Dreizehntes Kapitel

Ein Vorfall von einschneidender Wirkung auf Mr. Pickwicks Leben und Geschichte.

Mr. Pickwicks Wohnung in Goß Wallstreet war zwar nicht groß, aber einem Mann von seinem Genie und seiner Beobachtungsgabe vorzüglich angepaßt. Sein Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock, sein Schlafzimmer im zweiten, und beide lagen vornheraus, so daß Mr. Pickwick sowohl von seinem Schreibtisch im Wohnzimmer wie von seinem Ankleidespiegel im Schlafgemach aus stets Gelegenheit hatte, die menschliche Natur in allen ihren unzähligen Phasen an einem Platze zu beobachten, der ihm fortwährend ein buntes Volksleben vor Augen führte. Seine Hauswirtin, Mrs. Bardell, die trostlose Hinterbliebene eines Zollbeamten, war eine stattliche Frau von lebhaftem Temperament, angenehmem Äußern und wohlausgebildetem Kochgenie. In ihrem Hause gab es weder Kinder noch Dienstboten, noch Federvieh. Seine einzigen Insassen waren, außer Mr. Pickwick, ein großer Mann und ein kleiner Knabe, der erstere ein Mietsmann, der zweite ein Sprößling Mrs. Bardells. Der große Mann kam immer abends Punkt zehn Uhr nach Hause, um sich in eine zwerghafte französische Bettstelle in dem hintern Zimmer zu zwängen, wogegen die kindlichen Spiele und gymnastischen Übungen des jungen Mr. Bardell sich ausschließlich auf die Plätze vor den Türen der Nachbarn und die Gossen vor dem Hause beschränkten. Reinlichkeit und Ruhe herrschten in dem Hause, in dem Mr. Pickwicks Wille als oberstes Gesetz galt. Jedermann, der den geschilderten häuslichen Zustand und die bewunderungswürdige Selbstbeherrschung Mr. Pickwicks kannte, würde das Benehmen des Gelehrten an dem Morgen des Vortages der Reise nach Eatanswill höchst mysteriös und unergründlich vorgekommen sein. Er ging mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, schaute alle drei Minuten einmal unruhig zum Fenster hinaus, sah fortwährend auf die Uhr und ließ noch viele andere bei ihm selten vorkommende Zeichen von Ungeduld wahrnehmen. Offenbar lag ihm etwas sehr Wichtiges im Sinn; doch was das sein konnte, vermochte selbst Mrs. Bardell nicht zu ergründen.

„Mrs. Bardell!“ hob Mr. Pickwick endlich an, als das langwierige Staubabwischen der Haushälterin sich seinem Ende zuneigte.

„Sir?“

„Ihr kleiner Knabe bleibt aber lange aus, Mrs. Bardell!“

„Nun, es ist auch ein ziemlich weiter Weg nach dem Borough, Sir“, entgegnete Mrs. Bardell.

„Da haben Sie freilich recht“, versetzte Mr. Pickwick und versank abermals in Stillschweigen, während Mrs. Bardell mit dem Staubabwischen fortfuhr.

„Mrs. Bardell!“ begann Mr. Pickwick nach einigen Minuten von neuem.

„Sir?“ sagte Mrs. Bardell wie zuvor.

„Glauben Sie, daß es bedeutend teurer käme, zwei Personen zu erhalten als eine einzige?“

„Ach Gott, Mr. Pickwick“, rief Mrs. Bardell aus, bis an den Rand ihrer Haube errötend, da sie in den Augen ihres Mieters ein heiratslustiges Blinzeln zu bemerken glaubte. „Ach Gott, Mr. Pickwick, was ist das für eine Frage?“

„Glauben Sie es wirklich?“ forschte Mr. Pickwick weiter.

„Ach Mr. Pickwick“, erwiderte Mrs. Bardell und kam mit ihrem Staubtuch bis dicht an die Ellenbogen des Gelehrten. „Das kommt ganz darauf an, ob es eine haushälterische und verständige Person ist, Sir.“

„Sehr wahr“, versetzte Mr. Pickwick, „aber ich denke, daß die Person, die ich im Auge habe“, bei diesen Worten fixierte er Mrs. Bardell sehr scharf, „diese Eigenschaften und noch überdies eine beträchtliche Weltkenntnis und Klugheit besitzt, was mir alles wesentlich von Nutzen sein dürfte.“

„Ach Gott, Mr. Pickwick!“ rief Mrs. Bardell aus und errötete abermals bis an den Rand ihrer Haube.

„Ich bin wirklich davon überzeugt“, sagte Mr. Pickwick, lebhaft werdend, wie es gewöhnlich bei ihm der Fall war, wenn er von einem ihn interessierenden Gegenstande sprach. „Ich bin wirklich fest davon überzeugt, und, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mrs. Bardell, ich habe bereits meinen Entschluß gefaßt.“

„Ach du meine Güte, Sir!“ rief Mrs. Bardell.

„Sie werden es allerdings auffallend finden“, fuhr Mr. Pickwick liebenswürdig fort und blickte dabei seine Hausgenossin mit freundlichem Lächeln an, „daß ich Sie über diese Angelegenheit gar nicht zu Rat gezogen und nicht eher etwas erwähnt habe als in dieser Stunde, wo ich Ihren kleinen Jungen ausgeschickt … He, he, was sagen Sie?“

Mrs. Bardell konnte nur mit einem Blick antworten. Sie hatte Mr. Pickwick längst im stillen verehrt, und jetzt sah sie sich mit einem Male auf den Gipfel eines Glücks gehoben, von dem sie sich nicht im entferntesten hatte träumen lassen. Mr. Pickwick stand im Begriff, ihr einen Antrag zu machen! – Ein wohlüberlegter Plan! – Ja, nur deshalb hatte er ihren Knaben ausgeschickt. Wie herrlich war das ausgedacht und wie klug ausgeführt.

„Nun“, fragte Mr. Pickwick, „was meinen Sie?“

„Ach, Mr. Pickwick“, erwiderte Mrs. Bardell, vor innerer Bewegung zitternd. „Sie sind zu gütig, Sir.“

„Meinen Sie nicht, daß ich Ihnen ein gutes Teil Mühe dadurch ersparen würde?“ fragte Mr. Pickwick weiter.

„Ach, aus der Mühe mache ich mir gar nichts, Sir“, erwiderte Mrs. Bardell, „und ich will mich, wenn ich Sie nur zufrieden weiß, gern noch einer größeren unterziehen. Ach, es ist unaussprechlich gütig von Ihnen, Mr. Pickwick, auf meine verlassene Lage soviel Rücksicht zu nehmen!“

„Ich muß gestehen“, versetzte Mr. Pickwick, „daran habe ich gar nicht einmal gedacht. Sie werden auf diese Art, wenn ich in der Stadt bin, immer jemand haben, der bei Ihnen bleibt. Vorausgesetzt, daß es Ihnen recht ist.“

„Oh, wie glücklich werde ich sein“, seufzte Mr. Bardell.

„Und Ihr kleiner Knabe wird einen Gefährten haben, und zwar einen recht aufgeweckten, der ihn, ich will wetten, in einer Woche mehr Schelmenstreiche lehren wird, als er sonst wohl in einem Jahre lernen würde.“ Mr. Pickwick begleitete diese Worte mit einem gutmütigen Lächeln.

„Oh, Sie teurer …“

Mr. Pickwick stutzte.

„Oh, du lieber, guter, herrlicher Mann!“ rief Mrs. Bardell aus, sprang von ihrem Stuhle auf und schlang ohne weitere Umstände unter einem Katarakt von Tränen ihre Arme um Mr. Pickwicks Nacken.

„Gerechter Gott!“ schrie Mr. Pickwick, ganz außer sich. „Mrs. Bardell, gute Frau, du lieber Himmel! – Welche Situation! – Ich bitte, bedenken Sie doch, Mrs. Bardell, ich beschwöre Sie um alles in der Welt, wenn jemand käme …“

„Oh, mag kommen, wer will!“ rief Mrs. Bardell im Liebestaumel. „Ich lasse dich nicht! Oh, du lieber, du guter Mann!“ Dabei klammerte sie sich noch fester an ihn.

„Barmherziger Gott!“ ächzte Mr. Pickwick und rang aus Leibeskräften, um sich loszumachen. „Ich höre jemand die Treppe heraufkommen. Ich bitte Sie um des Himmels willen, liebe Frau, seien Sie doch nur vernünftig!“

Aber alle Bitten und Vorstellungen blieben fruchtlos, Mrs. Bardell war in Pickwicks Armen in Ohnmacht gefallen, und ehe er noch Zeit finden konnte, sie auf einen Stuhl niederzusetzen, trat Master Bardell ins Zimmer, gefolgt von Mr. Tupman, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß.

Mr. Pickwick war wie vom Donner gerührt. Seine liebliche Bürde in den Armen haltend, stand er bestürzt und regungslos da und starrte seine Freunde an, ohne sie zu begrüßen, ja auch nur den geringsten Versuch zu machen, ihnen eine Erklärung zu geben. Die Herren machten große Augen, und Master Bardell glotzte von einem zum andern.

Die Verwirrung Mr. Pickwicks und das Erstaunen seiner Jünger waren so grenzenlos, daß sie wahrscheinlich sämtlich bis zum Wiedererwachen der Lebensgeister der guten Mrs. Bardell regungslos in ihren Stellungen verharrt haben würden, wenn sich nicht die kindliche Zärtlichkeit des Sprößlings der Ohnmächtigen auf eine höchst rührende Weise Luft gemacht hätte. Er war anfangs in seinem Manchesteranzug mit den großen Metallknöpfen erstaunt und ungewiß an der Tür stehengeblieben, aber allmählich erwachte in ihm der Verdacht, Mr. Pickwick könne seiner Mutter ein Leid angetan haben.

Er erhob ein jämmerliches Geschrei, stürzte auf den Unsterblichen los und begann seinen Kücken und seine Beine so empfindlich zu bearbeiten, wie es die Kraft seines kleinen Armes und das Ungestüm seiner Aufregung nur irgend gestatteten.

„So halten Sie doch den Schlingel fest!“ rief Mr. Pickwick in seiner Angst. „Er ist ja rein des Teufels!“

„Was gibt es denn eigentlich?“ fragten die drei Jünger wie aus einem Munde.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Mr. Pickwick verdrießlich. „Schaffen Sie mir nur den Knaben vom Halse und helfen Sie mir, die Frau die Treppe hinunterzubringen.“

„Ach, ich fühle mich schon wieder besser“, seufzte Mrs. Bardell mit schwacher Stimme.

„Erlauben Sie mir, Sie hinunterzubegleiten“, sagte der stets galante Mr. Tupman.

„Vielen Dank, Sir, vielen Dank“, rief Mrs. Bardell hysterisch und ließ sich mit ihrem zärtlichen Sprößling von Mr. Tupman die Treppe hinabführen.

„Ich kann gar nicht begreifen“, sagte Mr. Pickwick, als sein Freund zurückkehrte, „was mit der Frau eigentlich los ist. Ich hatte ihr kaum meine Absicht angekündigt, mir einen Diener zu halten, als sie geradezu in Paroxismus verfiel und schließlich ohnmächtig wurde. Ein höchst merkwürdiger Fall!“

„Höchst merkwürdig!“ riefen die drei Freunde.

„Sie versetzte mich tatsächlich in eine höchst unangenehme Lage“, fuhr Mr. Pickwick fort.

„Höchst unangenehm!“ wiederholten die Jünger, hüstelten und warfen sich bedeutsame Blicke zu, die Mr. Pickwick nicht entgingen. Sie mißtrauten ihm offenbar.

„Es wartet ein Mann auf dem Gange“, unterbrach Mr. Tupman endlich das Schweigen.

„Ohne Zweifel der Bediente, von dem ich sprach“, sagte Mr. Pickwick. „Ich habe heute morgen nach ihm geschickt. Würden Sie vielleicht die Güte haben, ihn hereinzurufen, lieber Snodgraß.“

Mr. Snodgraß tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf präsentierte sich Mr. Samuel Weller.

„Sie erinnern sich meiner wohl noch?“ redete ihn Mr. Pickwick an.

„Sollt’s meinen“, erwiderte Sam mit einem pfiffigen Blinzeln. „Tolle Sache das – damals –, aber er hat Sie umzingelt; weg war er, ehe einer ’ne Prise nehmen konnte, wie?“

„Lassen wir das jetzt“, fiel Mr. Pickwick hastig ein. „Ich wollte von etwas anderm mit Ihnen reden. Setzen Sie sich.“

„Danke, Sir“, sagte Sam und setzte sich, ohne sich weiter nötigen zu lassen, nachdem er vorher seinen alten weißen Hut auf einen Tisch vor der Tür gelegt hatte. „Er sieht nicht zum besten aus“, bemerkte er dabei mit einem freundlichen Lächeln, „sitzt aber erstaunlich gut und war ’n hübscher Deckel, ehe er sich von seiner Krempe trennte; jetzt ist er aber um so leichter, was der eine Vorteil is, und dann läßt jedes Loch frische Luft rein, und das ist der zweite.“

„Gut, gut“, sagte Mr. Pickwick, „aber jetzt zu der Sache, wegen der ich Sie habe rufen lassen.“

„Sehr wohl, Sir“, unterbrach ihn Sam, „nur raus damit, wie der Vater zu dem Kinde sagte, als es den Pfennig verschluckt hatte.“

„Vor allen Dingen möchte ich wissen“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ob Sie in irgendeiner Hinsicht mit Ihrem gegenwärtigen Posten unzufrieden sind.“

„Bevor ich auf diese Frage antworte“, versetzte Sam, „möcht ich gern wissen, ob Sie mir vielleicht, zu ’nem bessern verhelfen wollen?“

Ein Strahl gütigen Wohlwollens glänzte auf Mr. Pickwicks Angesicht.

„Ich bin halb und halb entschlossen, Sie selbst in Dienst zu nehmen.“

„So, sind Sie das?“ sagte Sam.

Mr. Pickwick nickte bejahend.

„Lohn?“ fragte Sam.

„Zwölf Pfund jährlich“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Kleidung?“

„Zwei Anzüge.“

„Arbeit?“

„Sie hätten mich zu bedienen und diese Herren hier und mich auf unsern Reisen zu begleiten.“

„Schon daß der Anschlagzettel unten runterkommt“, sagte Sam mit Nachdruck. „Ich bin an ’nen einzelnen Herrn vermietet und mit die Bedingungen einverstanden.“

„Sie nehmen also die Stelle an?“ fragte Mr. Pickwick.

„‚türlich“, erwiderte Sam. „Wenn mir die Livree nur halb so gut paßt wie die Stelle, kann’s gleich losgehen.“

„Sie haben doch ein Zeugnis?“

„Da müssen Sie sich an die Wirtin vom ,Weißen Hirsch‘ wenden“, versetzte Sam.

„Könnten Sie noch heute abend den Dienst antreten?“

„Augenblicks stecke ich mich in die Livree, wenn die zur Hand is“, entgegnete Sam äußerst heiter.

„Sprechen Sie heute abend um acht Uhr vor“, sagte Mr. Pickwick, „und wenn meine Erkundigungen nach Wunsch ausfallen, werde ich für eine Livree sogleich Sorge tragen.“

Abgesehen von einem einzigen liebenswürdigen Fehltritt, an dem ein Hausmädchen zu gleichen Teilen die Schuld trug, lautete die Auskunft über Mr. Wellers Aufführung so günstig, daß Mr. Pickwick sich vollkommen beruhigt fühlte und noch am selben Abend den Vertrag abschloß. Mit der Raschheit und Energie, die nicht nur das öffentliche, sondern auch das Privatleben des außerordentlichen Mannes charakterisierte, führte er Sam Weller in eine der Niederlagen, wo alte und neue Männerkleider vorrätig sind und man der lästigen und unbequemen Formalität des Maßnehmens enthoben ist, und noch vor Einbruch der Nacht war Mr. Weller mit einem grauen Rock mit P.-K.-Knöpfen, einem schwarzen Hut mit einer Kokarde, einer fleischfarbigen, gestreiften Weste, lichten Beinkleidern und Gamaschen und sonstigem Zubehör ausstaffiert.

„Bin doch neugierig“, sagte der so plötzlich umgewandelte Mr. Weller, als er am nächsten Morgen den Außensitz der Eatanswiller Postkutsche eingenommen hatte, „ob ich ’nen Bedienten, ’nen Stallknecht, ’nen Wildhüter oder einen Portier vorstellen soll. Scheine mir so ’ne Art Ragout von all dem zu sein. Na, macht nichts. Komme auf diese Weise zu ’ner Luftveränderung, kriege viel zu sehen und habe wenig zu tun, was mir alles prächtig zusagt. Vivat hoch! Die Pickwickier sollen leben!“