vierteljährlichen Lohn in kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen zu erscheinen, mit gebührender Verachtung für den Schreiber und für alle das Geschäft berührenden Dinge auf den Tisch gestellt hatte.

»Nun, Lowten«, sagte der kleine Perker, die Tür schließend, »was gibt’s? Sind wichtige Briefe angekommen?«

»Nein, Sir«, erwiderte Lowten; »aber da ist ein Bote von Herrn Pickwick, Sir.«

»Von Pickwick?« fragte das kleine Männchen, sich schnell zu Job wendend. »Nun, was will er?«

»Dodson und Fogg haben Frau Bardell wegen der Prozeßkosten verhaften lassen«, sagte Job.

»S’ist nicht möglich!« rief Perker, seine Hände in die Taschen steckend und sich rücklings an den Kredenztisch lehnend.

»Es ist wirklich so«, sagte Job. »Wie es scheint, haben sie sich von ihr unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung eine Erkenntlichkeitsbestätigung für die Prozeßkosten ausstellen lassen.«

»Bei Gott!« rief Herr Perker, beide Hände aus den Taschen ziehend und die Knöchel seiner Rechten an die Fläche der Linken schlagend, »das sind doch die gerissensten Kerle, mit denen ich je zu tun gehabt habe.«

»Die abgefeimtesten Spitzbuben, die mir je vorgekommen sind, Sir«, bemerkte Lowten.

»Abgefeimt?« wiederholte Perker. – »Ja, allerdings, es ist ihnen nicht beizukommen.«

»Sehr wahr, Sir«, erwiderte Lowten. Und dann sannen beide, Meister und Geselle, einige Sekunden lang recht lebhaft nach, gleich als ob sie über eine der schönsten und sinnreichsten Entdeckungen nachdächten, die der menschliche Verstand je ausgeklügelt. Als sie sich einigermaßen von ihrer Bewunderungsverzückung erholt hatten, entledigte sich Job Trotter des Restes seines Auftrags. Perker nickte gedankenvoll mit dem Kopfe und zog seine Uhr heraus.

»Schlag zehn Uhr will ich dort sein«, sagte der kleine Mann. »Sam hatte vollkommen recht. Sagen Sie ihm das. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Lowten?«

»Nein, ich danke Ihnen, Sir.«

»Sie meinen ›Ja‹, denke ich«, sagte das Männlein, sich an den Kredenztisch wendend, um eine Flasche und Gläser zu holen.

Da Lowten wirklich ›Ja‹ meinte, so verlor er kein Wort mehr über die Sache, sondern fragte Job mit einem hörbaren Flüstern, ob das gegenüber vom Kamin hängende Porträt Perkers nicht zum Sprechen ähnlich sei, worauf Job natürlich antwortete, ja, es sei so. Inzwischen war der Wein eingeschenkt, und Lowten trank die Gesundheit der Frau Perker und ihrer Kinder, und Job trank die Gesundheit des Herrn Perker. Da der Gentleman in den kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen es nicht für seine Amtspflicht hielt, den Leuten zum Büro hinauszuleuchten, lehnte er es beharrlich ab, dem Geklingel zu entsprechen, und sie mußten den Weg selbst suchen. Der Anwalt verfügte sich in sein Besuchzimmer, der Schreiber in die Elster zurück, und Job ging auf den Covent-Garden-Markt, um die Nacht in einem Gemüsekorb zu verbringen.

Pünktlich zur bestimmten Stunde klopfte am andern Morgen der heitere kleine Anwalt an Herrn Pickwicks Tür, die von Sam Weller recht munter geöffnet wurde.

»Herr Perker, Sir«, sagte Sam, den Besuch Herrn Pickwick ankündigend, der gedankenvoll am Fenster saß. »Sehr erfreut, daß Sie gelegentlich auch einmal nach uns sehen, Sir. Ich denke, der Prinzipal möchte gern einige Worte mit Ihnen sprechen, Sir.«

Perker warf einen Blick des Einverständnisses auf Sam, um ihm zu bedeuten, er verstehe schon, daß er nicht sagen solle, man habe nach ihm geschickt. Dann winkte er ihn zu sich und flüsterte ihm etwas ins Öhr.

»Nicht möglich, Sir!« rief Sam, in der äußersten Überraschung einige Schritte zurückfahrend.

Perker nickte und lächelte.

Herr Samuel Weller blickte den kleinen Advokaten, dann Herrn Pickwick, dann die Stubenecke, dann wieder Herrn Perker an, grinste, lachte laut auf, nahm endlich seinen Hut vom Nagel und verschwand ohne eine weitere Erklärung.

»Was soll das bedeuten?« fragte Herr Pickwick, indem er Perker verwundert anblickte. »Was ist mit Sam los?«

»O nichts, nichts«, erwiderte Perker. »Kommen Sie, mein lieber Herr, rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch. Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen.«

»Was sind das für Papiere?« fragte Herr Pickwick, als der kleine Mann ein mit roter Schnur zusammengebundenes Paket Dokumente auf den Tisch legte.

»Die Papiere in der Sache Bardell und Pickwick«, erwiderte Perker, den Knoten mit den Zähnen öffnend.

Herr Pickwick stieß die Füße seines Stuhles gegen den Boden, warf sich sodann hinein, faltete seine Hände und blickte seinen Rechtsfreund grimmig an, wenn anders Herr Pickwick grimmig blicken konnte.

»Sie hören diesen Namen nicht gern?« fragte der kleine Mann, noch immer mit dem Knoten beschäftigt.

»Nein, wirklich nicht«, entgegnete Herr Pickwick.

»Tut mir leid«, fuhr Perker fort; »denn eben darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.«

»Von dieser Sache darf zwischen uns keine Rede mehr sein, Perker«, unterbrach ihn Herr Pickwick hastig.

»Gemach, gemach! mein teurer Sir«, sagte der kleine Mann, das Paket aufbindend und Herrn Pickwick anblickend. »Wir müssen davon sprechen. Ich bin ausdrücklich deshalb hierher gekommen. Sind Sie bereit, mich anzuhören, mein lieber Herr? Es hat keine Eile: wenn es Ihnen nicht genehm ist, so kann ich warten. Ich habe die Zeitungen von heute früh mitgenommen. Sie dürfen nur sagen, wann es Ihnen paßt. So.«

Mit diesen Worten schlug der kleine Mann ein Bein über das andere und gab sich den Anschein, als begänne er mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu lesen.

»Gut, gut«, sagte Herr Pickwick mit einem Seufzer, worauf aber unmittelbar ein Lächeln folgte; »sprechen Sie, was Sie zu sagen haben. Ohne Zweifel immer wieder die alte Geschichte?«

»Nur mit einem Unterschied, mein lieber Herr, mit einem Unterschied«, versetzte Perker, indem er sein Zeitungsblatt bedächtig zusammenlegte und wieder in die Tasche steckte. »Frau Bardell, die Klägerin in diesem Prozeß, befindet sich innerhalb dieser Mauern, Sir.«

»Das weiß ich«, war Herrn Pickwicks Antwort.

»Sehr gut!« erwiderte Perker. »Und ohne Zweifel wissen Sie auch, wie sie hierher gekommen ist; ich meine, aus was für Gründen und auf wessen Verlangen?«

»Ja; wenigstens hat mir Sam davon gesagt«, versetzte Herr Pickwick mit erkünstelter Gleichgültigkeit.

»Sams Erzählung«, erwiderte Perker, »ist gewiß vollkommen richtig; wenigstens möchte ich es zu behaupten wagen. Nun, mein lieber Herr, die erste Frage, die ich an Sie zu richten habe, ist, ob die Frau hierbleiben soll?«

»Hierbleiben!« wiederholte Herr Pickwick.

»Ja, hierbleiben, mein teurer Sir«, entgegnete Perker, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und seinen Klienten fixierend.

»Wie können Sie mich so fragen?« sagte dieser Gentleman. »Es hängt ganz von Dodson und Fogg ab. Sie wissen das recht gut.«

»Nein, ich weiß nichts davon«, entgegnete Perker fest. »Es hängt mitnichten von Dodson und Fogg ab. Sie kennen die Leute ebensogut wie ich, mein teurer Sir: es hängt ganz und gar nur von Ihnen ab.«

»Von mir?« rief Herr Pickwick, von seinem Stuhle aufspringend und sich gleich wieder setzend.

Der kleine Mann klopfte zweimal auf den Deckel seiner Schnupftabaksdose, öffnete sie, nahm eine große Prise, schlug die Dose zu und wiederholte:

»Von Ihnen.«

»Ja, mein lieber Herr«, fuhr der kleine Mann fort, der durch die Prise Zuversicht zu gewinnen schien; »ich sage, ihre schleunige Befreiung oder lebenslängliche Einkerkerung hängt von Ihnen ab, lediglich nur von Ihnen. Hören Sie mich gefälligst zu Ende, mein lieber Herr, und erhitzen Sie sich nicht so gewaltig; denn Sie kommen dadurch in Schweiß, und das hilft zu nichts. Ich sage«, fuhr Perker fort, indem er jeden Satz, den er vorbrachte, mit einem andern Finger bezeichnete, »ich sage, daß niemand als Sie die arme Frau aus dieser Höhle des Elends erlösen kann, und daß Sie das nur können, wenn Sie sämtliche Kosten dieses Prozesses, sowohl die für die Klägerin als für den Beklagten, diesen Gaunern vom Freemans Court, bezahlen. Lassen Sie mich gefälligst ruhig ausreden, mein lieber Herr.«

Herr Pickwick, dessen Mienenspiel währenddem sich lebhaft betätigt hatte, und der eigentlich seinen Unwillen kräftig bekunden wollte, beschwichtigte dessenungeachtet seinen Zorn so gut wie möglich; und Herr Perker fuhr, indem er seine Überredungskraft durch eine neue Prise Schnupftabak stärkte, also fort:

»Ich habe die Frau heute morgen gesehen. Wenn Sie die Prozeßkosten bezahlen, so kann Ihnen die Entschädigungssumme gänzlich erlassen werden, und überdies bekommen Sie von ihr – was, wie ich wohl weiß, in Ihren Augen von weit größerer Bedeutung ist, mein lieber Herr – eine freiwillige, eigenhändige Erklärung in der Form eines Schreibens an mich, daß diese Leute da, Dodson und Fogg, an dem ganzen Prozeß schuld, sind. Sie brachten nämlich Frau Bardell durch glänzende Vorspiegelungen auf den Gedanken zu prozessieren. Und weiter erhalten Sie die Erklärung, daß sie es aufs tiefste bedauert, sich zum Werkzeug ihrer Kränkungen und Beeinträchtigungen hergegeben zu haben, und daß sie mich dringend ersucht, die Sache zu vermitteln und Sie um Verzeihung anzuflehen.«

»Wenn ich die Kosten für sie bezahle?« sagte Herr Pickwick entrüstet. »Wahrhaftig ein wertvolles Dokument!«

»Es ist von keinem Wenn mehr die Rede, mein teurer Sir«, sagte Perker triumphierend, »Hier ist das Schreiben. Es wurde mir heute früh um neun Uhr von einer Frau auf mein Büro gebracht, ehe ich noch einen Fuß in dieses Haus gesetzt oder die geringste Unterhandlung mit Frau Bardell gepflogen hatte; das kann ich Sie auf Ehre versichern.«

Und der kleine Advokat suchte den Brief aus dem Paket heraus, legte ihn an Herrn Pickwicks Seite nieder und schnupfte zwei Minuten hintereinander, ohne zu blinzeln.

»Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« sagte Herr Pickwick, etwas sanfter.

»Noch nicht«, erwiderte Herr Perker. »Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob die Abfassung der Erkenntlichkeitbestätigung, die Natur des scheinbaren Kontrakts und der Beweis, den wir über das ganze Benehmen bei diesem Prozeß bekommen können, hinreichend sein wird, um eine Klage wegen eines Komplotts zur Betrügerei zu begründen. Ich fürchte, nein, mein lieber Herr; denn diese Herren sind gar zu schlau. Jedenfalls aber werden sämtliche Tatsachen zusammengenommen mehr als hinreichend sein, Sie in den Augen aller vernünftigen Menschen zu rechtfertigen. Und nun, mein lieber Herr, überlasse ich die Sache ganz Ihnen. Diese 150 Pfund oder was es sein mag, wenn man eine runde Summe annimmt, sind ja gar nichts für Sie. Eine Jury hat gegen Sie entschieden; ihr Ausspruch war ungerecht: allein die Geschworenen entschieden einmal, wie sie es für recht hielten, und der Spruch ist gegen Sie ausgefallen. Sie haben jetzt eine Gelegenheit, unter sehr annehmbaren Bedingungen eine weit höhere Stellung in der öffentlichen Meinung einzunehmen, als Sie durch Ihr Hierbleiben jemals erlangen können. Denn glauben Sie mir, mein lieber Herr, jeder, der Sie nicht kennt, wird es Ihnen als baren, verrückten, lächerlichen und abgeschmackten Eigensinn auslegen. Können Sie noch zögern, diese Gelegenheit zu benützen, wodurch Sie Ihren Freunden, Ihren alten Beschäftigungen und Vergnügungen zurückgegeben werden und Ihre Gesundheit wieder herstellen können? – eine Gelegenheit, die zugleich Ihren treuen anhänglichen Diener, den Sie sonst für die ganze Dauer Ihres Lebens zur Einkerkerung verurteilen, befreit – und vor allem eine Gelegenheit, die Sie in den Stand setzt, eine höchst großmütige Rache zu nehmen. Ich weiß, daß eine solche ganz Ihrem Herzen entspricht, wenn Sie diese Frau von einem Schauplatz des Elends und Lasters erlösen, wo man nach meiner Ansicht nicht einmal Männer einsperren sollte. Aber es ist vollends wahrhaft schauerlich und barbarisch, hier Damen einzusperren. Nun frage ich Sie, mein lieber Herr, nicht bloß als ihr juristischer Ratgeber, sondern als wohlmeinender treuer Freund, ob Sie die Gelegenheit, all das zu erreichen und all das Gute zu tun, unterlassen wollen wegen der armseligen Rücksicht auf ein paar Pfund, die in die Tasche zweier Schufte wandern? Diese werden dadurch auch nicht glücklicher, wohl aber nur um so habsüchtiger werden und sich vielleicht um so eher zu irgendeinem Bubenstreich verleiten lassen, der mit ihrem Sturze endet. So schwach und unzulänglich ich Ihnen alle diese Rücksichten auch vorgelegt haben mag, mein lieber Herr, so ersuche ich Sie doch, recht, recht gründlich zu überlegen. Ich werde geduldig wie ein Lamm auf Ihre Antwort harren.«

Ehe Herr Pickwick erwidern konnte und ehe Herr Perker den zwanzigsten Teil der Prise zu sich genommen hatte, die eine so ungewöhnlich lange Rede gebieterisch erheischte, vernahmen sie ein leises Gemurmel von außen und dann ein schüchternes Klopfen an die Tür.

»Mein Gott!« rief Herr Pickwick, den die letzten Bemerkungen seines Freundes sichtbarlich aufgeregt hatten; »wie ärgerlich, daß wir gestört werden! Wer ist da?«

»Ich, Sir«, erwiderte Sam Weller, den Kopf hereinsteckend.

»Ich kann dich jetzt nicht brauchen, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Ich bin beschäftigt, Sam.«

»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Aber hier ist eine Dame, Sir, die sagt, sie habe Ihnen ganz besondere Mitteilungen zu machen.«

»Ich kann jetzt keinen Damenbesuch annehmen«, entgegnete Herr Pickwick, dessen Geist lauter Gestalten, wie Frau Bardell, vorschwebten.

»Das möchte ich doch nicht so bestimmt behaupten, Sir«, drängte Herr Weller kopfschüttelnd. »Wenn Sie wüßten, wer hier ist, Sir, so würden Sie, meine ich wohl, aus einem andern Ton pfeifen, wie der Habicht mit einem lustigen Lachen zu sich selbst sagte, als er das Rotkehlchen um die Ecke singen hörte.«

»Wer ist’s denn?« fragte Herr Pickwick.

»Wollen Sie selbst sehen, Sir?« fragte Herr Weller, die Tür in der Hand haltend, als hätte er draußen irgendein lebendiges, merkwürdiges Tier.

»Nun, so bring‘ sie einmal«, sagte Herr Pickwick, mit einem Blick auf Perker.

»Recht so«, rief Sam, »jetzt geht der Tanz an. Die Geigen gestimmt, den Vorhang aufgezogen, und herein treten die zwei Verschwörer.«

So sprechend riß Sam Weller die Tür auf, und herein stürmte Herr Nathanael Winkle, an seiner Hand dieselbe junge Dame führend, die in Dingley Dell die Pelzstiefelchen getragen hatte und jetzt – eine höchst anmutige Mischung von Erröten, Verwirrung, lila Seide und Spitzenschleierhut – reizender aussah als je.

»Miß Arabella Allen!« rief Herr Pickwick, von seinem Stuhle aufspringend.

»Nein«, erwiderte Herr Winkle, sich auf ein Knie niederlassend! »Frau Winkle. Verzeihen Sie, mein teurer Freund, verzeihen Sie!«

Herr Pickwick mochte kaum seinen Sinnen trauen und würde es vielleicht auch nicht getan haben, wäre dieses Zeugnis nicht durch das lächelnde Gesicht Perkers, sowie durch die leibliche Anwesenheit Sams und des hübschen Hausmädchens im Hintergrund, die die Szene mit der lebhaftesten Befriedigung zu betrachten schienen, bekräftigt worden.

»Ach, Herr Pickwick«, sagte Arabella mit leiser Stimme, als ob sein Stillschweigen sie beunruhigt hätte, »können Sie meine Unklugheit verzeihen?«

Herr Pickwick antwortete nicht mit Worten, sondern nahm in großer Hast seine Brille ab, ergriff beide Hände der jungen Dame, küßte sie mehrmals, vielleicht öfter, als unbedingt notwendig war, und sagte dann, indem er fortwährend ihre eine Hand in der seinigen hielt, Herr Winkle sei ein verwünschter Schwerenöter, er solle übrigens nur aufstehen; was Herr Winkle auch, nachdem er gleich einem reuigen Sünder einige Sekunden lang mit dem Rande seines Hutes sich an der Nase gerieben hatte, alsbald tat. Herr Pickwick schlug ihn hierauf mehrere Male auf den Rücken und schüttelte sodann Herrn Perker herzlich die Hand, der, um mit seinen Komplimenten nicht zurückzubleiben, sowohl die junge Frau, als das hübsche Dienstmädchen voll Freundlichkeit begrüßte. Nachdem er Herrn Winkle aus lauter Freundschaft beinahe die Hand aus dem Gelenk gerissen hatte, beschloß er seine Freudenbezeugungen damit, daß er Schnupftabak genug nahm, um ein Halbdutzend Leute mit gewöhnlich konstruierten Nasen zeitlebens niesen zu machen.

»Aber mein liebes Mädchen«, sagte Herr Pickwick endlich: »wie ist denn das alles gekommen? Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie. Wie sie so hübsch aussieht – nicht wahr, Herr Perker?« setzte Herr Pickwick hinzu und schaute dabei Arabella mit so viel Stolz und Wonne ins Angesicht, als ob sie seine eigene Tochter gewesen wäre.

»Zum Entzücken, mein lieber Herr«, erwiderte der kleine Mann. »Wäre ich nicht selbst schon verheiratet, so könnte es mich ankommen, Sie zu beneiden. Sie Tausendsasa.«

Bei diesen Worten klopfte der kleine Advokat Herrn Winkle auf den Rücken, und nun fingen sie beide an zu lachen, doch nicht so laut wie Herr Samuel Weller, der seinen Gefühlen soeben dadurch Luft verschafft hatte, daß er unter dem Schutz der Tür das hübsche Hausmädchen küßte.

»Wahrhaftig, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein, Sammy«, sagte Arabella mit dem süßesten Lächeln, das sich denken läßt. »Ich werde Ihre Bemühungen im Garten zu Clifton nie vergessen.«

»Sprechen Sie nicht davon, Madame«, erwiderte Sam. »Ich bin bloß der Natur zu Hilfe gekommen, Madame, wie der Doktor zur Mutter des Knaben sagte, als er ihn solange zur Ader gelassen hatte, bis er tot war.«

»Setzen Sie sich doch, liebe Marie«, sagte Pickwick, diese Komplimente kurz abschneidend. »Und nun, wie lange sind Sie denn schon verheiratet?«

Arabella blickte ihren Herrn und Gebieter verschämt an, und dieser erwiderte:

»Erst drei Tage.«

»Erst drei Tage?« fragte Herr Pickwick; »aber was habt Ihr denn in diesen drei Monaten getrieben?«

»Ja, ja«, fiel Herr Perker ein, »rechtfertigen Sie sich nur wegen Ihrer Faulheit. Sie sehen, Herr Pickwick wundert sich nur darüber, daß Sie nicht schon vor Monaten ans Ziel gekommen sind.« ,

»Die Sache ging so zu«, erwiderte Herr Winkle, indem er seine errötende junge Frau ansah: »ich konnte Bella lange nicht überreden, davonzulaufen, und als es mir endlich gelungen war, wollte sich lange keine Gelegenheit dazu finden. Auch Marie mußte einen Monat zuvor aufkündigen, ehe sie ihren Platz verlassen konnte, und ihr Beistand war uns durchaus notwendig.«

»Auf mein Wort«, rief Herr Pickwick, der inzwischen seine Brille wieder aufgesetzt hatte und mit soviel Entzücken seine Blicke von Arabella auf Winkle und von Winkle auf Arabella schweifen ließ, wie ein warmes Herz und freundliche, liebevolle Teilnahme nur einem menschlichen Antlitz verleihen kann – auf mein Wort, Ihr scheint sehr systematisch zu Werke gegangen zu sein. Und weiß Ihr Bruder schon alles, mein liebes Kind?«

»Ach nein, nein«, erwiderte Arabella, die Farbe wechselnd, »Lieber Herr Pickwick, er darf es nur von Ihnen, – nur aus Ihrem Munde erfahren. Er ist so heftig, so voll von Vorurteilen, und hatte so – so lebhafte Wünsche für seinen Freund, Herrn Sawyer«, fügte sie, die Augen niederschlagend, hinzu, »daß ich die entsetzlichste Angst vor den Folgen habe.«

»Ja, ja«, sagte Herr Perker ernsthaft. »Sie müssen diese Sache für sie ausfechten, mein lieber Herr. Vor Ihnen werden diese jungen Männer Respekt haben, wenn sie auf niemanden sonst hören: Sie müssen Unglück verhüten, mein lieber Herr. Heißes Blut – heißes Blut.«

»Sie vergessen nur, liebes Kind«, sagte Herr Pickwick freundlich, »Sie vergessen nur, daß ich ein Gefangener bin,«

»Nein, mein lieber Herr Pickwick«, erwiderte Arabella, »das nicht. Ich habe es nie vergessen und beständig daran gedacht, wie entsetzlich Sie an diesem abscheulichen Orte leiden müssen. Allein ich hoffte, wozu keine Rücksicht auf Ihre eigene Person Sie bewegen könnte, dazu würden Sie sich vielleicht durch Ihre Wünsche für unser Glück bestimmen lassen. Wenn mein Bruder es von Ihnen zuerst erfährt, so hoffe ich mit Bestimmtheit aus Versöhnung. Er ist mein einziger Verwandter in der Welt, Herr Pickwick, und wenn Sie nicht für mich sprechen, so fürchte ich, auch ihn verloren zu haben. Ich habe unrecht getan – sehr, sehr unrecht; ich weiß es wohl.«

Hier hielt sich die arme Arabella ihr Tuch vor das Gesicht und weinte bitterlich.

Herrn Pickwicks Natur war schon durch diese Tränen gewaltig erschüttert; als aber Frau Winkle ihre Augen trocknete und gar anfing, mit den süßesten Tönen ihrer überaus süßen Stimme ihn zu liebkosen und zu bestürmen, da wurde er sehr unruhig und war offenbar zweifelhaft, was er tun sollte, wie aus seinem mehrfach wiederholten krampfhaften Reiben an den Brillengläsern, an Nase und Schenkeln, Kopf und Gamaschen, hervorging.

Herr Perker, dem es schien, als müsse das junge Paar diesen Morgen große Eile gehabt haben, benutzte diese Symptome von Unentschlosscnheit und setzte mit juristischer Gewandtheit und Advokatenschlauheit auseinander, wie Herr Winkle senior, der Vater, von dem wichtigen Fortschritt, den sein Sohn auf seiner Lebensleiter gemacht habe, noch nichts wisse; wie die künftigen Aussichten des besagten Sohnes gänzlich davon abhingen, daß besagter Winkle senior ihn fortwährend mit unverminderten Gefühlen der Liebe und Zuneigung betrachte, was höchst unwahrscheinlich sei, wenn dieses große Ereignis lange vor ihm geheimgehalten werde. Er setzte weiter auseinander, wie Herr Pickwick, wenn er sich nach Bristol begebe, um Herrn Allen zu besuchen, ebensogut auch nach Birmingham gehen und Herrn Winkle senior aufsuchen könne; wie endlich Herr Winkle senior alles Recht und vollkommene Befugnis habe, Herrn Pickwick einigermaßen als Mentor und Ratgeber seines Sohnes zu betrachten, und wie es folglich diesem Gentleman gezieme, ja er es sogar seiner persönlichen Ehre schuldig sei, den vorbesagten Winkle senior persönlich und in mündlicher Besprechung mit dem ganzen Verhalten der Sache, sowie mit seinem eigenen Anteil bei der Verhandlung bekannt zu machen.

So standen die Unterhandlungen, als sehr zur gelegenen Zeit Herr Tupman und Herr Snodgraß erschienen, und da man ihnen alles Vorhergegangene nebst den verschiedenen Gründen für und wider auseinandersetzen mußte, so wurden sämtliche Beweisgründe wieder aufgeführt und von einem jeden auf seine Weise und nach seiner Weltanschauung dargetan. Endlich wurde Herr Pickwick geradezu aus allen seinen Entschlüssen hinausdisputiert und widerlegt. Da er nun in augenscheinlicher Gefahr schwebte, auch aus seinem Verstand hinausdisputiert und widerlegt zu werden, so nahm er Arabella in seine Arme, erklärte, sie sei ein unendlich liebenswürdiges Geschöpf; er wisse selbst nicht, wie es zugegangen, aber er habe sie vom ersten Augenblick an außerordentlich liebgewonnen: er könne es nicht übers Herz bringen, dem Glück der jungen Leute im Wege zu stehen, und sie könnten jetzt mit ihm anfangen, was sie wollten.

Als Herr Weller diese Nachgiebigkeit vernahm, war sein Erstes, daß er Job Trotter zu dem berühmten Herrn Pell schickte, mit der Aufforderung, dem Boten die förmliche Quittung zu übergeben, die sein kluger Vater in den Händen dieses gelehrten Gentlemans zu lassen die Vorschrift gehabt hatte. Sein Zweites war, daß er seinen ganzen Vorrat an barem Gelde zum Ankauf von fünfundzwanzig Gallonen schmackhaften Porters verwandte, die er in eigener Person auf dem Bauplätze an alle Interessenten austeilte. Endlich jagte er mit Hallo in verschiedenen Teilen des Hauses herum, bis er seine Stimme verloren hatte, und schließlich versank er wieder gänzlich in seine philosophische Ruhe und Sammlung.

Um drei Uhr nachmittags warf Herr Pickwick seinen letzten Blick auf sein kleines Zimmer und bahnte sich, so gut er konnte, seinen Weg durch den Haufen von Schuldnern, die sich begierig herandrängten, um ihm noch die Hand zu schütteln, bis er die Treppe erreicht hatte. Hier drehte er sich noch einmal um und sein Auge leuchtete dabei. Unter dem Gedränge all der bleichen, abgemagerten Gesichter sah er kein einziges, das er nicht durch sein wohlwollendes Mitgefühl glücklicher gemacht hätte.

»Perker«, sagte Herr Pickwick, einen jungen Mann zu sich winkend, »dies ist Herr Jingle, von dem ich Ihnen gesagt habe.«

»Sehr wohl, mein lieber Herr«, erwiderte Perker, Jingle scharf ins Auge fassend. »Sie werden mich morgen wieder sehen, junger Mann. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Ihnen hoffentlich zeitlebens in Erinnerung bleiben, Sir.«

Jingle verbeugte sich ehrerbietig, zitterte sehr, als er Herrn Pickwicks dargebotene Hand ergriff, und entfernte sich.

»Den Job kennen Sie doch?« sagte Herr Pickwick, diesen Gentleman vorstellend.

»Ja, ich kenne den Spitzbuben«, erwiderte Perker lustig. »Sehen Sie nach Ihrem Freund, und seien Sie morgen um ein Uhr an Ort und Stelle. – Vergessen Sie’s nicht. – Nun, gibt es sonst noch was?«

»Nichts«, entgegnete Herr Pickwick. »Sam, du hast doch das Päckchen abgeliefert, das ich dir für deinen alten Stubenburschen gab?«

»O freilich, Sir«, erwiderte Sam. »Er hat laut aufgeheult, Sir, und sagte, es sei sehr generös von Ihnen, daß Sie auch an ihn dächten, und er wünsche nur, Sie hätten ihm die galoppierende Schwindsucht einimpfen können: denn sein alter Freund, der solange hier gelebt, sei gestorben, und jetzt könne er sich nach keinem neuen mehr umsehen.

»Der arme, arme Kerl«, sagte Herr Pickwick. »Lebt wohl, meine Freunde, Gott segne euch.«

Als Herr Pickwick diese Abschiedsworte sprach, erhob die Menge ein lautes Geschrei, und viele drängten sich vorwärts, um ihm die Hand noch einmal zu drücken. Allein er nahm Perkers Arm und eilte für den Augenblick weit betrübter und niedergeschlagener aus dem Gefängnis hinaus, als er es betreten hatte. Ach, wie viele unglückliche, trostlose Wesen hatte er dort zurückgelassen! Und wie viele davon liegen noch darin eingekäfigt!

Ein glücklicher Abend war es indessen für eine Gesellschaft im »Georg und Geier«; und leicht und fröhlich waren zwei Herzen, die am nächsten Morgen die gastliche Tür dieses Hauses verließen. Die Inhaber dieser fröhlichen Herzen aber waren Herr Pickwick und Sam Weller. Jener wurde schnell in eine behagliche Postkutsche befördert, auf deren kleinen äußeren Rücksitz sich dieser mit großer Munterkeit schwang.

»Sir«, rief Herr Weller seinem Gebieter zu.

»Was ist’s, Sam?« erwiderte Herr Pickwick, den Kopf zum Fenster hinausstreckend.

»Ich wollte nur, diese Pferde da wären Ihre guten drei Monate im Fleet gewesen, Sir.«

»Und warum, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Ei, Sir«, rief Herr Weller, sich die Hände reibend, » die würden laufen!«

Neunundvierzigstes Kapitel.


Neunundvierzigstes Kapitel.

Berichtet, wie Herr Pickwick mit Hilfe Samuel Wellers das Herz des Herrn Benjamin Allen zu erweichen und den Zorn des Herrn Robert Sawyer zu besänftigen sucht.

Herr Ben Allen und Herr Bob Sawyer saßen zusammen in ihrer kleinen Doktorstube hinter dem Laden, mit gehacktem Kalbfleisch und künftigen Aussichten beschäftigt, da das Gespräch sich sehr natürlicher Weise um die Praxis, die besagter Bob bereits hatte, und um seine gegenwärtigen Hoffnungen handelte, aus dem ehrenwerten Geschäft, dem er sich gewidmet, sich die Mittel zu einem anständigen, unabhängigen Leben zu erwerben.

»Ich meine«, bemerkte Herr Bob Sawyer, den Faden des Gespräches weiterspinnend, »ich meine, Ben, es ist immer noch zweifelhaft.«

»Was ist zweifelhaft?« fragte Herr Ben Allen, indem er seine Verstandeskräfte mit einem Schluck Bier schärfte. »Was ist zweifelhaft?«

»Nun, die Aussichten«, antwortete Herr Bob Sawyer.

»Ich hatte das ganz vergessen«, sagte Herr Ben Allen. »Das Bier hat mich daran erinnert, daß ich es vergessen hatte; ja Bob, sie sind allerdings zweifelhaft.«

»Es ist zum Bewundern, wie die Armen des Ortes mich begünstigen«, sagte Bob Sawyer nachdenklich. »Sie klopfen mich zu allen Stunden der Nacht aus dem Bette, nehmen Arzneien ein in Quantitäten, die ich für rein unmöglich gehalten hätte, lassen sich mit einer Beharrlichkeit, die einer besseren Sache würdig wäre, Blasenpflaster und Blutegel setzen, und vermehren ihre Familie auf eine wahrhaft erschreckliche Weise; – sechs solche kleine Solawechselchen, Ben! alle am gleichen Tage ausgestellt und alle mir anvertraut.«

»Das ist ja höchst erfreulich«, sagte Herr Ben Allen, seinen Teller hinhaltend, um sich noch einiges gehacktes Kalbfleisch zu langen.

»Ja, gewiß«, erwiderte Bob; »aber noch erfreulicher wäre mir das Zutrauen von Patienten, die auch einige Schillinge erübrigen könnten. Ein solches Geschäft habe ich in meiner Ankündigung vor Augen gehabt, Ben. Nun habe ich zwar eine Praxis, eine sehr ausgedehnte Praxis; aber das ist auch alles.«

»Bob«, sagte Herr Ben Allen, Messer und Gabel niederlegend und seine Augen auf das Gesicht des Freundes heftend. »Bob, ich will dir etwas sagen.«

»Und das wäre?« fragte Herr Bob Sawyer.

»Du mußt dich so bald wie möglich in den Besitz von Arabellas tausend Pfund setzen.«

»Dreiprozentige konsolidierte Bank-Leibrenten, gegenwärtig auf ihren Namen in das Buch oder die Bücher des Gouverneurs und der Kompagnie der englischen Bank eingetragen«, fügte Bob Sawyer in juristischer Phraseologie hinzu.

»Ganz recht«, sagte Ben. »Diese bekommt sie, wenn sie mündig wird oder heiratet. Mündig wird sie in einem Jahr, und wenn es dir nicht ganz an Mut gebricht, so braucht sie keinen Monat mehr zu warten, um einen Mann zu haben.«

»Sie ist ein allerliebstes, entzückendes Geschöpf«, erwiderte Herr Robert Sawyer, »und hat meines Wissens nur einen einzigen Fehler. Dieser einzige Makel aber besteht unglückseligerweise im Mangel an Geschmack. Sie liebt mich nicht.«

»Meiner Ansicht nach weiß sie selbst nicht, was sie liebt«, sagte Herr Ben Allen verächtlich.

»Das mag sein«, bemerkte Herr Bob Sawyer. »Aber meiner Ansicht nach weiß sie recht gut, was sie nicht liebt, und das ist noch weit wichtiger.«

»Ich möchte nur«, entgegnete Herr Ben Allen, indem er die Zähne zusammenbiß und mehr wie ein wilder Krieger sprach, der rohes Wolfsfleisch mit den Fingern zerreißt und ißt, als wie ein friedlicher junger Gentleman, der gehacktes Kalbfleisch mit Messer und Gabel speist. – »Ich möchte nur wissen, ob irgendein Schuft wirklich Absichten auf sie hat und sich um ihre Gunst bemüht. Ich würde ihn, glaube ich, erdolchen, Bob.«

»Und ich würde ihm eine Kugel durch den Leib jagen, wenn ich ihn fände«, sagte Herr Sawyer, unterbrach sich aber gleich wieder durch einen langen Schluck Bier, wobei er giftig über den Rand des Kruges hinausschaute. »Und wenn es damit noch nicht getan wäre, so würde ich sie ihm hernach wieder herausziehen und ihn auf diese Art töten.« ‚

Herr Benjamin Allen starrte seinen Freund einige Minuten lang mit düsterem Schweigen an und sagte dann:

»Hast du ihr nie geradezu einen Antrag gemacht, Bob?«

»Nein, denn ich sah wohl ein, daß es mir nichts nützen würde«, erwiderte Herr Robert Sawyer.

»So mußt du es tun, bevor du vierundzwanzig Stunden älter bist«, entgegnete Ben mit verzweifelter Ruhe. »Sie soll dich haben, oder ich will den Grund wissen warum? – ich werde meine ganze Gewalt anwenden.«

»Gut«, sagte Herr Bob Sawyer, »wir werden sehen.«

»Wir werden allerdings sehen, mein Freund«, erwiderte Herr Ben Allen mit grimmigem Trotz. Er schwieg einige Augenblicke und fügte dann mit zornbebender Stimme hinzu: »Du hast sie schon als Kind geliebt, mein Freund – du liebtest sie, als wir noch Schulknaben waren, und schon damals war ste eigensinnig und verschmähte deine jungen Gefühle. Erinnerst du dich noch, wie du einst mit aller Inständigkeit eines verliebten Kindes in sie drangst, sie möchte doch zwei kleine Kümmelbiskuitchen und einen süßen Apfel von dir annehmen, die du ihr gar zierlich in einer aus einem Schreibheftblatt gedrehten Tüte anbotest?«

»Ich weiß es noch sehr gut«, erwiderte Herr Bob Sawyer.

»Und sie schlug es aus, nicht wahr?« sagte Ben Allen.

»Ja freilich«, versetzte Bob. »Sie sagte, ich habe die Tüte so lange in den Taschen meiner Manchesterhosen getragen, daß der Apfel ganz unangenehm warm sei.«

»Ja, so war es«, sagte Herr Ben Allen düster. »Wir aßen ihn dann zusammen, indem einer nach dem andern hineinbiß.«

Bob Sawyer gab mit einem melancholischen Stirnrunzeln zu verstehen, daß er sich des Umstandes, auf den zuletzt angespielt wurde, recht wohl entsinne; und die beiden Freunde blieben einige Zeit, jeder in seine eigenen Betrachtungen versunken.

Während diese Bemerkungen zwischen Herrn Bob Sawyer und Herrn Benjamin Allen ausgetauscht wurden und der Junge in der grauen Livree voll Verwunderung über die ungewöhnliche Ausdehnung des Mahles von Zeit zu Zeit einen ängstlichen Blick nach der Glastür warf, von schlimmen Ahnungen ergriffen ob des Restes von gehacktem Kalbfleisch, das für seine Zähne übrigbleiben würde – rollte ganz ehrbarlich durch die Straßen von Bristol eine dunkelgrün bemalte, von einem dickköpfigen braunen Pferde gezogene Privatkutsche. Auf dieser thronte ein sauertöpfisch aussehender Kutscher, der Beinkleider wie ein Groom, im übrigen aber die gewöhnliche Uniform eines Mietskutschers trug. Solche Erscheinungen sind etwas Gewöhnliches bei manchen Fuhrwerken, die alten Damen von sparsamen Gewohnheiten angehören und die von ihnen gehalten werden. Auch saß in dem Wagen wirklich eine alte Dame, die Besitzerin und Eigentümerin desselben.

»Martin!« sagte die alte Dame, vom vorderen Fenster aus dem sauertöpfischen Manne zurufend.

»Madame?« erwiderte der Sauertöpfische, mit der Hand an seinen Hut fahrend.

»Zu Herrn Sawyer«, sagte die alte Dame.

»Ich war eben im Begriff zu halten«, versetzte der sauertöpfische Mann.

Die alte Dame nickte zufrieden über diese Umsichtigkeit des sauertöpfischen Mannes, und der Sauertöpfische gab seinem dickköpfigen Pferde einen derben Hieb, worauf sie sich alle nach Herrn Bob Sawyers Haus begaben.

»Martin!« sagte die alte Dame, als die Kutsche vor der Tür des Herrn Robert Sawyer, weiland Nockemorf, hielt.

»Madame!« erwiderte Martin.

»Sagen Sie dem Jungen, er soll herauskommen und das Pferd halten.«

»Das werde ich schon selbst besorgen«, sagte Martin, seine Peitsche auf das Kutschendach legend.

»Nein, nein«, meinte die alte Dame; »ich kann das unter keinen Umständen zugeben; Ihr Zeugnis ist von höchster Wichtigkeit, und Sie müssen durchaus mit mir ins Haus kommen. Sie dürfen während der ganzen Unterredung nicht von meiner Seite weichen. Verstehen Sie mich?«

»Ja, ich verstehe«, erwiderte Martin.

»Nun also, auf was warten Sie noch?«

»Auf nichts«, versetzte Martin.

Also sprach der sauertöpfische Mann und stieg gemächlich vom Rade herab, auf dem er sich mit den Zehenspitzen seines rechten Fußes gewiegt hatte, rief den Burschen in der grauen Livree, öffnete die Kutschentür, schlug die Tritte herunter, streckte eine in einem dunklen waschledernen Handschuh gehüllte Hand hinein und zog die alte Dame ungefähr mit derselben Manierlichkeit heraus, wie wenn sie eine Putzschachtel gewesen wäre.

»Ach du mein Gott«, rief die alte Dame, »es ist mir ganz angst und bange, seit ich hier bin, Martin, und ich zittere an allen Gliedern.«

Herr Martin hustete hinter seinem dunklen waschledernen Handschuh, drückte aber kein weiteres Mitgefühl aus, und nachdem die alte Dame sich gesammelt hatte, wackelte sie Herrn Bob Sawyers Treppe hinauf, woselbst Herr Martin nachfolgte.

Unmittelbar nachdem die alte Dame in den Laden getreten war, stürzten Herr Benjamin Allen und Herr Bob Sawyer, die inzwischen die geistigen Getränke auf die Seite geschafft und übelriechende Arzneien ausgeschüttet hatten, um den Tabaksgeruch zu dämpfen, voll Entzücken, Freundlichkeit und Zärtlichkeit herein.

»Ach meine liebe Tante«, rief Herr Ben Allen: »wie schön, daß Sie auch nach uns sehen! – Herr Sawyer, Tante! Mein Freund, Herr Bob Sawyer, von dem ich Ihnen schon gesagt habe wegen – Sie wissen schon was, Tante.«

Herr Ben Allen, der in diesem Augenblick nicht besonders nüchtern war, fügte das Wort Arabella bei, zwar nur flüsternd, wie er meinte, aber immerhin noch laut und vernehmlich genug, daß es alle Anwesenden hören mußten, wenn sie überhaupt ein Gehör hatten.

»Mein lieber Benjamin«, begann die alte Dame, die sehr kurzatmig war und am ganzen Leibe zitterte – »erschrick nur nicht, guter Junge: aber ich möchte gern Herrn Sawyer einen Augenblick allein sprechen – nur einen Augenblick.«

»Bob«, sagte Herr Ben Allen, »führe meine Tante ins Stübchen.«

»Sehr gern«, erwiderte Bob in einem sehr würdigen Ton. »Hierher, meine verehrteste Madame. Haben Sie nur keine Angst, Madame. Ich zweifle keinen Augenblick, daß wir Sie in kurzer Zeit vollkommen wiederherstellen werden. Hier, meine teuerste Madame. Jetzt schütten Sie gefälligst Ihr Herz aus.«

Das erste, was die alte Dame tat, war, daß sie sehr oft den Kopf schüttelte und dann zu schluchzen begann.

»Nervös«, sagte Bob Sawyer verbindlich. »Kampferspiritus und Wasser dreimal des Tages und einen beruhigenden Trank für die Nacht.«

»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Herr Sawyer«, sagte die alte Dame. »Es ist so namenlos peinlich und schmerzlich.«

»Sie brauchen nicht anzufangen, Madame«, erwiderte Herr Bob Sawyer. »Ich weiß von vornherein alles, was sie sagen wollen. Ihr Leiden sitzt im Kopfe.«

»Ach nein, im Herzen«, sagte die alte Dame mit schwachem Gestöhne.

»Da ist nicht die geringste Gefahr, Madame«, erwiderte Bob Sawyer. »Der Magen ist die Hauptsache.«

»Herr Sawyer!« rief die alte Dame zusammenfahrend.

»Man kann nicht im geringsten zweifeln, Madame«, fuhr Bob mit wunderbar weiser Miene fort: »Arznei zu rechter Zeit würde alles verhütet haben, meine teuerste Madame.«

»Herr Sawyer«, sagte die alte Dame, noch aufgeregter als zuvor; »Ihr Benehmen gegen eine Frau in meiner Lage ist entweder eine große Unverschämtheit oder ein Beweis, daß Sie über den Zweck meines Besuches gänzlich im Irrtum sind. Hätte ich das, was geschehen ist, durch Arzneien oder Vorsicht verhüten können, so hätte ich es gewiß getan. Es ist übrigens am besten, ich wende mich unmittelbar an meinen Neffen«, fügte die Alte hinzu, indem sie voll Entrüstung ihren Strickbeutel herumdrehte und aufstand.

»Bleiben Sie doch noch einen Augenblick, Madame«, sagte Bob Sawyer: »ich fürchte, ich habe Sie mißverstanden, Um was handelt es sich denn, Madame?«

»Um meine Nichte, Herr Sawyer«, sagte die alte Dame – »um die Schwester Ihres Freundes.«

»Nun ja, Madame«, erwiderte Bob voll Ungeduld, denn die alte Dame sprach trotz ihrer äußersten Aufgeregtheit mit der peinigendsten Langsamkeit, wie alte Damen oft tun. »Nun ja, Madame.«

»Sie verließ mein Haus vor drei Tagen, Herr Sawyer, angeblich, um meine Schwester, eine andere Tante von ihr, zu besuchen, die unmittelbar jenseits des dritten Meilensteins die große Pension hält, dort, wo der große Bohnenbaum und das eichene Tor steht«, sagte die alte Dame und hielt inne, um ihre Augen zu trocknen.

»Der Teufel hole den Bohnenbaum, Madame«, sagte Bob, der in der Angst seine Amtswürde ganz vergaß. »Ein bißchen schneller, wenn ich bitten darf: wenden Sie ein bißchen mehr Dampf an, Madame.«

»Heute morgen«, fuhr die alte Dame langsam fort, »heute morgen ist sie –«

»Zurückgekommen, ohne Zweifel?« fiel Bob sehr aufgeregt ein: »zurückgekommen?«

»Nein, sie kam nicht – sie schrieb«, erwiderte die alte Dame.

»Und was schrieb sie?« fragte Bob voll Eifer.

»Sie schrieb, Herr Sawyer«, fuhr die Alte fort: – »und darauf bitte ich Sie, Benjamin allmählich und vorsichtig vorzubereiten – sie schrieb – sie sei – ich habe den Brief in meiner Tasche, Herr Sawyer: aber meine Brille liegt noch im Wagen, und es würde zu viel Zeit kosten, wenn ich Ihnen die betreffende Stelle ohne Brille vorlesen wollte: kurz und gut, Herr Sawyer, sie schrieb, sie sei verheiratet.«

»Was!« sagte oder schrie vielmehr Bob Sawyer.

»Verheiratet«, wiederholte die Alte.

Herr Bob Sawyer wollte nichts mehr hören: er stürzte aus dem Hinterstübchen in den äußeren Laden und rief mit Stentorstimme:

»Ben, lieber Freund, sie ist durchgegangen!«

Herr Ben Allen, der hinter dem Ladentisch eingeschlummert war und seinen Kopf etwa einen halben Fuß unter den Knien hängen hatte, vernahm nicht so bald diese Schreckensnachricht, als er urplötzlich auf Herrn Martin losstürzte, den schweigsamen Diener an seinem Halstuch faßte und die verbindliche Absicht ausdrückte, ihn auf der Stelle zu erwürgen – eine Absicht, die er auch sogleich mit einer Raschheit, wie sie oft nur die Verzweiflung zu geben vermag, und dabei mit großer Kraft und chirurgischer Geschicklichkeit auszuführen begann.

Herr Martin, ein Mann von wenig Worten und geringer Beredsamkeit oder Überzeugungsgabe, unterwarf sich dieser Operation einige Augenblicke mit einem sehr ruhigen und heitern Ausdruck in seinem Gesichte. Als er aber sah, daß diese Operation ihn schnell für alle künftigen Zeiten außerstand setzen könnte, auf Lohn, Schmerzensgeld oder sonst etwas zu warten, so murmelte er eine unverständliche Erwiderung und schlug Herrn Benjamin Allen zu Boden. Da aber dieser Gentleman die Hände in seiner Krawatte verwickelt hatte, so blieb ihm keine Wahl übrig, als ihm nachzufolgen. So kämpften sie beide noch liegend, als die Ladentür aufging und die Gesellschaft durch die Ankunft zweier höchst unerwarteten Gäste, nämlich der Herren Pickwick und Weller, vermehrt wurde.

Der erste Eindruck, den das, was er sah, auf Herrn Weller machte, war, daß Herr Martin von dem Etablissement Sawyer, weiland Nockemorf, gedungen sei, um starke Arzneien einzunehmen, Anfälle zu bekommen und Experimente mit sich anstellen zu lassen, oder auch um dann und wann ein Gift zu verschlucken, damit die Wirksamkeit einiger neuen Gegengifte sich erproben ließe, oder sonst etwas zu tun, was die große Wissenschaft »Medizin« befördern und den glühenden Wissensdurst befriedigen könnte, der in der Brust ihrer beiden jungen Anhänger brannte. Er machte daher keinen Versuch, sich ins Mittel zu legen, sondern blieb ruhig, gelassen und sah zu, als ob er auf das Ergebnis des schwebenden Experiments äußerst begierig wäre. Nicht so Herr Pickwick. Er warf sich sogleich mit seiner gewohnten Energie auf die Kämpfer und ermunterte die Umstehenden laut, die Feinde zu trennen.

Sein Geschrei brachte Herrn Bob Sawyer zur Besinnung, der bisher durch den Wahnsinn seines Freundes wie gelähmt dagestanden hatte; und mit Hilfe dieses Gentlemans brachte Herr Pickwick Ben Allen wieder auf die Beine. Herr Martin, der sich nun allein auf dem Boden sah, stand ebenfalls auf und blickte wild um sich.

»Herr Allen«, sagte Herr Pickwick, »was gibt es denn hier?«

»Das geht Sie nichts an, Sir«, erwiderte Herr Allen mit hochmütigem Trotz.

»Was ist denn los?« fragte Herr Pickwick, sich gegen Bob Sawyer wendend? »ist er unwohl?«

Ehe jedoch Bob antworten konnte, ergriff Herr Ben Allen Herrn Pickwick bei der Hand und murmelte in demütigem Tone:

»Meine Schwester, lieber Herr Pickwick, meine Schwester!«

»O, ist das alles?« fragte Herr Pickwick. »Diese Sache werden wir hoffentlich bald ins reine bringen. Ihre Schwester ist wohl und gesund und ich bin hier, mein teurer Sir, um –«

»Es tut mir leid, etwas zu tun, was so äußerst angenehme Verhandlungen unterbrechen kann, wie der König sagte, als er das Parlament auflöste«, fiel Herr Weller ein, der durch die Glastür geschaut hatte; »aber es ist noch ein anderes Experiment zu machen, Sir. Da liegt eine ehrwürdige alte Dame auf dem Teppich und wartet auf Sektion oder Galvanisierung oder sonst eine andere wiederbelebende und wissenschaftliche Erfindung.«

»Ach, das habe ich ganz vergessen«, rief Herr Ben Allen. »Es ist meine Tante.«

»Um Gottes willen«, sagte Herr Pickwick, »Die arme Dame! Nur sachte, Sam, sachte,«

»Eine sonderbare Lage für jemand aus der Familie«, bemerkte Sam Weller, indem er die Tante auf einen Stuhl hob. »Heda, Meister Knochensäger, das Riechfläschchen her!«

Diese Aufforderung war an den Burschen in der grauen Livree gerichtet, der das Fuhrwerk der Fürsorge eines Straßenaufsehers überlassen hatte und herbeigeeilt war, um zu sehen, was der Lärm bedeute. Durch die Bemühungen dieses Burschen nun, sowie des Herrn Bob Sawyer und des Herrn Benjamin Allen (der, nachdem er seine Tante in eine Ohnmacht geschreckt hatte, voll Zärtlichkeit und Eifer geschäftig war, sie wieder herzustellen), wurde die alte Dame endlich wieder zum Bewußtsein gebracht. Nun wandte sich Herr Ben Allen mit verstörtem Geiste an Herrn Pickwick und fragte ihn, was er habe sagen wollen, als er auf eine so beunruhigende Weise unterbrochen worden sei.

»Wir sind doch lauter gute Freunde hier?« sagte Herr Pickwick, sich räuspernd und nach dem wortkargen Mann mit dem sauertöpfischen Gesicht blickend, dem die Kutsche mit dem dickköpfigen Pferde angehörte.

Das erinnerte Herrn Bob Sawyer, daß der Bursche in der grauen Livree mit weit geöffneten Augen und gierigen Ohren zuschaute. Nachdem daher dieser angehende Chemiker an seinem Rockkragen in die Höhe gehoben und zur Tür hinausbefördert war, versicherte Bob Sawyer Herrn Pickwick, er könne jetzt ohne Rückhalt sprechen.

»Ihre Schwester, mein teurer Sir«, begann Herr Pickwick, sich gegen Benjamin Allen wendend, »befindet sich in London und ist wohl und glücklich.«

»Ich habe nichts mit ihrem Glück zu schaffen, Sir«, sagte Herr Benjamin Allen mit einer raschen Bewegung der Hand.

»Ich aber habe mit ihrem Gemahl zu schaffen, Sir«, sagte Bob Sawyer. »Ich will auf zwölf Schritte mit ihm zu schaffen haben, Sir, und will ihn gehörig verarbeiten, diesen niederträchtigen Schurken!«

Das war nun eine sehr runde, großherzige Erklärung; Herr Bob Sawyer aber schwächte ihre Wirkung dadurch, daß er einige Gemeinplätze, das Schädelzerklopfen und Augenausschlagen betreffend, mit einflocht.

»Nur sachte, Sir«, sagte Herr Pickwick: »bevor Sie auf den fraglichen Gentleman solche Beiwörter anwenden. Erwägen Sie einmal leidenschaftslos den Umfang seiner Schuld, und bedenken Sie vor allem, daß er ein Freund von mir ist.«

»Was?« sagte Herr Bob Sawyer.

»Wie heißt er? Wer ist er?« rief Ben Allen.

»Herr Nathaniel Winkle«, erklärte Herr Pickwick mit Festigkeit.

Herr Benjamin Allen zertrat ganz bedächtig seine Brille mit dem Absatz seines Stiefels, und nachdem er die Stücke aufgelesen und in drei verschiedene Taschen gesteckt hatte, legte er die Arme übereinander, biß sich in die Lippen und blickte mit drohender Gebärde in das sanfte Gesicht des Herrn Pickwick.

»Dann haben also Sie, Sir, und niemand anders als Sie, diese Verbindung ermutigt und zustande gebracht?« fragte Herr Benjamin Allen endlich.

»Und dann ist es«, fiel die alte Dame ein, »vermutlich der Diener dieses Gentleman gewesen, der um mein Haus herumschlich und meine Dienerschaft zu einer Verschwörung gegen mich zu verleiten suchte. Martin!«

»Madame?« sagte der sauertöpfische Mann vortretend.

»Ist das der junge Mann, den Sie in der Gasse sahen und von dem Sie mir heute früh erzählten?«

Herr Martin, der, wie es sich bereits herausgestellt hat, ein kurz angebundener, wortkarger Mann war, sah Sam Weller an, nickte mit dem Kopfe und brummte:

»Ja, der ist’s.«

Herr Weller, der keineswegs stolz war, lächelte zum Zeichen freundlichen Wiedererkennens, als seine Augen denen des griesgrämigen Groom begegneten, und gestand in höflichen Ausdrücken, daß er ihn schon von früher kenne.

»Und diesen treuen Menschen«, rief Herr Ben Allen, »hätte ich beinahe erwürgt! Herr Pickwick, wie konnten Sie es wagen, Ihrem Kerl zu erlauben, daß er sich bei der Entführung meiner Schwester gebrauchen ließ? Ich verlange eine Erklärung von Ihnen, Sir.«

»Erklären Sie sich, Sir«, schrie Bob Sawyer trotzig.

»Es ist eine Verschwörung«, sagte Ben Allen.

»Ein hinterlistiger, niederträchtiger Betrug«, fügte Bob Sawyer hinzu.

»Eine schändliche Büberei«, bemerkte die alte Dame.

»Ein echtes Schurkenstück«, meinte Martin.

»Bitte, hören Sie mich doch an«, bat Herr Pickwick, als Herr Ben Allen auf den Stuhl sank, wo er seinen Patienten zur Ader zu lassen pflegte, und seine Zuflucht zu seinem Taschentuche nahm. »Ich war bei der Sache durchaus unbeteiligt, außer daß ich einer Zusammenkunft der beiden jungen Leute beiwohnte. Ich konnte deren Liebe nun einmal nicht verhindern, und zwar tat ich dies in der Überzeugung, daß meine Anwesenheit auch den geringsten Schein von Unschicklichkeit, den die Sache sonst gehabt hätte, verbannen müsse. Weiter habe ich die Hand nicht im Spiele gehabt. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung davon, daß eine so schnelle Verbindung beabsichtigt werde. Im übrigen will ich nicht sagen, daß ich sie verhindert haben würde, wenn ich etwas davon gewußt hätte.«

»Sie hören es alle? Sie hören es?« sagte Herr Benjamin Allen.

»Hoffentlich«, bemerkte Herr Pickwick sanft, indem er um sich blickte, »und«, fügte er hinzu, indem ihm die Röte ins Gesicht stieg, »Sie hören hoffentlich auch das, Sir, daß ich Ihnen, nach allen eingezogenen Erkundigungen, versichern muß, wie Sie keineswegs berechtigt waren, den Neigungen ihrer Schwester einen Zwang anzutun. Sie hätten sich vielmehr bestreben sollen, ihr durch freundliches, zärtliches Benehmen alle andern näheren Verwandten zu ersetzen, deren sie von Kindheit auf keine gekannt hat. Was meinen jungen Freund betrifft, so erlaube ich mir hinzuzusetzen, daß er in Beziehung auf Glücksgüter und äußere Verhältnisse zum mindesten auf gleichem Fuße mit Ihnen steht, wo nicht auf einem weit besseren. Im übrigen werde ich nicht mehr über die Angelegenheit reden, wenn sie nicht mit geziemender Mäßigung und dem gebührenden Anstand verhandelt wird.

»Ich möchte auch noch einige wenige Bemerkungen zu dem machen, was von dem ehrenwerten Herrn Vorredner gesagt worden ist«, begann Herr Weller, vortretend, »nämlich das: ein Individuum in der Gesellschaft hat mich einen Kerl genannt.«

»Das hat durchaus nichts mit der Sache zu schaffen, Sam«, unterbrach ihn Herr Pickwick. »Sei so gut und schweig.«

»Ich will auch gar nichts über die Sache sagen, Sir«, erwiderte Sam, »als bloß dieses. Vielleicht denkt der Gentleman, es sei eine frühere Zuneigung vorhanden gewesen; aber das ist durchaus nicht der Fall; denn die junge Dame sagte gleich im Anfang der Bekanntschaft, daß sie ihn nicht ausstehen könne. Es hat ihn also niemand ausgestochen; und es wäre ganz der gleiche Fall für ihn gewesen, wenn die junge Dame den Herrn Winkle nie gesehen hätte. Das habe ich nur sagen wollen, Sir, und ich hoffe, das Gemüt des Gentlemans wird sich jetzt beruhigen.«

Auf diese trostreichen Bemerkungen des Herrn Weller folgte eine kurze Pause. Dann sprang Herr Ben Allen von seinem Stuhle auf und beteuerte, Arabella dürfe ihm nie wieder vor die Augen treten, während Herr Bob Sawyer, trotz Sams schmeichelhafter Versicherung, dem glücklichen Bräutigam schreckliche Rache gelobte.

Doch gerade in dem Augenblick, als die Sache das feindseligste Ansehen gewann und zu behalten drohte, fand Herr Pickwick einen mächtigen Beistand an der alten Dame, der die Art, wie er die Sache ihrer Nichte verfochten hatte, offenbar sehr gefiel, und die es daher wagte, Herrn Benjamin Allen einige tröstende Bemerkungen vorzuhalten: es sei doch vielleicht gut, daß es nicht noch schlimmer gekommen wäre. Beim Lichte betrachtet, stünden die Sachen doch nicht so gar schlimm: zu geschehenen Dingen müsse man das beste reden, und was man nicht abändern könne, darein müsse man sich in Geduld fügen. Dann fuhr die Tante noch eine ganze Weile in gleichen erbaulichen Betrachtungen fort. Herr Benjamin Allen erwiderte bloß, er habe allen möglichen Respekt vor seiner Tante und vor jedermann; dies ändere aber an der Sache nichts; man müsse ihm erlauben, seinem eigenen Kopf zu folgen, und er werde sich das Vergnügen nehmen, seine Schwester bis zu ihrem Tode und noch nach demselben zu hassen.

Endlich, nachdem er diesen Entschluß einhalbhundertmal angekündigt hatte, brauste die alte Dame auf einmal auf, blickte höchst majestätisch um sich und verlangte zu wissen, was sie getan habe, um so wenig Ehrerbietung für ihre Jahre und Verhältnisse zu verdienen und diese Sprache gegen ihren eigenen Neffen führen zu müssen, dessen sie seit den fünfundzwanzig Jahren seiner Geburt stets eingedenk gewesen sei, den sie gekannt habe, noch ehe er einen Zahn im Munde gehabt; nicht zu gedenken ihrer Anwesenheit, als man ihm zum erstenmal das Haar geschnitten, und ihrer Mitwirkung bei vielen andern Vorgängen und Feierlichkeiten während seiner Kindheit; lauter Dinge, die wichtig genug seien, um ihre Ansprüche auf seine Liebe, seinen Gehorsam und sein Mitgefühl auf immer zu begründen.

Während die gute Dame solchergestalt Herrn Ben Allen den Text las, hatten sich Herr Bob Sawyer und Herr Pickwick in eifriger Unterhaltung nach dem Hinterstübchen zurückgezogen, wo man den ersteren zu wiederholten Malen eine schwarze Flasche ansetzen sah, unter deren Einfluß seine Züge allgemach einen vergnügten und sogar heiteren Ausdruck gewannen. Endlich trat er sogar mit der Flasche in der Hand aus der Stube, erklärte, es tue ihm sehr leid, sagen zu müssen, daß er ein Narr gewesen sei, trank die Gesundheit und das Wohlergehen des Herrn und der Frau Winkle und sagte, daß er sie nicht nur nicht um ihr Glück beneide, sondern auch der erste sein wolle, der ihnen dazu gratuliere. Als Herr Ben Allen das hörte, sprang er von seinem Stuhle auf, ergriff die schwarze Flasche und trank gleichfalls auf die ausgebrachte Gesundheit so herzlich, daß er von dem starken Likör beinahe ebenso schwarz im Gesicht wurde wie die Flasche selbst. Endlich machte die schwarze Flasche die Runde, bis sie leer war, und da gab es denn ein Händeschütteln und einen Komplimentenaustausch, daß sogar Herr Martin mit dem metallenen Gesichte sich herabließ, zu lächeln.

»Und jetzt«, sagte Bob Sawyer, sich die Hände reibend, »jetzt wollen wir eine lustige Nacht haben.«

»Es tut mir leid«, sagte Herr Pickwick, »daß ich in meinen Gasthof zurückkehren muß. Ich bin seit längerer Zeit an keine Strapazen mehr gewöhnt, und die Reise hat mich gewaltig angegriffen.«

»Aber eine Tasse Tee werden Sie doch annehmen, Herr Pickwick?« sagte die alte Dame mit unwiderstehlicher Freundlichkeit.

»Danke sehr, ich kann wirklich nicht«, erwiderte der Gentleman,

Und in der Tat war die sichtbarlich zunehmende Zuvorkommenheit der alten Dame für Herrn Pickwick ein Hauptgrund, zu gehen. Er dachte an Frau Bardell, und jeder Strahl aus den Augen der Alten ließ ihn in kalten Schweiß geraten.

Da Herr Pickwick unter keinen Umständen zu bewegen war, zu bleiben, so wurde auf seinen eigenen Antrag beschlossen, Herr Benjamin Allen solle ihn auf seiner Reise zu dem älteren Herrn Winkle begleiten und die Kutsche am nächsten Morgen um neun Uhr vor der Tür stehen. Er nahm also Abschied und ging mit Samuel Weller nach dem Busch zurück. Es verdient bemerkt zu werden, daß Herrn Martins Gesicht sich schrecklich und eigentlich krampfhaft verzog, als er beim Abschied Sam die Hand schüttelte, und daß er sich dabei eines Lächelns und zugleich eines Fluches nicht enthalten konnte. Daraus zogen die, die mit den Eigenheiten des Herrn Martin am besten bekannt waren, den Schluß, er habe hierdurch seine große Freude über Herrn Wellers Gesellschaft ausdrücken wollen und bitte um die Ehre seiner ferneren Bekanntschaft.

»Soll ich ein besonderes Zimmer bestellen, Sir?« fragte Sam, als sie den Busch erreichten.

»Nein«, erwiderte Herr Pickwick; »da ich im Kaffeezimmer zu Mittag gespeist habe und bald zu Bett gehen werde, so ist es kaum der Mühe wert. Sieh einmal nach, wer im Gastzimmer ist.«

Herr Weller ging diesen Auftrag auszurichten und kam bald mit der Nachricht zurück, daß niemand da wäre, als ein einäugiger Gentleman und der Wirt, die miteinander eine Bowle Bischof19 tränken.

»Ich will mich zu ihnen setzen«, sagte Herr Pickwick.

»’s ist ein sonderbarer Kauz, dieser Einäugige«, bemerkte Herr Weller, als er ihm den Weg zeigte. »Er lügt den Wirt dermaßen an, Sir, daß er nimmer recht weiß, ob er auf den Sohlen seiner Stiefel oder auf der Krone seines Hutes steht.«

Das Individuum, dem diese Bemerkung galt, saß am oberen Ende des Zimmers, als Herr Pickwick, eintrat, und rauchte aus einer großen holländischen Pfeife; sein Auge hatte er fest auf das runde Gesicht des Wirts, eines lustigen alten Burschen, geheftet, dem er weben eine wunderbare Geschichte erzählt hatte, wie aus den verschiedenen abgebrochenen Ausrufungen desselben: »Ei, ei, wer hätte das geglaubt.« – »Die merkwürdigste Sache, die ich je gehört habe!« – »Nein, nicht möglich!« und andern Ausdrücken des Erstaunens hervorging, die unaufhörlich von seinen Lippen flossen, wenn er dem einäugigen Mann sein starres Anschauen zurückgab.

»Ihr Diener, Sir«, sagte der Einäugige zu Herrn Pickwick. »Ein schöner Abend, Sir.«

»Ja, sehr schön«, erwiderte Herr Pickwick, als der Kellner eine kleine Flasche Branntwein nebst einigem heißen Wasser vor ihm aufpflanzte.

Während Herr Pickwick seinen Branntwein mit Wasser mischte, blickte der Einäugige von Zeit zu Zeit ernsthaft um sich und sagte endlich:

»Ich glaube. Sie schon irgendwo gesehen zu haben.«

»Ich erinnere mich nicht«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sehr möglich«, sagte der Einäugige. »Sie kannten mich nicht, aber ich kannte zwei Freunde von Ihnen, die sich zur Zeit der Wahl im Pfauen zu Eatanswill aufgehalten haben.«

»Ah, wirklich?« rief Herr Pickwick.

»Ja«, erwiderte der Einäugige. »Ich erzählte ihnen eine kleine Geschichte von einem meiner Freunde, namens Tom Smart. Vielleicht hat man zu Ihnen davon wieder gesprochen?«

»O ja, oft«, erwiderte Herr Pickwick lächelnd. »Er war Ihr Onkel, wenn ich nicht irre.«

»Nein, nein – nur ein Freund meines Onkels«, versetzte der Einäugige.

»Das war ein wunderbarer Mann, Ihr Onkel«, bemerkte der Wirt, den Kopf schüttelnd.

»Allerdings, man darf es wohl sagen«, antwortete der Einäugige. »Ich könnte Ihnen von demselben Onkel eine Geschichte erzählen, meine Herren, worüber Sie gewiß staunen würden.«

»Nun, so lassen Sie hören«, sagte Herr Pickwick.

Der einäugige Hausierer schöpfte sich ein Glas voll aus der Bowle, trank es, tat einen langen Zug aus der holländischen Pfeife und rief Sam Weller, der an der Tür zögerte, zu, er brauche sich nicht zu entfernen, wenn man es nicht von ihm verlange: denn die Geschichte sei kein Geheimnis. Sofort heftete er sein Auge auf den Wirt und erzählte, was das nächste Kapitel vermelden wird.

  1. Ein Getränk aus Rotwein, Zucker und Apfelsinenschalen.

Fünfzigstes Kapitel.


Fünfzigstes Kapitel.

Die Geschichte von dem Onkel des Hausierers.

»Mein Onkel – verehrte Herren«, sagte der Hausierer, »war einer der lustigsten, angenehmsten und gescheitesten Burschen, die je gelebt haben. Ich wollte, Sie hätten ihn gekannt, meine Herren. Aber wenn ich die Sache näher überlege, so wünsche ich es nicht; denn wenn Sie ihn gekannt hätten, so würden Sie jetzt, nach dem gewöhnlichen Laufe der Natur, wo nicht tot, doch jedenfalls dem Tode so nahe sein, daß Sie zu Hause bleiben und alle Gesellschaft meiden müßten. Dadurch würde ich denn um das unschätzbare Vergnügen gekommen sein, jetzt mit Ihnen zu sprechen. Nein, meine Herren, ich wünsche, daß Ihre Väter und Mütter meinen Onkel gekannt hätten. Sie würden ganz gewiß erstaunlich viel auf ihn gehalten haben, besonders ihre ehrwürdigen Mütter. Wenn unter den zahlreichen Tugenden, die seinen Charakter zierten, zwei vorherrschten, so möchte ich sagen, es waren dies seine Punschbereitung und seine Gesänge nach dem Nachtessen. Entschuldigen Sie mein langes Verweilen bei diesen melancholischen Erinnerungen an entschwundenes Verdienst; aber einen Mann, wie meinen Onkel, findet man nicht alle Tage.

Ich habe es allezeit als einen Hauptzug im Charakter meines Onkels betrachtet, daß er der vertraute Freund und Kamerad des Tom Smart aus dem großen Hause Bilson und Slum, Cateatonstraße in der City, war. Mein Onkel reiste für Tiggin und Welps, nahm aber lange Zeit so ziemlich dieselbe Route wie Tom, und gleich am ersten Abend, an dem sie zusammentrafen, faßte mein Onkel eine Zuneigung für Tom, die von Tom in gleichem Grade erwidert wurde. Noch ehe sie einander eine halbe Stunde lang kannten, wetteten sie einen neuen Hut, wer am besten ein Quart Punsch brauen und am schnellsten austrinken könne. Mein Onkel gewann die Wette um das Brauen, aber Tom Smart überwand ihn im Trinken um etwa einen halben Salzlöffel voll. Sie machten jeder ein neues Quart aus, um gegenseitig ihre Gesundheit zu trinken und waren von der Zeit an immer die treuesten Freunde. In solchen Dingen waltet eine Fügung des Himmels, meine Herren; man kann ihr nicht entgehen.

Was sein Äußeres betrifft, so war mein Onkel ein bißchen unter der Mittelgröße, aber um einen Grad Verstand stärker als die gewöhnlichen Menschenkinder, und vielleicht war auch sein Gesicht um eine Schattierung röter. Er hatte das lustigste Gesicht, das man sich nur denken kann, meine Herren; etwas Hanswurstartiges darin, aber Nase und Kinn viel hübscher; seine Augen sprühten und funkelten von guter Laune; und ein Lächeln – aber kein so nichtssagendes, hölzernes Gegrinse, sondern ein echtes, fröhliches, herzliches, gutmütiges Lächeln schwebte ständig um seinen Mund. Er wurde einmal aus seinem Zweiradwagen herausgeschleudert und fiel mit dem Kopf gegen einen Meilenstein. Da lag er nun betäubt, und sein Gesicht war von den Steinen dermaßen zerschunden, daß ihn, um seinen eigenen starken Ausdruck zu gebrauchen, seine leibliche Mutter nicht erkannt hätte, wenn sie auf die Erde zurückgekommen wäre. Und in der Tat, wenn ich näher über die Sache nachdenke, meine Herren, so glaube ich selbst, daß sie ihn nicht erkannt haben würde, denn sie starb, als mein Onkel zwei Jahre und sieben Monate alt war; und schon seine Stulpenstiefel würden die gute Frau nicht wenig verlegen gemacht haben, um auch nichts von den Kiessteinen oder gar von seinem lustigen roten Gesicht zu sprechen. Nun, er lag also da; und ich habe meinen Onkel oft sagen hören, der Mann, der ihn aufgehoben, habe erzählt, daß er so lustig gelächelt habe, wie wenn er zu seinem Vergnügen herausgepurzelt wäre. Nachdem man ihn zur Ader gelassen, habe sich der erste schwache Schimmer der rückkehrenden Lebenskraft darin gezeigt, daß er in seinem Bett hoch aufgesprungen und in lautes Lachen ausgebrochen sei, das junge Frauenzimmer, das das Becken gehalten, geküßt, und auf der Stelle Hammelrippchen und eingemachte Nüsse gefordert habe. Er aß eingemachte Walnüsse für sein Leben gern, meine Herren. Er sagte, er habe immer gefunden, daß sie, ohne Weinessig genossen, so gut schmeckten wie Bier.

Meines Onkels große Reise fand zur Zeit statt, wo die Blätter fallen. Er kassierte dann die ausstehenden Schulden ein und nahm Aufträge für den Norden an. Von London ging er nach Edinburg, von Edinburg nach Glasgow, von Glasgow nach Edinburg zurück und von da zu Wasser wieder nach London. Sie müssen mich wohl verstehen, daß er nur seines Vergnügens halber zum zweitenmal nach Edinburg reiste. Er pflegte dort eine Woche zuzubringen, um nach seinen alten Freunden zu sehen und mit dem einen zu frühstücken, mit dem andern zu lunchen, mit dem dritten zu Mittag und mit einem vierten zu Abend zu speisen. So trieb er es eine volle Woche. Ich weiß nicht, meine Herren, ob einer von Ihnen schon einmal an einem echten, substantiellen, gastlichen schottischen Frühstück teilgenommen und dann ein kleines Lunch von einigen Körben Austern, einem Dutzend Flaschen guten Ales und zum Beschluß ein paar Maß Whisky genehmigt hat. Wenn Sie schon dabei waren, so werden Sie mir zugeben, daß dazu eine ziemlich gute Konstitution gehört, um nachher noch ein Mittag- und Abendessen einzunehmen.

Aber, Gott sei Lob und Dank, das alles war für meinen Onkel nichts. Er hatte sich so gut daran gewöhnt, daß es bloßes Kinderspiel für ihn war. Ich habe ihn sagen hören, er wolle die Dundeer einen Tag um den andern unter den Tisch trinken und, ohne zu taumeln, nach Hause gehen. Und doch, meine Herren, haben die Dundeer so starke Köpfe und einen so starken Punsch, wie man es zwischen beiden Erdpolen nur finden kann. Ich habe einmal von einem Glasgower und einem Dundeer erzählen hören, die in einer einzigen Sitzung fünfzehn Stunden lang miteinander um die Wette tranken. Sie erstickten zwar beide, und so gut es sich ermitteln ließ, im gleichen Augenblick; aber mit Ausnahme dieser Kleinigkeit, meine Herren, befanden sie sich noch genau so wohl wie vorher, meine Herren.

Eines Abends in den letzten vierundzwanzig Stunden vor seiner Einschiffung nach London speiste mein Onkel bei einem seiner ältesten Freunde, einem Baillie Mac oder so ähnlich, der in der alten Stadt Edinburg lebte. Des Baillies Frau war da, ferner seine drei Töchter, ein erwachsener Sohn und drei oder vier stämmige, lustige, alte, schottische Kumpane mit buschigen Augenbrauen, die der Baillie meinem Onkel zu Ehren und um einen recht lustigen Abend zu haben, eingeladen hatte. Es war ein glorreicher Schmaus. Da gab es geräucherte Lachse, finnländische Schellfische, Lammköpfe und Hachis – ein berühmtes schottisches Gericht, meine Herren, von dem mein Onkel zu sagen pflegte, wenn es auf den Tisch kam, es komme ihm vor wie ein Götterfraß; – außerdem noch eine Menge andere Sachen, deren Namen ich vergessen habe, übrigens jedenfalls lauter gute Sachen. Die Mädchen waren hübsch und munter, die Frau des Baillies eines der besten Geschöpfe, die je gelebt haben, und mein Onkel in seiner besten Stimmung. Die Folge war, daß die jungen Damen in einem fort kicherten, die alte Dame laut lachte, der Baillie und die andern alten Kumpane aber die ganze Zeit über brüllten und schrien, bis sie feuerrot wurden. Ich kann nicht mit Bestimmtheit angeben, wieviel Humpen Toddy- Whisky jeder der Herren nach dem Essen trank, aber soviel weiß ich, daß etwa um ein Uhr nach Mitternacht der erwachsene Sohn des Baillie kaum mehr lallen konnte, als er den ersten Vers des Liedes: ›Wilhelm braut ein gut Getränk usw.‹ zu singen versuchte. Da mein Onkel nun schon eine halbe Stunde neben diesem Sohn der einzige über dem Mahagonitisch noch sichtbare Mann gewesen war, so fiel es ihm ein, es möchte Zeit sein, aufzubrechen, besonders da sie schon um sieben Uhr zu trinken angefangen hatten, damit er zeitig nach Hause kommen möchte. Indessen meinte er doch, es dürfte nicht ganz höflich sein, sich gerade in diesem Augenblick zu entfernen. Er ernannte sich daher zum Präsidenten, mischte sich noch ein Glas, stand auf, um seine eigene Gesundheit auszubringen, hielt eine wohlgesetzte und sehr schmeichelhafte Rede auf sich selbst und trank den Toast mit großem Enthusiasmus. Da niemand mehr wachte, so nahm mein Onkel noch ein Tröpfchen zu sich, aber diesmal lauter und unvermischt, damit der Whisky ihm nicht verleidet werden möchte. Schließlich faßte er doch einen festen Entschluß, griff nach seinem Hut und wankte auf die Straße hinaus.

Es war eine wilde stürmische Nacht, als mein Onkel die Tür des Baillie schloß; er drückte den Hut fest auf den Kopf, damit ihn der Wind nicht nehme, steckte die Hände in die Taschen, schaute nach dem Himmel und nahm eine kurze Inspektion über den Zustand des Wetters vor. Die Wolken trieben in der schwindelndsten Eile über den Mond hin und verdunkelten ihn bald völlig; bald ließen sie ihn in seinem vollen Glanze hervorleuchten und über alle Gegenstände ringsum sein Licht verbreiten. Unmittelbar darauf aber jagten sie wieder mit vermehrter Schnelligkeit über ihn hin und verhüllten alles in Dunkel. ›Wahrhaftig, das will mir nicht gefallen‹, sagte mein Onkel, indem er das Wetter anredete, als fühlte er sich persönlich von ihm beleidigt. ›Das paßt durchaus nicht zu meiner Reise; nein, das geht wahrhaftig nicht‹, fügte er mit großem Nachdruck hinzu. Nachdem er diese Worte mehrere Male wiederholt, gewann er mit einiger Mühe sein Gleichgewicht wieder – er war nämlich durch sein langes Hinaufsehen an den Himmel schwindlig geworden – und ging vergnügt seines Wegs.

Der Baillie wohnte in Canongate, und mein Onkel mußte eine ganze Meile weit ausschreiten bis zum andern Ende von Leith Walk. Auf beiden Seiten schossen hohe, schmale, zuweilen einzelnstehende Häuser gegen den schwarzen Himmel empor mit verwitterten Vorderseiten und Fenstern, die das Los der Menschenaugen geteilt zu haben, d. h. vor Alter düster geworden und eingesunken zu sein schienen. Sechs, sieben, acht Stock hoch waren die Häuser; Stockwerk auf Stockwerk gehäuft, wie Kinder mit Karten bauen. – Sie warfen ihren düsteren Schatten über die rauh gepflasterten Straßen und machten die Nacht noch finsterer. Einige wenige Öllampen hingen in langen Zwischenräumen hier und da, dienten aber nur dazu, den schmutzigen Eingang in irgendein schmales Gäßchen zu bezeichnen, oder zu zeigen, wie irgendein steiler und verwickelter Steg wieder auf die verschiedenen ebenen Wege führte. All das mit der Miene eines Mannes betrachtend, der so etwas schon zu oft gesehen hat, um sie einer Beachtung wert zu finden, ging mein Onkel, die Daumen in seiner Westentasche, mitten auf der Straße dahin, sang dabei von Zeit zu Zeit zu seiner Unterhaltung allerlei Liedchen, und zwar so kräftig und wohlgemut, daß die ruhigen, ehrsamen Leute aus ihrem ersten Schlaf aufschraken und zitternd im Bette lagen, bis die Töne in der Ferne erstarben. Dann trösteten sie sich mit dem Gedanken, es sei wohl nur irgendein betrunkener Taugenichts, der den Weg nach Hause suche, deckten sich warm zu und versanken wieder in den Schlaf.

Wenn ich so weitläufig erzähle, wie mein Onkel mit den Daumen in seinen Westentaschen mitten auf der Straße einherwandelte, so geschieht das deshalb, meine Herren, weil, wie er, und zwar mit allem Recht, zu sagen pflegte, an der ganzen Geschichte nichts Außerordentliches ist, wenn man sich nicht gleich im Anfang gehörig merkt, daß er keineswegs in einer zum Wunderbaren geneigten oder romantischen Stimmung war.

Mein Onkel wandelte also mit seinen Daumen in den Westentaschen dahin, indem er die Mitte der Straße einnahm, bald einen Vers aus einem Liebes-, bald aus einem Trinkliede sang, und wenn er beides genug hatte, gar melodisch pfiff, bis er die Nordbrücke erreichte, die hier die Alt- und Neustadt von Edinburg verbindet. Er stand eine Minute lang still, um die seltsam unregelmäßige Masse von übereinanderhängenden Lichtern zu betrachten, die in der Entfernung meist so hoch in der Luft flimmerten, daß sie aussahen wie Sterne, die von den Kastellmauern auf der einen und von dem Caltonhill auf der andern Seite herabfunkelten. Es war, als ob sie wirkliche Kastelle in der Luft beleuchteten, während die alte malerische Stadt unten in Dunkel und Finsternis schwer schlief. Der Palast und die Kapelle von Holyrood aber, die, wie ein Freund meines Onkels zu sagen pflegte, Tag und Nacht von des alten Arthurs Sitz aus bewacht werden, ragte düster und finster wie ein grämlicher Genius über die bejahrte Stadt hin, die er so lange gehütet. Hier, meine Herren, blieb also mein Onkel eine Minute lang stehen, um sich umzuschauen. Dann machte er dem Wetter, das sich, obgleich der Mond im Untergehen war, ein wenig aufgeklärt hatte, sein Kompliment und schritt so königlich wie vorher wieder weiter, mit großer Würde die Mitte der Straße behauptend und um sich blickend, als wünschte er gar sehr auf jemand zu stoßen, der ihn den Besitz dieser Straßenmitte streitig machen wollte. Zufälligerweise zeigte jedoch niemand Lust zu diesem Kampfe, und so zog er mit den Daumen in seinen Westentaschen friedlich wie ein Lamm dahin.

Als mein Onkel das Ende von Leith Walk erreichte, mußte er über einen ziemlich großen, unangebauten Platz schreiten, der ihn von einer kurzen nach seiner Wohnung führenden Straße trennte. Auf diesem unangebauten Platze befand sich dazumalen eine Einfriedigung, die einem Wagenbauer gehörte. Dieser pflegte der Post ihre alten abgenutzten Kutschen abzukaufen. Da nun mein Onkel eine besondere Vorliebe für Kutschen, alte, junge oder mittelalterliche hatte, so kam ihm auf einmal der Gedanke, von seiner Straße ein bißchen abzugehen, um sich durch die Pfahleinfriedigung hindurch diese Kutschen anzusehen. Er glaubte deren ungefähr ein Dutzend in einem höchst verwahrlosten Zustand und teilweise zertrümmert in dem genannten Raum zu bemerken. Mein Onkel war ein sehr enthusiastisches, kurz angebundenes Menschenkind, meine Herren. Als er merkte, daß er durch die Umzäunung nicht gut hindurchsehen konnte, kletterte er über sie hinein, setzte sich ganz ruhig auf eine alte Wagenachse und begann mit großem Ernst sich die Postkutschen zu betrachten.

Es mochten ein Dutzend oder auch ein paar mehr sein – mein Onkel kam über diesen Punkt nie ganz ins reine, und da er in Beziehung auf Zahlen ein Mann von peinlicher Wahrheitsliebe war, so sprach er sich nicht bestimmt darüber aus – aber da standen sie alle, in der trostlosesten Lage durcheinander gerückt, die man sich nur denken kann. Die Türen waren aus den Angeln gerissen und fehlten, das Futter war gleichfalls abgerissen, und nur noch dann und wann hing ein Läppchen an einem rostigen Nagel. Die Laternen waren dahin, die Deichseln schon längst verschwunden, das Eisen rostig, die Farbe abgeschabt; der Wind pfiff durch die Ritzen des entblößten Holzwerks, in den Dächern hatte sich der Regen gesammelt und fiel in hohlem melancholischem Ton tropfenweise hinein. Es waren nur noch die zerfallenen Skelette dahingeschwundener Postkutschen; und an diesem einsamen Orte, um diese Zeit der Nacht, sahen sie gar düster und jammervoll aus.

Mein Onkel stützte den Kopf auf seine Hände und gedachte der geschäftigen, unruhigen Leute, die vor Jahren in den alten Kutschen dahingerasselt und jetzt ebenfalls schweigsam und ganz verändert waren. Er gedachte der zahllosen Leute, denen eines dieser gebrechlichen, vermoderten Fuhrwerke viele Jahre lang Nacht um Nacht und bei jedem Wetter die ängstlich erwartete Kunde, den sehnsüchtig verlangten Wechsel, die versprochene Versicherung der Gesundheit und des Wohlseins, die plötzliche Nachricht von Krankheit und Tod gebracht hatte. Der Kaufmann, der Liebhaber, die Gattin, die Witwe, die Mutter, der Schulknabe, das Kind, das beim Klopfen des Briefträgers nach der Tür hintrippelte – wie neugierig hatten sie alle der Ankunft der alten Kutsche entgegengesehen! und wo waren sie jetzt alle??

Meine Herren, mein Onkel pflegte zu sagen, daß er damals an all das gedacht habe; allein ich vermute eher, daß er es nachher in einem Buche gelesen, denn er erklärte selbst ganz ausdrücklich, daß er, wie er so auf der alten Wagenachse saß und die zerfallenen Postkutschen betrachtete, in eine Art Dösen versunken sei. Daraus hätten ihn plötzlich die dumpfen Töne der Kirchenuhr geweckt, die zwei geschlagen. Überdies war mein Onkel niemals ein gewaltiger Denker, und wenn er an alle diese Sachen gedacht hätte, so bin ich überzeugt, daß solche Gedanken ihn wenigstens bis halb drei Uhr beschäftigt haben würden. Deshalb, meine Herren, bin ich entschieden der Ansicht, daß mein Onkel eingedöst ist, ohne an derlei zu denken.

Dem sei nun, wie es wolle, eine Kirchenuhr schlug zwei. Mein Onkel erwachte, rieb sich die Augen und sprang verwundert auf.

In dem Augenblick, da die Glocke ausgeschlagen hatte, verwandelte sich dieser ruhige und verlassene Platz auf einmal in eine Szene von Leben und Bewegung. Die Kutschentüren waren in den Angeln, das Futter ganz in Ordnung, das Eisenwerk so gut wie neu, die Farben wieder hergestellt, die Laternen brannten, Kissen und große Mäntel lagen auf jedem Bock; die Packer steckten Pakete in die Kutschenschläge, die Schaffner verwahrten ihre Briefe, die Hausknechte schütteten Kübel voll Wasser über die frischen Räder, viele Leute stürzten herbei und merkten sich die betreffende Kutsche; Passagiere kamen, die Koffer wurden aufgepackt, die Pferde angespannt; kurzum, es war vollkommen klar, daß jede Kutsche sogleich abfahren mußte. Mein Onkel sperrte ob alledem die Augen so weit auf, daß er bis zum letzten Augenblick seines Lebens zu sagen pflegte, er wundere sich nur, wie er imstande gewesen sei, sie wieder zu schließen.

›He da‹, sagte eine Stimme, und mein Onkel fühlte eine Hand auf seiner Schulter. ›Sie haben ein Billett auf einen inneren Platz. Steigen Sie ein.‹

›Ich ein Billett?‹ rief mein Onkel, sich umwendend.

›Freilich.‹

Mein Onkel konnte kein Wort sprechen, denn er war vor Erstaunen ganz außer sich. Das närrischste an der Sache aber war, daß bei all dem Gedränge, und obgleich jeden Augenblick neue Gesichter auftauchten, doch niemand sagen konnte, woher sie kamen; sie schienen auf irgendeine seltsame Art aus dem Boden zu wachsen oder aus der Luft herabzukommen und ebenso wieder zu verschwinden. Wenn ein Packknecht sein Gepäck in die Kutsche gelegt und sein Trinkgeld empfangen hatte, wandte er sich um und war fort. Ehe mein Onkel recht angefangen hatte, sich zu verwundern, was aus ihm geworden sei, traten einhalb Dutzend frische auf und wankten unter der Last von Koffern, die schwer genug schienen, daß sie darunter hätten zusammenbrechen können, einher. Die Passagiere waren ebenfalls sonderbar gekleidet – weite, breit gesäumte Tressenröcke mit großen Aufschlägen und ohne Kragen und Perücken, meine Herren – große förmliche Perücken mit einem Knoten hinten. Mein Onkel konnte nicht klug daraus werden.

›Nun, werden Sie bald einsteigen?‹ fragte der Mann, der meinen Onkel zuerst angeredet hatte. Er war wie ein Schaffner gekleidet, hatte eine Perücke auf dem Kopf, ungeheure Ärmelaufschläge an dem Rock und in der einen Hand eine Laterne, in der andern eine gewaltige Doppelbüchse, die er eben in seinen kleinen Sack stecken wollte. ›Werden Sie bald einsteigen, Jack Martin?‹, sagte er und hielt meinem Onkel die Laterne vors Gesicht.

›Ei, der Teufel!‹ sagte mein Onkel, ein paar Schritte zurücktretend; ›das nenne ich wirklich sehr vertraulich.‹

›Es steht so im Passagierverzeichnis‹, erwiderte der Schaffner.

›Und steht kein Herr davor?‹ fragte mein Onkel – denn er fühlte, meine Herren, daß es sich für einen Schaffner, den er gar nicht kannte, keineswegs schicke, ihn schlechtweg Jack Martin anzureden, und daß das Postamt diese Freiheit gewiß nicht gutheißen würde, wenn er das anzeigte.

›Nein‹, erwiderte der Schaffner kaltblütig.

›Ist für mich bezahlt?‹ fragte mein Onkel.

›Versteht sich‹, erwiderte der Schaffner.

›So, so; schon gut‹, sagte mein Onkel. ›In welcher Kutsche fahre ich?‹

›In dieser da‹, entgegnete der Schaffner, auf eine altmodische Edinburg-Londoner Postkutsche deutend, wo der Tritt bereits heruntergelassen war und die Tür offen stand. ›Doch halt – da sind die andern Passagiere; lassen Sie diese zuerst einsteigen.‹

Als der Schaffner so sprach, erschien auf einmal gerade vor meinem Onkel ein junger Gentleman in einer bepuderten Perücke und einem himmelblauen silberbordierten Rock mit vollen breiten Schößen, die mit Steifleinwand gefüttert waren. Auf dem gedruckten Kattun und im Westenfutter stand Tiggin und Welps zu lesen, meine Herren, und so kannte mein Onkel sämtliche Stoffe im Augenblick. Der junge Mann trug Kniehosen, eine Art Gamaschen über seinen seidenen Strümpfen und Schnallenschuhe. Um seine Handgelenke kräuselten sich Manschetten, und auf dem Kopfe hatte er einen dreieckigen Hut, während an seiner Seite ein langer, spitzer Degen hing. Die Flügel seiner Weste reichten ihm bis über die Hälfte der Schenkel hinab, und die Zipfel seines Halstuches hingen bis an die Mitte des Leibes hinunter. Er schritt gravitätisch auf den Kutschenschlag zu, nahm seinen Hut ab, hielt ihn auf Armlänge über den Kopf empor und streckte dabei seinen kleinen Finger in die Luft, wie Gecken manchmal tun, wenn sie eine Tasse Tee nehmen. Darauf – rückte er die Hacken zusammen, machte eine tiefe, steife Verbeugung und streckte dann seine linke Hand aus. Mein Onkel war eben im Begriff vorzutreten und sie herzlich zu schütteln, als er bemerkte, daß diese Aufmerksamkeit nicht an ihn gerichtet war, sondern an eine junge Dame in einem altmodischen Samtkleid mit langer Taille und einem ebensolchen Brustlatz, die soeben an dem Kutschentritte erschien. Sie hatte keinen Hut auf dem Kopfe, meine Herren, dafür jedoch eine schwarze seidene Haube. Aber sie sah sich einen Augenblick um, als sie Anstalten machte, in die Kutsche zu steigen, und ein so schönes Gesicht, wie sie zeigte, hatte mein Onkel noch nie gesehen, nicht einmal auf einem Gemälde. Sie stieg endlich wirklich ein, wobei sie mit einer Hand das Kleid aufhob, und mein Onkel beteuerte jedesmal, wenn er diese Geschichte erzählte, mit feierlichem Schwur, er hätte es nie für möglich gehalten, daß Beine und Füße einen solchen Grad von Vollkommenheit erlangen könnten, wenn er diese nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.

Aber bei diesem einzigen Lichtstrahl des schönen Gesichtes sah mein Onkel, daß die junge Dame einen flehenden Blick auf ihn geworfen hatte, und daß sie äußerst betrübt und niedergeschlagen aussah. Er bemerkte auch, daß sie der junge Mann mit der bepuderten Perücke, trotz seiner scheinbaren Galanterie, die allerdings sehr fein und großartig war, fest beim Handgelenk faßte, als sie einstieg, weshalb er ihr unmittelbar nachfolgte. Ein Kerl von äußerst boshaftem Aussehen, mit einer dunkelbraunen Perücke, einem pflaumfarbigen Rock, einem gewaltigen Schwert an der Seite und Stiefeln, die ihm bis an die Hüften reichten, gehörte ebenfalls zu der Gesellschaft. Als er sich nun unmittelbar neben die junge Dame setzte, die sich bei seiner Annäherung in eine Ecke zusammendrückte, da bestätigte sich meinem Onkel sein ursprünglicher Eindruck, daß hier irgendeine geheimnisvolle finstere Tat im Werk sein müsse, oder wie er sich gewöhnlich ausdrückte, daß es hier nicht ganz geheuer sein könne. Es verdient wirklich Bewunderung, wie schnell er den Beschluß faßte, auf jede Gefahr hin der Dame Hilfe zu leisten, wenn sie ihrer bedürfen sollte.

›Tod und Blitz!‹ rief der junge Gentleman, an sein Schwert schlagend, als mein Onkel in die Kutsche stieg.

›Donner und Blut!‹ brüllte der andere Gentleman.

Zugleich riß er sein Schwert aus der Scheide und machte ohne weitere Umstände einen Ausfall auf meinen Onkel. Mein Onkel hatte keine Waffen bei sich, aber mit großer Gewandtheit riß er dem boshaft aussehenden Gentleman seinen dreieckigen Hut von dem Kopf, fing die Spitze des Schwertes mit der Krone dieses Hutes auf, drückte dann die Seiten zusammen und hielt die Klinge damit fest.

›Durchbohren Sie ihn von hinten!‹ schrie der Kerl mit der Galgenphysiognomie seinem Begleiter zu, während er sich bemühte, sein Schwert wieder an sich zu reißen.

›Er wird gut tun, das bleiben zu lassen‹, rief mein Onkel, indem er den Absatz eines seiner Stiefel mit drohender Gebärde schwang. ›Ich schlage ihm das Hirn aus dem Kopf, wenn er welches darin hat, oder zermalme ihm wenigstens den Schädel, wenn er keines hat.‹

Dabei nahm mein Onkel seine ganze Kraft zusammen, riß dem Kerl mit der Galgenphysiognomie das Schwert aus der Hand und warf es geradezu zum Kutschenfenster hinaus, worauf der junge Gentleman abermals Tod und Blitz rief und mit ingrimmiger Gebärde auf das Heft seines Degens schlug, dasselbe aber nicht zog. Vielleicht, meine Herren – (pflegte mein Onkel lächelnd zu sagen) vielleicht fürchtete er, der Dame Angst zu machen.

›Nun, meine Herren‹, sagte mein Onkel, indem er mit vieler Ruhe seinen Platz einnahm, ›ich wünsche nicht, daß in Gegenwart einer Dame mit oder ohne Blitz ein Todesfall vorkäme. Blut und Donner haben wir für eine Reise jetzt schon genug gehabt; wenn es Ihnen also gefällig ist, so wollen wir uns wie friedliebende Postwagenpassagiere auf unsere Plätze setzen. He da, Schaffner, geben Sie doch das kleine Käsemesser des Gentlemans herein!‹

Sobald mein Onkel diese Worte gesagt hatte, erschien der Schaffner an der Kutschentür mit des Gentlemans Schwert in der Hand. Er hielt seine Laterne empor und blickte dabei meinem Onkel ernst ins Gesicht, und mein Onkel sah bei diesem Lichte zu seiner großen Verwunderung, daß eine riesige Menge Schaffner um den Wagen herumschwärmte, die ihn sämtlich ebenso fest ins Auge faßte. Er hatte zeitlebens noch nie ein solches wogendes Meer von weißen Gesichtern, roten Körpern und ernsthaften Augen gesehen.

›So etwas Wunderbares ist mir doch noch nie vorgekommen‹, dachte mein Onkel – ›erlauben Sie mir, Ihnen Ihren Hut zurückzugeben, Sir!‹

Der boshaft blickende Gentleman nahm seinen dreieckigen Hut schweigend zurück, betrachtete mit forschender Miene das Loch in der Mitte und steckte ihn endlich auf die Spitze seiner Perücke mit einer Feierlichkeit, deren Wirkung jedoch durch ein plötzliches, heftiges Niesen etwas geschwächt wurde; denn infolgedessen purzelte der Hut wieder herunter.

›Alles in Ordnung!‹ rief der Schaffner, mit der Laterne auf seinen kleinen Sitz hinten hinaufsteigend, und nun fuhren sie ab.

Mein Onkel sah zum Kutschenfenster hinaus, als sie vor den Posthof hinauskamen, und bemerkte, daß die andern Kutschen samt den Postillionen, Schaffnern, Pferden und Passagieren fortwährend in einem langsamen Trott, so daß sie etwa fünf Meilen in der Stunde zurückgelegt hätten, im Kreise herumfuhren. Meine Herren, da entbrannte mein Onkel vor Entrüstung. Als Handelsmann fühlte er, daß man mit den Postpaketen nicht so fahrlässig umgehen dürfe, und er beschloß, unmittelbar nach seiner Ankunft in London, dem Postamt die gebührende Anzeige davon zu machen.

Für den Augenblick waren jedoch seine Gedanken mit der jungen Dame beschäftigt, die in der äußersten Ecke der Kutsche saß und ihr Gesicht gänzlich in ihre Haube gehüllt hatte. Der Gentleman im himmelblauen Rocke saß ihr gerade gegenüber, der andere Herr mit dem pflaumfarbigen Kleid an ihrer Seite, und beide beobachteten sie sehr genau. Wenn sie nur die geringste Bewegung machte, wenn nur die Falten ihrer Haube ein wenig sich bewegten, so konnte er den boshaft aussehenden Mann an sein Schwert schlagen hören und aus dem Schnauben des andern (es war nämlich so dunkel, daß er dessen Gesicht nicht sehen konnte) entnehmen, daß jener sich so wütend gebärdete, als wollte er sie mit Haut und Haar verschlingen. Dies machte meinen Onkel immer aufmerksamer, und er beschloß, es komme was da wolle, das Ende der Geschichte mit anzusehen. Er hegte eine große Bewunderung für glänzende Augen, süße Gesichtchen und hübsche Beine; kurz, er war in das ganze schöne Geschlecht verliebt. Es liegt das so in unserer Familie, meine Herrn; mir ergeht es auch nicht anders.

Mein Onkel kam auf eine Menge listiger Erfindungen, um die Aufmerksamkeit der Dame auf sich zu ziehen, oder jedenfalls mit dem geheimnisvollen Herrn ein Gespräch anzuknüpfen. – Allein vergeblich. Die Herren wollten nichts sprechen und die Dame wagte es nicht. Er steckte von Zeit zu Zeit den Kopf zum Kutschenfenster hinaus und schrie die Postillione an, warum sie nicht schneller führen. Er schrie sich heiser; aber niemand widmete ihm die geringste Aufmerksamkeit. Er lehnte sich in die Kutsche zurück und dachte an das schöne Gesicht, an die schönen Beine. Das schlug besser an; es vertrieb ihm die Zeit und verscheuchte den Gedanken, wohin es gehe und in welch sonderbarer Lage er sich befinde. Doch hätte er sich auch darüber nicht sehr gegrämt, denn, meine Herren, mein Onkel war ein gewaltig lustiger und leichtfertiger Kamerad, der sich um keinen Teufel scherte.

Auf einmal hielt die Kutsche an.

›He da!‹ rief mein Onkel, ›schon an Ort und Stelle?‹

›Ja‹, sagte der Schaffner, indem er die Tritte hinunterließ, ›steigen Sie aus.‹

›Hier?‹ rief mein Onkel.

›Ja‹, erwiderte der Schaffner.

›Das tue ich nicht‹, sagte mein Onkel.

›Nun gut, so bleiben Sie, wo Sie sind‹, erklärte der Schaffner.

›Das werde ich auch‹, sagte mein Onkel.

›Meinetwegen‹, erwiderte der Schaffner.

Die andern Passagiere hatten dieses Zwiegespräch sehr aufmerksam mit angehört, und da sie fanden, daß mein Onkel entschlossen war, nicht auszusteigen, so drückte sich der jüngere Herr an ihm vorüber, um der Dame hinauszuhelfen. In diesem Augenblick besichtigte der boshaft aussehende Mann das Loch in der Spitze seines Dreimasters. Als die junge Dame an meinem Onkel vorüberhuschte, ließ sie einen ihrer Handschuhe in seine Hand fallen und flüsterte ihm mit ihren Lippen so nahe an seinem Gesicht, daß er ihren warmen Atem an seiner Nase spürte, das einzige Wörtchen: ›Hilfe!‹ zu. Jetzt, meine Herren, sprang mein Onkel auf einmal mit solcher Heftigkeit hinaus, daß die Kutsche in ihren Federn schwankte.

›So, haben Sie sich eines Besseren besonnen?‹ sagte der Schaffner, als er meinen Onkel auf dem Boden stehen sah.

Mein Onkel blickte den Schaffner einige Sekunden lang an, etwas zweifelhaft, ob es nicht besser wäre, ihm seine Doppelbüchse aus der Hand zu reißen, den Mann mit dem großen Schwert niederzuschießen, den andern mit dem Kolben niederzuschlagen, die junge Dame in seine Arme zu nehmen und sich wie der Blitz mit ihr aus dem Staube zu machen. Bei näherer Überlegung gab er jedoch diesen Plan auf, weil ihm seine Ausführung um einen Schatten zu melodramatisch vorkam, und folgte den beiden geheimnisvollen Herren, die, die Dame in ihrer Mitte, gerade in ein altes Haus traten, vor dem die Kutsche angehalten hatte. Sie lenkten in die Hausflur ein, und mein Onkel hielt sich dicht hinter ihnen.

Mein Onkel hatte schon viele trostlos verfallene Häuser gesehen, aber noch keines so wie dieses. Dem Anschein nach mußte es früher ein großes Wirtshaus gewesen sein. Allein das Dach war an manchen Stellen eingefallen und die Treppen waren steil, holperig und zerbrochen. In dem Zimmer, worein sie traten, befand sich ein ungeheurer Ofensitz, der Kamin war von Rauch geschwärzt, aber es brannte kein Feuer darin. Der weiße leichte Staub von verbranntem Holz war noch über den Herd gestreut, aber der Ofen war kalt und alles finster und düster.

›Schön‹, sagte mein Oheim, als er um sich blickte, ›eine recht saubere Einrichtung, daß man sechs und eine halbe Stunde lang in einer Postkutsche gefahren ist und dann auf unbestimmte Zeit in einer solchen Höhle anhalten soll. Das muß bekanntgemacht werden; ich setze es in die Zeitungen.‹

Mein Onkel sagte das mit ziemlich lauter Stimme und in offener, rückhaltloser Manier, um womöglich mit den zwei Fremdlingen ein Gespräch anzuknüpfen. Aber keiner von beiden nahm Notiz von ihm, außer daß sie einander zuflüsterten und ihm dabei finstere Blicke zuwarfen. Die Dame war am andern Ende des Zimmers, und einmal wagte sie es, ihre Hand zu bewegen, als ob sie meinen Onkel um Beistand anflehte.

Endlich näherten sich die beiden Fremden ihm etwas und die Unterhaltung begann wirklich.

›Sie scheinen nicht zu wissen, Kerl, daß dies ein Privatzimmer ist‹, redete ihn der Gentleman mit dem himmelblauen Rock an.

›Nein, ich weiß es nicht, Kerl‹, antwortete mein Onkel; ›wenn dies übrigens ein besonders für die Reisenden eingerichtetes Privatzimmer ist, dann muß das Gastzimmer wohl höchst lieblich und bequem sein.‹

Mit diesen Worten setzte sich mein Onkel auf einen hochlehnigen Stuhl und maß den Gentleman so genau mit den Augen, daß er der Schneiderfirma Tiggin und Welps bloß nach dieser Schätzung genau hätte angeben können, wieviel Stoff sie bei einem Rock für diesen Gentleman hätten reservieren müssen. Da wäre kein Zoll zu viel noch zu wenig gewesen.

›Verlassen Sie das Zimmer‹, sagten die beiden Männer, nach ihren Degen greifend.

›Was sagen Sie?‹ bemerkte mein Onkel, der sich stellte, als ob er ihre Aufforderung schlechterdings nicht begriffe.

›Verlassen Sie das Zimmer oder Sie sind ein Mann des Todes‹, sprach der boshaft Blickende mit dem großen Degen, indem er ihn sogleich zog und in der Luft schwang.

›Nieder mit ihm!‹ rief der Himmelblaue, indem er ebenfalls seinen Degen zog und zwei oder drei Schritte ausfiel, ›nieder mit ihm!‹ Die Dame stieß einen lauten Schrei aus.

Nun hatte sich mein Onkel von jeher durch großen Mut und ungewöhnliche Geistesgegenwart ausgezeichnet. Er hatte sich diese Zeit über zwar scheinbar vollkommen gleichgültig verhalten, aber dabei listigerweise immer nach irgendeiner Verteidigungswaffe umgesehen und in dem Augenblick, wo die Degen gezogen wurden, wirklich im Kaminwinkel ein altes Rapier mit einem Korb und in einer rostigen Scheide erspäht. Mit einem Sprung hatte es mein Onkel in der Hand, zog es, schwang es tapfer über seinem Kopfe, rief der Dame laut zu, sie möchte auf die Seite treten, schleuderte nach dem Himmelblauen den Stuhl, nach dem Pflaumfarbigen die Scheide, benutzte dann die Verwirrung, über beide herzufallen, und hieb wacker auf sie los.

Meine Herren, es ist eine alte Geschichte, und deshalb ist sie nicht schlechter, weil sie wahr ist: nämlich, daß ein junger irischer Gentleman auf die Frage, ob er die Geige spielen könne, zur Antwort gab, er zweifle nicht daran, vermöge es jedoch nicht mit Bestimmtheit zu sagen, da er es noch nie versucht habe. Diese Geschichte paßt einigermaßen auf meinen Onkel und sein Fechten. Er hatte nie zuvor einen Degen in seiner Hand gehabt, außer ein einzigesmal, als er auf einem Privattheater Richard III. spielte. Dabei war mit Richmond verabredet worden, daß er von hinten durchrannt werden solle, ohne vorher überhaupt fechten zu müssen. Aber hier stieß und hieb er sich mit zwei erfahrenen Fechtern herum, schlug und parierte, fiel aus und voltierte, und erwies sich dabei überhaupt so mannhaft und gewandt wie möglich, obgleich er bis auf diesen Augenblick nicht gewußt, daß er auch nur den geringsten Begriff von dieser Kunst habe. Ein mächtiger Beweis für die Wahrheit des alten Sprichworts: Probieren gehe über Studieren.

Der Kampf verursachte einen schrecklichen Lärm, da alle drei wie Matrosen fluchten und ihre Degen mit solcher Macht gegeneinander schlugen, daß es sich anhörte, als rasselten auf einmal alle Messer und Stähle auf dem Newportmarkt zusammen. Als das Gefecht am hitzigsten war, zog die Dame, höchstwahrscheinlich um meinen Onkel zu ermutigen, ihre Haube ganz von ihrem Gesichte weg und enthüllte ein Antlitz von solch blendender Schönheit, daß er gerne mit fünfzig Männern gefochten hätte, nur um ihm ein Lächeln abzugewinnen und dann zu sterben. Er hatte schon vorher Wunder getan, jetzt aber fing er an, sich anzustrengen wie ein rasender Riese.

In diesem Augenblick wandte sich der Himmelblaue um, und als er die junge Dame mit enthülltem Gesicht sah, stieß er vor Wut und Eifersucht einen Schrei aus, wandte seine Waffe gegen ihren schönen Busen und stieß nach ihrem Herzen. Mein Onkel schrie vor Angst um sie dermaßen, daß das ganze Haus widerhallte. Die Dame aber trat schnell auf die Seite, riß dem jungen Mann den Degen aus der Hand, bevor er sein Gleichgewicht wiedererhalten hatte, trieb ihn an die Wand und stieß ihm den Degen bis ans Heft in den Leib, so daß die Klinge noch in das Täfelwerk drang und er selbst festgespießt war. Das war einmal ein glänzendes Exempel. Mein Onkel nötigte mit einem lauten Triumphgeschrei und unwiderstehlicher Kraft seinen Gegner, in gleicher Richtung zurückzuweichen, stieß ihm das alte Rapier mitten durch eine große rote Blume in seiner Weste und spießte ihn neben seinen Freund an die Wand, so daß die beiden Gentlemen dastanden und im Todeskampf mit ihren Armen und Beinen zappelten, gleich Marionettenfiguren, die man am Faden tanzen läßt. Mein Onkel sagte nachher immer, dies sei eines der sichersten Mittel, die er wisse, um einen Feind loszuwerden, nur sei wegen des Kostenpunktes etwas einzuwenden, da jedesmal dabei ein Degen verlorengehe.

›Die Kutsche! die Kutsche!‹ rief die Dame, indem sie auf meinen Onkel zurannte und ihm ihren schönen Arm um seinen Nacken warf; ›wir können vielleicht entfliehen.‹

Vielleicht?‹ sagte mein Onkel. ›Wie meine Teuerste, ist noch einer umzubringen?‹

Mein Onkel war etwas ärgerlich, ihr Herren, denn er hatte gedacht, nach dem Gemetzel würde es sehr angenehm sein, in der Ruhe ein bißchen der Liebe zu pflegen, und wäre es auch nur um der Abwechslung willen.

›Wir dürfen hier keinen Augenblick verlieren‹, sagte die junge Dame. ›Er (dabei deutete sie auf den jungen Herren im himmelblauen Rock) ist der einzige Sohn des mächtigen Marquis von Filletoville.‹

›Schon gut, meine Teuerste; ich fürchte nur, er wird nie seinen Titel erlangen‹, sagte mein Onkel, indem er gleichgültig nach dem jungen Herrn blickte, der in der oben beschriebenen Maikäfermanier an die Wand gespießt dastand. ›Sie haben ihm die Erbfolge abgeschnitten, meine Liebe.‹

›Diese Schurken haben mich von meinem Haus und meinen Freunden fortgerissen‹, erklärte die junge Dame, indem ihre Züge vor Entrüstung glühten. ›Der Elende wollte mich in der nächsten Stunde mit Gewalt heiraten.‹

›Pfui über seine Unverschämtheit‹, sagte mein Onkel, indem er einen höchst verächtlichen Blick auf den sterbenden Erben von Filletoville warf.

›Wie Sie aus dem Gesehenen schließen können‹, fuhr die junge Dame fort, ›ist die Rotte entschlossen, mich zu ermorden, sobald Sie jemand zum Beistand auffordern. Wenn ihre Spießgesellen uns hier finden, so sind wir verloren. In zwei Minuten kann es zu spät sein. Ach, die Kutsche! –‹

Und mit diesen Worten sank sie, überwältigt von ihren Gefühlen und der Anstrengung, den jungen Marquis von Filletoville aufzuspießen, meinem Onkel in die Arme. Mein Onkel fing sie auf und trug sie an die Tür. Da stand der Wagen mit vier langgeschweiften, flattermähnigen, schwarzen Rossen bereits aufgeschirrt; aber weit und breit waren weder Postillione, noch Schaffner, noch Hausknecht zu schauen.

Meine Herren, ich hoffe, das Andenken meines Oheims nicht zu beschimpfen, wenn ich die Meinung ausspreche, daß er, obgleich ein Junggeselle, schon vorher mehr als eine Dame im Arm gehabt hatte; ich glaube in der Tat, daß es eine Gewohnheit von ihm war, die Kellnerinnen zu küssen; und es sind mir mehrere Beispiele bekannt, daß glaubwürdige Zeugen es gesehen haben, wie er auf eine sehr wahrnehmbare Weise eine Wirtin umarmte. Ich erwähne das, um zu zeigen, welch eine höchst ungewöhnliche Art von Frauenzimmer diese schöne junge Dame gewesen sein muß, um auf meinen Oheim einen solchen Eindruck zu machen. Als ihr langes Haar über seinen Arm herabhing und ihre schönen schwarzen Augen, nachdem sie wieder erwacht, sich auf sein Gesicht hefteten, wäre es ihm, wie er bekannte, so sonderbar zumute geworden, daß seine Beine gezittert hätten. Doch wer kann in ein süßes, sanftes, schwarzes Augenpaar sehen, ohne wundersam erregt zu werden! Ich, meine Herren, kann es nicht und scheue mich deshalb sogar, in manche Augen, die ich kenne, zu schauen, wie Sie mir aufs Wort glauben dürfen.

›Sie werden mich doch nicht verlassen‹, flüsterte die junge Dame.

›Nie‹, sagte mein Onkel, und er meinte es aufrichtig.

›Mein teurer Retter!‹ rief die junge Dame. ›Mein teurer, menschenfreundlicher, ritterlicher Beschützer!‹

›Still, still!‹ sagte mein Onkel, sie unterbrechend.

›Und warum denn?‹ fragte die junge Dame.

›Weil Ihr Mund so schön ist, wenn Sie sprechen‹, erwiderte mein Onkel, ›daß ich fürchte, ich könnte dreist genug sein, ihn zu küssen.‹

Die junge Dame hob ihre Hand auf, als wollte sie meinen Onkel warnen, es nicht zu tun, und sagte – doch nein, sie sagte nichts – sie lächelte bloß.

Wenn man auf ein Paar der wonnigsten Lippen von der Welt blickt und diese so köstlich zu einem schelmischen Lächeln aufbrechen sieht, – wenn man ihnen ganz nahe ist und sonst niemand dabei – da kann man seine Bewunderung für ihre schöne Form und Farbe nicht besser betätigen, als durch einen schnellen Kuß. Mein Onkel tat es, und ich ehre ihn dafür.

›Horch!‹ rief die junge Dame aufschreckend. ›Das Geräusch von Rädern und Rossegestampfe!‹

›Ja, es ist so‹, sagte mein Onkel lauschend.

Er hatte ein gutes Ohr für Räder und Fußtritte; aber es schienen so viele Pferde und Wagen in einiger Entfernung gegen sie herzurasseln, daß es rein unmöglich war, einen Schluß auf ihre Anzahl zu machen. Es war ein Getöse, wie von fünfzig Sechsspännern.

›Wir werden verfolgt!‹ rief die Dame, ihre Hände zusammenschlagend. ›Wir werden verfolgt und Sie sind meine einzige Hoffnung.‹

Es lag ein solcher Ausdruck des Schrecks in ihrem schönen Gesicht, daß mein Onkel sogleich seinen Entschluß faßte. Er hob sie in die Kutsche, sagte ihr, sie solle guten Mutes sein, preßte seine Lippen noch einmal auf die ihrigen, riet ihr, das Fenster zu schließen, um nicht vom Zugwind belästigt zu werden, und stieg auf den Bock.

›Warten Sie noch, mein Lieber‹, rief die junge Dame.

›Was gibt’s?‹ fragte mein Onkel vom Kutschenbock aus.

›Nur noch ein Wort‹, sagte die junge Dame, ›nur noch ein einziges Wort.‹

›Muß ich hinabkommen?‹ fragte mein Onkel.

Die Dame antwortete nicht, aber sie lächelte wieder. Solch ein Lächeln, meine Herren, das geht über alles. Mein Onkel stieg in einem Augenblick von seinem Bock herab.

›Was ist’s, meine Teure?‹ sagte mein Onkel, zum Kutschenfenster hineinsehend.

Die Dame beugte sich zufällig in demselben Augenblick vorwärts und mein Onkel glaubte, sie sehe schöner aus als je zuvor. Er war ihr eben jetzt ganz nahe, meine Herren, und so mußte er es wirklich wissen.

›Was ist’s, meine Liebe?‹ sagte mein Onkel.

›Werden Sie auch nie eine andere lieben als mich – nie eine andere heiraten als mich?‹ fragte die junge Dame.

Mein Onkel schwur einen teuren Eid, daß er nie eine andere heiraten wolle, und die junge Dame zog ihren Kopf zurück und schloß das Fenster. Er schwang sich wieder auf den Bock, zog die Ellbogen zurück, machte sich die Leine zurecht, ergriff die Peitsche, die auf dem Dach lag, gab dem Leitroß einen Hieb, und fort flogen die vier langgeschweiften, flattermähnigen, schwarzen Pferde, fünfzehn gute englische Meilen in der Stunde, und hinter ihnen die alte Postkutsche – hui, wie sie zogen und sprangen.

Aber das Geräusch wurde immer lauter. Je schneller die alte Postkutsche dahinflog, um so schneller kamen die Verfolger – Männer, Pferde und Hunde hatten sich vereinigt, auf sie Jagd zu machen. Das Getöse war schrecklich, aber alles überragte die Stimme der jungen Dame, die in jammervollen Tönen meinem Onkel zurief: ›Schneller, schneller!‹

Mein Onkel gebrauchte Peitsche und Zügel, und die Pferde flogen dahin, bis sie weiß waren von Schaum; aber immer erschrecklicher wurde der Lärm hinter ihnen, und immer angstvoller schrie die junge Dame: ›Schneller! Schneller!‹ In der Bedrängnis dieses Augenblicks stampfte mein Onkel kräftig auf den Boden und fand – daß der Morgen graute und er selbst in dem Gerätschaftslager des Wagners auf dem Bock einer alten Edinburger Postkutsche saß, schauernd vor Kälte und Nässe und mit den Füßen stampfend, um sie zu erwärmen. Er stieg herab und sah sich eifrig nach der schönen jungen Dame um – aber ach, die Kutsche hatte weder Tür noch Sitz – sie war ein bloßer Rumpelkasten.

Natürlich sah mein Oheim sehr wohl ein, daß etwas Geheimnisvolles an der Sache sein müsse, und daß alles sich genau so ereignet hatte, wie er zu erzählen pflegte. Er blieb dem großen Eid, den er der schönen, jungen Dame geschworen, treu, schlug ihr zuliebe mehrere Wirtinnen, die er hätte wählen können, aus und starb endlich als Junggeselle. Er sagte immer, wie gar wunderbar es sei, was er durch einen bloßen Zufall, wie durch sein Klettern über das Staket, ausfindig gemacht habe, daß die Geister der Postkutschen und Pferde, der Schaffner, Postillione und Passagiere regelmäßig jede Nacht Reisen machen, und dann pflegte er hinzuzusetzen, er halte sich für die einzige lebendige Person, die jemals auf einer dieser Fahrten als Passagier mitgenommen worden sei. Ich glaube auch, daß er recht hat, meine Herren; wenigstens habe ich nie von einer andern gehört.«

 

»Ich möchte nur wissen, was diese Geister von Postkutschen in ihren Beuteln stecken haben«, sagte der Wirt, der die ganze Erzählung mit großer Aufmerksamkeit angehört hatte.

»Natürlich die Totenbriefe«, antwortete der Hausierer.

»Ach ja, das ist wahr«, antwortete der Wirt, »daran hatte ich nicht gedacht.«

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Das nur von der Gerichtspraxis und verschiedenen großen, darin erfahrenen Autoritäten handelt.

In verschiedene Höhlen und Winkel des Temples1 sind gewisse dunkle und schmutzige Zimmer zerstreut. Dort findet man den ganzen Morgen während der Freistunden, sowie den halben Abend während der Kanzleistunden, ständig eine unabsehbare Reihe von Schreibern, die mit Papierstößen unter dem Arm und in den Taschen, daraus sie hervorragen, eiligst ab- und zugehen.

Es gibt verschiedene Klassen von Schreibgehilfen. Da ist ein Praktikant, der bezahlt hat und ein Rechtsanwalt in spe ist. Er macht eine lange Schneiderrechnung, erhält Einladungen in Privatzirkel, kennt eine Familie in der Gowerstraße und eine andere in Tavistocksquare, besucht in den Feiertagen jedesmal seinen Vater in der Stadt, der eine Menge Pferde hält, und ist, kurz gesagt, der eigentliche Aristokrat unter den Schreibern. Da ist ferner der salarierte Schreiber – außer der Gerichtsstube oder in der Gerichtsstube, je nachdem es ausgemacht ist –, der den größten Teil der dreißig Schilling, die er wöchentlich bezieht, seinem Privatvergnügen und seiner Bekleidung widmet, wenigstens dreimal wöchentlich auf den Olymp im Adelphitheater geht, darauf in den Mostkellern einen großartigen Aufwand macht und eine Schmutzkarikatur der vor einem halben Jahre abgekommenen Mode ist. Dann ist ferner der Kopist von mittlerem Alter mit einer zahlreichen Familie: immer schäbig gekleidet und öfters betrunken. Und dann kommen die Anfänger in ihren ersten Überröcken, die auf die Schulknaben mit Verachtung herabsehen, wenn sie abends die Schreibstube verlassen und in die Kneipe rennen, wobei sie denken, es gehe doch nichts übers »Leben«.

Doch die Spielarten der Gattung sind zu zahlreich, um sie alle anzuführen; aber wie zahlreich sie auch sein mögen, so kann man sie zu gewissen festgesetzten Kanzleistunden an den vorerwähnten Orten hin- und hereilen sehen.

Diese abgelegenen Winkel sind die Werkstätten des Gesetzes, wo Insinuationen ausgefertigt, Gutachten unterzeichnet, Klagen eingeleitet und eine Menge anderer sinnreicher Einrichtungen zur Marter der getreuen Untertanen Seiner Majestät und zu Nutz und Frommen der Gerichtspersonen in Bewegung gesetzt werden. Die meisten dieser Stuben sind niedere, dumpfe Gemächer, worin zahllose Pergamentrollen, die schon im vergangenen Jahrhundert beschaulich stanken, einen angenehmen Geruch verbreiten, mit dem sich den Tag über das Arom der Trockenfäule und abends die verschiedenen Ausdünstungen der dampfenden Mäntel, der triefenden Regenschirme und der schlechtesten Talglichter verbinden.

Eines Abends, ungefähr zehn bis vierzehn Tage nach der Rückkehr des Herrn Pickwick und seiner Freunde, rannte gegen halb acht Uhr in eine dieser Gerichtsstuben ein Jemand in braunem Überrock mit messingenen Knöpfen. Der Betreffende trug langes Haar unter dem Rande eines abgetragenen Hutes sorgfältig gescheitelt. Seine beschmutzten groben Hosen lag so straff über den Blücherstiefeln an, daß die Knie jeden Augenblick aus ihrer Verhüllung hervorzuplatzen drohten. Dieser junge Mann zog aus seiner Rocktasche einen langen, schmalen Pergamentstreifen, auf den der amtierende Schreiber einen unleserlichen schwarzen Stempel drückte. Dann legte er vier Papierschnitzel von gleicher Größe vor, deren jeder eine gedruckte Abschrift des Pergamentstreifens enthielt und unten noch freien Raum für einen Namen hatte. Nachdem diese freien Räume ausgefüllt waren, steckte er die fünf Dokumente wieder in die Tasche und eilte fort.

Der Mann mit dem braunen Rock und den geheimnisvollen Dokumenten war kein anderer als unser alter Freund, Herr Jackson, von dem Hause Dodson und Fogg Freemans-Court-Cornhill. Statt in die Schreibstube zurückzukehren, aus der er gekommen, lenkte er seine Schritte gerade auf Sun Court zu und ging in den »Georg und Geier«, wo er nach Herrn Pickwick fragte.

»Rufe Herrn Pickwicks Diener Tom«, sagte das Kellermädchen im »Georg und Geier«.

»Bemühen Sie sich nicht«, sagte Herr Jackson; »ich komme in Geschäftsangelegenheiten. Wenn Sie mir Herrn Pickwicks Zimmer zeigen wollen, will ich selbst hinaufgehen.«

»Ihr Name, Sir?« fragte der Kellner.

»Jackson«, erwiderte der Schreiber.

Der Kellner eilte die Treppe hinauf, um Herrn Jackson zu melden; aber Herr Jackson überhob ihn dieser Mühe, indem er ihm auf dem Fuße nachfolgte und ins Zimmer trat, ehe jener eine Silbe hervorbringen konnte. Herr Pickwick hatte an diesem Tage seine drei Freunde zu Tisch geladen, und sie saßen alle vor dem Feuer beim Weine, als, wie gesagt, Herr Jackson hereintrat.

»Wie geht’s, Sir?« fragte Herr Jackson, Herrn Pickwick zuwinkend.

Dieser verbeugte sich und sah ihn etwas verblüfft an; denn Herrn Jacksons Züge waren seinem Gedächtnisse nicht mehr gegenwärtig.

»Ich komme von Dodson und Fogg«, bemerkte Herr Jackson im Tone eines Dolmetschers.

Bei diesem Namen stieg Herrn Pickwick das Blut zu Kopf.

»Ich verweise Sie an meinen Anwalt, Sir: Herrn Perker, Grays-Inn«, sagte er. »Kellner, begleiten Sie diesen Herrn hinaus.«

»Bitte um Verzeihung, Herr Pickwick«, fiel Jackson ein, indem er unbefangen seinen Hut ablegte und den Pergamentstreifen aus der Tasche zog. »Aber persönliche Einhändigung durch einen Schreiber oder Agenten; in solchen Fällen – Sie wissen ja, Herr Pickwick, bei Rechtsgeschäften geht nichts über die Vorsicht – wie?«

Hier warf Herr Jackson einen Blick auf das Pergament, stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sah sich mit einem gewinnenden und beredten Lächeln ringsum und sagte:

»Nun, lassen Sie uns über eine solche Kleinigkeit nicht viel Worte machen. Wer von diesen Herren heißt Snodgraß?«

Auf diese Frage machte Herr Snodgraß eine so unzweideutige und unwiderstehliche Geste, daß es keiner ferneren Erklärung bedurfte.

»Ah, ich habe mir’s doch gedacht«, sagte Herr Jackson noch freundlicher als zuvor. »Ich habe hier eine Kleinigkeit, womit ich Sie belästigen muß, Sir.«

»Mich?« rief Herr Snodgraß.

»Es ist nur eine Vorladung in der Prozeßsache Bardell gegen Pickwick, im Namen der Klägerin zu erscheinen«, erwiderte Jackson, einen von den Papierschnipseln aussondernd und einen Schilling aus seiner Westentasche hervorziehend. »Sie wird dem anberaumten Termin zufolge am 14. Februar fällig; wir haben ein Spezialgericht beantragt, aber es sind erst zehn Zeugen angesetzt. Hier ist Ihre Vorladung, Herr Snodgraß.«

Während Jackson so sprach, zeigte er Herrn Snodgraß das Pergament und drückte ihm das Papier und den Schilling in die Hand.

Herr Tupman hatte dem Auftritt mit stummem Erstaunen zugesehen, als sich Jackson mit einem scharfen Blicke an ihn wandte.

»Ich irre wohl nicht«, sagte er, »wenn ich glaube, Sie heißen Tupman?«

Herr Tupman sah auf Herrn Pickwick, aber da er in den weitgeöffneten Augen dieses Herrn keine Aufforderung zur Verleugnung seines Namens entdeckte, sagte er:

»Ja, ich heiße Tupman.«

»Und dieser andere Herr ist vermutlich Herr Winkle?« fuhr Jackson fort.

Herr Winkle stotterte eine bejahende Antwort hervor; und beiden Herren wurde sofort von dem gewandten Herrn Jackson je ein Papierstreifen und ein Schilling zugesteckt.

»Ich besorge«, sagte Jackson, »Sie werden mich für aufdringlich halten, aber ich muß noch nach jemand fragen, wenn Sie es nicht anmaßend finden. Ich habe hier auch den Namen Samuel Weller, Herr Pickwick.«

»Schicken Sie nach meinem Diener, Kellner«, sagte Herr Pickwick. Der Kellner entfernte sich äußerst erstaunt, und Herr Pickwick bot Herrn Jackson einen Stuhl an.

Es trat eine ziemliche Pause ein, die endlich von dem unschuldig Beklagten unterbrochen wurde.

»Ich vermute, Sir«, bemerkte Herr Pickwick mit steigendem Unwillen; »ich vermute, Sir, Ihre Prinzipale haben die Absicht, mich durch das Zeugnis meiner eigenen Freunde zu stürzen?«

Herr Jackson legte seinen Zeigefinger mehrere Male an die linke Seite seiner Nase, um dadurch anzudeuten, daß er nicht aus der Schule schwatzen dürfe, und bemerkte: »Kann’s nicht sagen.«

»Wozu werden denn meine Freunde vorgeladen, wenn es nicht aus diesem Grunde geschieht?« fuhr Herr Pickwick fort.

»Eine verfängliche Frage, Herr Pickwick«, erwiderte Jackson mit langsamem Kopfschütteln. »Aber es geht nicht. Sie mögen es anstellen, wie Sie wollen; aus mir sollen Sie wenig herausbringen.«

Hier lächelte Herr Jackson die Gesellschaft wieder an, und seinen linken Daumen an die Nasenspitze setzend, ahmte er mit der rechten Hand die Bewegung nach, als drehe er eine Kaffeemühle – eine höchst graziöse Pantomime, die damals sehr beliebt war, aber jetzt leider beinahe ganz abgekommen ist und mit dem vertraulichen Namen »das Schleiferdrehen« bezeichnet wurde.

»Nein, nein, Herr Pickwick«, bemerkte Jackson noch schließlich: »Perkers Leute müssen den Zweck dieser Vorladungen selbst erraten. Wenn ihnen das nicht gelingt, so müssen sie eben warten, bis die Sache vorgenommen wird, und dann werden sie schon dahinterkommen.«

Herr Pickwick warf einen Blick höchsten Widerwillens auf seinen unwillkommenen Gast und würde wahrscheinlich irgendeinen schauderhaften Fluch auf die Häupter der Herren Dodson und Fogg herabgerufen haben, hätte ihn nicht in diesem Augenblick Sams Eintritt unterbrochen.

»Samuel Weller?« bemerkte Herr Jackson im Tone der Frage.

»Eine von den wenigen wirklichen Wahrheiten, die Sie seit vielen Jahren gesagt haben«, versetzte Sam mit dem gelassensten Tone.

»Hier ist eine peremtorische Vorladung für Sie, Herr Weller«, sagte Jackson.

»Was heißt das in unserer guten Muttersprache?« fragte Sam.

»Hier ist das Original«, fuhr Jackson fort, ohne sich auf die verlangte Erklärung einzulassen.

»Welches?« fragte Sam.

»Das hier«, erwiderte Jackson, ihm das Pergament hinhaltend.

»So, das ist das Riginal«, sagte Sam. »Nun, es freut mich sehr, das Riginal zu sehen, denn es ist ein hübsches Ding und macht einem Spaß.«

»Und hier ist der Schilling«, fuhr Jackson fort. »Er ist von Dodson und Fogg.«

»Nun, es ist doch recht schön von Dodson und Fogg, die mich so wenig kennen, daß sie mir ein Geschenk schicken«, sagte Sam. »Ich bin ihnen für diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit sehr verbunden, Sir: und es macht ihnen sehr viel Ehre, daß sie das Verdienst zu belohnen wissen, wo sie es finden. Ja, es muß einen rühren.«

Bei diesen Worten rieb sich Herr Weller nach der beliebten Manier der Schauspieler, wenn sie rührende Szenen darstellen, mit dem Rockärmel das rechte Augenlid.

Herr Jackson schien durch Sams Benehmen etwas aus dem Konzept gebracht: aber da er die Vorladungen überreicht hatte und nichts weiteres zu sagen wußte, machte er eine Bewegung, als wenn er den einzigen Handschuh, den er Renommage halber gewöhnlich in der Hand trug, anziehen wollte, und kehrte in seine Schreibstube zurück, um Bericht zu erstatten.

Herr Pickwick schlief in dieser Nacht wenig: sein Gedächtnis war durch die Erinnerung an seinen Prozeß auf eine höchst unangenehme Weise aufgefrischt worden. Er frühstückte am folgenden Morgen beizeiten und machte sich in Sams Begleitung nach dem Grays- Innviertel auf den Weg.

»Sam!« sagte Herr Pickwick, als sie ans Ende von Cheapside gekommen waren, sich rings umsehend.

»Sir?« erwiderte Sam stehenbleibend.

»Welchen Weg?«

»Die New-Gate-Straße hinauf.«

Herr Pickwick schlug den bezeichneten Weg nicht sogleich ein, sondern sah einige Sekunden lang seinem Diener mit einem undurchsichtigen Blick ins Gesicht und stieß einen schweren Seufzer aus.

»Was ist Ihnen, Sir?« fragte Sam.

»Diese Klagsache, Sam, soll also am 14. des nächsten Monats vorkommen«, sagte Herr Pickwick.

»Ein merkwürdiges Zusammentreffen das, Sir«, versetzte Sam.

»Wieso merkwürdig, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»’s ist gerade Valentinstag2, Sir«, erwiderte Sam: »ein sehr geeigneter Tag, um über den Bruch eines Eheversprechens zu Gericht zu sitzen.«

Herrn Wellers Anspielung rief nicht das geringste Lächeln auf seines Herrn Gesicht. Herr Pickwick wandte sich alsbald um und ging schweigend seines Weges.

Sie waren eine Strecke weit gegangen, – Herr Pickwick in tiefes Nachdenken versunken, und Sam mit einem Gesichte, das den beneidenswertesten Gleichmut gegen all und jedes ausdrückte, hinter ihm drein, – als er, der immer darauf bedacht war, seinem Herrn mitzuteilen, was er wußte, seine Schritte beschleunigte, bis er hart hinter Herrn Pickwick stand und auf ein Haus, an dem sie vorüberkamen, deutend, sagte:

»Ein sehr hübscher Fleischladen das, Sir.«

»Ja, es scheint so«, erwiderte Herr Pickwick.

»Berühmte Wurstfabrik«, bemerkte Sam.

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Ja, wirklich«, wiederholte Sam mit wichtigem Tone: »das will ich meinen. Nun, Sir, Gott segne Ihre unschuldigen Augen: das ist dasselbe Haus, wo vor vier Jahren ein achtbarer Handelsmann auf so geheimnisvolle Weise verschwand.«

»Er wurde doch nicht ermordet, Sam?« fragte Herr Pickwick, sich hastig umsehend.

»Nein, das nicht, Sir«, erwiderte Herr Weller, »aber ich wollte, er wäre ermordet worden, denn es ging ihm noch viel schlimmer. Er war der Eigentümer dieses Ladens und der Erfinder der Patentwurstdampfmaschinen, die einen Pflasterstein, der ihr zu nahe kam, ergriff, und so leicht, wie wenn es ein kleines Kind wäre, in Würste zerhackte. Er war sehr stolz auf diese Maschine, wie sich von selbst versteht, stand im Keller und sah ihr zu, wenn sie in voller Tätigkeit war, bis er vor Freude ganz melancholisch wurde. Die Maschinen nebst zwei lieblichen Kindern hätten ihn zu einem sehr glücklichen Mann machen können, wenn ihn nicht seine Frau daran verhindert hätte, die eine wilde Hexe war. Sie verfolgte ihn überall und lag ihm immer in den Ohren, bis er es endlich nicht mehr aushalten konnte.

›Ich will dir was sagen, meine Liebe‹, sagte er eines Tages: ›wenn du diese Unterhaltungsart beibehältst‹, sagte er, ›will ich verdammt sein, wenn ich nicht nach Amerika gehe; und damit Punktum.‹ – ›Du bist ein Taugenichts!‹ sagte sie, ›und ich wünsche den Amerikanern zu dieser Erwerbung Glück.‹ Auf das tut sie ihm noch eine halbe Stunde lang den Rost herunter, läuft dann in das Ladenstübchen und fängt an zu schreien: er werde noch ihr Tod sein, und bekommt einen Anfall, der drei volle Stunden dauert – einen von jenen Anfällen, wobei man unaufhörlich schreit und mit Händen und Füßen um sich schlägt. Gut, am andern Morgen wurde der Mann vermißt. Er hatte nichts aus der Kasse genommen, hatte sogar nicht einmal seinen großen Mantel angezogen, es war also augenscheinlich, daß er nicht nach Amerika gegangen war. Kam am andern Tag nicht, kam in der andern Woche nicht: die Frau läßt in öffentlichen Blättern bekanntmachen, wenn er zurückkomme, so solle ihm alles vergeben sein (was sehr großmütig war, da sie sah, daß er nichts getan hatte). Alle Kanäle wurden untersucht, und wenn man in den nächsten zwei Monaten eine Leiche fand, so wurde sie in den Wurstladen gebracht, wie wenn sich das von selbst verstände. Da man aber in keiner von ihnen den Vermißten erkannte, so streute man aus, er sei davongelaufen, und sie setzte das Geschäft fort. Eines Sonnabends abends kommt ein kleiner, hagerer, alter Herr in großer Aufregung in den Laden und sagt: ›Sind Sie die Herrin dieses Ladens?‹ – ›Ha, das bin ich‹, sagt sie. – ›Gut, Madame‹, sagt er, ›dann habe ich Ihnen zu sagen, daß ich und meine Familie für nichts und wieder nichts beinahe erstickt waren: und noch mehr, Madame‹, sagte er, ›Sie werden mir eine Bemerkung erlauben: da Sie nicht gerade das auserlesenste Fleisch in Ihrer Wurstfabrik verwenden, so meine ich, Rindfleisch würde Sie nicht viel mehr kosten als Hosenknöpfe.‹ – ›Hosenknöpfe, Sir?‹ sagt sie. – ›Ja, Hosenknöpfe, Madame‹, sagt der kleine, alte Herr, ein Papier aufmachend und ihr zwanzig bis dreißig halbe Knöpfe zeigend. ›Hosenknöpfe, Madame, sind ein hübsches Gewürz für Würste.‹ – ›Das sind meines Mannes Knöpfe‹, sagt die Witwe und wird ohnmächtig. – ›Was?‹ schreit der kleine, alte Herr erbleichend. – ›Jetzt geht mir ein Licht auf‹, sagte die Witwe: ›er hat sich in einem Anfall vorübergehenden Wahnsinns voreilig in Würste verwandelt!‹ Und so war es denn auch«, fügte Herr Weller, Herrn Pickwick ruhig in das schreckensbleiche Gesicht sehend; »oder er wurde sonstwie in die Maschine geworfen, aber es mag nun sein, wie es will, der kleine, alte Herr, der schon von Kindheit auf in diese Würste vernarrt war, stürzte ganz außer sich aus dem Laden und ließ nie wieder etwas von sich hören.«

Bei dem Schlusse dieser rührenden Erzählung aus dem Privatleben waren Herr und Diener in der Wohnung Herrn Perkers angekommen. Lowten unterhielt sich in der halb offenen Tür mit einem schlecht gekleideten, erbärmlich aussehenden Mann in Stiefeln ohne Zehen und Handschuhe ohne Finger. Sein eingefallenes und abgehärmtes Gesicht trug die Spuren der Entbehrung und des Leidens, ja, beinahe der Verzweiflung; er fühlte seine Armut, denn er trat beim Nahen Herrn Pickwicks in den Schatten der Treppe zurück.

»Es ist sehr mißlich«, sagte der Fremde mit einem Seufzer.

»Allerdings«, erwiderte Lowten, seinen Namen mit dem Kiele an den Türpfosten kritzelnd und mit der Fahne der Feder wieder auswischend. »Soll ich ihm etwas ausrichten?«

»Wann glauben Sie wohl, daß er zurückkommt?« fragte der Fremde.

»Ganz unbestimmt«, erwiderte Lowten, Herrn Pickwick zuwinkend, als der Fremde die Augen zu Boden schlug.

»Glauben Sie nicht, daß ich ihn hier erwarten kann?« fragte der Fremde mit einem sehnsüchtigen Blick in die Schreibstube.

»O nein, das können Sie nicht«, erwiderte der Schreiber, sich mehr in die Mitte der Tür stellend. »In dieser Woche kommt er nicht mehr zurück, und es ist eine Frage, ob es in der nächsten der Fall sein wird; denn wenn Perker einmal in die Stadt geht, so hat es mit seiner Rückkehr keine sonderliche Eile.«

»Er ist in der Stadt?« sagte Herr Pickwick; »ach Gott, wie mißlich!«

»Bleiben Sie doch, Herr Pickwick«, sagte Lowten, »ich habe einen Brief an Sie.«

Der Fremde schien unschlüssig und sah abermals auf den Boden, und der Schreiber warf Herrn Pickwick einen schlauen Blick zu, als wollte er ihm bedeuten, daß es einen höchst ergötzlichen Spaß absetzen würde; worin jedoch der Spaß bestände, konnte Herr Pickwick um alle Welt nicht erraten.

»Treten Sie ein, Herr Pickwick«, sagte Lowten. »Nun, wollen Sie mir einen Auftrag geben, Herr Watty, oder wollen Sie wieder vorsprechen?«

»Bitten Sie ihn freundlichst, zu hinterlassen, was in meiner Sache geschehen sei«, sagte der Mann; »aber ich bitte Sie um Gottes willen, vergessen Sie es nicht, Herr Lowten.«

»Nein, nein, ich werde es nicht vergessen«, erwiderte der Schreiber. »Treten Sie ein, Herr Pickwick. Guten Morgen, Herr Watty; ein schöner Tag zum Spazierengehen – nicht wahr?«

Und als er sah, daß der Fremde immer noch zögerte, winkte er Sam Weller, mit seinem Herrn einzutreten und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

»Einen solchen lästigen Bankerotteur hat es, glaube ich, seit Erschaffung der Welt nicht gegeben«, sagte Lowten, seine Feder mit der Miene eines schwer gekränkten Mannes auf den Tisch werfend. »Seine Sachen liegen noch nicht volle vier Jahre in unserer Kanzlei, und ich will verdammt sein, wenn er uns nicht jede Woche zweimal zur Last fällt. Treten Sie hier ein, Herr Pickwick. Perker ist zu Hause und wird Sie empfangen; ich weiß es. Teuflisch kalt«, setzte er verdrießlich hinzu. »Unter der Tür stehen und sich von einem solchen lumpigen Landstreicher um seine Zeit bringen lassen zu müssen!«

Und nachdem er in großer Aufregung mit einem außerordentlich kleinen Eisen ein außerordentlich großes Feuer angeschürt hatte, ging er in das Studierzimmer seines Prinzipals und meldete Herrn Pickwick an.

»Ach, mein lieber Herr«, sagte der kleine Herr Perker, von seinem Stuhl aufspringend: »was gibt’s neues in Ihrer Angelegenheit? Wieder etwas von unsern Freunden in Freemans Court? Ich weiß, sie haben diese Zeit über nicht geschlafen. O, es sind rührige Burschen – sehr rührig, ich versichere Sie!«

Als der kleine Mann seine Rede schloß, nahm er mit wichtiger Miene eine Prise Tabak, um dadurch der Rührigkeit der Herren Dodson und Fogg seine Huldigung darzubringen.

»Große Spitzbuben sind es«, sagte Herr Pickwick.

»Nun, nun«, versetzte der kleine Mann, »wie man’s nimmt. Wir wollen nicht über Worte streiten, denn natürlich kann man von Ihnen nicht erwarten, daß Sie die Sache mit den Augen eines Mannes vom Fache ansehen. Gut, wir haben alles getan, was zu tun war. Ich habe den Prokurator Snubbin gewonnen.«

»Ist er gut?« fragte Herr Pickwick.

»Gut?« erwiderte Perker. »Beim Himmel, mein lieber Herr, Snubbin ist das vollendete Muster eines Rechtsanwalts. Hat dreimal soviel zu tun, als irgendein anderer Advokat – ist bei allen Gerichtssachen beteiligt. Sie brauchen es nicht weiter zu sagen, aber wir Leute vom Fach meinen, der Prokurator Snubbin führe den Gerichtshof an der Nase herum.«

Bei dieser Mitteilung nahm der kleine Mann eine zweite Prise und warf Herrn Pickwick einen geheimnisvollen Wink zu.

»Man hat meine drei Freunde vorgeladen«, sagte Herr Pickwick.

»Das war natürlich«, erwiderte Perker. »Wichtige Zeugen; sahen Sie in einer delikaten Situation.«

»Aber sie wurde mit Willen ohnmächtig«, warf Herr Pickwick ein: »sie fiel mir absichtlich in die Arme.«

»Sehr wahrscheinlich, mein lieber Herr«, versetzte Perker; »sehr wahrscheinlich und sehr natürlich. Nichts natürlicher, mein lieber Herr – durchaus nichts. Aber womit beweisen Sie das?«

»Sie haben auch meinen Diener vorgeladen«, sagte Herr Pickwick, diesen Punkt fallen lassend, denn Herrn Perkers Frage hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht.

»Sam?« fragte Perker.

Herr Pickwick bejahte.

»Natürlich, mein lieber Herr, natürlich. Sie mußten das tun; ich hätte Ihnen das schon vor einem Monat sagen können. Es versteht sich von selbst, mein lieber Herr, wenn Sie Ihre Sache selbst führen wollen, nachdem Sie dieselbe Ihrem Sachwalter übergeben haben, müssen Sie auch die Folgen davon tragen.«

Hier richtete sich Herr Perker im Bewußtsein seiner Würde auf und streifte einige verirrte Schnupftabakskörner von seiner Hemdkrause ab.

»Und was wollen Sie denn durch ihn beweisen?« fragte Herr Pickwick nach einer Pause von zwei bis drei Minuten.

»Ich vermute, Sie haben ihn zu der Klägerin geschickt, um ihr einen Vergleich anzubieten«, erwiderte Perker. »Es hat aber nicht viel zu sagen, denn ich glaube, aus ihm werden sie wenig herausbringen.«

»Dieser Ansicht bin ich auch«, bemerkte Herr Pickwick, trotz seiner Verstimmung bei dem Gedanken an Sams Auftreten vor Gericht lächelnd. »Was sollen wir aber anfangen?«

»Es steht uns nur ein Weg offen, mein lieber Herr«, erwiderte Perker; »nämlich den Zeugen Querfragen vorzulegen, Snubbins Beredsamkeit zu vertrauen, dem Richter Staub in die Augen und der Juri uns selbst in die Arme zu werfen.«

»Und gesetzt, der Spruch fiel gegen mich aus?« sagte Herr Pickwick.

Herr Perker lächelte, nahm ganz gemächlich eine Prise Tabak, schürte das Feuer, zuckte die Achseln und beobachtete ein bedeutungsvolles Stillschweigen.

»Sie glauben, daß ich in diesem Falle die Entschädigung zahlen müßte?« fragte Herr Pickwick, der die eilige Antwort mit großer Aufmerksamkeit beobachtet hatte.

Perker gab dem Brennstoff noch einen höchst unnötigen Stoß und sagte:

»Ich fürchte, ja.«

»Dann erlauben Sie mir, Ihnen meinen unabänderlichen Entschluß kund zu tun, durchaus keine Entschädigung zu zahlen«, sagte Herr Pickwick mit großem Nachdruck. »Durchaus keine, Perker. Nicht ein Pfund, nicht einen Pfennig von meinem Gelde soll den Weg in Dodson und Foggs Taschen finden. Das ist mein wohlüberlegter und unwiderruflicher Entschluß.«

Und zur Bestätigung der Unwiderrruflichkeit seiner Absicht schlug Herr Pickwick heftig auf den Tisch.

»Ganz recht, mein lieber Herr, ganz recht«, sagte Herr Perker; »Sie müssen das natürlich am besten wissen.«

»Natürlich«, erwiderte Herr Pickwick hastig. »Wo wohnt Prokurator Snubbin?«

»In Lincolns Inn, Old Square«, versetzte Perker.

»Ich möchte ihn sprechen«, sagte Herr Pickwick.

»Prokurator Snubbin sprechen, mein lieber Herr?« fiel Perker im Tone des höchsten Erstaunens ein. »Aber – aber, mein lieber Herr, das ist unmöglich. Prokurator Snubbin sprechen! Wo denken Sie hin, mein lieber Herr? So was ist noch nie erhört worden, ohne daß die Konsultationsgebühr vorher entrichtet und die Konsultation anberaumt war. Es geht durchaus nicht, mein lieber Herr, geht durchaus nicht.«

Aber Herr Pickwick hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß es nicht nur gehen könne, sondern daß es sogar gehen müsse; und die Folge davon war, daß er zehn Minuten, nachdem er die Versicherung erhalten, es könne unmöglich sein, von seinem Sachwalter in das Vorzimmer des großen Prokurators Snubbin geführt wurde.

Es war ein ziemlich geräumiges Gemach, in dem man Fußteppiche vermißte. Vor dem Feuer stand ein großer Schreibtisch, dessen wollener Überzug längst seine Ansprüche auf sein ursprüngliches Grün aufgegeben hatte, und mit Ausnahme der Stellen, deren natürliche Farbe durch Tintenflecke verwischt war, vom Staub und Alter allmählich grau geworden war. Auf dem Tische lagen eine Menge kleiner Bündel Papiere, die mit rotem Zwirn zusammengebunden waren, und hinter diesen saß ein ältlicher Schreiber, dessen stattliches Äußere und schwere goldene Uhrkette den imponierenden Beweis von der ausgedehnten und einträglichen Praxis des Herrn Prokurator Snubbin ablegte.

»Herr Mallard, ist der Prokurator auf seinem Zimmer?« fragte Perker, mit aller erdenklichen Höflichkeit dem Schreiber seine Dose hinhaltend.

»Ja«, war die Antwort, »hat aber vollauf zu tun. Sehen Sie hier, in all diesen Sachen ist noch kein Gutachten ausgestellt, und von allen sind bereits die Expeditionsgebühren bezahlt.«

Bei diesen Worten lächelte der Schreiber und schnupfte mit einem Behagen, das teils von seiner Vorliebe für den Schnupftabak, teils von seiner Lust an Gebühren herzurühren schien.

»Das heißt eine Praxis«, bemerkte Perker.

»Ja«, antwortete der Schreiber des Rechtsgelehrten, seine eigene Dose aus der Tasche nehmend und sie mit der größten Freundlichkeit anbietend, »Und das beste dabei ist, daß niemand des Prokurators Handschrift lesen kann als ich, und die Leute also, nachdem die Gutachten schon ausgestellt sind, warten müssen, bis ich sie abgeschrieben habe, ha, ha, ha!«

»Was noch außer dem Prokurator einem gewissen Jemand zugut kommt, der aus den Klienten noch etwas mehr herauslockt – nicht wahr?« sagte Perker: »ha, ha, ha!«

Darauf lachte des Prokurators Schreiber wieder – aber nicht laut, sondern still im Innern, was Herrn Pickwick gar nicht gefiel. Wenn jemand innerlich blutet, so ist es gefährlich für ihn selbst: aber wenn er innerlich lacht, so bedeutet es andern Leuten nichts Gutes.

»Haben Sie mir die Gebühren noch nicht ausgeschrieben, die ich Ihnen noch schulde?« fragte Herr Perker.

»Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen«, erwiderte der Schreiber.

»Es wäre mir lieb, wenn Sie’s täten«, sagte Perker. »Stellen Sie mir die Rechnung zu, dann werde ich Ihnen eine Anweisung schicken: aber ich vermute, Sie haben zu viel mit der Einnahme des Laufenden zu tun, als daß Sie an ihre Ausstände denken könnten – nicht wahr? Ha, ha, ha!«

Dieser Witz schien den Schreiber außerordentlich zu kitzeln, und er lachte wieder innerlich.

»Aber Herr Mallard, mein teurer Freund«, sagte Perker, plötzlich wieder ernst werdend und den großen Gehilfen des großen Mannes am Rockzipfel in eine Ecke ziehend, »Sie müssen den Prokurator dazu bewegen, mich und meinen Klienten vor sich zu lassen.«

»Gehen Sie, gehen Sie,« erwiderte der Schreiber; »Sie sind wohl nicht bei Trost« – den Prokurator sprechen! Gehen Sie, das ist zu absurd.«

Ungeachtet der Absurdität des Gesuchs ließ jedoch der Schreiber Herrn Perker noch mehr darüber reden; und nach einem kurzen Geflüster ging er leise einen schmalen dunklen Gang hinab und verschwand in dem Allerheiligsten des Gesetzes, aus dem er bald nachher auf den Zehen wieder hervorkam und Herrn Perker und Herrn Pickwick eröffnete, der Prokurator sei dazu überredet worden, sie gegen alle hergebrachte Ordnung und Gewohnheit sogleich vor sich zu lassen.

Herr Prokurator Snubbin hatte ein mageres, erdfahles Gesicht und zählte ungefähr fünfundvierzig Jahre, oder wie die Novellisten sagen – er war ein Fünfziger. Er hatte jenes düstere, ausgebrannte Auge, das man so oft bei Leuten sieht, die sich eine Reihe von Jahren hindurch einem langwierigen und mühevollen Studium gewidmet haben – ein Auge, das auch ohne das Augenglas, das an einem breiten schwarzen Bande um seinen Nacken hing, einen Fremden auf den Gedanken bringen mußte, er sei sehr kurzsichtig. Sein Haar war dünn und kurz, was teils dem Mangel an Zeit für seine Toilette, teils einer neben ihm hängenden Juristenperücke, die er fünfundzwanzig Jahre lang getragen hatte, zugeschrieben werden mußte. Die Spuren von Puder auf seinem Rockkragen und das beschmutzte und verschobene weiße Halstuch deuteten darauf hin, daß er seit seiner Rückkehr vom Gerichtssaal noch keine Zeit gefunden hatte, eine Änderung in seinem Anzuge vorzunehmen, während die sonstige Nachlässigkeit in seinem Äußern die Vermutung begründete, seine Person würde wenig dabei gewonnen haben, wenn es auch der Fall gewesen wäre. Bücher über das Gerichtswesen, Stöße von Akten und offene Briefe waren ohne alle Rücksicht auf Anordnung und Symmetrie auf dem Tisch zerstreut. Die Einrichtung des Zimmers war alt und schadhaft; die Türen des Bücherschrankes rosteten in ihren Angeln. Bei jedem Schritt flog der Staub in kleinen Wolken von dem Fußteppich auf; die Vorhänge hatten vom Alter und Schmutz gelbbraune Farbe angenommen, und alles im Zimmer wies unzweideutig darauf hin, daß Herr Prokurator Snubbin viel zu viel mit seinen Berufsgeschäften zu tun hatte, als daß er seiner Person viel Aufmerksamkeit schenken konnte.

Der Prokurator schrieb, als seine Klienten eintraten; er verbeugte sich kurz, als Herr Pickwick durch seinen Sachwalter vorgestellt wurde, und ersuchte sie dann, Platz zu nehmen, steckte seine Feder sorgfältig in das Tintenfaß, strich über sein linkes Bein und erwartete die Eröffnung des Vortrags.

»Herr Pickwick ist der Beklagte in der Sache Bardell und Pickwick, Prokurator Snubbin«, sagte Perker.

»Bin ich dabei interessiert?« fragte der Prokurator.

»Ja, Sir«, erwiderte Perker.

Der Prokurator nickte mit dem Kopfe und wartete auf weiteres.

»Herr Pickwick wünschte mit Ihnen zu sprechen, Prokurator Snubbin«, sagte Perker, »um Sie vorläufig zu versichern, daß er es in Abrede stellt, irgendeinen Grund oder Vormund zu der Klage gegen ihn gegeben zu haben; und daß er gar nicht vor Gericht aufträte, wenn er nicht mit reinem Gewissen und mit der festesten Überzeugung, daß er das größte Recht habe, die Klage zurückzuweisen, erscheinen könnte. Ich glaube, Ihre Ansicht ganz richtig auszusprechen, nicht wahr, lieber Herr?« sagte der kleine Mann, sich an Herrn Pickwick wendend.

»Ganz richtig«, erwiderte dieser Gentleman.

Herr Prokurator Snubbin nahm seine Lorgnette, hielt sie vor die Augen, betrachtete Herrn Pickwick einige Sekunden lang mit großer Aufmerksamkeit, wandte sich dann an Herrn Perker und fragte mit leichtem Lächeln:

»Ist die Sache Herrn Pickwicks sicher?«

Der Anwalt zuckte die Achseln.

»Lassen Sie Zeugen vorladen?«

»Nein.«

Das Lächeln auf dem Gesicht des Prokurators nahm einen bestimmteren Ausdruck an: er wiegte sein Bein stärker, und sich in seinem bequemen Stuhl zurücklehnend, hustete er zweideutig.

Diese Andeutungen der Gedanken des Prokurators über den Gegenstand mochten so unbedeutend sein, wie sie wollten, sie entgingen der Aufmerksamkeit Herrn Pickwicks nicht. Er setzte die Brille, durch die er das Mienenspiel des Rechtsgelehrten beobachtete, fester auf die Nase und sagte ohne alle Rücksicht auf Herrn Perkers Winke und Stirnrunzeln mit großem Nachdruck –

»Mein Wunsch, Sie in solcher Angelegenheit zu sprechen, Sir, erscheint einem Mann, der notwendig so viel mit derlei zu tun hat, ohne Zweifel höchst sonderbar.«

Der Prokurator machte den Versuch, mit ernster Miene aufs Feuer zu sehen, aber das Lächeln kam ihm wieder.

»Herren von Ihrem Fach, Sir«, fuhr Herr Pickwick fort, »sehen die schlechteste Seite der menschlichen Natur – alle ihre Streitsucht, alle ihre Böswilligkeit und Gehässigkeit entschleiert sich

vor Ihnen. Sie wissen aus Erfahrung, wieviel bei den Geschworenengerichten auf den äußeren Eindruck ankommt (ich will damit weder Ihnen, noch diesen zunahetreten): und die sind geneigt, bei andern ein Verlangen vorauszusetzen, die Mittel, die Sie aus den reinsten, ehrenvollsten Gründen und in der löblichen Absicht, Ihren Klienten so nützlich wie möglich zu werden, stets in Anwendung zu bringen und die sie in der Praxis nach ihrem vollen Wert schätzen gelernt haben – Sie sind geneigt, sage ich, bei andern die Neigung vorauszusetzen, diese Mittel zum Betrug und zu selbstsüchtigen Zwecken zu mißbrauchen. Ich glaube in der Tat, daß dieser Umstand die gemeine, aber sehr verbreitete Ansicht hervorgerufen hat, als wäre Ihr Stand ein argwöhnischer, mißtrauischer und allzu vorsichtiger. Ich weiß, Sir, daß mir unter den gegebenen Verhältnissen eine solche Erörterung Ihnen gegenüber nur schaden kann. Trotzdem bin ich zu Ihnen gekommen, um in dem, was mein Freund Herr Perker gesagt hat, genau verstanden zu werden: nämlich daß ich an der Treulosigkeit, die mir zur Last gelegt wird, unschuldig bin. Wenn ich auch von dem unschätzbaren Wert Ihres Beistandes überzeugt bin, Sir, so erlauben Sie mir doch zu bemerken, daß ich, im Falle Sie mir nicht unbedingt Glauben schenken, die Unterstützung Ihrer Talente lieber entbehren, als genießen möchte.«

Lange bevor Herr Pickwick diese Rede, die wirklich im Verhältnis zum Geist des Redners sehr prosaisch war, beschlossen hatte, war der Prokurator in tiefes Nachdenken versunken. Nach einigen Minuten aber, während deren er seine Feder wieder ergriffen hatte, schien er sich der Anwesenheit seiner Klienten wieder zu erinnern, und den Kopf vom Papiere erhebend, fragte er etwas auffahrend –

»Wer ist mein Adjunkt in dieser Sache?«

»Herr Phunky, Prokurator Snubbin«, erwiderte der Anwalt.

»Phunky – Phunky«, sagte der Prokurator; »diesen Namen habe ich noch nie gehört. Es muß ein sehr junger Mann sein.«

»Ja, es ist ein sehr junger Mann«, versetzte der Anwalt. »Er ist erst kürzlich zugelassen. Warten Sie, ich will mich besinnen – ah, es fällt mir ein: es sind noch keine acht Jahre, daß er zugelassen ist.«

»Ah, das habe ich mir gedacht«, sagte der Prokurator in jenem mitleidigen Ton, in dem man gewöhnlich von kleinen, hilflosen Kindern spricht. – »Herr Mallard, schicken Sie nach Herrn – Herrn –«

»Phunky – Holborn Court, Grays Inn«, fiel Perker ein – (Holborn Court ist, beiläufig gesagt, das jetzige South-Square) – »Herr Phunky, und lassen Sie ihm sagen, es würde mich freuen, wenn er sich auf einen Augenblick hierher bemühen wollte.«

Herr Mallard entfernte sich, um seinen Auftrag auszurichten, und Prokurator Snubbin versank wieder in Nachdenken, bis Herr Phunky erschien.

Obgleich als Sachwalter noch ein Kind, war er doch ein völlig ausgewachsener Mann. Er war in seinem Benehmen außerordentlich schüchtern und sprach immer mit dem zitternden Ton der Befangenheit, was jedoch nicht von einem Naturfehler, sondern vielmehr von einer gewissen blöden Scheu herzurühren schien. Diese entsprang aus dem Bewußtsein, daß er durch den Mangel an Geld oder Gönner oder Verbindungen oder Unverschämtheit »niedergehalten« wurde. Er sah mit Ehrfurcht an dem Prokurator empor und machte dem Anwalt eine tiefe Verbeugung.

»Ich habe noch nie das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen, Herr Phunky«, sagte Prokurator Snubbin mit vornehmer Herablassung.

Herr Phunky verbeugte sich. Er hatte das Vergnügen gehabt, den Prokurator zu sehen und ihn auch mit dem ganzen Neide des armen Mannes schon acht und ein Vierteljahr lang beneidet.

»Wie ich höre, sollen Sie in dieser Sache mein Adjunkt sein?« fragte der Prokurator.

Wäre Herr Phunky ein reicher Mann gewesen, so hätte er augenblicklich nach seinem Schreiber geschickt, um seinem Gedächtnis nachhelfen zu lassen. Wäre er ein kluger Mann gewesen, so hätte er den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sich zu erinnern gesucht, ob er bei der Unzahl seiner Geschäfte auch dieses übernommen habe oder nicht; so aber war er weder reich noch klug (wenigstens in diesem Sinne), errötete also und verbeugte sich.

»Haben Sie die Akten gelesen, Herr Phunky?« fragte der Prokurator.

Hier hätte Herr Phunky die Bemerkung hinwerfen sollen, er habe die ganze Sache vergessen; aber da er die Akten, die ihm im Laufe des Prozesses vorgelegt worden waren, gelesen und seit den zwei Monaten, während deren er zu Herrn Prokurator Snubbins Adjunkten erhoben worden war, Tag und Nacht an nichts anderes mehr gedacht hatte, errötete er noch tiefer und machte eine abermalige Verbeugung.

»Das ist Herr Pickwick«, sagte der Prokurator, mit seiner Feder nach der Stelle hindeutend, wo dieser Herr stand.

Herr Phunky verbeugte sich gegen Herrn Pickwick mit der Ehrerbietung, die ein erster Klient erwecken muß, und verneigte sich dann wieder gegen den Prokurator.

»Sie gehen vielleicht mit Herrn Pickwick«, sagte dieser, »und – und – und hören, was Herr Pickwick Ihnen mitzuteilen hat. Wir werden natürlich eine Besprechung darüber halten.«

Mit dieser Andeutung, daß er jetzt lange genug unterbrochen worden sei, hielt Herr Prokurator Snubbin, der nach und nach immer nachdenklicher geworden war, für einen Augenblick sein Glas vor die Augen, machte nach allen Seiten eine leichte Verbeugung und vertiefte sich wieder in die vor ihm liegenden Akten eines endlosen Prozesses, der durch die Handlung eines vor einigen hundert Jahren verstorbenen Mannes entstanden war. Er, d. h. der Mann, hatte nämlich einen Fußpfad gesperrt, der von einem Orte, wo niemand herkam, nach einem andern führte, wo niemand hinging.

Herr Phunky ließ sich nie darauf ein, durch eine Tür zu gehen, bevor Herr Pickwick und sein Anwalt durchgegangen waren, und so verstrich eine geraume Zeit, bis sie in das Viertel gelangten, Als sie es endlich erreicht hatten, gingen sie auf und nieder und hielten eine lange Konferenz, die darauf hinauslief, daß es sehr schwer zu bestimmen sei, wie der Spruch ausfallen würde; daß sich überhaupt niemand herausnehmen könne, den Ausgang eines Prozesses zu berechnen; daß es ein sehr großes Glück sei, der Gegenpartei in bezug auf die Akquisition des Herrn Snubbin zuvorgekommen zu sein: Ergebnisse, an die sie noch andere Bedenklichkeiten und Trostgründe knüpften, wie sie bei einer solchen Sachlage gewöhnlich vorgebracht werden.

Hierauf wurde Herr Weller von seinem Herrn aus einem süßen Schlafe erweckt, der eine Stunde lang gedauert hatte. Nachdem sie von Herrn Lowten Abschied genommen hatten, kehrten sie nach der City zurück.

  1. Einst Ordenshaus der Tempelherren in London, seit 1346 den Rechtsgelehrten und Gerichtspersonen überlassen.
  2. Am Valentinstag, (14. Februar) bestand in England die alle Sitte, daß junge Männer das Mädchen, dem sie am Valentinstag zuerst begegneten oder dessen Namen sie tags vorher durchs Los gezogen hatten, beschenkten und das ganze Jahr über als ihre Valentine betrachteten. Auch Eheversprechen waren zum Teil mit dem Valentinstag verbunden.

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Beschreibt ausführlicher, als es die Staatszeitung je getan hat, eine lustige Abendgesellschaft, die Herr Bob Sawyer in seiner Wohnung im Borough gibt.

In der Gegend von Lantstreet herrscht eine Ruhe, die die Seele mit einer Art von Melancholie überschattet. In dieser Straße sind immer eine Menge Häuser zu vermieten; dazu handelt es sich um eine Nebenstraße, die immer in liebliches Helldunkel gehüllt ist. Ein Haus in Lantstreet würde den Namen einer Residenz erster Klasse im strengen Sinne des Wortes nicht rechtfertigen, aber trotzdem gehört sie zu den Gegenden, die wir jedermann empfehlen können. Hat jemand Lust, sich von der Welt zurückzuziehen, sich aus dem Bereiche der Verführung zu entfernen, der Möglichkeit einer Versuchung zu entgehen, zum Fenster hinauszusehen, so müssen wir ihm angelegentlichst raten, eine Wohnung in Lantstreet zu beziehen.

In dieser glücklichen Zurückgezogenheit haben sich einige Kleisterfabrikanten, eine Gesellschaft von Buchbindergesellen, ein paar Agenten für den Konkursgerichtshof, einige Hausbesitzer von geringerer Ordnung, die auf den Werften verwendet werden, mehrere Damenschneider und sonst noch Zuschneider angesiedelt. Die Mehrzahl der Inwohner richtet ihre Tätigkeit unmittelbar auf die Vermietung möblierter Zimmer zu, oder widmet sich dem gesunden und stärkenden Geschäfte des Mangelns.

Die Hauptschöpfungen in der leblosen Natur der Straße sind grüne Fensterläden, Mietzettel, messingene Türplatten und Glockenzüge; die Hauptarten der belebten sind der Küchenjunge, der Semmelbube und der Kartoffelmann. Die Einwohner sind eine Art von Zugvögeln, sie verschwinden gewöhnlich am Ende der Quartals und meistens zur Nachtzeit. Die Einkünfte seiner Majestät werden in diesem Paradiese nur selten eingesammelt, die Renten sind unsicher und die Wasserleitung wird sehr häufig entzogen.

An dem Abend, zu dem Herr Pickwick eingeladen worden war, zierte Herr Bob Sawyer im Vorderzimmer seines Erdgeschosses die eine und Herr Ben Allen die andere Seite des Kamins. Die Vorbereitungen zur Aufnahme der Gäste schienen bereits vollendet. Die Regenschirme im Hausgange waren in der kleinen Ecke vor der Stubentür untergebracht; die Haube und der Schal des Dienstmädchens vom Treppengeländer entfernt, nur zwei Paar Überschuhe standen auf der Strohmatte an der Haustür, und auf dem Gesimse des Treppenfensters brannte ein munteres Küchenlicht mit einer sehr langen Schnuppe. Herr Bob Sawyer hatte die Getränke in einem Weingeschäft in der Highstreet selbst gekauft und die Träger der Ware nach Hause begleitet, um der Möglichkeit der Ablieferung in einem unrechten Hause vorzubeugen. Der Punsch stand fertig in einem roten Topf im Schlafgemach. Ein mit grünem Tuch bedecktes Tischchen war von einem Mitbewohner des Hauses geborgt worden, um als Spieltisch verwendet zu werden. Die Gläser des Etablissements aber, samt denen, die man aus einem Wirtshause entlehnt hatte, waren alle auf einem Tisch aufgestellt, der auf dem Treppenplatz vor der Tür stand.

Trotz der höchst befriedigenden Art all dieser Anordnungen lag eine Wolke auf Herrn Bob Sawyers Gesicht, als er am Feuer saß. Auch die Züge Herrn Ben Aliens trugen das gleiche Gepräge, während er aufmerksam auf die Kohlen starrte, und seine Stimme hatte etwas Melancholisches, als er nach langem Stillschweigen also sprach:

»Nun, es ist doch fatal, daß sie sich gerade bei dieser Gelegenheit in den Kopf gesetzt hat, böse auszusehen. Sie hätte wenigstens bis morgen warten können.«

»Das ist lauter Bosheit«, versetzte Herr Bob Sawyer heftig: »das ist lauter Bosheit. Sie sagt, wenn ich Gesellschaft geben könne, so müsse ich auch imstande sein, ihre verdammt kleine Rechnung zu bezahlen.«

»Wie lange läuft sie denn jetzt?« fragte Herr Ben Allen.

Eine Rechnung ist, beiläufig gesagt das trefflichste Perpetuum mobile, das der menschliche Scharfsinn je erfunden hat. Sie würde das längste Menschenleben lang laufen, ohne je aus eigenem Antrieb stehenzubleiben.

»Nur etwa einen Monat über ein Vierteljahr«, erwiderte Herr Bob Sawyer.

Ben Allen hustete hoffnungslos und lichtete einen forschenden Blick auf den Berührungspunkt der beiden Stangen am Ofen.

»Es wäre doch eine verdammte Geschichte, wenn sie sich in den Kopf setzen würde, vor der Gesellschaft hier aufzubegehren, nicht wahr?« sagte endlich Herr Ben Allen.

»Schauderhaft«, versetzte Bob Sawyer, »schauderhaft.«

Ein leises Pochen ließ sich an der Zimmertür hören. Herr Bob Sawyer warf seinem Freund einen bedeutsamen Blick zu und rief: »Herein!« worauf ein schmutziges und schlumpiges Mädchen in schwarzen Baumwollenstrümpfen, die für die verwahrloste Tochter eines dienstunfähigen Straßenkehrers in sehr zurückgekommenen Umständen gelten konnte, den Kopf hereinsteckte und sagte:

»Verzeihung, Herr Sawyer, Frau Raddle wünscht Sie zu sprechen.«

Ehe Herr Bob Sawyer etwas erwidern konnte, verschwand das Mädchen plötzlich mit einem gellenden Schrei, wie wenn ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzt hätte. Unmittelbar nach diesem geheimnisvollen Verschwinden erfolgte ein abermaliges Klopfen an die Tür – ein kurzes, entschiedenes Klopfen, das zu sagen schien: »Hier bin ich und ich werde hineinkommen.«

Herr Bob Sawyer starrte seinen Freund mit einem Blick hoffnungsloser Angst an und rief abermals:

»Herein!«

Der Hereinruf wäre indessen nicht notwendig gewesen, denn ehe Herr Bob Sawyer das Wort ausgesprochen hatte, stürzte ein trotziges Weiblein ins Zimmer, an allen Gliedern zitternd vor Zorn und blaß vor Wut.

»Nun, Herr Sawyer«, sagte das trotzige Weiblein, indem sie sich bemühte, möglichst ruhig zu erscheinen: »wenn Sie die Güte haben wollen, meine kleine Rechnung da zu berichtigen, werden Sie mich sehr verbinden, denn ich muß heute mittag ebenfalls meine Miete bezahlen, und der Hausbesitzer wartet unten.«

Hier rieb das Weiblein die Hände und blickte entschieden über Herrn Sawyers Kopf hin nach der Wand, vor der er saß.

»Es tut mir sehr leid. Sie in irgendeine Verlegenheit bringen zu müssen, Frau Raddle«, erwiderte Bob Sawyer demütig, »aber –«

»O, es ist keine Verlegenheit«, entgegnete die kleine Frau mit einem gellenden Lachen. »Ich brauchte es vor heute nicht, und da ich es doch sogleich meinem Hausherrn geben muß, so war es mir ganz gleichgültig, ob Sie es hatten, oder ich, Sie haben mir es auf heute nachmittag versprochen, Herr Sawyer, und jeder Ehrenmann, der je hier wohnte, hat sein Wort gehalten, Sir, wie man auch natürlicherweise von jedem erwarten muß, der sich für einen Ehrenmann ausgibt.«

Und Frau Raddle schüttelte ihr Haupt, biß sich in die Lippen, rieb ihre Hände noch stärker und blickte trotziger als je nach der Wand hin. Man konnte deutlich sehen, wie Herr Bob bei einer späteren Gelegenheit in orientalisch-allegorischem Stil bemerkte, daß sie zu »dampfen« anfing.

»Es tut mir sehr leid, Frau Raddle«, sagte Bob Sawyer mit aller erdenklichen Demut; »allein das Geld, das ich heute in der City hätte erhalten sollen, ist ausgeblieben.«

Ein ganz merkwürdiger Platz – diese City. Wir kennen massenhaft viel Leute, die dort die ganze Zeit vergebens auf Gelder warten.

»Schön, Herr Sawyer«, sagte Frau Raddle, indem sie sich fest auf eine in den Kidderminster Fußteppich gewebte purpurfarbene Blume pflanzte; was geht das mich an, Sir?«

»Ich – ich – zweifle nicht, Frau Raddle«, erwiderte Herr Sawyer, die letzte Frage scheinbar überhörend: »daß wir noch vor Mitte der nächsten Woche miteinander abrechnen können, und dann soll es künftig besser gehen.« .

Mehr verlangte Frau Raddle nicht. Sie war mit so bestimmter Absicht zu rasen und zu toben in des unglücklichen Bob Sawyers Zimmer gestürzt, daß sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei baldiger Bezahlung nicht zufrieden gegeben hätte. Sie war in der besten Stimmung zu einer kleinen Herzensergießung, und hatte soeben in der Küche mit Herrn Raddle einige einleitende Liebenswürdigkeiten gewechselt.

»Meinen Sie denn, Herr Sawyer«, sagte Frau Raddle, ihre Stimme erhebend, so daß die ganze Nachbarschaft es hören konnte, »meinen Sie denn, ich werde einen Menschen noch länger bei mir wohnen lassen, der nie daran denkt, seine Miete zu bezahlen – ja nicht einmal die baren Auslagen für die frische Butter, den Zucker und die Milch, die ich ihm zu seinem Frühstück einkaufe? – Meinen Sie denn, eine fleißige Frau, die sich’s so sauer werden läßt und schon zwanzig Jahre in dieser Straße gewohnt hat (zehn Jahre auf der andern Seite und neununddreiviertel Jahre in diesem Hause), habe weiter nichts zu tun, als sich für ein paar faule Tagdiebe tot zu plagen, die den ganzen Tag nur rauchen, saufen und Maulaffen feilhaben, statt sich nach einem ehrlichen Verdienst umzusehen, um ihre Rechnungen bezahlen zu können? Meinen Sie –«

»Meine werte Frau«, unterbrach sie Herr Benjamin Allen begütigend.

»Seien Sie so gut und behalten Sie Ihre Bemerkungen für sich, Sir«, rief Frau Raddle, indem sie plötzlich dem reißenden Strom ihrer Rede Einhalt tat und sich mit nachdrucksvollem, langsamfeierlichem Tone an die dritte Person wandte. »Ich wüßte nicht, woher Ihnen ein Recht zukäme, mich anzureden. An Sie habe ich, soviel ich weiß, die Zimmer nicht vermietet.«

»Das weiß ich wohl«, sagte Herr Benjamin Allen.

»Nun gut, Sir, erwiderte Frau Raddle mit stolzer Höflichkeit: »so werden Sie sich wohl darauf beschränken müssen, den armen Leuten in den Spitälern Arme und Beine zu zerbrechen und vor ihrer eigenen Tür zu kehren, Sir, oder es möchten einige Leutchen da sein, die Sie daran erinnern könnten, Sir.«

»Sie sind aber eine unangenehme Person«, entgegnete Herr Benjamin Allen.

»Bitte sehr um Verzeihung, junger Mann«, sagte Frau Raddle, indem der Zorn ihr kalten Schweiß auf die Stirn trieb. »Werden Sie vielleicht die Güte haben, das noch einmal zu sagen, Sir?«

»Ich wollte Sie durchaus nicht beleidigen, Madame«, erwiderte Herr Benjamin Allen, dem jetzt um seinen eigenen Kopf bang zu werden anfing,

»Ich bitte um Verzeihung, junger Mann«, fuhr Frau Raddle in gebieterischem und lauterem Tone fort, »aber wen nannten Sie eine Person? Meinten Sie mich damit, Sir?«

»Aber so beruhigen Sie sich doch«, sagte Herr Benjamin Allen.

»Haben Sie mich gemeint, Sir, frage ich noch einmal?« schrie Frau Raddle in wildem Ingrimm und riß die Tür weit auf.

»Nun ja, allerdings«, erwiderte Herr Benjamin Allen.

»Also allerdings«, rief Frau Raddle, allmählich nach der Tür zurückgehend und ihre Stimme aufs äußerste anstrengend, damit Herr Raddle in der Küche alles vernehmen möchte. »Allerdings haben Sie es getan, und jedermann weiß, daß man mich in meinem eigenen Hause ungestraft beleidigen kann, indessen mein Mann ganz ruhig da unten schnarcht und sich so wenig um mich bekümmert wie um einen Hund auf der Straße. Er sollte sich schämen (hier schluchzte Frau Raddle), daß er seine Frau von ein paar Menschen so behandeln läßt, die die Leute lebendig zerschneiden und zusammenmetzgen und ein wahrer Schimpf für das Haus sind. Ja, ich muß mir alles gefallen lassen, und dieser niederträchtige, elende, feige Kerl wagt nicht, herauszukommen, und den unverschämten Burschen den Mann zu zeigen – er wagt es nicht – nein, er wagt es nicht, zu kommen.«

Hier hielt Frau Raddle inne, um zu horchen, ob die Wiederholung dieser Aufforderung ihre bessere Hälfte aufgestachelt habe. Als sie aber sah, daß sie erfolglos blieb, ging sie unter endlosem Schluchzen und Seufzen die Treppe hinab, während man lautes Doppelklopfen an der Haustür vernahm. Jetzt brach sie in ein hysterisches Weinen aus, verbunden mit einem jammervollen Geächze und Gewimmer, das so lange dauerte, bis das Klopfen sechsmal wiederholt worden. Dann warf sie in einem unwiderstehlichen Anfall von Wut alle Möbel, die ihr im Wege standen, um, verschwand sofort im Hinterzimmer und schlug die Tür zu, daß das Haus erbebte.

»Wohnt Herr Sawyer hier?« fragte Herr Pickwick, als das Haus endlich geöffnet wurde.

»Ja«, sagte das Mädchen; »im ersten Stock; die erste Tür vor Ihnen, wenn Sie die Treppe hinaufkommen.«

Nach dieser Anweisung verschwand das Mädchen, das unter den Ureinwohnern Southwarks aufgewachsen war, mit dem Lichte in der Hand nach der Küche hin, vollkommen mit sich selbst zufrieden, da sie alles getan zu haben glaubte, was unter diesen Umständen von ihr verlangt werden konnte.

Herr Snodgraß, der zuletzt eintrat, verschloß die Tür nach mehreren vergeblichen Versuchen durch Vorziehen der Kette, und die Freunde stolperten die Treppe hinauf, wo sie von Herrn Bob Sawyer empfangen wurden, der aus Angst, Frau Raddle möchte ihm den Weg versperren, sich nicht hinunter gewagt hatte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte der Student, der sich von seiner Niederlage noch nicht ganz erholt hatte. – »Freut mich, Sie zu sehen – nehmen Sie sich in acht wegen der Gläser.« –

Diese Warnung galt Herrn Pickwick, der seinen Hut auf den Tisch gelegt hatte.

»Ach, bitte um Entschuldigung«, sagte Herr Pickwick.

»Hat durchaus nicht« zu sagen«, erwiderte Bob Sawyer. »Ich bin im Raum etwas beschränkt; aber man muß überall einige Nachsicht haben, wenn man zu einem Junggesellen kommt. Treten Sie ein. Diesen Herrn kennen Sie wohl schon?«

Herr Pickwick drückte Herrn Benjamin Allen die Hand, und seine Freunde folgten diesem Beispiel. Sie hatten sich kaum gesetzt, als man abermals ein Doppelklopfen vernahm.

»Das wird hoffentlich Jack Hopkins sein«, sagte Bob Sawyer. »Ja, er ist’s. Nur herauf, Jack, herauf!«

Man hörte schwere Fußtritte auf der Treppe, und Jack Hopkins trat ein. Er trug eine schwarze Samtweste mit Donner- und Blitzknöpfen und ein blaugestreiftes Hemd mit einem angeknöpften weißen Kragen.

»Sie kommen spät, Jack?« fragte Benjamin Allen.

»Ich wurde in Bartholomä aufgehalten«, erwiderte Hopkins.

»Was gibt’s Neues?«

»Nichts von Belang: doch kam ein ganz eigentümlicher Fall vor.«

»Und was denn, Sir?« fragte Herr Pickwick.

»Es ist ein Mann vom vierten Stockwerk aus dem Fenster gestürzt; aber es ist ein schöner Fall, wirklich ein sehr schöner Fall.«

»Meinen Sie damit, daß der Kranke Hoffnung habe, wieder aufzukommen?« fragte Herr Pickwick.

»Nein«, entgegnete Hopkins gleichgültig: »im Gegenteil, ich bezweifle es stark. Aber morgen muß eine glänzende Operation stattfinden, ein prachtvoller Anblick, wenn Slasher sie vornimmt.«

»Sie halten also Herrn Slasher für einen geschickten Operateur?« fragte Herr Pickwick.

»Es lebt kein besserer auf Erden«, erwiderte Hopkins. »In der letzten Woche nahm er einem Knaben das Bein ab, der dabei fünf Äpfel und einen Pfefferkuchen aß, und zwei Minuten nachdem alles vorüber war, sagte der Knabe, er liege nicht da, um sich für’n Narren halten zu lassen, und wenn sie nicht bald anfingen, so werde er es seiner Mutter sagen.«

»Wirklich?« sagte Herr Pickwick erstaunt.

»O, das ist noch gar nichts«, versetzte Jack Hopkins, »nicht wahr, Bob?«

»Ganz und gar nichts«, bekräftigte Herr Bob Sawyer.

»Beiläufig gesagt, Bob«, fuhr Hopkins mit einem kaum bemerkbaren Seitenblick auf Herrn Pickwicks aufmerksames Gesicht fort, »gestern abend wurde ein Kind gebracht, das ein Halsband verschluckt hatte.«

»Was verschluckt, Sir?« unterbrach ihn Herr Pickwick.

»Ein Halsband«, wiederholte Jack Hopkins. »Es versteht sich, nicht auf einmal, denn das wäre zuviel gewesen – Sie selbst können keins verschlucken, viel weniger das Kind. – Habe ich nicht recht, Herr Pickwick? Ha, ha!« ,

Herr Hopkins schien mit seinem Witze sehr zufrieden zu sein und fuhr fort:

»Die Sache war so. Die Eltern des Kindes sind arme Leute und wohnen auf einem Hof. Das älteste Mädchen kaufte ein Halsband – ein gewöhnliches Halsband von großen, schwarzen, hölzernen Perlen. Das Kind hat seine Freude daran, versteckt das Halsband, spielt damit, zerreißt die Schnur und verschluckt eine Perle. Dies dünkt ihm ein Hauptspaß zu sein, es macht sich am folgenden Tage wieder daran und verschluckt eine zweite Perle.«

»Bei meiner Seele«, rief Herr Pickwick, »das ist ja etwas Schreckliches. Doch entschuldigen Sie meine Unterbrechung, Sir, und erzählen Sie weiter.«

»Am Tage darauf verschluckte das Kind zwei Perlen, am vierten drei und so fort, bis es in einer Woche das ganze Halsband, bestehend aus fünfundzwanzig Perlen, im Leibe hatte. Die Schwester, ein fleißiges Mädchen, die sich nur selten ein bißchen Putz anschaffte, weinte sich fast die Augen aus über den Verlust des Halsbandes und durchsuchte das Haus von oben bis unten; aber ich brauche wohl nicht zu sagen, daß sie es nicht fand. Einige Tage darauf sitzt die Familie beim Mittagessen um eine gebratene Hammelkeule nebst Kartoffeln, und das Kind, das nicht hungrig ist, spielt im Zimmer, als man auf einmal einen verteufelten Lärm, gleich einem kleinen Hagelsturm, vernimmt. ›Lärme doch nicht so, Junge‹, sagte der Vater. – ›Ich mache ja nichts‹, antwortete das Kind. – ›Nun gut, bleib ruhig‹, ermahnte der Vater. – Einige Zeit war alles still, aber auf einmal begann der Lärm aufs neue ärger als zuvor. ›Wenn du mir nicht folgst, Junge‹, sagte der Vater, ›so mußt du augenblicklich ins Bett.‹ Dabei schüttelte er das Kind, um sich seines Gehorsams besser zu vergewissern; aber nun erfolgte ein Gerassel, wie noch nie jemand gehört hatte. ›Gott straf‘ mich‹, sagte der Vater, ›in dem Jungen ist etwas; er hat das Kreuz nicht am rechten Ort.‹ – ›Ach nein, Vater‹, sagte das Kind und fing an zu weinen, ›das Halsband ist’s, ich habe es verschluckt, Vater.‹ Der Vater nahm das Kind schnell und rannte damit ins Spital; die Perlen in seinem Magen rasselten bei der schnellen Bewegung dermaßen, daß die Leute bald in die Luft hinauf-, bald in die Keller hinabsahen, um diesem ungewöhnlichen Geräusche auf die Spur zu kommen. »Das Kind ist noch im Spital«, fügte Jack Hopkins hinzu, »und macht beim Gehen einen so teufelmäßigen Lärm, daß man es in einen großen Mantel wickeln mußte, damit die übrigen Patienten nicht aus dem Schlafe geweckt würden.«

»Das ist doch der außerordentlichste Fall, von dem ich je gehört habe«, sagte Herr Pickwick mit einem tüchtigen Schlag auf den Tisch.

»O nein«, erwiderte Jack Hopkins; »das will auch noch nicht viel heißen, nicht wahr, Bob?«

»Freilich nicht«, entgegnete Herr Bob Sawyer.

»In unserm Beruf kommen höchst seltsame Dinge vor, das kann ich Sie versichern«, fuhr Hopkins fort.

»Ich glaube es recht gern«, erwiderte Herr Pickwick.

Ein neues Klopfen an die Tür verkündete einen dickköpfigen jungen Mann in einer schwarzen Perücke, der einen hagern, mit dem Skorbut behafteten Jüngling mitbrachte. Der nächste Ankömmling war ein Herr, der ein mit kleinen goldenen Ankern geschmücktes Hemd trug, und unmittelbar darauf folgte ein blasser Jüngling mit einer plattierten Uhrkette. Die Ankunft eines geckenhaften Burschen mit sehr sauberer Wäsche und Tuchstiefeln machte die Gesellschaft vollzählig. Der kleine Tisch mit dem grünen wollenen Teppich wurde auseinandergezogen, die erste Punschauflage in einem gewaltigen Humpen herbeigebracht, und die ersten drei Stunden dem edlen Vingt-un-Spiel, das Dutzend Marken zu sechs Pence, gewidmet – nur ein einziges Mal unterbrochen durch einen kleinen Streit zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern, wobei der skorbutische Jüngling das glühende Verlangen ausdrückte, dem Herrn mit den Sinnbildern der Hoffnung die Nase einzuschlagen, dieser aber mit großer Entschiedenheit zu verstehen gab, er lasse sich unter keinen Umständen etwas gefallen, weder von dem zornigen jungen Herrlein mit dem skorbutischen Gesicht, noch von sonst irgendeinem Menschen, der einen Kopf zwischen den Schultern habe.

Als das letzte Spiel gemacht und Gewinn und Verlust zur allgemeinen Zufriedenheit verteilt waren, klingelte Herr Bob Sawyer nach dem Abendessen, und seine Gäste drückten sich in die verschiedenen Stubenecken, bis es fertig war.

Das ging indes nicht so schnell, wie manche Leute vielleicht glauben möchten. Vor allem mußte man die Magd wecken, die mit dem Kopf auf dem Küchentisch eingeschlafen war. Dadurch ging einige Zeit verloren, und selbst als sie endlich auf das wiederholte Klingeln erschien, wurde noch eine Viertelstunde mit den fruchtlosen Bemühungen zugebracht, ihr einen schwachen, entfernten Begriff von ihrer Pflicht beizubringen. Dem Mann, bei dem man die Austern bestellt, hatte man nicht gesagt, daß er sie auch öffnen solle; nun ist es aber sehr schwer, eine Auster mit einem schwachen Messer oder einer zweizinkigen Gabel zu öffnen, und so ging die Sache gar schwer und langsam. Das Ochsenfleisch war auch nicht zum besten ausgefallen, und die Hammelkeule, aus dem deutschen Wurstladen an der Ecke geholt, verdiente gleichfalls kein sonderliches Job. Dagegen war in einer zinnernen Kanne eine Menge Porter vorhanden, und der Käse fand großen Beifall, denn er war sehr pikant. So war denn das Essen im ganzen vielleicht gerade so gut, wie solche Dinge überhaupt zu sein pflegen.

Nach Tisch wurde eine neue Auflage Punsch nebst mehreren andern Flaschen mit geistigen Getränken und ein Teller mit Zigarren hereingebracht. Nun aber entstand eine unheimliche Pause, veranlaßt durch einen in solchen Häusern sehr gewöhnlichen Umstand, der aber eine Menge Verlegenheiten herbeiführt.

Das Mädchen spülte nämlich die Gläser. Das Haus konnte sich des Besitzes von dreien rühmen – eine Tatsache, die wir durchaus nicht zuungunsten der Frau Raddle anführen wollen; denn es gab nie ein Privathaus, worin es nicht an diesem Artikel gefehlt hätte. Die Gläser der Hausfrau waren kleine, dünne, leicht zerbrechliche Gefäße, die aus dem Wirtshause dagegen große, dickbäuchige, inhaltschwere Stücke mit gewaltigen Henkeln. Das allein hätte die Gesellschaft über den wahren Zustand der Dinge aufklären können; aber die Magd schnitt auch jede Möglichkeit einer Mißdeutung dadurch ab, daß sie jedem, noch ehe er ausgetrunken hatte, mit Gewalt das Glas wegnahm, und trotz aller Winke und Unterbrechungen Bob Sawyers laut genug sagte: sie sei beauftragt, die Gläser hinabzubringen und wieder zu putzen.

Ein sehr schlimmer Wind, der niemanden etwas Gutes zubläst. Der Geck in den Tuchstiefeln, der sich die ganze Zeit über vergeblich bemüht hatte, einen Witz vorzubringen, sah jetzt die Gelegenheit dazu und benutzte sie. In dem Augenblick, da die Gläser verschwanden, begann er eine lange Geschichte von einem großen Tier der Öffentlichkeit, dessen Namen er jedoch vergessen hatte. Dieses große Tier hatte einem andern ausgezeichneten und berühmten Mann, dessen Namen er aber auch nie in Erfahrung zu bringen vermocht, eine ungemein treffende Antwort gegeben. Er verbreitete sich mit vieler Weitschweifigkeit und großer Detailkenntnis über verschiedene Nebenumstände, die mit der fraglichen Anekdote in genauer Verbindung standen, konnte aber gerade augenblicklich um alles in der Welt sich der Anekdote selbst nicht mehr erinnern, ungeachtet er sie seit den letzten zehn Jahren schon sehr häufig mit dem größten Beifall erzählt hatte.

»Weiß Gott«, sagte der Geck in den Tuchstiefeln, »es ist eine höchst merkwürdige Geschichte.«

»Es tut mir sehr leid, daß Sie sie vergessen haben«, versetzte Herr Bob Sawyer, gierige Blicke nach der Tür werfend, da er jeden Augenblick Gläsergeklingel zu hören meinte.

»Mir tut es auch sehr leid«, antwortete der Geck, »denn ich bin gewiß, daß sich die ganze Gesellschaft sehr daran ergötzt haben würde. Doch, gleichviel: in einer halben Stunde ungefähr wird sie mir schon wieder einfallen.«

Endlich erschienen die Gläser wieder, worauf Herr Bob Sawyer, der die ganze Zeit über in tiefen Gedanken dagesessen hatte, sich unwiderstehlich bemüßigt fühlte, das Ende der Geschichte zu hören, denn so weit sie gediehen sei, gehöre sie zu den schönsten, die ihm bis jetzt zu Ohren gekommen.

Der Anblick der Gläser erhob Bob Sawyer wieder zu einer Gemütsruhe, wie er sie seit seiner Unterhaltung mit der Hausfrau nicht besessen hatte. Sein Gesicht heiterte sich auf, und es wurde ihm wieder ganz gesellig zu Mut.

»Jetzt, Betsy«, sagte Herr Bob Sawyer sehr freundlich, indem er den ungeordneten Haufen Gläser austeilte, den das Mädchen

mitten auf den Tisch gestellt hatte; »jetzt, Betsy, bring‘ das warme Wasser, und eil dich ein bißchen, liebes Kind.«

»Sie können kein warm‘ Wasser haben«, erwiderte Betsy.

»Kein warmes Wasser?« rief Herr Bob Sawyer.

»Nein«, sagte das Mädchen mit sehr nachdrücklichem Kopfschütteln, nachdrücklicher als der größte Aufwand von Worten. »Frau Raddle hat gesagt, ich dürfe Ihnen keins bringen.«

Das Erstaunen, das sich auf den Gesichtern seiner Gäste malte, flößte dem Wirt neuen Mut ein.

»Bring‘ sofort das warme Wasser – sofort!« gebot Herr Bob Sawyer mit verzweifelter Strenge.

»Nein, ich kann nicht«, erwiderte das Mädchen; »Frau Raddle hat das Feuer in der Küche ausgelöscht, ehe sie zu Bett ging, und den Kessel eingeschlossen.«

»Macht nichts, macht nichts. Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit«, sagte Herr Pickwick, der den Konflikt der auf Bob Sawyers Angesicht sich spiegelnden Bedrängnisse wohl bemerkte; »kaltes Wasser ist auch sehr gut.«

»O freilich«, fügte Herr Benjamin Allen hinzu.

»Meine Wirtin hat zuweilen Anfälle von Geistesabwesenheit«, bemerkte Bob Sawyer mit einem seltsamen Lächeln. »Ich fürchte, ich muß ihr kündigen.«

»Ach nein, tun Sie das nicht«, sagte Ben Allen.

»Ich werde wohl müssen«, erwiderte Bob mit heroischer Festigkeit. »Ich will ihr morgen meine Rechnung bezahlen und auf übermorgen kündigen.«

Der arme Bursche – wie sehnlich wünschte er, es tun zu können.

Herrn Bob Sawyers herzzerreißende Bemühungen, sich von diesem letzten Schlage zu erholen, übten einen entmutigenden Einfluß auf die Gesellschaft, und der größere Teil suchte seine Heiterkeit dadurch wiederzugewinnen, daß er dem kalten Branntwein und Wasser recht fleißig zusprach. Die ersten sichtbaren Wirkungen davon zeigten sich in einer Erneuerung der Feindseligkeiten zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern. Die beiden kriegführenden Parteien machten ihren Gefühlen gegenseitiger Verachtung einige Zeit lang durch trotziges Stirnrunzeln und höhnisches Naserümpfen Luft, bis zuletzt der skorbutische Jüngling es für nötig hielt, sich deutlicher zu erklären, und es zu folgender unzweideutiger Auseinandersetzung kam:

»Sawyer«, jagte der skorbutische Jüngling mit lauter Stimme.

»Was gibts, Noddy?« fragte Bob Sawyer.

»Es tut mir sehr leid, Sawyer«, sagte Herr Noddy, »am Tisch eines Freundes, und besonders an dem Ihren, Sawyer, eine Störung zu veranlassen; allein ich muß diese Gelegenheit ergreifen, um Herrn Gunter zu sagen, daß er kein Gentleman ist.«

»Und mir«, erwiderte Herr Gunter, »mir würde es sehr leid tun, Sawyer, in Ihrer Behausung eine Störung zu veranlassen. Aber ich fürchte, ich werde notwendigerweise die Nachbarschaft

dadurch beunruhigen müssen, daß ich den Menschen, der soeben gesprochen hat, zum Fenster hinauswerfe.«

»Was meinen Sie damit, Sir?« fragte Herr Noddy.

»Nichts anderes, als was ich gesagt habe«, erwiderte Herr Gunter.

»Dann möchte ich doch sehen, wie Sie das machen, Sir«, sagte Herr Noddy.

»Sie werden es in einer halben Minute fühlen, Sir«, erwiderte Herr Gunter.

»Ich bitte Sie um Ihre Karte«, sagte Herr Noddy.

»Sie bekommen sie nicht, Sir«, entgegnete Herr Gunter.

»Warum nicht, Sir?« fragte Herr Noddy.

»Weil Sie sie an Ihren Spiegel stecken und dadurch die, die Sie besuchen, auf den falschen Glauben bringen würden, es sei ein Gentleman bei Ihnen gewesen, Sir«, entgegnete Herr Gunter.

»Sir, ich werde morgen früh einen meiner Freunde zu Ihnen schicken«, sagte Herr Noddy.

»Ich bin Ihnen für diese Mitteilung sehr verbunden, Sir, und werde meiner Magd den schärfsten Befehl geben, die Löffel wegzuschließen«, erwiderte Herr Gunter.

Jetzt legten sich die übrigen Gäste dazwischen und machten beide Teile auf die Unziemlichkeit ihres Benehmens aufmerksam. Herr Noddy bat darauf um die Erlaubnis, versichern zu dürfen, daß sein Vater ein ebenso ehrenwerter Mann gewesen sei wie Herrn Gunters Vater, und Herr Gunter erwiderte, sein Vater sei in jeder Beziehung so ehrenwert gewesen wie Herrn Noddys Vater: und seines Vaters Sohn sei alle sieben Tage in der Woche ein ebenso rechtschaffener Mann wie Herr Noddy. Da diese Äußerungen als Vorspiel zur Erneuerung der Feindseligkeiten betrachtet wurden, so mischte sich die Gesellschaft zum zweiten Mal dazwischen. Nun aber entstand ein heftiges Hin- und Herreden und Gelärme, in dessen Verlauf Herr Noddy sich allmählich von seinen Gefühlen überwältigen ließ und laut bekannte, er habe von jeher eine aufrichtige Neigung für Herrn Gunter gehegt. Herr Gunter erwiderte, Herr Noddy sei ihm lieber als sein eigener Bruder: als Herr Noddy dies Geständnis hörte, stand er großmütig von seinem Sitz auf und bot Herrn Gunter seine Hand. Herr Gunter ergriff sie mit liebevoller Wärme, und alle sagten, der Streit sei auf eine Art geführt worden, die beiden Teilen zu hoher Ehre gereiche.

»Um aber jetzt wieder recht ins Geleise zu kommen, Bob«, sagte Jack Hopkins, »so dächte ich, singen wir ein Liedlein«; worauf Hopkins unter stürmischem Applaus das »Den König segne Gott« anstimmte und, so laut er konnte, aber nach einer ganz neuen und nicht darauf passenden Melodie sang. Der Chor war das beste an der Sache, und da jeder der Herren nach der ihm bekanntesten Melodie sang, so konnte eine durchschlagende Wirkung nicht ausbleiben.

Als der Chor mit dem ersten Verse zu Ende war, erhob Herr Pickwick bedeutungsvoll seine Hand und sagte unter allgemeinem Schweigen:

»Ich bitte um Entschuldigung: ich glaube aber, es hat unten jemand gerufen.«

Alles war mäuschenstill, und Herr Bob Sawyer erbleichte sichtbarlich.

»Ich glaube, ich höre es wieder«, sagte Herr Pickwick. »Haben Sie doch die Güte, die Tür zu öffnen.«

Dies war kaum geschehen, als alle Zweifel verschwanden.

»Herr Sawyer! Herr Sawyer!« kreischte eine Stimme von unten herauf.

»Es ist meine Wirtin«, sagte Bob Sawyer, in großer Verlegenheit um sich blickend. »Ja, Frau Raddle.«

»Was soll das heißen, Herr Sawyer«, rief die gellende Stimme mit ungemeiner Zungenfertigkeit. »Ist es nicht genug, daß man um seinen Hauszins und um die baren Auslagen geprellt, und von Ihren Freunden, die doch Männer von Bildung sein wollen, geplagt und geschunden wird? Es scheint, Sie wollen auch noch das Haus einreißen, und lassen um zwei Uhr morgens einen Lärm aufführen, daß man mit den Feuerspritzen angefahren kommen könnte. Schicken Sie mir die sauberen Vögel fort.«

»Sie sollten sich vor sich selber schämen«, schallte jetzt in einiger Entfernung die Stimme des Herrn Raddle, wie es schien, unter einer Bettdecke hervor.

»Nein, du solltest dich schämen«, schrie Frau Raddle. »Warum kommst du nicht und wirfst alle miteinander die Treppe hinab? Wenn du ein rechter Mann wärest, so tätest du es.«

»Ja, wenn ich noch ein Dutzend bei mir hätte, mein Schatz«, erwiderte Herr Raddle friedfertig: »allein die Herren sind mir an Zahl überlegen, mein Schatz.«

»Pfui, du Memme«, erwiderte Frau Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. »Wollen Sie diese Gauner fortjagen oder nicht, Herr Sawyer?«

»Sie sind eben im Begriff zu gehen, Frau Raddle; sie gehen ja schon«, erwiderte der erbarmungswürdige Bob. Und zu seinen Freunden sagte Herr Bob Sawyer: »Ich dachte, es wäre am besten, Sie gingen jetzt. Ich bin auch der Meinung, daß Sie zu viel Lärm machen.«

»Das ist aber sehr schade«, sagte der Geck. »Jetzt fangen wir erst an, recht in Stimmung zu kommen.«

Der Grund für diese Äußerung aber war, daß dem Gecken eben jetzt eine dunkle Erinnerung von seiner vergessenen Geschichte aufzudämmern begann.

»Nein, man kann es sich nicht gefallen lassen«, sagte er, um sich blickend: »das ist wahrhaftig zu arg.«

»Ja, unausstehlich«, erwiderte Jack Hopkins; »wir wollen wenigstens noch einen Vers singen, Bob, kommen Sie!«

»Nein, nein, Jack«, fiel Bob Sawyer ein. »Das Lied ist zwar vortrefflich; allein ich denke, es wäre besser, den Vers nicht mehr zu singen. Die Leute im Hause da sind sehr grob.«

»Soll ich einmal hinaufgehen und mit dem Hausherrn anbinden?« fragte Hopkins; »oder soll ich tüchtig schellen, mich auf die Treppe stellen und zu brüllen anfangen? Sie haben nur zu befehlen, Bob.«

»Ich danke Ihnen sehr für Ihren guten Willen und Ihre Freundschaft, Hopkins«, sagte Bob Sawyer kläglich, »allein um weiteren Zank zu vermeiden, halte ich’s fürs beste, wenn wir sogleich auseinandergehen.«

»Nun, Herr Sawyer«, keifte die gellende Stimme der Frau Raddle abermals, »wann gehen denn diese Herren endlich?«

»Sie sehen bloß nach ihren Hüten, Frau Raddle«, entgegnete Bob, »und werden dann gleich gehen.«

»Gehen?« rief Frau Raddle, ihre Nachthaube hinaufdrückend, als Herr Pickwick, gefolgt von Herrn Tupman, ans einmal vor ihren Blicken auftauchte. »Gehen? Was hatten Sie überhaupt hier zu suchen?«

»Meine teure Madame«, beschwichtigte Herr Pickwick aufblickend.

»Scheren Sie sich zum Teufel, Sie alter Spitzbube«, erwiderte Frau Raddle, ihre Nachthaube schnell wieder herabzupfend. »Alt genug, um sein Großvater sein zu können, Sie garstiger Mensch, Sie! Sie sind der schlimmste von ihnen allen,«

Herr Pickwick hielt es für vergebliche Mühe, seine Unschuld zu beteuern, und rannte die Treppe hinab auf die Straße, wohin ihm die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß auf dem Fuße folgten. Herr Ben Allen, den das Trinkgelage und die verschiedenen Auftritte gewaltig angegriffen hatten, begleitete sie bis zur Londoner Brücke und vertraute unterwegs Herrn Winkle, als einem Mann von ausgezeichneter Schweigsamkeit, an, daß er entschlossen sei, außer Herrn Bob Sawyer jeden, der es wagen würde, sich um die Neigung seiner Schwester Arabella zu bewerben, die Kehle abzuschneiden. Nachdem er seine Entschlossenheit, diese peinliche Bruderpflicht zu erfüllen, noch auf angemessene Weise bekräftigt hatte, brach er in Tränen aus, schlug seinen Hut bis über die Augen herab, und indem er so gut wie möglich seinen Heimweg suchte, klopfte er zu wiederholten Malen an dem Tor von Borough Market an; schlummerte abwechselnd hier und da auf den Treppen bis Tagesanbruch, in der festen Meinung, er wohne hier und habe nur seinen Schlüssel vergessen.

Als nun die Gäste auf die dringende Aufforderung der Frau Raddle sich alle entfernt hatten, blieb der unglückliche Bob Sawyer allein zurück und dachte noch lange über die wahrscheinlichen Ereignisse des morgigen Tages, sowie über die Vergnügungen des Abends nach.

 

Zweiundvierzigstes Kapitel.


Zweiundvierzigstes Kapitel.

Wie es Herrn Pickwick in Fleet erging; was für Schuldner er daselbst antraf, und wie er die Nacht zubrachte.

Herr Tom Roker, der Gentleman, der Herrn Pickwick ins Gefängnis begleitet hatte, wandte sich unten auf der kurzen Treppe nach rechts und führte ihn durch ein offenstehendes eisernes Tor, sodann eine andere kurze Treppe hinauf in einen langen, engen, schmutzigen, niedrigen, mit Steinen bepflasterten Gang, der bloß durch ein einziges Fenster an jedem Ende ein höchst spärliches Licht erhielt.

»Dies«, sagte der Gentleman, seine Hände einsteckend und Herrn Pickwick nachlässig über die Schulter ansehend; »dies ist der Weg zur Halle.«

»So«, erwiderte Herr Pickwick, eine dunkle, schmutzige Treppe hinabblickcnd, die zu einer Reihe dumpfer, düsterer, unterirdischer Steingewölbe zu führen schien: »und dies da sind wohl die kleinen Keller, wo die Gefangenen ihre geringen Kohlenvorräte aufbewahren? Der Zugang ist sehr garstig: doch mögen sie zu diesem Zwecke wohl passen.«

»Ei, warum sollten sie nicht passen?« meinte der Gentleman, »es wohnen ja mehrere Leute ganz hübsch darin; das dürfen Sie mir wohl glauben.«

»Mein Freund«, sagte Herr Pickwick, »es wird Ihnen doch nicht ernst damit sein, daß menschliche Wesen in diesen Löchern wohnen?«

»Ei, warum denn nicht?« erwiderte Herr Roker mit unwilliger Verwunderung, »warum denn nicht?«

»Da unten leben also wirklich Menschen?« rief Herr Pickwick.

»Ja, sie leben da unten, und sehr oft sterben sie auch da unten«, erwiderte Herr Roker. »Was liegt denn daran? Wer kann etwas dagegen einwenden? Dies ist ein ganz guter Platz zum Leben.«

Da Roker bei diesen Worten sich etwas barsch gegen Herrn Pickwick umwandte und noch überdies in aufgereiztem Tone gewisse unfreundliche Äußerungen über seine Augen, seine Glieder und seine zirkulierenden Flüssigkeiten murmelte, so hielt es letzterer für ratsam, das Gespräch nicht weiter zu verfolgen. Herr Roker stieg sofort abermals eine Treppe hinauf, die so schmutzig war wie die letzte, und die Herren Pickwick und Weller folgten ihm auf der Ferse.

»Hier«, sagte Herr Roker, indem er Atem schöpfte, als sie eine andere Galerie von demselben Umfang wie die untere erreicht hatten: »hier ist der Gang ins Wirtszimmer! es sind noch zwei darüber, und das Zimmer, wo Sie heute nacht schlafen werden, gehört dem Gefängniswärter! hier bitte, treten Sie ein.«

Nachdem er das alles in einem Atem gesagt, stieg Herr Roker mit seinen Begleitern von neuem eine Treppe hinauf.

Diese Treppe erhielt ihr Licht von einigen niedrig angebrachten Fenstern, die auf einen mit Kies bedeckten und von einer hohen Backsteinmauer mit eisernen spanischen Reitern umgebenen offenen Raum sahen. Das war, wie aus Herrn Rokers Erklärung hervorging, der Ballplatz, und nach dem Bericht dieses Gentlemans befand sich in dem zunächst an die Farringdonstraße stoßenden Teile des Gefängnisses ein ähnlicher aber kleinerer Hofraum, der »gemalte Platz« genannt, weil man an seinen Mauern früher mehrere Abbildungen von Kriegsschiffen unter vollen Segeln sowie andere Kunstleistungen erblickt hatte, wodurch sich ein eingesperrter Maler in seinen Mußestunden hier verewigte.

Nachdem Herr Roker diese Notiz, augenscheinlich mehr um sein Gemüt durch Mitteilung einer wichtigen Tatsache zu erleichtern, als in der speziellen Absicht, Herrn Pickwick aufzuklären, mitgeteilt hatte, ging er mit ihm in eine andere Galerie und lenkte in einen kleinen Nebengang am äußersten Ende desselben ein; hier öffnete er eine Tür und erschloß ein Zimmer von keineswegs einladendem Aussehen, worin acht bis neun eiserne Bettstellen standen.

»Hier«, sagte er, die Tür offen haltend und Herrn Pickwick triumphierenden Blickes anschauend: »hier ist ein Zimmer.«

Herrn Pickwicks Gesicht verriet indessen ein so durchaus geringes Maß von Zufriedenheit, daß Herr Roker in den Mienen Samuel Wellers, der bis jetzt ein würdevolles Schweigen beobachtet hatte, nach Sympathie suchte.

»Hier ist ein Zimmer, junger Mann«, bemerkte Herr Roker.

»Ich sehe es«, erwiderte Sam mit einem freundlichen Kopfnicken.

»Was meinen Sie? So ein Zimmer würden Sie im Farringdon-Hotel nicht finden«, sagte Herr Roker mit selbstgefälligem Lächeln.

Statt aller Antwort drückte Herr Weller auf eine behagliche und unstudierte Weise ein Auge zu, was entweder bedeuten konnte, er denke auch so, oder er denke nicht so, oder er habe überhaupt noch gar nicht darüber nachgedacht, wie es der Beobachter nun auslegen mochte. Nachdem er das vollbracht und sein Auge wieder geöffnet hatte, fragte er Herrn Roker, welches die merkwürdige Bettstelle sei, worin es sich nach seiner lockenden Beschreibung so herrlich schlafen lasse.

»Diese da«, erwiderte Herr Roker, auf eine sehr rostige Bettlade in einem Winkel zeigend. »Jedermann schläft darin ein, er mag wollen oder nicht.«

»Dann wären ja«, meinte Sam, mit einem Blick unendlichen Widerwillens das fragliche Möbel betrachtend: »dann wären ja Mohnköpfe nichts dagegen.«

»Das ist wahr«, versetzte Herr Roker.

»Und«, fügte Sam mit einem Seitenblick auf seinen Herrn hinzu, ob er bei diesem nicht etwa einige Merkzeichen eines erschütterten Entschlusses zu erkennen vermöchte, »die andern Gentlemen, die hier schlafen, sind doch hoffentlich Gentlemen?«

»Das versteht sich«, sagte Herr Roker. »Einer von ihnen trinkt Tag für Tag zwölf Kannen Ale und läßt seine Pfeife nie kalt werden, nicht einmal beim Essen.«

»Das muß ja ein außerordentlicher Mann sein«, meinte Sam.

»Ja freilich, ich bin es selbst.«

Keineswegs eingeschüchtert durch diese Nachricht, kündigte Herr Pickwick seinen Entschluß an, die Wunderkräfte des narkotischen Bettes auf die nächste Nacht zu erproben: Herr Roker sagte ihm, er könne sich ohne weitere Anzeige oder Formalität zu jeder beliebigen Stunde zur Ruhe begeben und ließ ihn sofort mit Sam auf dem Gange stehen.

Es wurde dunkel, das heißt, an diesem niemals hellen Platze wurden aus Artigkeit gegen den Abend, der sich außen eingestellt hatte, einige Gaslichter angezündet. Da es ziemlich heiß war, so hatten die Bewohner einiger von den zahlreichen, auf beiden Seiten in den Gang sich öffnenden Stuben ihre Türen mehr oder weniger weit aufgemacht, und Herr Pickwick schaute im Vorübergehen mit großer Neugier und vielem Interesse hinein. Im ersten saßen vier oder fünf mäßig große Burschen, durch eine Wolke von Tabaksrauch beinahe unsichtbar gemacht, in lärmender, schreiender Unterhaltung über halbleeren Bierkannen und spielten mit schmutzigen Karten »Allevier«. Im nächsten Zimmer erblickte er einen einsamen Bewohner, der beim Schein eines schwachen Talglichts einen Packen beschmutzter, verwitterter, mit gelbem Staub bedeckter und vor Alter beinahe zerfallener Papier studierte und zum hundertstenmal ein langes Verzeichnis seiner Beschwerden für irgendeinen bedeutenden Mann niederschrieb, dessen Augen dies Schreiben niemals lesen, dessen Herz nie dadurch gerührt werden sollte. In einem dritten wohnte ein Mann mit seinem Weibe und einem ganzen Haufen Kinder, und bereitete für die jüngsten ein ärmliches Nachtlager auf der Erde oder auf ein paar Stühlen. Im vierten, fünften, sechsten und siebten wiederholte sich das Geschrei, das Biertrinken, der Tabaksrauch und das Kartenspiel in verstärktem Maße.

Auf den Gängen selbst und besonders auf den Treppen standen eine Menge Leute, die hierher kamen, einige, weil ihnen ihr Zimmer zu leer und zu einsam, andere, weil sie zu voll und zu heiß waren, die meisten aber, weil sie keine Ruhe fanden, sich unbehaglich fühlten und das Geheimnis nicht besaßen, mit Bestimmtheit zu wissen, was sie mit sich selbst anfangen sollten. Es waren Leute aus allen Klassen da, vom Arbeiter in der Barchentweste bis zu dem ruinierten Verschwender in seinem tuchenen Schlafrock mit den zerrissenen Ellenbogen. Aber alle hatten dieselbe Art sich zu benehmen, eine gewisse, leichtfertige Galgenvogelsorglosigkeit, ein großtuerisches, vagabundenhaftes Wesen, das sich mit Worten schlechterdings nicht beschreiben läßt. Doch jeder, der Lust hat, kann sogleich Einsicht nehmen, wenn er einen Fuß in den nächsten besten Schuldturm setzt und die nächste beste Gruppe, die er erblickt, mit ebensoviel Interesse anschaut, wie Herr Pickwick es tat.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, sich an das eiserne Geländer oben an der Treppe lehnend, »es scheint mir, als wenn die Einsperrung wegen Schulden kaum eine Strafe genannt werden könnte.«

»Meinen Sie das wirklich, Sir?« fragte Herr Weller.

»Du siehst, wie diese Burschen trinken, rauchen und schreien«, fuhr Herr Pickwick fort. »Ihre Lage kann ihnen unmöglich sehr zu Herzen gehen.«

»Das ist’s ja, Sir«, erwiderte Sam. »Die machen sich freilich nicht viel daraus, sondern haben alle Tage blauen Montag, saufen den ganzen Tag Porter und kegeln: aber es gibt auch noch andere, die kein Bier trinken und nicht Kegel schieben können, die gern bezahlen würden, wenn sie das Geld dazu hätten, und die ganz traurig und kleinmütig werden, wenn man sie einsperrt. Ich will Ihnen sagen, wie die Sachlage ist, Sir: denen, die den ganzen Tag in den Wirtshäusern herumliegen, schadet es nichts, denen aber, die immer arbeiten, wenn sie Gelegenheit haben, schadet es vielzuviel. Es ist gar zu ungleich, wie mein Vater zu sagen pflegte, wenn sein Grog nicht gerade halb Rum und halb Wasser war, es ist gar zu ungleich, und da liegt der Hase im Pfeffer.«

»Du hast recht, Sam«, sagte Herr Pickwick nach einigen Augenblicken des Nachdenkens, »du hast ganz recht.«

»Vielleicht gibt es dann und wann auch einige ehrliche Leute, denen es gefällt«, bemerkte Herr Weller gedankenvoll: »aber ich habe doch von keinem gehört, ausgenommen von dem kleinen Mann mit dem schmutzigen Gesicht und dem braunen Rock, und da war es die Macht der Gewohnheit.«

»Wer war es denn?« fragte Herr Pickwick.

»Eben das ist die Sache, die kein Mensch jemals erfahren hat«, erwiderte Sam.

»Was hat er denn getan?«

»Was manche viel berühmtere Leute ihrer Zeit auch getan haben, Sir; er hat seine Ausgaben und seine Einnahmen nicht ins rechte Verhältnis zueinander zu setzen gewußt.«

»Das heißt, er hat Schulden gemacht?« fragte Herr Pickwick.

»Eben das, Sir«, erwiderte Sam; »und so kam er endlich im Verlauf der Zeit hierher. Es war nicht viel – Pfändung wegen neun Pfund geradeaus, multipliziert mit fünf Pfund Unkosten, und doch mußte er siebzehn Jahre lang hierbleiben. Wenn er Runzeln ins Gesicht bekam, so wurden sie mit Schmutz verstopft, denn das schmierige Gesicht wie der braune Rock hatten ganz dieselbe Farbe am Ende dieser Zeit wie im Anfang. Er war ein stilles, harmloses, kleines Männchen, das sich immer etwas zu schaffen machte oder Ball spielte und nie gewann, bis endlich die Schließer sich ganz in ihn vernarrten und ihn jeden Abend auf ihr Zimmer kommen ließen, wo er mit ihnen schwatzen und Geschichten erzählen mußte und dergleichen. Eines Abends war er wie gewöhnlich auch da, und ganz allein mit einem alten Freunde, der gerade die Schlüssel hatte: da fing er auf einmal an und sagte: ›Bill, ich habe den Markt draußen schon siebzehn Jahre nicht mehr gesehen‹, (dazumal war gerade der Fleetmarkt). – ›Ich weiß wohl‹, sagte der Schließer und rauchte seine Pfeife. – ›Ich möchte ihn gar zu gern auf eine Minute wiedersehen, Bill‹, fuhr der Kleine fort. – ›Glaub’s wohl‹, sagte der Schließer und dampfte mächtig, um sich das Ansehen zu geben, als ob er den kleinen Mann nicht verstände. – ›Aber‹, sagte dieser immer dringlicher, ›ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt. Laßt mich die Straße noch einmal vor meinem Tode sehen, und wenn mich der Schlag nicht rührt, so bin ich in fünf Minuten wieder da.‹ – ›Aber‹, sagte der Schließer, ›was soll aus mir werden, wenn der Schlag Euch wirklich rührt?‹ – ›Ach‹, erwiderte das kleine Männchen, ›wer mich findet, der wird mich schon bringen, denn ich habe meine Karte in der Tasche: Nr. 20, Gefängnishallengang.‹ Und das war wirklich so, denn wenn er mit einem Neuangekommenen Bekanntschaft machen wollte, so zog er jedesmal eine kleine biegsame Karte mit den obengenannten Worten und sonst gar nichts darauf aus der Tasche, daher sie ihn auch die ›Nummer 20‹ nannten. Der Schließer sah ihn scharf an und sagte zuletzt sehr feierlich: ›Zwanzig, ich will Euch trauen: Ihr werdet Euren alten Freund nicht in Verlegenheit bringen.‹ – ›Nein, mein Schatz‹, antwortete das kleine Männchen, ›ich hoffe, es steckt etwas Besseres hier unten‹, dabei schlug er mit Macht auf sein kleines Westchen, und in jedem Auge stand ihm eine Träne, was ganz außerordentlich war, denn er galt dafür, daß nie Wasser sein Gesicht berührte. Er schüttelte dem Schließer die Hand, ging hinaus –«

»Und kam nie wieder?« fragte Herr Pickwick.

»Diesmal haben Sie fehlgeraten, Sir«, erwiderte Herr Weller, denn er erschien zwei Minuten vor der Zeit, kochend vor Wut, wieder und sagte, eine Mietkutsche habe ihn beinahe überfahren: er sei an so etwas nicht gewöhnt und er wolle ein schlechter Kerl sein, wenn er es nicht dem Lordmayor schreibe. Sie beschwichtigten ihn endlich, aber fünf ganze Jahre hernach hat er nie mehr auch nur ein einziges Mal zum Tore hinausgeschaut.«

»Und nach Verlauf dieser Zeit ist er wohl gestorben?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, Sir, das nicht«, erwiderte Sam. »Er bekam ein Gelüst, in dem neuen Wirtshaus über der Straße am Eingang das Bier zu versuchen, und dort war ein so hübsches Zimmer, daß er sich’s in den Kopf setzte, jeden Abend dahin zu gehen, was er eine geraume Zeitlang tat. Regelmäßig etwa eine Viertelstunde vor Torschluß kam er dann immer wieder zurück. Das war nun alles ganz schön und gut, aber endlich wurde er so lustig und ausgelassen, daß er die Zeit ganz vergaß oder sich gar nichts mehr daraus machte, und immer später und später zurückkam, bis er zuletzt eines Abends vor dem Tore erschien, als sein guter Freund eben zuschließen wollte und bereits den Schlüssel umgedreht hatte. – ›He da, Bill, halt!‹ ruft er ihm zu. – ›Seid Ihr denn noch nicht zu Hause, Zwanzig?‹ sagte der Schließer; ›ich dachte, Ihr wäret längst da.‹ – ›Nein, noch nicht‹, erwiderte der Kleine und lächelte. – ›Dann will ich Euch etwas sagen, guter Freund‹, sprach der Schließer und machte das Tor sehr langsam und gemächlich wieder auf: ›ich habe mit großem Leidwesen gesehen, daß Ihr in der neuesten Zeit in schlechte Gesellschaften geraten seid. Ich will nun nicht hart mit Euch verfahren, aber wenn Ihr Euch nicht zu gesetzten Leuten haltet und zur regelmäßigen Stunde wieder heimkommt, so schließe ich Euch ganz und gar aus, so wahr ich da stehe.‹ Der kleine Mann fing heftig an zu zittern und zu beben und verließ seitdem nie wieder die Gefängnismauern.«

Als Sam geendet hatte, ging Herr Pickwick langsam die Treppe wieder hinab, und nachdem er einige Male auf dem bemalten Platz, wo er, da es jetzt dunkel war, beinahe allein sein konnte, gedankenvoll auf und ab gegangen, sagte er zu Herrn Weller, es scheine ihm hohe Zeit zu sein, zu Bett zu gehen,- er solle in einem nahen Wirtshaus eine Unterkunft suchen und am andern Morgen beizeiten wieder kommen, um für die Herbeischaffung seiner Garderobe aus dem Georg und Geier Sorge zu tragen. Herr Samuel Weller schickte sich an, diesem Befehl mit so gutem Anstand wie er anzunehmen vermochte, zu gehorchen, legte aber dennoch einen bedeutenden Widerwillen an den Tag. Er ging sogar soweit, durch allerhand wirkungslose Winke anzudeuten, daß es passend wäre, wenn er sich für heute nacht auf den Kiesboden hinstreckte: da er aber Herrn Pickwick für alle solche Anspielungen hartnäckig taub fand, so zog er sich endlich zurück.

Die Tatsache darf nicht verschwiegen werden, daß Herr Pickwick äußerst niedergedrückt war und sich durchaus unbehaglich fühlte – nicht wegen mangels an Gesellschaft, denn das Gefängnis war sehr voll, und mit einer Flasche Wein konnte er sich ohne alle förmliche Einführungszeremonie die beste Kameradschaft einiger auserwählten Geister erkaufen. Allein er fühlte sich einsam unter einem rohen Gesindel, und der Gedanke, ohne Aussicht auf Befreiung eingekäfigt zu sein, benahm ihm allen frohen Mut. Dessenungeachtet fiel es ihm aber nicht von ferne ein, sich damit loszukaufen, daß er der Betrügerei Dodsons und Foggs Vorschub leistete.

In dieser Stimmung begab er sich noch einmal in den Gefängnishallengang und spazierte langsam auf und ab. Der Platz war unerträglich schmutzig und der Tabaksdampf beinahe erstickend. Die Leute warfen unaufhörlich die Türen zu, wenn sie aus- und eingingen, und das Geräusch ihrer Stimmen und Fußtritte hallte beständig durch den Gang. Eine junge Frau mit einem Kind auf den Armen, das vor Magerkeit und Elend kaum kriechen zu können schien, ging mit ihrem Manne, der keinen andern Platz hatte, um sie zu sehen, den Gang auf und ab. Als sie an Herrn Pickwick vorbeikamen, konnte er die Frau bitterlich schluchzen hören, und einmal brach sie in ein so heftiges Jammern aus, daß sie sich an der Wand halten mußte, während der Mann das Kind in seine Arme nahm und sie zu beruhigen versuchte.

Herrn Pickwicks Herz war wirklich zu voll, um das zu ertragen: er ging die Treppen hinauf und ins Bett.

Obgleich nun das Zimmer des Gefängniswärters in Beziehung auf Möblierung und Einrichtung durchaus unwohnlich und um mehrere hundert Grad schlechter war als das gemeinste Krankenzimmer in einem Grafschaftsgefängnis, so hatte es doch für den Augenblick den Vorzug, ganz verlassen und nur von Herrn Pickwick bewohnt zu sein. Er setzte sich am Fuß seiner kleinen eisernen Bettstelle nieder und begann zu berechnen, wieviel der Gefängniswärter wohl jährlich aus diesem schmutzigen Zimmer lösen könne. Er brachte auf mathematischem Wege heraus, daß es vielleicht soviel eintrage, wie eine kleine Straße in den Vorstädten Londons. Dann fing er an, sich zu wundern, warum wohl eine düster blickende Fliege, die auf seinen Beinkleidern herumkroch, in ein so enges Gefängnis gekommen sein mochte, während sie doch unter so vielen luftigen Wohnungen die Wahl habe: eine Betrachtung, die ihn zu dem unausweichlichen Schluß leitete, das Insekt müsse verrückt sein. Nachdem er darüber ins reine gekommen, merkte er, daß er schläfrig sei. Er zog daher seine Nachtmütze aus der Tasche, die er morgens einzustecken die Vorsicht gebraucht, kleidete sich gemächlich aus, ging ins Bett und schlummerte ein.

»Bravo! die Füße in Schwung! Munter! Juchheisa, Zephyr! Ich will mich hängen lassen, wenn nicht das Opernhaus Ihre eigentliche Heimat ist. Holla ho!« Diese und ähnliche mit dem tobendsten Geschrei hervorgelärmte und von lautem, schallendem Gelächter begleiteten Ausdrücke erweckten Herrn Pickwick aus einem jener gesunden Schlummer, die in Wirklichkeit nur eine halbe Stunde andauern, dem Schläfer aber drei bis vier Wochen lang gewährt zu haben scheinen.

Die Stimme hatte nicht sobald aufgehört, als das Zimmer mit solcher Heftigkeit erschüttert wurde, daß die Fenster in ihren Rahmen rasselten und die Bettstellen erzitterten. Herr Pickwick schrak auf und blieb einige Minuten lang in stummes Erstaunen über die seinen Augen sich darstellende Szene versunken.

In seinem eigenen Zimmer nämlich führte ein Mann in einem grobgesäumten schwarzen Rock, manchesternen Kniehosen und grauen wollenen Strümpfen die gewöhnlichste Art eines Hornpipetanzes mit einer spitzbübisch-burlesken Karikatur von Anmut und Leichtigkeit auf, die, verbunden mit dem eigentümlichen Charakter seines Kostüms, unaussprechlich abgeschmackt war. Ein anderer Mann, der offenbar sehr betrunken und wahrscheinlich von seinem Kameraden in ein Bett geworfen worden war, saß zwischen den Tüchern und trillerte, soweit es ihm sein Gedächtnis erlaubte, ein komisches Lied mit den sentimentalsten Empfindungen und Phrasen, während ein dritter, der gleichfalls auf einem Bette saß, den beiden Künstlern mit tiefer Kennermiene zujubelte und sie durch solche Aufwallungen von Gefühl, die Herrn Pickwick bereits aus dem Schlafe gestört hatten, ermutigte.

Dieser letztere war ein bewunderungswürdiges Musterstück von einer Klasse Leute, die in ihrer gänzlichen Vollkommenheit nur an solchen Orten zu sehen sind: – im unvollkommenen Zustand kann man sie gelegentlich auch in der Gegend von Viehställen und in öffentlichen Häusern treffen, aber ihre volle Blume erhalten sie nur in diesen Mistbeeten, die von der Gesetzgebung klüglicherweise einzig und allein zu ihrer Erzielung geschaffen zu sein scheinen.

Er war ein langer Kerl von olivenartiger Gesichtsfarbe, hatte lange dunkle Haare und einen sehr dicken, buschigen Schnurrbart, der unter dem Kinn zusammenlief. Er trug kein Halstuch, da er den ganzen Tag Ball gespielt hatte, und sein offener Hemdkragen enthüllte die volle Üppigkeit seines Nackens. Auf dem Kopf hatte er eine gewöhnliche französische Mütze zu achtzehn Pence sitzen, mit bunten Trotteln daran, die ihm zu dem gemeinen Barchentrock sehr hübsch stand. Seine Beine, die lang und schwach waren, schmückten ein Paar Oxforder Pumphosen, geeignet, die ganze Symmetrie seiner Glieder ins gehörige Licht zu stellen. Da sie indessen etwas nachlässig geschnallt und außerdem auch unvollständig zugeknöpft waren, so fielen sie in einer Reihe nicht eben sehr anmutsvoller Falten über ein Paar Schuhe gerade soweit auf die Ferse herab, um ein Paar schmutzige, weiße Strümpfe zu zeigen. In seinem ganzen Wesen sprach sich eine gewisse gaunerhafte, vagabundenmäßige Lebhaftigkeit und eine Art großtuerischer Spitzbüberei aus, die wenigstens eine Goldmine wert war.

Diese Person war die erste, die bemerkte, daß Herr Pickwick zuschaute: sie winkte hierauf dem Zephyr zu und bat ihn mit drolliger Gravität, den Herrn nicht aufzuwecken.

»Gott segne den ehrlichen Gentleman in Zeit und Ewigkeit«, rief der Zephyr sich abwendend und die äußerste Überraschung an den Tag legend, »der Gentleman ist bereits erwacht. Hallo, Shakespeare! Wie geht es Ihnen, Sir? Was machen Marie und Sara, Sir? und die liebwerteste alte Madame zu Hause, Sir? – He, Sir? Wollen Sie die Güte haben, in das erste Paketchen, das Sie abschicken, meine Komplimente zu legen und dabei zu melden, ich würde sie schon früher abgesandt haben, wenn ich nicht gefürchtet hätte, sie möchten im Wagen zerbrochen werden. Nicht wahr, Sir?«

»Belästigen Sie den Gentleman nicht mit gewöhnlichen Höflichkeiten, da Sie sehen, daß er ungemein durstig ist«, sagte der Schnurrbart in scherzhaftem Tone. »Warum fragen Sie den Gentleman nicht, was er befehle?«

»Beim Himmel, das habe ich ganz vergessen«, erwiderte der andere. »Was wollen Sie trinken, Sir? Wollen Sie Portwein, Sir? oder Xeres, Sir? Auch das Ale kann ich empfehlen, Sir: oder vielleicht wünschen Sie lieber Porter, Sir? Gönnen Sie mir das Glück, Ihre Nachtmütze aufzuhängen, Sir.«

Mit diesen Worten schnappte der Sprecher den genannten Artikel von Herrn Pickwicks Kopf weg und setzte ihn in einem Nu dem Betrunkenen auf, der im festen Glauben, eine zahlreiche Versammlung zu ergötzen, fortfuhr, in möglichst melancholischen Tönen sein Lied abzuleiern.

Jemanden mit Gewalt die Nachtmütze vom Kopf reißen und einem unbekannten Schmutznickel aufsetzen, mag an und für sich ein geistreicher Witz sein, gehört aber unstreitig in die Klasse der handgreiflichen Späße. Auch Herr Pickwick betrachtete die Sache von diesem Gesichtspunkte aus. Ohne seine Absicht im mindesten vorher zu verkünden, sprang er wie ein Blitz aus dem Bett und versetzte dem Zephyr13 einen so derben Schlag auf die Brust, daß er ihm einen bedeutenden Teil der Bequemlichkeit raubte, die zuweilen sein Name mit sich bringt; sodann riß er seine Mütze wieder an sich und nahm kühn eine defensive Stellung an.

»Nur herbei!« rief Herr Pickwick keuchend vor Zorn wie infolge des ungewöhnlichen Kraftaufwandes: »kommt nur alle beide!«

Diese kecke Aufforderung begleitete der würdige Gentleman mit wiederholten Schwingungen seiner geballten Fäuste, um seinen Gegnern durch Entwicklung seiner Kunstfertigkeit Schrecken einzujagen.

War es Herrn Pickwicks höchst unerwartete Tapferkeit, oder war es die verwickelte Art, wie er aus dem Bett gesprungen und ohne Umstände den Hornpipemann überfallen hatte, was seine Gegner rührte – kurz und gut, gerührt waren sie, und statt Mordversuche zu machen, wie Herr Pickwick unbedingt von ihnen vorausgesetzt, wurden sie auf einmal still, starrten einander ein paar Augenblicke an und begannen dann aus vollem Halse zu lachen.

»Sie sind ein wackerer Mann«, sagte der Zephyr zu ihm, »und gefallen mir sehr wohl. Gehen Sie jetzt nur wieder ins Bett, sonst erkälten Sie sich. Sie werden doch hoffentlich keinen Zorn auf uns haben.« Zugleich streckte er ihm eine Hand hin, ähnlich dem gelben Fingerklumpen, den man hier und da über dem Laden eines Handschuhmachers hängen sieht.

»O gewiß nicht«, sagte Herr Pickwick recht munter; denn jetzt, da die Aufregung vorüber war, begann er Kälte in seinen Füßen zu verspüren.

»Gestatten Sie mir die Ehre, Sir«, sagte der Gentleman mit dem Schnurrbart, ihm seine rechte Hand anbietend.

»Mit vielem Vergnügen, Sir«, erwiderte Herr Pickwick und stieg nach einem langen, feierlichen Händeschütteln wieder in sein Bett.

»Mein Name ist Smangle, Sir«, sprach der Mann mit dem Schnurrbart.

»Ah, schön«, sagte Herr Pickwick.

»Ich heiße Mivins«, sprach der Mann mit den Strümpfen.

»Freut mich, es zu hören«, erwiderte Herr Pickwick.

»Hm«, hustete Herr Smangle.

»Sagten Sie etwas, Sir«, fragte Herr Pickwick.

»Nein, Sir«, erwiderte Herr Smangle.

»Dann habe ich mich geirrt, Sir«, versetzte Herr Pickwick.

Alles das war sehr artig und angenehm; um aber auf einen noch freundlicheren Fuß zu gelangen, versicherte Herr Smangle den Herrn Pickwick zu wiederholten Malen, daß er eine sehr hohe Verehrung für die Gefühle eines Gentleman hege: eine Gesinnung, die wirklich laut zu seinen Gunsten sprach, da durchaus kein Grund war, vorauszusetzen, daß er dieselben verstanden hätte.

»Kommen Sie durch den Hof hierher, Sir?« fragte Herr Smangle.

»Durch was?« sagte Herr Pickwick.

»Durch den Hof – Portugalstraße – Sie wissen ja schon.«

»O nein«, erwiderte Herr Pickwick.

»Das Geld ausgegangen vielleicht?« erwiderte Mivins.

»Ich fürchte nicht«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich weigere mich bloß, Schadenersatz zu bezahlen und bin deshalb hier.«

»So?« sagte Herr Smangle. »Mein Verderben war Papier.«

»So sind Sie vielleicht ein Buchhändler, Sir?« fragte Herr Pickwick unschuldig.

»Buchhändler? Gott bewahre. Nichts so Niederträchtiges. Kein Geschäftsmann. Wenn ich Papier sage, so meine ich Wechsel.«

»Aha, jetzt verstehe ich Sie«, sagte Herr Pickwick.

»Gott straf mich, ein Gentleman muß Unglücksfälle zu ertragen verstehen«, fügte Smangle hinzu. »Was ist es auch? Ich bin hier im Fleetgefängnis; nun gut, bin ich deswegen schlimmer daran als vorher?«

»Nein, um kein Haar«, versetzte Herr Mivins.

Und er hatte ganz recht: Herr Smangle war sogar weit besser daran, weil er, um sich für seinen neuen Wohnort zu versorgen, in den unentgeltlichen Besitz gewisser Schmucksachen gekommen war, die schon lange vorher den Weg zu einem Pfandleiher gefunden hatten.

»Schön, aber kommen Sie«, sagte Herr Smangle: »das ist trockene Arbeit. Spülen wir den Mund mit einem Tröpfchen Glühwein aus; der letzte Ankömmling hat ihn zu bezahlen, Mivins wird ihn holen, und ich helfe ihn austrinken. Das ist, Gott straf mich, eine billige und gentlemanische Teilung der Arbeit.«

Herr Pickwick, der keine Lust hatte, sich abermaligen Handgreiflichkeiten auszusetzen, nahm den Vorschlag mit Vergnügen an, gab Herrn Mivins Geld, und dieser verlor, da es nahe an elf Uhr war, keine Zeit, sondern eilte sogleich in die Restauration.

»He, was haben Sie ihm gegeben?« flüsterte Smangle im Augenblick, wo sein Freund das Zimmer verlassen hatte.

»Einen halben Sovereign«, sagte Herr Pickwick.

»Er ist ein verteufelt angenehmer, gentlemanischer Kerl«, fuhr Herr Smangle fort – »ganz höllisch angenehm. Ich kenne keinen besseren Kameraden, aber –«

Hier brach Herr Smangle kurz ab und schüttelte bedenklich den Kopf.

»Sie werden damit doch nicht sagen wollen, daß er imstande wäre, das Geld für sich selbst zu verwenden?« fragte Herr Pickwick.

»O nein, Gott bewahre, das sage ich nicht; ich sage ausdrücklich, daß er ein verteufelt gentlemanischer Kerl ist«, erwiderte Herr Smangle. »Aber ich denke, wenn vielleicht jemand hinunterginge, um zu sehen, ob er nicht zufälligerweise seinen Schnabel in den Krug steckt oder tölpelhaft genug ist, die Treppe herauf das Geld zu verlieren, so könnte das nicht schaden. He da, Sie, gehen Sie hinab und sehen Sie nach diesem Gentleman.«

Diese Aufforderung galt einem kleinen, schüchtern um sich blickenden, nervenschwachen Manne, dessen ganze Erscheinung große Armut verriet, und der sich die Zeit über offenbar völlig betäubt über die Neuheit seiner Lage auf einem der Betten zusammengeduckt hatte.

»Sie wissen doch die Restauration?« sagte Smangle. »Laufen Sie hinunter und sagen Sie jenem Herrn, Sie kämen, um ihm den Krug herauftragen zu helfen. Doch wie? – warten Sie noch einmal – ich will Ihnen etwas sagen – ich will Ihnen sagen, wie wir ihn bekommen werden«, fügte Smangle mit einem pfiffigen Blick hinzu.

»Und wie denn?« fragte Herr Pickwick.

»Lassen Sie ihm sagen, daß er für das übrige Geld Zigarren kaufen solle. Ein großartiger Einfall! Laufen Sie schnell hinab und melden Sie es ihm. Sie sollen nicht zugrunde gehen; ich werde sie rauchen.«

Dieses Manöver war so ausnehmend scharfsinnig und wurde mit so unerschütterlicher Ruhe und Kaltblütigkeit ausgeführt, daß Herr Pickwick es nicht stören wollte, wenn es auch in seiner Macht gestanden hätte. In kurzer Zeit kam Herr Mivins mit dem Getränk zurück, das Herr Smangle in zwei kleine, zersprungene und schmutzige Krüge schüttete. Er machte dabei die kluge Bemerkung, ein Gentleman müsse unter solchen Umständen nicht zu ekel sein: wenigstens er für seine Person schäme sich nicht, aus einem irdenen Kruge zu trinken. Um seine Aufrichtigkeit sogleich zu beweisen, tat er der Gesellschaft Bescheid mit einem Zuge, der seinen Krug zur Hälfte leerte.

Nachdem nun auf diese Weise ein vortreffliches Einverständnis herbeigeführt worden war, begann Herr Smangle seine Zuhörer mit einem Bericht von verschiedenen romantischen Abenteuern zu unterhalten, die er seinerzeit bestanden, und ließ dabei allerhand interessante Anekdoten von einem Vollblutpferde einfließen, sowie von einer prachtvollen Jüdin, beide von ausnehmender Schönheit und sehr gesucht von dem hohen und niederen Adel dieser Königreiche.

Lange bevor diese eleganten Auszüge aus der Biographie eines Gentleman zu Ende waren, hatte sich Herr Mivins ins Bett begeben und schnarchte; dem schüchternen Fremdling und Herrn Pickwick gönnte er den vollen Genuß von Herrn Smangles Erfahrungen.

Übrigens wurden auch die zwei letztgenannten Gentlemen von den rührenden Aussagen, die man ihnen vortrug, nicht halb genug erbaut. Herr Pickwick war schon geraume Zeit in einem Zustande von Halbschlummer und hatte nur noch eine dunkle Vorstellung davon, daß der Betrunkene aufs neue mit seinem komischen Lied losbrach, worauf er von Herrn Smangle mit dem Wasserkrug die artige Andeutung erhielt, daß die Zuhörerschaft für den Augenblick nicht musikalisch gestimmt sei. Er, das heißt Herr Pickwick, nickte aber gleich wieder ein und hatte dabei noch das verschwommene Bewußtsein, daß Herr Smangle immer noch eine lange Geschichte erzähle, deren Hauptpunkt sich darauf belief, daß er bei gewissen ausführlich auseinandergesetzten Gelegenheiten eine Zeche und zugleich einen Gentleman gemacht habe.

  1. Der Zephyr ist der Frühlingswind, der in den Dichtungen der Griechen und Römer viel gepriesen wird.

Dreiundvierzigstes Kapitel.


Dreiundvierzigstes Kapitel.

Worin, wie im vorhergehenden, das alte Sprichwort sich bewährt, daß das Unglück mit sonderbaren Schlafkameraden zusammenführt. Zugleich enthält es Herrn Pickwicks ganz außerordentliche und überraschende Erklärung gegen Herrn Samuel Weller.

Als Herr Pickwick am andern Morgen die Augen öffnete, war der erste Gegenstand, auf dem sie ruhten, Samuel Weller, der auf einem kleinen schwarzen Koffer saß und offenbar gänzlich in Betrachtung der stattlichen Figur des lustigen Herrn Smangle versunken war, während Herr Smangle selbst bereits halb angekleidet auf dem Bette saß, mit dem verzweifelt hoffnungslosen Versuche beschäftigt, Herrn Weller durch starres Anschauen aus der Fassung zu bringen. Wir nannten diesen Versuch verzweifelt hoffnungslos, weil Sam nach einem umfassenden Blick auf Herrn Smangles Mütze, Füße, Kopf, Gesicht, Beine und Schnurrbart unverdrossen fortfuhr, ihn mit allen Zeichen lebhaften Vergnügens im Auge zu behalten, ohne jedoch auf Herrn Smangles persönliche Gefühle hierbei mehr Rücksicht zu nehmen, als er bei der Betrachtung einer hölzernen Statue oder einer mit Stroh ausgestopften Vogelscheuche getan haben würde.

»Nun, kennen Sie mich jetzt?« begann Herr Smangle endlich mit finsterem Stirnrunzeln.

»Ich wollte auf Sie schwören, Sir«, erwiderte Sam heiter.

»Seien Sie nicht unverschämt gegen einen Gentleman, Sir«, sagte Herr Smangle.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Sam. »Wenn Sie mir sagen wollen, wann er aufwacht, so werde ich mich ganz extrafein gegen ihn benehmen.«

Da in dieser Bemerkung die entfernte Absicht lag, Herrn Smangle für keinen Gentleman gelten zu lassen, so geriet er in Zorn.

»Mivins!« rief er heftig.

»Was gibt’s?«, antwortete dieser Gentleman von seinem Bette aus.

»Wer zum Teufel ist dieser Bursche da?«

»Was weiß ich?« sagte Herr Mivins, schläfrig unter der Decke hervorsehend. »Darum muß ich Sie fragen. Hat er hier etwas zu tun?«

»Nein«, erwiderte Herr Smangle.

»So werfen Sie ihn die Treppe hinab und sagen Sie ihm, er solle sich nicht einfallen lassen, wieder heraufzukommen; denn sonst werde ich ihn windelweich schlagen«, erwiderte Herr Mivins.

Und mit diesem guten Rat fing der vortreffliche Gentleman aufs neue an einzuschlummern.

Da das Gespräch solche recht persönliche Wendung genommen hatte, hielt es Herr Pickwick für Zeit, sich ins Mittel zu legen.

»Sam«, sagte er.

»Sir«, erwiderte dieser Gentleman,

»Ist seit gestern abend nichts Neues vorgefallen?«

»Nichts Besonderes, Sir«, erwiderte Sam mit einem Blick auf Herrn Smangles Schnurrbart. »Das Vorherrschen einer abgeschlossenen, dicken Luft ist dem Wachstum des Unkrauts auf eine beunruhigende und drohende Art günstig gewesen; sonst aber ist allein Ordnung.«

»Ich will aufstehen«, sagte Herr Pickwick. »Gib mir die Wäsche.«

Was für feindliche Absichten Herr Smangle auch gehegt haben mochte, seine Gedanken erhielten schnell eine ganz andere Richtung durch das Auspacken des Koffers, dessen Inhalt ihn auf einmal mit einer höchst günstigen Meinung nicht bloß von Herrn Pickwick, sondern auch von Sam zu erfüllen schien. Daher begann er laut genug, um von diesem außerordentlichen Mann gehört zu werden, Herrn Weller für ein wahrhaft vollkommenes Original und ganz für den Mann nach seinem Herzen zu erklären. Was Herrn Pickwick betrifft, so kannte die Neigung, die er für ihn empfand, keine Grenzen.

»Kann ich Ihnen in etwas dienen, mein teurer Sir?« fragte Herr Smangle.

»Wüßte nicht; danke bestens«, erwiderte Herr Pickwick.

»Haben Sie nichts der Wäscherin zu schicken? Ich kenne eine herrliche Wäscherin, nicht weit von da, die zweimal in der Woche zu mir kommt und – beim Teufel, wie schön sich das trifft! – heute ist gerade ihr Tag. Soll ich etwas von Ihren Sachen zu den meinen nehmen? Es macht mir ja durchaus keine Mühe. Der Henker soll mich holen, was müßte man von der menschlichen Natur denken, wenn nicht ein Gentleman in Bedrängnis einem andern Gentleman, der in derselben Lage ist, aushelfen wollte?«

So sprechend rückte Herr Smangle so nahe wie möglich an den Koffer, und seine Blicke strahlten die glühendste, uneigennützigste Freundschaft.

»Haben Sie nicht vielleicht etwas zum Ausbürsten für den Aufwärter?« fuhr Smangle fort.

»Ganz und gar nichts, mein Wertester«, erwiderte Sam, für seinen Herrn antwortend. »Vielleicht würde es angenehmer für alle Teile sein, wenn einer von uns das Bürsten übernähme, ohne den Mann zu bemühen, wie der Schulmeister sagte, als die jungen Gentlemen sich nicht vom Büttel durchprügeln lassen wollten.«

»Haben Sie denn gar nichts, das ich in meinem Köfferchen der Wäscherin schicken könnte?« fragte Smangle, indem er sich etwas entmutigt von Sam zu Herrn Pickwick wandte.

»Nicht das Mindeste, Sir«, antwortete Sam abermals. »Ich fürchte, der kleine Koffer dürfte von Ihren eigenen Sachen schon übervoll sein.«

Diese Worte begleitete ein besonderer Blick auf Herrn Smangles Anzug, nach dem man die Geschicklichkeit einer Wäscherin beurteilen konnte. So drehte dieser sich um und gab wenigstens für den Augenblick alle Absichten auf Herrn Pickwicks Portemonnaie und Garderobe auf. Grimmig begab er sich zum Ballplatz, wo er als leichtes und gesundes Frühstück ein Paar von den in der letzten Nacht gekauften Zigarren rauchte.

Herr Mivins, der kein Raucher war, und für den kein Kaufmann mehr eine Feder, kein Wirt eine Kreide anrührte, blieb im Bett und »schlief zum Frühstück«, wie er sich ausdrückte.

Herr Pickwick nahm in einem kleinen Stübchen neben der Restauration, das den imponierenden Namen »Heimlicher Winkel« führte, das Frühstück. Jeder augenblickliche Gast in diesem »Heimlichen Winkel« genoß hier gegen eine kleine Vergütung den unschätzbaren Vorteil, die ganze Unterhaltung in der Restauration anzuhören. Herr Pickwick schickte dann Herrn Weller mit einigen notwendigen Aufträgen fort und ging auf sein Zimmer zurück, um sich nun mit Herrn Roker wegen seiner künftigen Einrichtung zu besprechen.

»Einrichtung? So, so!« sagte dieser Gentleman, ein großes Buch zu Rate ziehend. »Einrichtung und Bequemlichkeit genug, Herr Pickwick, Ihr Gesellschaftsbillett lautet Nummer 27 im dritten Stock.«

»Wie? Was sagen Sie?« fragte Herr Pickwick.

»Ihr Gesellschaftsbillett«, erwiderte Herr Roker: »verstehen Sie mich nicht?«

»Nicht ganz«, erwiderte Herr Pickwick lächelnd.

»Es ist doch so klar wie Tinte«, sagte Herr Roker. »Sie haben ein Gesellschaftsbillett auf Nummer 27 im dritten Stock, und die Leute, die im Zimmer sind, sind Ihre Gesellschaft.«

»Sind es viele?« fragte Herr Pickwick bedenklich.

»Drei«, erwiderte Herr Roker.

Herr Pickwick hustete.

»Der eine ist ein Pfarrer«, sagte Herr Roker, ein Stück Papier überschreibend: »der andere ein Metzger.«

»Was?« rief Herr Pickwick.

»Ein Metzger«, wiederholte Herr Roker, die Spitze seiner Feder an das Pult schlagend, damit sie besser Tinte lassen sollte. »Was der für ein reicher, vornehmer Mann früher war! Sie erinnern sich doch des Tom Martin, Neddy?« fragte Roker einen andern Mann in der Stube, der soeben mit einem fünfundzwanzigklingigen Taschenmesser den Schmutz von seinen Schuhen abschabte.

»Das will ich meinen«, erwiderte der Angeredete mit starkem Nachdruck auf dem »Ich«.

»So wahr Gott lebt«, sagte Herr Roker, seinen Kopf langsam hin und her wiegend und zerstreut zu dem vergitterten Fenster hinausstarrend, als wolle er sich irgendeine friedliche Szene aus seiner früheren Jugend zurückrufen, »es ist mir noch, als wäre es erst gestern geschehen, wie er den Kohlenträger bei Foggs-under-the- Hill die Werfte hinabschleuderte. Ich kann ihn noch sehen, wie er zwischen zwei Polizeidienern den Strand heraufkam, ein wenig nüchtern geworden durch den Sturz, mit einem Essigumschlag und einem braunen Pflaster über seinem rechten Augenlid. Das war ein Hauptspaß, wie die kleinen Buben auf der Gasse ihm nachsprangen. Was für ein sonderbares Ding doch die Zeit ist, Neddy!«

Der Gentleman, an den diese Beobachtungen gerichtet waren, schien schweigsam und gedankenvoll zu sein; denn er sprach bloß die Fragen nach. Herr Roker aber schüttelte jetzt die poetische schwermütige Gedankenreihe, in die er sich hatte hineinreißen lassen, ab, ließ sich zu dem gewöhnlichen Geschäft des Lebens hernieder und nahm seine Feder aufs neue zwischen die Finger.

»Wissen Sie auch, wer der dritte Gentleman ist?« fragte Herr Pickwick, nicht sehr befriedigt durch diese Beschreibung von seinem künftigen Kameraden.

»Wer ist dieser Simpson, Neddy?« sagte Herr Roker zu seinem Gesellschafter.

»Was für ein Simpson?« fragte Neddy.

»Der in Nummer 27 im dritten Stock, wohin dieser Gentleman hier auch kommt.«

»So der«, erwiderte Neddy: »der ist eigentlich nicht«. Er war früher ein Pferdeanpreiser, jetzt aber hat man ihm das Handwerk gelegt.«

»Ah, das dachte ich mir doch«, versetzte Herr Roker, das Buch schließend und das kleine Stückchen Papier Herrn Pickwick in die Hand gebend; – »hier ist das Billett, Sir.«

Sehr verblüfft durch dieses summarische Verfügen über seine Person ging Herr Pickwick in das Gefängnis zurück und besann sich, was er tun sollte. Da er es jedoch für ratsam hielt, bevor er weitere Schritte einleite, mit den drei Gentlemen, denen er als Stubengenosse zugewiesen war, in persönlichen Verkehr zu treten, so begab er sich schnell in den dritten Stock.

Nachdem er einige Zeit im Gange herumgetappt und bei der schwachen Beleuchtung umsonst die verschiedenen Stubennummern zu entziffern versucht hatte, wandte er sich endlich an einen Bierwirtejungen, der seiner gewöhnlichen Morgenbeschäftigung nachging, die zinnernen Kannen wieder zusammenzuholen.

»Wo ist Nummer 27, Kleiner?« rief er ihm zu.

»Fünf Türen weiter unten«, erwiderte der Junge. »Außen an die Türe ist mit Kreide ein Galgen hingemalt, woran einer hängt und dabei seine Pfeife raucht.«

Herr Pickwick ging sofort langsam den Gang hinab, bis er an das oben beschriebene Porträt eines Gentleman gelangte, auf dessen Gesicht er mit dem Knöchel seines Zeigefingers das erstemal ganz sachte, sodann aber etwas vernehmlicher anklopfte. Nachdem er diesen Prozeß mehrere Male vergeblich wiederholt hatte, wagte er es, die Tür zu öffnen und hineinzublicken.

Es war bloß ein einziger Bewohner anwesend, der sich, soweit er konnte, ohne Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, zum Fenster hinauslehnte und mit großer Beharrlichkeit geschäftig war, auf den Hut eines seiner Freunde im untern Gang zu spucken. Weder Sprechen, Husten, Niesen, Klopfen, noch irgendeine andere gewöhnliche Art, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, konnte diesem Manne die Anwesenheit eines Fremden begreiflich machen. So schritt Herr Pickwick nach einiger Zeit aufs Fenster zu und zupfte ihn sachte am Rockflügel. Das Individuum brachte Kopf und Schultern mit großer Schnelligkeit herein, musterte Herrn Pickwick von oben bis unten und fragte ihn in einem grämlichen Tone, was er zum Henker wolle.

»Wenn ich nicht irre«, sagte Herr Pickwick, sein Billett zu Rate ziehend, »so ist das Nummer 27 im dritten Stock.«

»Nun ja«, erwiderte der Gentleman.

»Ich bin hierhergekommen, weil man mir dies Papier gegeben hat«, sagte Herr Pickwick.

»Zeigen Sie es einmal«, sprach der Gentleman.

Herr Pickwick tat es.

»Roker hätte Sie auch anderswo unterbringen können«, entgegnete Herr Simpson (denn dieser war es) nach einer sehr mißvergnügten Pause.

Herr Pickwick dachte auch so, hielt es jedoch unter allen Umständen für eine Forderung der gesunden Politik, zu schweigen.

Herr Simpson sann einige Augenblicke nach, dann streckte er den Kopf zum Fenster hinaus, tat einen gellenden Pfiff und rief mehrmals ein Wort. Was dieses Wort war, konnte Herr Pickwick nicht erraten, doch schien es ihm ein Spitzname auf Herrn Martin zu sein, weil eine Menge Gentlemen unten sogleich anfingen »Metzger« zu schreien und dabei den Ton nachmachten, in dem diese nützliche Klasse der Gesellschaft ihre Anwesenheit kundzutun pflegt.

Herr Pickwick fand seine Mutmaßung alsbald bestätigt; denn wenige Sekunden darauf stürzte beinahe atemlos ein für seine Jahre übermäßig dicker Gentleman in einem zunftmüßigen blauen Frack, mit Stulpenstiefeln und zirkelrunden Zehen ins Zimmer, und hinter ihm ein anderer Gentleman in einem abgeschabten schwarzen Rock und mit einer Mütze von Seehundsfell.

Der letztere, der seinen Rock abwechselnd vermittels einer Nadel oder eines Knopfes bis ans Kinn zumachte, hatte ein sehr plumpes, rotes Gesicht und sah aus wie ein dauernd dem Trunke ergebener Kaplan, was er auch in der Tat war.

Nachdem die beiden Gentlemen, einer nach dem andern, Herrn Pickwicks Billett gelesen hatten, drückte der eine seine Meinung dahin aus, dies sei ein verdammter Streich, und der andere erklärte, das könne nie und nimmermehr geschehen.

Als sie sofort in diesen sehr verständlichen Ausdrücken ihre Willensmeinung kundgetan, sahen sie Herrn Pickwick und einander selbst mit unhöflichem Schweigen an.

»Eine widerwärtige Sache jetzt, da wir gerade so hübsche Betten haben«, sagte der Kaplan und blickte auf drei schmutzige Matratzen, die in weißwollene Decken gewickelt waren und den Tag über in einer Ecke des Zimmers neben dem Tische lagen. Auf diesem Tisch prangten ein altes zerbrochenes Waschbecken, eine Gießkanne und ein Seifenschälchen von gemeiner gelber Töpferarbeit mit einer blauen Blume verziert. »Sehr widerwärtig«, wiederholte er.

Herr Martin erklärte sich in noch stärkeren Ausdrücken für die gleiche Ansicht, und Herr Simpson schlug, nachdem er eine Menge ausfüllender Adjektive ohne die begleitenden Substantive über die Gesellschaft losgelassen, seine Ärmel zurück und begann das Gemüse für das Mittagessen zu waschen.

Inzwischen hatte Herr Pickwick das Zimmer zur Genüge betrachtet: es war abscheulich schmutzig und der Geruch darin ganz unerträglich. Keine Spur von einem Teppich, einem Fenster- oder Bettvorhang. Nicht einmal ein Schrankverschlag war dabei. Man hätte zwar wenig hineinzulegen gehabt, wenn einer da gewesen wäre, aber dem sei wie ihm wolle, Überreste von Brotlaiben, Käsestückchen, schmierige Handtücher, alte Fleischbrocken, Kleidungsstücke, zerbrochenes Geschirr, Blasbälge ohne Röhren und verrostete Gabeln ohne Zacken geben, wenn sie untereinander auf dem Boden umherliegen, einem kleinen Zimmer, das die gemeinschaftliche Wohn- und Schlafstube dreier müßiger Leute ist, ein für allemal ein höchst unbehagliches Ansehen.

»Ich dächte, es ließe sich doch noch helfen«, sagte der Metzger nach einer ziemlich langen Pause. »Was verlangen Sie dafür, daß Sie sich fortpacken?«

»Bitte um Verzeihung«, erwiderte Herr Pickwick. »Was haben Sie gesagt? Ich verstehe Sie nicht recht.«

»Wie wir Sie ausbezahlen sollen?« fragte der Metzger. »Die gewöhnliche Taxe ist zwei Schillinge und sechs Pence. Wir wollen Ihnen drei geben.«

»Und einen Spanner«, fügte der geistliche Herr hinzu.

»Nun gut, wir bezahlen Ihnen wöchentlich drei Schillinge und sechs Pence, wenn Sie uns allein lassen«, sagte Herr Martin; »damit werden Sie doch wohl zufrieden sein?«

»Und obendrein noch ein Maß Bier hier zu trinken«, stimmte Herr Simpson ein.

»Ja, und zwar gleich jetzt«, rief der Kaplan.

»Ich bin wirklich mit den Regeln dieses Hauses noch so vollkommen unbekannt«, erwiderte Herr Pickwick, »daß ich Sie immer noch nicht begreife. Kann ich denn eine andere Wohnung bekommen? Ich glaubte, das ginge nicht an.«

Bei dieser Frage blickte Herr Martin seine zwei Freunde äußerst verwundert an, und dann deutete jeder der Gentlemen mit seinem rechten Daumen über seine linke Schulter. Diese Handlung, die sich in Worten mit dem schwachen Ausdruck »links« nur höchst unvollkommen bezeichnen läßt, hat, wenn sie von einer Anzahl Damen oder Herren, die miteinander im Einklang stehen, vollzogen wird, eine sehr anmutige und lustige Wirkung: ihr Ausdruck ist der eines munteren, mutwilligen Sarkasmus.

»Ob Sie können?« wiederholte Herr Martin mit einem mitleidigen Lächeln.

»Wenn ich mich so wenig aufs Leben verstände, würde ich meinen Hut fressen und die Schnalle hinunterschlucken«, sagte der geistliche Herr.

»Das täte ich auch«, fügte der andere feierlich hinzu.

Nach dieser Einleitung benachrichtigten die drei Stubengenossen Herrn Pickwick in einem Atem, das Geld sei im Fleet gerade, was es auch außerhalb dieser Anstalt sei; er könne sich damit alles, was er wünsche, sogleich anschaffen, und wenn er zahlen könne und wolle, so brauche er nur seinen Wunsch auszudrücken, um binnen einer halben Stunde ein wohleingerichtetes und möbliertes Zimmer für sich allein zu beziehen.

Hierauf trennten sich beide Teile zu großer gegenseitigen Zufriedenheit. Herr Pickwick verfügte sich abermals ins Zimmer des Aufwärters, und die drei Kameraden begaben sich in die Restauration, um daselbst die fünf Schillinge zu verzehren, die der geistliche Herr mit bewunderungswürdiger Klugheit und Geistesgegenwart zu diesem Zwecke von ihm geborgt hatte.

»Das wußte ich doch«, sagte Herr Roker, aus vollem Halse lachend, als Herr Pickwick ihm seinen Wunsch mitteilte. »Habe ich’s nicht gesagt, Neddy?«

Der philosophische Eigentümer des universalen Federmessers knurrte bejahend.

»Das habe ich mir wohl gedacht, daß Sie ein eigenes Zimmer verlangen würden«, sagte Herr Roker. »Nicht wahr. Sie wünschen anständige Möbel? Sie möchten ohne Zweifel das meine mieten? Dies ist eine ganz hübsche Wohnung.«

»Mit großem Vergnügen«, erwiderte Herr Pickwick.

»Auf dem Gange zur Restauration befindet sich ein vortreffliches Zimmer, das einem Kanzleigefangenen angehört«, sagte Herr Roker. »Ich will es Ihnen gegen ein Pfund wöchentlich abtreten. Sie finden das hoffentlich nicht teuer?«

»Nicht im geringsten«, erwiderte Herr Pickwick.

»Nun, so kommen Sie mit mir«, sagte Herr Roker, mit großer Munterkeit seinen Hut aufsetzend: »die Sache ist in fünf Minuten im reinen. Warum haben Sie’s auch nicht gleich gesagt, daß Sie etwas Hübsches verlangen?«

Die Angelegenheit war, wie der Schließer vorhergesagt, bald abgemacht. Der Kanzleigefangene hatte lange genug hier verweilt und Freunde und Vermögen, Heimat und Glück verloren, um sich das Recht auf ein eigenes Zimmer zu erwerben. Da er aber an dem kleinen Ungemach litt, oft kein Stückchen Brot zu besitzen, so nahm er Herrn Pickwicks Vorschlag, ihm das Zimmer abzutreten, mit Vergnügen an und überließ ihm gerne den ungestörten Besitz desselben gegen eine Vergütung von zwanzig Schillingen in der Woche, mit welcher Summe er sich anheischig machte, alle Personen abzukaufen, die man in sein Zimmer verweisen möchte.

Als sie den Handel abmachten, betrachtete ihn Herr Pickwick mit schmerzlicher Teilnahme. Er trug einen alten Schlafrock und Pantoffeln und war ein langer, hagerer Mann von leichenhafter Gesichtsfarbe, mit eingesunkenen Wangen und lebhaften, unruhigen Augen. Seine Lippen waren blutlos und seine Knochen scharf, dünn und eckig. Gott helfe ihm! Der Eisenzahn des Gefängnisses und der Entbehrung hatte ihn seit zwanzig Jahren langsam zernagt und zerfeilt.

»Aber wo werden Sie dann wohnen, Sir?« fragte Herr Pickwick, als er das Geld für die erste Woche ihm auf den wackelnden Tisch legte.

Der Mann raffte es mit zitternder Hand zusammen und erwiderte, er wisse es noch nicht: er müsse sich nun umsehen, wo er sein Bett aufschlagen könne.

»Ich fürchte, Sir«, sagte Herr Pickwick, ihn freundlich und mitleidsvoll am Arme fassend – »ich fürchte. Sie kommen an irgendeinen lärm- und geräuschvollen Ort. Bitte, betrachten Sie dieses Zimmer als Ihr eigenes, so oft Sie der Ruhe bedürfen, oder wenn Ihre Freunde Sie besuchen.«

»Freunde?« wiederholte der Mann mit röchelnder Stimme. »Wenn ich tot in der Tiefe des tiefsten Schachtes oder im engen Sarge eingeschlossen läge und in dem dunklen garstigen Graben verfaulte, dessen Schleim die Grundmauern dieses Gefängnisses umgibt, ich könnte nicht vergessener und unbeachteter sein als jetzt. Ich bin ein Toter – tot für die Gesellschaft, aber ohne daß mir das Mitleid zuteil wird, das sie denjenigen widmet, deren Seelen bereits vor den ewigen Richterstuhl getreten sind. Besuche von Freunden? Mein Gott! Ich bin an diesem Orte hier von der Blüte meines Gebens zum schwachen Greis herabgesunken. Niemand wird seine Hand auf mein Bett legen, wenn ich tot liege, und sprechen: ›es ist ein Gottessegen, daß er dahin ist!‹«

Die Aufregung, die ein ungewohntes Licht über das Gesicht des Unglücklichen geworfen hatte, solange er sprach, legte sich jetzt wieder; er schlug verstört und hastig seine welken Hände zusammen und verließ schnell das Zimmer.

»Der Mann ist etwas mürrisch«, sagte Herr Roker lächelnd. »Ja, sie sind wie die Elefanten: sie fühlen es dann und wann, und das macht sie wild.«

Nach dieser tief verständigen Bemerkung traf Herr Roker seine Anordnungen mit solcher Schnelligkeit, daß das Zimmer in kurzem mir einem Teppich, sechs Stühlen, einem Tisch, einem Sofabett, einem Teekessel und verschiedenen kleinen Gegenständen versehen war, wofür er den äußerst billigen Preis von siebenundzwanzig Schillingen und sechs Pencen in der Woche zu bezahlen hatte.

»Kann ich sonst mit etwas dienen, Sir?« fragte Herr Roker, mit großer Zufriedenheit um sich blickend und voll Vergnügen mit dem ersten Wochenzins in der Hand klappernd.

»Ja«, sagte Herr Pickwick nach tiefem Nachsinnen. »Gibt es wohl Leute hier, die mir meine Aufträge in der Stadt und sonst meine Angelegenheiten besorgen könnten?«

»Also keine Gefangenen?« fragte Herr Roker.

»Nein, sie müssen auch in die Stadt gehen können.«

»Wohl«, sagte Herr Roker. »Da ist so ein armer Teufel, der einen Freund in der Armenabteilung hat, und der froh sein würde, ein solches Geschäft zu bekommen. Er arbeitet schon seit zwei Monaten dort in der Frone. Soll ich nach ihm schicken?«

»Ja, wenn Sie die Güte haben wollen«, erwiderte Herr Pickwick. »Doch nein. – Die Armenabteilung, sagten Sie? Ich möchte sie gerne in Augenschein nehmen: – ich will selbst zu ihm gehen.«

Die Armenabteilung in einem Schuldturm ist, wie es schon der Name mit sich bringt, der Aufenthaltsort für die armseligste und elendeste Klasse von Schuldnern. Wer in diese Abteilung bestimmt wird, bezahlt weder Wohnung noch Kost. Er bekommt ein dürftiges Essen, das aus einigen kleinen Legaten bestritten wird, die menschenfreundliche Leute von Zeit zu Zeit gestiftet haben. Die meisten unserer Leser werden sich erinnern, daß bis vor einigen wenigen Jahren in der Mauer des Fleetgefängnisses eine Art eiserner Käfig angebracht war, in den ein Mensch von hungrigem Aussehen hineingesteckt

wurde. Dieser rasselte von Zeit zu Zeit mit einer Geldbüchse und rief in kläglichem Tone: »Erbarmet euch der armen Schuldner! Erbarmet euch der armen Schuldner!« Was in die Kasse einging, wurde unter die armen Gefangenen geteilt, die sich einander in diesem erniedrigenden Geschäft ablösten.

Diese Gewohnheit ist nun zwar abgeschafft und der Käfig entfernt. Aber die trostlos elende Lage dieser Unglücklichen ist dieselbe geblieben. Wir gestatten es nicht mehr, daß sie an den Toren des Gefängnisses das Mitleid und die Menschenliebe der Vorübergehenden anrufen. Aber in den Blättern unseres Gesetzbuches lassen wir zur Verehrung und Bewunderung der kommenden Zeiten noch immer das ebenso gerechte als heilsame Gesetz stehen, kraft dessen der ruchloseste Verbrecher gespeist und gekleidet wird, der geldlose Schuldner aber vor Hunger und Elend umkommen muß. Und das ist leider keine Erdichtung. Keine Woche geht über unsern Häuptern dahin, ohne daß in jedem unserer Schuldgefängnisse mehrere dieser Unglücklichen den langsamen Qualen des Hungertodes erliegen müßten, wenn sie nicht von ihren Mitgefangenen unterstützt würden.

Unter solchen Betrachtungen stieg Herr Pickwick die enge Treppe hinan, an deren Fuß Roker ihn verlassen hatte, und arbeitete sich allmählich hinauf; er war indessen so aufgeregt, daß er in das Zimmer, wohin man ihn gewiesen, hineinstürmte, ehe er noch eine deutliche Vorstellung von dem Platz, wo er war, oder von dem Zweck seines Besuches hatte.

Der allgemeine Anblick des Zimmers rief ihn auf einmal wieder zu sich; doch hatte er nicht sobald seine Augen auf einen Mann geworfen, der am staubigen Kamine niederkauerte, als ihm der Hut entsank. Er stand starr und regungslos vor Staunen da.

Ja, in zerlumpten Fetzen, ohne einen Rock, sein gewöhnliches Musselinhemd gelb und zerrissen, die Haare über das Gesicht herabhängend, sein Gesicht von Leiden entstellt und vor Hunger eingefallen –, so saß Herr Alfred Jingle da; den Kopf hatte er auf die Hand gestützt, die Augen starr aufs Feuer geheftet, und seine ganze Erscheinung verkündete das Elend in seiner schauderhaftesten Gestalt.

Nicht weit von ihm stand nachlässig an die Wand gelehnt ein kräftiger Bauersmann, der mit einer abgenutzten Jagdpeitsche den Stulpenstiefel flickte, der seinen rechten Fuß zierte; den linken hatte er in einen Pantoffel gestellt. Pferde, Hunde und Saufgelage hatten ihn soweit gebracht. Er hatte an dem einzelnen Stiefel einen verrosteten Sporn, den er gelegentlich in die leere Luft stieß, während er zugleich mit der Reitgerte auf den Stiefel schlug. Dabei murmelte er Ausdrücke, wie sie der Jäger braucht, um sein Pferd aufzumuntern. Er bildete sich in diesem Augenblick ein, auf irgendeinem verzweifelten Kirchturmrennen zu sein. Der arme Teufel! er war bei keinem Wettrennen auf dem flinksten Pferde seines kostbaren Marstalls halb so geschwind über die Erde dahingeflogen, als er die Laufbahn durchgemacht hatte, die im Fleet endete.

An der entgegengesetzten Seite des Zimmers saß ein alter Mann auf einem kleinen Holzbock. Er hatte seine Augen auf den Boden geheftet, und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck der tiefsten, hoffnungslosesten Verzweiflung. Ein junges Mädchen, seine kleine Enkelin, bemühte sich mit tausend kindlichen Kunstgriffen, seine Aufmerksamkeit zu erregen; allein der alte Mann sah und hörte sie nicht. Die Stimme, die einst Musik für sein Ohr, und die Augen, die einst sein Licht gewesen, ließen ihn jetzt ganz ungerührt. Seine Glieder schlotterten krankhaft und sein Geist war wie vom Schlage gelähmt.

Noch zwei oder drei andere Männer standen in einer Gruppe zusammen und schwatzten laut miteinander. Eine hagere, bleiche Frau – die Gattin eines Gefangenen – begoß mit großer Sorgfalt den elenden Rumpf einer ausgetrockneten, verwelkten Pflanze, die offenbar nie wieder einen grünen Schößling treiben konnte – ein vielleicht nur zu wahres Sinnbild für den Zweck, der sie hierher geführt.

Das waren die Gegenstände, die sich Herrn Pickwicks Blicken darboten, als er voll Erstaunen um sich schaute. Das Geräusch, das ein hastig Hereintretender machte, erweckte ihn wieder. Er wandte seine Augen nach der Tür; sie begegneten dem neuen Ankömmling, und trotz aller seiner Lumpen, alles seines Schmutzes und seines Elends erkannte er die nicht fremden Züge des Herrn Job Trotter.

»Herr Pickwick!« rief Job laut.

»He!« sagte Jingle, von seinem Sitz aufspringend.

»Herr –! Ja, so ist’s – kurioser Ort – sonderbare Dinge – ist mir recht geschehen – ganz recht.«

Mit diesen Worten steckte Herr Jingle seine Hände an den Ort, wo früher seine Hosentasche gewesen war, dann aber ließ er den Kopf auf seine Brust herabfallen und sank in seinen Stuhl zurück.

Herr Pickwick war im Innersten ergriffen: die zwei Leute sahen unendlich elend aus. Der scharfe, unwillkürliche Blick, den Jingle nach einem Stückchen rohen Hammelfleisch, das Job mitgebracht, geworfen hatte, zeigte ihre entsetzliche Lage deutlicher als es eine zweistündige Auseinandersetzung vermocht hätte. Herr Pickwick sah Jingle freundlich an und sagte:

»Ich möchte Sie gerne allein sprechen. Wollen Sie einen Augenblick mit mir herauskommen?«

»Sehr gern«, erwiderte Jingle und stand hastig auf. »Kann nicht weit gehen – keine Gefahr, daß man sich hier überläuft – ein dichtes Gehege – schöner Boden – romantisch, aber nicht ausgedehnt – offen für allgemeine Besichtigung – die Familie immer in der Stadt– der Hausvogt verzweifelt vorsichtig.«

»Sie haben Ihren Rock vergessen«, sagte Herr Pickwick, als sie auf die Treppen hinauskamen, und schloß die Tür hinter sich.

»O nein«, sagte Jingle. »Teures Leben – Onkel Tom – konnte nicht helfen – mußte essen. Sie wissen ja. Naturbedürfnisse – das ist’s.«

»Was meinen Sie damit?«

»Dahin, mein lieber Herr – der letzte Rock – konnt’s nicht ändern – lebte von einem Paar Stiefeln – ganze vierzehn Tage. Seidener Regenschirm – elfenbeinerner Griff – letzte Woche – es ist geschehen – auf Ehre – fragen Sie Job – weiß es.«

»Drei Wochen von einem Paar Stiefeln und einem seidenen Regenschirm gelebt?« rief Herr Pickwick, der von solchen Dingen nur bei Schiffbrüchen gehört oder in Constables Miscellany gelesen hatte.

»Ja freilich«, sagte Jingle, mit dem Kopf nickend. »Pfandleiher – bloß das halbe Geld – elende Summen – soviel wie gar nichts – lauter Spitzbuben.«

»O«, sagte Herr Pickwick, dem es bei dieser Erklärung leichter ums Herz wurde: »Sie haben also Ihre Garderobe bloß versetzt?«

»Ja alles – Job ebenfalls – alle Hemden fort – tut nichts – erspart den Wäscherlohn – bald alles vorbei – auf den Schrägen liegen – verhungern – sterben – Untersuchung – Anatomie – armer Gefangener – die gemeinsten Bedürfnisse – fort damit – die Herren von der Jury – Gefängnisarbeit – alles in Ordnung – natürlicher Tod – Leichenbeschauererklärung – Armenhausbegräbnis – recht geschehen – alles vorbei – Vorhang herab.«

Jingle entwickelte diesen sonderbaren Inbegriff seiner Lebensaussichten mit seiner gewohnten Zungenfertigkeit und mit mancherlei Grimassen, um ein Lächeln zu erzwingen. Herr Pickwick bemerkte aber leicht, daß ihm seine Sorglosigkeit nichts weniger als von Herzen kam; er sah ihm voll aber nicht unfreundlich ins Gesicht und gewahrte, daß seine Augen von Tränen feucht waren.

»Guter Mensch«, sagte Jingle, seine Hand drückend, jedoch mit abgewandtem Gesicht. »Undankbarer Schurke – kindisch zu jammern – kann’s nicht lassen – böses Fieber – schwach – krank – hungrig. Alles wohlverdient; aber viel gelitten – sehr viel.«

Ganz unfähig, den Schein länger zu wahren und durch seine Anstrengungen vielleicht unwohler gemacht, setzte sich der arme Landstreicher auf die Treppe nieder, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte wie ein Kind.

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte Herr Pickwick sehr gerührt, »wir wollen sehen, was sich machen läßt. Heda, Hiob: wo ist er?«

»Hier, Sir«, erwiderte Hiob, sich auf der Treppe einstellend.

Wir haben schon früher beiläufig von ihm gesagt, daß er in seinen besten Zeiten tief eingesunkene Augen hatte; jetzt sah er aus, als ob diese Teile seines Gesichts gänzlich verschwunden wären.

»Hier, Sir«, sagte Hiob.

»Kommen Sie, Sir«, sprach Herr Pickwick, der sich Mühe gab, einen strengen Blick zu machen, wiewohl ihm vier große Tränen auf die Weste hinabfielen. »Nehmen Sie das, Sir.«

Was nehmen? Unter den obwaltenden Umständen hätte man bei diesen Worten an einen Hieb oder wenigstens, wie einmal die Menschen sind, an einen derben, tüchtigen Puff denken sollen. Denn Herr Pickwick war von dem elenden Auswürfling, der jetzt gänzlich in seiner Gewalt stand, hinters Licht geführt, betrogen und beeinträchtigt worden. Sollen wir die Wahrheit sagen? Es war etwas aus Herrn Pickwicks Westentasche, das hell klang, als es in Hiobs Hand gegeben wurde. Daß Herr Pickwick also aber Böses mit Gutem vergelten konnte, das ließ das Äuge unseres vortrefflichen alten Freundes funkeln und machte sein Herz schwellen, als er hinwegeilte.

Auf seinem Zimmer angelangt, traf Herr Pickwick Sam an, der die komfortablen Einrichtungen seines Herrn mit einer Art grimmigen Vergnügens, das sehr lustig anzusehen war, in Augenschein nahm. Da Herr Weller eine entschiedene Abneigung gegen das Verbleiben seines Herrn allda hegte, so schien er es für eine hohe moralische Pflicht zu halten, nichts was hier getan, gesagt, geraten oder vorgeschlagen wurde, mit gar zu großem Beifall zu beehren.

»Schön, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Nun, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Nicht wahr, recht behaglich, Sam?«

»Ja, so ziemlich, Sir«, erwiderte Sam, indem er geringschätzig um sich blickte.

»Hast du Herrn Tupman und unsere andern Freunde gesehen?«

»Ja, ich habe sie gesehen, Sir, und sie werden morgen kommen. Ich wunderte mich sehr, daß sie nicht heute schon da waren«, bemerkte er weiter.

»Hast du die Sachen gebracht, die ich verlangte?«

Herr Weller deutete statt der Antwort auf verschiedene Pakete, die er so ordentlich wie möglich in eine Ecke der Stube gelegt hatte.

»Sehr gut, Sam«, sagte Herr Pickwick nach einigem Zögern; »höre jetzt, was ich dir zu sagen habe, Sam.«

»Ich höre, Sir«, erwiderte Herr Weller; »legen Sie los, Sir.«

»Ich habe vom ersten Augenblick an gefühlt, Sam«, begann Herr Pickwick mit vieler Feierlichkeit, »daß dies kein Platz für einen jungen Menschen ist.«

»Auch nicht für einen alten, Sir«, entgegnete Herr Weller.

»Du hast ganz recht, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Aber alte Leute können durch ihre eigene Unbedachtsamkeit und ein allzu großes Zutrauen gegen andere hierher gebracht werden, und junge durch die Selbstsucht derer, denen Sie dienen. Jedenfalls ist es übrigens für einen jungen Menschen viel besser, nicht hier zu bleiben. Verstehst du mich, Sam?«

»Ich? Nein, Sir«, versetzte Sam, sich etwas dumm stellend.

»So überlege dir’s«, entgegnete Herr Pickwick.

»Wohl Sir«, erwiderte Sam nach einer kurzen Pause. »Ich glaube, zu merken, wo Sie hinaus wollen; und wenn ich hierbei wirklich auf dem rechten Wege bin, so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daß Sie mir zu dicke kommen, wie der Kutscher zu dem Schneegestöber sagte, das ihn auf seiner Fahrt beunruhigte.«

»Ich sehe, du begreifst mich, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Abgesehen von meinem Wunsche, dich in den nächsten Jähren nicht an einem Orte wie diesem müßig herumlungern zu sehen, fühle ich auch, daß es eine ungeheure Abgeschmacktheit wäre, wenn ein Schuldner im Fleetgefängnis einen eigenen Diener halten wollte. – Sam«, fügte Herr Pickwick bei, »wir müssen uns für eine Zeitlang trennen.«

»Ah, für eine Zeitlang meinen Sie, Sir?« versetzte Herr Weller etwas bitter.

»Ja, für die Dauer meines hiesigen Aufenthalts«, entgegnete Herr Pickwick. »Deinen Lohn zahle ich dir fort. Einer von meinen drei Freunden wird sich glücklich schätzen, dich aufzunehmen, wäre es auch nur aus Achtung gegen mich. Und wenn ich je diesen Ort wieder verlasse«, fuhr Herr Pickwick mit erkünstelter Heiterkeit fort – »wenn es je der Fall ist, so hast du mein Wort, daß du augenblicklich wieder in meine Dienste treten kannst.«

»Ich will Ihnen meine Ansicht von der Sache sagen, Sir«, erwiderte Herr Weller mit ernster und feierlicher Stimme. »Es geht nicht, und deshalb lassen Sie mich nichts mehr davon hören.«

»Es ist mein fester, unabänderlicher Wille, Sam«, erklärte Herr Pickwick.

»So? Ist das wirklich bei Ihnen der Fall?« fragte Sam mit Festigkeit. »Ganz gut, Sir; dann geht es mir gerade ebenso.«

Mit diesen Worten drückte Herr Weller mit großer Bestimmtheit seinen Hut auf den Kopf und verließ das Zimmer.

»Sam!« rief ihm Herr Pickwick nach. »Sam! Komm noch einmal her.«

Aber die sich entfernenden Fußtritte verhallten in dem langen Gange. Sam Weller war fort.