England und die Gesellschaft

England ist die Heimat der abgestandenen Ansichten.

England – Heimatland der Heuchler.

Vermutlich ist das alte England so übervölkert, daß sie nicht genügend anständiges Wetter für alle haben.

England wird nicht eher eine Kulturnation sein, als bis es das Reich der Utopie seinem Herrschaftsgebiet eingegliedert hat.

Es liegt etwas Tragisches in dem Umstand, daß heutzutage in England eine sehr große Zahl junger Leute mit vollkommenem Profil ins Leben treten und schließlich doch einer nützlichen Beschäftigung nachgehen.

Nur England konnte ihn hervorgebracht haben, und seine ständige Rede war, das Land gehe vor die Hunde.

Es gibt in England kein literarisches Publikum für etwas anderes als Zeitungen, Abc-Bücher und Enzyklopädien. Von allen Völkern der Welt haben die Engländer am wenigsten Sinn für die Schönheit der Literatur.

Das Wort doktrinär – ein Wort voller Schrecken für den britischen Geist.

Die angestammte Dummheit der Rasse – gesunden englischen Menschenverstand nannte er sie gönnerhaft – wurde als das eigentliche Bollwerk der Gesellschaft kundgetan.

Zum Glück ist das Denken, in England jedenfalls, nicht ansteckend.

Das Verbrechen ist in England selten die Folge der Sünde. Es ist beinahe immer die Folge des Hungers.

Die Fortdauer der Persönlichkeit ist ein sehr schwieriges Problem der Metaphysik, und die Art, wie das englische Gesetz die Frage löst, ist gewiß äußerst hemdsärmelig.

Mit einem jener charakteristischen britischen Gesichter, an die man sich nie erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat.

Wenn man einem echten Engländer eine Idee mitteilt – was stets eine Unvorsichtigkeit ist –, läßt er sich nie im Traum einfallen, darüber nachzudenken, ob die Idee richtig oder falsch ist. Für wichtig hält er einzig und allein, ob man selber daran glaubt.

Engländer werden nach Tisch immer romantisch, und das langweilt mich entsetzlich.

Die Engländer können keinen Mann ertragen, der immer behauptet, recht zu haben, aber sie haben sehr viel übrig für einen Mann, der zugibt, im Unrecht gewesen zu sein.

In England ist ein Mann, der nicht zweimal in der Woche einer großen unmoralischen Zuhörerschaft aus dem Volke Moral predigen kann, als ernsthafter Politiker völlig erledigt. Ihm bliebe als Beruf nichts übrig als Botanik oder die Kirche.

Die Engländer glauben, ein Scheckbuch könne jedes Problem im Leben lösen.

Wenn man nur den Engländern das Reden und den Iren das Zuhören beibringen könnte, wäre die Gesellschaft recht zivilisiert.

Es ist schwer, den Engländern Mitleid oder Menschlichkeit zu lehren. Sie lernen langsam.

Sie sind in tiefer Trauer und hochfidel. So sind die Engländer.

Dem englischen Publikum wird immer wohl zumute, wenn eine Mediokrität zu ihm spricht.

Die britische Öffentlichkeit ist im Grunde genommen nicht der geistigen Anstrengung gewachsen, alle drei Monate mehr als ein Thema zu haben.

Die englische Gesellschaft ist auf den Hund gekommen, ein Haufen Niemande, die über nichts reden.

Ich liebe politische Gesellschaften. Das ist der einzige Ort, der uns geblieben ist, wo die Leute nicht über Politik reden.

In England versuchen die Leute wahrhaftig, beim Frühstück zu glänzen. Das ist so schrecklich an ihnen! Nur fade Leute glänzen beim Frühstück. Und außerdem pflegt das Familienskelett die Hausgebete zu lesen.

Ich liebe die Londoner Gesellschaft! Ich glaube, sie hat sich ungeheuer verbessert. Sie besteht jetzt durchweg aus schönen Schwachköpfen und brillanten Irren. Genauso, wie die Gesellschaft sein sollte.

Ein Mann, der eine Londoner Dinnertafel beherrschen kann, kann die Welt beherrschen. Die Zukunft gehört dem Dandy. Die Männer von Welt sind es, die herrschen werden.

Heutzutage sind die Menschen so vollendet oberflächlich, daß sie die Philosophie des Oberflächlichen nicht begreifen.

England ist schlimm genug und die englische Gesellschaft durchweg im Unrecht.

In diesem Land genügt es, wenn ein Mensch vornehm ist und Geist besitzt, daß sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt.

Die Mittelklassen machen ihren moralischen Vorurteilen an ihren ungepflegten Mittagstischen Luft und flüstern über das, was sie die Ruchlosigkeiten der Vornehmen nennen, um den Eindruck zu erwecken, als stünden sie in engem Verkehr und auf vertrautem Fuß mit den Leuten, die sie verlästern.

Die Naturgesetze werden sich der britischen Aristokratie zuliebe nicht aufheben lassen.

London ist zu angefüllt von Nebeln – und ernsten Leuten.

Ob die Nebel die ernsten Leute erzeugen oder die ernsten Leute die Nebel, weiß ich nicht, aber das alles geht mir ziemlich auf die Nerven.

Ich bin nicht der Ansicht, daß England im Ausland durch einen unverheirateten Mann vertreten sein sollte.
Das könnte zu Komplikationen führen.

Ich sympathisiere durchaus mit dem Zorn der englischen Demokratie gegen das, was sie die Laster der Oberklasse nennen. Die Massen spüren, daß Trunksucht, Dummheit und Unsittlichkeit ihr ureigener Bereich sein sollte und daß jeder von uns, der sich zum Narren macht, in ihrem Jagdgehege wildert.

Die ganze Theorie von moderner Erziehung ist von Grund auf ungesund. Zum Glück bringt wenigstens in England die Erziehung keinerlei Erfolg hervor.

Meiner Ansicht nach kann überhaupt niemand moralisch verantwortlich gemacht werden für das, was er oder sie in einem englischen Landhaus tut.

London ist voll von Frauen, die ihren Männern vertrauen. Man kann sie stets herauserkennen. Sie sehen alle ganz unglücklich aus.

Die englischen Frauen verbergen ihre Gefühle bis nach der Hochzeit. Dann zeigen sie sie.

Die meisten Frauen in London scheinen heutzutage ihre Räume mit nichts als Orchideen, Ausländern und französischen Romanen auszustatten.

Die Londoner Gesellschaft ist voll von Frauen vornehmster Herkunft, die aus eigener freier Wahl seit Jahren fünfunddreißig geblieben sind.

Es ist einfach skandalös, wie viele Frauen in London mit ihren eigenen Ehemännern flirten. Es wirkt so anstößig.

Die englische junge Dame ist der Drache des guten Geschmacks.

Nur eine Sache auf der Welt ist schlimmer, als Gesprächsthema zu sein, nämlich nicht Gesprächsthema zusein.

Ich liebe Klatsch über andere Leute, aber Klatsch über mich interessiert mich nicht. Er besitzt nicht den Reiz der Neuheit.

»Klatsch hat nie eine Basis.« »Die Basis jeden Klatsches ist unmoralische Gewißheit.«

Das ist der Grund, warum es sie so freut, anderer Leute Geheimnisse zu entdecken. Es lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit von ihren eigenen ab.

Mir liegt überhaupt nichts daran zu erfahren, was die Leute hinter meinem Rücken sagen. Das macht mich viel zu eingebildet.

Ein Mann, über den viel geredet wird, ist natürlich immer sehr anziehend. Man hat das Gefühl, es muß schließlich etwas an ihm dran sein.

Wenn die Leute über andere reden, sind sie gewöhnlich langweilig. Erzählen sie dagegen von sich, dann werden sie fast immer interessant.

Eine öffentliche Meinung gibt es nur dort, wo Ideen fehlen.

Es ist höchst bedauerlich, daß man heutzutage so wenig unnütze Neuigkeiten erfährt.

Ich liebe langweilige sachliche Themen. Was ich nicht liebe, sind langweilige sachliche Leute. Das ist ein großer Unterschied.

Es ist absurd, Menschen in gute und schlechte einzuteilen. Menschen sind entweder reizend oder langweilig.

Ich bin jetzt nicht mehr der Ansicht, daß Menschen in gute und schlechte eingeteilt werden können, als seien sie zwei gesonderte Rassen oder Schöpfungen. Die sogenannten guten Frauen können Schreckliches in sich haben, Wahnsinnslaunen der Rücksichtslosigkeit, Behauptung, Eifersucht, Sünde. Schlechte Frauen, wie man sie bezeichnet, können zu Leid, Reue, Mitleid, Aufopferung fähig sein.

Andere Leute sind einfach schrecklich. Die einzig mögliche Gesellschaft hat man an sich selbst.

Kein Land auf der ganzen Welt hätte unpraktische Leute so nötig wie das unsere. Bei uns ist das Denken durch seine ständige Bindung an das Tun heruntergekommen.

Wir leben im Zeitalter der Überarbeiteten und der Untergebildeten; einem Zeitalter, in dem die Leute derart geschäftig sind, daß sie völlig verdummen. Und so hart es klingt, ich muß sagen, daß solche Leute ihr Los verdienen. Das sicherste Mittel, nichts über das Leben zu erfahren, ist der Versuch, sich nützlich zu machen.

Er hat nichts, sieht aber nach allem aus.

Wenn man nicht wohlhabend ist, nützt es einem nichts, ein reizender Kerl zu sein.

Männer, die Dandys, und Frauen, die Schätzchen sind, regieren die Welt oder sollten es zumindest.

Gut erzogen zu sein ist heutzutage ein großer Nachteil. Es schließt einen von so vielem aus.

Die Wilden scheinen über fast alles genau dieselben Ansichten zu haben wie zivilisierte Leute. Sie sind außerordentlich fortgeschritten.

Die Welt ist einfach in zwei Klassen geteilt – jene, die das Unglaubliche glauben, wie die Öffentlichkeit – und jene, die das Unwahrscheinliche tun.

Die gescheiten Leute hören nie zu, und die geistlosen Leute reden nie.

Nichts verärgert die Leute mehr, als wenn sie keine Einladungen erhalten.

Wenn Leute mit mir über das Wetter reden, habe ich immer das ganz sichere Gefühl, daß sie etwas anderes sagen wollen. Und das macht mich so nervös.

Wir sind wahrlich ein ermattetes Geschlecht, und wir haben unser Erstgeburtsrecht für ein Gericht von Tatsachen verkauft.

Im heutigen Leben ist nichts so wirkungsvoll wie eine bewährte Platitüde.

Im Abendanzug mit weißer Halsbinde kann jeder, selbst ein Makler, in den Ruf kommen, kultiviert zu sein.

Wenn jemand ein Gentleman ist, weiß er durchaus genug; ist er kein Gentleman, dann nützt ihm auch sein ganzes Wissen nichts.

Seine Zeit zu beseelen – das ist der Mühe wert.

Nur zwei Arten von Menschen sind wirklich faszinierend – Leute, die einfach alles wissen, und Leute, die überhaupt nichts wissen.

Bequemlichkeit ist das einzige, was uns unsere Zivilisation geben kann.

Heutzutage sind wir alle so knapp bei Kasse, daß Komplimente die einzig erfreulichen Ausgaben sind. Es sind die einzigen Ausgaben, die wir uns leisten können.

Er wird bestimmt einen erstaunlichen Erfolg haben. Er denkt wie ein Tory und spricht wie ein Radikaler, und das ist heutzutage so wichtig.

Im heutigen Leben bedeutet Spielraum alles.

Meine eigenen Angelegenheiten langweilen mich stets zu Tode. Die anderer Leute ziehe ich vor.

Man kann heutzutage alles überleben, außer den Tod, und alles zuschanden machen, außer einen guten Ruf.

Nichts ist so aufreizend wie Gelassenheit.

Sprechen Sie zu jeder Frau, als liebten Sie sie, und zu jedem Mann, als langweilte er Sie, und am Ende Ihrer ersten Saison werden Sie in dem Ruf stehen, den vollendetsten gesellschaftlichen Anstand zu besitzen.

Um heutzutage in die beste Gesellschaft zu gelangen, muß man entweder die Leute traktieren, amüsieren oder schockieren – weiter nichts!

Die Gesellschaft – dazuzugehören ist bloß langweilig. Aber nicht dazuzugehören ist einfach eine Tragödie. Die Gesellschaft ist etwas Notwendiges. Kein Mann hat irgendeinen wirklichen Erfolg auf dieser Welt, wenn er nicht Frauen hat, die ihn fördern, und Frauen beherrschen die Gesellschaft. Haben Sie keine Frauen auf Ihrer Seite, ist es mit Ihnen aus und vorbei. Ebensogut könnten Sie gleich ein Anwalt oder ein Makler oder ein Journalist sein.

Eine Bekanntschaft, die mit einem Kompliment beginnt, hat alle Aussicht, sich zu einer echten Freundschaft zu entwickeln. Sie beginnt auf die rechte Art.

Nur wenn man seine Rechnung nicht begleicht, kann man hoffen, im Gedächtnis der Geschäftswelt weiterzuleben.

Die Zeiten leben in der Geschichte durch ihre Anachronismen.

Die Kultur hängt von der Kochkunst ab.

Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, daß man einen Blick darauf wirft, denn auf ihr fehlt das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet.

Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.

Der Staat soll ein unabhängiger Erzeuger und Verteiler lebensnotwendiger Waren sein. Sache des Staates ist es, das Nützliche zu schaffen. Sache des Individuums ist es, das Schöne hervorzubringen.

Der nationale Haß ist immer dort am stärksten, wo’s um die Kultur am schwächsten bestellt ist.

Wenn wir versucht sind, einer andern Nation den Krieg zu erklären, werden wir uns erinnern, daß wir im Begriff stehen, einen Teil unserer eigenen Kultur zu zerstören und vielleicht ihren wichtigsten Teil. Solange man den Krieg als etwas Böses ansieht, wird er seine Anziehungskraft behalten. Erst wenn man ihn als Niedertracht erkennt, wird er seine Popularität verlieren.

Er war bestürzt über den Zwiespalt zwischen dem seichten Optimismus seiner Zeit und den wirklichen Tatbeständen des Daseins. Er war noch sehr jung.

Erscheint man gut, nimmt einen die Gesellschaft durchaus ernst. Erscheint man schlecht, ist das nicht der Fall. Das ist die verblüffende Dummheit des Optimismus.

Die beiden schwachen Punkte in unserem Zeitalter sind sein Mangel an Prinzip und sein Mangel an Profil.

Wie alle Leute, die ein Thema zu erschöpfen suchen, erschöpfte er seine Zuhörer.

Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis und von nichts den Wert.

Er sagt Dinge, die mich ärgern. Er gibt mir gute Ratschläge.

Die Leute lieben es fortzugeben, was sie selbst am nötigsten brauchen. Ich nenne das den Abgrund der Freigebigkeit.

Zu Leuten, an denen einem nichts liegt, kann man immer freundlich sein.

Wir leben in einer Zeit, die zuviel liest, um weise zu sein, und zuviel denkt, um schön zu sein.

Vielleicht erscheint man niemals so ungezwungen, als wenn man eine Rolle zu spielen hat.

Tod und Vulgarität sind im neunzehnten Jahrhundert die beiden einzigen Tatsachen, die nicht wegdemonstriert werden können.

»Was ist ein Zyniker?« »Ein Mann, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.« »Und ein Sentimentaler

ist ein Mann, der in allem einen unsinnigen Wert sieht und von keiner einzigen Sache den Marktpreis kennt.«

»Meinen Sie wirklich, man sollte von jedem schlecht denken?«
»Ich halte es für viel ungefährlicher.
So lange natürlich, bis man feststellt, daß die betreffenden Leute gut sind. Aber das erfordert heutzutage eine Menge Nachforschungen.«

Tatsache ist, daß wir heutzutage alle so hasten und drängen, daß ich staunen muß, wenn wir nach einem Abend noch etwas an uns zurückbehalten. Ich weiß von mir selbst, wenn ich aus einer Gesellschaft zurückkomme, habe ich stets das Gefühl, als hätte ich nicht einen Fetzen am Leibe, außer einem kleinen Anstandsfetzen, gerade genug, die niederen Schichten zu hindern, daß sie peinliche Bemerkungen durch das Wagenfenster machen. Unsere Gesellschaft ist in der Tat fürchterlich überbevölkert.

Jeder, den man heutzutage trifft, ist ein Paradoxon. Das ist sehr verdrießlich. Es macht die Gesellschaft so durchsichtig.

Wenn man einen Besuch macht, dann geschieht das, um andrer Leute Zeit zu vergeuden, nicht die eigene.

Ich habe eine geschäftliche Verabredung, die ich ängstlich bestrebt bin … zu versäumen!

Mir gefallen Frauen, die an menschenfreundlicher Tätigkeit interessiert sind, nicht so recht. Ich finde es so anmaßend.

Sprechen wir nicht über ernste Dinge. Ich bin mir allzusehr bewußt, daß wir in einer Zeit geboren sind, die nur die Dummheit ernst nimmt, und ich lebe in der Angst, nicht mißverstanden zu werden.

Es ist amoralisch, Privateigentum zur Milderung der schrecklichen Übelstände zu verwenden, die aus der Einrichtung des Privateigentums entspringen. Es ist nicht nur amoralisch, sondern auch unehrlich.

Demokratie ist nichts anderes als das Niederknüppeln des Volkes durch das Volk für das Volk.

Jede Autorität erniedrigt. Sie erniedrigt gleichermaßen Herrscher und Beherrschte. Wird sie gewalttätig, brutal und grausam ausgeübt, so ruft sie eine positive Wirkung hervor, indem sie den Geist der Revolte und den Individualismus anstachelt, der sie vernichten soll. Wird sie mit einer gewissen Großzügigkeit ausgeübt und werden Preise und Belohnungen vergeben, so ist ihre Wirkung furchtbar demoralisierend. In diesem Fall werden sich die Menschen des furchtbaren Druckes, der auf ihnen lastet, weniger bewußt und gehen in einer Art von vulgärem Wohlbehagen durch das Leben wie zahme Haustiere, ohne jemals zu erkennen, daß sie wahrscheinlich die Gedanken anderer Menschen denken, nach den Normen anderer Menschen leben, daß sie gewissermaßen nur die abgelegten Kleider der anderen tragen und niemals, auch nicht einen Augenblick lang, sie selbst sind.

Liest man die Geschichte, aber nicht in den bereinigten Ausgaben für Schüler und Examenskandidaten, sondern in den Originalwerken der Zeit, so ist man angewidert, nicht von den Verbrechen, die die Bösen begangen, sondern von den Strafen, die die Guten verhängt haben; und eine Gesellschaft verroht viel mehr durch die gewohnheitsmäßige Anwendung von Strafen als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen. Es ist erwiesen, daß desto mehr Verbrechen geschehen, je mehr Strafen verhängt werden.

Der Hunger, nicht die Sünde, ist in unserer Zeit die Ursache des Verbrechens. Darum sind unsere Verbrecher, als Klasse, vom psychologischen Standpunkt aus völlig uninteressant. Sie sind keine erstaunlichen Charaktere wie Macbeth oder schrecklich wie Vautrin. Sie sind nur, was die gewöhnlichen achtbaren Spießbürger wären, wenn sie nicht genug zu essen hätten.

Die Verbrecherklasse ist uns so nah, daß sogar der Gendarm sie sieht. Sie ist uns so fern, daß nur der Dichter sie versteht.

Es gibt drei Arten von Despoten: den Despoten, der den Leib knechtet, den Despoten, der die Seele knechtet, und den Despoten, der Leib und Seele gleichzeitig knechtet. Der erste ist der Fürst. Der zweite ist der Papst. Der dritte ist das Volk.

Vulgarität und Dummheit sind zwei äußerst lebendige Tatsachen im Leben von heute.

Die Ärzte taugen zu rein gar nichts, außer Honorar aus einem herauszuholen.

Obgleich ich Ärzte hasse, liebe ich Medizin.

Der Künstler kann nur eins nicht sehen: das Offensichtliche. Das Publikum kann nur eins sehen: das Offensichtliche. Resultat: die Zeitungskritik.

Selbst die Zeitungen sind entartet. Sie sind jetzt absolut vertrauenswürdig. Man spürt es, wenn man ihre Spalten durchkaut. Nur das, was nicht lesenswert ist, kommt einem vor Augen.

Spione sind heutzutage von keinem Nutzen. Mit dem Beruf ist es vorbei. Ihre Arbeit tun statt dessen die Zeitungen.

Was den modernen Journalismus angeht, so ist es nicht meine Aufgabe, ihn zu verteidigen. Er rechtfertigt seine Existenz nach dem großen Darwinschen Prinzip vom Überleben der Niedrigsten.

»Was ist der Unterschied zwischen Literatur und Journalismus?«
»Der Journalismus ist das Lesen nicht wert, und die Literatur wird nicht gelesen. Das ist alles.«

In früheren Zeiten bediente man sich der Folter. Heutzutage bedient man sich der Presse. Das ist gewiß ein Fortschritt.

Wir werden vom Journalismus beherrscht.

Politik interessiert mich nicht. Kaum ein einziger im Unterhaus ist es wert, gemalt zu werden, wenn auch vielen ein wenig Tünche guttäte.

Nun, da das Unterhaus versucht, sich nützlich zu machen, richtet es eine Menge Schaden an.

Nur Leute, die langweilig aussehen, gelangen jemals ins Unterhaus, und nur Leute, die langweilig sind, haben dort jemals Erfolg.

Wenn man in der Stadt ist, vertreibt man sich die Zeit. Ist man auf dem Land, vertreibt man anderen Leuten die Zeit. Das ist in höchstem Grade langweilig.

Ich persönlich kann nicht verstehen, wie es jemand fertigbringt, auf dem Lande zu existieren, sofern er ein Mensch von Bedeutung ist. Mich langweilt das Land stets zu Tode.

Irgendwie habe ich das bestimmte Gefühl, wenn ich sechs Monate auf dem Land lebte, würde ich so unkompliziert und natürlich werden, daß niemand auch nur die geringste Notiz von mir nähme.

Das reine, unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben.

Auf dem Land kann jeder gut sein. Dort gibt es keine Versuchungen. Das ist der Grund, warum Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so völlig unzivilisiert sind. Zivilisation ist keineswegs leicht zu erlangen. Es gibt nur zwei Wege, sie zu erwerben. Entweder man ist kultiviert, oder man ist verdorben. Landleute haben zu keinem von beiden die Gelegenheit, deshalb stagnieren sie.

Ich hatte keine Ahnung, daß es auf dem Lande Blumen gibt.

In der Armut ist der einzige Trost die Verschwendung. Im Reichtum ist der einzige Trost die Sparsamkeit.

Wenn die Armen nur Profil hätten, gäbe es keine Schwierigkeiten, das Problem der Armut zu lösen.

Es gibt nur eine Gesellschaftsklasse, die mehr an das Geld denkt als die Reichen, und das sind die Armen. Die Armen können an nichts anderes denken.

Das Problem der Sklaverei, wir versuchen, es zu lösen, indem wir den Armen die Zeit vertreiben.

Die wahre Tragödie der Armen ist, daß sie nichts anderes als Selbstverleugnung leisten können. Schöne Sünden sind wie schöne Dinge das Privileg der Reichen.

Geschlecht und Mode

Weiblichkeit ist die Eigenschaft, die ich an Frauen am meisten schätze.

»Frauen werden stets wie ihre Mütter. Das ist ihre Tragödie.« »Und kein Mann wird so. Das ist seine.«

Frauen sind Gemälde. Männer sind Probleme. Wenn Sie wissen wollen, was eine Frau wirklich meint – was übrigens immer ein gefährliches Unternehmen ist –, sehen Sie sie an, und hören Sie ihr nicht zu.

Für den Philosophen

stellen die Frauen den Triumph der Materie über den Geist dar – so wie Männer den Triumph des Geistes über die Moral darstellen.

Die Geschichte der Frauen ist die Geschichte der übelsten Form von Tyrannei, die die Welt je gekannt hat. Die Tyrannei der Schwachen über die Starken. Es ist die einzige Tyrannei von Dauer.

»Arten von Frauen?«
»In der Gesellschaft nur zwei: Die farblosen und die interessanten.«

Frauen sind ein faszinierend eigenwilliges Geschlecht. Jede Frau ist eine Rebellin und gewöhnlich in wildem Aufruhr gegen sich selbst.

Die Frauen lieben uns wegen unserer Fehler. Wenn wir deren genügend haben, werden sie uns alles verzeihen, selbst unseren gigantischen Intellekt.

Frauen sollten mit Maßen denken, wie sie alles mit Maßen tun sollten.

Keine Frau sollte ein Gedächtnis haben. Gedächtnis macht eine Frau altmodisch. Man kann stets an dem Hut erkennen, ob sie ein Gedächtnis hat oder nicht.

Frauen lernen das Leben zu spät kennen. Das ist der Unterschied zwischen Männer und Frauen.

Bestimmt altern heutzutage mehr Frauen durch die Treue ihrer Anbeter als durch sonst etwas!

Die Stärke der Frauen rührt aus der Tatsache her, daß die Psychologie sie nicht zu deuten vermag. Männer kann man analysieren, Frauen … nur anbeten.

Frauen besitzen einen erstaunlichen Instinkt für die Dinge. Sie entdecken alles außer dem, was in die Augen springt.

Sie hatte gestern abend viel zuviel Rouge und nicht ganz hinreichend Stoff an sich. Das ist bei Frauen immer ein Zeichen von Verzweiflung.

»Die modernen Frauen verstehen alles.«
»Ausgenommen ihre Ehemänner. Die sind das einzige, was die moderne Frau nie versteht.«

Frauen, die gesunden Menschenverstand besitzen, sind merkwürdigerweise so häßlich.

Die erste Pflicht im Leben einer Frau ist die gegen ihren Schneider. Welches die zweite Pflicht ist, hat bisher noch niemand entdeckt.

Frauen werden nie durch Komplimente entwaffnet. Männer stets. Das ist der Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern.

Es gibt nur eine einzige echte Tragödie im Leben einer Frau. Die Tatsache, daß ihre Vergangenheit stets ihr Liebhaber und ihre Zukunft unweigerlich ihr Ehemann ist.

Das Leben einer Frau bewegt sich in Gefühlskurven. Auf Linien des Verstandes verläuft das Leben eines Mannes.

Wenn eine Frau ihre Fehler nicht reizvoll machen kann, ist sie nur ein Weibchen.

Die meisten Frauen sind so gekünstelt, daß ihnen jeder Sinn für die Kunst fehlt. Die meisten Männer sind so natürlich, daß ihnen jeder Sinn für die Schönheit fehlt.

Sie ist sehr gescheit, allzu gescheit für eine Frau. Ihr fehlt der unerklärliche Reiz der Schwäche. Die tönernen Füße sind es, die das Gold der Bildsäule köstlich machen. Ihre Füße sind sehr hübsch, aber es sind keine tönernen. Weiße Porzellanfüße, wenn Sie so wollen. Sie sind durchs Feuer gegangen, und was das Feuer nicht zerstört, härtet es. Sie hat Erfahrungen gesammelt.

»Wie sehr es doch die Frauen lieben, gefährliche Dinge zu tun.«

»Das ist eine von jenen Eigenschaften an ihnen, die ich am meisten bewundere. Eine Frau wird mit jedem auf der Welt kokettieren, solange andere Leute zuschauen.«

Es bedarf einer vollendet guten Frau, etwas vollendet Blödsinniges zu tun.

Zwischen Männern und Frauen ist keine Freundschaft möglich. Da gibt es Leidenschaft, Feindschaft, Verehrung, Liebe, aber keine Freundschaft.

Vor einem angemessenen Hintergrund können sich Frauen alles leisten.

Wenn eine Frau einen Mann halten will, braucht sie nur an das Schlechteste in ihm zu appellieren.

Schrecklich kommerziell, die Frauen von heute. Unsere Großmütter warfen ihre Mützen in den Wind, versteht sich, aber bei Gott, ihre Enkelinnen werfen ihre Mützen nur in den Wind, wenn sie genau wissen, woher er weht und daß er ihnen günstig ist.

Schlechte Frauen plagen einen. Gute Frauen langweilen einen. Das ist der einzige Unterschied zwischen ihnen.

Ich ziehe Frauen mit einer Vergangenheit vor. Man kann sich mit ihnen so verdammt gut unterhalten.

Das ist das ärgste an Frauen. Immer wünschen sie, man solle gut werden. Und sind wir gut, wenn sie uns kennenlernen, dann lieben sie uns ganz und gar nicht. Sie möchten uns gern durchaus unverbesserlich schlecht sehen, wenn sie uns finden, und durchaus reizlos gut, wenn sie uns verlassen.

Nichts auf der Welt kommt der Hingabe einer verheirateten Frau gleich. Das ist etwas, wovon kein verheirateter Mann eine Ahnung hat.

Letzten Endes gibt es nur zwei Arten von Frauen, die ungeschminkten und die geschminkten.

Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre eigene Tochter, ist sie völlig zufrieden.

Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, geradeso wie sie durch plötzliches und befremdliches Nachgeben angreifen.

Nach meiner Theorie sind es stets die Frauen, die uns Heiratsanträge machen, und nicht wir, die sie den Frauen machen.

Die Frauen behandeln uns geradeso, wie die Menschheit ihre Götter behandelt. Sie verehren uns und liegen uns ständig in den Ohren, etwas für sie zu tun.

Nur auf eine einzige Art vermag eine Frau jemals einen Mann zu bessern, indem sie ihn nämlich so grenzenlos langweilt, daß er jedes nur erdenkliche Interesse am Leben verliert.

Der einzige Reiz der Vergangenheit ist, daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen sechsten Akt, und sobald jegliches Interesse an dem Stück erloschen ist, schlagen sie vor, es fortzusetzen.

Eine schreckliche Sache, das Gedächtnis einer Frau!

Wenn eine Frau sich wieder verheiratet, dann geschieht es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn sich ein Mann wieder verheiratet, dann geschieht es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.

Ich liebe Männer, die eine Zukunft, und Frauen, die eine Vergangenheit haben.

Männer machen immer ein so dummes Gesicht, wenn sie ertappt werden. Und sie werden stets ertappt.

Man sollte nie einer Frau trauen, die einem ihr wirkliches Alter verrät. Eine Frau, die einem das erzählt, würde einem auch alles andere erzählen.

Es macht mir nichts aus, wenn häßliche Frauen Puritanerinnen sind. Es ist die einzige Entschuldigung, die sie für ihr Häßlichsein haben.

Ich glaube nicht, daß es eine Frau auf der Welt gibt, die nicht ein wenig geschmeichelt wäre, wenn man ihr den Hof macht. Das ist es ja gerade, was Frauen so unwiderstehlich anbetungswürdig macht.

Die Wahrheit ist nicht gerade das, was man einem hübschen süßen gebildeten Mädchen erzählt.

Gerade Männer von dem denkbar vornehmsten sittlichen Charakter sind äußerst empfänglich für die physischen Reize anderer.

Wenn ein Mann alt genug ist, unrecht zu tun, sollte er auch alt genug sein, recht zu tun.

Ist ein Mann ein Gentleman, dann weiß er durchaus genug, und ist er kein Gentleman, dann ist alles, was er weiß, wertlos für ihn.

Ärgerliches Aufsehen pflegte einen Mann reizvoll oder zumindest interessant zu machen – jetzt vernichtet es ihn.

Männer sind solche Feiglinge. Sie verletzen jedes Gesetz der Welt und fürchten sich doch vor der Zunge der Welt.

Die Ehemänner sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse.

Heutzutage leben alle verheirateten Männer wie Junggesellen und alle Junggesellen wie verheiratete Männer.

Wenn ein Mann einmal eine Frau geliebt hat, wird er alles für sie tun, ausgenommen sie weiterzulieben.

Wenn wir Männer die Frauen heirateten, die wir verdienen, wäre uns eine sehr schlimme Zeit beschieden.

Das Glück eines verheirateten Mannes hängt von den Leuten ab, die er nicht geheiratet hat.

Zwanzig Jahre Liebesroman geben einer Frau das Aussehen einer Ruine; aber zwanzig Jahre Ehe machen sie zu einer Art öffentlichem Gebäude.

Heutzutage werden mehr Ehen durch den gesunden Menschenverstand des Ehemannes zerstört als durch sonst etwas. Wie kann man von einer Frau erwarten, daß sie mit einem Mann glücklich ist, der darauf besteht, sie als ein völlig vernünftiges Wesen zu behandeln?

Im Eheleben kommt die Liebe, wenn die Leute einander gründlich mißfallen.

Scheidungen werden im Himmel beschlossen.

Erstens heiraten Mädchen nie die Männer, mit denen sie flirten. Das halten Mädchen nicht für richtig.

Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß ein Mann, der zu heiraten wünscht, entweder alles oder nichts wissen sollte.

Der einzige Reiz der Ehe ist, daß sie ein Leben der Täuschung für beide Teile absolut notwendig macht.

Wer treu ist, kennt nur die triviale Seite der Liebe; der Treulose ist es, der die Liebestragödien kennenlernt.

Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer lebenslänglichen Leidenschaft ist der, daß die Laune ein wenig länger vorhält.

Junge Leute möchten treu sein und sind es nicht, alte möchten untreu sein und können es nicht.

Männer heiraten, weil sie müde, Frauen, weil sie neugierig sind; beide werden enttäuscht.

Ich glaube nicht, daß ich geeignet bin zu heiraten.

Ich bin zu verliebt.

Der wahre Nachteil der Ehe ist, daß sie einen uneigennützig macht. Und uneigennützige Leute sind farblos. Es fehlt ihnen an Individualität. Dennoch gibt es bestimmte Charaktere, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren Egoismus und ergänzen ihn mit vielen weiteren Egos. Sie sind gezwungen, mehr als ein Leben zu führen. Sie werden höher organisierte Menschen, und das, sollte ich meinen, ist das Ziel des menschlichen Daseins.

Jede Erfahrung ist wertvoll, und was man auch gegen die Ehe sagen mag, eine Erfahrung ist die bestimmt.

Ein Mann kann mit einer Frau glücklich sein, solange er sie nicht liebt.

Natürlich ist das Eheleben nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit.

Es ist eine merkwürdige Sache mit dem Heiratsspiel.

Die Ehefrauen haben alle Trümpfe in der Hand und kommen unweigerlich um ihre Chance.

Ich könnte mit ihr verheiratet sein, so verdammt gleichgültig behandelt sie mich.

Wenn Männer aufhören zu sagen, was bezaubernd ist, hören sie auf zu bedenken, was bezaubernd ist.

Was einen heutzutage tröstet, ist nicht Reue, sondern Vergnügen. Reue ist völlig veraltet. Und außerdem, wenn eine Frau wirklich bereut, muß sie zu einem schlechten Schneider gehen, sonst glaubt ihr keiner.

Ich bin nicht für lange Verlobungen. Sie geben den Leuten Gelegenheit, vor der Ehe einer des anderen Charakter zu ergründen, was ich nie und nimmer für ratsam halte.

Die rechte Grundlage für eine Ehe ist gegenseitiges Mißverstehen. Nein, ich bin durchaus nicht zynisch, ich habe nur meine Erfahrungen, was allerdings ungefähr auf dasselbe herauskommt.

Modern zu sein ist das einzige, was heutzutage das Leben lebenswert macht.

Gefühl ist ausreichend für die Knopflochblume. Aber das Wesentliche bei einer Krawatte ist Stil. Eine gut gebundene Krawatte ist der erste ernsthafte Schritt ins Leben.

Sie werden immer denkbar hübsch sein. Das ist die beste Mode, die es gibt, und die einzige Mode, in der England mit Erfolg tonangebend ist.

Sie sind bemerkenswert modern.
Vielleicht ein wenig zu modern. Nichts ist so gefährlich, als allzu modern zu sein. Es kann einem passieren, daß man ganz plötzlich altmodisch wird.

Mode ist, was man selber trägt. Unmodern ist das, was die anderen Leute tragen.

Griechische Kleidung war in ihrem Wesen unkünstlerisch. Nur der Körper sollte den Körper sichtbar machen. Man sollte entweder ein Kunstwerk sein oder ein Kunstwerk tragen.

Der einzige Ausgleich dafür, daß man gelegentlich etwas übertrieben angezogen ist, besteht darin, jederzeit ganz und gar übergebildet zu sein.

Die Tracht des neunzehnten Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so deprimierend. Die Sünde ist das einzige echte Farbelement, das unserem modernen Leben geblieben ist.

Die düstere Kleidung unserer Tage raubt ja dem Leben die Schönheit und bedeutet den Ruin für die Kunst.

Jugend und Schönheit

Wen die Götter lieben, den lassen sie jung werden.

Jugend ist das einzige, was Wert hat.

Jugend! Jugend! Es gibt einfach nichts auf der Welt als Jugend!

Jugend ist das einzige, was zu besitzen lohnt.

Um seine Jugend zurückzuerhalten, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.

Das Geheimnis, jung zu bleiben, ist, sich nie einer unbekömmlichen Gefühlsregung hinzugeben.

Um meine Jugend zurückzuerhalten, würde ich alles auf der Welt tun, außer Leibesübungen, früh aufstehen oder ehrbar werden.

Es ist absurd, von der Unwissenheit der Jugend zu sprechen. Die einzigen, deren Ansichten ich mir noch mit einer gewissen Achtung anhöre, sind Leute, die viel jünger sind als ich. Sie scheinen mir voraus zu sein.

Nichts kommt der Jugend gleich. Die Leute mittleren Alters sind dem Leben verpfändet. Die Alten hausen in der Rumpelkammer des Lebens. Jugend aber ist der Herr und Gebieter des Lebens. Auf die Jugend wartet ein Königreich. Jeder wird als König geboren, und die meisten Leute sterben in der Verbannung wie die meisten Könige.

Jugend ist die Zeit für Erfolg.

Jugend ist kein Getue. Jugend ist eine Kunst.

Wenige Eltern nehmen heutzutage Rücksicht auf das, was ihnen ihre Kinder sagen. Der altmodische Respekt vor der Jugend stirbt fast aus.

Mancher junge Mensch beginnt das Leben mit einer natürlichen Gabe zur Übertreibung; würde diese Begabung in entsprechender und angenehmer Umgebung gepflegt oder durch Nachahmung der höchsten Vorbilder gefördert, dann könnte etwas wirklich Großes und Wunderbares entstehen. In der Regel aber bringt es ein solcher Mensch zu nichts.

Muße ist die Vorbedingung der Vollkommenheit. Das Ziel der Vollkommenheit ist die Jugend.

Frühreif sein heißt vollkommen sein.

Die Tragödie des Alters ist nicht, daß man alt ist, sondern daß man jung ist.

Ich habe die Erfahrung gemacht, sobald die Leute alt genug sind, es besser zu wissen, wissen sie überhaupt nichts.

Muße, nicht Arbeit ist das Ziel des Menschen.

Wer sein ganzes Sinnen auf die Schönheit der Form richtet, dem erscheint alles andere von geringerer Bedeutung.

Die Schönheit, die seine Sinne erregte, hatte auch an sein Gewissen gerührt.

Die Schönheit, die in jedem Leben schlummert und auf Erweckung wartet.

Das Dandytum ist der Beweis für die absolute Modernität der Schönheit.

Stets habe ich daran glauben wollen, daß Kraft und Schönheit auf ein und derselben Linie liegen.

Die einzig wirklich schönen Dinge sind die Dinge, die uns nicht betreffen. Solange uns ein Ding nützlich oder notwendig erscheint oder uns irgendwie bewegt, uns mit Schmerz oder Freude erfüllt, unsere Gefühle heftig erregt, solange es einen wesentlichen Bestandteil unserer Umgebung darstellt, ist es jenseits der Kunstsphäre.

Alle schönen Dinge gehören der gleichen Zeit an.

Die Schönheit hat so viele Bedeutungen, wie der Mensch Stimmungen hat. Die Schönheit ist das Symbol der Symbole. Die Schönheit offenbart alles, weil sie nichts ausdrückt. Wenn sie sich uns zeigt, zeigt sie uns die ganze feuerfarbene Welt.

Das charakteristische Merkmal einer schönen Form ist, daß man in sie hineinlegen kann, was immer man möchte, daß man in ihr sehen kann, was immer man darin zu sehen beliebt; und die Schönheit, die dem Kunstwerk das allgemein gültige und ästhetische Element verleiht, macht den Kritiker seinerseits zum Schöpfer, und sie erzählt von tausend verschiedenen Dingen, die nicht in der Seele dessen lebendig waren, der die Statue gemeißelt, das Tafelbild gemalt oder die Gemme geschnitten hat.

Es liegt nichts Gesundes in der Anbetung der Schönheit. Sie ist viel zu glänzend, um gesund zu sein. Wer sie zur beherrschenden Form seines Lebens macht, wird der Welt ewig als reiner Träumer erscheinen.

Man kommt ja recht gut ohne die Philosophie zurecht, sobald man sich erst mit schönen Dingen umgibt.

Wenn man seine Schönheit verliert, welcher Art sie auch sein mag, dann verliert man alles.

Schönheit ist eine Form des Genies – sie steht in der Tat noch höher als das Genie, da sie keiner Erklärung bedarf. Sie gehört zu den großen Wahrheiten der Welt, wie das Sonnenlicht oder der Frühling oder der Widerschein jener silbernen Muschel, die wir Mond nennen, auf den dunklen Wassern. Man kann darüber nicht streiten. Sie hat ihr göttliches Recht auf Souveränität. Sie macht solche, die sie besitzen, zu Fürsten.

Wenn ein Mensch die künstlerische Schönheit einer Sache sieht, dann wird er wahrscheinlich sehr wenig nach ihrer ethischen Bedeutung fragen. Ist er seinem Temperament nach empfänglicher für ethische als für ästhetische Einflüsse, so wird er blind sein gegen Fragen des Stils, der Gestaltung und dergleichen.

Kein Gegenstand ist so häßlich, daß er unter gewissen Licht- und Schattenbedingungen, durch die Berührung mit anderen Dingen nicht schön aussehen kann; kein Gegenstand ist so schön, daß er unter gewissen Bedingungen nicht häßlich aussehen kann. Ich glaube, alle vierundzwanzig Stunden sieht das Schöne einmal häßlich und das Häßliche einmal schön aus.

Aber Schönheit, wahre Schönheit, endet da, wo der geistige Ausdruck beginnt. Geist ist an sich eine Art Übertreibung und zerstört die Harmonie eines jeden Gesichts. In dem Augenblick, da man sich niedersetzt, um zu denken, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst etwas Gräßliches. Sehen Sie sich die erfolgreichen Männer in irgendeinem gelehrten Beruf an. Wie ganz und gar abscheulich sehen sie aus! Ausgenommen natürlich die Angehörigen der Geistlichkeit. Aber die Geistlichkeit denkt ja auch nicht.

Von allen häßlichen Dingen sind künstliche Blumen wohl das Häßlichste.

Liebe und Vernunft

Immer in die Liebe verliebt sein. Eine grande passion ist das Vorrecht solcher Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige Vorteil der müßigen Klassen eines Landes.

Man sollte immer verliebt sein. Das ist der Grund, warum man nie heiraten sollte.

Wenn man verliebt ist, betrügt man zu Anfang sich selbst und am Ende stets die anderen.

Die Verschiedenheit des Objekts ändert nichts am Einmaligen der Leidenschaft. Sie vertieft es nur. Wir können im Leben bestenfalls ein großes Erlebnis haben, und das Geheimnis des Leben ist, dieses Erlebnis so oft wie möglich aufs neue zu erzielen.

Nur Liebe vermag überhaupt jemand am Leben zu erhalten.

Wer ist arm, wenn geliebt wird?

Die Liebe gibt einem einen Instinkt für die Dinge.

Liebe, nicht deutsche Philosophie, ist die wahre Auslegung dieser Welt, wie immer auch die Auslegung der nächsten lauten mag.

Ich pflegte Ehrgeiz für das Größte zu halten. Das stimmt nicht. Liebe ist das Größte auf der Welt. Es gibt nichts als Liebe.

Die Liebe nährt sich von der Phantasie, die uns weiser macht, als wir wissen, besser, als wir fühlen, edler, als wir sind: durch die wir das Leben als Einheit sehen können: durch die, und durch die allein, wir andere in ihren realen und ideellen Bindungen verstehen können. Nur Schönes und schön Erdachtes kann die Liebe nähren. Den Haß aber nährt alles.

Haß macht die Menschen blind. Das merkst Du nicht. Liebe kann die Inschrift auf dem fernsten Stern entziffern, doch der Haß blendete Dich so sehr, daß Du über den engen, ummauerten Garten Deiner niederen Gelüste nicht hinaussahst.

Die meisten Menschen leben für die Liebe und die Bewunderung, doch wir sollten durch die Liebe und die Bewunderung leben.

Wenn uns Liebe geschenkt wird, so sollten wir wissen, daß wir ihrer gänzlich unwürdig sind. Niemand ist würdig, geliebt zu werden.

Jeder ist der Liebe würdig, nur der nicht, der sich selbst für würdig hält.

Die Liebe ist ein Sakrament und sollte kniend empfangen werden, und die Lippen und Herzen derer, die es entgegennehmen, sollen sprechen »Domine, non sum dignus«.

Nicht die Vollkommenen, sondern die Unvollkommenen brauchen Liebe.

Wenn wir durch eigene Hand oder durch die Hände anderer verwundet sind, sollte uns Liebe heilen – was hätte Liebe sonst überhaupt für einen Sinn?

Die Gefühle von Menschen, die man nicht mehr liebt, haben stets etwas Lächerliches.

Eine Liebe und ein Schmerz, die groß sind, werden durch ihr eigenes Übermaß vernichtet.

Es ist nicht Liebe auf den ersten Blick, aber Liebe zum Schluß der Saison, was so sehr viel befriedigender ist.

Freundschaft ist weit tragischer als Liebe. Sie dauert länger.

Vernunft und Feigheit sind in Wirklichkeit dasselbe.

Vernunft ist nur der Geschäftsname der Firma. Weiter nichts.

Rohe Gewalt kann ich noch ertragen, aber rohe Vernunft ist ganz und gar unerträglich. Es liegt etwas Unanständiges in ihrer Anwendung. Sie steht unter dem Geist.

Der nur denkende Geist ist dem Geiste der Kunst fremd.

Ich bekenne, daß ich nicht zu den Gläubigen im Tempel der Vernunft gehöre. Ich halte die menschliche Vernunft für den unzuverlässigsten und trügerischsten Führer unter der Sonne, ausgenommen vielleicht die weibliche Vernunft. Der Glaube ist zwar, so meine ich, eine helle Leuchte unserem Fuß, in unserem Denken jedoch eine exotische Pflanze, die ständiger Pflege bedarf.

Alles Denken ist unmoralisch. Sein eigentliches Wesen ist Zerstörung. Wenn Sie über etwas nachdenken, töten Sie es. Nichts überlebt das Nachdenken darüber.

Nie kann die Wissenschaft das Irrationale bewältigen. Darum hat sie auf dieser Welt auch keine Zukunft.

Es ist sehr gefährlich zuzuhören. Hört man zu, kann man überzeugt werden, und wer sich durch ein Argument überzeugen läßt, ist ein von Grund auf unvernünftiger Mensch.

Ich bin dieser Geistreichelei sterbensüberdrüssig. Jeder ist heutzutage geistreich. Du kannst nirgendwohin gehen, ohne geistreiche Leute zu treffen. Das ist förmlich zu einer öffentlichen Plage geworden. Ich wünschte zum Himmel, wir hätten noch ein paar Dummköpfe übrigbehalten.

Denken ist wundervoll, aber noch wundervoller ist das Erlebnis.

Im Stumpfsinn wird Ernsthaftigkeit mündig.

Unfeine Angewohnheit, die heutzutage die Leute haben, einen, wenn man einen Gedanken äußert, zu fragen, ob es einem ernst sei oder nicht. Nichts ist ernst außer der Leidenschaft. Der Intellekt ist keine ernste Sache, ist es nie gewesen. Er ist ein Instrument, auf dem man spielt, weiter nichts.

Wissen wäre fatal. Die Ungewißheit ist es, die uns reizt. Ein Nebel macht die Dinge wunderschön.

Heutzutage sterben die meisten Leute an einer Art schleichendem gesunden Menschenverstand und entdecken erst, wenn es zu spät ist, daß die eigenen Fehler das einzige sind, was man niemals bereut.

Der Mensch ist vielerlei, aber vernünftig ist er nicht.

»Du hast selbst gesagt, daß eine schwere Erkältung nicht erblich oder etwas dergleichen ist.« »Ich weiß, sie pflegte es nicht zu sein – aber ich möchte behaupten, jetzt ist sie es. Die Wissenschaft macht ständig erstaunliche Fortschritte.«

Kunst und Wahrheit

Alle Kunst ist ganz und gar nutzlos.

Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol.

Wer unter die Oberfläche dringt, tut es auf eigene Gefahr.

Wer das Symbol deutet, tut es auf eigene Gefahr.

Kunst offenbaren und den Künstler verheimlichen ist das Ziel der Kunst.

Die Kunst ist kein Spiegel, sondern ein Kristall. Sie schafft ihre eigenen Gestalten und Formen.

Die Kunst ist das einzig Ernsthafte auf der Welt. Und der Künstler ist der einzige Mensch, der nie ernsthaft ist.

Es gibt keine Stimmung oder Leidenschaft, die uns die Kunst nicht geben kann, und wer ihr Geheimnis ergründet hat, vermag im voraus zu sagen, welcher Art unsere Erfahrungen sein werden.

Ziel der Kunst ist es einfach, eine Stimmung zu erzeugen.

Die Kunst ist dann gesund, wenn sie die Schönheit unserer Zeit zum Ausdruck bringt, und sie ist krank, sobald sie ihre Themen aus früheren, romantischen Zeitaltern heraufholen muß.

Die entscheidende Entdeckung ist, daß das Lügen, das Erzählen von schönen, unwahren Dingen, das eigentliche Ziel der Kunst ist.

»Und die Kunst?«
»Ist eine Krankheit.«

In Wirklichkeit spiegelt die Kunst den Beschauer, nicht das Leben.

Wir können einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung dafür, etwas Nutzloses zu schaffen, besteht darin, daß man es über jedes Maß bewundert.

Und dennoch können die Wahrheiten der Kunst nicht gelehrt werden: sie offenbaren sich – und zwar nur denjenigen, die dem Schönen sich aufgetan haben in ihrem Studium und ihrer Verehrung aller schönen Dinge.

Ich bewahre mir Kunst als Leben.

Es gibt nichts, was Kunst nicht ausdrücken kann.

Der Zweck der Kunst ist, den göttlichsten, entlegensten der Akkorde anzuschlagen, die in unserer Seele Musik machen; und Farbe ist an sich eine mystische Gegenwart auf der Oberfläche der Dinge und der Ton eine Art Schildwache.

Das Abnorme im Leben steht in normalem Verhältnis zur Kunst. Es ist das einzige im Leben, was in normalem Verhältnis zur Kunst steht.

»Müssen wir uns also in allem an die Kunst halten?«

»In allem. Denn die Kunst verletzt uns nicht.«

Die höchste Kunst dient dem Menschen, so wie die großartigste Natur sich selbst dient.

Die Kunst ist das mathematische Resultat des emotionellen Strebens nach Schönheit. Wenn ein Kunstwerk nicht durchdacht ist, ist es nichts.

Die Wahrheit in der Kunst ist die Identität eines Dinges mit sich selbst: das Äußere, das zum Ausdruck des Innern geworden: die fleischgewordene Seele: der vergeistigte Leib.

Nur ein Temperament, das durch seine Phantasie, in einem Zustand vertiefter Einbildungskraft, neue und schöne Eindrücke zu empfangen vermag, wird imstande sein, ein Kunstwerk zu würdigen.

Das Kunstwerk soll den Zuschauer beherrschen: nicht der Zuschauer das Kunstwerk. Der Zuschauer soll empfänglich sein. Er soll die Violine sein, die der Meister spielt. Und je vollständiger er seine eigenen dummen Ansichten, seine eigenen törichten Vorurteile, seine eigenen absurden Ideen über das, was Kunst sein und was sie nicht sein sollte, unterdrückt, desto wahrscheinlicher wird er das Kunstwerk verstehen und zu würdigen wissen.

Die große Wahrheit, daß sich die Kunst zunächst weder an den Intellekt noch an das Gefühl wendet, sondern ganz allein an das künstlerische Temperament.

Jede Kunst ist amoralisch. Denn Gefühlserregung um der Gefühlserregung willen ist das Ziel der Kunst, und jede Gefühlserregung um des Handelns willen ist das Ziel des Lebens.

Das moralische Leben des Menschen gehört zum wesentlichen Gegenstand des Künstlers, die Moral der Kunst besteht jedoch in der vollkommenen Anwendung eines unvollkommenen Ausdrucksmittels.

Alle Künste sind amoralisch – außer jenen niedrigeren Formen der sinnlichen oder belehrenden Kunst, die, im Bösen oder Guten, zum Handeln anzustacheln sucht. Denn Handeln jeder Art gehört in den Bereich der Ethik. Ziel der Kunst ist es einfach, eine Stimmung zu erzeugen.

Wenn die Betrachtung eines Kunstwerks Aktivität irgendeiner Art auslöst, so ist das Werk entweder von recht zweitrangiger Qualität, oder dem Betrachter ist die Tiefe der künstlerischen Impression verschlossen geblieben. Ein Kunstwerk ist nutzlos, wie eine Blume nutzlos ist. Eine Blume blüht sich selber zur Freude. Ihre Betrachtung verschafft uns einen Augenblick der Freude. Mehr ist über unser Verhältnis zu Blumen nicht zu sagen.

Der Kunst erwächst keinerlei Schaden, wenn sie sich fernhält von den sozialen Problemen des Tages. Vielmehr gelingt es ihr auf solche Weise, noch vollständiger uns vor Augen zu führen, was wir im Innersten begehren.

Das Leben verdirbt durch seinen Realismus immer die Thematik der Kunst. Das erhabenste Vergnügen an der Literatur ist, das Nicht-Existente existent zu machen.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein Gesicht im Spiegel sieht.

Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein Gesicht nicht im Spiegel sieht.

Ein Künstler sollte schöne Dinge schaffen, aber nichts aus seinem eigenen Leben hineintun. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen mit der Kunst umgehen, als sei sie eine Art Autobiographie. Wir haben das abstrakte Gefühl für Schönheit verloren.

Je mehr wir die Kunst studieren, desto weniger kümmert uns die Natur.

Zweifellos hat die Natur gute Absichten, aber, wie Aristoteles einmal sagte, sie kann sie nicht ausführen. Wenn ich eine Landschaft betrachte, sehe ich auch gleich alle ihre Mängel. Zu unserem Glück jedoch ist die Natur so unvollkommen, sonst wäre nie die Kunst entstanden. Die Kunst ist unser geistvoller Protest, unser kühner Versuch, der Natur ihren eigentlichen Platz zuzuweisen.

Der allgemeine Ruf unserer Zeit lautet: »Laßt uns zum Leben und zur Natur zurückkehren, sie werden uns die Kunst neu erschaffen und ihren Pulsschlag wiederbeleben, sie werden ihren Schritt beflügeln und ihrer Hand Kraft verleihen.« Aber leider! unsere freundlichen und wohlmeinenden Bestrebungen gehen irre. Die Natur ist immer hinter der Zeit zurück. Und das Leben – es ist das Zersetzungsmittel, das die Kunst schwächt, der Feind, der das Haus verwüstet.

Obwohl es paradox erscheinen mag – und Paradoxien sind immer gefährliche Dinge –, ist es darum nicht weniger wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt als die Kunst das Leben.

Ein großer Künstler erfindet eine Idealfigur, und das Leben versucht sie nachzubilden, in einer leichtverständlichen Form zu reproduzieren.

Das Leben ist der Kunst bester, der Kunst einziger Schüler.

Schopenhauer hat den Pessimismus analysiert, der das moderne Denken bestimmt, aber Hamlet hat ihn erfunden. Die Menschen sind schwermütig geworden, weil eine Theaterfigur einmal an Melancholie krankte. Der Nihilist, dieser wunderliche Märtyrer ohne Glauben, der ohne Inbrunst an den Pfahl geht und für etwas stirbt, woran er nicht glaubt, ist ein reines Produkt der Literatur. Er ist von Turgenjew erfunden und von Dostojewski vollendet worden.

Die Literatur greift immer dem Leben vor. Sie ahmt das Leben nicht nach, sondern formt es nach ihrer Absicht. Das neunzehnte Jahrhundert, wie wir es kennen, ist zum großen Teil eine Erfindung Balzacs.

Woher, wenn nicht von den Impressionisten, stammen jene wundervollen braunen Nebel, die durch unsere Straßen ziehen, die Gaslampen verschleiern und die Häuser in ungeheuerliche Schatten verwandeln? Wem verdanken wir die köstlichen Silbernebel, die über unserem Fluß brauen und die geschwungene Brücke, die schwankende Barke in die zarten Linien vergänglicher Anmut hüllen, wenn nicht ihnen und ihrem Meister? Der ungewöhnliche Umschwung, der während der letzten zehn Jahre in den klimatischen Verhältnissen Londons stattfand, ist einzig und allein einer besonderen Kunstrichtung zuzuschreiben.

Die Natur ist keineswegs die große Urmutter, die uns gebar. Sie ist unsere Schöpfung. Es ist unsere Einbildungskraft, die sie beseelt. Die Dinge sind, weil wir sie sehen, und was wir sehen und wie wir sehen, hängt von den Künsten ab, die uns beeinflußt haben. Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Ding ansieht oder ob man es sieht. Man sieht nichts, solange man nicht seine Schönheit sieht. Dann, und erst dann, wird es lebendig. Jetzt sehen die Leute die Nebel, nicht weil es Nebel gibt, sondern weil die Dichter und Maler ihnen die geheimnisvolle Schönheit solcher Erscheinungen offenbaren. Es hat vielleicht schon seit Jahrhunderten in London Nebel gegeben. Das glaube ich sogar ganz sicher. Aber niemand hat sie gesehen, und deshalb wissen wir nichts darüber. Sie waren nicht vorhanden, bis die Kunst sie erfunden hat.

Die Kunst entfaltet sich lediglich in der ihr eigenen Bahn. Sie ist nie ein Symbol des Zeitalters, die Zeitalter sind ihre Symbole.

Ein Gegenstand in der Natur wird viel anziehender, wenn er uns an einen Gegenstand in der Kunst erinnert, ein Gegenstand in der Kunst dagegen gewinnt keine wahre Schönheit, weil er uns etwa an einen Gegenstand in der Natur erinnert. Der primäre ästhetische Eindruck von einem Kunstwerk entsteht nicht durch Vergleich oder Suche nach Ähnlichkeit.

Eine wirklich gelungene Knopflochblume ist das einzige Bindeglied zwischen Kunst und Natur.

Jede schlechte Kunst entsteht durch die Rückkehr zum Leben und zur Natur, und indem man sie zu Idealen erhebt. Das Leben und die Natur mögen der Kunst zuweilen als rohes Material dienen, doch ehe sie der Kunst von wirklichem Nutzen sein können, müssen sie in künstlerische Übereinstimmung gebracht werden. Sobald die Kunst auf ihr schöpferisches Ausdrucksmittel verzichtet, gibt sie alles auf.

Als Methode ist der Realismus ein völliger Irrtum, und die beiden Dinge, die jeder Künstler vermeiden sollte, sind Modernität der Form und Modernität des Inhalts.

Die einzigen wirklichen schönen Dinge sind die Dinge, die uns nicht betreffen.

Die Vergangenheit ist ohne Bedeutung. Die Gegenwart ist ohne Gewicht. Mit der Zukunft allein haben wir uns auseinanderzusetzen. Denn die Vergangenheit ist, was der Mensch nicht hätte sein dürfen. Die Gegenwart ist, was der Mensch nicht sein sollte. Die Zukunft ist, was die Künstler sind.

Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge.

Kein Künstler wünscht etwas zu beweisen. Selbst Wahres kann bewiesen werden.

Kein Künstler hat ethische Neigungen. Ethische Neigung ist bei einem Künstler eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.

Niemals ist ein Künstler morbid. Der Künstler kann alles ausdrücken.

Gedanke und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst.

Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer Kunst.

Vollkommenheit ist des Künstlers Ziel.

Die Freude, die ein Mensch bei der Schaffung eines Kunstwerks empfindet, ist eine ganz persönliche Freude, und um dieser Freude willen allein schafft er. Der Künstler sieht bei der Arbeit nur seinen Gegenstand. Nichts anderes interessiert ihn. Der Gedanke, was die Leute dazu sagen mögen, kommt ihm gar nicht. Er ist von seinem Gegenstand völlig fasziniert. Gegen andere ist er gleichgültig.

Das Leben des Künstlers ist einfach Entwicklung des Ich. Demut heißt beim Künstler, daß er jede Erfahrung offen bejaht, so wie Liebe beim Künstler einfach jener Schönheitssinn ist, der der Welt ihren Leib und ihre Seele enthüllt.

Nichts fürwahr ist dem jungen Künstler so gefährlich wie irgendeine Auffassung von idealer Schönheit; sie verführt ihn beständig zu schwächlicher Niedlichkeit oder lebloser Abstraktion. Wollen Sie jedoch das Ideal erreichen, so dürfen Sie es nicht seines lebendigen Wesens entkleiden. Sie müssen es im Leben finden und in der Kunst neu schaffen.

Kein großer Künstler sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Täte er es, so wäre er kein Künstler mehr.

Durch die Kunst, die Kunst allein, erreichen wir unsere Vollendung.

Ein Kunstwerk ist das unverwechselbare Ergebnis eines unverwechselbaren Temperaments. Seine Schönheit beruht auf der Tatsache, daß der Schöpfer ist, was er ist.

Die Kunst ist die intensivste Form des Individualismus, die die Welt kennt.

Ein wirklicher Künstler glaubt an sich, weil er ganz und gar er selbst ist.

Nur die Mittelmäßigkeit macht Fortschritte. Ein Künstler bewegt sich in einem Kreis von Meisterwerken, von denen das erste nicht weniger vollkommen ist als das letzte.

Die einzigen persönlich erfreulichen Künstler, die ich jemals kennenlernte, sind schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur in dem, was sie schaffen, und sind infolgedessen völlig uninteressant an dem, was sie sind. Ein großer Dichter, ein wirklich großer Dichter, ist das unpoetischste aller Geschöpfe. Geringere Dichter dagegen sind absolut faszinierend. Je schlechter ihre Gedichte sind, um so malerischer sehen sie aus. Die bloße Tatsache, ein Buch mit zweitklassigen Sonetten veröffentlicht zu haben, macht einen Mann ganz unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie, die sie nicht zu verwirklichen wagen.

Sich durch Poesie ruiniert zu haben ist eine Ehre.

Manchmal denke ich, das Leben des Künstlers sei ein langer und süßer Selbstmord, und ich bedauere es nicht.

Das Publikum ist durch und durch krankhaft, denn das Publikum findet für nichts einen Ausdruck. Der Künstler ist niemals krankhaft. Er drückt alles aus. Er steht außerhalb seines Gegenstandes und bringt durch ihn unvergleichliche und künstlerische Wirkungen hervor. Einen Künstler morbide zu nennen, weil er sich die Krankhaftigkeit zum Thema nimmt, ist so albern, wie wenn man Shakespeare wahnsinnig nennen würde, weil er den König Lear geschrieben hat.

Es sei vielleicht erwähnt, daß der sehr begrenzte Wortschatz, der dem Publikum im Bereich der Kunstschmähungen zur Verfügung steht, in den letzten Jahren um zwei neue Adjektive bereichert wurde. Das eine Wort ist »ungesund«, das andere »exotisch«. Das zweite Wort drückt nichts als die Wut des kurzlebigen Pilzes gegen die unsterbliche, zauberhafte, unvergleichlich schöne Orchidee aus. Es ist eine Achtungsbezeugung, aber eine Achtungsbezeugung ohne Bedeutung. Das Wort »ungesund« jedoch läßt eine Analyse zu. Es ist ein ziemlich aufschlußreiches Wort. Es ist wirklich so aufschlußreich, daß die Leute, die es gebrauchen, seinen Sinn nicht verstehen.

Für den Künstler gibt es nur eine passende Regierungsform, nämlich gar keine Regierung. Es ist lächerlich, über ihn und seine Kunst Autorität auszuüben.

Der einzige Maßstab für die Schönheit, den der Künstler anerkennt, ist sein eigenes Temperament.

Ein Künstler braucht für die Entfaltung seiner Kunst den Umgang mit Ideen und eine geistige Atmosphäre und Ruhe, Frieden und Einsamkeit.

Er fühlte, daß man die Geheimnisse der Kunst am besten im geheimen lernt und daß Schönheit, wie Weisheit, die einsamen Anbeter liebt.

Es scheint mir, daß die Phantasie Einsamkeit um sich verbreitet oder verbreiten sollte, sie schafft am besten in der Stille und Abgeschiedenheit.

Sicherlich liegt der Anfang aller ästhetischen Kritik darin, seine eigenen Eindrücke darzustellen.

In den besten Zeiten der Kunst gab es keine Kunstkritiker.

Für den Kritiker ist das Kunstwerk einfach eine Anregung zu einem neuen eigenen Werk, das nicht unbedingt eine augenscheinliche Ähnlichkeit mit dem kritisierten Gegenstand zeigen muß.

Wenn die Kritiker uneins sind, ist der Künstler mit sich einig.

Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in einen anderen Stil oder einen neuen Stoff zu übertragen vermag.

Die höchste wie die niedrigste Form der Kritik ist eine Art Autobiographie.

Wer in schönen Dingen häßliche Absichten entdeckt, ist verdorben, ohne reizvoll zu sein. Das ist ein Fehler.

Wer in schönen Dingen schöne Absichten entdeckt, ist kultiviert. Für ihn besteht Hoffnung.

Die Auserwählten sind die, für die schöne Dinge einzig und allein Schönheit bedeuten.

So etwas wie moralische oder unmoralische Bücher gibt es nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Weiter nichts.

Wenn man ein Buch nicht immer und immer wieder zu seiner Freude lesen kann, hat es keinen Wert, es überhaupt zu lesen.

Von einem Buch vergiftet werden, so etwas gibt es nicht. Kunst hat keinen Einfluß auf das Handeln. Sie hebt das Verlangen zu handeln auf. Sie ist im höchsten Grade unfruchtbar. Die Bücher, die von der Welt unmoralisch genannt werden, sind Bücher, die der Welt ihre eigene Schande zeigen.

Romane, die glücklich enden, mag ich nicht. Sie deprimieren mich so sehr.

Früher wurden Bücher von Literaten geschrieben und vom Publikum gelesen. Heute werden sie vom Publikum geschrieben und von niemandem gelesen.

Jedermann kann einen dreibändigen Roman schreiben. Dazu bedarf es nur völliger Unkenntnis des Lebens und der Literatur.

Es ist die Literatur, die uns den Körper in seiner Behendigkeit und die Seele in ihrer Unrast zeigt.

Die Aufgabe der Literatur ist, aus dem rohen Material des wirklichen Lebens eine neue Welt zu erschaffen, die herrlicher, dauernder und wahrhaftiger sein wird als die Welt, auf die das gewöhnliche Auge blickt und durch welche die gewöhnlichen Naturen ihre Vollendung zu verwirklichen trachten.

»Die beiden höchsten und edelsten Künste?«

»Leben und Literatur. Das Leben und der vollendete Ausdruck des Lebens.«

Den Leuten zu sagen, was sie lesen wollen, ist in der Regel entweder nutzlos oder gar schädlich; denn das Verständnis für Literatur ist Sache des Temperaments, nicht der Unterweisung.

Von der Literatur verlangen wir Würde, Bezauberung, Schönheit und Phantasie. Wir wollen nicht belästigt und angeekelt sein durch die Schilderung von Begebenheiten, die sich in den untern Volksschichten abspielen.

Die alten Geschichtsschreiber hinterließen uns wundervolle Dichtungen in der Form von Tatsachen; der moderne Romanschriftsteller langweilt uns mit Tatsachen, die er als Dichtung ausgibt.

Wenn man über eine Sache nicht redet, ist sie nicht geschehen. Nur wenn wir sie in Worte kleiden, geben wir den Dingen Wirklichkeit.

Die Dichtung anzuregen ist mehr wert als eine Tatsache.

Kein Dichter singt, weil er singen muß, wenigstens tut es kein großer Dichter; ein großer Dichter singt, weil er wünscht zu singen.

Wer noch durch Dichtung auf uns wirken will, muß entweder vollkommen neue Hintergründe zeigen, oder er muß uns die Seele des Menschen in ihren innersten Regungen offenbaren.

Bücher fallen so oft in dumme und ungebildete Hände, und mir läge an einer wirklichen Kritik: dümmliches Lob und dümmlicher Tadel sind die größte Beleidigung.

Die Musik schafft uns eine Vergangenheit, von der wir nichts wußten, und erfüllt uns mit dem Gefühl von Leiden, die unseren Tränen verborgen geblieben waren. Ich kann mir einen Menschen vorstellen, der ein völlig alltägliches Leben führt und zufällig eine ganz seltsame Musik vernimmt; plötzlich wird er gewahr, daß seine Seele, ohne daß es ihm bewußt wurde, schreckliche Erfahrungen gemacht und ein schauerliches Entzücken erlebt hat, wilde abenteuerliche Lieben, große Entsagungen.

Es ist etwas Seltsames um die Übertragbarkeit des Gefühls. Wir erkranken an den gleichen Leiden wie die Dichter, und der Sänger leiht uns seinen Schmerz. Tote Lippen haben uns eine Botschaft zu künden, und Herzen, die längst zu Staub zerfallen sind, teilen uns ihre Freude mit.

Musik verursacht einem so romantische Gefühle – zumindest geht sie einem immer auf die Nerven.

Ich liebe Wagners Musik mehr als jede andere. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß die anderen Leute hören, was man sagt.

Wenn man gute Musik spielt, hören die Leute nicht zu, und spielt man schlechte Musik, dann reden sie nicht.

Musiker sind so absurd unvernünftig. Immer wollen sie einen gerade in dem Augenblick völlig stumm haben, wenn man sich danach sehnt, völlig taub zu sein.

Vom Gesichtspunkt der Form her ist das Urbild aller Kunst die des Musikers. Vom Gesichtspunkt des Gefühls aus ist die Kunstfertigkeit des Schauspielers das Urbild.

Die Bühne scheint mir der Treffpunkt von Kunst und Leben zu sein.

Das einzige Bindeglied zwischen Literatur und Theater, das wir heute in England noch haben, ist das Programmheft.

Ein Gegenstand, der vollkommen schön ist, regt den Künstler nicht an. Es fehlt ihm das Unvollkommene.

Kein Erzeugnis ist zu trivial, zu gering, als daß es durch die Kunst nicht veredelt werden könnte, denn ihr Genius kann dem Stein, dem Metall und auch dem Holze besonderen Glanz verleihen schon durch die Art und Weise, in der er diese schlichten Werkstoffe formt und gestaltet.

Das Gute empfangen wir von der Kunst nicht auf direktem Wege, sondern auf dem Umweg über die Gewöhnung an jene Anmut und Schönheit, mit der sie uns umgibt. Und noch mehr wird die Kunst bewirken, als unser Leben nur freudvoll und schön zu gestalten: sie wird Teil sein einer neuen Weltgeschichte und einer neuen Brüderlichkeit unter den Menschen.

Es gibt in der Weltgeschichte nur zwei Perioden von einiger Bedeutung. Die erste ist das Auftreten eines neuen künstlerischen Ausdrucksmittels und die zweite das Auftreten einer neuen Persönlichkeit, ebenfalls für die Kunst.

Die romantische Kunst beginnt mit ihrem Gipfel.

Es gibt wenige unter uns, die nicht mitunter vor dem Morgengrauen erwacht sind, entweder nach einer von jenen traumlosen Nächten, die uns in den Tod verliebt machen, oder nach einer von jenen Nächten des Grausens und der entstellten Lust, wenn durch die Kammern des Gehirns Phantome geistern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst und erfüllt von jenem kräftigen Leben, das in allem Grotesken läuft und das der gotischen Kunst ihre dauernde Lebensfähigkeit gibt, da diese Kunst, so möchte man meinen, vor allem die Kunst jener ist, deren Geist getrübt ist von der Krankheit des Träumens.

In einem sehr häßlichen und empfänglichen Zeitalter borgen die Künste nicht vom Leben, sondern untereinander.

Gerade durch ihre Unvollständigkeit gelangt die Kunst zur vollendeten Schönheit und wendet sich darum nicht an die Fähigkeit des Wiedererkennens oder des Verstandes, sondern allein an den ästhetischen Sinn, für den der Verstand und das Wiedererkennen nur Grade der Wahrnehmung sind, die er jedoch beide dem reinen synthetischen Eindruck des Kunstwerkes als Ganzes unterordnet, und der die Komplexität der fremdartigsten Gefühlselemente, die ein Werk besitzen mag, gerade dazu benutzt, um dem letzten Eindruck des Kunstwerkes eine reichere Einheit hinzuzufügen.

Für die ästhetische Empfindung ist das Unbestimmte immer abstoßend. Die Griechen waren ein Volk von Künstlern, weil sie vom Gefühl der Unendlichkeit verschont blieben.

Nichts als das Konkrete kann uns befriedigen.

Meinungsverschiedenheit über ein Kunstwerk zeigt an, daß das Werk neu, kompliziert und wesentlich ist.

In der Tat benutzen die Leute die Klassiker eines Landes als Mittel, um die Entwicklung der Kunst aufzuhalten.

Sie benutzen sie als Knüppel, um den freien Ausdruck der Schönheit in neuen Formen zu verhindern. Sie fragen den Schriftsteller immer, warum er nicht schreibt wie irgendein anderer, oder den Maler, warum er nicht wie ein anderer malt, wobei sie vergessen, daß jeder von ihnen, wenn er etwas Derartiges versuchte, aufhören würde, Künstler zu sein. Eine neue Art der Schönheit ist ihnen absolut verhaßt, und sooft sie ihr begegnen, geraten sie in solche Wut und Verwirrung, daß sie stets zwei törichte Ausdrücke bereit haben – den einen, daß das Kunstwerk ganz und gar unverständlich, den anderen, daß das Kunstwerk ganz und gar amoralisch sei. Sie scheinen damit folgendes ausdrücken zu wollen. Wenn sie sagen, ein Werk sei völlig unverständlich, so meinen sie damit, der Künstler habe etwas Schönes geschaffen, das neu ist; wenn sie ein Werk als ganz und gar amoralisch bezeichnen, so meinen sie damit, der Künstler hat etwas Schönes gesagt oder geschaffen, das wahr ist. Die erste Bezeichnung gilt dem Stil; die zweite dem Stoff.

Jedes Publikum verabscheut das Neue, weil es sich davor fürchtet. Das Publikum sieht darin eine Form des Individualismus, eine Betonung von seiten des Künstlers, daß er sich seinen eigenen Stoff wählt und ihn nach seiner Vorstellung behandelt. Das Publikum hat ganz recht mit seiner Haltung.

Kunst ist Individualismus, und Individualismus ist eine aufrührerische, desintegrierende Macht. Darin liegt sein unschätzbarer Wert. Denn was der Individualismus aufzustören versucht, das ist die Eintönigkeit des Typischen, die Sklaverei des Hergebrachten, die Tyrannis der Gewohnheit, die Herabsetzung des Menschen auf das Niveau einer Maschine.

In der Kunst läßt das Publikum das Vergangene gelten, weil es nicht mehr zu ändern ist, und keinesfalls weil man es schätzt. Es verschluckt seine Klassiker im ganzen, ohne jemals auf den Geschmack zu kommen. Es läßt sie als etwas Unvermeidliches über sich ergehen, und da es sie nicht verderben kann, schwätzt es über sie.

Je abstrakter und ideeller eine Kunst ist, um so mehr offenbart sie uns den Charakter ihrer Zeit. Wenn wir ein Volk durch seine Kunst begreifen wollen, müssen wir seine Architektur und seine Musik betrachten.

Die Kunst drückt nichts als sich selbst aus. Das ist der Hauptsatz meiner neuen Ästhetik.

Kunst und Ethik:

Wenn man sie vermischt, kehrt das Chaos zurück.

Die Kunst steht außerhalb der Ethik, denn sie richtet ihr Augenmerk auf das Schöne, das Unsterbliche und ewig Wechselvolle. Zur Ethik gehören die niedrigeren und weniger intellektuellen Bereiche.

Es ist eine traurige Wahrheit, daß wir die Fähigkeit verloren haben, Dingen hübsche Namen zu geben. Namen sind alles. Ich streite nie um Handlungen. Mein Streit geht nur um Worte. Das ist der Grund, warum ich vulgären Realismus in der Literatur hasse. Der Mann, der einen Spaten Spaten nennen konnte, sollte gezwungen werden, einen zu benutzen. Das ist das einzige, wozu er taugt.

Die einzig glaubwürdigen Portraits sind Bilder, in denen sehr wenig von dem Modell und sehr viel vom Künstler enthalten ist.

Der Stil allein macht uns die Dinge glaubhaft – und nur der Stil. Die meisten unserer modernen Portraitmaler sind zur absoluten Vergessenheit verdammt. Sie malen nie, was sie sehen. Sie malen, was das Publikum sieht, und das Publikum sieht nie etwas.

Jedes Portrait, das mit Gefühl gemalt wurde, ist ein Portrait des Künstlers, nicht dessen, der ihm dafür gesessen hat. Dieser ist nur Zufall, nur die Gelegenheit. Nicht er wird durch den Maler offenbar, vielmehr ist es der Maler selbst, der sich auf der farbigen Leinwand offenbart.

Was ist die Wahrheit? In Fragen der Religion ist es einfach die Anschauungsweise, die überlebt hat. In Fragen der Wissenschaft die neueste Entdeckung. In Fragen der Kunst ist es die letzte Stimmung.

Der Weg der Paradoxe ist der Weg der Wahrheit. Um die Wahrheit zu prüfen, müssen wir sie seiltanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.

Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach. Unser heutiges Leben wäre sonst sehr langweilig und unsere moderne Literatur schlechterdings eine Unmöglichkeit!

So wird jenen, die die Wahrheit mehr lieben als die Schönheit, das letzte Geheimnis der Kunst immer verborgen bleiben.

Wenn man die Wahrheit sagt, kann man sicher sein, früher oder später ertappt zu werden.

Eine Wahrheit hört auf, wahr zu sein, wenn sie von mehr als einer Person geglaubt wird.

Nichts von dem, das sich tatsächlich ereignet, ist von irgendwelcher Bedeutung.

Es ist eine schreckliche Sache für einen Mann, wenn er plötzlich entdeckt, daß er sein Leben lang nichts als die Wahrheit gesagt hat.

Er würde der beste Kerl sein, wenn er nur nicht immer die Wahrheit sagen wollte.

Die Wahrheit ist etwas, wovon ich mich so bald wie möglich befreie!

Nicht so große Worte. Sie besagen so wenig.

Ich könnte es nicht anwenden. Es ist allzu wahr.

Die Engländer entwerten immer Wahrheiten zu Fakten. Wenn eine Wahrheit zum Faktum wird, verliert sie jeden intellektuellen Wert.

Leben und Moralität

Wirklich zu leben ist das Kostbarste auf der Welt. Die meisten Menschen existieren bloß, sonst nichts.

Im Leben gibt es tatsächlich nichts Entscheidendes oder Unwichtiges. Alle Dinge sind gleichwertig und gleichgewichtig.

Völlig frei zu sein und zugleich völlig unter der Herrschaft des Gesetzes zu stehen ist das ewige Paradoxon des Menschenlebens, das jeder Augenblick uns spürbar macht.

Die erste Pflicht im Leben besteht darin, so künstlich wie möglich zu sein. Worin die zweite Pflicht besteht, hat noch niemand herausgefunden.

Ich weiß nur, daß das Leben nicht ohne barmherzige Nachsicht begriffen, nicht ohne barmherzige Nachsicht gelebt werden kann.

Man sollte Anteil nehmen an der Freude, der Schönheit, der Farbigkeit des Lebens. Je weniger über die Kümmernisse des Lebens gesagt wird, desto besser.

»Die Seele ist alt geboren und wird jung. Das ist die Komödie des Lebens.« »Und der Leib ist jung geboren und wird alt. Das ist die Tragödie des Lebens.«

»Das Buch des Lebens beginnt mit einem Mann und seiner Frau in einem Garten.« »Und endet mit Offenbarungen.«

Die Welt ist von Narren gemacht, damit Weise darin leben.

Meiner Ansicht nach ist das Geheimnis des Lebens überhaupt, die Dinge sehr, sehr leichtzunehmen.

Das Geheimnis des Lebens ist, nie eine Gemütsbewegung zu haben, die unkleidsam ist.

Das Geheimnis des Lebens ist, daß man das Vergnügen schätzt, sich schrecklich, schrecklich zu irren.

Des Lebens Geheimnis – es liegt in der Kunst.

Die Form ist alles. Sie ist das Geheimnis des Lebens. Gib der Trauer Ausdruck, und sie wird dir teuer. Gib der Freude Ausdruck, und sie vertieft dein Entzücken. Willst du Liebe empfinden? Dann stimme eine Liebeslitanei an, und die Worte werden jene Sehnsucht hervorrufen, von der die Welt glaubt, daß sie ihr entströmen. Zernagt Gram dein Herz? Dann tauche in die Sprache des Grams ein, lerne ihren Ausdruck von Prinz Hamlet und der Königin Constantia, und du wirst entdecken, daß der reine Ausdruck eine Form der Tröstung ist und daß die Form, die der Ursprung der Leidenschaft ist, gleichzeitig den Tod des Schmerzes bedeutet.

Die Suche nach der Schönheit das wahre Geheimnis des Lebens.

Gewöhnliche Leute warteten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse erschloß, doch den wenigen Auserwählten wurden die Mysterien des Lebens enthüllt, ehe der Schleier fortgezogen war.

Man sollte die Farbe des Lebens in sich aufnehmen, sich aber nie an seine Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind immer gewöhnlich.

Das Leben hält stets Mohn in den Händen.

Sie wollen mir doch nicht erzählen, Sie hätten das Leben erschöpft. Wenn einer das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat.

Alles wird zum Genuß, wenn man es zu oft tut.

Das ist eines der wichtigsten Geheimnisse im Leben.

Wenn ein Mensch das Leben künstlerisch ansieht, dann ist sein Hirn für ihn das Herz.

Das Leben wird nicht von Wille und Absicht regiert. Das Leben ist eine Frage der Nerven und Fibern, der langsam aufgebauten Zellen, in denen sich der Gedanke verbirgt und die Leidenschaft ihre Träume hat.

In dieser Welt gibt es nur zwei Tragödien. Die eine ist, nicht zu bekommen, was man möchte, und die andere ist, es zu bekommen.

Gefahr ist im heutigen Leben so selten geworden.

Ich überrasche mich immer selbst. Das ist das einzige, was das Leben lebenswert macht.

Das Lebensziel, wenn man eins hat, ist einfach, stets nach Versuchungen Ausschau zu halten. Es gibt nicht annähernd genug. Mitunter verbringe ich einen ganzen Tag, ohne auch nur auf eine einzige zu stoßen. Das ist ganz fürchterlich. Das macht einen so nervös wegen der Zukunft.

Das Leben ist niemals gerecht.

Und vielleicht ist es für die meisten von uns gut, daß es nicht gerecht ist.

Gedächtnis ist das Tagebuch, das wir alle bei uns tragen.

In Freiheit mit Blumen, Büchern und dem Mond – wer könnte da nicht glücklich sein?

Es gibt zwei Arten von Menschen auf Erden, zwei große Überzeugungen, zwei unterschiedliche Wesensformen: nämlich die eine, für die das Leben Betriebsamkeit ist, und die andere, der es Nachdenken bedeutet.

Dieser junge Dandy erkannte, daß das Leben selbst eine Kunst ist und seine Stilformen hat, nicht weniger als die Künste, die es auszudrücken versucht.

Philosophisch gesprochen ist die Grundlage des Lebens – die Energie des Lebens, wie Aristoteles sagen würde – einfach das Verlangen nach Ausdruck, und die Kunst bietet immer die mannigfaltigsten Formen dar, durch welche der Ausdruck erreicht werden kann. Das Leben greift sie auf und benutzt sie, selbst wenn sie zu seinem Verderben sind.

Der Mensch ist, wenn er handelt, eine Marionette. Wenn er etwas schildert, ist er ein Dichter. Darin liegt das ganze Geheimnis.

Die Welt wird durch den Sänger für den Träumer geschaffen.

Wer in seine Vergangenheit schaut, verdient nicht, eine Zukunft vor sich zu haben, in die er schauen könnte.

In allen unwichtigen Dingen ist Stil, nicht Aufrichtigkeit, das Wesentliche. In allen wichtigen Dingen ist Stil, nicht Aufrichtigkeit, das Wesentliche.

Der Häßliche und der Dumme kommen auf dieser Welt am besten weg. Sie können gemütlich dasitzen und das Spiel begaffen. Wenn sie auch nichts vom Sieg wissen, es bleibt ihnen zumindest erspart, die Niederlage kennenzulernen. Sie leben so, wie wir alle leben sollten, ungestört, gleichgültig und ohne Ruhelosigkeit. Sie bringen weder Verderben über andere, noch wird ihnen dergleichen durch andere zuteil.

Ich bin dahin gelangt, die Verschwiegenheit zu lieben. Sie scheint mir das einzige zu sein, was uns heutzutage unser Leben geheimnisvoll und wunderbar machen kann. Das Alltäglichste wird reizvoll, wenn man es verheimlicht.

Eine Sensation kann man nie zu teuer bezahlen.

Es kommt häufig vor, daß wir mit anderen zu experimentieren glauben und dabei in Wahrheit mit uns selbst experimentieren.

Ich liebe das Spiel. Es ist soviel wirklicher als das Leben.

Häufig spielen sich die echten Lebenstragödien auf so unkünstlerische Weise ab, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, durch ihre absolute Inkonsequenz, durch ihre abgeschmackte Sinnlosigkeit, ihren völligen Mangel an Stil verletzen.

Seines eigenen Lebens Zuschauer zu werden bedeutet, den Leiden des Lebens zu entrinnen.

So etwas wie ein Omen gibt es nicht. Das Schicksal sendet uns keine Herolde. Dazu ist es zu weise oder zu grausam.

Aber für seine eigenen Fehler zu leiden – ach! – das ist der Stachel des Lebens.

Ich hab häufig Gewissensgeld gezahlt. Ich hegte die abenteuerliche Hoffnung, ich könnte das Schicksal besänftigen.

Kein Mensch kann leben, wenn er sich noch seines Nächsten Bürde auf die Schultern lädt.

Ich hab die Welt nicht gemacht. Mögen Gott und der Zar sich um sie kümmern.

Kein Verbrechen ist gewöhnlich, aber Gewöhnlichkeit ist ein Verbrechen. Gewöhnlich ist das Benehmen der anderen.

Ich selbst würde alles für eine neue Erfahrung hingeben und weiß doch, daß es so etwas wie eine neue Erfahrung überhaupt nicht gibt.

Ich glaube, ich wäre eher bereit, für das zu sterben, woran ich nicht glaube, als für das, was ich als wahr erachte. Ich würde den Scheiterhaufen besteigen um eines Gefühls willen und Skeptiker bleiben, bis zuletzt!

Nur eins wird für mich immer unendlich faszinierend sein, das Mysterium der Stimmungen. Herr über diese Stimmungen zu sein ist köstlich, von ihnen beherrscht zu werden noch köstlicher.

Es gibt schreckliche Versuchungen, und es erfordert Kraft, Kraft und Mut, ihnen nachzugeben.

Sein ganzes Leben in einem einzigen Augenblick aufs Spiel zu setzen, alles mit einem Wurf zu wagen, einerlei ob der Preis Macht oder Lust ist – darin liegt keine Schwäche. Darin liegt ein entsetzlicher, ein gewaltiger Mut.

Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung.

Vergnügen ist das einzige, wofür man leben sollte. Nichts altert so schnell wie das Glück.

Wer verlangt Konsequenz? Der Dummkopf und der Doktrinär, diese langweiligen Leute, die immer an ihren Prinzipien festhalten bis zum bitteren Ende, bis die Praxis sie ad absurdum führte. Ich verlange sie wahrhaftig nicht. Ich schreibe, wie Emerson, über die Tür meiner Bibliothek das Wort »Laune«.

Das Leben fordert uns einen allzu hohen Preis ab für seine Güter, und was wir ihm für das kläglichste seiner Geheimnisse zu entrichten haben, ist ungeheuerlich, ist ohne Maß.

Vergnügen, Vergnügen! Was sonst sollte einen irgendwohin führen?

Die Verehrung der Sinne ist oft und sehr zu Recht geschmäht worden, da die Menschen instinktiv ein natürliches Angstgefühl vor Leidenschaften und Gemütsregungen empfinden, die stärker zu sein scheinen als sie selbst und von denen sie wissen, daß sie sie mit den weniger hochorganisierten Lebewesen teilen.

Er wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen Geheimnisse zu offenbaren haben.

Nur die Sinne können die Seele heilen, so wie nur die Seele die Sinne heilen kann.

Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht.

Simple Vergnügen. Sie sind die letzte Zuflucht der Komplizierten.

Ich habe nie das Glück gesucht. Wer braucht Glück? Ich habe den Genuß gesucht.

Ich kann eine Gemütsbewegung nicht wiederholen. Niemand kann das, außer den Sentimentalen.

Nur oberflächliche Leute brauchen Jahre, um ein Gefühl loszuwerden. Einer, der seiner selbst Herr ist, kann einen Kummer so leicht beenden, wie er sich ein Vergnügen ausdenken kann.

Gut sein heißt mit sich selbst in Einklang sein.

Mißklang ist die Nötigung, mit anderen zu harmonisieren. Das eigene Leben – das ist das Wichtigste.

Optimismus beginnt mit einem breiten Grinsen, und Pessimismus endet mit einer blauen Brille. Außerdem sind beide nur Pose.

Alle Beweggründe sind albern.

Man sollte immer ehrlich spielen – wenn man die Trümpfe in der Hand hat.

Man sollte immer etwas unglaubhaft sein.

Nur die Oberflächlichen kennen sich selbst.

Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.

Wer zwischen Seele und Körper irgendeinen Unterschied sieht, besitzt keines von beidem.

Die Harmonie von Seele und Leib – wieviel das bedeutet! Wir in unserm Wahnsinn haben die beiden getrennt und einen Realismus erfunden, der vulgär ist, eine Idealität, die unwirksam ist.

Dennoch glaube ich, wenn auch nur ein einziger sein Leben voll und ganz auslebte, jedem Gefühl Gestalt und jedem Gedanken Ausdruck gäbe und jeden Traum verwirklichte – dann, glaube ich, würde die Welt einen so frischen Antrieb zur Freude erhalten, daß wir all die mittelalterlichen Krankheiten vergessen und zu dem hellenischen Ideal zurückkehren würden – möglicherweise zu etwas Schönerem, Köstlicherem als dem hellenischen Ideal.

Seine Seele in eine anmutige Form zu gießen und sie einen Augenblick darin verweilen zu lassen; die Ansichten des eigenen Geistes als Echo zurückkehren zu hören, bereichert um den Wohlklang von Leidenschaft und Jugend; die eigene Stimmung dem andern zu vermitteln, als wäre sie ein feines Fluidum oder ein seltsamer Duft: darin lag eine echte Freude – möglicherweise die am meisten befriedigende Freude, die uns in einer so beschränkten und vulgären Zeit geblieben war, in einer Zeit, die überaus sinnlich in ihren Genüssen und überaus gewöhnlich in ihren Zielen war.

Die Basis des Charakters ist die Willenskraft.

Noch immer bleibt auf dem Gebiet der Seelenforschung viel zu tun.

Wir haben nur die Oberfläche der Seele berührt, nichts weiter. In einer einzigen Gehirnzelle sind schönere und schrecklichere Dinge bewahrt, als selbst jene sich erträumen ließen.

Die Seele des Menschen ist nicht an eine Erscheinungsform gebunden. Es gibt so viele Möglichkeiten der Vollkommenheit, wie es unvollkommene Menschen gibt.

Erfahrung ist der Name, den jeder seinen Irrtümern gibt.

Jeder Erfolg, den wir erzielen, verschafft uns einen Feind. Um beliebt zu sein, muß man ein unbedeutender Mensch sein.

Man sollte nie etwas tun, worüber man nach Tisch nicht plaudern kann.

Ich habe keine Angst vor dem Tod. Das Nahen des Todes ist es, wovor mir graust.

Eine Zigarette ist das vollendete Beispiel eines vollendeten Genusses. Sie ist köstlich und läßt einen unbefriedigt.

Erziehung ist eine wunderbare Sache, doch muß man sich von Zeit zu Zeit besinnen, daß nichts, was von Wert ist, gelehrt werden kann.

Natürlich sein ist bloß Pose, und die aufreizendste, die ich kenne.

Lachen ist durchaus kein schlechter Beginn für eine Freundschaft und ihr bei weitem bestes Ende.

Ich mache einen großen Unterschied zwischen den Leuten. Ich erwähle meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem guten Namen und meine Feinde nach ihrer gesunden Vernunft. Man kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl seiner Feinde. Ich besitze nicht einen, der ein Dummkopf wäre. Alle sind Menschen von einer gewissen geistigen Fähigkeit, und deshalb schätzen sie mich alle.

Mir sind Menschen lieber als Prinzipien, und Menschen ohne Prinzipien sind mir lieber als sonst etwas auf der Welt.

Nur Dumme urteilen nicht nach dem, was sie sehen. Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.

Philanthropen verlieren jedes Gefühl für Menschlichkeit. Das ist ihr hervorstechender Charakterzug.

Nur die oberflächlichen Qualitäten überdauern. Die tiefere Natur des Menschen wird bald entlarvt.

Eigentlich sage ich gewöhnlich, was ich wirklich denke. Heutzutage ein großer Fehler. Man setzt sich so sehr der Gefahr aus, verstanden zu werden.

Eine strenge und unumstößliche Regel, was man lesen sollte und was nicht, ist albern. Man sollte alles lesen. Mehr als die Hälfte unserer heutigen Bildung verdanken wir dem, was man nicht lesen sollte.

Ich weiß natürlich, wie wichtig es ist, eine geschäftliche Verabredung nicht einzuhalten, wenn man sich ein Gefühl für die Schönheit des Lebens bewahren will.

Ich habe nie Appetit, wenn ich nicht zuerst eine Blume fürs Knopfloch habe.

Es ist immer schmerzhaft, sich von Leuten zu trennen, die man für sehr kurze Zeit gekannt hat. Die Abwesenheit alter Freunde kann man mit Gleichmut ertragen. Aber die vorübergehende Trennung von jemandem, dem man gerade vorgestellt wurde, ist fast unerträglich.

Ich reise nie ohne mein Tagebuch. Man sollte im Zug immer etwas Aufregendes zum Lesen haben.

Schauspieler sind so glücklich dran. Sie können sich aussuchen, ob sie in einer Tragödie oder in einer Komödie auftreten wollen, ob sie leiden oder vergnügt sein, lachen oder Tränen vergießen wollen. Aber im wirklichen Leben ist das anders. Die meisten Männer und Frauen sind gezwungen, Rollen zu spielen, für die sie nicht geeignet sind.

Die Welt ist eine Bühne, aber das Stück ist schlecht besetzt.

Handlungen sind die erste Tragödie im Leben, Worte die zweite. Worte sind vielleicht die schlimmste. Worte sind erbarmungslos …

Wenn ich mich im Park herumtrieb oder die Picadilly hinabschlenderte, pflegte ich jeden anzusehen, der an mir vorüberging, und mich mit wahnsinniger Neugier zu fragen, welch ein Leben er wohl führen mochte. Manche faszinierten mich. Andere erfüllten mich mit Schrecken. Ein köstliches Gift lag in der Luft. Ich empfand ein heftiges Verlangen nach Sensationen …

Ich verabscheue meine Verwandten. Das kommt vermutlich daher, daß unsereins es nicht ausstehen kann, wenn andere Leute dieselben Fehler haben wie wir.

Verdammte Plage, die Verwandten! Aber sie machen einen so verdammt achtbar.

Zuerst lieben die Kinder ihre Eltern. Nach einer gewissen Zeit fällen sie ihr Urteil über sie. Und selten, wenn überhaupt je, verzeihen sie ihnen.

Die Liebe einer Mutter ist natürlich sehr rührend, aber oft merkwürdig egoistisch.

Ihre Mutter ist eine herzensgute Frau. Aber gute Frauen haben so beschränkte Ansichten vom Leben, ihr Horizont ist so eng, ihre Interessen so unbedeutend.

Einmal in der Woche mit den eigenen Verwandten zu speisen genügt vollauf.

Da ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir ein, daß ich nie einen Mann seinen Bruder habe erwähnen hören. Der Gegensatz ist anscheinend den meisten Männern zuwider.

Ich habe nie in meinem Leben einen Bruder gehabt und habe bestimmt nicht die geringste Absicht, in Zukunft je einen zu bekommen.

Niemand schert sich heutzutage um entfernte Verwandte. Sie sind schon vor Jahren aus der Mode gekommen.

Ich kenne eine Menge Leute, die hunderttausend Dollar hergeben würden, um einen Großvater zu besitzen, und noch viel mehr für ein Familiengespenst.

Ich fürchte, du hast dem Gespräch von Leuten zugehört, die älter sind als du. Das hat immer seine Tücken, und wenn du das zur Gewohnheit werden läßt, wirst du entdecken, wie fatal es sich auf jede intellektuelle Entwicklung auswirkt.

Moral ist einfach die Haltung, die wir gegen Leute einnehmen, von denen wir persönlich nicht erbaut sind.

Der Schrecken vor der Gesellschaft, die das Fundament der Moral ist, der Schrecken vor Gott, der das Geheimnis der Religion ist – das sind die beiden Dinge, die uns beherrschen.

Kunst und Moral sind völlig verschiedene und getrennte Bereiche.

Ich billige oder mißbillige niemals etwas. Das ist eine abgeschmackte Haltung dem Leben gegenüber. Wir sind nicht in die Welt gesetzt worden, um uns mit unseren moralischen Vorurteilen aufzuspielen.

Genuß ist der Prüfstein der Natur, ist ihr Zeichen der Zustimmung. Wenn wir glücklich sind, sind wir immer gut; aber wenn wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich.

Ich moralisiere nie. Ein Mann, der moralisiert, ist gewöhnlich ein Heuchler, und eine Frau, die moralisiert, ist unweigerlich häßlich.

Intellektuelle Verallgemeinerungen sind stets interessant, aber moralische Verallgemeinerungen bedeuten absolut nichts.

Der einzige Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Sünder ist, daß jeder Heilige eine Vergangenheit hat und jeder Sünder eine Zukunft.

Wenn Sünder zu Heiligen sprechen, sind sie immer roh.

Romantische Kunst befaßt sich mit dem Ausnahmefall und mit dem Individuum. Gute Menschen, da sie nun einmal normale und daher alltägliche Typen sind, sind künstlerisch unergiebig. Böse Menschen sind, künstlerisch gesehen, faszinierende Studienobjekte. Sie sind farbig, anders, fremdartig.

Gute Menschen reizen die Geduld, böse Menschen reizen die Phantasie.

Der Puritanismus ist niemals so offensiv und destruktiv wie in seinem Verhalten zur Kunst. Auf diesem Gebiet ist sein Einfluß von Grund auf schädlich.

Außerdem hat er die schlimme Angewohnheit, sich in moralischen Platitüden zu ergehen. Er versichert uns andauernd, gut sein bedeute gut sein und böse sein bedeute böse sein. Manchmal wirkt er fast erbaulich.

Der Tugendbold ist ein höchst interessantes psychologisches Phänomen, und obwohl von allen Arten der Pose die moralische die anstößigste ist, will es immerhin etwas heißen, überhaupt eine Pose zu haben.

Es ist ein Verhängnis mit allen guten Vorsätzen. Sie werden unweigerlich zu früh gefaßt.

Jede Beschäftigung mit Vorstellungen von gutem und schlechtem Benehmen zeigt einen Stillstand in der geistigen Entwicklung an.

Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, in wissenschaftliche Gesetze einzugreifen. Ihr Ursprung ist pure Eitelkeit. Ihr Resultat ist entschieden gleich Null.

Gute Vorsätze sind Schecks, auf eine Bank gezogen, bei der man kein Konto hat.

Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten.

Die Nächstenliebe ruft eine Menge Unheil hervor.

Das bloße Vorhandensein des Gewissens, dieser Fähigkeit, von der die Menschen heutzutage so töricht daherreden und auf die sie aus Unwissenheit so stolz sind, ist ein Zeichen unserer unvollkommenen Entwicklung.

Tugenden! Wer weiß, was Tugenden sind, du nicht, ich nicht, niemand.

Alle Nachahmung in Dingen der Moral und im Leben ist von Übel.

Jedes Mitgefühl ist edel, aber Mitgefühl mit dem Leiden ist am wenigsten edel. Es ist mit Selbstsucht vermischt. Es trägt den Keim des Ungesunden in sich. Es liegt eine gewisse Angst um unsere eigene Sicherheit darin. Wir fürchten, selbst in den gleichen Zustand wie der Aussätzige oder der Blinde zu geraten, und wir fürchten, daß dann niemand für uns sorgen würde.

Mitgefühl für den Schmerz wird es natürlich immer geben.

Es mag dem Menschen das Elend erleichtern, aber das Elend selbst bleibt.

Ich kann mit allem Mitleid haben, außer mit Leiden.

Dafür habe ich kein Mitleid. Es ist zu häßlich, zu abscheulich und zu peinlich. Es liegt etwas schrecklich Morbides in dem heutigen Mitleid mit dem Schmerz. Man sollte die Farbe, die Schönheit, die Lebensfreude mitempfinden. Je weniger über die Betrübnisse des Lebens geredet wird, um so besser ist es.

Ich billige auch keineswegs dieses moderne Mitgefühl mit Kranken. Ich halte es für morbid. Krankheit, gleich welcher Art, ist schwerlich etwas, das man bei anderen ermutigen sollte. Gesundheit ist die erste Pflicht im Leben.

So etwas wie einen guten Einfluß gibt es nicht.

Jeder Einfluß ist unmoralisch – unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.

Weil einen Menschen beeinflussen soviel bedeutet wie ihm die eigene Seele geben. Er denkt nicht mehr seine natürlichen Gedanken oder entflammt in seinen natürlichen Leidenschaften. Seine Tugenden gehören in Wahrheit nicht ihm. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind geborgt. Er wird das Echo der Musik eines andern, der Darsteller einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Das Ziel des Lebens ist Selbstentfaltung. Seine eigene Natur vollständig zu verwirklichen – das ist es, wozu jeder von uns da ist. Heutzutage haben die Leute Angst vor sich selbst. Sie haben die höchste aller Pflichten vergessen, die Pflicht, die man sich selbst schuldig ist.

Die Menschen nehmen sich selbst zu ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Hätte der Höhlenmensch zu lachen verstanden, wäre die Weltgeschichte anders verlaufen.

Er kam prinzipiell zu spät, da sein Grundsatz lautete, Pünktlichkeit stehle einem die Zeit.

Ihr Leute, die ihr soviel Wert auf Konsequenz legt, habt genauso viele Launen wie andere. Der einzige Unterschied ist, daß eure Launen ziemlich sinnlos sind.

Mäßigung ist eine fatale Sache. Genug ist so schlecht wie eine Mahlzeit. Mehr als genug ist so gut wie ein Festschmaus.

Pflicht ist das, was man von anderen erwartet, nicht, was man selbst tut.

Maß ist etwas Verhängnisvolles.

Nichts ist so erfolgreich wie das Übermaß.

Die Stoiker. Es sind unkultivierte Leute. Sie sind lächerlich.

Weder Kunst noch Wissenschaft kennen moralische Zustimmung oder Ablehnung.

Die Moral ist mir keine Stütze. Ich bin der geborene Antinomist. Ich gehöre zu denen, die für die Ausnahmen geschaffen sind, nicht für die Regel.

Während ich weiß, daß in dem, was man tut, nie ein Unrecht liegt, sehe ich ein, daß in dem, was man wird, Unrecht liegen kann. Es ist gut, das gelernt zu haben.

Wer Buße tut in Sack und Asche, ist ein Tropf, doch wer Buße tut mit einem Anzug von Doré, den er einem anderen schenken will, ist des Paradieses würdig.

Ich habe nie einen moralwütigen Menschen getroffen, der nicht herzlos, grausam, rachsüchtig, strohdumm und ohne die geringste Menschenliebe gewesen wäre. Sogenannte moralische Menschen sind wilde Tiere. Lieber hätte ich fünfzig unnatürliche Laster als eine unnatürliche Tugend. Denn die unnatürliche Tugend macht denen, die Leid tragen, die Welt zur vorzeitigen Hölle.

Genie und Laster

Dennoch besteht kein Zweifel darüber, daß Genie länger währt als Schönheit. Das erklärt die Tatsache, daß wir uns alle solche Mühe geben, uns übermäßig zu bilden. In dem wilden Kampf ums Dasein brauchen wir etwas Dauerhaftes, und deshalb stopfen wir uns den Kopf voll mit Abfall und Wahrheiten, in der törichten Hoffnung, unsern Platz zu behaupten. Der gründlich Gebildete – er ist das heutige Ideal. Und der Geist des gründlich Gebildeten ist etwas Fürchterliches. Er gleicht einem Antiquitätenladen: nichts als Scheußlichkeiten und Staub, und alles über seinen eigentlichen Wert veranschlagt.

Ich liebe es, Genies anzuschauen und schönen Leuten zuzuhören.

Genies reden soviel.

Eine so schlechte Angewohnheit! Und immer denken sie über sich selbst nach.

Das Publikum verzeiht alles – außer Genie.

Der Ausdruck der vollkommenen Persönlichkeit ist nicht Empörung, sondern Ruhe.

Die wahre Persönlichkeit des Menschen wird wunderbar sein, wenn sie in Erscheinung tritt. Sie wird natürlich und einfach wachsen, wie eine Blume oder wie ein Baum wächst. Sie wird nicht zwiespältig sein. Sie wird nicht überreden wollen und nicht streiten. Sie wird nichts beweisen wollen. Sie wird alles wissen. Und doch wird sie sich nicht um das Wissen bemühen. Sie wird Weisheit besitzen. Ihr Wert wird nicht an materiellen Maßstäben gemessen werden. Sie wird nichts ihr eigen nennen. Und doch wird sie über alles verfügen, und was immer man ihr wegnimmt, wird sie nicht ärmer machen, so groß wird ihr Reichtum sein. Sie wird sich anderen nicht aufdrängen oder verlangen, wie sie selbst zu sein. Sie wird sie lieben, weil sie so verschieden sind. Und gerade weil sie sich nicht um die andern kümmert, wird sie allen helfen, wie etwas Schönes uns hilft, durch das, was es ist. Die Persönlichkeit des Menschen wird wundervoll sein. So wundervoll wie das Wesen eines Kindes.

Und sie wird keine anderen Gesetze als die eigenen anerkennen; keine andere Autorität als die eigene.

Für mich besteht natürlich der Sinn des Lebens darin, die eigene Persönlichkeit zu verwirklichen – die eigene Natur, und jetzt wie ehedem verwirkliche ich meine Möglichkeiten durch die Kunst.

Ich weiß, daß es so etwas wie »sein Leben ändern« nicht gibt: man dreht sich nur beständig innerhalb des Kreises der eigenen Persönlichkeit.

Er hatte die Abneigung, angestarrt zu werden, die Genies in ihren späten Lebensjahren bekommen und die gewöhnliche Leute nie verlieren.

Die meisten Leute fragen: »Was tun Sie?«, wogegen die Frage: »Was denken Sie?« die einzige wäre, die ein zivilisiertes Individuum einem andern jemals zuflüstern dürfte.

Das, was in den Augen der Gesellschaft die schwerste Sünde ist, deren ein Bürger sich schuldig machen kann, nämlich die Kontemplation, in den Augen der Höchstkultivierten die eigentlich menschenwürdige Beschäftigung.

Dafür, daß er gelegentlich etwas übermäßig herausgeputzt ist, entschädigt er, indem er stets entschieden übermäßig gebildet ist.

Ich bin schwärmerisch, wahnsinnig angebetet worden. Leider. Es war eine ungeheure Last.

Auch ein Jünger ist einem von Nutzen. Er steht hinter dem Thron und flüstert einem im Augenblick des Triumphs ins Ohr, daß man trotz allem unsterblich sei.

Jeder große Mann hat heutzutage seine Jünger, und immer ist es Judas, der die Biographie schreibt.

Früher verherrlichten wir unsere Helden. Die moderne Manier ist es, sie herabzuwürdigen. Billige Ausgaben großer Bücher können etwas höchst Erfreuliches sein, aber billige Ausgaben großer Männer sind einfach abscheulich.

Egoismus besteht nicht darin, daß man sein Leben nach seinen Wünschen lebt, sondern darin, daß man von anderen verlangt, daß sie so leben, wie man es wünscht.

Selbstlosigkeit heißt andere in Frieden lassen und sich nicht in ihre Angelegenheiten mischen.

Es ist keineswegs egoistisch, an sich zu denken. Wer nicht an sich denkt, denkt überhaupt nicht. Es ist äußerst egoistisch, von dem Mitmenschen zu verlangen, daß er in derselben Weise denken, dieselben Meinungen haben soll. Warum sollte er das? Wenn er denken kann, wird er wahrscheinlich verschieden denken. Wenn er nicht denken kann, ist es lächerlich, überhaupt Gedanken irgendwelcher Art von ihm zu verlangen.

Unter dem Individualismus werden die Menschen ganz natürlich und vollkommen selbstlos sein

Auch werden die Menschen keine Egoisten mehr sein, wie sie es jetzt sind. Denn derjenige ist ein Egoist, der Ansprüche an andere macht, und der Individualist wird gar nicht den Wunsch danach verspüren. Es wird ihm kein Vergnügen bereiten. Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch das Mitgefühl lebhaft empfinden und es frei und spontan üben.

Der Individualismus tritt mit überhaupt keinen Forderungen an den Menschen heran. Er entsteht natürlich und unvermeidlich aus dem Menschen selbst. Zu diesem Ziel tendiert alle Entwicklung hin. Zu dieser Differenzierung reifen alle Organismen heran. Er ist die Vollendung, die jeder Lebensform inhärent ist und zu der sich jede Lebensform hin entwickelt. Und so übt der Individualismus keinen Zwang auf den Menschen aus. Im Gegenteil, er sagt dem Menschen, er solle keinen Zwang auf sich dulden. Er versucht nicht, die Menschen zu zwingen, gut zu sein. Er weiß, daß die Menschen gut sind, wenn man sie in Frieden läßt. Der Mensch wird den Individualismus aus sich heraus entwickeln, und er entwickelt ihn jetzt auf diese Weise. Zu fragen, ob der Individualismus praktizierbar ist, gleicht der Frage, ob die Evolution praktizierbar ist. Evolution ist das Gesetz des Lebens, und es gibt keine andere Entwicklung als hin zum Individualismus. Wo sich diese Tendenz nicht ausdrückt, liegt immer künstlich aufgehaltenes Wachstum vor, Krankheit oder Tod.

Der neue Individualismus ist der neue Hellenismus.

Wer andere verstehen möchte, muß seine eigene Individualität vertiefen.

Je länger man Leben und Literatur studiert, desto deutlicher empfindet man, daß hinter allem Bewundernswerten das Individuum steht und daß es nicht der Augenblick ist, der den Menschen ausmacht, sondern daß es der Mensch ist, der die Zeit erschafft.

Weil die Kunst aus der Persönlichkeit kommt, kann sie sich auch nur der Persönlichkeit enthüllen, und aus der Begegnung der beiden entspringt die wahre interpretierende Kritik.

Die Entwicklung der Rasse hängt von der Entwicklung des einzelnen ab, und wo die Selbsterziehung aufgehört hat, ein Ideal zu sein, da sinkt sofort der geistige Maßstab ab und geht oft ganz verloren. Wenn man auf einer Abendgesellschaft jemanden trifft, der ein ganzes Leben darauf verwandt hat, sich selbst zu erziehen, erhebt man sich vom Tisch, bereichert und im Bewußtsein, daß ein hohes Ideal einen Augenblick lang unser Dasein berührt und verklärt hat. Aber statt dessen neben einem Mann sitzen zu müssen, der ein ganzes Leben lang damit beschäftigt gewesen ist, andere zu erziehen! Was für eine schauderhafte Erfahrung! Wie erschreckend ist diese Unwissenheit, die unvermeidlich aus der fatalen Gewohnheit entsteht, die eigenen Ansichten mitzuteilen! Wie beschränkt ist der Gesichtskreis eines solchen Menschen! Wie sehr ödet er uns an, ja muß er sich selbst anöden mit seinen endlosen und kläglichen Wiederholungen! Wie mangelt ihm jedes Element geistigen Wachstums! In welchem circulus vitiosus bewegt er sich ständig!

Was ich unter einem vollkommenen Menschen verstehe, ist jemand, der sich unter vollkommenen Bedingungen entwickelt; jemand, der nicht verwundert, getrieben oder gelähmt oder von Gefahren umringt ist. Die meisten Persönlichkeiten sind dazu gezwungen gewesen, Rebellen zu sein. Die Hälfte ihrer Kraft ist in Auseinandersetzungen vergeudet worden.

Die wahre Vollendung des Menschen liegt nicht in dem, was er besitzt, sondern in dem, was er ist.

Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, den ich gern gründlich kennenlernen würde, aber ich sehe gerade jetzt keine Möglichkeit dazu.

Sich selbst zu lieben ist der Beginn eines lebenslänglichen Romans.

Doch während der Vorsatz, ein besserer Mensch zu werden, nur gedankenloser Heuchelei entspringt, ist es das Vorrecht dessen, der gelitten hat, ein tieferer Mensch zu werden.

Ich bin ein Träumer. Denn ein Träumer ist einer, der seinen Weg nur bei Mondlicht findet, und seine Strafe ist, daß er den Morgen vor der übrigen Welt dämmern sieht.

Mehr als einmal vergibt die Gesellschaft dem Verbrecher. Dem Träumer vergibt sie niemals.

Die Geheimnisse des Lebens und des Todes gehören nur jenen und jenen ganz allein, die der Ablauf der Zeit berührt und die nicht bloß die Gegenwart, sondern auch die Zukunft besitzen und die steigen und fallen können aus einer Vergangenheit des Ruhmes oder der Schande.

Es gelingt nur den großen Meistern des Stils, dunkel zu sein.

Er hat nie auch nur ein einziges Buch geschrieben, also kannst du dir vorstellen, wieviel er weiß.

Sie sind ein erstaunliches Geschöpf. Sie wissen mehr, als Sie zu wissen glauben, geradeso wie Sie, weniger wissen, als Sie wissen müßten.

Wenn Leute mit mir übereinstimmen, habe ich immer das Gefühl, ich muß mich irren.

»Ich hasse es, mich bilden zu lassen!«

»Es bringt einen fast auf eine Ebene mit den kommerziellen Schichten.«

Das Unerwartete zu erwarten beweist einen durchaus modernen Intellekt.

Man sollte niemals anderen zuhören. Es ist ein Zeichen von Gleichgültigkeit den eigenen Zuhörern gegenüber.

Unzufriedenheit ist der erste Schritt zum Vorankommen eines Mannes oder einer Nation.

Jeder von uns trägt Himmel und Hölle in sich.

Ich halte den Dandy für einen äußerst interessanten Typ, sowohl vom künstlerischen wie auch vom psychologischen Standpunkt aus. Er scheint mir auf jeden Fall weitaus interessanter als der Spießer.

Das schlimmste Laster ist die Seichtheit.

Das einzig Schreckliche auf der Welt ist Langeweile.

Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt.

Die Leute erheben ihr Geschrei wider den Sünder, doch ist es nicht der Sünder, sondern der Dummkopf, der uns zur Schande gereicht. Es gibt keine andere Sünde als die Dummheit.

Bosheit ist ein Mythos, den gute Menschen erfunden haben, um die seltsame Anziehungskraft der anderen zu erklären.

Die Menschheit wird Rousseau immer dafür lieben, daß er seine Sünden nicht dem Priester, sondern der Welt gebeichtet hat.

Die Sünde ist etwas, das sich einem Menschen ins Gesiecht schreibt. Sie läßt sich nicht verbergen. Die Leute schwatzen mitunter von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. Wenn ein Nichtswürdiger ein Laster besitzt, so offenbart es sich in den Linien seines Mundes, in den herabhängenden Lidern, sogar in der Form seiner Hände.

Es gibt Augenblicke, so meinen die Psychologen, in denen die Leidenschaft zur Sünde oder zu dem, was die Welt Sünde nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Fiber des Leibes, jede Gehirnzelle von furchtbaren Trieben durchdrungen zu sein scheint. Männer wie Frauen verlieren in solchen Augenblicken die Freiheit ihres Willens.

Jedes Verbrechen ist vulgär, so wie Vulgarität ein Verbrechen ist.

Das Verbrechen ist ausschließlich Sache der niederen Klassen. Ich tadle sie deswegen nicht im geringsten. Ich möchte meinen, das Verbrechen ist für sie das, was für uns die Kunst ist, einfach eine Methode, außergewöhnliche Gemütsbewegungen hervorzurufen.

Pöbelhaftigkeit – das Benehmen anderer Leute.
Falschheit ist die Treue anderer Leute.

Der Nachteil, wenn man etwas stiehlt, ist, daß man nie weiß, wie wundervoll das Gestohlene ist.

Ich liebe Patschen. Sie sind das einzige, was nie gefährlich ist.

Ich bin noch nie zuvor einem wirklich verdorbenen Menschen begegnet. Mir ist etwas bange. Ich fürchte so sehr, daß er aussehen wird wie jeder andere.

Das Lügen mit dem Ziel, die Jugend zu veredeln, das die Grundlage der häuslichen Erziehung bildet, ist hier und da noch Sitte bei uns, und seine Vorzüge sind in den frühen Schriften von Platos Buch ›Über den Staat‹ in so bewundernswürdiger Weise dargestellt.

Das Lügen um eines monatlichen Gehaltes willen ist natürlich nur allzu bekannt an der Fleet Street, und der Beruf eines politischen Leitartikelschreibers ist nicht ohne Vorteile.

Selbstaufopferung ist etwas, das durch ein Gesetz abgeschafft werden sollte. Sie ist so demoralisierend für die Leute, für die man sich aufopfert. Sie geraten immer auf einen schlechten Weg.

Nur geistig Verirrte streiten.

Vorbemerkung.

Der erste der drei Essays dieses Buches erschien unter dem Titel »The soul of man under socialism« im Februar 1891 im »Fortnightly Review«. – Man wird nun, wo dieser verschollene Essay wieder ans Licht kommt, verstehen, warum die englische Gesellschaft diesen genialen Mann, der einst ihr verhätschelter Liebling war, solange seine schönheitshungerige Seele mit ihnen zu spielen schien, später so tötlich haßte und so infam ins Elend stieß. Die Rache der Sklaven ist schrecklich, die Rancune der Herren aber ist unsäglich. Eine Einsicht, die einem oft verwandten Geiste, Friedrich Nietzsche, vielleicht nicht gefehlt hätte, wenn er nicht bloß Deutscher, sondern sogar Engländer gewesen wäre.

Zweitens folgt ein offener Brief, den Wilde im Jahre 1897, bald nach seiner Entlassung aus dem Zuchthause zu Reading, an den Herausgeber des »Daily Chronicle« richtete. Sein Inhalt berührt sich mit bestimmten Stellen des vorhergehenden Essays, so daß er hier an seinem Platze schien. Die Übersetzung erschien zuerst 1897.

Der dritte Essay entstammt einem 1882 in Philadelphia erschienenen Gedichtebuch: Rose-leaf and Apple-leaf von Rennell Rodd. O. W. schrieb unter dem Titel L’Envoi (Zueignung) dazu eine Einführung. Da sie hier selbständig erscheint und die Kunstauffassung Wildes zum erstenmal und in entscheidender Form ausspricht, schien der von uns gewählte Titel – der also nicht von Wilde stammt – angemessen.

G. L.

Der Sozialismus und die Seele des Menschen

Der größte Nutzen, den die Einführung des Sozialismus brächte, liegt ohne Zweifel darin, daß der Sozialismus uns von der schmutzigen Notwendigkeit, für andere zu leben, befreite, die beim jetzigen Stand der Dinge so schwer auf fast allen Menschen lastet. Es entgeht ihr in der Tat fast niemand.

Hie und da ist im Lauf des Jahrhunderts ein großer Forscher wie Darwin, ein großer Dichter wie Keats, ein scharfer kritischer Kopf wie Renan, ein ungemeiner Künstler wie Flaubert imstande gewesen, sich abzusondern, sich vor den lärmenden Ansprüchen der anderen zu retten, »im Schutz der Mauer zu stehen«, wie Plato sich ausdrückt, und so zu seinem eigenen unvergleichlichen Gewinn und zum unvergleichlichen und bleibenden Gewinn der ganzen Welt die Vollendung dessen zu erreichen, was in ihm war. Das sind aber Ausnahmen. Die meisten Menschen verderben ihr Leben mit einem heillosen, übertriebenen Altruismus – sie sind geradezu gezwungen, es zu tun. Sie sehen sich von scheußlicher Armut, scheußlicher Häßlichkeit, scheußlichem Hungerleben umgeben. Es ist unvermeidlich, daß ihr Gefühl durch all das stark erregt wird. Die Gefühle des Menschen bäumen sich schneller auf als sein Verstand, und – wie ich vor einiger Zeit in einem Aufsatz über das Wesen der Kritik gesagt habe – Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken. Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falschgerichtetem Eifer sehr ernsthaft und sehr gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht: sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit.

Sie suchen etwa das Problem der Armut dadurch zu lösen, daß sie den Armen am Leben halten; oder – das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung – dadurch, daß sie für seine Unterhaltung sorgen.

Aber das ist keine Lösung: das Übel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziels verhindert. Gerade wie die schlimmsten Sklavenhalter die waren, die ihre Sklaven gut behandelten und so verhinderten, daß die Gräßlichkeit der Einrichtung sich denen aufdrängte, die unter ihr litten, und von denen gewahrt wurde, die Zuschauer waren, so sind in den Zuständen unserer Gegenwart die Menschen die verderblichsten, die am meisten Gutes tun wollen; und wir haben es schließlich erlebt, daß Männer, die das Problem wirklich studiert haben und das Leben kennen – gebildete Männer, die im Londoner Eastend leben – auftreten und die Gemeinschaft anflehen, ihre altruistischen Gefühle und ihr Mitleid, ihre Wohltätigkeit und dergleichen einschränken zu wollen. Das tun sie mit der Begründung, daß solches Wohltun herabwürdigt und entsittlicht. Sie haben völlig recht. Mitleid schafft eine große Zahl Sünden.

Auch das muß noch gesagt werden. Es ist unsittlich, das Privateigentum dazu zu benutzen, die schrecklichen Übel zu lindern, die die Institution des Privateigentums erzeugt hat. Es ist unsittlich und nicht loyal.

Im Sozialismus wird natürlich all das geändert sein. Es wird keine Menschen geben, die in stinkenden Höhlen und stinkenden Lumpen leben und kranke Kinder in unmöglicher und widerwärtiger Umgebung aufziehen. Die Sicherheit der Gesellschaft wird nicht wie heute von der Witterung abhängen. Wenn Kälte einsetzt, wird es nicht hunderttausend Arbeitslose geben, die in ekelhaftem Elend die Straßen ablaufen oder ihren Mitmenschen etwas vorweinen, bis sie ein Almosen kriegen, oder sich vor dem Tor eines abscheulichen Asyls für Obdachlose drängen, um ein Stück Brot und ein unsauberes Nachtquartier zu ergattern; jedes Mitglied der Gesellschaft wird an der allgemeinen Wohlfahrt und dem Gedeihen der Gesellschaft teilhaben, und wenn die Kälte kommt, wird darum in der Tat niemand im geringsten schlechter gestellt sein.

Andrerseits ist der Sozialismus lediglich darum von Wert, weil er zum Individualismus führt.

Der Sozialismus, Kommunismus, oder wie immer man den Zustand nennen will, gibt dadurch, daß er das Privateigentum in eine öffentlich-rechtliche Institution verwandelt und die Genossenschaft an die Stelle der Konkurrenz setzt, der Gesellschaft ihren eigentlichen Charakter, den eines durchweg gesunden Organismus, zurück und sichert jedem Glied der Gemeinschaft das materielle Wohlergehen. Er gibt in der Tat dem Leben seine rechte Grundlage und seine rechte Umgebung. Aber für die volle Entfaltung des Lebens zum höchsten Grad seiner Vollendung tut noch etwas mehr not. Was not tut, ist der Individualismus. Wenn der Sozialismus autoritär ist, wenn es in ihm Regierungen gibt, die mit ökonomischer Gewalt bewaffnet sind, wie jetzt mit politischer: wenn wir mit einem Wort den Zustand der industriellen Tyrannis haben werden, dann wird die letzte Stufe des Menschen schlimmer sein als die erste. Jetzt sind infolge des Vorhandenseins von Privateigentum sehr viele Menschen imstande, einen gewissen, recht beschränkten Grad des Individualismus zu erreichen. Entweder stehen sie nicht unter dem Zwange, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, oder sie sind imstande, ein Tätigkeitsfeld zu wählen, das ihnen wahrhaft entspricht und ihnen Freude macht. Das sind die Dichter, die Philosophen, die Forscher, die Geistmenschen – mit einem Wort, die wirklichen Menschen, die Menschen, die sich selbst verwirklicht haben und in denen die ganze Menschheit eine teilweise Verwirklichung findet. Andrerseits gibt es sehr viele Menschen, die nicht im Besitz von Privateigentum und immer in Gefahr sind, in Not und Hunger zu sinken, so sind sie gezwungen, die Arbeit von Lasttieren zu tun, Arbeit zu tun, die ihnen ganz und gar nicht entspricht, zu der sie aber durch die unerbittliche, unvernünftige, entwürdigende Tyrannei der Not gezwungen werden. Das sind die Armen, und bei ihnen gibt es keine Grazie, keine Anmut der Rede, keine Bildung oder Kultur oder Verfeinerung der Genüsse, keine Lebensfreude. Aus ihrer Gesamtkraft zieht die Menschheit viel materiellen Wohlstand. Aber nur dieses materielle Ergebnis ist der Gewinn, und der Arme an sich ist völlig wertlos. Er ist nur das winzigste Atom einer Kraft, die, soweit er in Betracht kommt, ihn vernichtet, der es sogar lieber ist, wenn er vernichtet ist, da er in diesem Fall williger ist.

Natürlich könnte man sagen, der Individualismus, wie er unter den Bedingungen des Privateigentums entsteht, sei nicht immer, nicht einmal in der Regel von edler und erfreulicher Art, und die Armen hätten, wenn ihnen auch Kultur und Grazie abgingen, doch viele Tugenden. Beide Behauptungen wären ganz richtig. Der Besitz von Privateigentum ist sehr oft äußerst entsittlichend, und das ist natürlich eine der Ursachen, warum der Sozialismus die Einrichtung abschaffen will. Das Eigentum ist wirklich in der Tat eine Last. Vor einigen Jahren reisten etliche im Lande herum und verkündeten, das Eigentum habe Pflichten. Sie sagten es so oft und so zum Überdruß, daß schließlich die Kirche angefangen hat, dasselbe zu sagen. Man hört es jetzt von jeder Kanzel herab. Es ist völlig richtig. Das Eigentum hat nicht nur Pflichten, sondern so viele Pflichten, daß es eine Last ist, viel davon zu besitzen. Fortwährend muß man aufs Geschäft achten, fortwährend werden Ansprüche geltend gemacht, fortwährend wird man behelligt. Wenn das Eigentum nur Annehmlichkeiten brächte, könnten wir es aushalten, aber seine Pflichten machen es unerträglich. Im Interesse der Reichen müssen wir es abschaffen. Die Tugenden der Armen können bereitwillig zugegeben werden und sind sehr zu bedauern. Man sagt uns oft, die Armen seien für Wohltaten dankbar. Einige von ihnen sind es ohne Frage, aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, unbotmäßig und aufsässig. Sie haben ganz recht, so zu sein. Sie fühlen, daß die Wohltätigkeit eine lächerlich ungenügende Art der Rückerstattung ist, oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlich von einem unverschämten Versuch seitens des Gefühlvollen begleitet ist, in ihr Privatleben einzugreifen. Warum sollten sie für die Brosamen dankbar sein, die vom Tische des reichen Mannes fallen? Sie sollten mit an der Tafel sitzen und fangen an, es zu wissen. Was die Unzufriedenheit angeht, so wäre ein Mensch, der mit solcher Umgebung und so einer niedrigen Lebenshaltung nicht unzufrieden sein wollte, ein vollkommenes Vieh. Unbotmässigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch die Unbotmässigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmässigkeit und Aufsässigkeit. Manchmal lobt man die Armen wegen ihrer Sparsamkeit. Aber den Armen Sparsamkeit zu empfehlen, ist ebenso grotesk wie beleidigend. Es ist dasselbe, als wollte man einem Halbverhungerten empfehlen, weniger zu essen. Von einem Stadt- oder Landarbeiter wäre es unmoralisch, sparen zu wollen. Niemand sollte gewillt sein, zu zeigen, daß er wie ein schlecht gefüttertes Stück Vieh leben kann. Viele lehnen es denn auch ab, und ziehen es vor, zu stehlen oder aber ins Armenhaus zu gehen, was manche für eine Form des Stehlens halten. Was das Betteln angeht, so ist es sicherer, zu betteln als zu nehmen, aber es ist vornehmer, zu nehmen als zu betteln. Wirklich: ein armer Mann, der undankbar, unsparsam, unzufrieden und aufsässig ist, ist vielleicht eine wirkliche Persönlichkeit und hat viel in sich. In jedem Fall ist es ein heilsamer Protest. Was die tugendhaften Armen angeht, so kann man sie natürlich bemitleiden, aber es fällt schwer, sie zu respektieren. Sie haben sich mit dem Feind in Unterhandlungen eingelassen und ihre Erstgeburt für eine Bettelsuppe verkauft. Sie müssen auch aussergewöhnlich dumm sein. Ich kann völlig verstehen, dass ein Mann Gesetze akzeptiert, die das Privateigentum schützen und erlauben, es aufzuhäufen, solange er selbst unter diesen Bedingungen imstande ist, sich irgend eine Form schönen und geistigen Lebens zu schaffen. Aber es ist für mich fast unglaublich, wie jemand, dessen Leben durch solche Gesetze verstümmelt und besudelt worden ist, ihre Fortdauer zu ertragen vermag.

Indessen ist die Erklärung in Wirklichkeit nicht schwer zu finden. Sie lautet einfach so. Elend und Armut sind so völlig entwürdigend, und üben eine so lähmende Wirkung auf die menschliche Natur aus, dass eine Klasse sich ihres eigenen Leidens niemals wirklich selbst bewusst wird. Es muss ihnen von andern Menschen gesagt werden, und sie glauben ihnen häufig durchaus nicht. Was manche grosse Unternehmer gegen die Agitatoren sagen, ist ohne Frage wahr. Agitatoren sind eine Art zudringlicher Störenfriede, die sich in eine völlig zufriedene Schicht der Bevölkerung begeben und die Saat der Unzufriedenheit unter sie säen. Das ist der Grund, warum Agitatoren so absolut notwendig sind. Ohne sie gäbe es in unserem unvollkommenen Gemeinwesen keinerlei Annäherung an die Kultur. Als die Sklaverei in Amerika unterdrückt wurde, geschah es nicht infolge irgend eines Vorgehens von Seiten der Sklaven, nicht einmal infolge einer ausgesprochenen Sehnsucht ihrerseits, frei zu sein. Sie wurde lediglich durch das gröblich ungesetzliche Vorgehen gewisser Agitatoren in Boston und andern Orten unterdrückt, die nicht selbst Sklaven oder Sklavenhalter waren und in Wirklichkeit mit der Frage gar nichts zu tun hatten. Ohne Zweifel waren es die Abolitionisten, die die Fackel entzündeten, die die ganze Sache anfingen. Und es ist seltsam zu sehen, dass sie bei den Sklaven selbst nicht nur wenig Beistand, sondern sogar kaum Sympathien fanden, und als die Sklaven am Ende des Krieges vor der Freiheit standen, und zwar vor einer so vollständigen Freiheit, dass sie die Freiheit hatten, zu verhungern, da tat vielen unter ihnen der neue Stand der Dinge bitter leid. Für denkende Menschen ist das tragischste Ereignis in der ganzen französischen Revolution nicht die Hinrichtung Marie Antoinettes, die getötet wurde, weil sie eine Königin war, sondern der Aufstand der ausgesogenen Bauern der Vendée, die sich freiwillig erhoben, um für die schmachvolle Sache des Feudalismus zu sterben.

Es ist also klar, dass es mit dem autoritären Sozialismus nicht geht. Unter dem jetzigen System kann wenigstens eine recht grosse Zahl Menschen ein Leben führen, das eine gewisse Summe Freiheit und Glück aufweist, aber unter einem Industriekasernensystem oder einem System wirtschaftlicher Tyrannei wäre niemand imstande, überhaupt irgend solche Freiheit zu haben. Es ist sehr schlimm, dass ein Teil unserer Gemeinschaft sich tatsächlich in Sklaverei befindet, aber der Vorschlag, das Problem so zu lösen, dass man die ganze Gemeinschaft versklavt, ist kindisch. Jedem muss völlig die Freiheit gelassen sein, sich selbst seine Arbeit auszusuchen. Keine Form des Zwangs darf geübt werden. Wenn Zwang herrscht, dann wird seine Arbeit nicht gut für den Arbeitenden sein und nicht gut für die andern. Unter Arbeit verstehe ich lediglich irgend eine Betätigung.

Ich glaube kaum, dass irgend ein Sozialist heutzutage im Ernst vorschlagen könnte, ein Inspektor solle jeden Morgen jedes Haus visitieren, um nachzusehen, ob jeder Bürger aufgestanden ist und sich an seine achtstündige körperliche Arbeit gemacht hat. Die Menschheit ist über diese Stufe hinausgekommen und überlässt diese Art Leben den Menschen, die sie sehr unvernünftiger Weise Verbrecher zu nennen beliebt. Aber ich gestehe, viele sozialistische Anschauungen, denen ich begegnet bin, scheinen mir mit unsaubern Vorstellungen von autoritärer Gewalt, wenn nicht tatsächlichem Zwang behaftet zu sein. Autoritäre Gewalt und Zwang können natürlich nicht in Frage kommen. Alle Vereinigung muss ganz freiwillig sein. Nur in freiwilligen Vereinigungen ist der Mensch schön.

Aber es kann gefragt werden, wie der Individualismus, der jetzt zu seiner Entfaltung mehr oder weniger die Existenz des Privateigentums braucht, aus der Abschaffung dieses Privateigentums Nutzen ziehen soll. Die Antwort ist sehr einfach. Allerdings haben unter den bestehenden Verhältnissen ein paar Männer, die im Besitz von Privatmitteln waren, wie Byron, Shelley, Browning, Victor Hugo, Baudelaire und andere, ihre Persönlichkeit mehr oder weniger vollständig verwirklichen können. Keiner von diesen Männern tat je ein Tagewerk um des Lohnes willen. Sie waren der Armut ledig. Sie hatten einen ungeheuren Vorteil. Die Frage ist, ob es dem Individualismus zugute käme, wenn ein so grosser Vorteil abgeschafft würde. Nehmen wir an, er sei abgeschafft. Was wird dann aus dem Individualismus? Welchen Nutzen hat er davon?

Der Nutzen wird so beschaffen sein. Unter den neuen Umständen wird der Individualismus viel freier, viel schöner und viel intensiver sein als heutigen Tags. Ich spreche nicht von der grossen Phantasiewirklichkeit der Individualität bei solchen Dichtern, wie ich sie eben genannt habe, sondern von der grossen tatsächlich wirklichen Individualität, die in der Menschheit im allgemeinen latent und bereit ist. Denn die Anerkennung des Privateigentums hat in der Tat den Individualismus geschädigt und verdunkelt, indem es den Menschen verwechselte mit dem, was er besitzt. Es hat den Individualismus völlig in die Irre geführt. Es hat ihm Gewinn, nicht Wachstum zum Ziel gemacht. So dass der Mensch dachte, die Hauptsache sei, zu haben, und nicht wusste, dass es die Hauptsache ist, zu sein. Die wahre Vollkommenheit des Menschen liegt nicht in dem, was er hat, sondern in dem, was er ist. Das Privateigentum hat den wahren Individualismus vernichtet und einen falschen hingestellt. Durch Aushungern hat es einem Teil der Gemeinschaft die Möglichkeit benommen, individuell zu sein. Es hat dem andern Teil der Gemeinschaft die Möglichkeit, individuell zu sein, benommen, indem es ihn auf den falschen Weg brachte und ihn überbürdete. In der Tat ist die Persönlichkeit des Menschen so völlig von seinem Besitz aufgesogen worden, dass das englische Gesetz stets einen Angriff gegen das Eigentum eines Menschen weit strenger behandelt hat als gegen seine Person, und ein guter Bürger wird immer noch daran erkannt, dass er Eigentum hat. Die Betriebsamkeit, die zum Geldverdienen erforderlich ist, ist gleichfalls sehr demoralisierend. In einer Gemeinschaft wie der unsern, wo das Eigentum Rang, gesellschaftliche Stellung, Ehre, Würde, Titel und andere angenehme Dinge der Art verleiht, macht es der Mensch, ehrgeizig wie er von Natur wegen ist, zu seinem Ziel, solches Eigentum anzuhäufen, und fährt damit bis zur Ermüdung und zum Überdruss fort, auch wenn er weit mehr aufgehäuft hat, als er braucht oder benutzen kann, ja sogar mehr, als ihn erfreut und mehr als er weiss. Der Mensch arbeitet sich zu Tode, um Eigentum zu erlangen, und wenn man freilich die ungeheuren Vorteile sieht, die das Eigentum mit sich führt, ist es nicht zum Verwundern. Bedauern muss man, dass die Gesellschaft so aufgebaut ist, dass der Mensch in eine Grube gezwängt ist, wo er nichts von dem frei zur Entfaltung kommen lassen kann, was Schönes und Bannendes und Köstliches in ihm ist – wo er tatsächlich die wahre Lust und die wahre Freude am Leben entbehrt. Auch lebt er unter den gegenwärtigen Umständen sehr unsicher. Ein ungeheuer reicher Kaufmann kann in jedem Augenblick seines Lebens auf Gnade und Ungnade Dingen überliefert sein – ist es oft –, auf die er keinen Einfluss hat. Der Sturm wütet ein bischen mehr als sonst oder so ähnlich, oder das Wetter ändert sich plötzlich, oder irgend eine triviale Sache tritt ein, und sein Schiff geht unter, seine Spekulationen gehen schief, er ist ein armer Mann und seine gesellschaftliche Stellung ist verloren. Nun, nichts sollte einen Menschen schädigen können, es sei denn er selbst. Nichts überhaupt sollte einen Menschen ärmer machen können. Was in ihm ist, das hat der Mensch wirklich. Was draussen ist, sollte ohne Bedeutung sein.

Nach der Abschaffung des Privateigentums werden wir also den wahren, schönen, gesunden Individualismus haben. Niemand wird sein Leben damit vergeuden, dass er Sachen und Sachwerte anhäuft. Man wird leben. Leben – es gibt nichts Selteneres in der Welt. Die meisten Leute existieren, weiter nichts.

Es ist die Frage, ob wir jemals eine Persönlichkeit sich völlig haben ausleben sehen, es sei denn in der Phantasiesphäre der Kunst. In der Wirklichkeit haben wir es nie gesehen. Cäsar, so sagt uns Mommsen, war der vollkommene und vollendete Mensch. Aber wie tragisch unsicher war Cäsars Existenz! Immer, wenn es einen Mann gibt, der Macht ausübt, gibt es auch einen Mann, der der Macht widersteht. Cäsar war sehr vollkommen, aber seine Vollkommenheit ging einen zu gefährlichen Weg. Marc Aurel war der vollkommene Mensch, sagt Renan. Ja, der grosse Kaiser war ein vollkommener Mensch. Aber wie unerträglich waren die ewigen Forderungen, die an ihn gestellt wurden! Er taumelte unter der Last des Römischen Reiches. Er war sich bewusst, wie widersinnig es war, dass ein einzelner Mensch die Last dieses titanischen, ungeheuren Reiches tragen sollte. Unter einem vollkommenen Menschen verstehe ich einen, der sich unter vollkommenen Zuständen ausleben kann, einen, der nicht verwundet oder zerbissen oder verkrüppelt oder in ewiger Gefahr ist. Die meisten Persönlichkeiten waren genötigt, Empörer zu sein. Ihre halbe Kraft hat die Reibung mit der Aussenwelt verbraucht. Byrons Persönlichkeit zum Beispiel wurde in ihrem Kampf mit der Dummheit und Heuchelei und Philisterhaftigkeit der Engländer schrecklich mitgenommen. Solche Kämpfe machen die Kraft nicht immer intensiver; oft lassen sie die Schwäche ins Ungemessene wachsen. Byron hat uns niemals geben können, was er uns hätte geben können. Shelley kam besser davon. Gleich Byron verliess er England sobald als möglich. Aber er war nicht so bekannt. Wenn die Engländer eine Ahnung gehabt hätten, was für ein grosser Dichter er in Wirklichkeit gewesen ist, sie wären über ihn hergefallen und hätten ihm sein Leben so unerträglich gemacht, wie sie irgend konnten. Aber er spielte in der Gesellschaft keine grosse Rolle und entrann daher bis zu gewissem Grad. Aber auch in Shelley ist die Nuance der Empörung manchmal noch zu stark. Die Nuance der vollkommenen Persönlichkeit ist nicht Empörung, sondern Friede.

Sie wird etwas Wunderbares sein – die eigentliche Persönlichkeit des Menschen – wenn sie sich uns zeigen wird. Sie wird in natürlicher und einfacher Art wachsen, wie eine Blume, oder wie ein Baum wächst. Sie wird nicht im Streit liegen. Sie wird nie argumentieren oder disputieren. Sie wird nichts in der Welt beweisen. Sie wird alles wissen. Und doch keinen Wissenschaftsbetrieb kennen. Sie wird weise sein. Ihr Wert wird nicht mit materiellen Dingen messbar sein. Sie wird nichts haben. Und wird doch alles haben, und soviel man ihr auch nimmt, sie hat noch immer, so reich ist sie. Sie wird sich nicht immer um andere kümmern oder von ihnen verlangen, sie sollten ebenso sein wie sie selbst. Sie wird sie lieben, weil sie anders sind. Und doch, während sie sich um andere nicht kümmert, wird sie allen helfen, wie etwas Schönes uns hilft, indem es ist, wie es ist. Die Persönlichkeit des Menschen wird sehr wundervoll sein. Sie wird so wundervoll sein, wie die Persönlichkeit eines Kindes.

In ihrer Entfaltung wird sie vom Christentum gefördert werden, wenn die Menschen das lieben, wenn sie es aber nicht lieben, wird sie sich auch so mit Sicherheit entfalten. Denn sie wird sich nicht um Vergangenes zerreissen und wird sich’s nicht kümmern lassen, ob sich etwas ereignet hat oder nicht ereignet hat. Auch wird sie keine Gesetze anerkennen als ihre eigenen und keine Autorität als ihre eigene. Doch lieben wird sie die, die ihre Mächtigkeit vorbereitet haben, und wird oft von ihnen sprechen. Und derer einer war Christus.

»Erkenne dich selbst,« stand über dem Portal der antiken Welt zu lesen. Ueber dem Portal der neuen Welt wird stehen: »Sei du selbst.« Und die Botschaft Christi an den Menschen lautete einfach: »Sei du selbst.« Das ist das Geheimnis Christi.

Wenn Jesus von den Armen spricht, meint er einfach Persönlichkeiten, gerade wie er, wenn er von den Reichen spricht, einfach Leute meint, die ihre Persönlichkeit nicht ausgebildet haben. Jesus lebte in einer Gemeinschaft, die gerade wie unsere die Anhäufung von Privateigentum erlaubte, und das Evangelium, das er predigte, hiess nicht, es sei in einer solchen Gemeinschaft von Vorteil, von karger, verdorbener Nahrung zu leben, zerlumpte, beschmutzte Kleider zu tragen, in entsetzlichen, ungesunden Wohnungen zu hausen, und es sei von Nachteil, in gesunden, erfreulichen und geziemenden Verhältnissen zu leben. Solch ein Standpunkt wäre damals und in Palästina falsch gewesen, und wäre natürlich heute und in unserm Himmelsstrich noch falscher, denn je weiter der Mensch nach Norden rückt, um so lebenentscheidender wird die materielle Notdurft, und unsere Gesellschaft ist unendlich komplizierter und weist weit stärkere Gegensätze von Luxus und Armut auf als irgend eine Gesellschaft der antiken Welt. Was Jesus gemeint hat, ist folgendes. Er sagte dem Menschen: »Du hast eine wundervolle Persönlichkeit. Bilde sie aus. Sei du selbst. Wähne nicht, deine Vollkommenheit liege darin, äussere Dinge aufzuhäufen oder zu besitzen. Deine Vollkommenheit ist in dir. Wenn du die nur verwirklichen könntest, dann brauchtest du nicht reich zu sein. Der gemeine Reichtum kann einem Menschen gestohlen werden. Der wirkliche Reichtum nicht. In der Schatzkammer deiner Seele gibt es unendlich wertvolle Dinge, die dir nicht genommen werden können. Und also, suche dein Leben so zu gestalten, dass äussere Dinge dich nicht kränken können. Und suche auch das persönliche Eigentum loszuwerden. Es führt niedriges Gebaren, endlose Angst, ewiges Unrecht mit sich. Persönliches Eigentum hemmt die Individualität bei jedem Schritt.« Es ist zu beachten, dass Jesus nie sagt, arme Leute seien notwendig gut, oder reiche Leute notwendig schlecht. Das wäre nicht wahr gewesen. Reiche Menschen sind als Klasse besser als arme, moralischer, geistiger, gesitteter. Es gibt nur eine Klasse in der Gemeinschaft, die mehr ans Geld denkt, als die Reichen, und das sind die Armen. Die Armen können an nichts anderes denken. Das ist der Jammer der Armut. Jesus also sagt, dass der Mensch seine Vollendung erreicht: nicht durch das, was er hat, nicht einmal durch das, was er tut, sondern ganz und gar durch das, was er ist. Daher also ist der reiche Jüngling, der zu Jesus kommt, als durchaus guter Bürger hingestellt, der kein Staatsgesetz, kein Gebot seiner Religion verletzt hat. Er ist ganz respektabel, im gewöhnlichen Sinn dieses ungewöhnlichen Wortes. Jesus sagt zu ihm: »Du solltest das Privateigentum aufgeben. Es hindert dich an der Verwirklichung deiner Vollkommenheit. Es ist eine Fessel für dich. Es ist eine Last. Deine Persönlichkeit braucht es nicht. In dir selbst, nicht draussen findest du, was du wirklich bist und was du wirklich brauchst.« Seinen Jüngern sagt er dasselbe. Er fordert sie auf, sie selbst zu sein und sich nicht immer um andere Dinge zu ängstigen. Was bedeuten andere Dinge? Der Mensch ist in sich vollendet. Wenn sie in die Welt gehen, wird die Welt sich ihnen widersetzen. Das ist unvermeidlich. Die Welt hasst die Individualität. Aber das soll sie nicht kümmern. Sie sollen still und in sich gekehrt sein. Wenn jemand ihnen den Mantel nimmt, sollen sie ihm den Rock noch dazu geben, eben um zu zeigen, dass materielle Dinge keine Bedeutung haben. Wenn die Leute sie beschimpfen, sollen sie nicht antworten. Was liegt daran? Was die Leute von einem Menschen sagen, ändert den Menschen nicht. Er ist, was er ist. Die öffentliche Meinung hat keinerlei Wert. Selbst wenn die Leute Gewalt anwenden, sollen sie sich nicht zur Wehr setzen. Damit sänken sie auf dieselbe niedrige Stufe. Und schliesslich kann ein Mensch selbst im Gefängnis völlig frei sein. Seine Seele kann frei sein. Seine Persönlichkeit kann unbekümmert sein. Friede kann in ihm sein. Und vor allem sollen sie sich nicht in andrer Leute Sachen einmischen oder sie irgendwie richten. Um die Persönlichkeit ist es etwas sehr Geheimnisvolles. Ein Mensch kann nicht immer nach dem, was er tut, beurteilt werden. Er kann das Gesetz halten und doch nichtswürdig sein. Er kann das Gesetz brechen und doch edel sein. Er kann schlecht sein, ohne je etwas Schlechtes zu tun. Er kann eine Sünde gegen die Gesellschaft begehen, und doch durch diese Sünde seine wahre Vollkommenheit erreichen.

Es war da eine Frau, die beim Ehebruch ergriffen worden war. Man berichtet uns nichts über die Geschichte ihrer Liebe, aber diese Liebe muss sehr gross gewesen sein; denn Jesus sagte, ihre Sünden seien ihr vergeben, nicht weil sie bereute, sondern weil ihre Liebe so stark und wunderbar war. Später, kurze Zeit vor seinem Tode, als er beim Mahle sass, kam das Weib herein und goss kostbare Wohlgerüche auf sein Haar. Seine Jünger wollten sie davon abhalten und sagten, es sei eine Verschwendung, und das Geld, das dieses köstliche Wasser wert sei, hätte mögen für wohltätige Zwecke, für arme Leute oder dergleichen verwendet werden. Jesus trat dem nicht bei. Er betonte, die leiblichen Bedürfnisse des Menschen seien gross und immerwährend, aber die geistigen Bedürfnisse seien noch grösser, und in einem einzigen göttlichen Moment, in einer Ausdrucksform, die sie selbst bestimmt, könne eine Persönlichkeit ihre Vollkommenheit erlangen. Die Welt verehrt das Weib noch heute als Heilige.

Wahrlich, es ist viel Wundervolles im Individualismus. Der Sozialismus zum Beispiel vernichtet das Familienleben. Mit der Abschaffung des Privateigentums muss die Ehe in ihrer bisherigen Form verschwinden. Das ist ein Teil des Programms. Der Individualismus nimmt das auf und verwandelt es in Schönheit. Er macht aus der Abschaffung gesetzlichen Zwanges eine Form der Freiheit, die die volle Entfaltung der Persönlichkeit fördern wird, und die Liebe des Mannes und der Frau wunderbarer, schöner und edler macht. Jesus wusste das. Er wies die Ansprüche des Familienlebens zurück, obwohl sie in seiner Zeit und seiner Gemeinschaft in sehr ausgeprägter Form bestanden. »Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?« fragte er, als man ihm sagte, dass sie ihn zu sprechen wünschten. Als einer seiner Jünger um Urlaub bat, um seinen Vater zu beerdigen, war seine schreckliche Antwort: »Lass die Toten ihre Toten begraben.« Er wollte nicht dulden, dass irgend ein Anspruch an die Persönlichkeit herantrat.

So also ist der, der ein christusgleiches Leben führen will, vollkommen und vollständig er selbst. Er mag ein grosser Dichter sein oder ein grosser Forscher; ein junger Student oder ein Schafhirt auf der Heide; ein Dramatiker wie Shakespeare oder ein gottdenkender Mensch wie Spinoza; ein spielendes Kind im Garten oder ein Fischer, der seine Netze auswirft. Es kommt nicht darauf an, was er ist, solange er die Vollkommenheit der Seele verwirklicht, die in ihm ist. Alle Nachahmung in moralischen Dingen und im Leben ist von Uebel. Durch die Strassen Jerusalems schleppt sich heutigen Tages ein Wahnsinniger, der ein hölzernes Kreuz auf den Schultern trägt. Er ist ein Symbol der Leben, die die Nachahmung verkrüppelt hat. Vater Damien war christusgleich, als er hinausging und mit den Aussätzigen lebte, weil er in diesem Dienst völlig verwirklichte, was Bestes in ihm war. Aber er war nicht mehr christusgleich als Wagner, der seine Seele in der Musik verwirklichte, oder als Shelley, der die Verwirklichung seiner Seele im Liede fand. Es gibt nicht nur einen Typus des Menschen. Es gibt so viele Vollendungen, als es unvollkommene Menschen gibt. Den Anforderungen des Mitleids kann ein Mann nachgeben und doch frei sein; den Ansprüchen aber, die alle gleich machen wollen, kann niemand nachgeben und dabei frei bleiben.

Zum Individualismus also werden wir durch den Sozialismus kommen. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Staat das Regieren ganz und gar sein lassen muss. Er muss es sein lassen; denn, wie ein weiser Mann einst viele Jahrhunderte vor Christus gesagt hat, so etwas, wie die Menschheit in Ruhe lassen, gibt es; aber so etwas, wie die Menschheit regieren, gibt es nicht. Alle Arten, regieren zu wollen, sind verkehrt. Der Despotismus ist ungerecht gegen jedermann, den Despoten inbegriffen, der wahrscheinlich für Besseres bestimmt war. Oligarchien sind ungerecht gegen die vielen, und Ochlokratien sind ungerecht gegen die wenigen. Grosse Hoffnungen setzte man einst auf die Demokratie; aber Demokratie bedeutet lediglich, dass das Volk durch das Volk für das Volk niedergeknüppelt wird. Man ist dahinter gekommen. Ich muss sagen, dass es hohe Zeit war, denn jede autoritäre Gewalt ist ganz entwürdigend. Sie entwürdigt die, die sie ausüben, und ebenso die, über die sie ausgeübt wird. Wenn sie gewalttätig, roh und grausam verfährt, bringt sie eine gute Wirkung hervor, indem sie den Geist der Rebellion und des Individualismus erzeugt oder wenigstens hervorruft, der ihr ein Ende machen wird. Wenn sie in einer gewissen freundlichen Weise verfährt und Belohnungen und Preise verleiht, ist sie schrecklich entsittlichend. Die Menschen merken dann den schrecklichen Druck, der auf ihnen lastet, weniger und gehen in einer Art gemeinen Behagens durchs Leben und wie gehätschelte Haustiere, und sie merken nie, dass sie anderer Leute Gedanken denken, dass sie nach anderer Leute Normen leben, dass sie wahrhaftig anderer Leute abgelegte Kleider tragen und nie einen einzigen Augenblick lang sie selbst sind. »Wer frei sein will,« sagt ein grosser Denker, »muss Dissident sein.« Die Autorität aber, die die Menschen dazu bringt sich zu nivellieren und anzupassen, erzeugt unter uns eine sehr rohe Art satter Barbarei.

Mit der autoritären Gewalt wird die Justiz verschwinden. Das wird ein grosser Gewinn sein – ein Gewinn von wahrhaft unberechenbarem Wert. Wenn man die Geschichte erforscht, nicht in den gereinigten Ausgaben, die für Volksschüler und Gymnasiasten veranstaltet sind, sondern in den echten Quellen aus der jeweiligen Zeit, dann wird man völlig von Ekel erfüllt, nicht wegen der Taten der Verbrecher, sondern wegen der Strafen, die die Guten auferlegt haben; und eine Gemeinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmässige Verhängen von Strafen verroht als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen. Daraus ergibt sich von selbst, dass je mehr Strafen verhängt werden, um so mehr Verbrechen hervorgerufen werden, und die meisten Gesetzgebungen unserer Zeit haben dies durchaus anerkannt und es sich zur Aufgabe gemacht, die Strafen, soweit sie es für angängig hielten, einzuschränken. Überall, wo sie wirklich eingeschränkt wurden, waren die Ergebnisse äusserst gut. Je weniger Strafe, um so weniger Verbrechen. Wenn es überhaupt keine Strafe mehr gibt, hört das Verbrechen entweder auf, oder, falls es noch vorkommt, wird es als eine sehr bedauerliche Form des Wahnsinns, die durch Pflege und Güte zu heilen ist, von Ärzten behandelt werden. Denn was man heutzutage Verbrecher nennt, sind überhaupt keine Verbrecher. Entbehrung nicht Sünde ist die Mutter des Verbrechens unserer Zeit. Das ist in der Tat der Grund, warum unsere Verbrecher als Klasse von einem irgend psychologischen Standpunkt aus so völlig uninteressant sind. Sie sind keine erstaunlichen Macbeths und schrecklichen Vautrins. Sie sind lediglich das, was gewöhnliche respektable Dutzendmenschen wären, wenn sie nicht genug zu essen hätten. Wenn das Privateigentum abgeschafft ist, wird es keine Notwendigkeit und keinen Bedarf für Verbrechen geben; sie werden verschwinden. Natürlich sind nicht alle Verbrechen Verbrechen gegen das Eigentum, obwohl das die Verbrechen sind, die das englische Gesetz, das dem, was ein Mensch hat, mehr Wert beimisst als dem, was er ist, mit der grausamsten und fürchterlichsten Strenge bestraft, wofern wir vom Mord absehen und den Tod für ebenso schlimm halten wie das Zuchthaus, worüber unsere Verbrecher, glaube ich, anderer Meinung sind. Aber wenn auch ein Verbrechen nicht gegen das Eigentum gerichtet ist, kann es doch aus dem Elend und der Wut und der Erniedrigung entstehen, die unsere verkehrte Privateigentumswirtschaft hervorbringen, und wird so nach der Abschaffung dieses Systems verschwinden. Wenn jedes Glied der Gemeinschaft soviel hat, als es braucht und von seinen Mitmenschen nicht behelligt wird, hat es kein Interesse daran, andern lästig zu werden. Der Neid, dem im Leben unserer Zeit ausserordentlich viele Verbrechen entspringen, ist ein Gefühl, das mit unseren Eigentumsbegriffen eng verbunden ist; im Reiche des Sozialismus und Individualismus wird er verschwinden. Es ist bemerkenswert, dass der Neid bei kommunistischen Stämmen völlig unbekannt ist.

Wenn nun der Staat nicht zu regieren hat, kann gefragt werden, was er zu tun hat. Der Staat wird eine freiwillige Vereinigung sein, die die Arbeit organisiert und der Fabrikant und Verteiler der notwendigen Güter ist. Der Staat hat das Nützliche zu tun. Das Individuum hat das Schöne zu tun. Und da ich das Wort Arbeit gebraucht habe, will ich nicht unterlassen zu bemerken, dass heutzutage sehr viel Unsinn über die Würde der körperlichen Arbeit geschrieben und gesprochen wird. An der körperlichen Arbeit ist ganz und gar nichts notwendig Würdevolles, und meistens ist sie ganz und gar entwürdigend. Es ist geistig und moralisch genommen schimpflich für den Menschen, irgend etwas zu tun, was ihm keine Freude macht, und viele Formen der Arbeit sind ganz freudlose Beschäftigungen und sollten dafür gehalten werden. Einen kotigen Strassenübergang bei scharfem Ostwind acht Stunden im Tag zu fegen ist eine widerwärtige Beschäftigung. Ihn mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen, scheint mir unmöglich. Ihn freudig zu fegen, wäre schauderhaft. Der Mensch ist zu etwas Besserem da, als Schmutz zu entfernen. Alle Arbeit dieser Art müsste von einer Maschine besorgt werden.

Und ich zweifle nicht, dass es so kommen wird. Bis jetzt war der Mensch bis zu gewissem Grade der Sklave der Maschine, und es liegt etwas Tragisches in der Tatsache, dass der Mensch, sowie er eine Maschine erfunden hatte, die ihm seine Arbeit abnahm, Not zu leiden begann. Das kommt indessen natürlich von unserer Eigentums- und Konkurrenzwirtschaft. Ein Einzelner ist der Eigentümer einer Maschine, die die Arbeit von fünfhundert Menschen tut. Fünfhundert Menschen sind infolgedessen beschäftigungslos; und da man ihre Arbeit nicht braucht, sind sie dem Hunger preisgegeben und legen sich auf den Diebstahl. Der Einzelne eignet sich das Produkt der Maschine an und behält es und hat fünfhundertmal soviel als er haben sollte, und wahrscheinlich, was viel wichtiger ist, bedeutend mehr, als er tatsächlich braucht. Wäre diese Maschine das Eigentum aller, so hätte jedermann Nutzen davon. Sie wäre der Gemeinschaft von grösstem Vorteil. Jede rein mechanische, jede eintönige und dumpfe Arbeit, jede Arbeit, die mit widerlichen Dingen zu tun hat und den Menschen in abstossende Situationen zwingt, muss von der Maschine getan werden. Die Maschine muss für uns in den Kohlengruben arbeiten und gewisse hygienische Dienste tun und Schiffsheizer sein und die Strassen reinigen und an Regentagen Botendienste tun und muss alles tun, was unangenehm ist. Jetzt verdrängt die Maschine den Menschen. Unter richtigen Zuständen wird sie ihm dienen. Es ist durchaus kein Zweifel, dass das die Zukunft der Maschine ist, und ebenso wie die Bäume wachsen, während der Landwirt schläft, so wird die Maschine, während die Menschheit sich der Freude oder edler Musse hingibt – Musse, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen – oder schöne Dinge schafft oder schöne Dinge liest, oder einfach die Welt mit bewundernden und geniessenden Blicken umfängt, alle notwendige und unangenehme Arbeit verrichten. Es steht so, dass die Kultur Sklaven braucht. Darin hatten die Griechen ganz recht. Wenn es keine Sklaven gibt, die die widerwärtige, abstossende und langweilige Arbeit verrichten, wird Kultur und Beschaulichkeit fast unmöglich. Die Sklaverei von Menschen ist ungerecht, unsicher und entsittlichend. Von mechanischen Sklaven, von der Sklaverei der Maschine hängt die Zukunft der Welt ab. Und wenn gebildete und gelehrte Männer es nicht länger nötig haben, in ein fürchterliches Armenviertel hinabzusteigen und schlechten Kakao und noch schlechtere Decken an halbverhungerte Menschen zu verteilen, so werden sie eben köstliche Musse haben, wundervolle und herrliche Dinge zu ihrer eigenen und aller andern Freude zu ersinnen. Es wird grosse Kraftstationen für jede Stadt und, wenn nötig, für jedes Haus geben, und diese Kraft wird der Mensch je nach Bedarf in Wärme, Licht oder Bewegung verwandeln. Ist dies utopisch? Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.

Ich habe also gesagt: die Gemeinschaft sorgt mit Hilfe der Organisation der Maschinenarbeit für die nützlichen Dinge, und die schönen Dinge werden vom Individuum hergestellt. Das ist nicht bloss notwendig, sondern der einzig mögliche Weg, um das eine wie das andere zu erreichen. Ein Individuum, das Dinge für den Gebrauch anderer zu machen und auf ihre Bedürfnisse und Wünsche Rücksicht zu nehmen hat, arbeitet nicht mit Interesse und kann also in sein Werk nicht das Beste hineinlegen, das es in sich hat. Ueberall andrerseits, wo eine Gemeinschaft oder eine mächtige Gesellschaftsschicht oder irgend eine Regierung den Versuch macht, dem Künstler vorzuschreiben, was er tun soll, geht die Kunst entweder völlig zugrunde oder wird stereotyp oder verfällt zu einer niedrigen und gemeinen Form des Handwerks. Ein Kunstwerk ist ein einziges Ergebnis eines einzigen Temperamentes. Seine Schönheit entspringt der Tatsache, dass der Künstler ist, was er ist. Es hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass andere brauchen, was sie brauchen. In der Tat hört ein Künstler in dem Augenblick, wo er den Bedürfnissen anderer Beachtung schenkt und den Bedarf zu befriedigen sucht, auf ein Künstler zu sein und wird ein trauriger oder amüsanter Handwerker, ein ehrbarer oder unehrlicher Handelsmann. Er hat keinen Anspruch mehr darauf, als Künstler zu gelten. Die Kunst ist die intensivste Art Individualismus, die die Welt kennt. Ich bin geneigt zu sagen, sie sei die einzige wirkliche Art Individualismus, die die Welt kennt. Das Verbrechen, das unter bestimmten Umständen den Individualismus zu erzeugen scheinen kann, muss von andern Menschen Kenntnis nehmen und sich um sie kümmern. Es gehört zum Bereich des Handelns. Aber der Künstler kann allein ohne sich um seine Mitmenschen zu kümmern und ohne jede Einmischung etwas Schönes gestalten, und wenn er es nicht lediglich zu seiner eigenen Lust tut, ist er überhaupt kein Künstler.

Und es ist zu beachten, dass gerade die Tatsache, dass die Kunst eine so intensive Form des Individualismus ist, das Publikum zu dem Versuch bringt, über sie eine Autorität auszuüben, die ebenso unmoralisch wie lächerlich und ebenso korrumpierend wie verächtlich ist. Es ist nicht ganz seine Schuld. Das Publikum ist immer, zu allen Zeiten, schlecht erzogen worden. Sie verlangen fortwährend, die Kunst solle populär sein, solle ihrer Geschmacklosigkeit gefallen, ihrer törichten Eitelkeit schmeicheln, ihnen sagen, was ihnen früher gesagt wurde, ihnen zeigen, was sie müde sein sollten zu sehen, sie amüsieren, wenn sie nach zu reichlichem Essen schwermütig geworden sind, und ihre Gedanken zerstreuen, wenn sie ihrer eigenen Dummheit überdrüssig sind. Die Kunst aber dürfte nie populär sein wollen. Das Publikum müsste versuchen, künstlerisch zu werden. Das ist ein sehr grosser Unterschied. Wenn man einem Forscher sagte, die Ergebnisse seiner Experimente, und die Schlüsse, zu denen er gelangte, müssten dergestalt sein, dass sie die hergebrachten populären Vorstellungen über den Gegenstand nicht umstürzten, oder das populäre Vorurteil nicht verwirrten, oder die Empfindlichkeiten von Leuten nicht störten, die nichts von der Wissenschaft verstehen: wenn man einem Philosophen sagte, er habe ein vollkommenes Recht, in den höchsten Sphären des Denkens zu spekulieren, vorausgesetzt, dass er zu denselben Schlüssen käme, wie sie bei denen in Geltung sind, die überhaupt niemals in irgend einer Sphäre gedacht haben – nun, heutzutage würden der Forscher und der Philosoph beträchtlich darüber lachen. Aber es ist in der Tat nur sehr wenige Jahre her, dass Philosophie wie Wissenschaft der rohen Volksherrschaft und in Wirklichkeit der Autorität unterworfen waren – entweder der Autorität der in der Gemeinschaft herrschenden allgemeinen Unwissenheit oder der Schreckensherrschaft und der Machtgier einer kirchlichen oder Regierungsgewalt. Nun sind wir zwar bis zu sehr hohem Grade alle Versuche von Seiten der Gemeinschaft oder der Kirche oder der Regierung, sich in den Individualismus des spekulativen Denkens einzumischen, losgeworden, aber das Unterfangen, sich in den Individualismus der Phantasie und der Kunst einzumischen, ist immer noch am Leben. Oder vielmehr: es lebt noch sehr lebhaft: es ist aggressiv, gewalttätig und brutal.

In England sind die Künste am besten daran, an denen das Publikum kein Interesse nimmt. Die Lyrik ist ein Beispiel für das, was ich meine. Wir haben in England eine Lyrik voller Schönheit haben können, weil das Publikum sie nicht liest und daher auch nicht beeinflusst. Das Publikum liebt es, die Poeten zu beschimpfen, weil sie individuell sind; aber nachdem das erledigt ist, lässt es sie in Ruhe. Im Fall des Romans und des Dramas, an welchen Künsten das Publikum Interesse nimmt, war das Ergebnis der Ausübung der Volksautorität absolut lächerlich. Kein Land liefert so jämmerlich geschriebene Belletristik, so widerwärtige gemeine Arbeit in Romanform, so alberne, pöbelhafte Stücke wie England. Es ist Notwendigkeit, dass es so ist. Der Massstab des Volkes ist so beschaffen, dass kein Künstler ihm entsprechen kann. Es ist beides: zu leicht und zu schwer, ein populärer Romanschreiber zu sein. Es ist zu leicht, weil die Anforderungen des Publikums, soweit Fabel, Stil, Psychologie, Behandlung des Lebens und der Literatur in Frage kommen, von der kleinsten Begabung und dem ungebildetsten Geist erfüllt werden können. Es ist zu schwer, weil der Künstler, um solchen Anforderungen zu entsprechen, seinem Temperament Gewalt antun müsste, nicht um der künstlerischen Freude am Schreiben willen arbeiten dürfte, sondern zu dem Zweck, schlechterzogene Leute zu amüsieren, und so seine Individualität unterdrücken, seine Kultur vergessen, seinen Stil austilgen und alles Wertvolle in sich vernichten müsste. Mit dem Drama steht es ein bisschen besser: das Theaterpublikum liebt allerdings das Alltägliche, aber es liebt nicht das Langweilige; und die burleske Komödie und die Posse, die beiden populärsten Formen, sind ausgesprochene Formen der Kunst. Entzückende Sachen können in Form der Burleske und der Posse geschrieben werden, und bei Arbeiten dieser Art sind dem Künstler in England grosse Freiheiten erlaubt. Erst wenn man zu den höheren Formen des Dramas kommt, ist das Resultat der Volksherrschaft zu sehen. Was dem Publikum am meisten missfällt, ist Neuheit. Jeder Versuch, das Stoffgebiet der Kunst zu erweitern, ist dem Publikum äusserst zuwider; und doch hängt Leben und Fortschritt der Kunst in hohem Masse von der fortwährenden Erweiterung des Stoffgebietes ab. Dem Publikum missfällt die Neuheit, weil es Angst davor hat. Sie stellt ihm eine Art Individualismus vor, eine Behauptung von seiten des Künstlers, dass er seinen eigenen Stoff wählt und ihn behandelt, wie es ihn gut dünkt. Das Publikum hat mit seiner Haltung ganz recht. Die Kunst ist Individualismus, und der Individualismus ist eine zerstörende und zersetzende Kraft. Darin liegt seine ungeheure Bedeutung. Denn was er zu zerstören sucht, ist die Eintönigkeit des Typus, die Sklaverei der Gewohnheit, die Tyrannei der Sitte und die Erniedrigung des Menschen auf die Stufe einer Maschine. In der Kunst lässt sich das Publikum gefallen, was gewesen ist, weil sie es nicht ändern können, nicht weil sie Geschmack daran finden. Sie verschlucken ihre Klassiker mit Haut und Haar und sie schmecken ihnen nie. Sie ertragen sie als das Unvermeidliche, und da sie sie nicht vernichten können, schwatzen sie über sie und ziehen wichtige Gesichter dazu. Sonderbar genug, oder auch nicht sonderbar – je nachdem man einen Standpunkt einnimmt – diese Anerkennung der Klassiker tut grossen Schaden. Die unkritische Bewunderung der Bibel und Shakespeares in England ist ein Beispiel für das, was ich meine. Bei der Bibel übt die kirchliche Autorität einen Einfluss aus, so dass ich dabei nicht zu verweilen brauche.

Aber im Fall Shakespeares ist es ganz offenbar, dass das Publikum in Wirklichkeit weder die Schönheiten noch die Schwächen seiner Stücke sieht. Wenn sie die Schönheiten sähen, würden sie sich der Weiterentwicklung des Dramas nicht entgegenstellen; und wenn sie die Schwächen sähen, würden sie sich ebenfalls der Weiterentwicklung des Dramas nicht entgegenstellen. Tatsächlich benutzt das Publikum die Klassiker eines Landes als Mittel, den Fortschritt der Kunst zu hindern. Sie degradieren die Klassiker zu Autoritäten. Sie benutzten sie als Knüppel, um den freien Ausdruck der Schönheit in neuen Formen zu hindern. Sie fragen jeden Schriftsteller, warum er nicht wie der oder jener schreibt, jeden Maler, warum er nicht wie der oder jener malt, und vergessen ganz die Tatsache, dass jeder, der etwas der Art täte, aufhörte, ein Künstler zu sein. Eine frische Gestalt der Schönheit ist ihnen durchaus zuwider, und jedesmal, wenn sie erscheint, werden sie so aufgebracht und bestürzt, dass sie immer dieselben zwei Arten sich auszudrücken haben – die eine ist, das Kunstwerk sei heillos unverständlich, und die andere, das Kunstwerk sei heillos unmoralisch. Was sie mit diesen Worten meinen, scheint mir folgendes zu sein. Wenn sie sagen ein Werk sei heillos unverständlich, meinen sie, der Künstler habe etwas Schönes gesagt oder vollbracht, das neu ist; wenn sie ein Werk als heillos unmoralisch bezeichnen, meinen sie, der Künstler habe etwas Schönes gesagt oder vollbracht, das wahr ist. Der erste Ausdruck bezieht sich auf den Stil, der zweite auf den Gegenstand. Aber gewöhnlich gebrauchen sie die Worte ganz unbestimmt, wie ein gewöhnlicher Pöbel fertige Pflastersteine benutzt. Es gibt zum Beispiel nicht einen einzigen wirklichen Dichter oder Prosaisten in diesem Jahrhundert, dem das britische Publikum nicht feierlich das Diplom für Unmoral überreicht hat, und diese Diplome haben in der Tat in England die Bedeutung, die in Frankreich die formelle Aufnahme in die Akademie hat, so dass gottlob die Einführung einer solchen Institution in England ganz überflüssig ist. Natürlich ist das Publikum sehr wahllos in seiner Anwendung des Wortes. Dass sie Wordsworth einen unmoralischen Dichter nannten, war nur zu erwarten. Wordsworth war ein Dichter. Aber dass sie Charles Kingsley einen unmoralischen Romanschreiber genannt haben, ist erstaunlich. Kingsleys Prosa war nicht sonderlich gut. Nun das Wort ist da, und sie benutzen es, so gut sie können. Ein Künstler lässt sich natürlich dadurch nicht beirren. Der wahre Künstler ist ein Mensch, der durchaus an sich glaubt, weil er durchaus er selbst ist. Aber ich kann mir vorstellen, dass ein Künstler, wenn er in England ein Kunstwerk veröffentlicht hätte, das gleich bei seinem Erscheinen vom Publikum vermittelst der Presse als ganz verständliches und hochmoralisches Werk anerkannt worden wäre, anfinge sich ernsthaft zu fragen, ob er bei seiner Schöpfung wirklich überhaupt er selbst gewesen sei und ob also das Werk nicht ganz seiner unwürdig und entweder durchaus zweiten Ranges oder ganz und gar ohne künstlerischen Wert sei.

Zwei andere Adjektive sind übrigens in den paar letzten Jahren dem sehr knappen Schimpflexikon zugefügt worden, das dem Publikum gegen die Kunst zur Verfügung steht. Das eine ist das Wort »ungesund«, das andere das Wort »exotisch«. Dies letztere drückt nur die Wut des vergänglichen Pilzes gegen die unsterbliche, berauschend schöne und unbeschreiblich liebliche Orchidee aus. Es ist eine Huldigung, aber eine Huldigung ohne besondere Bedeutung. Das Wort »ungesund« jedoch lässt eine Untersuchung zu. Es ist ein recht interessantes Wort. Es ist in der Tat so interessant, dass die Leute, die es anwenden, nicht wissen, was es bedeutet. Was bedeutet es? Was ist ein gesundes, und was ein ungesundes Kunstwerk? Alle Ausdrücke, die man auf ein Kunstwerk anwendet, vorausgesetzt, dass man sie vernünftig anwendet, beziehen sich entweder auf seinen Stil, oder auf seinen Gegenstand oder auf beide zugleich. Hinsichtlich des Stils ist ein Kunstwerk gesund, wenn sein Stil die Schönheit des Materials, das es verwendet, erkennen lässt, bestehe es nun aus Worten oder aus Bronze, aus Farben oder aus Elfenbein, und wenn es diese Schönheit als Mittel zur Erzeugung der ästhetischen Wirkung benutzt. Hinsichtlich des Gegenstandes ist ein Kunstwerk gesund, wenn die Wahl dieses Gegenstandes vom Temperament des Künstlers bedingt ist und unmittelbar aus ihm entspringt. Kurz, ein Kunstwerk ist gesund, wenn es sowohl Vollendung wie Persönlichkeit hat. Natürlich können Form und Inhalt bei einem Kunstwerke nicht getrennt werden; sie sind immer eins. Aber für die Zwecke der Untersuchung können wir für einen Augenblick die Ungeteiltheit des ästhetischen Eindrucks übersehen und sie also im Verstande getrennt betrachten. Ungesund ist andrerseits ein Kunstwerk, wenn sein Stil gewöhnlich, hergebracht und vulgär ist, und wenn sein Gegenstand sorgsam ausgewählt ist, nicht weil der Künstler seine Freude daran hat, sondern weil er denkt, das Publikum werde ihn dafür bezahlen. In der Tat ist der populäre Roman, den das Publikum gesund nennt, immer ein durchaus ungesundes Produkt; und was das Publikum einen ungesunden Roman nennt, ist immer ein schönes und gesundes Kunstwerk.

Vielleicht jedoch habe ich dem Publikum unrecht getan, als ich seinen Wortschatz auf Ausdrücke wie »unmoralisch«, »unverständlich«, »exotisch« und »ungesund« beschränkte. Es gibt noch ein anderes Wort, das sie anwenden. Es lautet: »dekadent«. Sie wenden es nicht oft an. Der Sinn des Wortes ist so deutlich, dass sie sich scheuen, es oft zu gebrauchen. Aber immerhin gebrauchen sie es manchmal, und hie und da trifft man es in den Tageszeitungen. Es ist natürlich in Anwendung auf ein Kunstwerk ein lächerliches Wort. Denn was ist Dekadenz anders als eine Seelenstimmung oder ein Gedankengang, den man nicht ausdrücken kann? Die Publikumsmenschen sind alle dekadent, denn das Publikum kann für nichts einen Ausdruck finden. Der Künstler ist nie dekadent. Er drückt alles aus. Er steht jenseits seines Gegenstandes und bringt durch ihn unvergleichliche und künstlerische Wirkungen hervor. Einen Künstler dekadent zu nennen, weil er die Dekadenz als Gegenstand behandelt, ist ebenso albern, als wenn einer Shakespeare verrückt nennen wollte, weil er den »König Lear« geschrieben hat.

Im ganzen gewinnt der Künstler in England etwas, wenn er angegriffen wird. Seine Individualität wird intensiver. Er wird vollständiger er selbst. Natürlich sind die Angriffe sehr grob, sehr unverschämt und sehr verächtlich. Aber schliesslich erwartet kein Künstler vom vulgären Geist Grazie und ebensowenig Stil vom Vorstadtintellekt. Gemeinheit und Dummheit sind im Leben unserer Zeit zwei sehr lebendige Erscheinungen. Man bedauert sie natürlich. Aber sie sind einmal da. Sie sind ein Gegenstand der Beobachtung, wie andere Dinge auch. Und es ist nur loyal, wenn hinsichtlich der Journalisten unserer Zeit konstatiert wird, dass sie einen Künstler immer unter vier Augen um Entschuldigung für das bitten, was sie öffentlich gegen ihn geschrieben haben.

Ich brauche kaum zu sagen, dass ich mich nicht einen Augenblick lang darüber beklage, dass das Publikum und die öffentliche Presse diese Worte missbrauchen. Ich sehe nicht ein, wie sie bei ihrem Mangel an Verständnis für das, was die Kunst ist, sich irgendwie richtig ausdrücken könnten. Ich stelle bloss den Missbrauch fest, und die Erklärung für seinen Ursprung und für die Bedeutung der ganzen Erscheinung ist sehr einfach. Sie geht auf den barbarischen Begriff der Autorität zurück. Sie geht zurück auf die natürliche Unfähigkeit einer Gemeinschaft, die durch die autoritäre Herrschaft verderbt ist, den Individualismus zu verstehen oder zu schätzen. Mit einem Wort, der Missbrauch kommt von dem ungeheuerlichen und unwissenden Gebilde, das man öffentliche Meinung nennt, die schlimm und wohlwollend ist, wenn sie den Versuch macht, das Handeln der Menschen zu beherrschen, die aber infam und übelwollend wird, wenn sie versucht, in die Sphäre des Geistes oder der Kunst überzugreifen.

Es ist in der Tat viel mehr zugunsten der physischen Gewalt des Volkes zu sagen als zugunsten seiner Meinung. Die erstere kann gut und schön sein. Die letztere muss töricht sein. Man hat oft gesagt, mit Gewalt lasse sich nichts beweisen. Das hängt jedoch ganz davon ab, was man beweisen will. Viele der wichtigsten Probleme der paar letzten Jahrhunderte, wie die Frage der Fortdauer des persönlichen Regiments in England oder des Feudalismus in Frankreich, sind ganz und gar vermittelst der physischen Gewalt gelöst worden. Gerade die Gewalttätigkeit einer Revolution ist es, die das Volk einen Moment lang grossartig und glänzend erscheinen lässt. Es war ein verhängnisvoller Tag, als das Volk entdeckte, dass die Feder mächtiger als der Pflasterstein ist. Nun suchten und fanden sie gleich den Journalisten, bildeten ihn aus und machten ihn zu ihrem eifrigen und gut bezahlten Diener. Es ist für beide Teile sehr zu bedauern. Hinter der Barrikade kann viel Edles und Heroisches stehen. Aber was steht hinter dem Leitartikel als Vorurteil, Dummheit, Heuchelei und Geschwätz? Und wenn diese vier zusammentreffen, machen sie eine fürchterliche Macht aus und bilden die neue autoritäre Gewalt.

In früheren Zeiten hatten die Menschen die Folter. Jetzt haben sie die Presse. Gewiss, das ist ein Fortschritt. Aber es ist doch noch sehr schlimm und demoralisierend. Jemand – war es Burke? – hat den Journalismus den vierten Stand genannt. Das war seinerzeit ohne Frage wahr. Aber in unserer Zeit ist es tatsächlich der einzige Stand. Er hat die andern drei aufgefressen. Der weltliche Adel sagt nichts, die Bischöfe haben nichts zu sagen, und das Haus der Gemeinen hat nichts zu sagen und sagt es. Der Journalismus beherrscht uns. In Amerika ist der Präsident vier Jahre am Regiment, und der Journalismus herrscht für immer und ewig. Zum Glück hat in Amerika der Journalismus seine Herrschaft bis zur äussersten Roheit und Brutalität getrieben. Als natürliche Folge hat er angefangen, einen Geist der Auflehnung hervorzurufen. Man lacht über ihn oder wendet sich mit Ekel ab, je nach dem Temperament. Aber er ist nicht mehr die tatsächliche Macht, die er war. Man nimmt ihn nicht ernst. Bei uns spielt der Journalismus, da er, von einigen bekannten Fällen abgesehen, nicht solche Exzesse der Gemeinheit begangen hat, noch eine grosse Rolle und ist eine tatsächlich bedeutende Macht. Die Tyrannei, die er über das Privatleben der Menschen ausüben möchte, scheint mir ganz ausserordentlich zu sein. Sie kommt daher, dass das Publikum eine unersättliche Neugier hat, alles zu wissen, es sei denn das Wissenswerte. Der Journalismus, dem diese Tatsache bekannt ist, befriedigt die Nachfrage, wie es der Kaufmann eben zu tun pflegt. In früheren Jahrhunderten nagelte das Publikum den Journalisten die Ohren an die Pumpe. Das war recht hässlich. In unserm Jahrhundert nageln die Journalisten ihr eigenes Ohr ans Schlüsselloch. Das ist weit übler. Und was den Unfug verschlimmert, ist die Tatsache, dass die Journalisten, die am meisten Tadel verdienen, nicht die Spassmacher sind, die für die Klatschblätter schreiben. Am schädlichsten sind die ernsthaften und gedankenschweren Journalisten, die feierlich, wie es jetzt ihre Gepflogenheit ist, einen Vorfall aus dem Privatleben eines grossen Staatsmannes, eines Mannes, der der Träger eines politischen Gedankens und der Schöpfer einer politischen Macht ist, vor die Augen des Publikums zerren und es einladen, den Vorfall zu erörtern, in der Sache seine Autorität geltend zu machen, seine Ansicht zu äussern, und nicht bloss zu äussern, sondern sie auch in Handlung umzusetzen, dem Mann gegenüber in allen anderen Sachen, und nicht nur ihm, auch seiner Partei, seinem Lande gegenüber den Diktator zu spielen, kurz, sich lächerlich, lästig und schädlich zu machen. Aus dem Privatleben von Männern und Frauen sollte dem Publikum nichts mitgeteilt werden. Es geht das Publikum durchaus nichts an. In Frankreich sieht es um diese Dinge besser aus. Da ist es nicht statthaft, dass die Einzelheiten der Verhandlungen in Ehescheidungsprozessen zum Vergnügen oder zur Lästersucht des Publikums veröffentlicht werden. Das Publikum darf nichts weiter erfahren, als dass die Scheidung auf Grund des Antrages des einen oder des anderen der beiden Gatten oder beider ausgesprochen wurde. In Frankreich wird tatsächlich der Journalist beschränkt und dem Künstler fast vollkommene Freiheit gewährt. In England hat der Journalist absolute Freiheit, und der Künstler wird völlig beschränkt. Die englische öffentliche Meinung, das muss gesagt werden, sucht den Mann, der tatsächlich Schönes erzeugt, zu fesseln und zu hindern und zu verkrüppeln, und zwingt den Journalisten Dinge breitzutreten, die hässlich und widerwärtig und empörend sind, so dass wir die ernsthaftesten Journalisten der Welt und die unanständigsten Zeitungen haben. Es ist keine Übertreibung, von Zwang zu sprechen. Es gibt möglicherweise einige Journalisten, denen die Veröffentlichung hässlicher Dinge Vergnügen macht, oder die so arm sind, dass sie auf der Lauer nach Skandalen liegen, die eine Art dauernde Einkommensgrundlage bilden. Aber es gibt nach meiner Überzeugung andere Journalisten, gebildete und wohlerzogene Männer, denen die Veröffentlichung dieser Dinge wirklich zuwider ist, die wissen, dass es unrecht ist es zu tun, und die es nur tun, weil die ungesunden Verhältnisse, unter denen sie ihrer Beschäftigung nachgehen, sie zwingen, dem Publikum das zu liefern, was das Publikum haben will, und mit anderen Journalisten zu wetteifern, um dem rohen Appetit der Leute möglichst viel und möglichst Starkes zu liefern. Es ist eine sehr entwürdigende Stellung für jeden gebildeten Menschen, und ich zweifle nicht, dass die meisten es lebhaft empfinden.

Wir wollen indessen diese wirklich schmutzige Seite der Sache verlassen und zu der Frage der Volksherrschaft in Sachen der Kunst zurückkehren, worunter ich die öffentliche Meinung verstehe, die dem Künstler die Form vorschreibt, die er anwenden soll, und die Art und Weise, wie er es tun soll, und das Material, mit dem er arbeiten soll. Ich habe gesagt, dass die Künste in England am besten daran sind, an denen das Publikum kein Interesse nimmt. Am Drama jedoch nimmt es Interesse, und da in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren im Drama gewisse Fortschritte erreicht worden sind, ist es wichtig, festzustellen, dass dieser Fortschritt ganz und gar einigen individuellen Künstlern zu verdanken ist, die es ablehnten, die Geschmacklosigkeit der Menge zu ihrer Norm zu machen und die Kunst als blosse Sache von Angebot und Nachfrage zu betrachten. Mit seiner glänzenden und lebendigen Persönlichkeit, mit einem Stil, der tatsächlich farbenprächtig ist, mit seiner ungewöhnlichen Macht nicht zu blosser Nachahmung, sondern zu phantasievoller und geistesstarker Schöpfung hätte Herr Irving, wenn sein einziger Zweck gewesen wäre, dem Publikum zu Willen zu sein, die gemeinsten Stücke in der gemeinsten Manier spielen können und hätte dabei soviel Erfolg und Geld eingeheimst, als jemand irgend verlangen kann. Aber das war nicht sein Zweck. Sein Zweck war, seine eigene Vollkommenheit als Künstler unter bestimmten Bedingungen und in einer bestimmten Kunstform zu verwirklichen. Zuerst wandte er sich an die wenigen: jetzt hat er die vielen erzogen. Er hat im Publikum Geschmack und Temperament gebildet. Das Publikum würdigt seinen künstlerischen Erfolg ungemein. Ich frage mich indessen oft, ob das Publikum es weiss, dass dieser Erfolg lediglich der Tatsache zu verdanken ist, dass er nicht ihren Massstab anlegte, sondern seinen eigenen durchsetzte. Mit ihrem Massstab wäre das Lyceum-Theater eine Bude zweiten Ranges geworden, wie es einige populäre Theater in London zur Zeit sind. Ob sie es wissen oder nicht, es bleibt jedenfalls Tatsache, dass bis zu einem gewissen Grad im Publikum Geschmack und Temperament ausgebildet worden sind und dass das Publikum die Anlage hat, diese Eigenschaften aus sich zu entwickeln. Das Problem ist also: warum bekommt das Publikum nicht mehr Kultur? Es hat die Anlage. Was steht im Wege?

Was im Wege steht, noch einmal sei es gesagt, ist ihr Verlangen, über Künstler und Kunstwerke eine autoritäre Gewalt auszuüben. In manche Theater, wie das Lyceum- und das Haymarket-Theater, scheint das Publikum in geeigneter Verfassung zu kommen. In diesen beiden Theatern hat es individuelle Künstler gegeben, denen es gelungen ist, in ihrem Zuhörerkreis – jedes Londoner Theater hat seinen eigenen Zuhörerkreis – das Temperament zu erzeugen, an das die Kunst sich wendet. Was für ein Temperament ist das nun? Es ist das Temperament der Empfänglichkeit. Das ist alles.

Wenn jemand an ein Kunstwerk mit dem Verlangen herantritt, irgend eine autoritäre Gewalt darüber oder über den Künstler auszuüben, so ist er von einem Geist besessen, der ihn unfähig macht, überhaupt irgend welchen künstlerischen Eindruck zu empfangen. Das Kunstwerk muss den Betrachter überwältigen: der Betrachter darf nicht das Kunstwerk überwältigen. Der Betrachter muss empfänglich sein. Er muss das Instrument sein, auf dem der Meister spielen soll. Und je vollständiger er seine eigenen albernen Ansichten, seine eigenen Vorurteile, seine eigenen törichten dummen Ideen über das, was die Kunst sein soll und nicht sein soll, unterdrücken kann, um so geeigneter ist er, das Kunstwerk zu verstehen und zu würdigen. Das ist natürlich im Fall der Männer und Frauen, die das gewöhnliche Theaterpublikum bilden, ganz selbstverständlich. Aber es gilt ebensosehr für die sogenannten Gebildeten. Denn die Ideen eines Gebildeten über die Kunst sind natürlich aus dem genommen, was die Kunst gewesen ist, wohingegen das neue Kunstwerk dadurch schön ist, dass es ist, was die Kunst nie gewesen ist, und wer es mit dem Massstab des Vergangenen misst, legt einen Massstab an, auf dessen Überwindung gerade seine Vollkommenheit beruht. Ein Temperament, das die Gabe hat, vermittelst der Phantasie und im Reiche der Phantasie neue und schöne Eindrücke aufzunehmen, ist das einzige Temperament, das ein Kunstwerk würdigen kann. Und wenn dies für den Fall der Würdigung der Skulptur und Malerei gilt, so gilt es noch mehr für die Würdigung solcher Künste wie das Drama. Denn ein Gemälde oder eine Statue liegen nicht in Krieg mit der Zeit. Das Nacheinander der Zeit spielt bei ihnen keine Rolle, In einem Moment kann ihre Einheit erfasst werden. Mit der Literatur steht es anders. Es ist Zeit erforderlich, bevor die Einheit der Wirkung erreicht ist. Und so kann im Drama im ersten Akt des Stückes etwas vorfallen, dessen wahre künstlerische Bedeutung dem Zuschauer erst im dritten oder vierten Akt aufgeht. Soll da der alberne Kerl ärgerlich werden und schimpfen und das Stück stören und die Künstler belästigen? Nein. Der ehrenwerte Mann soll ruhig sitzen und die köstlichen Gefühle des Staunens, der Erwartung und der Spannung in sich erfahren. Er soll nicht ins Theater gehen, um seine triviale Laune zu verderben. Er soll ins Theater gehen, um eine künstlerische Stimmung zu verwirklichen. Er soll ins Theater gehen, um eine künstlerische Stimmung, ein künstlerisches Temperament zu gewinnen. Er ist nicht der Richter des Kunstwerks. Er ist einer, der zur Betrachtung des Kunstwerks zugelassen ist und dem es, wenn das Werk schön ist, vergönnt ist, in seiner Betrachtung all den Ichwahn, der ihn quält, zu vergessen – den Ichwahn seiner Unwissenheit und den Ichwahn seiner Bildung. Diese Besonderheit des Dramas ist, glaube ich, noch kaum genug beachtet worden. Ich kann mir wohl vorstellen, dass, wenn »Macbeth« zum erstenmal vor einem modernen Londoner Publikum gespielt würde, viele Anwesende die Einführung der Hexen im ersten Akt mit ihrer grotesken Redeweise und ihren lächerlichen Worten streng und entschieden tadeln würden. Aber wenn das Stück vorbei ist, dann merkt man, dass das Gelächter der Hexen in »Macbeth« so schrecklich ist wie das Gelächter des Wahnsinns in »Lear« und schrecklicher als das Gelächter Jagos in der Tragödie des Mohren. Kein Kunstbetrachter braucht die Stimmung der Empfänglichkeit vollendeter als der Zuschauer im Schauspiel. In dem Augenblick, wo er Autorität auszuüben sucht, wird er der erklärte Feind der Kunst und seiner selbst. Die Kunst macht sich nichts daraus. Er aber leidet darunter.

Mit dem Roman steht es ebenso. Die Autorität der Menge und die Anerkennung dieser Autorität sind verhängnisvoll, Thackerays »Esmond« ist ein schönes Kunstwerk, weil er es zu seiner eigenen Lust schrieb. In seinen anderen Romanen, in »Pendennis«, in »Philip« und sogar manchmal in »Vanity fair« denkt er zu sehr ans Publikum und verdirbt sein Werk, indem er direkt an die Sympathien des Publikums appelliert, oder sich direkt über es lustig macht. Ein wahrer Künstler nimmt keinerlei Notiz vom Publikum. Das Publikum existiert nicht für ihn. Er hat keinen Mohnkuchen oder Honigkuchen, um damit dem Ungeheuer Schlaf oder angenehme Stimmung zu geben. Er überlässt das dem Verfasser populärer Romane. Einen Dichter unvergleichlicher Romane haben wir jetzt in England: George Meredith. Frankreich hat grössere Künstler, aber Frankreich hat keinen, dessen Lebensanschauung so umfassend, so mannigfaltig, so überwiegend wahr ist. Es gibt Erzähler in Russland, deren Sinn für die Bedeutung von Qual und Leiden für die erzählende Dichtung lebhafter ausgebildet ist. Aber er ist der Philosoph der Romandichtung. Seine Gestalten leben nicht nur, sie leben im Geiste. Man kann sie von unendlich vielen Standpunkten aus sehen. Sie sind suggestiv. Es ist Seele in ihnen und um sie. Sie sind aufschliessend und symbolisch. Und der sie geschaffen hat, diese wundervollen beweglichen Gestalten, schuf sie zu seiner eigenen Lust und hat das Publikum nie gefragt, was sie haben wollten, hat dem Publikum nie erlaubt, ihm Vorschriften zu machen oder ihn irgendwie zu beeinflussen, sondern er hat seine eigene Persönlichkeit immer intensiver herausgebildet und hat sein eigenes individuelles Werk geschaffen. Zuerst kam niemand zu ihm. Das machte nichts aus. Dann kamen die wenigen. Das änderte ihn nicht. Jetzt sind die vielen gekommen. Er ist derselbe geblieben. Er ist ein unvergleichlicher Dichter.

Mit den dekorativen Künsten steht es nicht anders. Das Publikum klammerte sich mit wirklich pathetischer Zähigkeit an das, was ich für die unmittelbaren Überlieferungen der grossen Weltausstellung internationaler Gewöhnlichkeit halte, an Überlieferungen, die so schauderhaft waren, dass die Häuser, in denen die Leute lebten, nur für Blinde zum Wohnen geeignet waren. Man fing an, schöne Dinge zu machen, schöne Farben kamen aus den Händen des Färbers, schöne Muster aus dem Hirn des Künstlers, und der Nutzen schöner Dinge und ihr Wert und ihre Bedeutung wurden dargetan. Das Publikum war wirklich sehr aufgebracht. Es wurde wütend. Es sagte Albernheiten. Niemand kehrte sich daran. Niemand war weniger wert. Niemand fügte sich der Autorität der öffentlichen Meinung. Und jetzt ist es fast unmöglich, in ein modernes Haus zu kommen, ohne an irgend einer Stelle den guten Geschmack und den Wert schönen Wohnens anerkannt zu sehen; überall finden sich Anzeichen, dass man weiss, was Schönheit ist. In der Tat sind heutzutage in der Regel die Wohnungen der Leute ganz reizend. Die Leute sind bis zu sehr hohem Grade zivilisiert worden. Loyalerweise muss indessen festgestellt werden, dass der ausserordentliche Erfolg der Revolution in der Wohnungsdekoration, der Möblierung und dergleichen nicht in Wirklichkeit dem Umstand zu verdanken ist, dass die Mehrheit des Publikums einen sehr feinen Geschmack in diesen Dingen bekommen hat. Er war hauptsächlich dem Umstand zu verdanken, dass die Handwerker von solcher Freude erfüllt wurden, schöne Dinge machen zu können, und dass ein so lebhaftes Gefühl von der Hässlichkeit und Gemeinheit dessen in ihnen wach wurde, was das Publikum früher verlangt hatte, dass sie das Publikum mit seinem Geschmack einfach aushungerten. Es wäre zurzeit ganz unmöglich, ein Zimmer so einzurichten, wie es vor einigen Jahren noch eingerichtet wurde, ohne dass man jedes Stück auf einer Versteigerung von alten Möbeln erstände, die aus einem Logierhaus dritten Ranges stammen. Die Sachen werden nicht mehr gemacht. So sehr sie sich dagegen stemmen, die Leute müssen heute schöne Dinge um sich haben. Zu ihrem Glück ging ihr Anspruch auf Autorität in diesen Kunstdingen völlig in die Brüche.

Es ist also offenbar, dass alle Autorität in diesen Dingen von Übel ist. Die Leute fragen manchmal, unter welcher Regierungsform der Künstler am besten lebe. Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort. Die Regierungsform, die für den Künstler am geeignetsten ist, ist: überhaupt keine Regierung. Autoritäre Gewalt über ihn und seine Kunst ist lächerlich. Es ist behauptet worden, in Despotien hätten Künstler schöne Werke geschaffen. Das stimmt so nicht ganz. Künstler haben Despoten besucht, nicht als Untertanen, die tyrannisiert wurden, sondern als wandernde Wundermänner, als Vagabunden mit bezaubernder Persönlichkeit, die man bewirtete und beschenkte und in Frieden leben und schaffen liess. Es ist das zugunsten des Despoten zu sagen, dass er, der ein Individuum ist, Kultur haben kann, während der Pöbel, der ein Ungeheuer ist, keine hat. Wer Kaiser oder König ist, kann sich bücken, um einem Maler den Pinsel aufzuheben, aber wenn die Demokratie sich bückt, geschieht es nur, um mit Schmutz zu werfen. Und dabei braucht sich doch die Demokratie nicht so tief hinunterzubücken wie der Kaiser. Wenn sie mit Schmutz werfen wollen, brauchen sie sich sogar gar nicht zu bücken. Aber es ist nicht nötig, den Monarchen vom Pöbel zu trennen, alle autoritäre Gewalt ist gleich schlecht.

Es gibt drei Arten von Despoten. Erstens den Despoten, der die Gewalt über den Körper ausübt. Zweitens den Despoten, der die Gewalt über die Seele ausübt. Drittens den Despoten, der zugleich über Seele und Leib die Gewalt ausübt. Der erste heisst der Fürst. Der zweite heisst der Papst. Der dritte heisst das Volk. Der Fürst kann gebildet sein. Viele Fürsten waren es. Doch der Fürst ist gefährlich. Man muss an Dante auf dem bitteren Fest von Verona denken, an Tasso in der Tobsuchtszelle Ferraras. Es ist für den Künstler besser, nicht mit Fürsten zu leben. Der Papst kann gebildet sein. Viele Päpste sind es gewesen, die schlechten Päpste sind es gewesen. Die schlechten Päpste liebten die Schönheit fast so leidenschaftlich, ja sogar mit derselben Leidenschaft wie die guten Päpste das Denken hassten. Den schlechten Päpsten dankt die Menschheit vieles. Die guten Päpste haben eine furchtbare Schuld gegen die Menschheit auf dem Gewissen, Obwohl der Vatikan die Rhetorik seiner Donner behalten und die Rute seiner Blitze verloren hat, ist es doch besser für Künstler, nicht mit Päpsten zu leben. Es war ein Papst, der von Cellini zu einem Kardinalskonklave sagte, das gemeine Recht und die gemeine Autorität seien für Männer, wie er, nicht gemacht; aber es war auch ein Papst, der Cellini ins Gefängnis warf und ihn darin liess, bis sein Geist in Raserei verfiel und er unwirkliche Visionen hatte und die goldene Sonne in sein Gemach treten sah und sich so in sie verliebte, dass er zu entfliehen suchte und von Turm zu Turm kletterte und bei Sonnenaufgang schwindlig hinabfiel und schwer zu Schaden kam. Ein Winzer fand ihn, bedeckte ihn mit Weinblättern und fuhr ihn in einem Karren zu einem, der schöne Dinge liebte und ihn pflegte. Päpste sind gefährlich. Und das Volk – was ist von ihm und seiner Herrschaft zu sagen? Vielleicht hat man von ihm und seiner Herrschaft genug gesprochen. Seine Herrschaft ist ein blindes, taubes, scheussliches, groteskes, tragisches, spasshaftes, ernsthaftes und schmutziges Ding. Es ist für den Künstler unmöglich, mit dem Volke zu leben. Alle Despoten bestechen. Das Volk besticht und ist brutal. Wer hat sie zur Herrschaft berufen? Sie waren bestimmt: zu leben, zu lauschen, zu lieben. Ihnen ist grosses Unrecht geschehen. Sie haben sich Schaden getan durch Nachahmung Geringerer. Sie haben das Szepter des Fürsten ergriffen. Wie sollten sie es handhaben können? Sie haben sich die dreifache Krone des Papstes aufgesetzt. Wie sollten sie die Last tragen können? Sie sind wie ein Clown mit gebrochenem Herzen. Sie sind ein Priester mit noch ungeborener Seele. Alle, die die Schönheit lieben, mögen Mitleid mit ihnen haben. Wenn sie schon die Schönheit nicht lieben, mögen sie doch selbst Mitleid mit sich haben. Wer lehrte sie das Handwerk der Tyrannen?

Es gibt noch viele Dinge, die zu sagen wären. Man könnte zeigen, wie die Renaissance gross war, weil sie kein soziales Problem zu lösen suchte und sich nicht mit solchen Dingen abgab, aber dem Individuum erlaubte, sich frei, schön und natürlich zu entfalten, und so grosse und individuelle Menschen hatte. Man könnte zeigen, wie Ludwig XIV. dadurch, dass er den modernen Staat schuf, den Individualismus des Künstlers zerstörte und bewirkte, dass die Dinge in der Eintönigkeit ihrer Wiederholung schauderhaft wurden und verächtlich in ihrer Fügsamkeit unter die Regel, und im ganzen Frankreich die entzückenden Freiheiten des Ausdrucks zerstörte, die das Überlieferte in Schönheit neu gemacht und neue Formen in Einklang mit der Antike geschaffen hatten. Aber das Vergangene ist ohne Bedeutung. Wir haben es mit der Zukunft zu tun. Denn die Vergangenheit ist, was der Mensch nicht hätte sein sollen. Die Gegenwart ist, was der Mensch nicht sein sollte. Die Zukunft ist, was Künstler sind.

 

Es wird natürlich gesagt werden, ein solcher Plan, wie er hier vorgebracht ist, sei ganz unpraktisch und gehe gegen die Natur des Menschen. Das ist völlig wahr. Er ist unpraktisch und er geht gegen die Natur des Menschen. Darum verdient er es, durchgeführt zu werden, und darum schlägt man ihn vor. Denn was ist ein praktischer Plan? Ein praktischer Plan ist entweder ein Plan, der bereits besteht, oder ein Plan, der unter den bestehenden Verhältnissen durchgeführt werden könnte. Aber gerade gegen die bestehenden Verhältnisse wendet man sich; und jeder Plan, der sich in diese Verhältnisse fügen könnte, ist schlecht und töricht. Mit den Verhältnissen wird aufgeräumt werden, und die Natur des Menschen wird sich ändern. Das einzige, was man von der Natur des Menschen wirklich weiss, ist, dass sie sich ändert. Veränderung ist die Eigenschaft, die wir von ihr aussagen können. Die Systeme, die fehlschlagen, sind die, die auf die Konstanz der menschlichen Natur bauen, anstatt auf ihr Wachstum und ihre Entwicklung. Der Irrtum Ludwigs XIV. war, dass er glaubte, die Natur des Menschen werde immer dieselbe bleiben. Das Ergebnis seines Irrtums war die französische Revolution. Ein wundervolles Ergebnis. Alle Ergebnisse der Irrtümer der Regierungen sind ganz wundervoll.

Es ist auch zu beachten, dass, wenn der Individualismus zum Menschen kommen soll, dazu kein schwächliches Pfaffengeschwätz über die Pflicht verhilft, worunter lediglich das Tun zu verstehen ist, das andere Leute haben wollen, weil sie es haben wollen; und ebensowenig das widerliche Pfaffengeschwätz von Selbstaufopferung, die bloss ein Überrest des Brauchs der Wilden ist, sich zu verstümmeln. In der Tat kommt er mit gar keinen Forderungen und Ansprüchen zum Menschen. Er kommt natürlich und unvermeidlich aus dem Menschen heraus. Er ist solle auf dieselbe Art denken und dieselben Ansichten haben. Warum sollte er? Wenn er denken kann, wird er wahrscheinlich anders denken. Wenn er nicht denken kann, ist es ungeheuerlich, irgendwelche Gedanken von ihm zu verlangen. Eine rote Rose ist nicht selbstsüchtig, weil sie eine rote Rose sein will. Sie wäre furchtbar selbstsüchtig, wenn sie verlangte, alle andern Blumen im Garten sollten rot und Rosen sein. Im Reiche des Individualismus werden die Menschen ganz natürlich und völlig uneigennützig sein, und werden den Sinn der Worte verstehen und ihn in ihrem freien, schönen Leben verwirklichen. Die Menschen werden nicht egoistisch sein, wie sie es heute sind. Denn Egoist ist, wer an andere Ansprüche stellt, und der Individualist wird das nicht tun wollen. Es wird ihm kein Vergnügen machen. Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch das Mitgefühl verwirklichen und es frei und ungehemmt walten lassen. Bis jetzt hat der Mensch das Mitgefühl überhaupt kaum geübt. Er hat bloss Mitgefühl mit Leiden, und das ist nicht die höchste Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist schön, aber Mitleid ist die niedrigste Form. Es ist mit Egoismus durchsetzt. Es kann leicht krankhaft werden. Es liegt in ihm ein gewisses Element der Angst um unsere eigene Sicherheit. Wir fürchten, wir selbst könnten so werden, wie der Aussätzige oder der Blinde, und es kümmerte sich dann niemand um uns. Es ist auch seltsam beschränkt. Man sollte mit der Ganzheit des Lebens mitfühlen, nicht bloss mit den Wunden und Krankheiten des Lebens, sondern mit der Freude und Schönheit und Kraft und Gesundheit und Freiheit des Lebens. Je umfassender das Mitgefühl ist, um so schwerer ist es natürlich. Es erfordert mehr Uneigennützigkeit. Jeder kann die Leiden eines Freundes mitfühlen, aber es erfordert eine sehr vornehme Natur – es erfordert eben die Natur eines wahren Individualisten – den Erfolg eines Freundes mitzufühlen. In dem Gedränge der Konkurrenz und dem Ellbogenkampf unserer Zeit ist solches Mitgefühl natürlich selten und wird auch sehr erstickt durch das unmoralische Ideal der Gleichförmigkeit des Typus und der Fügsamkeit unter die Regel, das überall so sehr vorherrscht und vielleicht am schädlichsten in England ist.

Mitleid wird es natürlich immer geben. Es ist einer der ersten Instinkte des Menschen. Die Tiere, die individuell sind, das heisst die höheren Tiere, haben es wie wir. Aber man muss sich vergegenwärtigen, dass – während die Mitfreude die Summe der Freude, die es in der Welt gibt, erhöht – das Mitleid die Menge des Leidens nicht wirklich vermindert. Es kann den Menschen in stand setzen, das Uebel besser zu ertragen, aber nahe. Sie entzückte es, wenn sie die Männer und Frauen malen konnten, die sie bewunderten, wenn sie den Reiz dieser reizenden Erde zeigen konnten. Sie malten viele religiöse Bilder – tatsächlich malten sie viel zu viele, und die Eintönigkeit des Typus und des Motivs ist ermüdend und war von Übel für die Kunst. Sie kam von der Autorität des Publikums in Sachen der Kunst und ist zu beklagen. Aber ihre Seele war nicht dabei. Raffael war ein grosser Künstler, als er sein Papstbildnis malte. Als er seine Madonnen und Christusknaben malte, war er durchaus kein grosser Künstler. Christus hatte der Renaissance nichts zu sagen, die wundervoll war, weil sie ein Ideal brachte, das ein anderes war als seines, und wenn wir die Darstellung des wirklichen Christus finden wollen, müssen wir uns an die Kunst des Mittelalters wenden. Da ist er ein Gemarterter und Verwundeter, einer, der nicht lieblich anzusehen ist, weil Schönheit eine Freude ist, einer, der kein schönes Gewand anhat, weil das auch eine Freude sein kann: er ist ein Bettler mit einer strahlenden Seele, er ist ein Aussätziger mit göttlicher Seele, er braucht nicht Eigentum noch Gesundheit, er ist ein Gott, der seine Vollendung durch Schmerzen verwirklicht.

Die Entwicklung des Menschen ist langsam. Die Ungerechtigkeit der Menschen ist gross. Es war notwendig, dass das Leiden als Form der Selbstverwirklichung hingestellt wurde. Selbst jetzt ist an manchen Punkten der Welt die Botschaft Christi notwendig. Niemand, der im modernen Russland lebt, kann seine Vollkommenheit erreichen, es sei denn durch Leiden. Ein paar russische Künstler haben sich in der Kunst verwirklicht, in Romanen, die im Charakter mittelalterlich sind, denn ihr vorherrschender Zug ist die Verwirklichung der Menschen durch das Leiden. Aber für die andern, die keine Künstler sind, und für die es keine andere Form des Lebens gibt als das tatsächliche Leben der Wirklichkeit, ist das Leiden das einzige Tor zur Vollendung. Ein Russe, der sich unter dem gegenwärtigen Regierungssystem in Russland glücklich fühlt, muss entweder glauben, dass der Mensch keine Seele hat, oder dass sie, wenn er eine hat, nicht wert ist, sich zu entfalten. Ein Nihilist, der alle Autorität verwirft, weil er weiss, dass die Autorität von Übel ist, und der alles Leiden begrüsst, weil er dadurch seine Persönlichkeit verwirklicht, ist ein wirklicher Christ. Ihm ist das christliche Ideal zur Wahrheit geworden.

Und doch lehnte sich Christus nicht gegen die Obrigkeit auf. Er fügte sich der autoritären Gewalt des römischen Kaiserreichs und zahlte Tribut. Er duldete die geistliche Gewalt der jüdischen Kirche und wollte ihrer Gewalt nicht mit eigener Gewalt begegnen. Er hatte, wie ich vorhin sagte keinen Plan für einen Neubau der Gesellschaft. Aber die moderne Welt hat solche Pläne. Sie schlägt vor, die Armut und das Elend, das sie mit sich bringt, abzuschaffen. Sie will das Leiden loswerden und das Elend, das es mit sich bringt. Sie hat sich den Sozialismus und die Wissenschaft als Methoden gewählt. Was sie erstrebt, ist ein Individualismus, der sich durch die Freude zum Ausdruck bringt. Dieser Individualismus wird umfassender, völliger, reizender sein als je einer gewesen ist, Das Leiden ist nicht die letzte Form der Vollendung. Es ist nur vorläufig und ein Protest. Es entsteht in schlechten, ungesunden, ungerechten Zuständen. Wenn das Übel und die Krankheit und die Ungerechtigkeit entfernt sind, hat es keine Stätte mehr. Es hat dann sein Werk getan. Es war ein gewaltiges Werk, aber es ist beinahe vorüber. Sein Gebiet wird von Tag zu Tag kleiner.

Und der Mensch wird es nicht entbehren. Denn wonach der Mensch gesucht hat, das ist wahrhaftig nicht Leiden und nicht Lust, sondern einfach Leben. Der Mensch hat danach gesucht, intensiv, völlig, vollkommen zu leben. Wenn er das tun kann, ohne gegen andere Zwang zu üben oder ihn je zu dulden, und wenn all seine Betätigungen ihm lustvoll sind, dann wird er gesünder und kraftvoller sein, mehr Kultur haben, mehr er selbst sein. Lust ist das Siegel der Natur, ihr Zeichen der Zustimmung. Wenn der Mensch glücklich ist, dann ist er in Harmonie mit sich selbst und seiner Umgebung. Der neue Individualismus, in dessen Diensten der Sozialismus, ob er es will oder nicht, am Werke ist, wird vollendete Harmonie sein. Er wird sein, wonach die Griechen suchten, was sie aber, ausser im Geiste, nicht vollständig verwirklichen konnten, weil sie Sklaven hatten und sie ernährten, er wird sein, wonach die Renaissance suchte, was sie aber, ausser in der Kunst, nicht vollständig verwirklichen konnte, weil sie Sklaven hatte und sie hungern liess. Er wird vollständig sein, und durch ihn wird jeder Mensch zu seiner Vollendung kommen. Der neue Individualismus ist der neue Hellenismus.

Aus dem Zuchthaus zu Reading

Die Londoner Zeitung »The Daily Chronicle« hatte berichtet, ein Gefängnisaufseher sei entlassen worden, weil er einem hungrigen Kinde, das im Gefängnis eingesperrt war, ein paar Kakes zu essen gegeben habe. Darauf richtete O. W. folgenden Brief an den Herausgeber des Blattes.

 

Mit grossem Bedauern entnehme ich den Spalten Ihrer Zeitung, dass der Aufseher Martin aus dem Reading-Gefängnis von der Gefängnisinspektion entlassen wurde, weil er einem armen hungrigen Kinde ein paar Kakes gegeben hat. Ich habe die drei Kinder selbst an dem Montag, der meiner Entlassung vorherging, gesehen. Sie waren verurteilt worden und standen der Reihe nach in der Zentralhalle, sie hatten die Gefängniskleidung an, trugen ihre Bettbezüge unter dem Arm und warteten, bis man sie in die für sie bestimmten Zellen abführte. Ich kam gerade auf einer der letzten Galerien vorbei, auf dem Wege zum Besuchszimmer, wo ich eine Besprechung mit einem Freunde haben sollte. Es waren ganz kleine Kinder, das jüngste – eben das, dem der Aufseher die Kakes gab – ein winziges Kerlchen, für das sie offenbar keine passenden Kleider finden konnten, die vorhandenen waren alle zu gross. Ich habe natürlich im Gefängnis in den zwei Jahren, in denen ich eingesperrt war, viele Kinder gesehen. Besonders das Wandworth-Gefängnis beherbergte immer eine Anzahl Kinder. Aber das kleine Kind, das ich am Montag nachmittag in Reading sah, war winziger als irgend ein anderes. Ich kann kaum beschreiben, wie äusserst betrübt ich war, diese Kinder in Reading zu sehen, denn ich kannte die Behandlung, die ihrer wartete. Die Grausamkeit, die man bei Tag und bei Nacht an Kindern in englischen Gefängnissen verübt, ist unglaublich für alle, die sie nicht selbst mit angesehen haben und die Brutalität des Systems nicht kennen.

Die Menschen unserer Zeit wissen nicht, was Grausamkeit ist. Sie halten sie für eine Art schreckliche mittelalterliche Leidenschaft und bringen sie in Verbindung mit Männern vom Schlage Ezzelins da Romano und anderer, denen es in der Tat einen wahnsinnigen Genuss bereitete, absichtlich Schmerzen zuzufügen. Aber Männer vom Gepräge Ezzelins sind nur aussergewöhnliche Typen eines perversen Individualismus. Die Grausamkeit des Alltags ist nichts weiter als Dummheit. Sie ist der gänzliche Mangel der Fähigkeit, sich ein Bild von den Dingen zu machen – des Verstandes. Sie ist in unseren Tagen die Folge der stereotypierten Systeme, der harten und festen Gesetze, der Dummheit. Wo Zentralisation herrscht, herrscht Dummheit. Wo im modernen Leben der Beamte anfängt, hört der Mensch auf. Die Autorität ist ebenso gefährlich für die, die sie ausüben, wie für die, gegen die sie ausgeübt wird. Die Gefängnisbehörde und das System, das sie durchführt, ist die ursprüngliche Quelle der Grausamkeit, die an einem Kinde im Gefängnis verübt wird. Die Leute, die das System aufrecht erhalten, haben vielleicht vortreffliche Absichten. Die es ausführen, sind in ihren Absichten ebenfalls human. Die Verantwortlichkeit ruht auf den Vorschriften der Disziplin. Es wird angenommen, eine Sache sei recht, wenn sie Gesetz ist.

Die gegenwärtige Behandlung der Kinder ist schrecklich, besonders wo es sich um Leute handelt, die die besondere Psychologie der Kindesnatur nicht verstehen. Ein Kind kann eine Bestrafung, die von einem einzelnen Individuum, so vom Vater oder vom Vormund, ausgeht, verstehen und sie mit einem gewissen Grad von Fügsamkeit ertragen. Was es aber nicht verstehen kann, das ist eine Bestrafung von seiten der Gesellschaft. Es kann sich nicht vorstellen, was das ist: die Gesellschaft. Mit erwachsenen Personen verhält es sich natürlich umgekehrt. Diejenigen unter uns, die im Gefängnis sind oder gewesen sind, können und werden verstehen, was die Kollektivkraft, die man Gesellschaft nennt, bedeutet; und was wir auch von ihrer Methode und ihren Ansprüchen halten mögen, wir können uns dazu zwingen, uns zu fügen. Andrerseits aber ist eine Bestrafung, die uns von einem Individuum zugefügt wird, eine Sache, die kein Erwachsener duldet, wenigstens erwartet es niemand von ihm.

Das Kind also, das von Leuten, die es nie gesehen hat und von denen es nichts weiss, seinen Eltern entrissen wird, das sich in einer öden und abstossenden Zelle befindet, das von fremden Gestalten beobachtet wird, das von den Vertretern eines Systems, das es nicht verstehen kann, kommandiert und abgestraft wird, wird dem ersten und schlimmsten unter den Gefühlen, die das Gefängnisleben hervorbringt, zum Raub: dem Gefühl des Schreckens. Der Schrecken eines Kindes im Gefängnis ist grenzenlos. Ich erinnere mich, einmal in Reading, als ich zur Freistunde ging, in der düsteren Zelle, die der meinen gegenüberlag, einen Knaben gesehen zu haben. Zwei Aufseher – keine unfreundlichen Männer – sprachen zu ihm, offenbar etwas strenge, oder gaben ihm einen nützlichen Rat in bezug auf sein Verhalten. Einer war bei ihm in der Zelle, der andere stand aussen. Das Antlitz des Kindes war voller Schrecken und totenblass. In seinen Augen lag der Schrecken eines gehetzten Wildes. Am nächsten Morgen, zur Frühstückszeit, hörte ich ihn schreien und rufen, man solle ihn herauslassen. Er schrie nach seinen Eltern. Von Zeit zu Zeit konnte ich die tiefe Stimme des Aufsehers hören, der ihm sagte, er solle sich ruhig verhalten. Und dabei war er nicht einmal wegen irgend eines Vergehens verurteilt. Er war in Untersuchungshaft. Das sah ich daran, dass er seine eigenen Kleider trug, die ziemlich sauber schienen. Indessen trug er Anstaltsstrümpfe und -schuhe, und das zeigte, dass er ein wirklich armer Knabe war, dessen eigene Schuhe, wenn er welche hatte, in einer bösen Verfassung waren.

Richter und Beamte, in der Regel ein ganz dummer Menschenschlag, stecken oft Kinder für acht Tage ein und erlassen dann irgend eine Strafe, die zu verhängen sie berechtigt sind. Sie nennen dies »ein Kind nicht ins Gefängnis schicken«. Das ist natürlich eine blöde Auffassung von ihnen. Ein Kind kann die Spitzfindigkeit, ob es in Untersuchungs- oder Strafhaft ist, nicht unterscheiden. Das Schreckliche für das Kind ist, überhaupt da zu sein. In den Augen der Menschheit sollte es etwas Schreckliches sein, dass es überhaupt da ist.

Dieser Schrecken, der das Kind beherrscht, ebenso wie er auch den Erwachsenen beherrscht, wird natürlich über alle Maassen verstärkt durch die Einsamkeit des Zellensystems. Jedes Kind ist dreiundzwanzig Stunden von vierundzwanzig in seiner Zelle eingesperrt. Dies ist das Schreckliche an der Sache. Dass ein Kind dreiundzwanzig Stunden im Tag in eine dunkle Zelle gesperrt wird, ist ein Beispiel für die Grausamkeit der Dummheit. Wenn ein Individuum, ein Vater oder Vormund, etwas der Art einem Kinde antäte, würde er streng bestraft werden. Der Schutzverein gegen die Kinderquälerei würde sich der Sache annehmen. Auf allen Seiten würde sich die lebhafteste Entrüstung über solche Grausamkeit erheben. Aber unsere eigene gegenwärtige Gesellschaft tut selbst noch Schlimmeres, und für ein Kind, das von einer unverständlichen abstrakten Gewalt so behandelt wird, für deren Ansprüche es keinen Verstand hat, ist solches viel schlimmer, als wenn es von seinem Vater oder seiner Mutter oder sonst einem Bekannten geschähe. Die unmenschliche Behandlung eines Kindes ist immer unmenschlich, von wem sie auch zugefügt wird. Aber die unmenschliche Behandlung, die von der Gesellschaft ausgeht, ist für das Kind schrecklicher, weil es gegen sie keine Berufung gibt. Ein Vater oder ein Vormund kann gerührt werden, so dass er das Kind aus dem dunkeln, öden Raum, in dem es eingesperrt ist, herauslässt. Aber ein Aufseher kann das nicht. Die meisten Aufseher sind aufrichtige Kinderfreunde. Aber das System verwehrt es ihnen, dem Kind irgend welchen Beistand zu leisten. Falls sie das tun, wie in dem Fall des Aufsehers Martin, werden sie entlassen.

Das zweite, worunter ein Kind im Gefängnis zu leiden hat, ist der Hunger. Die Nahrung, die es erhält, besteht aus einem Stück Gefängnisbrot, das gewöhnlich schlecht gebacken ist, und einem Krug Wasser zum Frühstück um halb sieben Uhr. Um zwölf Uhr gibt es Mittagessen, das aus einem Topf Haferbrei besteht, und um halb sechs Uhr bekommt es ein Stück trockenes Brot und einen Krug Wasser zum Abendessen. Diese Ernährung bringt bei einem starken erwachsenen Manne immer irgend welches Unwohlsein hervor, besonders natürlich Durchfall und in seinem Gefolge Schwäche. In der Tat werden in jedem grösseren Gefängnis stopfende Medizinen regelmässig, als ob es sich von selbst verstünde, von den Aufsehern verabreicht. Was aber das Kind angeht, so ist es in der Regel überhaupt nicht imstande, die Kost zu essen.

Jeder, der etwas von Kindern versteht, weiss, wie leicht die Verdauung eines Kindes durch das viele Weinen oder durch Kummer und Seelenschmerz gestört wird. Ein Kind, das den ganzen Tag und vielleicht die halbe Nacht in einer öden dunklen Zelle geweint hat und vom Schrecken gepeinigt wird, kann solche schlechte grobe Kost einfach nicht essen. In dem Fall des kleinen Kindes, dem der Aufseher Martin die Kakes gab, weinte das Kind am Dienstag morgen vor Hunger und war völlig unfähig, das Brot und das Wasser, das ihm zum Frühstück gegeben wurde, zu sich zu nehmen. Martin ging, nachdem er das Frühstück ausgegeben hatte, aus und kaufte dem Kinde lieber die paar Kakes, als dass er es Hunger leiden sah. Das war schön von ihm gehandelt, und es wurde von dem Kinde so dankbar empfunden, dass es, ohne eine Ahnung von den Gefängnisvorschriften zu haben, einem der Ober-Aufseher erzählte, wie freundlich dieser Aufseher zu ihm gewesen sei. Die Folge davon war natürlich eine Anzeige und die Entlassung.

Ich kannte Martin sehr gut; er war in den letzten sieben Wochen meiner Gefangenschaft mein Aufseher. Er hatte in Reading auf dem C-Flügel Dienst, in dem ich eingesperrt war, und so sah ich ihn fortwährend.

Ich war überrascht über die seltene Freundlichkeit und Menschlichkeit, mit der er zu mir und den übrigen Gefangenen sprach. Freundliche Worte sind im Gefängnis viel wert, und ein einfaches »Guten Morgen« oder »Guten Abend« machen einen so glücklich, als es im Gefängnis möglich ist. Er war immer mild und massvoll. Ich erinnere mich an einen andern Fall, in dem er sich einem der Gefangenen gegenüber sehr freundlich erwies, und ich nehme keinen Anstand, ihn zu erwähnen. Einer der schrecklichsten Zustände im Gefängnis sind die schlechten hygienischen Einrichtungen. Es ist dem Gefangenen unter keinen Umständen erlaubt, nach halb sechs Uhr die Zelle zu verlassen. Wenn er also an Durchfall leidet, muss er seine Zelle als Kloset benutzen und die Nacht in einer sehr stinkenden und ungesunden Luft verbringen. Einige Tage vor meiner Entlassung machte Martin um halb acht Uhr mit einem der Ober-Aufseher die Runde, um die Werkzeuge und das Werg aus den Zellen zu schaffen. Ein jüngst Verurteilter, der infolge der ungewohnten Nahrung an heftigem Durchfall litt, bat den Ober-Aufseher, ihm zu erlauben, das Gefäss in seiner Zelle leeren zu dürfen, wegen des schlechten Geruchs, und da er noch einmal in der Nacht unwohl werden könnte. Der Ober-Aufseher lehnte das strikt ab; es war gegen die Vorschrift. Der Mann hätte die Nacht in seiner schrecklichen Lage verbringen müssen. Martin aber, der den armen Mann nicht in einer so abscheulichen Situation lassen wollte, sagte, er wolle ihm das Gefäss selbst ausleeren, und tat das auch. Ein Aufseher, der das Gefäss eines Gefangenen ausleert, ist natürlich gegen die Vorschrift, aber Martin erwies dem Mann diese Gefälligkeit aus der einfachen Menschlichkeit seiner Natur heraus, und der Mann war natürlich sehr dankbar.

Was die Kinder angeht, so ist in letzter Zeit viel über den verderbenden Einfluss des Gefängnisses auf junge Kinder geredet und geschrieben worden. Was da gesagt wird, ist sehr wahr. Ein Kind wird durch das Gefängnisleben sehr verdorben. Aber der verderbliche Einfluss geht nicht von den Gefangenen aus. Er geht aus von dem ganzen Gefängnissystem – vom Direktor, dem Geistlichen, den Aufsehern, der öden Zelle, der Isolierung, der empörenden Ernährung, den Gefängnisvorschriften, der Art, wie die Disziplin ausgeübt wird, dem ganzen Leben. Es ist alle erdenkliche Sorgfalt getroffen, dass das Kind die Gefangenen über sechzehn Jahren nicht einmal zu sehen bekommt. Die Kinder sitzen in der Kirche hinter einem Vorhang und haben ihre Freistunde in kleinen Höfen, wo keine Sonne hinkommt, nur damit sie die älteren Gefangenen nicht zu sehen bekommen. Aber in Wahrheit geht der einzige wirklich menschliche Einfluss, der im Gefängnis ausgeübt wird, von Gefangenen aus. Ihre Heiterkeit unter schrecklichen Umständen, ihre Sympathie füreinander, ihre Bescheidenheit, ihre Liebenswürdigkeit, ihr freundliches Lächeln, mit dem sie sich beim Begegnen begrüssen, die völlige Ruhe, mit der sie sich in ihre Strafe fügen, alles das ist ganz wundervoll, und ich selbst habe manches Gute von ihnen gelernt. Ich will nicht vorschlagen, die Kinder sollten in der Kirche nicht hinter einem Vorhang sitzen, oder sie sollten mit den andern zusammen ihre Freistunde haben. Ich will nur feststellen, dass der schlechte Einfluss nicht von den Gefangenen, sondern vom Gefängnissystem selbst ausgeht. Es ist nicht ein einziger Mann im Reading-Gefängnis, der nicht gern die Strafe der drei Kinder auf sich genommen hätte. Ich sah sie zuletzt an dem Dienstag, der ihrer Verurteilung folgte. Ich ging um halb zwölf Uhr mit ungefähr zwölf andern Männern zur Freistunde, und die drei Kinder gingen an uns vorbei, in Begleitung eines Aufsehers; sie kamen von dem dumpfigen, traurigen Hof, wo sie zur Freistunde gewesen waren. Ich sah in den Augen meiner Gefährten das grösste und herzlichste Mitgefühl, als sie die Kinder erblickten. Gefangene sind, als eine zusammengehörige Menschenklasse, ausserordentlich freundlich und liebevoll zueinander. Leiden und die Gemeinsamkeit der Leiden machen die Menschen gütig, und Tag für Tag, wenn ich auf dem Hof einherging, fühlte ich mit Befriedigung und Freude, was Carlyle irgendwo »den stillen rhythmischen Reiz der menschlichen Kameradschaft« nennt. In diesem und in allen anderen Dingen sind die Philanthropen und Leute ihres Schlages auf dem Holzwege. Nicht die Gefangenen bedürfen der Wandlung, sondern die Gefängnisse.

Ich möchte jetzt die Aufmerksamkeit auf eine andere schreckliche Sache lenken, die in englischen Gefängnissen, in der Tat in den Gefängnissen der ganzen Welt umgeht, wo das System des Schweigens und der Zelleneinsperrung ausgeübt wird. Ich spreche von der grossen Zahl derer, die im Gefängnis wahnsinnig oder geistesgestört werden. In Zuchthäusern ist dies natürlich ganz allgemein; aber ebenso in anderen Gefängnissen, so z.B. in dem, wo ich eingesperrt war.

Vor etwa drei Monaten bemerkte ich unter den Gefangenen, die mit mir Freistunde hatten, einen jungen Mann, der mir blödsinnig oder schwachsinnig zu sein schien. Jedes Gefängnis hat seine schwachsinnigen Kunden, die immer wiederkommen, von denen man fast sagen kann, dass sie ihr Leben im Gefängnis zubringen. Aber dieser junge Mensch schien mir mehr als gewöhnlich schwachsinnig zu sein, wegen seines blöden Grinsens und der idiotischen Art, in der er in sich hineinlachte, und wegen der Ruhelosigkeit seiner Hände, die ewig zu zupfen hatten. Er fiel allen anderen Gefangenen wegen seines sonderbaren Wesens auf. Von Zeit zu Zeit blieb er in der Freistunde aus, ein Zeichen, dass er zur Strafe in seiner Zelle eingesperrt war. Endlich bemerkte ich, dass er unter Beobachtung stand und Tag und Nacht von Aufsehern bewacht wurde. Wenn er in der Freistunde erschien, schien er immer hysterisch zu sein und ging schreiend und lachend herum. In der Kirche sass er unter der strengen Beobachtung zweier Aufseher, die ihn sorgsam die ganze Zeit über bewachten. Manchmal wollte er sein Haupt in den Händen bergen, was ein Verstoss gegen die Kirchenordnung war, und sein Kopf wurde sofort von einem der Aufseher zurückgebogen, so dass er seine Augen fortwährend nach dem Altar richten musste. Manchmal wollte er aufschreien, aber er durfte keine Störung machen, die Tränen liefen in Strömen über sein Gesicht, und ein hysterisches Schluchzen drang aus seiner Kehle. Manchmal grinste er idiotisch in sich hinein und schnitt Gesichter. Bei mehr als einer Gelegenheit wurde er aus der Kirche in seine Zelle zurückgeführt, und natürlich wurde er fortwährend bestraft. Da die Bank, auf der ich gewöhnlich in der Kirche sass, direkt hinter der Bank war, an deren Ende der Unglückliche seinen Platz hatte, hatte ich oft Gelegenheit, ihn zu beobachten. Ich sah ihn auch oft in der Freistunde, und ich sah, dass er im Begriff war, wahnsinnig zu werden, während er als Simulant behandelt wurde.

Am Samstag der letzten Woche war ich ungefähr um ein Uhr damit beschäftigt, die Gefässe, die ich zum Mittagessen benutzte, zu reinigen und blank zu putzen. Plötzlich wurde ich heftig erschreckt: die Stille des Gefängnisses wurde gebrochen durch furchtbares Geschrei oder eigentlich Geheul; ich dachte zuerst, ein Tier, ein Stier oder eine Kuh werde ausserhalb der Gefängnismauern ungeschickt geschlachtet. Ich hörte indessen bald, dass das Geheul aus dem Erdgeschoss des Gefängnisses kam, und ich merkte, dass irgend ein Unseliger gepeitscht wurde. Ich kann nicht beschreiben, wie entsetzlich und schrecklich es für mich war, und ich fragte mich erstaunt, wer in dieser empörenden Weise gezüchtigt wurde. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass es wohl dieser unglückliche Wahnsinnige war, der gepeitscht wurde. Was ich dabei empfand, brauche ich nicht mitzuteilen, es hat nichts mit dieser Frage zu tun.

Am nächsten Tag, am Sonntag, den 16., sah ich den armen Mann in der Freistunde, sein hässliches Gesicht war von Tränen und hysterischen Krämpfen so entstellt, dass er kaum zu erkennen war. Er ging in dem inneren Ring mit den alten Männern, den Bettlern und Lahmen, so dass ich ihn die ganze Zeit über beobachten konnte. Es war mein letzter Sonntag im Gefängnis, es war ein sehr lieblicher Tag, der schönste Tag, den wir im ganzen Jahr gehabt hatten, und da in diesem herrlichen Sonnenlicht ging dieses arme Geschöpf – das einst nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen war – grinsend wie ein Affe und mit seinen Händen die seltsamsten Gestikulationen machend, als ob er in der Luft auf einem unsichtbaren Saiteninstrument spielte, oder wie wenn er auf einem sonderbaren Spielbrett die Steine ordnete und verteilte. Mittlerweile hatten diese hysterischen Tränen, ohne die keiner von uns ihn jemals sah, tiefe Rinnen in sein verschwollenes Gesicht gegraben. Seine scheusslichen und bedächtigen Gesten machten ihn einem Possenreisser vergleichbar. Er war ein Urbild des Grotesken. Die andern Gefangenen beobachteten ihn alle und nicht einer von ihnen lächelte. Jeder wusste, was ihm zugestossen war und dass er in den Wahnsinn getrieben worden war, dass er bereits wahnsinnig war. Nach einer halben Stunde befahl ihm einer der Aufseher hineinzugehen, ich vermute, dass er wieder bestraft wurde. Wenigstens war er am Montag nicht in der Freistunde, obwohl ich glaube, ihn an einer Ecke des Hofes in Begleitung eines Aufsehers gesehen zu haben.

Am Dienstag – meinem letzten Tag im Gefängnis – sah ich ihn in der Freistunde. Er befand sich schlimmer als vorher und wurde wieder hineingeschickt. Seitdem weiss ich nichts von ihm, aber ich erfuhr von einem der Gefangenen, der mit mir in der Freistunde ging, dass er am Samstag nachmittag auf Befehl der Inspektionsbehörde auf Grund eines Berichtes des Arztes im Küchenraum 24 Hiebe erhalten habe. Das Geheul, das uns allen Entsetzen eingeflösst hatte, war von ihm gekommen.

Dieser Mann wird ohne Zweifel unheilbar wahnsinnig. Gefängnisärzte haben keine Kenntnis von Geisteskrankheiten. Sie sind durch die Bank unwissende Menschen. Die Lehre von den Krankheiten des Geistes ist ihnen unbekannt. Wenn ein Mann wahnsinnig wird, behandeln sie ihn als Simulanten. Sie haben ihn wieder und wieder bestraft. Natürlich wird der Zustand des Mannes schlimmer. Wenn die gewöhnlichen Strafen erschöpft sind, berichtet der Arzt über den Fall an die Behörde. Die Folge davon ist: er wird ausgepeitscht. Gewiss wird das Peitschen nicht mit der neunschwänzigen Katze ausgeführt, man benutzt eine Birkenrute; aber die Folgen, die diese Prozedur bei dem unseligen, halbverrückten Opfer hervorbringt, kann man sich vorstellen. Dieser Fall ist ein treffendes Beispiel für die Grausamkeit, die von einem unsinnigen System nicht zu trennen ist, denn der gegenwärtige Direktor von Reading ist ein Mann von edlem und menschenfreundlichem Charakter, der bei allen Gefangenen sehr beliebt und angesehen ist. Es ist ihm aber doch ganz unmöglich, das System zu ändern. Ohne Zweifel sieht er täglich vieles, was er selbst für ungerecht, töricht und grausam hält. Aber die Hände sind ihm gebunden.