Aesthetisches Manifest

Unter den vielen jungen Leuten in England, die mit mir zusammen die englische Renaissance zu vollenden und vollkommen zu machen suchen – Jeunes guerriers du drapeau romantique, wie Gautier uns genannt haben würde – gibt es keinen, der eine makellosere und glühendere Liebe zur Kunst hat, keinen, dessen künstlerischer Schönheitssinn zarter und feiner ist – keinen fürwahr, der mir lieber ist – als der junge Dichter, dessen Verse ich mit nach Amerika gebracht habe; Verse voll süssem Leid und doch voller Freude; denn nicht der ist der freudigste Dichter, der auf den öden Landstrassen dieser Welt den unfruchtbaren Samen des Lachens sät, sondern wer seinem Schmerz am meisten Musik verleiht – dies nämlich ist der wahre Sinn der künstlerischen Freude – dies unaussprechliche Element künstlerischen Genusses, das in der Lyrik zum Beispiel davon kommt, was Keats das »sinnliche Leben der Verse« nennt, das Element des Gesangs in dem Liede, das Element, das uns durch das Wunder der rhythmischen Bewegung so ganz hinnimmt, das oft aus einer rein musikalischen Stimmung entspringt und das in der Malerei nie im behandelten Gegenstand, immer nur im malerischen Reiz zu finden ist – im Ton und der Symphonie der Farbe, der beruhigenden Schönheit der Konturen: so dass der höchste Ausdruck unserer Kunstbewegung in der Malerei nicht die vergeisteten Visionen der Präraphaeliten gewesen sind, trotz all ihrem Wunder griechischer Legende und ihrem Mysterium italienischen Lieds, sondern die Arbeit solcher Männer wie Whistler und Albert Moore, die die Zeichnung und Farbe auf die ideale Stufe der Poesie und Musik gehoben haben. Denn die Eigenheit ihrer erlesenen Malerei kommt lediglich von der originellen und schöpferischen Behandlung der Linie und der Farbe, von einer bestimmten Form und Auswahl schöner Technik, die jede literarische Reminiszenz und jede metaphysische Idee verwirft und so dem ästhetischen Sinn für sich allein völlig genügt – sie ist, wie die Griechen gesagt hätten, Selbstzweck; die Wirkung ihrer Werke ist dieselbe wie die Wirkung, die die Musik hervorbringt: denn die Musik ist die Kunst, wo Form und Stoff immer eins sind – die Kunst, deren Gegenstand von der Form, wie er zum Ausdruck kommt, nicht getrennt werden kann; die Kunst, die uns das künstlerische Ideal am vollständigsten verwirklicht, die da steht, wohin alle andern Künste immer unterwegs sind.

Dieser gesteigerte Sinn nun für den in sich ruhenden und völlig gesättigten Wert schöner Technik, diese Anerkennung der ausschlaggebenden Bedeutung des sinnlichen Elements in der Kunst, diese Liebe zur Kunst um der Kunst willen ist der Punkt, wo wir, eine jüngere Richtung, uns von den Lehren Ruskins getrennt haben – endgültig und entschieden getrennt.

Meister in jeder Wissenschaft edler Lebensführung und in der Weisheit aller Dinge des Geistes wird er uns immer sein; er war es ja doch, der durch die zwingende Kraft seiner Persönlichkeit und die Musik seiner Rede uns in Oxford die begeisterte Liebe zur Schönheit lehrte, die das Geheimnis des Hellenismus ist, und den schöpferischen Drang, der das Geheimnis des Lebens ist; der einigen von uns wenigstens die erhabene und leidenschaftliche Sucht schuf, in weite, schöne Lande hinauszugehen und den Völkern eine Botschaft und der Welt eine Sendung zu künden; und doch, in seiner Kunstkritik, seiner Einschätzung des künstlerischen Genusses, seiner ganzen Art, an die Kunst heranzugehen, gehen wir nicht mehr mit ihm; denn das Kriterium seines ästhetischen Systems ist immer ein ethisches. Er beurteilt ein Gemälde nach der Summe vornehmer Moralprinzipien, die es zum Ausdruck bringt; für uns aber sind die Wege, auf denen allein die vornehme malerische Arbeit uns berühren kann und wirklich berührt, nicht Wege von Lebenswahrheiten oder von metaphysischen Wahrheiten. Ihm bedeutet vollendete Technik nur ein Zeichen äusserlichen Glanzes, und Mangelhaftigkeit des technischen Könnens schreibt er einer Phantasie zu, die zu schrankenlos ist, als dass sie in den Schranken der Form ihren völligen Ausdruck finden könnte, oder einer Hingebung, die zu schlicht ist, um in ihrer Gestaltung nicht zu stammeln. Für uns aber ist das Gebot der Kunst etwas anderes als die Gebote der Moral. In einem ethischen System natürlich, das nur einigermassen menschenfreundlich ist, wird freilich der gute Wille anerkannt werden; aber wer in das helle Haus der Schönheit eingehen will, den fragen wir nicht, was er allenfalls tun möchte, sondern was er vollbracht hat. Nicht seine pathetischen Vorsätze haben Wert für uns, sondern nur seine verwirklichten Schöpfungen. Pour moi je préfère les poètes qui font des vers, les médecins qui sachent guérir, les peintres qui sachent peintre.

Auch sollten wir uns bei Betrachtung eines Kunstwerkes nicht in Träume verlieren, was es bedeutet, sondern es um deswillen lieben, was es ist. In der Tat ist der Geist der Transzendenz dem Geist der Kunst fremd. Der metaphysische Geist Asiens mag sich das ungeheuerliche und vielbrüstige Götzenbild schaffen, aber für den Griechen, der lediglich Künstler ist, ist das Werk am reichsten seelisch belebt, das den vollkommenen Erscheinungen auch des leiblichen Lebens am nächsten kommt. Und ein Gemälde zum Beispiel hat in dem, was es von Haus aus in sich birgt, durchaus nicht mehr geistige Beziehung oder Bedeutung für uns als ein blauer Ziegel aus der Mauer von Damaskus oder eine Hizenvase. Es ist eine schöngefärbte Fläche, nichts anderes, und wirkt auf uns mit keiner aus der Philosophie gestohlenen Idee, mit keinem aus der Literatur mitgenommenen Pathos, mit keinem dem Dichter entwendeten Gefühl, sondern mit seiner eigenen unsagbaren künstlerischen Wesenheit – mit der besonderen Form der Wahrheit, die wir Stil nennen, und mit dem Verhältnis von Werten, das die Kennmarke der Malerei ist, mit der ganzen Qualität der Ausführung, mit der ganzen Arabeske der Zeichnung, dem Glanz der Farbe, denn diese Dinge genügen, um die göttlichsten und verborgensten Saiten zu erschüttern, die in unserer Seele musizieren, und die Farbe ist wahrhaftig schon an sich ein mystisches Lebendigsein in den Dingen, und der Ton eine Art Empfindung.

Dies also – die neue Auffassung unserer jüngeren Richtung – ist das Hauptmerkmal der Lyrik Rennell Rodds – denn obschon sich in seinem Buch vieles findet, was den Verstand interessieren kann, vieles, was zum Gefühl spricht, und viele rhythmische Akkorde süsser und schlichter Empfindung – denn denen, die die Kunst um ihrer selbst willen lieben, ist alles andere dazugegeben – ist doch die Wirkung, die sie vorwiegend üben will, eine rein artistische. Ein Gedicht, wie »Das Grab des Seekönigs« mit all seiner majestätischen Melodie, die so tönend und gewaltig ist wie das Meer, an dessen kieferumwallten Ufern es so schön empfangen und gestaltet wurde; oder das kleine Gedicht, das dahinter steht, dessen geschickte Arbeit, die mit einem so künstlerischen Sinn für Beschränkung gefertigt ist, man mit der Kunst des erlesenen Ziseleurs vergleichen möchte, die sein Motiv ist; oder »In einer Kirche«, die blasse Blüte eines köstlichen Augenblicks, wie man sie wohl kennt, wo alle Dinge ausser dem Augenblick selbst so seltsam wirklich scheinen, und wo die alten Gedächtnisse vergessener Tage angerührt und besänftigt werden und der vertraute Ort plötzlich in einer Vision der unsterblichen Schönheit der gestorbenen Götter glühend und feierlich wird; oder die Szene in der »Kathedrale von Chartres«, düsteres Schweigen brütet auf Gewölben und Bogen, stumm knien da und dort Leute im Staub der leeren Fliessen und der junge Priester erhebt den Leib des Herrn in kristallenem Stern; und dann brechen gewalttätig Strahlen scharlachenen Lichts durch die Glasmalerei des Fensters und schlagen an das geschnitzte Gitterwerk des Lettners, und rasche Orgelstösse rollen und dröhnen in mächtiger Musik vom Chor zum Baldachin des Altars und von Säule zu Säulenbündel, und über allem die helle, frohe Stimme eines singenden Knaben, die so überwältigend süss ins Ohr geht und eben den rechten künstlerischen Grundton für unsere Gefühle trifft; oder das Gedicht »In Lavunium«, wo man durch die Musik seiner Linien hindurch das Sausen der Bienen von Mantua wieder zu vernehmen glaubt, die aus den grünen Tälern ihrer Heimat und von den Flüssen im Lande drinnen in dicken Haufen durch die Lüfte kommen, um den Bernsteinhonig einzusammeln, den die Blumen am Meere bergen; oder das Gedicht, das »Im Kolosseum« geschrieben ist, das einem denselben künstlerischen Genuss gibt, wie wenn man einem Handwerker bei seiner Arbeit zusieht – einem Goldschmied, der sein Gold in so dünne Blättchen hämmert, dass sie zart sind wie gelbe Rosenblätter oder der es zu langen Fäden zieht wie ineinandergeworrene Sonnenstrahlen – so vollkommen und köstlich im blossen Machwerk; oder die kleinen lyrischen Zwischenspiele, die hie und da wie der Gesang einer Drossel einfallen und die so flink und so sicher sind wie der Flügelschlag eines Vogels, so schwank und blank wie die Apfelblüten, die in langsamem Hin und Her nach einem Frühlingsgewitter auf den Rasen flattern und noch lieblicher sind, da die Regentropfen auf ihrem zarten rosenroten Perlengeäder liegen; oder die Sonette – denn Rodd ist einer von denen qui sonnent le sonnet, wie die Ronsardisten zu sagen pflegten – das eine, das sich »An den Hügeln des Ufers« nennt, mit dem feurigen Wunder seiner Phantastik und der seltsamen Schönheit seiner achten Zeile; oder das andere, das von dem Schmerz des grossen Königs um das tote kleine Kind spricht – nun, all diese Gedichte streben, wie gesagt, eine rein artistische Wirkung an und haben die köstliche und erlesene Eigenheit, die solcherlei Arbeit auszeichnet; und ich finde, dass die völlige Unterordnung aller bloss gefühls- und verstandesmässigen Motive unter das entscheidende formende Prinzip der Poesie das sicherste Zeichen für die Gesundheit unserer ästhetischen Bewegung ist.

Aber es ist nicht genug, dass ein Kunstwerk den ästhetischen Forderungen der Zeit entspricht: es muss auch, wenn es uns irgend dauernden Genuss gewähren soll, den Stempel einer besonderen Individualität tragen. Jedes Werk, das in unserm Jahrhundert gelten soll, muss auf den zwei Polen der Persönlichkeit und der Vollendung ruhen. Und so könnte man in diesem dünnen Band die frühere und schlichtere Stufe von der späteren und kräftigeren trennen, wo der Dichter mehr technische Macht und mehr künstlerische Anschauung besitzt, und dann reizt es einen, diese auseinanderfallenden Gedichte, diese wirren und vereinzelten Fäden zu einem feuerfarbenen Band des Lebens zu weben: zuerst stösst man auf die blosse Fröhlichkeit eines Knaben darüber, dass er jung ist, mit all seiner einfachen Freude im Feld und den Blumen, im Sonnenschein und Gesang, und dann die Bitterkeit plötzlichen Schmerzes, wenn der Tod einer kurzen und schönen Jugendfreundschaft ein Ende macht, mit all dem vergeblichen Sehnen und hoffnungslosen Fragen, mit dem wir so nutzlos das starre Marmorantlitz des Todes bewegen wollen; wobei der künstlerische Gegensatz zwischen der Unvollkommenheit des Geistes und der vollkommenen Vollendung des Stils, der ihn zum Ausdruck bringt, das Hauptelement des ästhetischen Reizes dieser besonderen Gedichte ausmacht; und dann die Geburt der Liebe und all das Wunder und all die Angst und gefahrvolle Wonne, wenn zum erstenmal die Schwingen der Liebe die Stirne des Knaben streifen; und die Liebeslieder, zart und fein, mit einer inneren Musik, als flögen leichte Schwalben, und so voller Freiheit und Duft, dass man sie alle im Freien und auf fliessendem Wasser singen möchte; und dann der Herbst, mit seinen verstummten Wäldern und seiner duftenden Verwesung und der untergehenden Lieblichkeit, wo die Liebe im Tode daliegt; und die Klage darüber.

Hier möchte man innehalten, denn von einem jungen Dichter dürfte man keine tieferen Klänge des Lebens verlangen als diese, die Liebe und Freundschaft uns zu ewigen Klängen machen; und die besten Gedichte in diesem Bande gehören offenbar einer späteren Zeit an, wo diese Erfahrungen des Wirklichen in eine Form aufgelöst und zusammengezogen werden, die solchen Erfahrungen des Wirklichen sehr entfremdet und entfernt scheint; wo der einfache Ausdruck von Freude oder Schmerz nicht länger genügt und mehr in der Hoheit des Rhythmus, in der Musik und Farbe der verketteten Worte liegt als in unmittelbarem Aussprechen der Dinge; mehr, möchte man sagen, in der Vollendung der Form lebt als im Pathos des Gefühls. Und doch können wir, nach der zerbrochenen Musik der Liebe und der Grablegung der Liebe in den Wäldern des Herbstes, wohl das Wandern unter seltsamen Menschen und in Ländern, die wir nicht kennen, darin spüren, wodurch wir so tragisch versuchen, die Stösse des Lebens, das wir kennen, zu heilen, und die reine, inständige Hingebung an die Kunst, die den Menschen überkommt, wenn die rauhe Wirklichkeit des Lebens ihn zu plötzlich verwundet hat und ihm die Jugend mit Verzweiflung oder Kummer zerstört, und die, meine ich, nicht seltener daher kommt als von irgend einer natürlichen Freude am Leben; und die sonderbare Gewalt des Blicks, die in Momenten überwältigender Trauer und unbezwinglicher Verzweiflung künstlerische Dinge im Gedächtnis zu lebendiger Wirklichkeit beseelt, zu einer Wirklichkeit, die dem Leben angehört, das diese Dinge uns vergessen helfen – ein altes graues Grab in Flandern mit einer seltsamen Inschrift, das uns den Gedanken gibt, dass leidenschaftliche Liebe vielleicht den Tod überlebt, eine Schnur aus blauen und bernsteingelben Perlen und ein zerbrochener Spiegel, die im Grab eines Mädchens in Rom gefunden wurden, ein Marmorbild eines Knaben, der wie Eros gekleidet ist, und mit der pathetischen Gebärde der Tragik eines grossen Königs, die wie ein purpurner Schatten darin umgeht, hat sich über dem allem der müde und verklärte Geist mit der ruhigen und sicheren Freudigkeit gelagert, die über einen kommt, wenn man etwas gefunden hat, was die Welt nicht zerstören und die Zeit nicht verwittern kann; und mit ihr kommt die Sehnsucht nach den Dingen Griechenlands, die oft das Mittel des Künstlers ist, die Sehnsucht nach der Vollendung auszudrücken, und das Verlangen nach den alten gestorbenen Tagen, das so modern ist und so unvollkommen und so rührend und gewissermassen die umgekehrte Fackel der Hoffnung vorstellt, die die Hand verbrennt, die sie führen sollte; und über viele Dinge eine leichte Trauer, und zu allen Dingen eine grosse Liebe; und zuletzt, im Kiefernwald an der See, noch einmal der rasche, lebendige Puls froher Jugend, der in jeder Zeile lacht und hüpft, die frische, unverzagte Freiheit von Welle und Wind, die die ausgebrannte Asche des Lebens zu Flammen erwecken und zu Gesang die stummen Lippen der Qual – wie klar scheint man es alles zu sehen, die lange Zeile der Kiefern, durch die Wolken und Meer hie und da wie ein Silberblick aufblitzen; den freien Platz im Grünen, das Herz des Waldes mit dem moosumsponnenen Altar des alten italischen Gottes darauf, und die Blumen ringsherum, Alpenveilchen an schattigen Plätzen, und die Sterne der weissen Narzissen, die wie Schneeflocken über dem Gras liegen, wo die behende glanzäugige Eidechse über den Stein schiesst, und die Schlange zusammengerollt auf dem heissen Sand in der Sonne liegt, und zu Häupten von den Zweigen fliessen die Marienfäden, dünne, zitternde, goldene Fäden – die Szene ist in ihrem Motiv ganz vollendet, denn hier fürwahr, wenn irgendwo, könnte die wahre Freudigkeit des Lebens einer Jugend offenbart werden – die Freudigkeit, die nicht kommt, wenn man die Leidenschaft verstösst, sondern wenn man sie in sich einzieht und die so ist wie die ruhige Heiterkeit, die im Gesicht der griechischen Statuen liegt, und die Verzweiflung und Schmerz nicht vernichten, sondern nur verdichten und verstärken können.

So etwa könnten wir diese losen und zerstreuten Blumenblätter der Dichtung zu einer vollkommenen Rose des Lebens sammeln und doch möchten wir vielleicht, wenn wir es tun, das wahre Wesen der Gedichte nicht treffen; des Menschen wirkliches Leben ist so oft das Leben, das er nicht führt, und schöne Gedichte können wie schöne Seidenfäden zu vielerlei Mustern verwoben werden, die alle wunderbar und verschieden sind: und dazu ist die romantische Dichtung wesentlich die Dichtung der Impressionen, und wie die letzte Richtung in der Malerei, die Richtung Whistlers und Albert Moores, wählt sie zu ihrer Situation nicht eine Fabel oder ein Thema, sie behandelt lieber die Ausnahmen als die Typen des Lebens, sie liebt die intensive Kürze in dem, was man ihre feuerfarbene Augenblicklichkeit nennen könnte, denn in der Tat sind es jetzt die Augenblickssituationen des Lebens, das momentane Aussehen der Natur, was Dichtung und Malerei uns vermitteln wollen. Ehrlichkeit und Treue wird der Künstler natürlich immer haben, aber künstlerische Ehrlichkeit ist bloss die plastische Vollendung der Ausführung, ohne die ein Gedicht oder ein Gemälde, mag die Empfindung noch so edel, seine Herkunft noch so menschlich sein, nur vergeudete und unwirkliche Arbeit ist, und treu sein kann der Künstler nicht einem festgelegten Lebensgesetz oder System, sondern nur dem Prinzip der Schönheit, durch das die schwankenden Schatten des Lebens in ihrem flüchtigsten Augenblick festgehalten und verewigt werden. Er wird sich zum Beispiel in Dingen der Erkenntnis nicht bei der bequemen Orthodoxie unserer Zeit beruhigen und ebensowenig verlangt es ihn nach dem feurigen Glauben der antiken Zeit, der die Phantasie zwar intensiver machte, aber beschränkte, noch weniger wird er zugeben, dass der Friede seiner Kultur von der misstönenden Verzweiflung des Zweifels oder der Düsterkeit unfruchtbarer Skepsis zerrissen wird, denn das Tal der Gefahr, wo die Heere der Unwissenden zur Nacht rasselnd zusammenstossen, ist kein schicklicher Ruheplatz für die, denen die Götter das helle Hochland, den heiteren Gipfel und die sonnige Luft bestimmt haben – lieber wird er es immer in Neugier mit neuen Formen des Glaubens versuchen, wird seine Natur in den Gefühlen untertauchen lassen, die noch um alten schönen Glauben zittern, und wenn er, der die Erfahrung selbst, nicht ihre Früchte sucht, ihr Geheimnis geborgen hat, wird er ohne Bedauern vieles lassen, was ihm einmal sehr teuer war. »Ich bin immer unaufrichtig,« sagt Emerson irgendwo, »da ich weiss, es gibt auch andere Stimmungen.« »Les émotions,« schrieb Théophile Gautier einmal in einer Kritik über Arsène Houssaye, »les émotions ne se ressemblent pas, mais être ému – voilà l’important«.

Dies also ist das Geheimnis der Kunst der romantischen Schule unserer Zeit und gibt uns den rechten Grundton, sie zu erfassen; aber das eigentliche Wesen aller Werke, die wie die Gedichte Rodds, wie ich sagte, nach einer rein künstlerischen Wirkung streben, kann nicht mit den Worten, die der Sprache begrifflicher Kritik zur Verfügung stehen, beschrieben werden; sie sind dafür unzugänglich. Man kann vielleicht am besten in Ausdrücken zu ihnen führen, die den andern Künsten entnommen sind und auf sie hinweisen; und wirklich, einige dieser Gedichte irisieren wie ein entzückendes Stück venetianisches Glas und sind ebenso köstlich; andere sind so duftig in der Vollkommenheit ihrer Ausführung und so einfach im Naturmotiv wie eine Radierung Whistlers oder wie eine der schönen kleinen griechischen Figuren, die man in den Olivenhainen um Tanagra heute noch finden kann, mit der matten Vergoldung und dem Hauch von Karmesin, die noch nicht ganz von Haar und Lippen und Gewand geschwunden sind; und viele von ihnen gleichen den Dämmerungen Corots, die eben zu Musik werden, denn nicht bloss in der sichtbaren Farbe, sondern auch in der Empfindung – die die Farbe der Poesie ist – kann wohl eine Art Ton liegen.

Aber ich glaube, das beste Gleichnis für das Wesen der Gedichte dieses jungen Poeten, das ich je sah, fand ich in der Loirelandschaft. Er und ich hielten uns einmal in dem kleinen Städtchen Amboise auf, mit seinen grauen Schieferdächern und seinen steilen Strassen und dem schmalen, finsteren Torweg, wo die friedlichen Hütten wie weisse Tauben in den düstern Spalten der grossen Felsenfestung nisten, und die stattlichen Renaissancegebäude schweigsam und vornehm dastehen – jetzt sehr öde, aber die feingedrehten Säulen und geschnitzten Tore mit ihren grotesken Tieren und lachenden Masken und wunderlichen Wappensprüchen noch von mancher Erinnerung an die alten Tage umschwebt, und das alles erzählt von einem Menschenschlag, der sich das Leben nicht wirklich denken konnte, solange er’s nicht phantastisch gemacht hatte. Und oberhalb des Städtchens, jenseits der Biegung des Flusses, gingen wir gewöhnlich nachmittags und zeichneten von einem der grossen Kähne aus, die im Herbst den Wein und im Winter das Holz zum Meer bringen, oder wir lagen im hohen Gras und entwarfen Pläne pour la gloire, et pour ennuyer les Philistins, oder wir spazierten an den niedrigen, schilfbewachsenen Ufern und »bliesen unsere Rohrpfeife in fröhlichem Wettkampf«, wie es Gefährten in den alten Tagen Siziliens gern taten; und das Land war ein ziemlich gewöhnliches Land und sogar kahl, wenn man an Italien dachte, wie da die Oleanderbäume die Berge bei Genua mit Scharlach schmückten und die Cyklamen mit ihrem Purpur jedes Tal von Florenz bis Rom erfüllten; denn es gab nicht viel wirkliche Schönheit hier, nur lange, weisse, staubige Strassen und gerade, feierliche Pappelalleen, aber dann und wann verlieh ein kleiner flüchtiger Schimmer gebrochenen Lichts dem grauen Feld oder der stillen Scheune ein Geheimnis und eine Weihe, die sie nicht wirklich besassen, und verklärte für einen einzigen köstlichen Augenblick die Bauern, die den Weinberg herabstiegen, oder den Schäfer, der auf dem Hügel weidete, betupfte die Weidenbäume mit Silber und verwandelte den Fluss in fliessendes Gold; und die wunderbare Wirkung zusammen mit der seltsamen Einfachheit des Materials schien mir immer ein wenig wie die Art dieser Verse meines Freundes.

Sonett an die Freiheit

(Oscar Wilde, Poems. London 1881.)

Nicht darum, weil ich hold bin deinen Söhnen,
In deren Sinn nichts lebt als festgeballt
Der eignen dumpfen Leiden Missgestalt, –
Doch weil aus deinem wilden Machtverhöhnen,
Aus deines Schreckenreichs Gewitterdröhnen
Mir meiner eignen Leidenschaft Gewalt
Und meinem Grimm ein Echo widerhallt, –
Darum, du Freiheit! jauchzt bei deinen Tönen
Mein Innerstes, sonst könnte Tyrannei
Das heilge Recht der Völker immerhin
Mit Knuten treffen und mit Kanonaden,
Und meine Seele bliebe kalt dabei –
Und doch, und doch! Gott weiss, wie eins ich bin
Mit jenen Heilanden der Barrikaden.

Markheim

»Markheim«, zuerst erschienen in The Merry Men and Other Tales, 1893

 

»Ja,« sagte der Händler, »die Wechselfälle unseres Geschäfts sind vielfältig. Es gibt unwissende Kunden, und dann profitiere ich durch mein größeres Wissen. Es gibt auch Unehrliche,« hier hielt er den Leuchter in die Höhe, daß das Licht voll auf seinen Besucher fiel, »und in diesem Fall«, fuhr er fort, »ziehe ich aus meiner Tugend Gewinn.«

Markheim kam gerade erst aus dem Tageslicht der Straße; seine Augen hatten sich noch nicht an das Gemisch von Licht und Dunkel in dem Laden gewöhnt. Bei diesen vielsagenden Worten und angesichts der Nähe der Flamme blickte er schmerzlich blinzelnd beiseite.

Der Händler kicherte. »Sie kommen am Weihnachtstage zu mir,« redete er weiter, »obwohl Sie genau wissen, daß ich allein im Hause bin, die Läden heruntergelassen habe und streng darauf halte, Geschäften aus dem Wege zu gehen. Nun, Sie werden dafür zahlen müssen; Sie werden dafür zahlen müssen, daß ich jetzt Zeit versäume, während ich über meinen Rechnungsbüchern sitzen sollte; Sie müssen außerdem für ein gewisses Benehmen zahlen, das mir heute an Ihnen ganz besonders auffällt. Ich bin die Diskretion selbst und stelle keine unliebsamen Fragen; aber wenn mir ein Kunde nicht ins Auge sehen kann, muß er dafür zahlen.« Wieder kicherte der Händler und fuhr dann im üblichen Geschäftston, »wenn auch mit einem Schatten von Ironie fort: »Sie können natürlich wie gewöhnlich klar angeben, wie Sie in den Besitz des Gegenstandes gelangt sind? Wieder mal aus Ihres Onkels Kabinett? Ein hervorragender Sammler, Herr!« Der kleine, blasse Händler mit dem krummen Rücken stellte sieh fast auf die Zehenspitzen, guckte über seine goldenen Brillengläser hinweg und schüttelte mit allen Zeichen des Unglaubens den Kopf. Markheim erwiderte seinen Blick in grenzenlosem Mitleid und leisem Grauen.

»Diesmal,« sagte er, »befinden Sie sich im Irrtum. Ich bin nicht gekommen, um zu verkaufen, sondern um zu kaufen. Ich will keine Raritäten losschlagen; meines Onkels Kabinett ist bis zu den Wänden geplündert; aber selbst wenn es noch intakt wäre, würde ich nichts verkaufen wollen. Ich habe an der Börse Glück gehabt und würde die Sammlung daher eher vergrößern als vermindern; mein heutiges Anliegen ist die Einfachheit selbst. Ich suche ein Weihnachtsgeschenk für eine Dame,« fuhr er mit wachsender Geläufigkeit fort, je mehr er sich für die Rede, die er sich zurechtgelegt hatte, erwärmte, »und sicherlich schulde ich Ihnen dafür, daß ich Sie in einer so geringfügigen Angelegenheit störe, eine Genugtuung. Aber ich habe die Sache gestern versäumt; ich muß meine kleine Aufmerksamkeit heute beim Essen anbringen; wie Sie genau wissen, darf man eine reiche Heirat nicht vernachlässigen.« Eine Pause folgte, in der der Händler diese Erklärung ungläubig abzuwägen schien. Das Ticken zahlreicher Uhren, die unter dem fremdartigen Trödel des Ladens verborgen waren, und das ferne Rollen der Wagen aus einer der benachbarten Verkehrsstraßen füllten die kurze Stille.

»Gut, Herr,« sagte der Händler, »es sei. Schließlich sind Sie ja ein alter Kunde; und wenn sich Ihnen wirklich, wie Sie sagen, die Gelegenheit zu einer vorteilhaften Heirat bietet, will ich der letzte sein, der sich Ihnen irgendwie in den Weg stellt. Hier habe ich etwas Hübsches für eine Dame,« fuhr er fort, »einen Handspiegel – fünfzehntes Jahrhundert, garantiert echt; stammt überdies aus einer guten Sammlung, wenn ich auch den Namen im Interesse meines Kunden verschweigen muß, der ganz wie Sie, verehrter Herr, der Neffe und einzige Erbe eines hervorragenden Sammlers ist.«

Der Händler hatte sich, während er in seiner trockenen, bissigen Art zu schwatzen fortfuhr, gebückt, um den Gegenstand von seinem Platz zu holen; währenddessen fuhr ein Zittern durch Markheims Glieder, ein Zucken von Hand und Fuß, und plötzlich jagte ein Sturm aufrührerischer Leidenschaften über sein Gesicht. Der Anfall verging so rasch wie er gekommen war und ließ keine Spur zurück, ausgenommen ein gewisses Beben der Hand, die jetzt den Spiegel in Empfang nahm.

»Ein Spiegel,« sagte er heiser und wiederholte deutlicher nach einer Pause. »Ein Spiegel? Zu Weihnachten? Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

»Warum denn nicht?« rief der Händler, »warum keinen Spiegel?«

Markheim blickte ihn mit undefinierbarem Ausdruck an. »Sie fragen mich, warum ich keinen Spiegel will?« sagte er. »Sehen Sie her – sehen Sie selbst hinein – sehen Sie sieh an! Lieben Sie es, sich zu betrachten? Nein! Ich auch nicht – und ich wüßte niemanden, der es täte.«

Das Männchen war zurückgeschnellt, als Markheim ihm so plötzlich den Spiegel hinhielt; jetzt aber, da er erkannte, daß er nichts Schlimmeres in der Hand hatte, kicherte er. »Ihre Zukünftige muß recht stiefmütterlich vom Schicksal bedacht sein,« meinte er.

»Ich bitte Sie um ein Weihnachtsgeschenk,« sagte Markheim, »und Sie geben mir dieses da – diesen verdammten Herold der Zeit, der von Sünden und Torheit spricht – diesen Handmahner des Gewissens! War das Ihre Absicht? Hatten Sie dabei einen Hintergedanken? Reden Sie. Sie tun gut daran. Kommen Sie und erzählen Sie mir von sich selbst. Ich rate aufs Geratewohl: im Grunde Ihres Herzens sind Sie ein recht mildtätiger Mann?«

Der Händler musterte seinen Besucher scharf. Seltsam, Markheim schien nicht zu lachen; auf seinem Gesicht leuchtete etwas wie erwartungsvolle Hoffnung, aber keine Lustigkeit.

»Wo wollen Sie hinaus?« fragte der Händler.

»Nicht mildtätig?« entgegnete düster der andere.

»Nicht mildtätig; nicht fromm; nicht gewissenhaft; lieblos, ungeliebt; eine Hand zum Gelderraffen, eine Kassette für dessen Aufbewahrung. Ist das alles? Du großer Gott, Mensch, ist das alles?«

»Ich will Ihnen sagen, was ist,« begann der Händler mit einiger Schärfe und brach dann mit einem Kichern ab. »Aber ich sehe ja, daß dies eine Liebesheirat ist, und Sie haben auf der Dame Gesundheit getrunken.« »Ah,« rief Markheim mit seltsamer Neugier, »Ah, sind Sie je verliebt gewesen? Erzählen Sie mir davon.« »Ich,« rief der Händler, »ich, verliebt? Habe nie die Zeit dazu gehabt, und habe auch heute keine Zeit für diesen Unsinn. Wollen Sie nun den Spiegel?«

»Wozu die Eile?« entgegnete Markheim. »Es steht und plaudert sich hier doch recht angenehm; und das Leben ist so kurz und unsicher, daß ich keiner Freude entrinnen möchte, selbst einer so unschuldigen wie dieser nicht. Wir sollten vielmehr an allem, was uns gegeben ist, festhalten, festhalten wie einer, der über einem Abgrund schwebt. Jede Sekunde stellt einen Abgrund dar, wenn man’s recht bedenkt, – einen schwindelnd tiefen Abgrund – tief genug, um uns bis zur Unkenntlichkeit unseres Menschentums zu zerschmettern. Und daher ist es besser, sich angenehm zu unterhalten. Wir wollen von einander reden; wozu diese Maske? Lassen Sie uns gegenseitig Vertrauen fassen. Wer weiß, vielleicht werden wir noch Freunde?«

»Ich habe Ihnen gerade noch ein Wort zu sagen,« erklärte der Händler. »Entweder Sie erledigen Ihren Einkauf oder Sie scheeren sich aus meinem Laden!« »Wahr, sehr wahr,« sagte Markheim. »Genug der Torheiten. Zur Sache. Zeigen Sie mir etwas anderes.«

Der Händler bückte sich ein zweites Mal, um den Spiegel auf das Brett zurückzulegen; sein dünnes blondes Haar fiel ihm über die Augen. Markheim trat, die eine Hand in der Tasche seines schweren Mantels vergraben, ein wenig näher. Er straffte sich zu seiner vollen Länge, und seine Lungen sogen sich voll Luft. Gleichzeitig malten sich die verschiedenartigsten Empfindungen auf seinem Gesicht: Furcht, Grauen und Entschlossenheit, faszinierte Aufmerksamkeit und physischer Widerwillen, und unter der verzerrten Oberlippe wurden seine Zähne sichtbar.

»Vielleicht ist dies etwas Passendes«, bemerkte der Händler; und während er sich aufrichtete, stürzte sich Markheim von hinten auf sein Opfer. Die lange schmale Klinge blitzte auf und traf. Der Händler zappelte wie eine Henne, stieß mit der Schläfe gegen das Wandbrett und sank in einem Häufchen zu Boden.

Die Zeit hatte wohl ein Dutzend feiner Stimmen in jenem Laden, gewichtige und gemessene, wie es dem hohen Alter zukommt, schwatzhafte und eilige, und alle zählten im verworrenen Ticktack die Sekunden. Von der Gasse her durchbrach das hastige Gepolter von Knabenfüßen auf Pflastersteinen den Chor der schwächeren Stimmen und erweckte Markheim zum Bewußtsein seiner Umgebung. Er blickte sich furchtsam um. Die Kerze stand auf dem Ladentisch; mahnend zuckte die Flamme im Luftzug, und diese fast unmerkliche Bewegung füllte den ganzen Raum mit stummem Leben und wogender Unruhe wie das Meer: die steilen Schatten nickten, die schweren massigen Dunkelheiten wuchsen und schrumpften wie atmende Wesen, die Gesichter der Porträts und der chinesischen Porzellangötter wandelten sich und verschwammen wie Spiegelbilder im Wasser. Die innere Tür stand offen und spähte in das Heer der Schatten mit einem langen schmalen Streifen Tageslicht, der einem gestreckten Zeigefinger glich.

Von ihren Irrfahrten kehrten Markheims furchtbefallene Augen zu dem Körper seines Opfers zurück, wie er buckelig, mit gespreizten Gliedern, unglaublich klein und unendlich viel erbärmlicher als im Leben dalag. In den ärmlichen Kleidern eines Geizhalses und in jener plumpen Stellung war das Ganze nicht viel mehr als ein Häufchen Lumpen. Markheim hatte sich vor seinem Anblick gefürchtet, und siehe! Es war ein Nichts. Und dennoch, wie er es so betrachtete, begannen in diesem blutbesudelten Bündel alter Kleider beredte Stimmen laut zu werden. Dort mußte es liegen; niemand war, der die geschickt gearbeiteten Angeln und Scharniere spielen ließ, der das Wunder der Bewegung dirigieren konnte. Dort mußte es liegen, bis es gefunden wurde. Gefunden! Ja, und dann? Dann würde aus diesem toten Leib ein Schrei aufsteigen, von dem ganz England widerhallen mußte. Das Echo der Jagd würde die ganze Welt erfüllen. Ja, tot oder lebendig, hier lag der Feind. »Zeit war, da der gehemmte Geist entwich« – fuhr es ihm durch den Sinn, und das erste Wort zündete in seinem Hirn. Die Zeit, die für das Opfer ausgelöscht war, war nun, da er die Tat vollbracht, für den Mörder unaufhaltsam, ungeheuerlich bedeutungsvoll geworden.

Dieser Gedanke erfüllte ihn noch ganz, als erst die eine und dann die andere Uhr, in jeder möglichen Variation von Takt und Stimme, tief wie die Glocke einer Kathedrale, leicht und hell wie der Auftakt zu einem Walzer, die dritte Nachmittagsstunde zu schlagen begann.

Der plötzliche Ausbruch so zahlreicher Stimmen in dem stummen Raum traf ihn wie ein Fausthieb. Er setzte sich in Bewegung, schritt, die Kerze in der Hand, hin und her, unablässig von gleitenden Schatten verfolgt und zu Tode erschrocken von zufälligen Betrachtungen. Aus zahlreichen prunkvollen Spiegeln teils heimischen Ursprungs, teils aus Venedig oder Amsterdam, blickte ihm sein Gesicht in vielfältigen Wiederholungen gleich einem Heer von Spionen entgegen; seine eigenen Augen stellten ihn in der Begegnung, und seine eigenen Schritte schreckten trotz ihrer Leichtigkeit die umgebende Stille auf. Und noch während er seine Taschen füllte, warf ihm sein Hirn mit unablässiger, tödlicher Monotonie die tausend Fehler seines Planes vor. Er hätte eine ruhigere Stunde wählen, sich ein Alibi beschaffen sollen; er hätte kein Messer gebrauchen, hätte vorsichtiger sein sollen. Es hätte genügt, den Händler zu binden und zu knebeln, statt ihn zu töten; er hätte verwegener sein und sich auch noch des Dienstboten entledigen sollen; alles hätte er anders machen sollen: brennendes Bedauern, zehrender, nimmer endender Kreislauf der Gedanken, um das zu ändern, was nicht zu ändern war; zweckloses Planen, Baumeister der unwiderruflichen Vergangenheit zu werden. Und im Hintergrunde dieses fiebrischen Denkens füllten tierische Schrecken, wie das Scharren und Rascheln der Ratten auf dem öden Dachboden, die geheimsten Kammern seines Gehirns mit Aufruhr; die Hand des Konstablers fiel schwer auf seine Schulter, und seine Nerven zuckten wie der Fisch am Angelhaken; oder es jagten Gerichtsschränke, Gefängnis, Galgen und der schwarze Sarg an seinem Innern vorbei. Furcht vor den Leuten auf der Straße belagerte ihn wie eine Armee die Festung. Unmöglich, daß nicht irgendwie der Kampf ruchbar geworden war und ihre Neugier aufgestachelt hatte. Jetzt sah er sie in den Nachbarhäusern sitzen, regungslos, die Ohren gespitzt – die Einsamen, die dazu verurteilt waren, Weihnachten allein mit ihren Erinnerungen zu feiern, durch seine Tat aus zärtlichen Gedanken aufgeschreckt; glückliche Familien um den Tisch versammelt und zu Schweigen erstarrt, die Mutter mit erhobenem Finger: Menschen jedes Standes, jedes Alters, jeder Laune, aber alle am eigenen Herde versammelt, und alle spähend, lauschend und den Strick flechtend, der ihn henken sollte. Mitunter war es ihm, als könne er nicht leise genug gehen; das Klirren der hohen böhmischen Gläser tönte laut wie eine Glocke, und durch das sonore Ticken erschreckt, fühlte er sich versucht, die Uhren abzustellen. Und wieder, in wechselndem Entsetzen, schien ihm das Schweigen selbst voller Gefahr: es mußte den Passanten auffallen, sie erstarrend an die Stelle fesseln. Und sofort vermehrte er die Sicherheit seines Auftretens, machte sich geräuschvoll in dem Laden zu schaffen und ahmte mit studierter Leichtigkeit das Treiben eines geschäftigen Mannes nach, der sieh zwanglos in seinem eigenen Hause bewegt.

Jetzt aber fühlte er sieh von so vielfachen Ängsten zerrissen, daß sein Gehirn dem Wahnsinn nahe war und doch wieder wachsam und schlau auf der Lauer lag. Der Nachbar, der sein bleiches Gesicht gegen die Scheiben preßte, der Passant, den eine grausige Ahnung stehen bleiben hieß, konnten schlimmstenfalls nur Vermutungen hegen: wissen konnten sie nichts. Die Ziegelmauern und geschlossenen Fensterläden ließen nur Geräusche hindurch. Aber war er hier im Hause auch wirklich allein? Er wußte, daß er es war; er hatte das Dienstmädchen in dem armen Feiertagskleid fortgehen sehen, dem Schatz entgegen, ›Ausgang‹ in jeder Rüsche, in jeder lächelnden Falte ihres Gesichts. Ja, er war allein, natürlich war er allein; dennoch hörte er ganz genau über sich in der weiten Leere des Hauses zarte Tritte – er war sich einer fremden Gegenwart vollauf bewußt, auf rätselhafte Art bewußt. Ja, bestimmt; seine Phantasie schlich ihr in jedes Zimmer, in jeden Winkel nach, und jetzt war es ein Ding ohne Gesicht, aber mit Augen, die sahen, und dann war es ein Schatten seiner selbst, und wieder war es das Abbild des toten Händlers, zu neuem Haß und neuer Tücke auferweckt.

Mit Überwindung blickte er von Zeit zu Zeit nach der offenen Tür, vor der seine Augen trotzdem zurückprallten. Das Haus war sehr hoch, das Oberlichtfenster klein und schmutzig, der Tag von Nebel blind. Das Licht, das nach dem Erdgeschoß durchsickerte, war außerordentlich trüb und zeichnete sich nur matt auf der Ladenschwelle ab. Und doch – lauerte nicht ein schwanker Schatten dort in dem schmalen Dämmerstreifen?

Plötzlich fing ein äußerst jovialer Herr an, unter Schreien und Scherzen und fortgesetzten Wiederholungen des Namens des Händlers von draußen her mit seinem Stock gegen die Ladentür zu pochen. Markheim blickte, zu Eis erstarrt, den Toten an. Nein, der lag ganz still, weit außerhalb der Hörweite dieses Klopfens und Rufens, in einem Ozean des Schweigens versunken, und sein Name, der ehedem, für seine Ohren das Toben des Sturms übertönt haben mochte, war ein leeres Geräusch geworden. Und nach einer Weile hörte der joviale Herr mit seinem Klopfen auf und ging seiner Wege.

Das war ein deutlicher Wink, mit dem, was es noch zu tun gab, nicht zu säumen; sich auf und davon zu machen aus dieser anklagenden Umgebung, unterzutauchen in die Millionen Londons und, jenseits des Tages, jenen Hafen der Sicherheit und scheinbaren Unschuld zu erreichen – das Bett. Ein Besucher hatte sich bereits gemeldet; jeden Augenblick konnte ihm ein zweiter, hartnäckigerer folgen. Nach vollbrachter Tat um ihre Früchte betrogen zu werden, wäre zu furchtbar gewesen. Das Geld, das war jetzt Markheims vornehmste Sorge, und, als Mittel dazu: die Schlüssel.

Er warf einen Blick über die Schulter nach der offenen Tür, wo nach wie vor zitternd der Schatten weilte. Ohne klaren psychischen Widerwillen, aber unter körperlichem Schaudern näherte er sich der Leiche seines Opfers. Der menschliche Charakter war ganz von ihr gewichen. Mit gespreizten Gliedern und gekrümmtem Rumpf glich sie einem lose mit Sägemehl ausgestopften Kleiderbündel; dennoch stieß das Ding ihn ab. Trotz der nichtssagenden Dürftigkeit des Anblicks fürchtete er sich vor der beredteren Sprache der Berührung. Er faßte die Leiche an den Schultern und legte sie auf den Rücken. Sie war seltsam leicht und geschmeidig, und die Arme und Beine nahmen dabei, wie gebrochen, die sonderbarsten Stellungen an. Das Gesicht war ohne jeden Ausdruck, aber wachsbleich und die eine Schläfe entsetzlich mit Blut beschmiert. Das war das Einzige, was Markheim Widerwillen einflößte. Im Nu war er in ein Fischerdorf zurückversetzt, an einem gewissen Jahrmarktstag: ein grauer Himmel, ein pfeifender Wind, eine Volksmenge auf den Straßen, Blechmusik, Trommelwirbel, und die näselnde Stimme einer Bänkelsängerin, dazu ein Knabe, der, zwischen Furcht und Interesse zerrissen, im Gedränge untertauchte und sich hin und her bewegte, bis er auf dem Hauptrummelplatz eine Bude mit einer ungeheuren Plakatwand entdeckte: elendigliche, roh gemalte, schreiende Bilder, die Brownrigg mit ihrem Lehrling, die Mannings mit ihrem ermordeten Gast, Weare mit der Mörderfaust Thurtells an der Kehle, und ein Dutzend anderer berühmter Verbrechen waren hier dargestellt. Das Ganze war so lebendig wie eine Fata Morgana; wieder war er der kleine Junge, wieder betrachtete er mit dem gleichen körperlichen Widerwillen diese gemeinen Bilder; wieder schlug der Trommellärm betäubend an sein Ohr. Einige Takte der damals gehörten Musik huschten ihm durch den Sinn, und hierbei überkam ihn zum ersten Male ein Ohnmachtsgefühl, eine Welle der Übelkeit, eine plötzliche Schwäche in den Kniegelenken, die es augenblicks zu bekämpfen und zu überwinden galt.

Er hielt es für klüger, seinen Betrachtungen standzuhalten, als ihnen zu entfliehen. Fest sah er dem Toten ins Gesicht und zwang sich, die Art und Größe seines Verbrechens zu begreifen. Wie lange war es her, daß sich auf diesem Antlitz jedes wechselnde Empfinden gespiegelt, daß dieser Mund geredet, dieser Körper geglüht hatte von feurigster, lenksamer Energie? Und jetzt war durch seine Tat jenes Stückchen Leben angehalten worden, wie der Uhrmacher mit gestrecktem Finger das Räderwerk der Uhr zum Stehen bringt. So suchte er sich vergeblich zu überzeugen; vergeblich suchte er sich zu reuigerem Bewußtsein aufzupeitschen; dasselbe Herz, das vor den Abbildern des Verbrechens zurückgeschreckt war, blieb unberührt hier vor der Wirklichkeit. Im besten Fall fühlte er ein schwaches Bedauern für dieses Wesen, dem umsonst ein gütiges Schicksal alle Gaben in die Wiege gelegt hatte, die die Welt in einen Zaubergarten verwandeln, und das, ohne je gelebt zu haben, jetzt gestorben war. Von Reue aber keinen Hauch.

Damit schüttelte er diese Gedanken von sich ab; er fand die Schlüssel und schritt auf die offene Tür zu. Draußen hatte es heftig zu regnen angefangen, und das Geräusch der auf das Dach fallenden Tropfen hatte das Schweigen verbannt. So wie in gewissen Höhlen das ständig rieselnde Wasser ein nie endenwollendes Echo weckt, so füllte sich das Haus mit ihrem Widerhall, der sich mit dem Ticken der Uhren vermischte. Im Näherschreiten war es Markheim, als antwortete seinen behutsamen Tritten ein anderer fremder Tritt, der sich vor ihm die Treppe hinauf zurückzog. Immer noch zitterte der Schatten auf der Türschwelle. Mit dem Zentnergewicht seines Willens zwang er seine Muskeln zum Gehorsam und schob die Tür vollends zurück.

Das schwache, dunstige Tageslicht schimmerte trübe auf dem kahlen Fußboden und der Treppe, auf der blinkenden Ritterrüstung, die mit aufgepflanzter Hellebarde auf dem Treppenabsatz stand, auf die dunklen Holzschnitzereien und gerahmten Bilder, die sich von der gelben Holzbekleidung der Wände abhoben. Die prasselnden Regentropfen hallten so laut im Hause wider, daß Markheim in ihnen vielfältige Stimmen und Geräusche zu unterscheiden vermeinte. Fußtritte und Seufzer, der schwere Schritt eines in der Ferne marschierenden Regiments, das Klingen von Goldmünzen auf dem Ladentisch, das Knarren von Türen, die von heimlicher Hand offen gehalten wurden, mischten sich, schien’s, in das Geräusch des klatschenden Regens aus der Dachkuppel und in das Rauschen des Wassers in den Leitungsröhren. Das Bewußtsein fremder Gegenwart brachte ihn dem Wahnsinn nahe. Von allen Seiten umlagerten und verfolgten ihn unsichtbare Wesen. Er hörte sie sich in den oberen Räumen bewegen; vom Laden her spürte er den Toten sich aufrichten und lebendig werden, und als er sich mit starker Überwindung anschickte, die Treppe hinaufzusteigen, flohen Füße geräuschlos vor ihm her und schlichen ihm heimlich nach. Wäre er nur taub, fuhr es ihm durch den Sinn, wie sicher würde er Herr seiner Seele sein. Und wieder horchte er auf und segnete jenen immerwachen Sinn, der auf Vorposten stand und als zuverlässige Schildwache sein Leben beschirmte. Unablässig drehte und wendete er den Kopf; seine Augen, die aus ihren Höhlen hervorzutreten schienen, spähten und schweiften nach allen Seiten, und von allen Seiten her ward ihnen ein halber Lohn durch ein namenloses Etwas, dessen schwindende Spur sie erhaschten. Die vierundzwanzig Stufen zum oberen Stockwerk waren vierundzwanzig Höllenstrafen. Auf diesem Flur gähnten ihm drei Türen entgegen, drohende Hinterhalte, die wie drei Kanonenmündungen seine Nerven erschütterten. Er fühlte es, nichts war stark genug, um ihn fortan gegen die spähenden Augen der Menschen zu stählen und zu wappnen. Er sehnte sieh danach, zu Hause zu sein, hinter festen Mauern, in den Bettüchern vergraben, unsichtbar vor allen, außer vor Gott. Bei diesem Gedanken wunderte er sich ein wenig, in Erinnerung an die vielen Geschichten von anderen Mördern, die angeblich vor der Rache des Himmels gezittert hatten. Sie stimmten nicht, wenigstens was ihn betraf. Er fürchtete sich vor den Gesetzen der Natur, daß sie in ihrem gefühllosen und unabänderlichen Ablauf eine vernichtende Spur seines Verbrechens festhalten könnten. Mit zehnfachem sklavischen, abergläubischen Grauen fürchtete er irgend einen Riß in der Kontinuität der menschlichen Erfahrungen, irgend einen willkürlichen Bruch der Naturgesetze. Er spielte ein Spiel der Geschicklichkeit, das von den Regeln, den berechneten Wirkungen bestimmter Ursachen abhing. Wie wenn nun die Natur, wie der besiegte Tyrann das Schachbrett, ihre Gesetzesfolge zertrümmern sollte? Das gleiche hatte Napoleon betroffen, als der Winter den Zeitpunkt seines Eintreffens änderte. Das gleiche konnte Markheim treffen: die festen Mauern konnten durchsichtig werden und sein Treiben enthüllen wie das Treiben von Bienen in einem gläsernen Stock. Die starken Dielen konnten wie trügerischer Flugsand nachgeben und ihn umklammern; ja, alltäglichere Ereignisse konnten ihn vernichten. Wie wenn nun das Haus einfiel und ihn zusammen mit dem Leichnam seines Opfers einsperrte? Oder wenn in dem Nachbarhause Feuer ausbräche und ringsum die Feuerwehr auf ihn eindränge? Das waren die Dinge, die er fürchtete, die Dinge, die man gewissermaßen die Hand Gottes nennen konnte, die Er der Sünde entgegenreckt. Vor Gott selbst fürchtete er sich nicht; gewiß, seine Tat war eine Ausnahmetat, aber ungewöhnlich waren auch seine Entschuldigungsgründe, die Gott allein kannte. Bei ihm, nicht aber bei den Menschen, war er der Gerechtigkeit sicher.

Nachdem er unbehelligt in das Wohnzimmer eingedrungen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fühlte er seine Furcht von sich weichen. Die Einrichtung war völlig aufgelöst; der Teppich fehlte, statt dessen standen zahlreiche Packkisten und Möbelstücke in wüstem Durcheinander; dazu verschiedene hohe Spiegel, in denen er sich von allen möglichen Seiten erblickte, wie ein Schauspieler in verschiedenen Bühnenposen, viele Bilder, gerahmt und ungerahmt, mit der Vorderseite gegen die Wand gelehnt, eine schöne Sheraton Anrichte, ein eingelegter Sekretär und ein mächtiges altes Bett mit schweren Vorhängen. Die Fenster gingen aus den Hof hinaus, aber zum Glück verbargen ihn die heruntergelassenen Läden vor den Nachbarn. Markheim rückte also eine der Kisten vor den Sekretär und begann nacheinander die Schlüssel zu erproben. Es war ein langwieriges und angreifendes Geschäft, denn vielleicht war der Sekretär auch leer, und die Zeit drängte. Indes ernüchterte ihn die angespannte Arbeit. Er schielte dabei zur Tür – ja mitunter blickte er sie gerade an, wie ein belagerter Kommandant, der sich freut, festzustellen, daß seine Verteidigungsmaßnahmen in gutem Zustand sind. In Wahrheit war er jetzt ganz ruhig. Das Plätschern des Regens auf der Straße klang wieder natürlich und angenehm in seinen Ohren. Nach einer Weile drangen aus der entgegengesetzten Richtung die Töne eines Klaviers zu ihm herüber, die sich der Melodie eines Chorals anschmiegten, und zahlreiche Kinderstimmen nahmen die Weise und die Worte auf. Wie majestätisch und trostreich klang die Melodie, wie frisch waren die jugendlichen Stimmen. Markheim lauschte lächelnd, während er die Schlüssel ordnete; in seinem Geiste drängten sich sprechende Bilder und Gedanken: Kinder auf dem Wege zur Kirche und Orgelgebraus, Kinder auf der Wiese, Badende am Bachesrand, kleine Beerenleser im Gemeindewäldchen, jugendliche Drachenspieler unter einem windigen, wolkenreichen Himmel; und bei der nächsten Kadenz war er wieder in die Kirche zurückversetzt, in die schläfrige Hitze eines Sommersonntags, hörte die hohe, vornehme Stimme des Geistlichen (die ihm in der Erinnerung noch ein leises Lächeln entlockte) und sah die gemalten Jakobitengrabmäler sowie die matten Buchstaben der Zehn Gebote an der Kanzel.

Und noch während er so geschäftig und abwesend zugleich dasaß, riß es ihn plötzlich auf die Füße. Ein Strahl von Eis und ein Strahl von Feuer, eine Woge pochenden Blutes, und er stand angenagelt, jeder Nerv gespannt. Ein langsamer, fester Schritt kam die Treppe herauf, und nach einer Weile legte eine Hand sich auf die Türklinke, das Schloß klirrte und die Tür öffnete sich.

Furcht hielt Markheim wie mit Eisenklammern. Er wußte nicht, was war; ob der Tote auferstanden war, ob die offiziellen Häscher der menschlichen Justiz ihn greifen wollten, ob ein zufälliger Zeuge hier blind hineinstolperte, um ihn dem Galgen zu überliefern. Als jedoch ein Gesicht sich durch die Öffnung schob, im Zimmer umherblickte, ihm wie in freundschaftlichem Erkennen zunickte und lächelte, und sich dann wieder zurückzog, brach seine Furcht in einem heiseren Schrei durch. Bei diesem Laut kehrte der Besucher wieder um.

»Haben Sie mich gerufen?« fragte er freundlich, und mit diesen Worten trat er, die Tür hinter sieh schließend, ins Zimmer.

Markheim stand und starrte ihn krampfhaft an. Vielleicht lag ein Schleier über seinen Augen, aber es war ihm, als ob die Konturen des Ankömmlings sich wandelten und verschwammen, wie die der Götzen in dem unruhigen Kerzenlicht des Ladens. Mitunter kam er ihm bekannt vor, dann wieder schien er ihm selbst zu gleichen; und dabei lastete unablässig, gleich einem schweren Stein und voll lebendigsten Entsetzens, die Überzeugung auf seiner Brust, daß das Wesen dort nicht von dieser Welt und auch nicht vom Himmel sei.

Und dennoch – das Geschöpf sah seltsam alltäglich aus, wie es so dastand und Markheim lächelnd ansah, und als es gar hinzufügte: »Sie suchen, soviel ich weiß, das Geld?« waren seine Worte in dem üblichen Ton eines höflichen Mannes.

Markheim antwortete nicht.

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen,« fuhr der andere fort, »daß das Dienstmädchen sich heute früher als gewöhnlich von seinem Schatz getrennt hat und bald hier sein wird. Sollte Herr Markheim hier im Hause gefunden werden, so brauche ich ihn wohl nicht erst auf die Folgen hinzuweisen.«

»Sie kennen mich?« rief der Mörder.

Der Besucher lächelte. »Seit langem gehören Sie zu meinen ganz besonderen Freunden,« sagte er, »und schon lange habe ich Sie beobachtet und Ihnen helfen wollen.«

»Wer sind Sie?« rief Markheim? »der Teufel?«

»Wer ich bin,« erwiderte der Andere, »hat nichts mit dem Dienst zu tun, den ich Ihnen leisten möchte.«

»Nein,« rief Markheim, »nein! Mir von Ihnen helfen lassen? Niemals; von Ihnen nicht. Noch kennen Sie mich nicht; dem Himmel sei Dank, mich nicht.«

»Ich kenne Sie,« entgegnete der Gast in gleichsam freundlich-strengem oder festem Ton. »Ich kenne Sie bis auf den Grund Ihrer Seele.«

»Mich kennen!« rief Markheim, »Wer kann das? Mein Leben ist nichts als eine Travestie, eine Verleumdung meiner selbst. Ich habe gelebt, um meine Natur Lügen zu strafen. Alle Menschen tun das; alle Menschen sind besser als die Maske, die sie tragen, die ihnen anwächst und sie erstickt. Sehen Sie nicht, wie das Leben sie packt und mit sich reißt, wie einen Menschen, den Räuber in einen Mantel hüllen und mit sich schleppen? Könnten sie, wie sie wollten – könnten Sie ihre Gesichter sehen, sie wären ganz anders; sie würden als Heroen und Heilige erglänzen. Ich bin schlimmer als die meisten; trage eine ärgere Verkleidung; meine Entschuldigung kennen nur Gott und ich allein. Hätte ich Zeit dazu, ich würde mich enthüllen.«

»Sich mir enthüllen?«

»Ihnen vor allem,« entgegnete der Mörder. »Ich hielt Sie für intelligent. Ich glaubte – da Sie wirklich existieren – Sie verstünden im Herzen zu lesen. Und doch wollen Sie mich nach meinen Taten beurteilen! Überlegen Sie, was das heißt, nach meinen Taten! Ich bin unter Riesen zur Welt gekommen, habe unter Riesen gelebt; Riesen haben mich, von dem Tage meiner Geburt an, bei der Hand genommen und fortgeschleppt – die Riesen des Zufalls, der Umgebung. Und Sie wollen mich nach meinen Taten beurteilen! Können Sie denn nicht in mein Inneres hineinsehen? Können Sie denn nicht begreifen, daß ich das Böse hasse? Erkennen Sie denn nicht in meinem Innern die klare Schrift des Gewissens, die keine willkürlichen Sophismen auszulöschen vermochten, wenn ich sie auch gar zu oft unbeachtet ließ? Erkennen Sie mich denn nicht als ein Wesen, das so weit verbreitet ist wie die Menschheit selbst – als den Sünder wider Willen?«

»Alles, was Sie sagen, klingt sehr schon,« lautete die Antwort, »geht mich aber nichts an. Fragen der Charakterstärke fallen nicht in mein Gebiet, und es ist mir ganz gleichgültig, durch welchen Zwang Sie sich haben mitreißen lassen, vorausgesetzt, daß es in der richtigen Richtung war. Aber die Zeit fliegt; das Dienstmädchen hat es zwar nicht eilig; sie sieht sich die Volksmenge an und die Bilder an den Anschlagsäulen, aber sie rückt doch immer näher, und vergessen Sie nicht, daß es ist, als käme der langbeinige Galgen selbst durch die festlichen Straßen auf Sie losgeschritten! Soll ich Ihnen helfen, ich, der ich alles weiß? Soll ich Ihnen sagen, wo das Geld zu finden ist?«

»Um welchen Preis?« fragte Markheim.

»Ich schenke Ihnen diesen Dienst als Weihnachtsgabe,« versetzte der andere.

Markheim mußte lächeln, wie in bitterem Triumph. »Nein,« sagte er, »ich will nichts aus Ihren Händen; und wenn ich vor Durst stürbe und Ihre Hand hielte den Wasserkrug an meine Lippen, ich hätte dennoch den Mut, ihn zurückzuweisen. Vielleicht bin ich zu leichtgläubig, aber ich will nichts tun, um mich dem Bösen zu verschreiben.«

»Oh bitte, ich habe nichts gegen eine Reue auf dem Totenbett,« bemerkte der Besucher.

»Weil Sie an ihre Wirksamkeit nicht glauben,« rief Markheim.

»Das will ich nicht sagen,« erwiderte der andere; aber ich betrachte diese Dinge von einer anderen Seite, und mit dem Leben erlischt auch mein Interesse. Der Mensch hat gelebt, um mir zu dienen, um unter der Flagge der Religion Bosheit und Übelwollen zu verbreiten, oder um, wie Sie, in einem Dasein voll willfähriger Schwäche gegenüber seinen Trieben, Unkraut ins Weizenfeld zu säen. Jetzt, da er sich dem Tor zur Freiheit nähert, vermag er seinen Dienst nur um die eine Tat noch zu bereichern – er bereut, stirbt lächelnd und baut in den furchtsameren unter meinen Anhängern Hoffnung und Zuversicht auf. Ich bin kein harter Herr. Versuchen Sie es mit mir. Nehmen Sie meine Hilfe an. Bedienen Sie sich im Leben wie Sie es bisher getan haben; greifen Sie noch reichlicher zu, brauchen Sie Ihre Ellbogen an der Tafel; und wenn die Nacht sich niedersenken und der Vorhang fallen will, wird es Ihnen sogar ein leichtes sein, sich mit Ihrem Gewissen zu versöhnen und mit Gott einen Frieden auf Gegenseitigkeit zu schließen. Dessen kann ich Sie zu Ihrem Tröste versichern. Eben erst komme ich von solch einem Totenbett; das Zimmer war voll ehrlicher Leidtragender, die alle den letzten Worten des Mannes lauschten, und als ich in jene Augen blickte, die sich jeder mitleidigen Regung gegenüber zu Stahl verhärtet hatten, fand ich sie voll lächelnder Hoffnung.«

»Und halten Sie mich wirklich für ein solches Geschöpf?« fragte Markheim. »Glauben Sie wirklich, ich kennte kein höheres Ziel als zu sündigen, wieder zu sündigen und immerfort zu sündigen, um mich zuletzt durch die Hintertür in den Himmel zu schleichen? Mein Herz bäumt sich bei dem Gedanken. Sind das Ihre Erfahrungen mit der Menschheit oder setzen Sie eine solche Schlechtigkeit in mir voraus, weil meine Hände rot von Blut sind? Und ist dies Verbrechen des Mordes denn wirklich so ruchlos, daß es die Quelle des Guten selbst versiegen läßt?«

»Mord ist für mich keine besondere Kategorie,« versetzte der andere. »Alle Sünden sind Morde, so wie das ganze Leben ein Krieg ist. Ich sehe Ihresgleichen, gleich hungernden Seeleuten auf einem Floß, die Brotkrusten dem Hunger selbst aus den Händen reißen und einander gegenseitig verschlingen. Ich gehe der Sünde nach bis über den Moment ihrer Entstehung und sehe, daß ihre Folge überall der Tod ist. In meinen Augen trieft das hübsche Mädchen, das am Vorabend eines Balles mit gewinnendem Liebreiz die Mutter hintergeht, nicht weniger von Menschenblut als der eigentliche Mörder. Sagte ich, daß ich der Sünde nachgehe? Ich gehe auch der Tugend nach; sie unterscheiden sich voneinander nicht um Haaresbreite. Beide sind Sicheln in der Hand des Mähers Tod. Das Böse, für das ich lebe, wurzelt nicht im Handeln, sondern im Charakter. Ich liebe den schlechten Menschen, nicht die schlechte Tat, deren Früchte, könnten wir sie nur weit genug in ihrem Sturz hinab den sausenden Katarakt der Zeit verfolgen, vielleicht segensreicher befunden werden als die seltenste Tugendfrucht. Nicht weil Sie einen Händler getötet haben, sondern weil Sie Markheim find, erbiete ich mich, Ihnen zur Flucht zu verhelfen.«

»Ich will Ihnen mein ganzes Herz zeigen,« war Markheims Antwort. »Dieses Verbrechen, über dem Sie mich ertappt haben, ist mein letztes. Auf dem Wege zu ihm habe ich viel gelernt, ja, die Tat selbst ist mir eine denkwürdige Lehre geworden. Bisher bin ich wider meinen Willen zu dem getrieben worden, was mir fern lag; ich war der gehetzte, gepeitschte Sklave der Armut. Es gibt robuste Tugenden, die diesen Versuchungen zu widerstehen vermögen; die meine war nicht so: mich dürstete nach Genuß. Heute aber, aus dieser Tat, sammle ich sowohl gute Lehren wie Reichtümer, sowohl den erneuten Entschluß wie die Kraft, ich selbst zu sein. Ich werde in allen Dingen Herr meiner Handlungen; ich sehe mich bereits als einen ganz anderen; diese Hände sind Werkzeuge des Guten; Frieden wohnt in diesem Herzen. Etwas aus der Vergangenheit überkommt mich; etwas, von dem mir an Sabbatabenden träumte, wenn die Orgel erklang; Vorahnungen, die ich hatte, wenn ich über großen, reinen Büchern weinen mußte oder als unschuldiges Kind mit meiner Mutter redete. Dort liegt mein Leben; ich bin einige Jahre in der Fremde umhergeirrt, jetzt aber sehe ich den Ort meiner Bestimmung wieder vor mir liegen.«

»Sie wollen dieses Geld, glaube ich, auf der Börse gebrauchen?« bemerkte der Gast; »dort haben Sie aber, soviel ich weiß, schon einige Taufende verloren?«

»Ah,« sagte Markheim, »diesmal ist es aber eine ganz sichere Sache.«

»Auch diesmal«, sagte der Gast sehr ruhig, »werden Sie verlieren.«

»Aber ich setzte doch nur die Hälfte dran,« rief Markheim.

»Sie werden auch die andere Hälfte verlieren,« sagte der andere.

Auf Markheims Stirn brach der Schweiß aus. »Nun, und wenn dem so wäre,« rief er. »Wenn ich es verliere, wenn ich in die Armut zurückstürze, soll ein Teil meines Wesens, und zwar der schlimmere Teil, bis zuletzt das Gute in mir verdrängen? Gut und Böse find stark in mir und reißen mich nach verschiedenen Seiten. Ich liebe nicht nur das eine, ich liebe alles. Ich kann von großen Taten träumen, von Verzicht und Märtyrertum, und obwohl ich mich zu diesem Verbrechen erniedrigt habe, ist Mitleid mir doch nicht fremd. Ich bemitleide die Armen; wer kennt ihre Nöte besser als ich? Ich bemitleide sie und helfe ihnen; ich schätze die Liebe, liebe ein ehrliches Lachen; es ist nichts Gutes und Wahres unter der Sonne, das ich nicht von ganzem Herzen liebe. Sollten denn meine Laster allein mein Leben bestimmen und meine Tugenden brach liegen wie toter Ballast des Gehirns? Niemals; auch das Gute ist eine Quelle zur Tat.«

Allein der Gast hob warnend den Finger. »Sechsunddreißig Jahre lang haben Sie in dieser Welt gelebt,« sagte er, »durch wechselvolle Schicksale und Launen hindurch habe ich Sie ununterbrochen von Stufe zu Stufe sinken sehen. Fünfzehn Jahre sind es her, daß Sie mit einem Diebstahl begonnen haben. Noch vor drei Jahren hätte das Wort Mord genügt, um Ihnen das Blut aus den Wangen zu treiben. Gibt es wirklich noch ein Verbrechen, eine Grausamkeit, eine gemeine Handlung, vor der Sie heute zurückschrecken? In fünf Jahren werde ich Sie auch darüber ertappen. Tiefer, immer tiefer führt Ihr Weg; und nichts, außer dem Tode, kann Sie aufhalten.«

»Wahr,« sagte Markheim heiser, »ich habe bis zum gewissen Grade dem Bösen nachgegeben. Aber so geht es allen, selbst die Heiligen werden durch die pure Tatsache, daß sie leben, weniger wählerisch und nehmen die Farbe ihrer Umgebung an.«

»Ich werde eine einzige schlichte Frage an Sie richten«, sagte der andere, »und aus Ihrer Antwort werde ich Ihnen Ihr moralisches Horoskop stellen. Sie sind in vielen Dingen laxer geworden; vielleicht mit Recht. Wenigstens machen es alle Menschen so. Aber, das zugegeben, sind Sie in irgend einem wenn auch noch so geringfügigen Punkt sich selbst gegenüber strenger geworden oder lassen Sie überall die Zügel schießen?«

»In irgend einem Punkt?« wiederholte Markheim in qualvoller Überlegung. »Nein,« fügte er verzweifelt hinzu, »nirgends! Überall bin ich bergab gegangen.«

»Dann,« sagte der Besucher, »dann begnügen Sie sich mit dem, was Sie sind; denn Sie werden sich niemals ändern; die Worte Ihrer Rolle auf dieser Bühne sind unwiderruflich niedergeschrieben.«

Markheim stand lange schweigend da; der Besucher war der erste, die Pause zu unterbrechen. »Da dem so ist,« sagte er, »soll ich Ihnen das Geld zeigen?«

»Und die Gnade?« rief Markheim.

»Haben Sie es mit der nicht auch schon versucht?« entgegnete der andere. »Sah ich Sie nicht vor zwei, drei Jahren bei religiösen Versammlungen? Hat nicht Ihre Stimme in dem Choral am lautesten geklungen?«

»Wahr, wahr,« sagte Markheim; »ich sehe klar, wohin mich die Pflicht jetzt führt. Ich danke Ihnen aus tiefster Seele für die Lehren, die Sie mir gegeben haben. Sie haben mir die Augen geöffnet, endlich erkenne ich mich als den, der ich bin.«

In diesem Augenblick tönte der grelle Klang einer Türglocke durchs Haus, und der Besucher änderte, wie auf ein verabredetes und erwartetes Zeichen, sein Benehmen.

»Das Dienstmädchen!« rief er. »Es ist zurückgekommen, wie ich Ihnen voraussagte; jetzt gilt es, nur noch eine einzige schwierige Handlung zu vollbringen. Sie müssen sagen, daß ihr Herr erkrankt sei; Sie müssen sie hereinlassen mit zuversichtlicher, aber ernster Miene. Nur ja kein Lächeln, keine Übertreibungen, und ich garantiere für den Erfolg! Sobald das Mädchen eingetreten und die Tür verschlossen ist, wird der gleiche behende Griff, mit dem Sie sich des Händlers entledigten, auch diese letzte Gefahr aus dem Wege räumen. Dann bleibt Ihnen der ganze Abend, die ganze Nacht, wenn Sie wollen, um die Schätze dieses Hauses zu plündern und für Ihre Sicherheit zu sorgen. Es ist Hilfe, die sieh Ihnen in der Maske der Gefahr nähert. Auf!« rief er, »auf, mein Freund! Ihr Leben hängt in der Wagschale: auf zur Tat!«

Markheim blickte seinem Ratgeber fest ins Gesicht. »Bin ich auch verdammt, Böses zu tun,« sagte er, »so bleibt mir doch eine Tür zur Freiheit offen – ich kann mich jederzeit der Kraft des Handelns begeben. Ist mein Leben vorn Übel, so kann ich es doch niederlegen. Erliege ich auch, wie Sie sagen, der geringsten Versuchung, so kann ich doch in ein Bereich jenseits aller Versuchung fliehen. Meine Liebe zum Guten ist zur Unfruchtbarkeit verdammt; wohlan, es sei! Mir bleibt ja noch der Haß des Bösen, und aus ihm kann ich, das werden Sie zu Ihrer bitteren Enttäuschung sehen, Kraft und Mut schöpfen.«

Über die Züge des Besuchers ging eine wunderbare, lichte Verwandlung; sie verklärten sich und zerschmolzen in zärtlichem Triumph, und noch in diesem Glanz verblaßten und schwanden sie vollständig dahin. Aber Markheim wartete nicht, um diese Metamorphose zu beobachten oder zu verstehen. Er öffnete die Tür und ging sehr langsam und in Gedanken versunken die Treppe hinab. Ernst und gemessen schritt seine Vergangenheit vor ihm her. Er sah sie, wie sie wirklich war, häßlich und quälend wie ein Traum, willkürlich und ungesetzlich wie ein Straßenkampf – eine einzige Niederlage. Das Leben, so wie er es jetzt sah, lockte ihn nicht mehr; am jenseitigen Ufer jedoch gewahrte er für sein Lebensschiff einen stillen Ankerplatz. Im Gange blieb er stehen und blickte in den Laden hinein, wo immer noch über der Leiche die Kerze brannte. Es war seltsam still. Gedanken an den Toten drangen im Schauen auf ihn ein. Und dann zerriß der ungeduldige Lärm der Glocke abermals das Schweigen.

Er trat dem Mädchen auf der Schwelle mit einer Art Lächeln entgegen.

»Sie tun gut daran, zur Polizei zu gehen,« sagte er, »ich habe Ihren Herrn ermordet.«

Drittes Kapitel. Im Umkreis unseres Hauses

Als wir den Palast verliessen, waren wir noch heimatlose Wanderer des Meeres, auf einen Augenblick an Land gegangen; innerhalb einer Stunde hatten wir uns in einem der sechs ausländischen Häuser von Butaritai installiert und zwar in dem, das für gewöhnlich von Maka, dem hawaiischen Missionar, bewohnt wurde. Zwei San Franciscoer Firmen, Messrs. Crawford und Messrs. Wightman Brothers, haben hier ihre Niederlassungen: erstere dicht neben dem Palast mitten in der Stadt, letztere am Nordende des Ortes, und jede mit einem Laden und einer Bar. Unser Haus lag auf dem Wightmanschen Grundstück, zwischen Laden und Bar, innerhalb eines hölzernen Zaunes. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße schmiegten sich ein paar Eingeborenenhäuser in die Ausläufer des Busches, und die Palmen ragten empor wie eine grüne, feste Mauer, jeden Lufthauch absperrend. Eine kleine sandige Bucht der Lagune reichte hinten bis an das Haus heran, begrenzt von einem Steg mit Veranda, das Werk der Hände der siebzehn Königinnen. Hier legten, wenn Flut war, die Segelboote an, um gelöscht zu werden; bei Ebbe gingen die Schiffe eine halbe Meile weiter draußen vor Anker, und eine endlose Kette von Eingeborenen stieg dann die Landungstreppe hinab, schlängelte sich über den Sand, watete mit Koprasäcken beladen bis zu den Hüften im Wasser und wand sich gemütlich wieder zurück, um neue Lasten aufzunehmen. Die Geheimnisse des Koprahandels reizten meine Neugier, und stundenlang saß ich und sah zu, wie die Gewinne auf den Steg und auf den Sand niedersickerten. Auf der Frontseite strömte von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends die Stadtbevölkerung an uns vorbei: ganze Familien, auf dem Wege nach ihren Pflanzungen zur Kopraernte; Weiber, die in den Busch wollten, auf der Suche nach Blumen für die abendliche Toilette; und zweimal am Tage die Palmweinzapfer, jeder mit seinem Messer und einer ausgehöhlten Kokosnuß bewaffnet. Beim ersten Strahl des Morgengrauens, dann wieder spät am Nachmittage wanderten sie vereinzelt an uns vorbei, auf dem Wege zu ihrer Arbeit in den Baumwipfeln, verschwanden hier und dort im Busch und wurden nicht mehr gesehen. Etwa zur gleichen Stunde waren wir, falls Ebbe herrschte, oft selbst unterwegs zum Baden in der Lagune und betraten meistens dann dicht hinter ihnen die Alleen der Palmenwälder. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen ist, sind doch bereits die ersten Feuer des Morgens angezündet, und die aufgehäuften Wolkenmassen des Passats erglühen und signalisieren den kommenden Tag. Die Brise umfächelt das Gesicht; zu Häupten, in den Palmenwipfeln, die ihr als Spielzeug dienen, weckt sie ein lautes Rauschen; wohin man auch sieht, nach unten oder oben, nirgends ein menschliches Wesen, nur Erde und der bebende Wald. Und unmittelbar über einem in dem dichten Blättergewirr erklingt ganz plötzlich das Lied eines unsichtbaren Sängers. Weither von einem zweiten Wipfel kommt die Antwort, und noch tiefer im Herzen des Waldes hockt, schwingt und singt ein dritter Musikant. So kauern rings auf der ganzen Insel die Palmweinzapfer auf ihrem schwanken Sitz, lassen sich vom Winde schaukeln und spähen nach dem Meere aus, wo sie das Auftauchen der Segel beobachten und ungeheuren Vögeln gleich ihren Morgengesang anstimmen. Sie singen mit einer gewissen bacchantischen Lust und Freude; die Fülle von Klang und artikulierter Melodie strömt überraschend von den Gipfeln nieder, von dorther, wo man nur das Gezwitscher der Vögel erwartet, und doch sind auch diese Lieder nicht viel mehr als ein Gezwitscher. Die Worte sind uralt, vergessen und geheiligt; nur wenige verstehen sie noch, keiner wohl von Grund auf, aber es hieß, die Zapfer »beteten um guten Palmwein und sängen von ihren alten Fehden.« Und das Gebet wird auch erfüllt. Wenn einem die schäumende Schale ins Haus gebracht wird, erhält man ein Getränk, das sich eines Dankgebets wohl lohnt. Den ganzen Vormittag über darf man immer wieder kommen, um zu kosten; es funkelt, wird stärker und wächst sich zu einem neuen, nicht minder köstlichen Trank aus. Im Laufe des Tages nimmt die Gärung zu und gewinnt an Säure; nach zwölf Stunden ist sie zur Brothefe geworden, in zwei Tagen zu einem teuflischen Rauschmittel, das die Menschen zu Verbrechen treibt. Die Männer haben ausgesprochenen Arabertyp, häufig mit Bart oder Schnurrbart. Manche tragen die buntesten Kleider, manche Arm- und Beinringe, und alle stolzieren hidalgogleich einher und nehmen Begrüßungen hoheitsvoll entgegen. Das Haar wird von den Gigerln beiderlei Geschlechts in einem krausen, turbangleichen Schopf getragen, und ein den Dolchen der Japaner ähnlicher, spitzer Pfeil wird an Stelle des Kamms herausfordernd in die Frisur gesteckt. Die Weiber blicken unter diesem Haarwust kokett hervor: was Frauenschönheit betrifft, kann sich die Rasse zwar keineswegs mit den Tahitiern vergleichen, und ich bezweifle, ob der Durchschnitt ein hoher ist, trotzdem waren mit die hübschesten Mädchen und stattlichsten Weiber, die ich je gesehen habe, Gilbertinerinnen. Butaritari ist als kommerzieller Mittelpunkt der ganzen Gruppe europäisiert; ein loses, farbiges Gewand oder ein feines weißes Hemd, letzteres nur für den Abend, ist jetzt die gebräuchlichste Kleidung; der billige, mit Blumen, Früchten und Bändern überladene importierte Hut ist leider auch nicht unbekannt, und das charakteristischste Frauenkleid der Gilbertinseln ist nicht mehr Allgemeingut. Dieses heißt »Ridi« und besteht aus einem kurzen Röckchen oder Gürtel aus geräucherten Kokosnußblättern, die geteertem Bindfaden nicht unähnlich sind: das untere Ende reicht knapp bis zum Oberschenkel, das obere hängt so tief über den Hüften, daß es dort nur zufällig zu haften scheint. Ein einziges Niesen und man glaubt, die Dame stände nackt da. »Das verwegene, haarschmale Ridi« hatten wir es getauft; und in dem Konflikt, der gegenwärtig um die Weiberkleidung tobt, hat es das Unglück, beiden Seiten zu mißfallen. Die Prüden verdammen es als ungenügend, die Weltlicheren finden es an sich unschön. Und doch muß eine hübsche Gilbertinerin, will sie sich von ihrer besten Seite zeigen, in jenem Kostüm gehen. In ihm oder auch ganz nackt bewegt sie sich mit der unvergleichlichen Freiheit, Grazie und Lebendigkeit, die die Poesie Mikronesiens bilden, während der Reiz in Kleider gepackt sofort vergeht und sie sich wie eine Engländerin dreht und windet.

Gegen Abend wurde der Aufzug immer prächtiger. Die Männer brachen in alle Farben des Regenbogens oder sagen wir der Handelsniederlassung aus – und Männer sowohl wie Weiber begannen, mit frischen Blumen geschmückt und parfümiert einherzuschlendern. Ihre Lieblingsblume sind kleine weiße Blüten, die mitunter einzeln wie winzige Sternchen in das Frauenhaar gesät, mitunter auch zu dicken Kränzen geflochten werden. Bei Anbruch der Nacht begann die Menge sich zu verdichten, und das Trippeln und Schlürfen nackter Füße hörte nicht mehr auf; die Spaziergänger waren meistens ernst, selbst die Kinder verhielten sich ruhig, von Zeit zu Zeit nur wurde das Schweigen durch ein Gekicher und Gelaufe der Mädchen unterbrochen. Um neun schlug von der Kathedrale die Stunde des Schlafengehens, und das Leben der Stadt versiegte. Um vier Uhr morgens wird das Zeichen in der Dunkelheit wiederholt, und die unschuldigen Schläfer erhalten ihre Freiheit zurück, doch in den sieben Stunden, die dazwischen liegen, müssen alle – ich wollte eben sagen, hinter Schloß und Riegel sein, wo doch Türen und selbst Wände hier eine Ausnahme sind – sagen wir also, sich unter ihr luftiges Dach hinter die Zelte ihrer Moskitonetze geflüchtet haben. Hat einer einen notwendigen Gang zu machen, läßt sich ein Unterwegssein nicht verschieben, so muß sich der Betreffende von weitem schon der Polizei durch eine ungeheure Fackel aus Kokos kenntlich machen, die sich wie ein wanderndes Leuchtfeuer von Haus zu Haus bewegt. Einzig die Polizei selbst darf im Dunkeln gehn und schleicht des Nachts auf der Suche nach Übeltätern umher. Ich haßte ihr heimtückisches Wesen von Herzen; besonders der Polizeihauptmann, ein schlauer alter Kerl in Weiß, umlauerte allnächtlich so standhaft unser Hauptquartier, daß ich ihn am liebsten verdroschen hätte; aber der Schelm genoß ja Immunität.

Keiner der erwähnten elf Handelsleute kam je in die Stadt, kein Kapitän ging in der Lagune je vor Anker, ohne daß wir ihn nicht innerhalb der nächsten Stunde bei uns sahen. Das hatten wir unserer Lage zwischen Laden und Bar zu verdanken – Sanssouci war letztere genannt. Mr. Rick war nicht nur der Geschäftsführer von Wightman Brothers, sondern auch der Konsularagent der Vereinigten Staaten; Mrs. Rick war die einzige Weiße auf der ganzen Insel, ja, außer ihr befand sich nur noch eine weiße Frau im ganzen Archipel; ihr Haus mit seinen kühlen Veranden, Bücherregalen und bequemen Möbeln hatte seinesgleichen nicht zwischen Jaluit und Honolulu. Folglich sprach ein jeder vor, der mit ihnen nicht gerade in irgendeinen Südseestreit über einen Cent mehr oder weniger pro Pfund Kopra oder über ein paar Hühner verwickelt war. Selbst diese Leute aber pflegten, wenn sie nicht von Norden her erschienen, gar bald im Süden aufzutauchen, wo das »Sanssouci« sie wie mit Stricken an sich zog. Auf einer Insel mit einer Bevölkerung von insgesamt zwölf Weißen dürften zwei Schenkstuben eigentlich als überflüssig erscheinen: aber jedes Töpfchen hat sein Deckelchen, und die doppelten Annehmlichkeiten von Butaritari erfreuten sich bei Kapitän und Mannschaft der Schiffe, die dort anlegten, einer großen Popularität. Man war stillschweigend übereingekommen, »The Land we Live in« dem Vorderschiff zu überlassen und das Sanssouci für das Achterdeck zu reservieren. So aristokratisch waren meine Neigungen und so groß meine Furcht vor Mr. Williams, daß ich das erstgenannte Lokal niemals betreten habe; dagegen verbrachte ich in dem anderen, das den Klub oder das Kasino der Insel darstellte, alle meine Abende. Der Raum selbst war klein, aber adrett möbliert; nachts, wenn die Lampe angezündet war, funkelte das Glas und leuchteten die bunten Bilder an den Wänden wie ein geschmücktes Theater zur Weihnachtszeit. Die Bilder waren Plakate, die Gläser grob genug, die ganze Tischlerarbeit dilettantisch, die Wirkung jedoch, die das Ganze hier auf dieser wüsten Insel erweckte, war die eines unermeßlichen Luxus und unbeschreiblicher Wohlhabenheit. Hier wurden Lieder gesungen, Geschichten erzählt, Taschenspielerkunststücke zum besten gegeben und Spiele gespielt. Die beiden Ricks, wir selbst, Tom, der norwegische Barkeeper, ein oder zwei Schiffskapitäne und vielleicht drei oder vier Händler, die in ihren Booten oder zu Fuß herübergekommen waren, machten für gewöhnlich die Gesellschaft aus. Die Händler, von Haus aus alle für den Seemannsberuf bestimmt, sind komisch, stolz auf ihr neues Geschäft. »Wir Südseekaufleute« ist der Titel, den sie sich am liebsten geben. »Wir sind hier alle Seeleute« – »Kaufleute, bitte« – »Südseekaufleute« – so begann immer wieder die Konversation, die für sie niemals an Reiz zu verlieren schien. Wir empfanden sie samt und sonders als schlichte, freundliche, lustige, tapfere und gefällige Menschen und erinnern uns trotz der langen Zeit, die inzwischen verstrichen ist, mit Vorliebe an die Kaufleute von Butaritari. Zwar gab es auch hier ein schwarzes Schaf. Ich will von ihm an dieser Stelle erzählen, obwohl das eigentlich gegen meine Regel ist; aber in diesem Falle fühle ich mich nicht verpflichtet, irgendwelche Diskretion zu bewahren, denn der Mann stellt den Typ einer bestimmten Klasse von Schurken dar, die früher einmal die ganze Südsee in Verruf brachten und sich heute nur ganz vereinzelt auf den entlegenen Inseln Mikronesiens aufhalten. Am Strande von Butaritari genoß er die Bezeichnung eines »vollkommenen Gentleman, wenn nüchtern«, aber ich habe ihn niemals anders als betrunken gesehen. Die wenigen abstoßenden und barbarischen Eigenschaften des Mikronesiers hatte er mit der Geschicklichkeit eines Sammlers herausgefischt und auf den Grund und Boden seiner eigenen Gemeinheit verpflanzt. Man hat ihn bereits des Meuchelmords bezichtigt und freigesprochen; seither hat er jedoch mit der Tat geprunkt, was mich allerdings glauben macht, daß er tatsächlich unschuldig war. Seine Tochter ist durch seine versehentliche Grausamkeit entstellt, denn er hatte seine Frau verstümmeln wollen, und in der Dunkelheit sowie in dem tollen Rausche des genossenen Kokosschnapses war er an das falsche Opfer geraten. Seitdem ist seine Frau in den Busch entwichen und zu den Eingeborenen geflohen, und die Forderungen des Gatten nach ihrer gewaltsamen Zurückführung stoßen auf taube Ohren. Sein Geschäft besteht in der Hauptsache darin, die Eingeborenen zum Trinken anzureizen und ihnen dann das Strafgeld hierfür als lukrative Hypothek vorzuschießen. »Respekt vor den Weißen« ist das dritte Wort dieses Mannes: »Was dieser Insel fehlt, ist der Respekt vor den Weißen«. Während meines dortigen Aufenthalts traf er eines Tages auf dem Wege nach Butaritari mit seiner Frau zusammen, die im Busch mit einigen Eingeborenen verborgen lag, und wollte sich auf sie stürzen, als ihre Begleiter ihre Messer zogen, worauf der Gatte erwiderte: »Ist das der schuldige Respekt vor den Weißen?« In einem frühen Stadium unserer Bekanntschaft bezeugten wir ihm unseren Respekt vor dieser Art von Weißen damit, daß wir ihm das Betreten unseres Grundstücks bei Gefahr seines Lebens verboten. Von da ab lungerte er oft in der Nachbarschaft herum; sein bleiches, bildhübsches Gesicht (das ich jedoch nur mit Widerwillen anzuschauen vermochte) spähte zu allen möglichen Tageszeiten über unseren Zaun, und einmal rächte er sich aus sicherer Entfernung dadurch, daß er uns ein landläufiges mikronesisches Schimpfwort an den Kopf warf, das unseren Ohren gänzlich harmlos, in seinem englischen Munde jedoch unglaublich deplaziert klang.

Unser Grundstück, um das dieses Muster an vielseitiger Verkommenheit herumschlich, war ziemlich ausgedehnt. In der einen Ecke stand eine Laube mit einem rohen Brettertisch. Hier war vor kurzem erst der vierte Juli mit denkwürdigen, an anderer Stelle noch zu schildernden Folgen festlich begangen worden. Hier nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, hier bewirteten wir auch den König und die Notabeln von Makin. In der Mitte der Einfriedung lag das Haus mit seinen nach beiden Seiten gehenden Veranden und mit drei Räumen im Innern. Auf der Veranda spannten wir unsere Schiffshängematten auf, dort arbeiteten wir am Tage, dort schliefen wir des Nachts. Drinnen befanden sich Betten, Stühle, ein runder Tisch, eine elegante Hängelampe und die Porträts der königlichen Familie von Hawaii. Die Königin Viktoria besagt gar nichts; Kalakaua und Mrs. Bishop lassen immerhin allerhand Vermutungen aufkommen: die Wahrheit ist, wir waren unrechtmäßige Bewohner des Pfarrhauses. Am Tage unserer Ankunft war Maka nicht zugegen; ein treuloser Hausverwalter schloß uns Tür und Tore auf; und der liebe, gute, strenggläubige Mann, der geschworene Feind von Alkohol und Tabak, kehrte zurück, um seine Veranda mit Zigaretten übersät und sein Wohnzimmer von Flaschen verunziert zu finden. Er stellte nur eine einzige Bedingung – den runden Tisch, den er bei der Zelebrierung des Abendmahls zu benutzen pflegte, bat er, von Alkohol zu verschonen; im übrigen beugte er sich in allem vor der vollendeten Tatsache, weigerte sich, einen Mietzins zu nehmen, zog sich in ein gegenüberliegendes Eingeborenenhaus zurück und suchte, eigenhändig rudernd, die obskursten Winkel der Insel nach Nahrungsmitteln für uns ab. Er machte Schweine für uns ausfindig – nirgends sonst haben wir jemals ein Schwein hier zu Gesicht bekommen – und schleppte Geflügel und Taro für uns heran; als wir unser Fest für König und Adel veranstalteten, verschaffte er uns den Proviant und überwachte in eigener Person das Kochen; er war es auch, der das Tischgebet sprach, der des Königs Gesundheit ausbrachte und der den Toast in ein echt englisches Hip-Hip-Hurra ausklingen ließ. In seinem ganzen Leben hat er niemals eine glücklichere Idee gehabt: das Fettherz des dicken Königs hüpfte ihm bei diesem Laut vor Wonne im Busen.

Alles in allem bin ich niemals einem liebenswerteren Geschöpf begegnet als diesem Pastor von Butaritari: seine Freude und Güte, seine vornehme, menschenfreundliche Natur quollen bei jedem Wort, bei jeder Geste hervor. Er liebte es, zu übertreiben, im Moment irgendeine Rolle zu Tode zu hetzen, seine Lungen und Muskeln zu üben, mit seinem ganzen Körper zu reden und zu lachen. Er besaß die morgendliche Heiterkeit von Vögeln oder von sehr gesunden Kindern, und sein Humor wirkte ansteckend. Wir waren die allernächsten Nachbarn und kamen tagtäglich zusammen, trotzdem dauerten unsere Begrüßungen immer minutenlang – wir schüttelten uns die Hände, klopften uns auf die Schulter, sprangen dabei wie zwei Hanswurste herum und lachten uns tot über irgendeinen Scherz, der selbst in einem Kindergarten kaum schwache Heiterkeit erregt haben würde. Und ob es auch fünf Uhr früh war, wenn die Palmweinzapfer eben an uns vorübergezogen waren, wenn die Straße noch leer vor unseren Augen lag und der Schatten der Insel weit in die Lagune hinausragte: seine überschäumend gute Laune genügte, um mich den ganzen Tag über vergnügt zu machen.

Trotzalledem habe ich stets eine gewisse geheime Melancholie in Maka vermutet; diese jubelnde Heiterkeit ließ sich unmöglich dauernd aufrechterhalten. Außerdem war er lang, hager, runzelig, knorrig und leicht ergraut, und sein Sonntagsgesicht war förmlich saturnisch zu nennen. An jenem Tage marschierten wir in einer Prozession zur Kirche oder (wie ich sie stets nennen werde) zur Kathedrale: voran Maka (ein schwarzer Fleck in der glühenden Landschaft) in Zylinder, schwarzem Gehrock und langen schwarzen Hosen, Gesangbuch und Bibel unter dem Arm und ehrfürchtigen Ernst auf seinem Gesicht; neben ihm Maria, seine Gattin, eine ruhige, kluge und stattliche, ältere Frau in gesetzter, dunkler Kleidung; ich selber hinterdrein, voll seltsamer und rührender Gedanken. Vor langer, langer Zeit war ich beim Klang der Glocken, beim Rauschen der Bäche und bei dem Gezwitscher der Vögel so durch ein schottisches Hochlandstal gezogen, so hatte ich Sonntag für Sonntag den Pfarrer begleitet, in dessen Haus ich damals wohnte, und die Ähnlichkeit wie die Verschiedenheit, die vielen Jahre, die vielen Tode, die dazwischen lagen, rührten mich bis in alle Tiefen. Die Gemeinde in der großen, dämmrigen Palmbaum-Kathedrale zählte knapp dreißig Menschen, die Männer alle auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite, ich selbst (eine große Vergünstigung) unter den Frauen, und die wenigen Mitglieder der Mission eng zusammengedrängt aus der erhöhten Plattform, ein verlorenes Häuflein in jenem großen, runden Gewölbe. Der Bibeltext des betreffenden Tages wurde antiphonisch vorgelesen, die Gemeinde katechisiert, ein blinder Jüngling wiederholte allwöchentlich eine lange Reihe Psalmen, Kirchenlieder wurden gesungen – in meinem Leben habe ich nie wieder so schlecht singen hören – und die Predigt begann. Zu sagen, daß ich nichts davon verstand, wäre eine Unwahrheit gewesen; es gab gewisse Stellen, die ich jedesmal mit Sicherheit erwartete: das Wort Honolulu, den Namen Kalakaua, den Ausdruck »Käpt’n-Kriegsschiff«, die Bezeichnung Schiff, und dann folgte unfehlbar die Beschreibung eines Unwetters auf See; nicht selten wurde ich auch durch den Namen meiner eigenen Monarchin belohnt. Der Rest war nichts als Geräusch in meinen Ohren, ein Schweigen der Gedanken: eine unendliche Öde und Langeweile, die durch die Hitze, einen harten Stuhl und den Anblick der glücklicheren Heiden draußen auf dem Anger noch unerträglicher gemacht wurde. Der Schlaf senkte sich auf meine Glieder und auf meine Augen, er summte mir in den Ohren, er herrschte unumschränkt in der dämmrigen Kathedrale. Die Gemeinde rührte und rekelte sich; sie seufzte, sie stöhnte laut, sie stieß bei jeder Note im Gesang ein Gähnen aus, wie man mitunter einen Hund gähnen hört, wenn er den tiefsten, bittersten Grad der Langeweile erreicht hat. Vergeblich donnerte der Pastor auf den Tisch; vergeblich redete er einzelne Mitglieder direkt mit Namen an. Ich selbst war vielleicht ein wirksameres Stimulans; zum mindesten ein alter Herr schien aus meinen erfolgreichen Kämpfen gegen den Schlummer – ich hoffe wenigstens, daß sie erfolgreich waren – Trost und Unterhaltung zu schöpfen. Er weidete sich nämlich starren, herausfordernden Blicks – wenn er nicht gerade Fliegen fing oder seinen Nachbarn einen Streich spielte – an den verschiedenen Stadien meiner Qual; und einmal, als der Gottesdienst seinem Ende zuging, zwinkerte er mir sogar frech vom anderen Ende der Kirche aus zu.

Ich muß, während ich diesen Gottesdienst schildere, lächeln; und doch fehlte ich niemals dabei – aus Respekt für Maka, voller Bewunderung für seinen heiligen Ernst, seine brennende Energie, das Feuer seiner begeisterten Augen, die Aufrichtigkeit und die vielen Modulationen seiner Stimme. Ihn so mit seinen schwachen Kräften unermüdlich ein totes Pferd antreiben und ein kaltes Feuer anfachen sehen, bedeutete eine gute Lehre in Willensstärke und Beharrlichkeit. Es ist die Frage, ob die Ergebnisse bei einer besseren Unterstützung der Mission und einer Entlastung Makas von anderen Geschäften nicht hätten besser sein können. Ich persönlich glaube es nicht. Ich glaube, nicht Vernachlässigung, sondern allzu große Strenge hat seine Gemeinde so geschmälert, jene Strenge, die einstmals eine Revolution erzeugte und die der Außenstehende heute an einem sonst so lebensfreudigen, liebenswürdigen Mann mit Staunen wahrnimmt. Kein Lied, kein Tanz, kein Tabak, kein Alkohol, nichts, was das Leben leichter macht – nur Arbeit und Gottesdienst – das ist der Ausdruck, der auf seinem Gesicht zu lesen ist; das Gesicht ist das Antlitz des polynesischen Esau, doch die Stimme ist die Jakobs und stammt aus einer anderen Welt. Auch im besten Falle ist ein Missionar aus Polynesien auf den Gilbertinseln ein fremder Gast, kommt er doch aus einem Lande, wo wüste Unkeuschheit herrscht, in ein Land der strengsten Moral, aus einer Gegend, die unter dem Alpdruck ihrer Schreckgespenster seufzt, in einen Bezirk, der den Schrecken der Finsternis mit relativem Mut ins Gesicht sieht. Jener Gedanke kam mir eines Morgens mit unauslöschlicher Klarheit, als ich zufällig bei hellem Mondschein die ganze Stadt in Dunkelheit getaucht vor mir liegen sah und beobachtete, wie treulich noch die Lampe neben des Missionars Bette brannte. Maka und seinen Landsleuten gegenüber bedarf es weder des Gesetzes noch des Feuers noch wachsamer Polizisten, um sie davon abzuhalten, ohne Licht im Dunkeln zu wandeln.

Viertes Kapitel. Die Geschichte eines Tapus

Am Morgen nach unserer Ankunft (Sonntag, den 14. Juli 1889) waren unsere Photographen früh auf den Beinen. Wieder einmal durchschritten wir die schweigende Stadt; viele lagen noch schlafend in ihren Betten, einige saßen schläfrig in ihren offenen Häusern; von Verkehr oder Geschäften nirgends auch nur ein Laut. In jener Stunde vor der Morgendämmerung erschienen das Palastviertel und der Kanal wie ein Landungsplatz aus Tausendundeiner Nacht oder aus den klassischen Poeten, dies war in der Tat das passende Ziel für ein Feenschiff, hier konnte irgendein Abenteuer suchender Prinz zwischen neuen Gestalten und Ereignissen an Land gehen, und das Inselgefängnis, das auf dem leuchtenden Spiegel der Lagune gleichsam zu schweben schien, hätte die Gralsburg selber sein können. In einer solchen Umgebung und zu solcher Stunde war der Eindruck, den wir empfingen, weniger der eines fremden Landes als der eines Zurückversetztseins in die Vergangenheit; wir hatten nicht das Gefühl, als wären wir durch viele, viele Breitengrade gewandert, nein, als hätten wir zahlreiche Jahrhunderte überschritten und gleichzeitig Heimat und Gegenwart weit hinter uns gelassen. Ein paar Kinder, meist nackt und alle schweigend, hefteten sich an unsere Fersen; in dem klaren, tangreichen Wasser des Kanals wateten einige stumme Jungfräulein mit bis zur Wade entblößten braunen Beinen, und aus einer der Maniapen vor den Toren des Palastes lockte uns eine leise aber lebhafte Unterhaltung.

Der ovale Schuppen war voller Männer, die mit gekreuzten Beinen dasaßen. Der König in seinen gestreiften Pyjamas war anwesend, den Rücken gedeckt von vier Wächtern mit Winchestergewehren; seine Miene zeigte ungewöhnliche Energie und Entschlossenheit. Gläser und schwarze Flaschen machten die Runde, und das Gespräch war, wenn auch lärmend, so doch allgemein und animiert. Auf den ersten Blick war ich geneigt, die ganze Szene mit einigem Argwohn zu betrachten. Aber die Stunde schien für ein Gelage allzu ungeeignet; alkoholische Getränke waren außerdem ebensosehr durch das Landesgesetz wie durch die Bestimmungen der Kirche verboten, und während ich noch zögerte, zerstreute die strenge Haltung des Königs entgültig meine Zweifel. Wir waren gekommen, um ihn inmitten seiner Wachen zu photographieren, und schon bei der ersten Andeutung empörte sich seine Frömmigkeit. Man erinnerte uns daran, daß es Sonntag wäre – Sonntag, an dem du keine Aufnahmen machen sollst – und wir machten also mit einem Floh im Ohr und der verschmähten Kamera kehrt.

In der Kirche war ich nachträglich erstaunt, den Thron leer zu finden. Ein so rigoroser Sabbatheiliger hätte sehr gut die Mittel finden können, anwesend zu sein; vielleicht wurden auch meine Zweifel wieder lebendig, und noch ehe ich unser Haus erreicht hatte, waren sie zur Gewißheit geworden. Tom, der Barkeeper des Sanssouci, befand sich im Gespräch mit zwei Abgesandten des Hofes. Der »Keen«, erklärten sie, verlange »Din«, und wenn das nicht vorhanden wäre, »Perandi.« Nix da Din, war Toms Antwort, und auch kein Perandi; aber Pira, wenn sie das wollten. Nein, Pira wollten sie anscheinend nicht und zogen kummervoll wieder ab.

»Was soll das heißen?« fragte ich. »Will die ganze Insel auf den Rummel gehen?«

Das war in der Tat der Fall. Am vierten Juli war ein Fest veranstaltet worden, und der König hatte auf Vorschlag der Weißen das Tapu gegen den Alkohol aufgehoben. Es gibt ein Sprichwort von Pferden; jeder kann ein Pferd zum trinken bringen, keine zwanzig es davon abhalten. Das gleiche gilt auch für die höhere Bestie Mensch. Das vor zehn Tagen aufgehobene Tapu war bisher nicht wieder verhängt worden. Seit zehn Tagen hatte die Stadt die Flasche kreisen lassen, oder (wie am Nachmittage des Tages vorher) ihren viehischen Rausch ausgeschlafen. Und der König, von den Alten wie von seinem Durst getrieben, hielt auch weiterhin die Erlaubnis aufrecht, fuhr fort, seine Ersparnisse an Alkohol zu verschwenden und bei der ganzen Orgie die leitende Rolle zu spielen. Die Weißen waren die Urheber dieser Krisis. Auf ihren Vorschlag hin hatte man den Alkohol freigegeben, und anfänglich waren sie es im Interesse des Handels auch wohl zufrieden. Die Freude hatte jedoch nachgelassen; das Trinken war etwas zu lange fortgesetzt worden, das mußte jeder zugeben; jetzt begann die Frage akut zu werden, wie man ihm ein Ende machen konnte. Daher Toms Weigerung. Doch die Weigerung galt eingestandenermaßen nur für den Augenblick und war ebenso offensichtlich fruchtlos, denn des Königs Fourageure würden nach Toms Abweisung im Sanssouci in »The Land we Live in« von dem habgierigen Mr. Williams versorgt werden.

Der Ernst der Gefahr war damals schwer abzuwägen, und nachträglich neige ich eher zu der Ansicht, daß man ihn leicht übertrieb. Allein das Benehmen von Trunkenbolden gibt uns auch daheim in jedem Falle einigen Anlaß zur Besorgnis; dabei ist unsere Bevölkerung daheim nicht vom ersten bis zum letzten Mann mit Revolvern und Repetiergewehren bewaffnet, und wir betrinken uns auch nicht gleich stadtweise – ich kann ruhig sagen länderweise – König, Magistrat, Polizei und Armee. Man darf auch nicht vergessen, daß wir uns hier auf einer barbarischen, kaum besuchten, erst kürzlich und nur mangelhaft zivilisierten Insel befanden. Last not least – es ist schon eine ganze Reihe von Weißen hauptsächlich infolge ihres eigenen schlechten Benehmens auf den Gilbertinseln ums Leben gekommen; einmal zum mindesten hatten die Eingeborenen bereits eine starke Neigung bewiesen, einen zufälligen Unglücksfall durch eine Metzelei, die nichts als Knochen übriggelassen hätte, zu vertuschen. Dieses letzte Bedenken vor allem hielt uns davon ab, die Bars von heute auf morgen zu schließen; die Barkeeper wären die ersten gewesen, die daran hätten glauben müssen. Sie hatten es direkt mit Tollhäuslern zu tun; eine allzu schroffe Weigerung hätte jeden Augenblick einen Wutausbruch zeitigen können, und der erste Schlag wäre vielleicht das Zeichen zu einem Blutbad geworden.

Montag, den 15. – Zur gleichen Stunde kehrten wir in die gleiche Maniap‘ zurück. Ausgerechnet Kümmel wurde dort in Wassergläsern gereicht. In der Mitte saß der Kronprinz, ein feister Jüngling, von Flaschen umgeben und heftig mit dem Korkenzieher beschäftigt. König, Häuptlinge und Gemeine, alle zeigten das lockere Lächeln und die unsicheren Glieder, den verschwommenen und zugleich unsteten Blick von Betrunkenen in den Anfangsstadien des Rausches. Es war klar, daß man uns mit Ungeduld erwartet hatte; der König zog sich eiligst zurück, um Toilette zu machen, die Wache wurde nach ihren Uniformen geschickt, und wir blieben in einem Schuppen voll angeheiterter Eingeborenen allein, um das Resultat dieser Vorbereitungen abzuwarten. Die Orgie war weiter fortgeschritten als am Sonntag. Der Tag versprach sehr heiß zu werden; es war bereits ungewöhnlich schwül, und die Höflinge hatten alle mehr als ihnen bekömmlich war genossen, aber noch immer machte die Kümmelflasche die Runde, wobei der Kronprinz den Kellermeister spielte. Vlämische Freiheit der Sitten folgte auf diese vlämischen Exzesse. Der Komiker der Gesellschaft, ein bildhübscher junger Bursche in greller Kleidung und mit einem dicken Turban krauser Haare, entzückte die Versammlung durch eine humoristische Werbung um eine Dame, die er in einer nicht zu schildernden Weise betrieb. Wir unterhielten uns inzwischen damit, das Aufmarschieren der Wache zu beobachten. Diese trug europäische Waffen, europäische Uniformen und (zu ihrem Leidwesen) auch europäisches Schuhzeug. Wir sahen zu, wie einem dieser Krieger (gleich Mars) die Rüstung angelegt wurde; zwei Männer und ein kräftiges Frauenzimmer waren kaum stark genug, um ihm die Stiefel anzuziehen, und überhaupt ist die Armee nach jeder Parade mindestens auf eine Woche gelähmt.

Endlich öffneten sich die Pforten des königlichen Hauses, die Armee defilierte samt Gewehren und Epauletten im Gänsemarsch vorbei; die Königsflagge senkte sich unter dem Toreingang; seine Majestät folgte in einer goldstrotzenden Uniform; ihm nach die Gemahlin seiner Majestät in Federhut und wallender Seidenschleppe, zuletzt die königlichen Rangen; da stand die ganze Galagesellschaft Makins auf der von ihr selbst erwählten Bühne. Dickens allein hätte ihren feierlichen Ernst, ihre Betrunkenheit beschreiben können, den König, wie er unter seinem Dreispitz zerfloß und überquoll, wie er sich neben die größere der beiden Kanonen postierte – streng, majestätisch aber nicht gerade sehr aufrecht; wie die Truppen sich gegeneinander lehnten, angeschnauzt wurden und aufs neue zusammenfielen; wie sie und ihre Musketen in den verschiedensten Graden gleich den Masten einzelner Schiffe durcheinander schwankten, wie unser Amateurphotograph sie revidierte, ordnete und grade stellte, nur um seine Anweisungen in dem Moment, da er zu seiner Kamera zurückkehrte, wieder über den Haufen geworfen zu sehen.

Die ganze Sache war maßlos komisch, obwohl ich nicht weiß, ob es sich schickte, darüber zu lachen. Jedenfalls wurde unser Bericht über dieses Durcheinander bei unserer Rückkehr mit bedenklichem Kopfschütteln aufgenommen.

Der Tag hatte schlecht angefangen; elf Stunden trennten uns noch von Sonnenuntergang, und jeden Augenblick konnte, durch irgendeine geringfügige Tatsache hervorgerufen, das Unheil losbrechen. Das Wightmannsche Grundstück war militärisch unhaltbar, da es von drei Seiten durch Häuser und den dichten Busch beherrscht wurde; schätzungsweise sollte die Stadt über tausend Stück vorzüglicher Feuerwaffen enthalten, und für den Fall eines Angriffs war ein Rückzug auf die Schiffe undenkbar. Unser Gespräch an jenem Morgen muß ein getreues Abbild der Gespräche in den englischen Garnisonen vor der großen Sepoy-Meuterei gewesen sein: der nämliche resolute Zweifel, ob Unheil im Schwange wäre, die gleiche unerschütterliche Überzeugung, daß in dem Falle nichts zu machen sei, als kämpfend unterzugehen, dieselbe halb amüsierte, halb sorgenvolle Gespanntheit, mit der man neuen Entwickelungen entgegensah.

Der Kümmel war bald alle geworden; kaum waren wir zurückgekehrt, als der König uns schon nachkam auf der Suche nach neuem Schnaps. Herr Leiche hatte seine imposante Haltung jetzt abgelegt, sein rebellischer Riesenkörper stak wieder in den gestreiften Pyjamas; eine Leibwache, die ihre Musketen nach sich schleppte, bildete die Nachhut. Außerdem ward Se. Majestät begleitet von einem Walfischjäger aus Rarotongan sowie von dem launigen Höfling mit dem krausen Haarturban. Niemals hat es eine lebhaftere Verhandlung gegeben. Der Walfischmann war idiotisch, tränenvoll betrunken; der Höfling ging wie auf Luft, der König geruhte sogar zu scherzen. Hingegossen in einem Stuhl in Ricks Wohnzimmer ließ er den Strom unserer Bitten und Drohungen über sich ergehen. Wir schalten ihn aus, hielten ihm Beispiele aus der Vergangenheit vor, befahlen ihm, das Tapu auf der Stelle von neuem zu verhängen – nichts rührte ihn auch nur im geringsten. Morgen, erklärte er, würde es geschehen; heute stände es außerhalb seiner Macht, heute wage er es nicht. »Ist das königlich?« fragte der empörte Mr. Ricks. Nein, es war nicht königlich; wäre des Königs Charakter anders gewesen, wir hätten uns einer anderen Redeweise befleißigt; doch königlich oder nicht königlich, er blieb in diesem Streite Sieger. Tatsächlich waren die Kräfte auf beiden Seiten auch zu ungleich, denn der König war der einzige, der das Tapu wieder herstellen konnte, die Ricks aber nicht die einzigen, die Schnaps verkauften. Er brauchte bloß bei dem ersten Teil feiner Erklärung zu verharren, und die anderen mußten notgedrungen in dem übrigen nachgeben. Dem Schein zuliebe hielten sie den Widerstand noch eine kleine Weile aufrecht, dann aber machte sich die ungemein betrunkene Abordnung mit einem Brandyfaß, das auf einer Schiebkarre neben ihr her gefahren wurde, triumphierend auf den Rückweg. Der Rarotongan-Mann (den ich in meinem Leben nie zuvor gesehen hatte) schüttelte mir die Hand, wie jemand, der auf eine weite Reise geht. »Mein teurer Freun‘,« rief er, »mein teurer Freun’« – Kümmeltränen standen ihm in den Augen; der König torkelte voran, der Höfling hinterdrein – eine merkwürdige Gesellschaft berauschter Kinder, denen man einen Karren voll neuer Tollheit anvertraut hatte.

Unmöglich konnte man behaupten, daß die Stadt ruhig war; eine Gärung lag in der Luft, ein zielloses Kommen und Ansammeln der Eingeborenen herrschte auf den Straßen. Doch erst um halb Zwei schreckte uns ein plötzliches Durcheinander von Stimmen auf; wir liefen aus dem Hause und fanden die ganze weiße Kolonie bereits wie auf ein verabredetes Signal versammelt vor. Das Sanssouci war vom Pöbel überlaufen, auf Treppen und Veranden drängten sich unzählige Menschen. Aus allen diesen Kehlen stieg im Augenblick ein unartikulierter, undeutlicher Schrei; er klang wie das Blöken junger Lämmer, nur zorniger. Auf der Straße stand Se. Königliche Hoheit (den ich vor kurzem erst in seinem Amt als Kellermeister gesehen hatte) und schrie auf Tom ein; auf der obersten Treppenstufe in einem wogenden Menschenhaufen stand Tom und brüllte dem Prinzen etwas zu. Eine Weile schwankte der lärmende Mob vor der Bar hin und her. Dann siegte ein brutaler Impuls; er wankte, stürzte vorwärts und wurde wieder zurückgeworfen; die Treppe war ein Meer von Köpfen, und inmitten der auseinanderweichenden Menge tauchten drei Männer auf, die gewaltsam einen vierten mit sich schleppten. An den Haaren und Händen, mit bis auf die Kniee gebeugtem Kopf, so daß sein Gesicht ganz verborgen war, zerrten sie ihn von der Veranda herunter und die Straße entlang ins Dorf, wo er heulend verschwand. Wäre sein Gesicht erhoben gewesen, hätten wir gesehen, daß es blutüberströmt war, wenn auch nicht von seinem eigenen Blut. Der Höfling mit dem krausen Haarschopf hatte für diese Unruhen mit dem Verlust seines einen Ohrläppchens zahlen müssen.

So ging der Auflauf zu Ende, ohne schwerere Verluste zu erzeugen als die, welche inhumanen Menschen ein Lächeln ablockten. Dennoch sahen wir um uns herum nur ernste Gesichter und – eine Tatsache, die Bände sprach – Tom zog die Läden vor die Bar. Mochte die Kundschaft sich anderswohin begeben, mochte Mr. Williams noch so sehr profitieren, Tom hatte für diesen Tag genug von der Bar. Selbst so hatte alles nur an einem Haar gehangen. Ein Mann hatte einen Revolver zu ziehen versucht – aus welchem Grunde, konnte ich niemals erfahren – ein einziger Schuß in dem gedrängt vollen Zimmer hätte seine Wirkung nicht verfehlt. Wo viele bewaffnet und alle betrunken waren, hätte er andere Schüsse nach sich gezogen, und es ist sehr leicht möglich, daß die Frau, die die Waffe erspähte, und der Mann, der sich des Revolvers bemächtigte, die ganze weiße Kolonie gerettet hatten.

Unmerklich begann der Mob sich zu zerstreuen; für den Rest des Tages blieb unsere Nachbarschaft in Frieden und in ziemlicher Einsamkeit. Aber die Ruhe war nur eine lokale; Din und Perandi flossen in anderen Gegenden der Stadt in Strömen, und noch einmal sollten wir mikronesische Gewalttätigkeit kennenlernen. In der Kirche, wohin wir uns zum Photographieren begeben hatten, wurden wir durch einen durchdringenden Schrei aufgeschreckt. Die Szene, die sich uns bot, als wir durch die Türen jenes schattenhaften Raumes spähten, wird mir unvergeßlich bleiben. Die Palmen, die originellen, verstreuten Häuser, die Inselflagge, die an ihrem hohen Maste flatterte, alles lag in fast unerträglich starkem Sonnenlicht da. Und dazwischen wälzten sich zwei kämpfende Frauen auf dem Rasen. Die Streitenden waren leicht zu unterscheiden, weil die eine nackt bis auf den Ridi war, während die andere ein Holoku (loses Gewand) von irgendeiner bunten Farbe trug. Die erstere hatte die Oberhand und hatte sich mit den Zähnen fest in ihrer Gegnerin Gesicht verbissen, die sie wie einen Hund schüttelte; die andere wehrte sich ohnmächtig durch Schlagen und Kratzen. So sahen wir einen Augenblick, wie sie sich, gleich widerlichem Gezücht ineinander verstrickt, herumrollten und miteinander rangen. Dann schloß sich der Kreis des Pöbels und entzog sie unseren Blicken.

Es war eine ernsthafte Frage in jener Nacht, ob wir an Land schlafen sollten. Aber wir waren Reisende, die auf der Suche nach Abenteuern von weither kamen; es wäre höchst inkonsequent gewesen, wenn wir bei dem ersten Anzeichen eines Abenteuers ausgerissen wären; wir schickten also statt dessen an Bord, um unsere Revolver zu holen. In Erinnerung an Taahauku hielten Mr. Rick, Mr. Osbourne und meine Frau mitten auf der Landstraße eine Waffenübung ab und begannen unter lebhafter Bewunderung der Eingeborenen auf alte Flaschen zu schießen. Kapitän Reid von der »Aequator« blieb bei uns an Land, um im Notfalle zur Hand zu sein, und wir zogen uns zur gewohnten Stunde in angenehmer Erregung über die Tagesereignisse zurück und legten uns schlafen. Die Nacht war köstlich, die Stille zauberhaft; während ich so in meiner Hängematte lag und die schlafenden Palmen im starken Mondlicht betrachtete, verfolgte mich das häßliche Bild der beiden Frauen, die sich nackt und bekleidet in feindlicher Umarmung hielten. Wahrscheinlich hatten sie sich gegenseitig nicht viel Schaden zugefugt, dennoch hätte ich mit minderem Widerwillen Tod und Gemetzel schauen können. Die Rückkehr zu diesen primitiven Waffen, das Bild menschlicher Bestialität, des reißenden Tieres im Menschen, erschütterte mich tiefer als es der Blutpreis einer Schlacht getan hätte. Das alles sind Elemente unseres Staats und der Geschichte, die man mit Freuden vergißt, und bei denen man klugerweise vielleicht am besten gar nicht verweilt. Verbrechen, Pestilenz und Tod gehören zu unserem Tagewerk, und die Einbildungskraft findet sich leicht mit ihnen ab, dagegen weist sie alles zurück, was das Bild unserer Rasse auf ihrer niedrigsten Stufe heraufbeschwört, das Bild des Partners von Tieren, tierisch an sich, im wüsten Wirrwarr hausend, behaarter Mann neben behaarter Frau in den Höhlen der Vorzeit. Und doch dürfen wir, um gegenüber dem barbarischen Insulaner gerecht zu sein, nicht die Verbrecher- und Armenviertel unserer Großstädte vergessen; ich darf nicht vergessen, wie oft ich von irgendeinem Mahle heimkehrend durch Soho nach Hause gegangen bin und Bilder gesehen habe, die mich von meiner Eßlust gründlich kurierten.

Fünftes Kapitel. Die Geschichte eines Tapus – Fortsetzung

Dienstag, den 16. Juli – Gestern Nacht regnete es, plötzlich und heftig, nach Gilbertinsel-Manier. Noch vor Morgengrauen weckte mich ein Hahnenschrei, und ich wanderte auf unserem Grundstück und in den Straßen umher. Das schlechte Wetter war vorüber, der Mond schien unvergleichlich hell, und doch rauschte die ganze Insel wie bei einem starken Regen. Von den Blättern fielen dicke Tropfen, die hohen Palmen ließen in längeren Zwischenräumen schwere und laute Schauer niederrieseln. In dieser kühnen nächtlichen Beleuchtung lag das Innere der Häuser in undurchdringlicher Finsternis, als einheitlich schwarze Masse, da; nur dort, wo der Mond sich unter die Dächer stahl, schuf er einen silbernen Gürtel und malte die schrägen Schatten der Türpfosten auf den Fußboden. Nirgendwo in der ganzen Stadt sah man Feuerschein oder eine Lampe; weder Mensch, noch Tier rührten sich; ich dachte, ich sei der einzige, der wach wäre, doch die Polizei war pflichttreu auf ihrem Posten, heimlich wachsam zählte sie die Stunden, und kurz danach läutete der Wachmann wiederholt und vernehmlich die Glocke der Kathedrale; es war vier Uhr, das Wecksignal ertönte. Seltsam, daß in dieser Stadt der Trunkenheit und des Aufruhrs Abend- und Morgenläuten erklangen und so ruhig befolgt wurden.

Der Tag kam und brachte wenig Neues. Der Ort lag immer noch schweigend da; die Bevölkerung schlief, es schlief die Stadt. Selbst die wenigen Menschen, die munter waren, meist Frauen und Kinder, bewahrten das Schweigen und hielten sich in dem tiefen Schatten der Dächer auf, so daß man stehenbleiben und sich bücken mußte, um sie zu sehen. Durch die leeren Straßen, vorbei an den schlafenden Häusern, wand sich in den frühen Morgenstunden eine Deputation auf dem Wege nach dem Palast; der König wurde unsanft aufgeweckt und mußte (wahrscheinlich mit einem Kater) unschmackhafte Wahrheiten anhören. Mrs. Rick diente bei diesem Anlaß als Wortführerin, da sie der schwierigen Sprache mächtig war. Sie setzte dem leidenden Monarchen auseinander, daß ich ein intimer Freund der Königin Viktoria sei, daß ich ihr sogleich nach meiner Rückkehr einen Bericht über Butaritari abstatten würde und daß, falls wiederum die Einheimischen mein Haus belagern sollten, sofort ein Kriegsschiff erscheinen würde, um Repressalien zu ergreifen. Das beruhte ja nun kaum auf Wahrheit, es war nur eine genaue, notwendige Parallele zur Wahrheit, ein wenig nach den Breitengraden zurechtgestutzt, aber sie verfehlte nicht ihre Wirkung auf den König. Er war tief bewegt; von jeher, meinte er, hätte er den Eindruck gehabt, daß ich ein Mann von Bedeutung sei, aber daß es so schlimm wäre, hätte er doch nicht gedacht, und dann wurde das Missionshaus bei einer Geldstrafe von fünfzig Dollars unter Tapu gestellt.

Das war alles, was wir nach der Rückkehr der Deputation erfuhren, und erst nachher entdeckte ich, daß sich wesentlich mehr ereignet hatte. Der uns gewährte Schutz war hochwillkommen. Es war ungemein peinlich und nicht das mindest Aufregende des ganzen Tages gewesen, unser Haus vorübergehend von Eingeborenen erfüllt zu sehen, die, zwanzig und dreißig an der Zahl, um Schnaps bettelten, unsere Sachen betasteten und schwer hinauszuwerfen waren, ja, mit denen wir uns obendrein nicht einmal gut zanken konnten. Der Königin Viktoria Freund (der sehr bald zu ihrem Sohn avancierte) blieb von diesen Belästigungen verschont. Nicht nur unser Haus, nein, unsere ganze Nachbarschaft wurde in Ruhe gelassen; selbst auf unseren Spaziergängen wurden wir behütet und mit Aufmerksamkeiten umgeben, und gleich hochgestellten Persönlichkeiten auf einem Krankenhausbesuch bekamen wir überall nur die Lichtseiten zusehen. Wohl eine Woche lang ließ man uns so in einem Narrenparadies in der trügerischen Annahme umhergehen, daß der König Wort gehalten und das Tapu von neuem verhängt hätte, und daß die Insel wieder nüchtern wäre.

Dienstag, den 23. Juli. – Wir aßen in einer kahlen Laube zu Abend, die eigens für den vierten Juli errichtet worden war; hier pflegten wir auch im Lampenlicht bei unserem Kaffee und Tabak zu verweilen. In jenen Gegenden kommt der Abend ohne jede unangenehme Kühle; der Wind legt sich noch vor Sonnenuntergang, eine Weile ist der Himmel hell und voller Farben, dann verblaßt er und verdunkelt sich zu der Bläue der tropischen Nacht; rasch und unmerklich verdichten sich die Schatten, die Sterne vervielfältigen ihre Zahl; man blickt sich um – der Tag ist hinüber. Dann sahen wir unseren Chinesen durch den Garten in einem schwanken Lichtschimmer, der von seinem Schatten zerrissen wurde, auf uns zukommen, und mit der sich nahenden Lampe senkte sich auch die Nacht auf unseren Tisch. Die Gesichter der Anwesenden, die Stäbe der Laube hoben sich scharf und hell gegen den Hintergrund aus Blau und Silber ab, auf dem wie eine matte Zeichnung die Palmwipfel und die spitzen Dächer der Häuser schimmerten. Hier und dort glänzte ein samtenes Blatt oder die Bruchfläche eines Steines wie vereinzelte kleine Sterne. Alles andere zerfloß in nichts. So schwebten wir, gleich einem leuchtenden Sternbild, im leeren Raum; deutlich sichtbar, aber selber geblendet saßen wir in der dichten, hinterhältigen Finsternis, und die Insulaner, die leichten Schrittes und leise redend auf dem sandigen Weg vorüberzogen, blieben eine Welle stehen, um uns ungesehen zu beobachten.

Eben hatte man die Lampe auf den Tisch gestellt, als ein Wurfgeschoß mit dumpfem Schlag gegen den Tisch prallte und dann dicht an meinem Ohr vorüberfuhr. Drei Zoll seitwärts, und diese Seiten wären nie geschrieben worden, denn das Ding hatte den Schwung einer Kanonenkugel. Wir nahmen an, daß es eine Kokosnuß war, aber selbst damals schon schien es mir dafür zu klein, und seine Art zu fallen war etwas sonderbar.

Mittwoch, den 24. Juli. – Wieder einmal war es dämmrig geworden und man hatte die Lampe gebracht, als der gleiche Vorgang sich wiederholte. Wieder sauste das Wurfgeschoß an meinem Ohr vorbei. Eine Nuß hatte ich noch hingenommen; eine zweite weigerte ich mich, stillschweigend zu akzeptieren. Eine Kokosnuß pflegt nicht an windstillen Abenden in einem Winkel von fünfzehn Grad zum Horizont durch die Luft zu schwirren; Kokosnüsse fallen auch nicht an zwei Nächten hintereinander zu genau der gleichen Stunde und am gleichen Ort. In beiden Fällen schien man eine bestimmte Zeit gewählt zu haben: in dem Augenblick, in dem man uns die Lampe brachte, war eine ganz bestimmte Person, nämlich das Oberhaupt der Familie, bedroht worden. Ich mag mich geirrt haben, aber ich hielt das Geschoß für einen Stein, den man geschleudert hatte, nicht um zu treffen, sondern um uns einzuschüchtern.

Nichts bringt aber einen Menschen mehr auf als dieser Gedanke. Ich lief auf die Straße, wo die Bevölkerung ganz wie gewöhnlich auf ihrer Abendpromenade war; Maka gesellte sich mit einer Laterne zu mir, und ich rannte von einem zum anderen, leuchtete in gänzlich unschuldige Gesichter, stellte unnütze Fragen und stieß eitle Drohungen aus. Von dort trug ich meinen Zorn (der wahrhaftig jedes Königssohns würdig gewesen wäre) zu Ricks. Sie hörten mich bedrückt an, versicherten mir, dieser Trick, einen Stein in einen harmlosen Familienkreis zu schleudern, wäre durchaus nicht neu und daß es das Zeichen kommender Unruhen und ein Ausdruck der gefährlichen Stimmung wäre, die unter den Eingeborenen herrschte. Und dann kam die Wahrheit heraus, die man uns so lange verborgen hatte. Der König hatte sein Versprechen gebrochen; das Tapu war immer noch aufgehoben. »The Land we Live in« verkaufte unentwegt Spirituosen, und jenes Stadtviertel war fortgesetzt von Unruhen bedroht. Schlimmeres jedoch stand noch bevor. Man war im Begriff, zur Feier des Geburtstages der kleinen Prinzessin ein Fest zu veranstalten, täglich erwartete man die Ankunft der Vasallenhäuptlinge aus Klein-Makin. Stark, dank ihrer zahlreichen und wilden Gefolgschaft, standen sie allesamt in dem Ruf, wie früher in Schottland jener Douglas, keine sehr treuen Lehnsmänner zu sein. Kuma (ein kleiner dickbäuchiger Kerl) ging niemals in den Palast, betrat überhaupt nicht die Stadt, sondern pflegte sich am Strande auf eine Matte hinzupflanzen, und, die Büchse über den Knien, öffentlich sein Mißtrauen und seine Verachtung zu bekunden. Karaiti aus Makin sollte, obwohl er mehr Mut zeigte, auch nicht zuverlässiger sein, und nicht nur die beiden Vasallen waren eifersüchtig auf den Thron, auch die beiderseitigen Anhänger teilten diese Feindschaft. Zank und Streit war schon früher ausgebrochen; es war zu Schlägereien gekommen, die jederzeit mit Blut heimgezahlt werden konnten. Einige der Gäste waren bereits am Ort und hatten sich schon betrunken; falls die Orgie noch anhielt, wenn erst die Hauptmasse kam, war ein Zusammenstoß, vielleicht auch eine Revolution, mit Sicherheit zu erwarten.

Der Verkauf von Spirituosen auf dieser Inselgruppe entspringt der zwischen den Händlern herrschenden Eifersucht. Einer fängt damit an, der andere muß es ihm nachmachen, und wer den meisten Gin hat, schenkt ihn am freigiebigsten aus und erhält auch den Löwenanteil an Kopra. Alle sind sich indes einig, daß das Mittel ein verzweifeltes ist und weder sicher, noch anständig, noch der Weißen würdig. Ein Händler aus Tarawa kaufte einst, durch hitzigen Konkurrenzeifer angetrieben, eine große Menge Gin. Die Folge war, erzählte er, er hätte Tag und Nacht zu Hause sitzen müssen und nicht gewagt, den Verkauf einzustellen und sich aus Furcht vor einer heulenden Menge sternhagelbetrunkener Menschen, die im Busch ihren Rausch austobte, nicht eher herausgetraut, ehe nicht der ganze Schnaps ausgetrunken war. Besonders des Nachts, wenn er aus Furcht nicht schlafen konnte, und Schüsse sowie Stimmen aus der Dunkelheit zu ihm hinaufklangen, hätte ihn finsterste Reue gepackt.

»Mein Gott,« überlegte er, »wenn ich durch eine so elende Sache ums Leben käme!« Wieder und immer wieder haben sich in der Geschichte der Gilbertinseln diese Szenen wiederholt, und der reuige Händler saß neben seiner Lampe, horchte angsterfüllt auf die Tritte des Todes, erwartete sehnlichst den Morgen und faßte die besten Vorsätze für die Zukunft. Denn das Geschäft läßt sich zwar leicht anfangen, aber nur schwer abbrechen. Die Eingeborenen sind in ihrer Art ein Gerechtigkeit liebendes, die Gesetze respektierendes Volk, gewissenhaft im Bezahlen ihrer Schulden, gehorsam gegenüber ihren eigenen Behörden. Wird das Tapu wieder verhängt, so hören sie mit Trinken auf, der Weiße jedoch, der diesem Verbot durch Verweigerung des Ausschanks vorzugreifen sucht, tut das bei Gefahr seines Lebens.

Daher die Sorge und bis zum gewissen Grade auch die Machtlosigkeit Mr. Ricks. Er und Tom hatten nach dem Auflauf vor dem Sanssouci den Verkauf eingestellt; sie hatten das ohne Gefahr tun können, da ja »The Land we Live in« den Ausschank fortsetzte; außerdem behauptete man, sie hätten zuerst damit angefangen. Was sollten sie jetzt tun? Sollte Mr. Ricks Mr. Muller aufsuchen (mit dem er kaum auf Grußfuß stand) und ihn etwa folgendermaßen anreden: »Ich war nahe daran, das Rennen zu gewinnen, jetzt sind Sie mir voraus, und ich bitte Sie, auf Ihren Prosit zu verzichten. Ich habe mein Lokal dank der Tatsache, daß Sie das Geschäft fortführten, in Sicherheit schließen können; ich bin aber jetzt der Ansicht, daß Sie die Sache lang genug betrieben haben. Ich fange an, mich zu fürchten, und weil ich Angst habe, bitte ich Sie, sieh einer gewissen Gefahr auszusetzen?« – Daran war nicht zu denken. Man mußte einen anderen Ausweg finden; einen einzigen Menschen gab es am anderen Ende der Stadt, der keinesfalls an Kopra interessiert war. Sonst sprach für meine Eignung als Unterhändler wenig zu meinen Gunsten. Ich war mit dem Wightmannschen Schoner angekommen, ich wohnte auf dem Wightmannschen Grundstück, ich verkehrte täglich in dem Wightmannschen Kreise. Es war an sieh eine Anmaßung, wenn ich mich jetzt unaufgefordert in die Geschäftsangelegenheiten des Crawfordschen Agenten einmischte und ihn überreden wollte, seine Interessen zu opfern und sein Leben aufs Spiel zu setzen. Es war kein schöner Ausweg, doch es gab keinen besseren; seit der Affäre mit dem Stein war ich außerdem selbst scharf darauf erpicht, die Sache zu Ende zu führen, der Gedanke an eine delikate Mission reizte mich, und ich hielt es für klug, mich öffentlich zu zeigen.

Die Nacht war sehr dunkel. In der Kirche war Gottesdienst, die Kerzen schimmerten matt durch die Ritzen des Gebäudes. Sonst waren wenig Lichter zu sehen, doch fühlte ich im Dunkeln ganz genau das Kommen und Gehen zahlreicher Menschen und vernahm ein Gesumm und Gezisch von Stimmen, das heimtückisch klang. Ich glaube wohl, daß ich, um eine alte Redensart zu gebrauchen, mit dem Barte auf dem Rücken weiterging. Bei Mullers brannte noch Licht, doch herrschte überall Ruhe, und das Tor war geschlossen. Auf keine Weise vermochte ich den Riegel fortzuschieben. Kein Wunder, denn wie ich später entdeckte, war er vier bis fünf Fuß lang – an sich schon ein reines Befestigungswerk. Während ich noch daran herumprobierte, näherte sich von innen her ein Hund dem Tore und begann mißtrauisch meine Hände zu beschnüffeln, so daß ich gezwungen war: »Heda Hausbewohner!« zu rufen. Darauf erschien Mr. Mullers Kinn über dem Zaun. »Wer ist da?« fragte er wie einer, der nicht die geringste Lust hat, Fremde zu begrüßen.

»Mein Name ist Stevenson«, sagte ich.

»Ach, Mr. Stevens! Ich hatte Sie nicht erkannt. Kommen Sie herein.«

Wir betraten den finsteren Laden, wo ich mich gegen den Ladentisch und er sich gegen die Wand lehnte Alles Licht, das wir hatten, kam aus dem Schlafzimmer, wo, wie ich sah, die Familie zu Bett gebracht wurde. Der Schein fiel gerade auf mein Gesicht, während Mr. Muller im Schatten blieb. Ohne Zweifel sah er voraus, was kommen sollte und suchte eine möglichst vorteilhafte Stellung einzunehmen; doch war die meinige für einen Menschen, der nur seine Überredungskünste spielen lassen will und nichts zu verbergen hat, vorzuziehen.

»Hören Sie mal,« begann ich, »ich höre, Sie verkaufen den Eingeborenen Schnaps.«

»Das haben andere vor mir auch schon getan«, entgegnete er mit Betonung.

»Ohne Zweifel,« sagte ich, »mich geht aber nicht die Vergangenheit, sondern lediglich die Zukunft an. Ich möchte mir Ihr Versprechen einholen, daß Sie mit dem Alkohol vorsichtig umgehen werden.«

»Was haben Sie daran für ein Interesse?« fragte er höhnisch. »Haben Sie Angst um Ihr Leben?«

»Das tut hier nichts zur Sache«, entgegnete ich. »Ich weiß und Sie wissen es, daß von rechtswegen überhaupt kein Alkohol verkauft werden dürfte.«

»Tom und Mr. Ricks haben ihn schon früher verkauft.«

»Ich habe mit Tom und Mr. Ricks nichts zu schaffen. Ich weiß nur, daß sich jetzt beide geweigert haben.«

»Nein, wahrscheinlich haben Sie wirklich nichts mit ihnen zu schaffen. Wahrscheinlich haben Sie nur Angst um ihr Leben.«

»Hören Sie mal,« rief ich, jetzt in der Tat ein wenig aufgebracht, »Sie wissen im Grunde ihres Herzens ganz genau, daß ich ein absolut vernünftiges Verlangen stelle. Ich will gar nicht, daß Sie von ihrem Profit was einbüßen – obwohl ich natürlich vorziehen würde, wenn es überhaupt keinen Alkohol hier am Orte gäbe, wie Sie vermutlich auch – –«

»Ich sage ja gar nicht, daß ich es nicht auch lieber möchte. Ich habe damit nicht angefangen.«

»Sie haben wahrscheinlich damit nicht angefangen«, antwortete ich. »Und ich verlange ja auch gar nicht von Ihnen, daß Sie dabei verlieren sollen; ich bitte Sie nur als Mann zu Mann um ihr Wort, daß Sie keinen Eingeborenen betrunken machen werden.« Bis jetzt hatte Mr. Muller eine Haltung angenommen, die meine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellte; aber er hatte sie nur mit Anstrengung aufrecht erhalten können, da er gefühlsmäßig ganz auf meiner Seite stand, und jetzt bezog er eine noch viel unhaltbarere Position. »Ich bin es ja gar nicht, der ihn verkauft«, meinte er.

»Nein, der Nigger ist es«, stimmte ich ihm zu. »Aber er ist vollkommen in Ihrer Hand; Sie halten ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, und ich bitte Sie – es handelt sich doch um Frauen – sich Ihrer Macht zu bedienen.« Er beeilte sich, seinen alten Standpunkt wieder einzunehmen. »Ich leugne gar nicht, daß ich es könnte, wenn ich es wollte«, sagte er. »Aber es besteht ja gar keine Gefahr, die Eingeborenen sind doch ganz ruhig. Sie haben einfach Angst um Ihr Leben.«

Nun liebe ich es gar nicht, wenn man mich einen Feigling nennt, daher verlor ich auch den Rest meiner guten Laune und stellte ihm ein unzeitgemäßes Ultimatum. »Erklären Sie sich bitte deutlicher«, rief ich. »Soll das heißen, daß Sie mir meine Bitte verweigern?« »Ich will sie weder verweigern noch erfüllen«, lautete die Antwort.

»Sie werden sehr bald einsehen, daß Sie sich für das eine oder das andere entscheiden müssen!« rief ich, und dann in einen richtigeren Ton fallend: »Kommen Sie, Sie sind ja ein viel besserer Kerl, als Sie sich den Anschein geben. Ich sehe schon, woran Sie sich stoßen – Sie denken, ich komme aus dem anderen Lager. Ich sehe, was für eine Art Mensch Sie find, und Sie wissen selbst ganz genau, daß ich Sie nur um das bitte, was recht ist.«

Wieder wechselte er die Stellung. »Wenn die Eingeborenen erst einmal was zu trinken haben, ist es gefährlich, ihnen plötzlich nichts mehr zu geben.«

»Ich verbürge mich für die Bar«, antwortete ich. »Wir sind drei Mann und haben vier Revolver; auf ein Wort von Ihnen sind wir an Ort und Stelle und werden den Platz gegen das ganze Dorf halten.«

»Sie wissen gar nicht, wovon Sie reden; das ist viel zu gefährlich!« rief er.

»Hören Sie mal,« sagte ich, »mir ist es ziemlich gleichgültig, ob ich das Leben verliere, von dem Sie so viel Wesens machen; aber ich will es nun mal auf meine Weise verlieren, und zwar indem ich dieser ganzen Schweinerei ein Ende mache.«

Eine Weile sprach er noch von seinen Verpflichtungen gegenüber der Firma; ich hörte aber gar nicht darauf, denn ich war meines Sieges sicher. Er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, um zu kapitulieren und sah sich nach einem Mittel um, die Spannung zu erleichtern. In dem Lichtstrahl, der aus der Schlafzimmertür drang, entdeckte ich auf dem Schreibpult seine Zigarrentasche. »Die sehen gut aus«, sagte ich.

»Wollen Sie nicht eine nehmen?« fragte er.

Ich nahm eine und bat ihn um Feuer. »Also«, sagte ich, »versprechen Sie’s mir.«

»Ich verspreche Ihnen, daß Sie mit den Eingeborenen, die hier in meinem Lokal zu trinken bekommen haben, keine Scherereien haben sollen«, entgegnete er. »Das genügt mir«, sagte ich und bewies auf der Stelle, daß es mir nicht genug war, indem ich ihn bat, einmal seinen Schnaps probieren zu dürfen.

Damit war der kritische Teil unseres Interviews zu Ende. Mr. Muller hatte aufgehört, mich als einen Abgesandten seines Konkurrenten zu betrachten, ließ daher seine aggressive Haltung fallen und redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Ich verstand, daß er schon längst von sich aus den Verkauf eingestellt haben würde, wenn er es nur gewagt hätte. Da er aber nicht allein den Mut dazu gehabt hatte, lehnte er sich begreiflicherweise gegen die Einmischung derer auf, die (wie er mir selbst erklärte) ihn zuerst zum Verkauf getrieben hatten, nur um ihn dann im Stich zulassen und ihn jetzt (nachdem sie in Sicherheit waren) in neue Fährnisse zu stürzen, die ihnen wohl nützen, ihm aber nur schaden konnten. Ich fragte ihn, wie er über die Gefahr dächte, die das Fest mit sich brächte.

»Sie ist bedenklicher als Sie alle glauben«, antwortete er. »Gestern abend veranstalteten sie hier in der Gegend Schießübungen, ich habe die Kugeln selbst pfeifen hören. Da sagte ich zu mir: »Die Sache ist faul.« Was mich so wundert, ist, daß Sie sich an Ihrem Ende der Stadt darüber aufregen. Ich wäre doch der erste, der dran glauben müßte.«

Seine Verwunderung war etwas kurzsichtig. Der Trost als zweiter draufzugehen, ist nicht gerade sehr groß; auf die Tatsache selbst, nicht aus die Reihenfolge kam es an. Scott erzählt irgendwo, man hätte dem Kampfe selbst mit einem Gefühl entgegengesehen, »das an Freude grenzte.« Diese Ähnlichkeit scheint mir direkt eine Übereinstimmung zu sein. Im modernen Leben gibt es keine Erwartung mehr. Man bekommt das endlose Manövrieren bald satt; den Tatsachen zu Leibe zu rücken, einen Vorteil, selbst unter Eingehen eines angemessenen Risikos auszunutzen, uns selbst einmal auf die Probe zu stellen, bringt das Blut angenehm in Wallung. Wenigstens war das bei meiner Familie der Fall, die sich samt und sonders auf einen Zusammenstoß freute. Wie die Schulbuben saßen wir bis tief in die Nacht hinein, putzten unsere Revolver und schmiedeten Pläne für morgen. Es versprach ein arbeitsamer, ereignisreicher Tag zu werden. Die Alten sollten vor uns zitiert werden, um mit mir über die Tapufrage zu verhandeln; jeden Augenblick konnte Muller uns rufen, um seine Bar zu verteidigen, und falls er versagen sollte, beschlossen wir im Familienrat, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, »The Land we Live in« mit geladenen Revolvern zu erobern und dem gesprächigen Williams ein Tänzchen aufzuführen. So wie mir unsere Stimmung von damals in Erinnerung steht, wäre es dem Mulatten, glaube ich, nicht sehr gut bekommen.

Mittwoch, den 24. Juli. – Es war gut und dennoch eine Enttäuschung, daß diese Gewitterwolken vorüberzogen, ohne sich zu entladen. Ob die Alten nun vor einer Unterredung mit dem Sohne der Königin Victoria zurückschreckten, ob Muller heimlich den Zwischenhändler spielte oder ob der König aus Furcht wegen der Nahe des kommenden Festes das Verbot erließ: Tatsache ist, daß das Tapu früh am nächsten Morgen neu verhängt wurde. Und zwar keinen Tag zu früh, wenn man die schwer beladenen Boote ankommen sah und beobachtete, wie die Stadt sich mit den grobschlächtigen, rüpelhaften Vasallen Karaitis füllte.

Die Wirkung dieser Ereignisse blieb eine ganze Weile im Gedächtnis der Händler haften; unter einstimmigem Beifall aller Anwesenden half ich, eine Petition an die Vereinigten Staaten aufzusetzen mit der Bitte, daß ein Gesetz gegen den Schnapshandel auf den Gilbertinseln erlassen werden mochte, und auf allgemeines Ersuchen hin fügte ich in meinem eigenen Namen einen kurzen Bericht der Ereignisse hinzu; – verlorene Liebesmüh, denn das Ganze ruht, wahrscheinlich ungelesen, ja, vielleicht sogar uneröffnet in irgendeinem Aktenfach zu Washington.

Sonntag, den 28. Juli. – Heute erlebten wir das Nachspiel zu der Orgie. Der König und die Königin in europäischer Kleidung wohnten, gefolgt von ihrer bewaffneten Garde, zum ersten Male dem Gottesdienste bei und thronten in etwas zweifelhafter Würde unter dem Faßreifen. Vor Beginn der Predigt kletterte Seine Majestät von dem Podium herunter, faßte in etwas schiefer Haltung auf dem Kiesboden Posto und schwor in wenigen Worten dem Trunke ab. Die Königin folgte mit einer noch kürzeren Ansprache. Dann wurden nacheinander sämtliche anwesenden Männer aufgefordert; ein jeder erhob seine Rechte, und die Sache war erledigt – Thron und Kirche hatten sich wieder versöhnt.

Sechstes Kapitel. Das fünftägige Fest

Donnerstag, den 25. Juli. – Die Strasse war heute ungewöhnlich belebt durch die Gegenwart der Männer von Klein-Makin. Im Durchschnitt sind sie höher gewachsen als die Butaritarier und gingen heute, da Feiertag war, mit gelben Blättern geschmückt und in grellbunter, leuchtender Kleidung umher. Sie sollen, dem Rufe nach, wilder fein, und sind sogar stolz darauf. Ja, uns kam es vor, als stolzierten sie durch die Straßen wie daheim zu Inverneß die Hochländer in ihren Trachten, gehoben von dem Bewußtsein ihrer barbarischen Vorzüge.

Nachmittags sah man den Sommersaal gedrängt voll Menschen: andere hatten sich draußen aufgestellt und spähten unter das überhängende Dach ins Innere wie die Kinder daheim in ein Zirkuszelt. Drinnen probte die Makiner Gesellschaft zu dem bevorstehenden Sängerfest. Karaiti saß in der vordersten Reihe, dicht neben den Sängern, und wir wurden (wahrscheinlich zu Ehren der Königin Victoria) aufgefordert, neben ihm Platz zu nehmen. Eine starke, drückende Hitze herrschte unter dem Wellblechdach, und die Luft war schwer vom Duft der Kränze. Die Sänger, um die Hüften mit feinen Matten bekleidet, mit Ringen von Kokosfederbüscheln an den Fingern und gelben Laubkronen im Haar, saßen in Gruppen auf dem Fußboden. Verschiedene Solisten erhoben sich, um Lieder vorzutragen, die den größten Tell des Programmes einnahmen. Allein schon die bloße Gegenwart der Sängergruppen trug, auch wenn sie nicht selbst sangen, sehr zu der Wirkung bei. Sie schlugen den Takt, mimikrierten die anderen, schnitten Grimassen, warfen den Kopf zurück und starrten nach oben, schwangen die Federbüschel an den Fingern, klatschten in die Hände und klopften sich (laut wie eine Blechtrommel) auf die linke Brust; der Rhythmus war vollendet, die Musik barbarisch, aber voll bewußter Kunst. Ich notierte besonders die Kunstgriffe, deren sie sich fortgesetzt bedienten. Ein plötzlicher Wechsel (ich glaube der Tonart) ohne Unterbrechung des Taktes wurde durch ein jähes, dramatisches Erhöhen der Stimme und eine lebhafte allgemeine Gestikulation angekündigt und hervorgehoben. Die Stimmen der Solisten setzten nacheinander rauh und kakophonisch ein, um sich ganz allmählich zu vereinigen, und wurden dann, wenn sie zusammenklangen, von dem voll einfallenden Chor übertönt. Das übliche, hastige, bellende, unmelodische Auf und Ab der Stimmen wurde von Zeit zu Zeit unterbrochen und verschont durch Bruchstücke einer psalmenähnlichen Melodie, die häufig gut komponiert war, oder durch den Kontrast so wirkte. Der Rhythmus wechselte häufig, und den Schluß eines jeden Stückes, wenn die Stimmung wild und toll geworden war, bildete unfehlbar folgendes Motiv:

Nur schwer kann man sich das Feuer und die Teufelei vorstellen, die sie in dieses hämmernde Finale hineinlegten; alles rückte zusammen, Stimmen, Hände, Augen, Blätter und flatternde Fingerringe; der Chor wiegte sich im Takt und fesselte die Augen, die Melodie die Ohren; die Gesichter verkrampften sich vor Begeisterung und Anstrengung.

Kurz darauf erhob sich die ganze Gesellschaft, die Trommler bildeten einen Halbkreis um die Solisten. Zuweilen waren es deren fünf, zuweilen mehr. Die Gesänge, die nun folgten, waren noch dramatischer; obwohl ich niemanden hatte, um sie mir zu erklären, konnte ich doch stellenweise in dunklen, aber klar erkennbaren Umrissen eine gewisse Handlung feststellen; unaufhörlich mußte ich dabei an bestimmte turbulente Massenszenen aus der großen Oper daheim denken; genau so klangen die einzelnen Stimmen aus dem Ensemble hervor, um dann wieder in dem Ganzen zu verschwinden; genau so scharten sich die Darsteller zusammen, mit erhobener Hand und rollenden Augen, die zum Himmel – oder der Galerie – aufblickten. Doch ist die hiesige Kunst bereits über das Vorbild der Thespis hinausgewachsen; die Kunst dieses Volkes hat das Embryostadium längst überwunden: Gesang, Tanz, Trommeln, Quartett und Solo – ein ganzes vollentwickeltes Drama, wenn auch en miniature. Unter allen sogenannten Tanzvorführungen in der Südsee, denen ich beigewohnt habe, nimmt die von Butaritari unbestritten den höchsten Platz ein. Die »Hula«, wie sie der durchreisende Globetrotter in Honolulu zu sehen bekommt, ist sicherlich eine der stumpfsinnigsten Erfindungen, die es gibt, der Zuschauer gähnt dabei wie bei einem Hochschulkolleg oder einer Parlamentsdebatte. Der Gilbertinsel-Tanz dagegen regt den Geist an; er elektrisiert und reißt das Publikum mit; er hat das, was aller Kunst inne wohnt: eine unerforschliche, zwingende Bedeutung. Wo so viele mitwirken und wo alle (in einem bestimmten Moment) die gleiche rasche, komplizierte und oft willkürliche Bewegung machen, müssen die Proben überaus ermüdend sein. Aber die Leute fangen schon als Kinder an zu üben. Häufig kann man einen Mann und ein Kind in einer Maniap‘ stehen sehen: der Mann singt und gestikuliert, das Kind steht tränenüberströmt vor ihm und ahmt zitternd alle seine Bewegungen und Töne nach; das ist der zukünftige Künstler der Gilbert-Insel, der (wie alle Künstler) in Schmerzen seine Kunst erlernt.

Ich scheine indes allzu viel zu loben; hier folge daher eine Stelle aus meiner Frau Tagebuch, die beweisen mag, daß ich nicht der einzige war, der mitgerissen wurde, und die das Bild vervollständigt: – »Der Dirigent gab das Zeichen, und alle Tänzer schwangen die Arme, bewegten die Körper hin und her, klopften sich in vollendetem Takt auf die Brust und eröffneten damit das Vorspiel. Die Darsteller blieben inzwischen sitzen, ausgenommen zwei, dann wieder drei Solisten, und zweimal ein einzelner Solist. Diese standen aufrecht in der Gruppe, bewegten kaum merklich die Füße und ließen einen leisen, zitternden Rhythmus durch ihre Körper gleiten. Nach dem Vorspiel kam eine kurze Pause, und dann begann die eigentliche Oper – anders kann man es nicht bezeichnen, eine Oper, in der jeder Sänger zugleich ein vollendeter Schauspieler war. Der Held schien in seiner leidenschaftlichen Ekstase, die ihn von Kopf bis zu Fuß durchraste, förmlich verklärt; einmal war es, als fege ein starker Wind über die Bühne – ihre Arme, die federgeschmückten Finger zitterten in einer Bewegung, die auch meine Nerven packte; Köpfe und Körper folgten nach, gleich einem sturmgepeitschten Kornfeld. Mein Blut wurde heiß und wieder kalt, Tränen stiegen mir in die Augen, mein Kopf schwankte, ich fühlte einen fast unwiderstehlichen Drang, mich den Tänzern anzuschließen. Das eine Drama habe ich, glaube ich, fast ganz verstanden. Ein wilder, blutdürstiger alter Mann spielte die Solorolle. Er sang von der Geburt eines Prinzen, und wie er zärtlich in seiner Mutter Arm gewiegt wurde; von seiner Kindheit, da er seine Kameraden im Schwimmen, Klettern, ja in allen Leibesübungen übertraf; von seiner Jugend, als er mit seinem Boot in See stach und fischen ging; von seiner Mannheit, da er ein Weib nahm, die einen Sohn von ihm in ihren Armen trug. Dann kam der Alarm des Krieges und eine große Schlacht, deren Ausgang eine Zeitlang zweifelhaft war; aber der Held siegte, wie er das immer tut, und mit einem ungeheuren Triumphschrei endete das Stück. Es gab auch humoristische Dramen, die die Leute sehr amüsierten. Während des einen faßte mich ein alter Mann, der hinter mir saß, am Arm, drohte mir schelmisch lächelnd mit dem Finger und sagte kichernd irgendeine Sache, die ich als die Parallele zu etwa den folgenden Worten verstand: »Oh ihr Weiber, ihr Weiber; so seid ihr alle!« Ich fürchte, sehr schmeichelhaft war die Sache nicht. Kein einziges Mal jedoch auch nur die geringste Spur von der häßlichen Indezenz der östlichen Inseln. Die Musik selbst war mindestens so kunstvoll wie die unsrige, wenn auch auf einer ganz anderen Basis; ein- oder zweimal überraschten mich Anklänge an die beste, englische Kirchenmusik, doch war das immer nur ganz vorübergehend. Endlich kam eine längere Pause, und diesmal sprangen sämtliche Tänzer auf. Mit dem Drama wuchs auch das Interesse. Die Darsteller riefen das Publikum und den Himmel an. Sie berieten miteinander, die Verschwörer drängten sich in einem Haufen zusammen; es war die reinste Oper, die Trommeln schlugen im richtigen Moment, Tenor, Bariton und Baß, alles war vorhanden – nur hatten die Stimmen samt und sonders die gleiche Klangfarbe. Einmal sang eine der Frauen aus den hinteren Reihen mit einer sehr schönen Altstimme, die nur durch einen Nasallaut verunziert wurde; ich habe bemerkt, daß sämtliche Frauen diese Unsitte affektieren. Das andere Mal war ein Knabe von engelhafter Schönheit der Solist, dann wieder wurde ein sechs- bis achtjähriger Junge, ohne Zweifel ein trainiertes Wunderkind, in die Mitte des Kreises gestellt. Der kleine Kerl war anfänglich furchtbar ängstlich und verlegen, doch sang er sich zum Schluß frei und zeigte viel dramatisches Talent. Der wechselnde Ausdruck auf den Gesichtern der Tänzer war so sprechend, daß ich mir sehr dumm vorkam, die Handlung nicht zu verstehen.«

Unser Nachbar bei diesen Vorstellungen, Karaiti, gleicht ein wenig Seiner Majestät in Gesicht und Figur; wie jener ist er dick, bärtig und von orientalischem. Typus. Im Charakter ist er jedoch das gerade Gegenteil: aufgeweckt, heiter, jovial, zu Scherzen geneigt und fleißig. Zu Hause auf seiner eigenen Insel arbeitet er selbst wie ein Sklave und treibt sein Volk wie ein Sklavenhalter zur Arbeit an. Für Ideen bezeugt er ein lebhaftes Interesse. George, der Händler, erzählte ihm einmal von Flugmaschinen. »Ist das auch wirklich wahr, George?«, fragte er. »Es steht in der Zeitung«, entgegnete George. »Nun,« sagte Karaiti,« wenn der Mann das mit Maschinen kann, kann ich es ohne sie.« Und er konstruierte ein paar Flügel, schnallte sie sich an die Schultern, ging an das Ende der Landungsbrücke, sprang in die Luft und plumpste schwerfällig ins Meer. Seine Frauen zogen ihn wieder heraus, denn seine Flügel hinderten ihn am Schwimmen. »George,« sagte er und hielt auf dem Wege nach Hause inne, um sich trockene Kleider anzulegen, »George, du lügst.« Er besaß acht Frauen, denn sein kleines Reich hat noch die alten Sitten treulich bewahrt, allein er wurde sehr verlegen, als man dies meiner Frau erzählte. »Sage ihr aber, daß ich nur eine mitgebracht habe«, meinte er besorgt. Im großen und ganzen gefiel uns der schwarze Douglas außerordentlich, und als wir immer wieder von des Königs Unruhe hörten und uns selbst überzeugten, daß man alle Waffen in dem Sommerpavillon versteckt hatte, sahen wir voller Bewunderung die Ursache all dieser Besorgnis an, die sich auf ihren dicken Beinen mit einem freundlichen Grinsen auf dem breiten Gesicht scheinbar unbewaffnet und jedenfalls ohne Begleitung dahertrollte. Der rote Douglas, der schmerbäuchige Kuma, dagegen blieb, nachdem er von der Orgie gehört hatte, auf seinem Lehen daheim. Seine Vasallen kamen daher führerlos zu dem Fest und vermehrten die Reihen Karaitis.

Freitag, den 26. Juli. – Nachts in der Dunkelheit marschierten die Sänger von Makin vor unserem Hause auf und sangen das Lied der Prinzessin. »Dies ist der Tag; dies ist der Tag, an dem sie geboren wurde; Nei Kamaunava wurde heute geboren – eine schöne Prinzessin, die Königin Butaritaris.« So, erzählte man mir, lautete in endlosen Wiederholungen der Text. Der Gesang war natürlich gänzlich deplaziert, und die ganze Vorstellung nur eine Probe. Gleichzeitig war sie aber auch ein Ständchen, eine zarte Aufmerksamkeit unseres neuen Freundes Karaiti für uns.

Sonnabend, den 27. Juli. – Wir hatten eine Vorstellung mit der Laterna magica angekündigt, die in der Kirche stattfinden sollte. Das brachte uns einen Besuch des Königs ein. Zu Ehren des schwarzen Douglas (nehme ich an) war die Anzahl seiner Wachtleute von zwei auf vier erhöht, und die ganze Rotte gab ein sonderbares Bild ab, wie sie in ihren Strohhüten, Röckchen und Jacken im Gänsemarsch hinter ihm drein marschierte. Drei trugen ihre Waffen umgekehrt, den Kolben über der Schulter, die Mündungen drohend auf des Königs plumpen Rücken gerichtet; der vierte hatte sein Gewehr um den Hals geschlungen und hielt es mit nach hinten gestreckten Armen auf dem Rücken fest. Der Besuch dauerte über die Maßen lang. Der König sprach ohne sein Elektrisierungsmittel, Schnaps, kein Wort. Völlig zusammengebrochen saß er auf seinem Stuhl und ließ seine Zigarre ausgehen. Es war heiß, es war schwül, es war bitter langweilig; da blieb einem nichts übrig. als in Tebureimoas Antlitz nach überlebenden Spuren von »Herrn Leiche«, dem Schlächter, zu suchen. Tatsächlich schien seine plump eingedrückte und an der Spitze abgeplattete Hakennase nach mitternächtlichem Mord zu riechen. Als er sich verabschiedete, forderte Maka mich auf zu beobachten, wie er die Treppe oder Leiter hinunterging, die zu der Veranda heraufführte. »Alter Mann«, sagte Maka. »Ja«, erwiderte ich, »und doch ist er wahrscheinlich noch gar nicht so alt.« »Junger Mann«, lautete Makas Antwort. »Vielleicht vierzig.« Seither habe ich sogar gehört, daß er noch jünger sein soll.

Während die Laterna magica vorgeführt wurde, strich ich im Dunkeln umher. Die Stimme Makas, der aufgeregt die biblischen Bilder erklärte, die gezeigt wurden, schien nicht nur die Kirche, nein, auch die Nachbarschaft zu erfüllen. Alles andere schwieg. Dann hörte man aus der Ferne ein Singen, das immer näher kam, und eine Prozession wand sich den Weg entlang, wobei der heiße, saubere Geruch der Männer und Frauen mich angenehm umfächelte. An der Ecke blieben sie, von Makas Stimme und dem abwechselnden Licht und Dunkel in der Kirche gebannt, stehen. Sie hatten nicht die Absicht, näher zu kommen, das war klar. Es waren offenbar Leute aus Klein-Makin, wahrscheinlich strenggläubige Heiden, Gegner des Missionars und seiner Werke. Ganz plötzlich jedoch brach ein Mann aus den Reihen los, lief und floh in die Kirche; im nächsten Augenblick waren ihm drei andere gefolgt, dann rannte eine ganze Schar wie ums liebe Leben. So blieb die kleine Bande Heiden unentschlossen an der Ecke stehen und schmolz vor den Lockungen einer Laterna magica wie ein Gletscher in der Sonne. Die Charakterfesten suchten vergeblich die Abtrünnigen aufzuhalten; drei weitere flohen, wenn auch in schuldbewußtem Schweigen, und als der Führer endlich Geistesgegenwart und Autorität wiederfand, um seinen Trupp in Bewegung zu setzen und das Singen von neuem aufzunehmen, war es nur noch ein arg verringertes Häuflein, das mit melodischen Tönen in der Dunkelheit verschwand.

Inzwischen erhellten und verdunkelten sich die leuchtenden Bilder im Innern. Ich stand eine Weile unbemerkt in einer der hinteren Reihen und konnte dicht vor mir ein Liebespärchen beobachten, das der Vorstellung mit Interesse folgte, wobei der Mann den Dolmetsch spielte und (wie schon Adam) seine Zärtlichkeiten in die Erklärungen einflocht. Die wilden Tiere, insbesondere ein Tiger, sowie jener alte, beliebte Schulscherz von dem Schläfer mit der Maus erregten helles Entzücken; der Clou jedoch war die Bilderfolge aus den Evangelien. Maka zeigte sich bei dieser Gelegenheit nach Ansicht seiner tief enttäuschten Gattin nicht im besten Lichte. »Was hat der Mann nur? Weshalb kann er nicht reden!« rief sie. Was den Mann hinderte, war, meiner Meinung nach, die Größe der Gelegenheit, die sich ihm bot; er brach unter seinem Glücke förmlich zusammen. Doch das war einerlei; ob er nun schlecht oder gut redete, die Vorführung dieser frommen »Phantome« brachte tatsächlich jeden Spötter in jener Gegend der Insel zum Schweigen. »Seht doch,« hieß es allgemein, »seht doch, die Bibel ist wirklich wahr!« Als wir später nach Butaritari zurückkehrten, erzählte man uns, daß der Eindruck immer noch lebendig wäre, und daß die, welche die Bilder gesehen hätten, den anderen davon berichteten: »Ja, ja, es ist alles wahr; diese Dinge haben sich alle ereignet, wir haben die Bilder gesehen.« Das Argument ist gar nicht so kindisch, wie es auf den ersten Blick scheint, denn ich bezweifle, ob die Insulaner eine andere Methode der Darstellung als die der Photographie kennen, so daß die Wiedergabe einer Begebenheit (nach dem alten melodramatischen Prinzip, daß eine Kamera nicht lügen kann) in Wahrheit einen starken Beweis bietet. Die Tatsache amüsierte uns um so mehr, als unsere Bilder zum Teil lächerlich komisch waren und das eine (Christus vor Pilatus) mit brüllendem Gelächter aufgenommen wurde, in das selbst Maka notgedrungen mit einstimmen mußte.

Sonntag, den 28. Juli. – Karaiti erschien heute und ersuchte um eine Wiederholung der »Phantome« das war jetzt der allgemein anerkannte Ausdruck – und kehrte dann, nachdem wir es ihm versprochen hatten, unserem bescheidenen Hause ohne auch nur den Schatten eines Grußes den Rücken. Ich fühlte, daß es unpolitisch gewesen wäre, wenn ich mir den Anschein gegeben hätte, als steckte ich stillschweigend eine Beleidigung ein; dazu hatten wir allzu schwierige Zeiten durchgemacht, und der Königin Victoria Sohn war verpflichtet, die Ehre des Hauses zu wahren. Karaiti wurde daher noch am gleichen Abend zu den Ricks beschieden, wo Mrs. Ricks ihn tüchtig herunterputzte, und der Sohn der Königin Victoria ihn mit indignierten Blicken traktierte. Ich war in der Tat der Esel in der Löwenhaut; brüllen konnte ich in der Sprache der Gilbert-Inseln nicht, aber ich konnte Blicke schießen. Karaiti erklärte darauf, er hätte nichts Böses im Sinne gehabt, entschuldigte sich in einer aufrichtigen, herzlichen, durchaus kavaliermäßigen Art und wurde sofort wieder er selbst. Dann ließ er sich einen Dolch hereinbringen, für den er sich interessierte, und sagte, er würde morgen wiederkommen, um ihn abzuschätzen; heute wäre Sonntag. Diese Gewissensskrupel bei einem Wilden, der acht Frauen hatte, setzten mich einigermaßen in Erstaunen. Der Dolch, meinte er schelmisch, »sei gut, um Fische zu töten«; dabei hatte er zweibeinige Fische im Sinn. Sonderbar, daß »Fische« in Ost-Polynesien eine gebräuchliche euphemistische Bezeichnung für Menschenopfer sind. Als wir ihn nach der Bevölkerungszahl seiner Insel fragten, rief er seine Vasallen herein, die draußen vor der Tür warteten, und sie schätzten sie auf vierhundertundfünfzig Seelen, doch werden es dank Karaitis Jovialität bald mehr sein, denn sämtliche Frauen der Insel sind von ihm in anderen Umständen. Lange bevor wir auseinandergingen, hatte ich seine Beleidigung vergessen, er jedoch behielt sie im Sinn und stattete uns am nächsten Tage, einer besonders liebenswürdigen Eingebung folgend, einen langen Besuch ab, nach dessen Verlauf er sich mit größtem Zeremoniell verabschiedete. Montag, den 29. Juli. – Endlich war der große Tag gekommen. In den ersten Nachtstunden wurden wir durch Händeklatschen und durch den Gesang auf Nei Kamaunava aufgeschreckt; die melancholischen, getragenen und etwas drohenden Klänge wurden von Zeit zu Zeit durch einen markerschütternden Schrei unterbrochen. Dabei sahen wir das kleine Stückchen Mensch, dem zuliebe diese mitternächtliche Ehrung stattfand, am nächsten Mittag splitterhagelnackt und anscheinend ebenso unbeobachtet und unbesorgt auf der Wiese spielen.

Der Sommersaal auf dem künstlichen Inselchen hob sich scharf gegen die schimmernde Lagune ab und glänzte mit seinem Wellblech in der Sonne. Heute umdrängten ihn von morgens früh bis abends spät neugierige Männer und Frauen. Drinnen stauten sich Insulaner jeden Alters und jeder Größe, in jedem Stadium der Nacktheit und des Putzes. So dicht hockten wir übereinander, daß ich einmal eine mehr als hübsche Frau auf dem Schoße hielt, – während zwei nackte kleine Buben ihre Füße gegen meinen Rücken stemmten. Dort sah man eine Matrone in voller Toilette, mit Holoku und Blumenhut, während ihre Nachbarin im nächsten Augenblick einen winzigen Fetzen Hemd von ihren fetten Schultern streifte und sich als ein Monument an Fleisch entpuppte, das von dem haarschmalen Ridi eher enthüllt als geschützt wurde. Kleine Fräulein, die sich für viel zu vornehm hielten, um an einem so hohen Festtage nackt zu gehen, sah man draußen im hellen Sonnenschein stehen bleiben, ihre Miniaturridis in der Hand; einen Augenblick später betraten sie dann in vollem Schmuck den Konzertsaal.

An den beiden Enden lösten sich abwechselnd die verschiedenen Sängergruppen ab; Kuma und Klein-Makin am Nordende, Butaritari und die angrenzenden Dörfer im Süden, beide Parteien in vollem barbarischen Aufputz. In der Mitte zwischen diesen rivalisierenden Troubadourlagern stand eine Bank. Hier thronten zwei bis drei Fuß über dem dichtgedrängten Publikum der König und die Königin – Tebureimoa wie gewöhnlich in seinen gestreiften Pyjamas mit einem Ledersäckchen über der einen Schulter, das (nach Inselart) zweifellos seine Pistolen enthielt; die Königin in einem purpurfarbenen Holoku mit wallenden, heruntergelassenen Haaren, einen Fächer in der Hand. Die Bank war in wohlerwogener Rücksicht mit der Front zu den auswärtigen Gästen gestellt, und wenn die Reihe, zu fingen, an die Butaritari-Leute kam, mußte das Paar sich umdrehen und zeigte uns seine breiten Rücken. Gelegentlich trösteten sich die Majestäten mit einem Lehmpfeifchen, während der Pomp und die Galafeierlichkeit durch Abfeuern der Gewehre einer Abteilung Garde erhöht wurde.

So hockten wir vor dem Angesicht des Herrscherpaares auf dem Boden und lauschten verschiedenen Gesängen von der einen wie von der anderen Partei. Dann zogen sich die Majestäten mit ihrer Garde zurück, und der Königin Victoria Sohn und Schwiegertochter wurden durch Akklamation auf den leeren Thron berufen. Unser Stolz wurde allerdings ein wenig gedämpft, da sich ein gewisser Tunichtgut von einem Weißen auf unserem hohen Platz zu uns gesellte, und doch war es mir auf der anderen Seite wieder ganz lieb, denn der Mann kannte ein wenig die Inselsprache und konnte mir eine Ahnung von dem Inhalt der Gesänge vermitteln. Der eine war patriotisch und forderte König Tembinok von Apemama, das Schreckgespenst der ganzen Inselgruppe, heraus, in Butaritari zu landen. Der andere handelte von der Tarosaat und Ernte. Noch andere waren historisch und feierten verstorbene Könige und ihre alten Heldentaten, wie zum Beispiel ein großes Wettrinken oder eine Schlacht. Einer zum mindesten behandelte ein häusliches Drama, das von einer Truppe aus Makin glänzend aufgeführt wurde. Es handelte von einem Mann, dessen Frau gestorben war, und der anfänglich ihren Verlust beweint, sich dann aber eine andere nimmt; die ersten Gesänge (oder Akte) wurden ausschließlich von Männern vorgetragen, gegen Schluß trat jedoch eine Frau auf, die auch erst kürzlich ihren Gatten verloren hatte, und ich glaube, das Paar tröstete sich gegenseitig, denn das Finale schien glücklich zu sein. Bezüglich der Lieder erklärte mir mein Cicerone summarisch, daß sie von »Weibern« handelten, was ich freilich auch ohne ihn erraten hatte. Ich muß noch hinzufügen, daß jede Partei durch eine oder zwei Frauen verstärkt wurde. Die Frauen wirkten stets als Solisten mit und nahmen nicht häufig an der Vorstellung teil, sondern hielten sich meist im Hintergrunde der Bühne auf; in ihren Ridi, Halsketten und Frisuren glichen sie europäischen Balletteusen, wie ein Ei dem anderen. Immer wenn die Vorstellung sich irgendwie in die Länge zog, traten diese Damen vor, und es war seltsam anzusehen, wie die Primaballerina nach jedem Auftreten scheinbar von Scham überwältigt war, als hätte sie sich weit über das Maß dessen, was sie beabsichtigte, hinreißen lassen, und wie ihre männlichen Kollegen sie zum Schein gleich jemanden, der sich mit Schande bedeckt hat, von der Bühne vertrieben. Ähnliche Manöver begleiten auch die wahrhaft obszönen Tänze auf Samoa; dort sind sie in der Tat auch am Platze. Hier ist es aber ganz anders. Die Worte in dieser ungenierten Welt waren wohl so deutlich, daß sie einen Kutscher hätten erröten lassen, das Zweideutige an der ganzen Sache war die gespielte Scham. Für derartige Rollen zeigten die Frauen eine gewisse Begabung; sie waren keck, zierlich, akrobatisch, mitunter wirklich amüsant und manchmal auch hübsch. Doch hat das nichts mit echter Kunst zu tun: ein ganzer Himmel liegt zwischen diesem Herumtanzen und Augenschmeißen und den fremdartigen rhythmischen Gebärden, seltsamen, verzückten, rasenden Gesichtern der besten männlichen Tänzer, die uns während jenes Gilbertinselballetts wie unter einem Zauberbanne hielten.

Fast von Anfang an war es klar, daß die Butaritari-Leute unterlegen waren. Vielleicht würde ich ihre Leistungen sogar für gut gehalten haben, hätte ich nicht gleichzeitig die zweite Truppe vor Augen gehabt, die mich dauernd an das »gewisse Etwas, das doch so unendlich viel bedeutet« gemahnte. Als der Chor von Butaritari erkannte, daß er dem anderen nicht gewachsen war, wurde er verwirrt, machte Fehler und brach zusammen; in diesem Wirrwarr von fremdartigen Rhythmen hätte ich selbst das Versagen wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn nicht das Publikum sich sofort eingemischt und zu spotten angefangen hätte. Um allem die Krone aufzusetzen, begann die Makin-Gesellschaft jetzt einen Tanz von wirklich überragender Qualität. Ich weiß nicht, wovon er handelte, denn ich war viel zu sehr gefesselt, um Fragen zu stellen. In dem einen Akt erzielte der Chor durch fortgesetztes Kreischen in einem seltsamen Falsett eine Wirkung ähnlich der eines europäischen Orchesters; in einem anderen hüpften die Tänzer wie die Springteufelchen auf und nieder und breiteten die Arme aus, um dann mit fabelhafter Schnelligkeit, Behendigkeit und Komik aus der Reihe hervorzubrechen und durcheinanderzulaufen. Eine humoristischere Wirkung habe ich niemals erlebt. In jedem europäischen Theater hätte das Publikum gerast, und diese Insulaner-Zuhörerschaft brüllte vor Lachen und Beifall. Damit war aber das Maß der Konkurrenztruppe voll, sie vergaß sich selbst und allen Anstand. Nach jedem Akt oder jeder Tanzfigur pflegten sich die Darsteller einen Augenblick auszuruhen, und die nächste Nummer wurde durch ein Händeklatschen im Dreivierteltakt eingeleitet. Erst wenn sich das ganze Ballettkorps gesetzt hatte, bedeutete das für ihre Rivalen das Zeichen, sich zu erheben. Jetzt aber wurden alle Regeln durchbrochen. In der Pause nach dem stürmischen Applaus sprang die Truppe von Butaritari plötzlich auf und eröffnete in höchst unnobler Weise für sich eine Vorstellung. Die gaffenden Blicke der Männer von Makin waren recht drollig; mit der gleichen verdutzten Würde habe ich in Europa einen Tenor so das zischende Publikum anstarren sehen; doch zu meiner Überraschung faßten sie sich bald, verzichteten auf den ungesungenen Teil ihres Balletts, nahmen ihre Plätze ein und ließen ihre unritterlichen Gegner die Sache zu Ende führen. Doch damit nicht genug. In der ersten Pause kam Butaritari wieder dazwischen; aufgebracht folgte Makin diesem Beispiel, und beide Tänzergruppen blieben stehen, klatschten fortwährend in die Hände und fielen einander bei jeder Gelegenheit in ihr Spiel. Jeden Augenblick erwartete ich, daß es zu Schlägen kommen würde; dabei war unsere Lage in der Mitte zwischen beiden strategisch äußerst unvorteilhaft. Allein die Makin-Leute besannen sich eines Besseren; bei der nächsten Unterbrechung machten sie Kehrt und marschierten hinaus. Wir folgten ihnen, einmal weil sie die wahren Künstler, dann auch weil sie die Gäste waren und man sie schäbig behandelt hatte. Ein großer Teil unserer Nachbarn tat das Gleiche, so daß sich der Gang von einem bis zum anderen Ende mit den Ausreißern füllte und der Chor von Butaritari allein zurück blieb, um zu seinem eigenen Vergnügen vor einem leeren Haus zu singen. So hatten sie zwar den Kampf gewonnen, ihr Publikum jedoch verloren. Ein Glück war es, daß niemand betrunken war; doch frage ich, wo sonst, ob betrunken oder nüchtern, hätte sich eine so aufreizende Szene abspielen können, ohne mit einer Prügelei zu enden?

Die letzte Phase und der letzte Ruhm dieses glorreichen Tages gehörten uns – dank der zweiten und wirklich unwiderruflich letzten Aufführung der »Phantome«. Rings um die Kirche hatten sich in der Dunkelheit Gruppen von Menschen gelagert, ohne irgend etwas sehen zu können; vielleicht schämten sie sich, einzutreten, sicherlich bereitete ihnen die bloße Nachbarschaft schon ein gewisses Vergnügen. Das Innere des Riesenschuppens war etwa zur Hälfte dicht gedrängt voll Menschen. In der Mitte auf dem königlichen Podium qualmte und leuchtete die Laterne; ihre trüben Strahlen fielen auf das feierliche Gesicht unseres Chinesen, der voll Biereifer eine Drehorgel drehte; ein matter Schein traf die Dachbalken und zeichnete ihre Schatten in die Deckenwölbung. Die Bilder tauchten auf der Leinwand auf und verschwanden wieder, und mit jedem neuen Bild kam eine Stille und durchlief ein Flüstern, ein Schauer und ein Rauschen die Menge, und ein Chor leiser Ausrufe wurde laut. Neben mir saß der Maat eines gestrandeten Schoners. »’Ne sonderbare Sache würden sie das in Europa oder in den Staaten finden«, meinte er, »so ’ne Vorstellung in einem Gebäude, das nur mit Endchen von Bindfaden zusammengehalten ist.«

Siebentes Kapitel. Mann und Frau

Der Händler, der an die Sitten Ostpolynesiens gewöhnt ist, muß auf den Gilbert-Inseln allerlei umlernen. Das Ridi ist ein recht dürftiges Bekleidungsstück; noch vor dreißig Jahren gingen die Frauen bis zu ihrer Heirat nackt; es ist keine zehn Jahre her, daß dieser Brauch vereinzelt noch im Schwange war, und derartige Tatsachen vermitteln, besonders wenn man sie nur vom Hörensagen kennt, einen ganz falschen Begriff von den Sitten der Gruppe. Ein sehr intelligenter Missionar schildert die Gilbert-Inseln (in ihrem früheren Entwicklungsstadium) als ein »Paradies nackter Frauen« (für die Weißen). Zum mindesten aber war es ein platonisches Paradies, in das ein Don Juan sich nur mit Lebensgefahr wagen durfte. Seit 1860 sind auf einer einzigen Insel allein vierzehn Weiße, alle aus dem nämlichen Grunde, ums Leben gekommen; alle waren dort gefunden worden, wo sie nichts zu suchen hatten, und alle wurden dafür von irgendeinem empörten Familienvater aufgespießt. Diese Zahl wurde mir von ihren vorsichtigeren und daher noch am Leben gebliebenen Genossen genannt. Die seltsame Beharrlichkeit der vierzehn Märtyrer scheint zwar auf eine Monomanie oder auf eine Epidemie romantischer Passionen zu deuten, doch ist die Ursache höchstwahrscheinlich nur Gin. Da saßen die armen Raubvögel ganz alleine in ihren Häusern neben einem offenen Faß; sie tranken; ihr Gehirn entflammte sich; so taumelten sie in das nächste, beste Haus hinein, und der rächende Pfeil traf sie in Nieren und Herz. An Stelle eines Paradieses fand der Händler einen Archipel, in dem es von wilden Ehemännern und tugendhaften Frauen wimmelte. »Natürlich ist es auch hier nicht anders als sonstwo, wenn sie ihnen wirklich den Hof machen wollen«, bemerkte recht unschuldig der Händler; allein er und seine Gefährten spürten nun mal selten Lust dazu.

Eine Tugend kann man den Händlern nicht absprechen: sie sind meist treue und gütige Gatten. Ich bin mit einigen der schlimmsten Rowdies des Pacific, mit den letzten Überlebenden der alten Schule, zusammen gekommen, und sie waren vortrefflich zu ihren eingeborenen Frauen, ja, einer war als Witwer einfach untröstlich. Die Stellung dieser Frauen ist auf den Gilbertinseln ganz besonders beneidenswert. Alle teilen die Immunität ihrer Gatten. Vergeblich läutet für sie in Butaritari die Abendglocke. Lange nachdem die vornehmen Inseldamen für die Dauer der Nacht an ihr eigenes Haus gefesselt sind, dürfen diese gesetzlich geschützten weiblichen Libertins noch durch die verödeten Straßen laufen und kichern, oder in der Dunkelheit zum Baden gehen. Das Warenlager ihrer Gatten steht ihnen zur Verfügung; sie gehen wie die Fürstinnen gekleidet und speisen tagtäglich die delikatesten Leckerbissen, Büchsenfleisch usw. Und sie, die unter ihresgleichen vielleicht gar keinen Rang einnehmen würden, sitzen jetzt mit Kapitänen am Tisch und werden an Bord der Schoner gefeiert. Fünf dieser privilegierten Damen waren vorübergehend unsere Nachbarinnen. Vier davon waren hübsche, schalkhafte Frauenzimmerchen, verspielt wie die Kinder und wie Kinder zum Schmollen aufgelegt. Tagsüber trugen sie Kleider, aber des Nachts bezeigten sie eine gewisse Neigung, das fremde Zeug abzustreifen und sich in ihrem ursprünglichen Ridi auf dem Grase zu tummeln und zu vergnügen. Karten wurden tagaus tagein gespielt, und Muscheln dienten dabei als Zahlmarken; der Verlauf des Spieles wurde häufig durch Mogeln gestört, und jede Runde löste sich zum Schluß (besonders wenn ein Mann dabei war) unfehlbar in eine Kabbelei um die Zahlmarken auf. Die fünfte war eine Matrone. Es war ein Bild für Götter, sie Sonntags mit einem Sonnenschirm in der Hand, bewaffnet mit einer patentierten Saugflasche, gefolgt von einem Kindermädchen, das Baby unter einem importierten Hut begraben, in die Kirche segeln zu sehen. Der Gottesdienst wurde durch ihr fortgesetztes Überwachen und Tadeln des Mädchens belebt. Unmöglich konnte man den Gedanken unterdrücken, daß das Baby eine Puppe und die Kirche ein europäisches Kinderspielzimmer darstellte. Alle diese Frauen waren legitim verheiratet. Zwar stellte es sich nachträglich heraus, daß der Trauschein der einen, den sie uns stolz zeigte, »nur für eine Nacht« gültig war, und daß ihr hoher Herr die Freiheit hatte, sie »am nächsten Morgen zur Hölle zu schicken«; aber sie wußte ja nichts davon, und es ging ihr trotz dieses gemeinen Tricks nicht die Spur schlechter. Eine andere, erzählte man mir, wurde über einem widerrechtlich nachgedruckten Werke von mir getraut, das den Zweck genau so gut wie eine Familienbibel erfüllte. Trotz aller dieser Lockungen, trotz der gesellschaftlichen Erhöhung, der exquisiten Nahrung und Kleidung, der relativen Entlastung von der Arbeit und der legitimen, auf einer unautorisierten Ausgabe vollzogenen Eheschließung muß der Händler mitunter lange suchen, bis er ein Gespons findet. Während ich mich auf jener Gruppe aufhielt, kam ich mit einem Händler zusammen, der sich schon seit acht Monaten auf der Suche befand und immer noch Junggeselle war. Innerhalb der rein einheimischen Gesellschaft waren die ehemaligen Gesetze streng, wenn auch nicht ohne eine gewisse hochherzige Moral. Heimlicher Ehebruch wurde mit dem Tode bestraft; mit Recht galt eine öffentliche Entführung daneben als sittlich, und es stand lediglich eine Geldstrafe darauf. Anscheinend wurde nur der männliche Ehebrecher bestraft. Es galt als Anstandsregel, daß Eifersüchtige sich erhängen; eine eifersüchtige Frau dagegen verfügte über ein ganz anderes Mittel – sie biß ihre Rivalin. Vor zehn oder zwanzig Jahren war es ein Kapitalverbrechen, das Ridi einer Frau hochzuheben; auch heute noch wird ein solches Vergehen mit einer schweren Geldstrafe geahndet, und das Kleidungsstück selbst ist ein geheiligtes Symbol. Nehmen wir an, ein Stück Land wird auf Butaritari umstritten: derjenige Prätendent, der zuerst ein Ridi an den Tapupfosten hängt, hat den Streitfall gewonnen, da keiner außer ihm selbst es fortnehmen oder berühren darf.

Das Ridi war nicht das Abzeichen der Frau, sondern der Gattin, nicht des Geschlechts, sondern der sozialen Stellung. Gleichzeitig war es bei Sklaven der Halfter, der Verkaufsstempel. Es scheint, daß die Ehebrecherin verschont wurde; hatte man den Gatten beleidigt, so war es für ihn nur ein geringer Trost, seine Zugtiere zur Fleischbank zu schicken. Karaiti nennt seine acht Frauen auch heute noch »seine Pferde«, nachdem ein Händler ihm einmal die Tätigkeit dieser Tiere auf einer Farm erklärt hat, und Nanteitei vermietete seine Frauen, um Maurerarbeit zu verrichten. Der Gatte besaß, zumal wenn er von hohem Range war, seinen Frauen gegenüber die Gewalt über Leben und Tod; und die Frauen beeilten sich, wenn sie sich eine Todsünde hatten zuschulden kommen lassen, eine Bußformel auszusprechen – I Kana Kim. Diese Worte haben so viel Kraft, daß selbst ein zum Tode verurteilter Verbrecher, wenn er sie an einem gewissen Tage vor dem König, der ihn gerichtet hat, ausspricht, auf der Stelle freigelassen werden muß. Sie enthalten gewissermaßen ein Angebot der Unterwerfung. Ich gebe hier eine Szene wieder, die sich zwischen einem Händler und seiner Frau, einer Gilbertinerin, abspielte, wie sie mir von dem Gatten, der heute einer der ältesten Ansiedler ist, damals jedoch noch Neuling auf der Gruppe war, berichtet wurde.

»Geh und mache Feuer,« sagte der Händler, »ich werde das Öl holen und uns Fische kochen.«

Die Frau grunzte ihn nach Inselmanier an.

»Ich bin kein Schwein, daß du mich angrunzest«, erklärte er.

»Ich weiß, daß du kein Schwein bist«, entgegnete die Frau, »aber ich bin auch nicht deine Sklavin.«

»Natürlich bist du nicht meine Sklavin, und wenn du nicht bei mir bleiben willst, dann kehrst du wohl am besten zu deiner Familie zurück«, lautete seine Antwort. »Inzwischen gehst du aber und machst Feuer an, und wenn ich das Öl geholt habe, werde ich uns Fische kochen.«

Sie tat, als gehorchte sie ihm; als jedoch der Händler kurz darauf nach ihr schaute, hatte sie ein so großes Feuer angezündet, daß der Küchenschuppen zu brennen anfing.

»I Kana Kim«, schrie die Frau, als sie ihn kommen sah; er aber hörte nicht auf sie und schlug sie mit einer Pfanne. Der Stiel drang in ihren Schädel, Blut spritzte hervor, man hielt sie für tot, und die Eingeborenen umlagerten drohend das Haus. Ein anderer Weißer war zugegen, ein Mann von älterer Erfahrung. »Sie werden es noch erreichen, daß man uns beide ermordet – wenn Sie so fortfahren«, schrie er. »Sie hat I Kana Kim gesagt!« Hätte sie das nicht getan, er hätte sie mit einem Kessel niederschlagen können. Nicht der Schlag war ein Verbrechen, sondern die Nichtachtung der anerkannten Formel.

Polygamie, die rigorose Unantastbarkeit der Ehefrauen, ihre halbsklavische Behandlung, ihre Absperrung in dem königlichen Harem, ja, selbst ihr Privileg, beißen zu dürfen, deuten eigentlich auf mohammedanische Gesellschaftsformen hin und könnten vermuten lassen, daß man auch hier an die Seelenlosigkeit der Frau glaubt. Dem ist aber durchaus nicht so. Das alles ist nur Schein. Hat man dieses Extrem in dem einen Hause studiert, so kann man im Nachbarhaus auf das Gegenteil stoßen: dort ist vielleicht die Frau die Herrin, der Mann aber nur der erste ihrer Vasallen. Die Macht liegt nicht bei dem Mann oder bei der Frau als solchen, sondern wurzelt vielmehr in dem Häuptling, sei er männlichen oder weiblichen Geschlechts, in dem, der die Länder des Clans geerbt hat und der der Sippe gegenüber an Eltern Statt steht, ihre Dienste beansprucht und für ihre Geldstrafen haftet. Es gibt lediglich eine Quelle der Macht und Würde – die Rangstufe. Der König heiratet einen weiblichen Häuptling – sie wird sofort seine Hörige und muß eigenhändig an Messrs. Wightmanns Steg mitarbeiten. Der König läßt sich von ihr scheiden; sofort gewinnt sie ihren alten Rang und ihre Macht zurück. Sie heiratet einen hawaiischen Matrosen, und siehe da – der Mann ist ihr Lakai, den sie nach Belieben vor die Tür setzen kann. Ja, niedrig geborene Gatten werden sogar körperlich zurechtgewiesen und müssen gleich gehorsamen, erwachsenen Kindern die Züchtigung ertragen.

Wir standen mit einer derartigen Familie auf intimem Fuße, mit Nei Takauti und Nan Tok‘; ich nenne als erste die Dame, da es gar nicht anders geht. Eine ganze Woche lang, während wir gewissermaßen in einem Narrenparadiese lebten, war meine Frau allein auf der Suche nach Muscheln an den Meeresstrand der Insel gegangen. Ohne Zweifel war sie dort nicht sicher, denn eines Tages merkte sie, daß ein Mann und eine Frau sie beobachteten. Sie mochte tun, was sie wollte, ihre Wächter behielten sie im Auge, und als es Abend wurde und jene dachten, sie wäre nun lange genug dort geblieben, nahmen sie sich ihrer an und bedeuteten ihr mit Zeichen und in gebrochenem Englisch, nach Hause zu gehen. Unterwegs zog die Dame eine Tonpfeife aus dem Ringloch ihres Ohrläppchens, der Gatte steckte die Pfeife an und überreichte sie meiner unglücklichen Frau, die nicht wußte, wie sie die unbequeme Gunst zurückweisen sollte, und als alle zusammen unser Haus erreicht hatten, setzte sich das Paar neben meine Frau auf den Boden und feierte die Rückkehr durch ein Gebet. Von jenem Augenblick an waren sie die anerkannten Freunde der Familie; zweimal täglich brachten sie uns wunderschöne weiße Blumengirlanden, wie es dort Sitte ist; allabendlich kamen sie zu Besuch, und häufig nahmen sie uns in ihre eigene Maniap‘ mit, wobei Takauti meine Frau, wie ein Kind das andere, an der Hand führte.

Nan Tok‘, der Gatte, war jung, außergewöhnlich hübsch, von gutmütigstem, heiterstem Temperament und litt in seiner etwas heiklen Stellung ein wenig an unterdrückter Lebensfreude. Nei Takauti, die Gattin, alterte bereits; ihr erwachsener Sohn aus erster Ehe hatte sich erst vor kurzem vor ihren eigenen Augen aus Verzweiflung über einen wohlverdienten Tadel erhängt. Sie war wohl niemals hübsch gewesen, aber sie hatte einen prachtvollen Charakterkopf und düstere, feurige Augen. Sie war eine sehr hohe Häuptlingin, doch seltsamerweise von kleiner, schlanker, sehniger Figur, mit feinen, schmalen Händen und muskulösem, dürrem Hals; das bedeutet für eine Person von Rang eine große Ausnahme. Ihre Grande Toilette bestand unfehlbar aus einem weißen Hemd, als Schmuck trug sie in ihrem Haar und in ihren ungeheuer großen Ohrringlöchern grüne Blätter, manchmal auch weiße Blüten. Der Gatte dagegen wechselte sein Gewand so oft wie ein Chamäleon. Was immer für eine hübsche Sache meine Frau Takauti schenkte – eine Schnur Glasperlen, ein Band, ein Stück bunten Stoffes – das trug am nächsten Tage Nan Tok‘ an seiner Person. Es war klar, daß er nur als Kleiderständer diente; er trug eine Livree, mit einem Wort, er war die Frau seiner Frau. Ja, sie hatten in allen Einzelheiten die Rollen getauscht; der Gatte war es, der sich in Krankheitsfällen als dienender Engel entpuppte, während seine Frau die sprichwörtliche Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit des Mannes zeigte. Hatte Nei Takauti Kopfschmerzen, so floß Nan Tok‘ vor Aufmerksamkeit und Bedauern über. Als der Gatte sich erkältet hatte und rasende Zahnschmerzen bekam, nahm seine Frau außer mit einem verächtlichen Grunzen keinerlei Notiz davon. Es ist stets Pflicht der Frau, die Pfeife zu stopfen und anzuzünden; Nei Takauti pflegte die ihrige stillschweigend dem ehelichen Pagen zu reichen, obwohl sie sie selbst trug, als vertraue sie ihm nicht ganz. Ebenso verwaltete sie das Geld, aber er war es, der die Einkäufe machen mußte, ängstlich besorgt, ihr zu gefallen. Eine Wolke auf ihrer Stirn verdüsterte augenblicklich sein strahlendes Gesicht, und bei einem ihrer frühsten Besuche in Nei Takautis Maniap‘ entdeckte meine Frau, daß der Gatte alle Ursache hatte, auf der Hut zu sein. Nan Tok‘ hatte einen Freund bei sich, einen leichtsinnigen jungen Kerl in seinem eigenen Alter, und sie hatten sich gegenseitig in eine jener ausgelassenen Stimmungen hineingesteigert, in denen man nur allzu leicht vergißt, an die Folgen seiner Handlungen zu denken. Nei Takauti nannte meiner Frau ihren Namen. Im gleichen Augenblick hielt Nan Tok‘ zwei Finger hoch, sein Freund tat das gleiche, und beide freuten sich halb tot über ihre Schlauheit. Es war klar, daß die Dame zwei Namen führte, und aus der Art von ihres Gatten Heiterkeit sowie aus dem Zorn, der ihr Gesicht verfinsterte, mußte etwas an dem zweiten Namen nicht richtig sein. Darauf sprach ihn der Gatte aus; eine wohlgezielte Kokosnuß von der Hand seiner Frau traf ihn an der Schläfe, und die Stimmen sowie die Heiterkeit der beiden jungen Herren waren für diesen Tag verstummt.

Die Einwohner Ostpolynesiens geraten niemals in Verlegenheit, Ihre Etikette ist absolut und umfassend; in jeder Lebenslage schreibt sie ihnen vor, was sie tun sollen, und wie sie eine Sache zu verrichten haben. Die Gilbertiner sind anscheinend freier und müssen dafür (ähnlich wie wir) durch häufige Verlegenheit zahlen. So ging es nicht selten diesem verkehrten Ehepaare. Einmal reichten wir ihnen, als sie bei uns zu Besuch waren, eine Pfeife und ein Paket Tabak, doch als sie geraucht hatten und danach aufbrechen wollten, um nach Hause zu gehen, standen sie plötzlich dem Probleme gegenüber: sollten sie den Rest des Tabaks mitnehmen oder liegen lassen? Das Päckchen wurde in die Hand genommen und wieder weggelegt, es wurde hin und her gereicht und das Für und Wider erörtert, bis die Frau abgehärmt aussah und der Mann gealtert. Schließlich nahmen sie es doch mit, aber ich gehe jede Wette ein, daß sie, noch ehe sie das Grundstück verlassen hatten, überzeugt waren, falsch gehandelt zu haben. Ein andermal gaben wir jedem von ihnen eine große Tasse Kaffee, und Nan Tok‘ trank die seinige mit Schwierigkeiten und Widerwillen aus. Nei Takauti kostete davon und beschloß nichts mehr zu trinken; da sie es aber für einen Bruch der Etikette hielt, die Tasse ungeleert wegzustellen, befahl sie ihrem ehelichen Knecht, den Rest zu erledigen. »Ich habe getrunken, was ich konnte, ich kann nicht mehr, es ist physisch unmöglich«, stand auf seinem Gesicht geschrieben; doch seine strenge Vorgesetzte wiederholte ihren Befehl durch heimliche, gebieterische Zeichen. Armer Kerl! Aus reiner Menschenliebe kamen wir ihm zu Hilfe und befreiten ihn von der Tasse.

Ich kann nicht anders, ich muß über diesen komischen Haushalt lächeln, und doch gedenke ich der guten Leutchen mit Liebe und Hochachtung. Ihre Aufmerksamkeit war einfach rührend. Blumengirlanden werden zum Beispiel hochgeschätzt; die Blüten dazu müssen mühsam von allen Ecken der Insel zusammengetragen werden, und obwohl ihnen viele Diener zur Verfügung standen, sahen wir das Paar doch häufig selbst suchen gehen und beobachteten, wie die Frau die Kränze eigenhändig wand. Es war auch nicht Herzlosigkeit, sondern lediglich jene übliche Mißachtung Gatten gegenüber, die Nei Takauti die Leiden Nan Toks ignorieren ließ. Als beispielsweise meine Frau krank wurde, zeigte Nei Takauti sich als unermüdliche, gütige Pflegerin; ja, zur unaussprechlichen Verlegenheit meiner Frau waren beide, er wie sie, nicht mehr aus dem Krankenzimmer hinauszuschlagen. Diese barsche, tüchtige, herrschsüchtige alte Dame mit den wilden Augen war tiefer, zärtlicher Gefühle fähig; ihren Stolz auf ihren jungen Gatten verbarg sie anscheinend aus Furcht, ihn eitel machen zu können, wenn jedoch die Rede auf ihren toten Sohn kam, nahm ihr Gesicht einen tieftragischen Ausdruck an. Ja, in den Einwohnern der Gilbertinseln habe ich meiner Meinung nach eine Kraft der Vernunft und der Empfindung entdeckt, die sie (gleich ihrer rauhen, unschönen Sprache) von ihren östlichen Brüdern scharf unterscheidet.

Sechstes Kapitel. Der König von Apemama: Teufelswerk

Täglich weilten wir am Meeresstrande von Apemama. Die Küste ist von flachen Buchten durchschnitten; das Riff schickt hier einen Arm ins Meer hinaus, erhebt sich hoch über dem Wasserspiegel und umschlingt eine knietiefe Lagune, das ewig bewegte Speibecken der Brandung. Der Strand besteht an dieser Stelle teils aus feinem Sande, teils aus brüchiger Koralle. Bei der konvexen Biegung der Küste kann man auf den ersten Blick knapp ihren vierten Teil übersehen, und da das Land sehr niedrig ist, erscheint der Horizont bis auf einen Steinwurf nahe gerückt; kurz, der schmale Ausblick erhöht das Gefühl der Abgeschiedenheit. Der Inselmensch vermeidet diesen Ort – selbst Fußtapfen sind dort ungewöhnlich, aber eine große Anzahl Vögel schwebt und kreischt hier fischend und zeichnet ihre Hakenspuren in den Sand. Abgesehen von diesen Tieren bilden die Sturzwellen Über dem Riff das einzige Geräusch (und ich wollte auch sagen, die einzige Gesellschaft), die man hier findet.

Auf jedem Küstenvorsprung hat man die Klippe aus Korallenklinker unmittelbar über dem Strande planiert und dort eine vielleicht brusthohe Säule errichtet. Diese hat indes nichts mit den Toten zu tun; alle Leichen werden im Gegenteil auf der bewohnten Seite der Insel, dicht neben den menschlichen Behausungen und (was noch schlimmer ist) neben dem Brunnen begraben. Man sagte mir, diese Denkmäler sollten die Insel gegen das hereinbrechende Meer verteidigen – es sind göttliche oder teuflische Wachttürme, wahrscheinlich Taburik, dem Donnergotte, geweiht.

Die Bucht, die Äquatorstadt unmittelbar gegenüber lag und die wir zu Ehren unseres Kochs Fu Bai getauft hatten, war somit an beiden Spitzen der Sichel befestigt. Sie wurde durch das Riff geschützt und barg in ihrem Inneren klares, stilles Wasser; der sie begrenzende Strand krümmte sich wie ein Hufeisen und war breit und stell. Der Weg mündete etwa in der Mitte der rücklaufenden Biegung, und die Wälder hörten eine ziemliche Strecke landeinwärts auf. Davor, zwischen dem Saume des Waldes und dem Plateau des Strandes, hatte man eine rechteckige Fläche ähnlich einem neuartigen Tennis-court abgesteckt, deren Ränder aus runden, in den Sand eingebetteten Steinen bestanden, und deren Ecken durch niedrige, gleichfalls steinerne Pfeiler markiert waren. Das war des Königs Betplatz. Wann und worum er betete, und an wen er seine Gebete richtete, habe ich niemals erfahren können. Der Ort war tapu.

In dem Winkel neben der Wegmündung stand eine aufgelassene Maniap‘. In der Nähe hatte man schon vor unserer Ankunft ein Haus errichtet, das für den Augenblick nach Äquatorstadt verlegt worden war und dort Dienste tat. Es war das Haus Tamaitis, des Hüters und Zauberers des Orts, gewesen und sollte es nach unserer Abreise von neuem werden. Hier, in dieser einsamen Gegend, in Hörweite der See hatte er gehaust und seine unheimlichen Pflichten verrichtet. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder gehört zu haben, daß ein Mensch auf der Meeresseite eines offenen Atolls gewohnt hätte, und Tamaiti muß starke Nerven, ein größeres Vertrauen in seine eigenen Künste oder, was ich glaube, einen beneidenswerten Skeptizismus besessen haben. Ob Tamaiti auch irgendwie als Hüter des Betplatzes bestellt war, weiß ich nicht. Seine eigene Privatandachtstätte lag weiter hinten am Waldrand. Sie bestand aus einem recht ansehnlichen Baum, um den ein Kreis, ähnlich der Linie, die des Königs Betplatz umgrenzte, gezogen war; davor, dicht am Stamm, stand mit der Front nach dem Meere ein Stein von sehr großem Umfang und leicht ausgehöhlt, etwa wie eine Piscina; davor wieder ein konischer Kieshaufen. In die Höhlung der sogenannten Piscina (die, wie es sich herausstellte, in Wahrheit ein Zauberstuhl war) war ein Opfer von grünen Kokosnüssen niedergelegt; und wenn man aufblickte, entdeckte man, daß die Äste des Baumes mit seltsamen Früchten beladen waren: mit kunstvoll geflochtenen Palmzweigen und wundervollen, bis in alle Einzelheiten durchgebildeten Modellen von Kanoes. Das Ganze bot den Anblick eines mitsommerlichen, rustikalen al fresco Weihnachtsbaumes. Wir waren jedoch mit den Gilbert-Inselnbräuchen genügend vertraut, um hier auf den ersten Blick eine Zauberei – oder wie es auf dieser Gruppe heißt – ein Teufelswerk, zu erkennen.

Wir erkannten es an den geflochtenen Palmwedeln, die wir schon anderswo, auf Apaiang, dem christlichsten Eilande jener Gruppe, gesehen hatten, wo der treffliche Mr. Bingham goldenen Angedenkens gelebt und gewirkt hat. Von dort ist alle Zivilisation, die es auf den nördlichen Gilberts gibt, ausgegangen; dort hatten wir von kleinen, eingeborenen Sonntagsschulfräuleins mit gesittetem Wesen und sauberen Kleidchen, die Kirchenlieder sangen, als wären sie dazu geboren, Besuch erhalten.

Unsere Erfahrungen von Teufelswerk auf Apaiang waren folgende: – Zufällig hatten wir uns nächtlicherweise im Hause Kapitän Tierneys verspätet. Meine Frau und ich wohnten rund eine halbe Meile entfernt bei einem Chinesen, und dorthin begleiteten uns Kapitän Tierney und ein Eingeborenenjunge mit Leuchtfackeln. Unterwegs gingen die Fackeln aus und wir flüchteten uns in ein einsames, christliches Kapellchen, um sie wieder anzuzünden. Da fand ich mitten in die Balken der Kapelle gesteckt einen geflochtenen Palmzweig. »Was ist das?« lautete meine Frage. »Das? Oh, das ist Teufelswerk«, antwortete der Kapitän. »Und was ist Teufelswerk?« erkundigte ich mich, »Wenn Sie wollen, werde ich es Ihnen bei Johnnie zeigen.« Johnnies Haus entpuppte sieh als ein originelles Hüttchen hoch oben am Strande, teils aus Mauern teils aus Gitterwerk auf etwa drei Fuß hohen Pfählen errichtet und mittels einer Treppe zugänglich. Trophäen in Gestalt von Reklamephotographien hingen als Schmuck an den Wänden. Es gab einen Tisch und ein Wandbett, in dem meine Frau schlief, während ich mit Johnnie, Frau Johnnie, ihrer Schwester und des Teufels eigenstem Regiment von Küchenschaben auf dem Fußboden kampierte. Dorthin berief man eine alte Hexe, deren Äußeres zum Entsetzen gut zu ihrer Rolle paßte. Die Lampe wurde auf den Boden gestellt; die Vettel kauerte sich, einen grünen Palmzweig in der Hand, auf der Schwelle nieder, das Licht fiel voll auf ihren uralten Kopf und suchend auf die verängstigten Gesichter der Zuschauer in der pechschwarzen Dunkelheit. Unsere Zauberin begann mit einem beschwörenden Singsang, der in der alten fremden Sprache war, für die ich keinen Dolmetscher hatte, und von Zeit zu Zeit durchlief die Versammlung dort draußen jenes Lachen, das jeder Reisende auf den Inseln gar bald als ein Gelächter der Furcht erkennen lernt. Zweifellos waren diese halben Christen empört, während ihre andere heidnische Hälfte sich entsetzte. Nachdem man Tschentsch oder Taburik also gebührend invoziert hatte, stellten wir unsere Fragen; die Hexe flocht die Blätter, hier ein Blatt, dort ein Blatt, augenscheinlich nach einem arithmethischen System, studierte mit offensichtlicher Zufriedenheit das Resultat und erteilte ihre Antworten. Sidney Colvin erfreue sich ausgezeichneter Gesundheit und befände sich augenblicklich auf Reisen, und wir würden morgen guten Wind haben: das war das Ergebnis, für das wir einen Dollar zahlten. Der morgige Tag erschien windlos und wolkenlos, aber ich glaube, Kapitän Reid vertraute insgeheim der Sybille, denn der Schoner wurde fahrtbereit gemacht. Um acht trübte sich der Spiegel der Lagune mit langen Kräuselwellen und die Palmen schwankten und rauschten im Winde; noch vor zehn lag die Einfahrt hinter uns, und wir schossen mit vollen Segeln und schäumenden Speigatten dahin. So bekamen wir wenigstens die Brise, die schon gut einen Dollar wert war; doch stellte es sich einige sechs Monate später heraus, daß das Bulletin über meinen Freund in England jeder Grundlage entbehrte. Vielleicht liegt London aber auch außerhalb des Wirkungskreises der Inselgötter.

Zu Anfang zeigte sich Tembinok‘ jedem Aberglauben streng abgeneigt, und hätte die Äquator nicht so lange auf sich warten lassen, wir wären vielleicht abgereist in dem guten Glauben, daß er ein Agnostiker sei. Zufällig kam er jedoch eines Tages in unsere Maniap‘, während meine Frau mit einer Patience beschäftigt war. Sie erläuterte ihm das Spiel so gut sie konnte und schloß ihre Auseinandersetzung mit dem Scherzwort, daß das ihr Teufelswerk sei, und daß die »Äquator«, wenn die Patience aufginge, morgen eintreffen würde. Tembinok‘ muß tief aufgeatmet haben; also saßen wir doch nicht so ganz auf dem hohen Pferd; er brauchte sich nicht mehr zu verstellen, und sofort machte er sich an eine Beichte. Er vollführe jeden Tag Teufelswerk, gestand er uns, um zu wissen, ob Schiffe zu ihm unterwegs wären; und von nun an teilte er uns jedesmal das Ergebnis mit. Es war erstaunlich, wie häufig er sich irrte, aber stets hatte er eine Erklärung bei der Hand. Ein Schoner läge dicht hinter Sichtweite vor der Insel; entweder war er aber nicht für Apemama bestimmt, oder er hatte seinen Kurs geändert oder er kam aus der Flaute nicht heraus. Ich pflegte den König bei diesen Anlässen, wenn er sich so öffentlich zu belügen suchte, mit Ehrfurcht zu betrachten. Hinter ihm sah ich sämtliche Kirchenväter, Philosophen und Männer der Wissenschaft aus der Vergangenheit; vor ihm alle die, die noch kommen sollten; ihn selbst in der Mitte. Die ganze visionäre Versammlung rang mit der Aufgabe, Ungereimtheiten auszugleichen. Bis zuletzt sprach Tembinok‘ jedoch nur widerwillig von den Inselgottheiten und ihrem Kult, so daß ich nur wenig über sie erfahren konnte. Taburik ist der Gott des Donners und hat mit Wind und Wetter zu tun. Bis vor kurzem gab es noch Zauberer, die ihn als Blitz vom Himmel herunterzuholen verstanden. »Mein Patah, eh mih sagen, daß eh das sehen: du glauben, eh lügen?« Tienti – ausgesprochen etwa wie »Tschentsch« und von seiner Majestät als der Teufel identifiziert, sendet und heilt die körperlichen Krankheiten. Man ruft ihn durch Pfeifen, nach Art der Paumoter, und er soll dann auch erscheinen, doch hat ihn der König niemals gesehen. Die Ärzte behandeln Krankheiten mit Hilfe von Tschentsch: wobei der eklektische Tembinok‘ indessen zugleich den »Schmerzenstöter« aus seinem Medizinkasten appliziert, um dem Leidenden beide Chancen zu geben. »Ie glauben, vie bessah so«, bemerkte seine Majestät mit noch mehr als seiner üblichen Selbstzufriedenheit. Anscheinend sind die Götter nicht eifersüchtig: sie erfreuen sich in Gemütsruhe gemeinsamer Heiligtümer und gemeinsamer Priester. So hängen an Tamaitis Medizinbaum die ex Voto zwecks einer günstigen Reise geschenkten Kanoemodelle, die daher Tamburik, dem Wettergott geweiht sein müssen; aber der davorstehende Stein ist von den Kranken zur Besänftigung Tschentschs gestiftet.

Durch einen außerordentlichen Glücksfall zog ich mir, noch während wir von diesen Dingen sprachen, eine Erkältung zu. Ich glaube kaum, daß ich mich je zuvor über eine Erkältung gefreut habe, noch daß ich mich je wieder darüber freuen werde, aber so bot sich mir eine unschätzbare Gelegenheit, die Zauberer während ihrer Arbeit zu belauschen, und ich berief daher die Fakultät von Apemama zu mir. Sie erschien in corpore, alle in ihren Sonntagskleidern und mit Kränzen und Muscheln, den Insignien des Teufelwerkes, behangen. Tamaiti kannte ich bereits: Terutak‘ – einen großen, hageren, grobschlächtigen, ernsten, schottischen Nordsee-Fischer mit etwas allzu brauner Haut – sah ich zum erstenmal, und noch ein dritter war mit von der Partie, dessen Namen ich nie gehört habe und der Tamaiti als Famulus diente. Tamaiti nahm mich zuerst in Behandlung und führte mich unter angenehmem Geplauder an die Ufer von Fu Bai. Der Famulus bestieg auf der Suche nach grünen Kokosnüssen einen Baum. Inzwischen verschwand Tamaiti selbst im Busch und kehrte mit Kokoszunder, trockenen Blattern und einem Zweig Wachsbeeren zurück. Man setzte mich auf den Stein, den Rücken gegen den Baum, das Gesicht der Windseite zugekehrt; zwischen mich und dem Kieshaufen legte man eine der grünen Nüsse, und dann trat Tamaiti (nachdem er zuvor seine Segeltuchschuhe, die ihn peinigten, ausgezogen hatte) zu mir in den magischen Kreis, grub in den Kieshaufen eine kleine Höhlung, in deren Inneres er seinen Scheiterhaufen aufbaute und hielt ein brennendes Streichholz – es war von Bryant und May – daran. Das Feuer wollte nicht anbrennen, und der respektlose Zauberer füllte die Zwischenzeit mit allerlei Geschwätz von fremden Städten aus – von London und »Aktiengesellschaften«, und wie viel Geld sie besaßen; von San Francisco und den schädlichen Nebeln »ganß wie Rauch«, die ihn fast umgebracht hätten. Vergeblich versuchte ich ihn auf den Gegenstand zu bringen, mit dem er sich jetzt beschäftigte. »Alle Menschen machen Medizin«, sagte er leichthin. Und als ich ihn fragte, ob er selbst ein guter Arzt wäre, erwiderte er noch leichtfertiger: »Ie niß savvy.« Endlich fingen die Blätter Feuer, dem er fortfuhr neue Nahrung zu geben; ein dichter, heller Rauch blies mir ins Gesicht, und die Flammen schlugen mir entgegen und versengten meine Kleider. Inzwischen redete er den Geist an, oder tat doch so, wobei seine Lippen sich lautlos bewegten; gleichzeitig schwang er die Arme durch die Luft und schlug mich zweimal mit seinem grünen Zweige auf die Brust. Sobald die Blätter verbrannt waren, begrub er die Asche, der grüne Zweig wurde in den Kies gebettet, und die Zeremonie war beendet.

Ein Leser von »Tausendundeine Nacht« würde sich hier vollkommen zu Hause fühlen. Hier war das Räucherwerk, der murmelnde Zauberer; hier der einsame Ort, an den Aladdin von seinem falschen Onkel gelockt wurde. Aber auf diese Dinge versteht man sich am besten in Romanen. Diesmal wurde die Wirkung durch die Leichtfertigkeit des Zauberers, der wie ein liebenswürdiger Zahnarzt seinen Patienten mit allerlei gleichgültigem Geschwätz unterhielt, und durch die unpassende Gegenwart Mr. Osbournes und seiner Kamera gestört. Und was meine Erkältung anbetrifft, so wurde sie weder besser noch schlimmer.

Darauf wurde ich Terutak‘ übergeben, dem führenden Arzt oder Geheimrat von Apemama. Seine Wohnung liegt auf der Lagunenseite der Insel, hart neben dem Palaste. Ein etwa zwei Fuß hohes Holzgeländer umschließt hier wie bei der Betstätte des Königs, einen länglichen Kiesplatz in dessen Mitte ein grüner Baum wächst. Darunter stehen auf einem Tisch zwei, mit einer feinen Matte bedeckte Kästen, und vor ihnen wird täglich eine Kokosnuß, ein Stück Taro oder ein Fisch als Opfer niedergelegt. Auf beiden Seiten der Einfriedung steht eine Reihe von Maniapen, und einer unserer Gesellschaft, der viel zum Zeichnen hierherging, hatte wiederholt eine Schar kranker Kinder dort hinpilgern sehen, denn der Ort war in Wahrheit das Hospital von Apemama. Der Arzt und ich betraten allein die heilige Stätte; die Kästen und Matten wurden von dem Tisch genommen, und ich wurde an ihrer Statt, wieder mit dem Gesichte nach Osten, auf den Stein gehoben. Eine Weile blieb der Zauberer hinter meinem Rücken unsichtbar, mit einem Palmzweig allerlei Kreise in der Luft beschreibend. Dann schlug er mich leicht auf den Rand meines Strohhutes, und dieser Schlag wurde von Zeit zu Zeit wiederholt, nur daß der Zweig manchmal statt des Hutes meinen Arm und meine Schulter streifte. Ich habe wohl ein dutzendmal erlebt, daß Leute mich zu hypnotisieren versuchten, ohne das geringste Resultat. Aber schon bei dem ersten Schlage – auf keinen wichtigeren Punkt als den Rand meines Strohhutes und von nichts Bedeutsameren als einem Palmzweig in der Hand eines Mannes, den ich nie zuvor gesehen hatte, – überfiel mich der Schlaf wie mit Waffengewalt. Meine Sehnen erschlafften, meine Augen schlossen sich, mein Hirn schwamm vor Schläfrigkeit. Ich wehrte mich zuerst instinktiv, dann in einer Art aufgeregter Verzweiflung, die zum Schluß auch siegte, wenn man in der Tat das einen Sieg nennen kann, was mir gerade noch ermöglichte, auf die Füße zu stolpern, in einem somnambulischen Zustand nach Hause zu wanken und mich auf mein Bett zu werfen, wo ich in eine traumlose Betäubung versank. Als ich erwachte, war die Erkältung vorbei, und damit lasse ich die Angelegenheit auf sich beruhen, da ich sie nicht verstehe.

Inzwischen hatte sich mein Appetit auf Kuriositäten (der für gewöhnlich nicht sonderlich stark war) durch die heiligen Kästen seltsam verschärft. Die Kästen, von vier Füßen getragen, waren aus Pandanusholz, von länglicher Form und die Seitenwände gleichsam erhaben und wie aus Stroh geflochten sowie an den Rändern leicht mit Haar oder Fasern verkleidet. Die Außenseite war so sauber und fein gearbeitet wie ein Spielzeug, das Innere ein Mysterium, in das einzudringen ich beschlossen hatte. Aber es lag noch ein Löwe quer über meinem Pfad. Ich konnte mich nicht an Terutak‘ wenden, da ich versprochen hatte, nichts auf der Insel zu kaufen; ich wagte auch nicht an den König zu appellieren, denn ich hatte von ihm bereits mehr Geschenke erhalten, als ich je hoffen durfte, erwidern zu können. Aus diesem Dilemma fanden wir (da inzwischen auch der Schoner wieder erschienen war) einen Ausweg. Kapitän Reid trat statt meiner vor, bekannte seine unbezähmbare Leidenschaft für die Kästen und bat und erhielt auch die Erlaubnis, mit dem Zauberer zu verhandeln. Noch am gleichen Nachmittage machten der Kapitän und ich uns schleunigst auf den Weg nach dem Hospital, betraten den eingezäunten Platz, hoben die Matten hoch und begannen mit Muße die Kästen zu untersuchen. Sofort stürzte Terutaks Frau aus einem der benachbarten Häuser auf uns zu, raffte ihre Schätze zusammen und war verschwunden. In meinem ganzen Leben bin ich nicht so vollständig überrumpelt worden. Sie kam, sie nahm, sie schwand, ich weiß nicht wohin, und wir blieben mit dummem Gesicht und dummem Lachen auf dem leeren Schlachtfelde zurück. Das war der passende Prolog für unser denkwürdiges Handelsgeschäft.

Nach einer Weile tauchte Terutak‘ in Begleitung Tarnaitis auf, beide lächelnd, und wir vier hockten uns auf das Geländer hin. In den drei Maniapen des Krankenhauses hatte sich eine Zuhörerschaft versammelt: die Angehörigen eines kranken und in Behandlung befindlichen Kindes, ferner des Königs Schwester mit einem Kartenspiel beschäftigt, ein hübsches Mädchen, das schwor, ich sei das Ebenbild ihres Vaters: alles in allem vielleicht zwanzig Personen. Terutaks Frau war von neuem so plötzlich erschienen, wie sie verschwunden war und saß jetzt atemlos und scharf aufpassend neben ihrem Gatten. Vielleicht war unsere Absicht gerüchtweise bekannt geworden, vielleicht hatten wir auch durch unsere unziemlichen Freiheiten die Leutchen alarmiert; gewiß ist, daß auf den Gesichtern aller Anwesenden Erwartung und Besorgnis geschrieben standen.

Kapitän Reid verkündete jetzt ohne jede Vorrede oder Bemäntelung, daß ich hierher gekommen wäre, um die Kästen zu kaufen; Terutak‘ erklärte darauf mit plötzlichem Ernst, daß sie ihm nicht feil wären. Wir drangen in ihn, er aber blieb fest. Wir setzten ihm auseinander, daß wir nur einen Kasten haben wollten: machte nichts, zwei wären erforderlich, um die Kranken zu heilen. Wir neckten ihn, redeten hin und her: alles umsonst. Ernst und schweigsam saß er da und weigerte sich. Bisher jedoch war das nur ein vorbereitendes Scharmützel gewesen; wir hatten noch keine Geldsumme genannt, jetzt aber ließ der Kapitän die schweren Geschütze spielen. Er nannte ein, zwei, schließlich drei Pfund. Aus den Maniapen gesellte sich einer nach dem andern zu uns, einige aus schierer Neugier, andere in unverhohlener Bestürzung. Das hübsche Mädchen schlich sich an meine Seite: dieser Moment war es, da sie mir – sicherlich nur in harmlosester Schmeichelei – die Ähnlichkeit mit ihrem Vater gestand. Tamaiti, der Ungläubige, saß kopfhängerisch, und mit jedem Anzeichen tiefster Depression da – Terutak‘ troff vor Schweiß, seine Augen wurden glasig, auf seinem Gesicht erschien eine unangenehme hektische Röte, seine Brust hob und senkte sich wie bei einem erschöpften Wettläufer. Der Mann muß von Natur aus habgierig gewesen sein; ich zweifle, ob ich je eine moralische Tortur so tragisch sich habe ausdrücken sehen. Inzwischen redete ihm die Frau an seiner Seite leidenschaftlich zu und bestärkte ihn in seinem Widerstand.

Und jetzt kam der Sturmangriff der alten Garde. Der Kapitän schoß ein Saltomortale und nannte die erstaunliche Summe von fünf Pfund. Bei diesem Wort leerten sich die Maniapen. Des Königs Schwester warf ihre Karten hin und kam nach vorne, um mit bewölkter Stirn zu lauschen. Das hübsche Mädchen schlug sich auf die Brust und schrie mit peinlicher Hartnäckigkeit, daß ich die Kästen kriegen würde, wenn sie die ihren wäre. Terutaks Frau geriet vor frommer Furcht außer sich, ihr Gesicht verzerrte sich, ihre Stimme (die nicht aufhörte zu warnen und zu ermutigen) schrillte wie eine Pfeife. Selbst Terutak‘ verlor die statuengleiche Unbeweglichkeit, die er bisher gewahrt hatte. Er schaukelte sich auf seiner Matte hin und her, zog abwechselnd das eine und das andere Knie an sich und schlug sich nach Art der Tänzer auf die Brust. Allein er ging als lauteres Gold aus der Feuerprobe hervor und weigerte sich, mit der wenigen Stimme, die ihm noch geblieben war, die Bestechung anzunehmen.

Jetzt trat ein willkommener Zwischenfall ein. »Geld, das niß Kjanken heilen«, bemerkte sententiös des Königs Schwester. Kaum hatte man mir den Einwurf verdolmetscht, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel und ich mich meines Tuns schämte. Hier war ein krankes Kind, und ich trachtete in Gegenwart seiner Eltern danach, den Medizinkasten zu entfernen. Hier war ein Priester der Religion und ich (ein heidnischer Millionär) verführte ihn zu einem Sakrileg. Hier war ein habgieriger Mensch, der zwischen Geiz und seinem Gewissen hin und her gerissen wurde, und ich saß daneben, weidete mich an dem Anblick und erneuerte wollüstig seine Qualen! Ave, Caesar! Irgendwo in einem Winkel schlummernd aber nicht tot, ruht in uns allen die eine Urleidenschaft: eine embryonale Sucht nach dem Sand und dem Blut der Arena! So brachte ich denn mein erstes und letztes Erlebnis als Millionär zu Ende und ging unter ehrfürchtigem Schweigen hinaus. Nirgends sonst darf ich erwarten, je wieder so bis in alle Tiefen hinein die menschliche Natur aufzurühren – mit Hilfe von fünf Pfund; nirgends sonst, selbst unter Anwendung von Millionen, kann ich hoffen, das Verderbliche des Reichtums so rückhaltlos entschleiert zu sehen. Von allen Zuhörern hatte allein des Königs Schwester die Erinnerung an den Ernst und die Gefahr des Augenblicks gewahrt. Die Augen der anderen glühten, das Mädchen schlug sich in tierischer, sinnloser Aufregung auf die Brust. Dabei hatte man ihnen selbst nichts geboten; sie hatten weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren gehabt; allein die Nennung und die Witterung dieser ungeheuren Summen genügten, um den Teufel in ihnen aufleben zu lassen.

Von dieser seltsamen Verhandlung begab ich mich schnurstracks in den Palast, suchte den König auf, gestand ihm, was ich getan hatte, bat ihn, Terutak‘ in meinem Namen zu seiner Tugend zu beglückwünschen und noch vor Rückkehr des Schoners einen ähnlichen Kasten für mich anfertigen zulassen. Tembinok, Rubam und eine der Tageszeitungen, den wir unter uns die »Luftige Ecke« getauft hatten – schienen eine Weise an irgendeiner Idee zu arbeiten, die sie endlich nach langem Ringen in Worte faßten. Sie fürchteten, ich wäre der Ansicht, der Kasten könnte mich heilen, während er doch ohne den Zauberer nutzlos war, und wenn ich eine neue Erkältung kommen fühlte, täte ich besser daran, mich auf den »Schmerzentöter« zu verlassen. Ich erklärte ihnen daher, daß ich lediglich den Wunsch hätte, ihn als Andenken an Apemama in meinem »’Aus« aufzubewahren, worauf die ehrlichen Burschen außerordentliche Erleichterung zeigten.

Spät am gleichen Abend hörte meine Frau auf dem Wege zum Meeresufer aus dem Busch ein Singen. Nichts ist alltäglicher, als zu jener Stunde und an jenem Orte das jubelnde Lied der Palmweinzapfer zu vernehmen, die sich hoch zu Häupten in den Palmen wiegen und dabei unter sich das schmale Band der Insel, die es umschließende weite Ebene des Ozeans und die Flammen des Sonnenuntergangs sehen. Doch jener Gesang war ernsteren Charakters und schien vom Erdboden aufzusteigen. Als meine Frau auf das Dickicht zuschritt, sah sie an einem freien Fleck eine feine Matte ausgebreitet, und in der Mitte einen Kranz weißer Blumen und einen der Teufelskästen. Eine Frau – in der wir ruhig Frau Terutak‘ vermuten dürfen – saß davor, beugte sich von Zeit zu Zeit über den Kasten wie eine Mutter über eine Wiege und hob dann wieder den Blick und ihre Stimme zum Himmel empor. Ein vorübergehender Palmweinzapfer erzählte meiner Frau, daß sie betete. Wahrscheinlich aber betete sie nicht so sehr, als daß sie Abbitte leistete, oder vielleicht war die Zeremonie auch nur eine Entzauberung. Denn der Kasten war bereits verurteilt; er sollte seinem grünen Medizinbaum, der heiligen Stätte und den frommen Wärtern entrissen werden, um drei Meere zu durchkreuzen und direkt unter der Narrenkappe der Sankt Pauls Kathedrale zu landen. Dort, hart bei Lillie Bridge, sollte er beheimatet und täglich von einem britischen Zimmermädchen abgestaubt werden. Dort hat er vielleicht das Gebraus von London City für die Stimme des offenen Meeres über den Riffen gehalten. Noch ehe wir unser Abendessen beendet hatten, mußte Tschentsch seine Reise bereits antreten, denn eine der Zeitungen des Königs stellte den Kasten als Geschenk Tembinoks auf unseren Tisch.

Ich eilte sofort in den Palast, bedankte mich beim König, erbot mich jedoch den Kasten zurückzuerstatten, denn ich konnte den Gedanken, daß die Kranken der Insel dafür zahlen sollten, nicht ertragen. Seine Antwort setzte mich in Erstaunen. Terutak‘ – so stellte es sich heraus – besaß noch drei oder vier Kästen für Unglücksfälle in Reserve, und die Abneigung und Furcht, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelten, wurzelten durchaus nicht in der Aussicht, eines medizinischen Schatzes beraubt zu werden, sondern unmittelbar in der Göttlichkeit Tschentschs. Wie sehr lernte ich jetzt des Königs Macht respektieren, die imstande war, augenblicklich und für nichts eine kirchenschänderische Gunst zu erpressen, die ich vergeblich mit meinen Millionen zu erkaufen versucht hatte! Doch jetzt stand mir noch eine schwierige Aufgabe bevor. Ich wollte nicht, daß Terutak‘ durch seine Tugend Einbuße erleiden sollte; ich mußte daher den König zu meiner Anschauung bekehren und ihm die Erlaubnis abringen, einen seiner Untertanen bereichern zu dürfen, ja (was das Allerheikelste war), ich wollte mein Geschenk bezahlen. Nichts zeigt den König in einem vorteilhafteren Lichte als die Tatsache, daß mir jener Versuch gelang. Zuerst murrte er gegen das Prinzip; er schlug, als er die Summe hörte, die Hände über dem Kopfe zusammen. »Vie Geld!« rief er, ohne sein verächtliches Mißfallen zu verbergen. Allein sein Widerstand war zu keiner Zeit wirklich ernst gemeint, und als seine schlechte Laune verflogen war, meinte er: »A‘ right. Du ihm geben. Vie beßah.«

Bewaffnet mit dieser Erlaubnis ging ich direkt in das Hospital. Die Nacht war jetzt kühl, dunkel und sternklar. Auf einer Matte, dicht neben einem hellen Feuer aus Holz und Kokosrinde, lag Terutak‘ neben seiner Frau. Beide lächelten; ihre Qualen waren vorüber; des Königs Befehl hatte wohl ihre ängstlichen Skrupel beschwichtigt, und man bat, ich möchte mich setzen und die kreisende Pfeife teilen. Ich war selbst ein wenig erregt, als ich die fünf Goldstücke in des Zauberers Hand legte, allein auf Terutaks Gesicht stand kein Zeichen von Bewegung, als er sie mir zurückgab, nach dem Palast hinüberwies und den Namen Tembinoks nannte. Dagegen war die Szene mit einem Schlage verwandelt, als ich ihnen die Lage glücklich auseinandergesetzt hatte. Terutak‘, dieser lange, sauertöpfische, schottische Fischer, drückte seine Zufriedenheit noch innerhalb der menschlichen Grenzen aus, aber die Frau strahlte geradezu, und ein alter Herr, der sich in ihrer Gesellschaft befand – ihr Vater, wie ich annehme, – schien förmlich verklärt. Seine Augen quollen ihm aus dem Kopf. »Kaupoi, kaupoi, – reich, reich« – ertönte es in endloser Wiederholung von seinen Lippen, und er konnte mich nicht ansehen, ohne vor törichtem Gelächter förmlich zu gurgeln. Jetzt konnte ich nach Hause gehen, und jener vom Feuer beschienene Familienkreis blieb allein zurück, um sieh an seinen neuen Millionen zu weiden – und dann konnte ich meinen seltsamen Tag überdenken. Ich hatte den Millionär gespielt, hatte mich schandbar benommen und dann bis zum gewissen Grade meine Gedankenlosigkeit wieder gutgemacht. Und jetzt besaß ich meinen Kasten und konnte in ihn hineinsehen. Er enthielt eine Schlafmatte en miniature und eine weiße Muschel. Als ich am folgenden Tage Tamaiti über die Muschel befragte, erklärte er, sie wäre ja nicht gerade Tschentsch in eigenster Person, aber eine Verkörperung von ihm, eine Zelle, die er mitunter bewohnte. Auf die Frage hin, was denn die Schlafmatte zu bedeuten hätte, erwiderte er voller Entrüstung: »Weshalb ihr haben Matten?« Das war also der skeptische Tamaiti! Aber der Skeptizismus auf den Inseln sitzt nirgends tiefer als auf den Lippen.

Siebentes Kapitel. Der König von Apemama

So gehorchten alle Wesen der Insel, selbst die Priester und Götter, dem Worte Tembinok’s. Er allein kann geben und nehmen und töten, kann die Skrupel des Gewissens zum Schweigen bringen, kann (scheinbar) alles, nur in die Zubereitung einer Schildkröte sich einmischen, das kann er nicht. »Ie haben Macht«, ist seine Lieblingsredensart; sie kehrt in allen seinen Gesprächen wieder, der Gedanke verfolgt ihn förmlich und verliert für ihn nie den Reiz der Jungfräulichkeit; ja, selbst wenn er einen Besucher über fremde Länder ausfragt und den Antworten nachsinnt, sieht er plötzlich mit einem Lächeln auf und erinnert ihn an das eine: »Ie haben Macht.« Und seine Freude macht durchaus nicht bei dem reinen Besitze halt, nein, er übt seine Macht auch aus. Er schwelgt in den krummen und gewalttätigen Mitteln des Königstums, wie ein starker Mann einen Wettlauf genießt, oder ein Künstler sich an seiner Kunst erfreut. Seine Macht empfinden und ausnutzen, seine Insel und das Bild des Lebens auf ihr nach feinem eigenen Ideal verschönern, das Eiland ausgiebig melken und sein seltsames Museum ausbauen – das sind die angenehmen Beschäftigungen, die die Summe seiner Fähigkeiten fesseln. Niemals sah ich einen Menschen vollkommener zu s einem Berufe passen.

Natürlich möchte man annehmen, Tembinok‘ hätte jene Monarchie intakt von Generationen von Vorvätern geerbt. Doch nein! Sie ist ein Gebilde von gestern. Ich war bereits ein Junge und ging zur Schule, als Apemama noch eine Republik war, die von einem lärmenden Rat der Alten regiert und von unheilbaren Fehden zerrissen wurde. Dabei ist Tembinok‘ kein Bourbone, weit eher der Sohn eines Napoleon. Selbstverständlich ist er von guter Herkunft. Niemand auf den Südseeinseln versuche, es zu etwas Großem zu bringen, wenn sein Stammbaum nicht lang und in seinen äußersten Spitzen mythologisch ist. Unser König zählt die größten Familien des Archipels zu seinen Vettern und führt seine Abstammung auf einen Haifisch und ein Heldenweib zurück. Getrieben von einem Orakelspruch, schwamm diese Frau außer Sichtweite des Landes ins Meer hinaus, um sich mit ihrem gräßlichen Buhlen zu treffen und empfing auf See den Samen eines auserlesenen Geschlechts. »Ie meinen, es Lüge«, so lautet des Königs emphatischer Kommentar; trotzdem ist er sehr stolz auf die Legende. Nach diesem illustren Anfang muß die Familie jedoch herabgekommen sein; Tenkoruti, der Großvater Tembinok’s, war simpler Häuptling eines Dorfes am Nordende der Insel. Kuria und Aranuka waren damals unabhängig, Apemama selbst diente als Arena verheerender Fehden. Durch diese unruhige Periode der Geschichte stolziert als hervorragende Gestalt Tentoruki. Im Kriege war er rasch und blutig; verschiedene Ortschaften fielen unter seinem Speer, und die Bewohner wurden bis auf den letzten Mann niedergemetzelt. Im bürgerlichen Leben war er von unerhörter Arroganz. Wenn der Rat der Alten zusammenberufen wurde, begab er sich in das Sprechhaus, äußerte seine Ansicht und ging wieder, ohne auf die Antwort zu warten. Die Weisheit hatte gesprochen: mochten die anderen nach ihrer Torheit reden. Man fürchtete und haßte ihn, und er freute sich dieses Hasses. Er war kein Dichter; was fragte er nach Kunst und Wissen? »Mein Gloß Vatah, eh savvy ein Ding: eh savvy kämpfen«, bemerkte der König. Während einer Pause in ihren Streitigkeiten unternahmen die Alten von Apemama das Wagnis einer Eroberung Apemamas, und dieser ungeleckte Caius Marcius wurde zum Generalissimus der vereinigten Heere gewählt. Erfolg begleitete ihn; die Inseln wurden unterworfen und Tentoruki kehrte, ruhmbedeckt und verhaßt, zu seiner eigenen Herrschaft zurück. Er starb etwa 1860, im siebzigsten Jahre seines Lebens und im vollen Geruch seiner Unpopularität. Er war groß und hager, erzählt sein Enkel, sah sehr alt aus und »ging ganß wie junge Mann.« Der nämliche Beobachter berichtete mir noch von einer anderen, bemerkenswerten Einzelheit. Die Überlebenden jener rauhen Epoche waren alle durch zahlreiche Speernarben verunstaltet; einzig der Körper dieses geschickten Kämpfers war ohne jedes Zeichen einer Wunde. »Ie sehen alte Mann, eh haben keine Speer«, sagte der König.

Tentoruki hinterließ zwei Söhne, Tembaitake und Tembinatake. Tembaitake, der Vater unseres Königs, war von kurzer und mäßig korpulenter Statur, ein Dichter, ein guter Genealoge und etwas von einem Kämpfer. Es scheint, daß er sich selbst von jeher sehr ernst genommen hat und sich kaum bewußt wurde, daß er in allen Dingen nur die Kreatur und Puppe seines Bruders war. Niemals gab es auch nur den Schatten eines Streits zwischen den beiden: der größere Mann füllte bereitwilligst und zufrieden den zweiten Platz aus, hielt in Kriegszeiten die Bresche gegen die Angreifer und im Frieden sämtliche Portfeuilles, und wenn sein Bruder ihn schalt, hörte er schweigend mit gesenkten Blicken zu. Gleich Tentoruki war auch Tempinatake groß, hager und ein gewandter Redner – ein seltener Zug auf den Inseln. Er war Meister aller Künste, verstand sich auf Zauberei, war der beste Genealoge seiner Zeit, ein Dichter, Tänzer, Verfertiger von Kanoes und ein Waffenschmied; und der berühmte Mast von Apemama, der um eine Spanne höher war als der Hauptmast eines großen Segelschiffs, stammte in Entwurf und Ausführung von ihm. Doch waren dies alles nur Nebenbeschäftigungen, des Mannes eigentliches Gewerbe war der Krieg. »Mei Onkel, wenn eh gehen machen Klieg, eh lachen«, sagte Tembinok‘. Er, der Schürer einheimischer Fehden, verbot die Verwendung von Feldbefestigungen; seine Leute mußten im Freien kämpfen, siegen oder auf der Stelle untergehen; seine eigenen Leistungen trieben seine Gefolgsleute an, und die Raschheit seiner Hiebe schlug im Verlaufe einer einzigen Generation den Widerstand der drei Inseln nieder. Er machte seinen Bruder zum Herrscher, seinen Neffen zum absoluten Tyrannen. »Mei Onkel, eh machen alles glatt«, sagte Tembinok‘. »Ie meh König als mein Patah: ie haben Macht«, bemerkte er mit furchtbarem Behagen.

So sieht das Porträt aus, das der Neffe von dem Onkel entwarf. Ihm zur Seite vermag ich ein zweites, von einem ganz anderen Künstler verfertigtes Bild zu stellen, einem Künstler, der mich häufig, ja, ich kann getrost behaupten, immer durch seine romantische Erzählungskunst entzückt und sehr selten von seiner Genauigkeit überzeugt hat. Ich habe mir indes die Verwendung so vielen ausgezeichneten Materials aus eben dem Grunde versagt, so daß ich es allmählich für angezeigt halte, die Tugend zu belohnen; und sein Bericht über Tembinatake stimmt so ganz mit dem des Königs überein, daß er sehr wohl (wie ich hoffe) eine Wiedergabe der Wahrheit und nicht (wie ich vermute) das reizende Spiel einer mehr als matrosenhaften Phantasie sein kann. A. – so will ich ihn lieber nennen – wanderte eines Tages bei Abenddämmerung auf der Insel umher, als er an ein erleuchtetes Dorf von nicht geringer Größe kam. Dort wurde er in das Haus des Häuptlings verwiesen und bat um Erlaubnis, sich setzen und eine Pfeife rauchen zu dürfen. Das Essen wurde gebracht, ein Gebet gesprochen (denn es waren die kurzen Tage des Christentums), und der Häuptling selbst betete mit Inbrunst und scheinbarer Aufrichtigkeit. Den ganzen langen Abend saß A. neben ihm und bewunderte beim Lichte des Feuers seine Person. Er war sechs Fuß hoch, hager, dem Äußeren nach schon alt, und aus seinem ganzen Wesen sprachen in außerordentlichem Maße Wohlerzogenheit und Autorität. »Er sah aus, als könnte er einen lachend umbringen«, sagte A. und sprach damit seltsamerweise ein Wort des Königs nach. Und wieder: »Ich hatte gerade die Drei Musketiere gelesen, und er erinnerte mich an Aramis.« Das ist das Porträt Tembinatakes, von einem gewiegten Romancier gezeichnet.

Wir hatten viele Geschichten von »Mein Patah« gehört, dagegen bis zwei Tage vor unserer Abreise nicht ein Wort von »meinem Onkel«. Als der Abschied näherrückte, ging eine große Veränderung in Tembinok‘ vor. An Stelle seines alten Ichs erschien ein weicherer Mann, der noch melancholischer und vor allem vertrauensvoller war. Meiner Frau versuchte er mühselig auseinanderzusetzen, er hätte zwar gewußt, daß es in der Natur der Dinge läge, seinen Vater zu verlieren, doch hätte er den Verlust erst vollkommen erkannt und beachtet, als der Moment dagewesen wäre; und jetzt, da er uns verlieren müßte, wiederhole sich das Erlebnis. Eines Abends veranstalteten wir auf der Terrasse ein Feuerwerk. Es war ein melancholisches Geschäft; das Gefühl der Trennung lastete auf allen, und das Gespräch stockte. Der König war besonders gerührt, saß untröstlich auf seiner Matte und seufzte viel. Plötzlich trat eine der Frauen aus der Gruppe hervor und zu ihm hin, küßte ihn stillschweigend und ging schweigend wieder an ihren Platz. Es war eine Liebkosung, wie man sie einem traurigen Kinde gibt, und der König nahm sie mit kindlicher Einfachheit hin. Nach einer Weile sagten wir gute Nacht und zogen uns zurück; allein Tembinok‘ hielt Mr. Osbourne fest, klopfte auf die Matte neben der seinen und sagte: »Du diß setzen. Ie miss fühlen schlecht. Ie mögen splechen.« Osbourne setzte sich zu ihm. »Du mögen Biehl?« fragte er, und eine der Frauen holte eine Flasche. Der König trank nicht, sondern saß seufzend und seine Meerschaumpfeife rauchend da. »Ie seh tlaulig, daß du gehen«, sagte er schließlich. »Miß Stlevens, eh gute Mann, Flau, eh gute Mann, Junge, eh gute Mann; alle gute Mann. Flau, eh klug ganß wie Mann. Meine Flau (mit einem Blick auf seine Gattinnen) eh gute Flau, niß seh klug. Ie glauben, Miß Stlevens, eh reiche Mann, ganß wie ie. Alle gehen Schona. Ie seh tlaulig. Mein Patah, eh gehen, mein Onkel, eh gehen, mein Vettel, eh gehen. Miß Stlevens, eh gehen: alle gehen. Du niß König sehen weinen bevoh. König tlotzdem wie Mann: eh fühlen schlimm, eh weinen. Ie seh tlaulig.«

Am Morgen war es allgemeines Dorfgespräch, daß der König geweint hatte. Zu mir sagte er: »Geßten Nacht, ie niß splechen: ßu vieh hieah,« die Hand auf seinen Busen legend, »Nun du gehen foht, ganß wie meine Pamili. Meine Blüdah, mein Onkel gehen foht. Ganß so wie du.« Die letzten Worte wurden in fast leidenschaftlicher Trauer gesagt. Und es war das erstemal, daß ich ihn seinen Onkel hatte nennen, ja, auch nur das Wort hatte aussprechen hören. Noch am gleichen Tage sandte er mir als Geschenk zwei Brustpanzer, nach Inselart schwer und stark, aus Fasern geflochten. Der eine war von Tenkoruti, der andere von Tembaitake getragen worden, und da die Gabe dankbar entgegengenommen wurde, schickte er nach Rückkehr seines Boten noch einen dritten –den Tembinatakes. Meine Neugier wurde wach; ich bat ihn, von den drei Eigentümern zu erzählen, und der König erging sich mit Genuß in den oben geschilderten Einzelheiten. Eine seltsame Sache, daß er so viel von seiner Familie geredet hatte, ohne ein einziges Mal auch nur den Verwandten zu erwähnen, auf den er am meisten stolz war. Ja, mehr noch: er hatte mit seinem Vater geprahlt; von nun ab hatte er wenig über ihn zu berichten, und die Eigenschaften, deretwegen er ihn bisher gelobt hatte, wurden jetzt dem beigemessen, dem sie gebührten, seinem Onkel. Eine Verwechslung kommt bei Insulanern, die sämtliche Söhne eines Großvaters Vater zu nennen pflegen, sonst häufig genug vor. Aber das war bei Tembinok‘ nicht der Fall. Nun da das Eis gebrochen war, kehrte das Wort Onkel in seinem Munde immer wieder; er, der sie so bereitwillig verwechselt hatte, unterschied sie jetzt peinlichst, und der Vater sank allmählich zur Rolle des selbstzufriedenen Durchschnittsmenschen herab, der er gewesen war, während der Onkel sich zu der wahren Statur eines Helden und Begründers des Geschlechts aufrichtete.

Je mehr ich zu hören bekam, je mehr ich überlegte, um so stärker gab mir die Ungereimtheit in Tembinok’s Verhalten zu denken. Und die Erklärung, die endlich kam, hätte die Fantasie eines Dramatikers reizen können. Tembinok‘ hatte zwei Bruder. Der eine, den er darüber ertappte, daß er auf eigene Faust Handel trieb, wurde verbannt und dann begnadigt und lebt jetzt als Vater des künftigen Tronerben, Paul, auf der Insel. Der andere sündigte über jede Verzeihung hinaus. Ich hörte, daß er eine Liebesaffäre mit einer der Frauen des Königs hatte, eine in diesem sonst so romantischen Archipel vollkommen unmögliche Angelegenheit. Man versuchte, gegen Tembinok‘ Krieg zu führen; aber dieser war zu rasch für die Rebellen, und der schuldige Bruder entfloh in einem Kanoe. Obendrein ging er nicht allein. Tembinatake hatte sich an dem Aufstand beteiligt, und der Mann, der einem Schwächling von einem Bruder ein Königreich gewonnen hatte, wurde von jenes Bruders Sohn verbannt. Die Flüchtlinge gingen auf fremden Inseln an Land, und Tembinok‘ weiß bis auf den heutigen Tag nicht, was aus ihnen geworden ist.

So weit die Geschichte. Und hier setzt die Vermutung ein. Tembinok‘ verwechselte gewohnheitsmäßig nicht nur die Eigenschaften und Tugenden seines Vaters und seines Onkels, sondern auch ihre persönlichen Erscheinungen. Bevor er je von Tembinatake gesprochen hatte oder auch nur daran dachte, von ihm zu sprechen, hatte er mir seinen Vater als einen großen, hageren Mann, geschult in allen Künsten des Krieges und sein eigener Lehrmeister in der Genealogie sowie in den dortigen Künsten geschildert. Wie wenn nun beide seine Väter gewesen wären, der eine sein natürlicher, der andere sein Adoptivvater? Wie wenn der Erbe Tembaitakes, wie der Erbe Tembinok’s selbst, nicht der Sohn, aber ein adoptierter Neffe war? Wie wenn der Gründer der Monarchie, während er für seinen Bruder sich mühte, gleichzeitig auch für den Sohn seiner Lenden arbeitete? Wie wenn nach dem Tode Tembaitakes die beiden stärkeren Naturen, Vater und Sohn, König und Königsmacher, aneinander gerieten, und Tembinok‘, als er seinen Onkel vertrieb, seinen Erzeuger von der Insel jagte? Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir hier eine Tragödie in der vierten Potenz.

Der König, der sich zu dieser Gelegenheit die Admiralsuniform angelegt hatte, brachte uns in seiner eigenen Jolle an Bord. Er hatte wenig zu sagen, weigerte sich, irgendeine Erfrischung zu sich zu nehmen, schüttelte uns nur kurz die Hand und fuhr wieder an Land zurück. Noch in der gleichen Nacht versanken die Palmwipfel Apemamas im Meer, und der Schoner segelte einsam unter den Sternen hin.

 

Ende des Zweiten Bandes

Zweites Kapitel. Friedhofsgeschichten

Meinen abergläubischen Freunden, den Polynesiern gegenüber, bin ich, fürchte ich, nicht immer ganz aufrichtig gewesen, denn häufig gab ich als erster irgendeine Mär zum besten, und stets war ich ein ernsthafter, mitunter aber auch ein aufgeregter Zuhörer. Allein dieser kleine Betrug dürfte nicht sehr schwer wiegen, da es mir ebenso viel Freude machte, zuzuhören, wie ihnen, zu erzählen, und da ich so viel Gefallen an den Geschichten fand, wie sie an ihrem Aberglauben. Außerdem ist ein derartiger Betrug durchaus notwendig, denn es ist kaum möglich, die Vielseitigkeit und Macht ihres Aberglaubens zu übertreiben. Er formt ihr ganzes Leben und beeinflußt ihr Denken von Grund aus. Wenn sie nicht von Gespenstern, Göttern und Teufeln sprechen, spielen sie die Heuchler und reden nur mit den Lippen. Angesichts einer so völlig verschiedenen Gedankenwelt ist man gezwungen, auf die anderen Rücksicht zu nehmen, und mir ist es lieber, ich pflege ihren Aberglauben, als daß sie meine Ungläubigkeit nähren. Von einem bin ich außerdem überzeugt: mag ich ihnen noch so sehr nachgehen, niemals werde ich den ganzen Umfang ihres Aberglaubens kennenlernen, denn stets sind sie vor Leuten meinesgleichen auf der Hut, und ihre Sagenwelt ist schier unerschöpflich.

Ich will hier nur einige willkürliche Beispiele anführen, die ich in der Hauptsache auf meiner eigenen Türschwelle auf Upola im vergangenen Monat (Oktober 1890) erfuhr. Einer meiner Arbeiter wurde kürzlich nach dem Bananenhain geschickt, um dort zu graben. Der Hain lag in einer Senke zwischen den Bergen tief in den Wäldern verborgen, außer Sicht- und Rufweite von Menschen, und lange vor der Abenddämmerung stand Lafaele mit verlegener Miene bereits wieder neben der Küche: er hätte nicht gewagt, länger zu bleiben, er fürchte sich vor den Geistern im Busch. Es scheint, daß es die Seelen der unbegrabenen Toten sind, die sich dort aufhalten, wo sie starben, und jetzt die Formen von allerlei Waldgetier annehmen, von Ebern, Vögeln oder Insekten. Der Busch soll von ihnen wimmeln, sie essen anscheinend überhaupt nicht, sondern töten den einsamen Wanderer nur aus Bosheit, und mitunter ziehen sie auch in Menschengestalt ins Dorf hinab, um sich dort, unentdeckt zu den Lebenden zu gesellen. Das erfuhr ich wenige Tage später, als ich mit einem sehr intelligenten jungen Burschen, einem Eingeborenen, im Busch spazierenging. Es war kurz vor Mittag an einem grauen, stürmischen Tage, und ich hatte vielleicht etwas leichtfertig gesprochen. Da barst eine dunkle Wolke zwischen den Bergen, die Wälder bebten und ächzten, die welken Blätter stoben in Schwärmen wie Schmetterlinge dahin und mein Gefährte blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Er hätte Furcht, erklärte er, daß die Bäume stürzen könnten; kaum hatten wir jedoch unser Thema gewechselt, als er wieder munter drauflosschritt. Einige Tage zuvor war ein Bote mit einem Brief von Apia den Berg hinaufgekommen: ich war damals gerade im Busch gewesen, und er hatte meine Rückkehr sowie die Antwort abwarten müssen. Ich war noch nicht fertig, da brach er schon in schrille Klagen über die hereinbrechende Dunkelheit und den langen Weg durch den Wald aus. Das ist nun das gemeine Volk. Aber nehmen wir die Häuptlinge. In unserer Gruppe herrscht gerade ein großes Kommen und Gehen von Zeichen und Omina. Der eine Fluß führt Blut mit sich, in einem anderen fängt man rote Aale; ein unbekannter Fisch wurde in unserer Gegend an Land geworfen und auf seinen Schuppen stand ein verhängnisvolles Wort geschrieben. Das gleiche hätten wir noch ebensogut in irgendeiner mittelalterlichen Mönchschronik lesen können: jetzt kommt aber eine frische, zugleich moderne und polynesische Note. Die Götter von Upolu und Sawaii, unseren beiden Hauptinseln, haben erst kürzlich insgeheim einen Krickettmatch ausgefochten. Seitdem liegen sie miteinander im Kriege. Der Lärm der Schlacht rollt mitunter die ganze Küste entlang. Ein Weib sah einen Mann aus dem offenen Meer an das Ufer schwimmen und im Busch verschwinden; er stammte nicht irgendwoher aus der Nachbarschaft, nein, man wußte, es war einer der Götter auf dem Wege zu einer Ratsversammlung. Und, was das Auffallendste von allem ist, ein Missionar aus Sawaii, der gleichzeitig Arzt ist, wurde erst kürzlich in der Nacht durch Klopfen geweckt. Es war gar nicht die Zeit seiner Sprechstunde, aber schließlich wachte er doch auf und schickte jemanden hin, um nachzufragen. Als der Diener aus dem Fenster schaute, sah er eine große Menge Menschen, alle schwerverletzt, mit abgerissenen Gliedern, eingeschlagenen Köpfen und blutenden Schußwunden; aber als das Tor geöffnet wurde, waren sie alle verschwunden. Selbstverständlich waren es die Götter, die von dem Kampfplatz heimkehrten.

Diese Gerüchte haben natürlich ihre Bedeutung; unschwer lassen sie sich auf politisch Mißvergnügte zurückführen und leicht kann man in ihnen Anzeichen kommender Gefahren lesen; von dieser rein menschlichen Seite aus betrachtet, fand ich sie auch nicht ungefährlich. Doch wurde gerade ihre geistige Seite in geheimen Beratungen von höher gestellten Personen meiner Bekanntschaft erörtert. Am besten lassen sich die verschiedenen Gesichtspunkte des Polynesiers in zwei miteinander zusammenhängenden Vorfällen schildern. Ich wohnte einmal in einem Dorfe, dessen Namen ich nicht zu nennen brauche. Der Häuptling und seine Schwester waren durchaus kluge Menschen: adlig und sehr redegewandt. Die Schwester war streng religiös, eine eifrige Kirchenbesucherin, die mir Vorwürfe machte, wenn ich dem Gottesdienste fernblieb. Später erfuhr ich, daß sie insgeheim einen Hai anbetete. Der Häuptling selbst war etwas von einem Freidenker, zum mindesten ein toleranter Mann; dabei besaß er zahlreiche europäische Kenntnisse und Fertigkeiten sowie eine passive, philosophische Ironie. Ebensogut hätte ich in Herbert Spencer irgendeinen Aberglauben vermuten können. Nun aber kommt die Fortsetzung. Durch untrügliche Zeichen war ich darauf aufmerksam geworden, daß man die Leute auf dem Friedhof nicht tief genug verscharrte, und ich sprach mit meinem Freunde als mit der zuständigen Amtsperson darüber. »Etwas ist mit Ihrem Friedhof nicht in Ordnung,« sagte ich, »Sie müssen sich darum kümmern, sonst kann es sehr üble Folgen haben.« »Nicht in Ordnung? Was denn nur?« lautete seine Frage, die mit einer Erregung ausgesprochen wurde, welche mich in Erstaunen setzte. »Falls Sie mal an irgendeinem Abend so gegen neun Uhr da vorbeikommen wollen, können Sie sich selbst davon überzeugen«, erwiderte ich. Er wich einen Schritt zurück. »Ein Gespenst!« schrie er.

Kurz und gut, in der ganzen Südsee hat keiner das Recht, dem anderen Vorwürfe zu machen. Ob Halbblut oder ganz schwarz, ob fromm oder lasterhaft, intelligent oder dumm, alle glauben an Geister, alle verbinden mit ihrem jungen Christentum die Furcht vor den alten Inselgottheiten und den zähen Glauben an sie. So sind auch in Europa die Götter des Olymps allmählich zu Dorfpopanzen zusammengeschrumpft; so stiehlt sich auch heute noch der kirchengläubige Hochländer vor den Augen des Geistlichen hinweg, um an irgendeinem heiligen Brunnen sein Opfer niederzulegen.

Ich suche den ganzen Fragenkomplex an dieser Stelle zu behandeln, weil der paumotische Aberglaube von ganz besonderer Art ist. Allerdings lernte ich ihn auch durch einen Menschen kennen, der ein ausgesprochenes Talent für derartige Geschichten besitzt. Abends, eng um unsere Lampe geschart, das Geräusch der Brandung in unseren Ohren, hingen wir aufgeregt an seinen Lippen. Meine Leser, in einer so ganz anderen Umgebung, müssen scharf aufpassen, um ein leises Echo hiervon zu vernehmen.

Der ganze Kreis unheimlicher Geschichten entsprang dem Begräbnis und der egoistischen Beschwörung jener Frau. Ich war unbefriedigt von dem, was man mir gesagt hatte, kam immer wieder auf diese Fragen zu sprechen und stieß endlich auf eine ergiebige Ader. Von Sonnenuntergang bis etwa vier Uhr morgens müssen die Verwandten des Toten auf dem Grabe Wache halten, denn dies sind die Stunden, in denen der Geist umgeht. Jederzeit in der Nacht – früher oder später – kann man in der Erde ein Geräusch hören, das das Zeichen seiner Befreiung ist; pünktlich um vier Uhr folgt ein zweites Geräusch, das seine Rückkehr in die Gefangenschaft ankündigt, dazwischen treibt der Geist sein Unwesen. »Haben Sie je einen bösen Geist gesehen?« fragte ich einmal einen Paumoten. »Ein einziges Mal.« »In welcher Gestalt?« »In der Gestalt eines Kranichs.« »Und woher wußten Sie, daß der Kranich ein Geist war?« »Das werde ich Ihnen sagen«, erwiderte er, und erzählte folgende konfuse Geschichte. Sein Vater war vor etwa vierzehn Tagen gestorben, die anderen hatten das Wachen satt bekommen und als die Sonne unterging, befand er sich allein auf dem Grabe. Noch war es nicht dunkel, der Widerschein spendete noch etwas Helle, da bemerkte er auf einer Korallenbank einen schneeweißen Kranich. Allmählich kamen immer mehr Kraniche dazu, weiße und schwarze, dann verschwanden sie wieder und an ihrer Stelle sah er eine weiße Katze. Zu dieser Katze gesellte sich eine ungeheure Menge Katzen von jeder nur möglichen Farbe, bis auch diese verschwanden, und er verwundert zurückblieb.

Das war eine tröstliche Erscheinung. Nehmen wir statt dessen das Erlebnis Rua-a-mariterangis von der Insel Katiu. Rua brauchte einige Pandanen und ging auf die andere Seite der Insel, an den Meeresstrand, wo sie in Mengen wachsen. Der Tag war windstill, daher wunderte sich Rua, im Busch ein krachendes Geräusch und den Fall eines großen Baumes zu hören. Hier muß einer am Werke sein, sich ein Kanoe zu bauen, dachte er, und er betrat den Saum des Waldes, um mit seinem zufälligen Nachbarn einen kleinen Schwatz zu halten. Das Krachen klang immer näher, und dann merkte er, wie etwas aus den Baumwipfeln rasch auf ihn zu kam. Das Etwas baumelte mit dem Kopf nach unten und hielt sich wie ein Affe mit den Zehen fest, so daß seine Hände für jede Mordtat frei waren; es hing auch an den dünnsten Zweigen noch sicher, die Schnelligkeit mit der es sich näherte, war kaum zu glauben und bald erkannte Rua, daß es eine Leiche war, furchtbar durch ihr Alter, der die Eingeweide aus dem Leibe hingen. Gebet war das Mittel, zu dem unsere Christen im Mittelalter bei Geistererscheinungen ihre Zuflucht nahmen, und dem Gebet schreibt auch Rua-a-mariterangi seine Rettung zu. Eine rein irdische Waffe hätte ihm niemals helfen können.

Der Dämon war, kein Zweifel, dem Grabe entstiegen, obwohl es, wie man bemerkt haben wird, heller Tag war. Und wenn die Erscheinung auch im Widerspruch steht zu dem, was man über die Stunden der Nachtwache und den immer wieder erwähnten Morgenstern erzählt, so bildet sie doch durchaus nicht die einzige Ausnahme. Zwar habe ich niemals wieder gehört, daß jemand diesem mittäglichen Baumgeist begegnet wäre, andere aber haben den Sturz des Baumes vernommen, der das Signal seines Kommens zu sein scheint. Mr. Donat nahm einmal an einer Perlenfischerei auf der unbewohnten Insel Haraiki teil. Es war ein vollkommen ruhiger Tag, wie er in dem ganzen Archipel mit Tagen rauhen Windes abwechselt. Die Taucher befanden sich in der Mitte der Lagune bei der Arbeit, der Koch, ein zehnjähriger Junge, hantierte im Lager mit seinen Töpfen herum. So waren sämtliche Anwesende bis auf einen Eingeborenen, der Mr. Donat auf der Suche nach Vogeleiern begleitete, beschäftigt. Da hörten sie ganz plötzlich in der großen Stille den Fall eines mächtigen Baumes. Donat wollte weitergehen, um die Ursache zu ergründen, aber sein Begleiter rief: »Nein, das war kein Baum. Da stimmt etwas nicht, wir wollen in das Lager zurückkehren.« Am nächsten Sonntag wurden sämtliche Taucher ausgeschickt, um die Insel zu durchsuchen, und tatsächlich war auch kein Baum gefallen. Kurz danach sah Mr. Donat auf der nämlichen Insel einen seiner Taucher vor einem ähnlichen Geräusch in ähnlicher, echter Panik fliehen. Aber keiner wollte sich näher erklären, und erst später, als er mit Rua zusammenkam, erfuhr Donat den Grund ihres Schreckens.

Indessen bleibt der Zweck, den die Toten mit ihrem furchtbaren Wirken verfolgen, einerlei ob sie bei Tage oder in der Nacht erscheinen, stets der gleiche. Mein Gewährsmann auf Samoa hatte keine Ahnung, wovon die Buschgeister sich nährten; auf den Paumotu herrscht jedoch in dieser Beziehung keinerlei Unklarheit. In jenem stets hungrigen Archipel müssen die Toten wie die Lebenden um ihre Nahrung kämpfen, und da die Rasse in der Vergangenheit kannibalisch war, sind die Geister es auch heute noch. Da doch die Lebenden die Toten verzehrten, folgerte die erschreckte mitternächtliche Phantasie daraus, daß auch die Toten die Lebenden essen könnten. Zweifellos töten, ja verstümmeln die Geister die Menschen manchmal aus schierer Bosheit. Die marquesanischen Gespenster reißen zum Beispiel den Reisenden die Augen aus. Aber selbst das beruht vielleicht auf konkreteren Tatsachen, als man auf den ersten Blick annehmen möchte, denn das Auge gilt überall bei Kannibalen als ein Leckerbissen, und ohne Frage ist das Grundmotiv dieser Toten, die des Nachts umherstreifen, die Jagd nach Nahrung. Auch jenes Weib bei der Beerdigung pries Donat als einen delikaten Bissen an. Außerdem gibt es noch Geister, die es sich zur Spezialität machen, sich nicht von den Leibern, sondern von den Seelen der Toten zu ernähren. Das geht klar aus einer tahitischen Geschichte hervor. Ein Kind erkrankte, siechte schnell dahin und zeigte endlich alle Anzeichen des nahenden Todes. Da eilte die Mutter zu einem Zauberer, der in der Nähe wohnte. »Du kommst gerade noch zur rechten Zeit,« meinte der, »eben ist ein Geist an meiner Tür vorbeigelaufen, der die Seele deines Kindes in ein Puraoblatt gewickelt forttrug; aber ich habe einen Geist, der stärker ist und noch schneller läuft als er; der wird ihn einholen, bevor er Zeit hat, sie zu essen.« – In ein Blatt gewickelt: Wie alle eßbaren und dem Verfall ausgesetzten Dinge!

Oder nehmen wir einen Vorfall, der Mr. Donat auf der Insel Anaa zustieß. Es war in einer sehr stürmischen Nacht, der Wind fegte in Böen daher; das Kind war schwer krank, und der Vater lag, obwohl er zu Bett gegangen war, wach und lauschte auf den Sturm. Ganz plötzlich wurde eines seiner Hühner heftig gegen die Wand des Hauses geschleudert. In der Annahme, daß er vergessen hätte, es mit den anderen unter Dach und Fach zu bringen, stand Donat auf, fand das Tier (einen Hahn) auf der Veranda liegen und tat es in den Hühnerstall, dessen Tür er fest hinter ihm verriegelte. Fünfzehn Minuten später wiederholte sich die Geschichte mit dem einzigen Unterschied, daß das Tier diesmal, als es gegen die Wand geschleudert wurde, aufkrähte. Wieder brachte Donat es in den Stall, wobei er diesen genau untersuchte und feststellte, daß alles in Ordnung war. Während er noch damit beschäftigt war, blies der Wind das Licht aus und er mußte sich, ziemlich nervös geworden, zur Tür zurücktasten. Noch ein drittes Mal wurde der Vogel gegen die Wand geworfen, und zum drittenmal brachte Donat ihn in halbtotem Zustande zu dem übrigen Geflügel zurück. Kaum hatte er aber das Haus wieder erreicht, als irgend etwas mit der Kraft eines starken Mannes gegen die Tür stürmte und ein Pfeifen rings um das Haus ertönte, so laut wie von einer Lokomotive. Der skeptische Leser wird hierin nur die Anzeichen des wütenden Sturmes erkennen, die Frauen jedoch glaubten, alles wäre verloren und saßen wehklagend aneinandergedrängt auf den Betten. Nichts weiter geschah, und ich nehme an, daß das Unwetter allmählich nachließ, denn nach einer Weile kam ein Häuptling zu Besuch. Er war ein kühner Mann, daß er so spät noch auf den Beinen, war und trug zweifellos eine helle Laterne. Jedenfalls war er ein weiser Mann, denn kaum hatte er die Einzelheiten dieser Störungen gehört, als er sie auch schon erklärte. »Dein Kind«, sagte er, »wird sicherlich sterben. Das ist der böse Geist unserer Insel, der auf der Lauer liegt, um die Geister der soeben Verstorbenen zu verschlingen.« Und dann fuhr er fort, sich über das seltsame Benehmen des Geistes zu wundern. Gewöhnlich, meinte er, wäre er gar nicht so offen in seinen Angriffen, meist säße er stumm auf dem Dache auf der Lauer, und zwar in Gestalt eines Vogels, während die Insassen, ohne an irgend eine Gefahr zu denken, die Sterbenden pflegten oder die Toten beweinten. Wenn dann aber der Tag graute, die Türen geöffnet würden und die Menschen ausgingen, verrieten Blutflecke an der Wand die schreckliche Tragödie.

Hier findet sich das wieder, was ich an den paumotischen Sagen bewundere. Auf Tahiti soll der Seelenfresser eine Erscheinungsform wählen, die zwar viel pompöser, aber weit weniger grausig ist. Menschen jeder Art und jedes Standes, Eingeborene wie Ausländer, haben ihn gesehen; nur behaupten die letzteren, daß er ein Meteor sei. Mein Gewährsmann war dessen aber nicht ganz so sicher. Einst war er mit seiner Frau um zwei Uhr morgens auf einem Ritt unterwegs; beide kämpften gegen den Schlaf an, und den Pferden ging es auch nicht viel besser. Es war eine strahlend helle, stille Nacht, und der Weg führte sie über den Berg dicht an einem verödeten Marae (alten tahitischen Tempel) vorbei. Plötzlich zog die Erscheinung in Form eines gewissen Lichts mit rundem, grünlich schimmerndem Kopf, langem roten Schweif und einem Brennpunkt von noch tieferer Röte in seinem Inneren über ihre Köpfe hinweg. Ein surrendes Geräusch begleitete dies Fliegen, und die Erscheinung bewegte sich direkt von dem einen Marae auf einen anderen tiefer am Berge gelegenen zu. Das aber, behauptete mein Gewährsmann, sei überaus vielsagend. Denn weshalb sollte ein bloßer Meteor die Altäre der verruchten Götter heimsuchen? Ich muß noch hinzufügen, daß die Pferde nicht weniger erschrocken waren als die Reiter. Ich dagegen bin nicht im geringsten, nicht einmal angenehm erschreckt. Da ziehe ich schon den Vogel aus dem Dachfirst und die morgendlichen Blutspritzer an der Wand vor.

Die Toten sind in ihrer Nahrung durchaus nicht wählerisch. Insbesondere nehmen sie ins Grab die polynesische Vorliebe für Fische mit, und manchmal lassen sie sich sogar mit den Lebenden auf eine Partnerschaft im Fischen ein. Rua-a-mariterangi ist hier wiederum mein Gewährsmann; ich fühle zwar, daß dies das Gewicht der von mir zu schildernden Tatsachen vermindert, wie wundervoll baut diese Geschichte indes die Gestalt jenes unverbesserlichen alten Geistersehers auf! Rua gehört zu der jämmerlich armen Insel Taenga, trotzdem war seines Vaters Haus stets reichlich mit Fischen versorgt. Als Rua erwachsen war, wurde er endlich aufgefordert, mit seinem Glückspilz von Vater fischen zu gehen. So ruderten sie denn in der Abenddämmerung an eine abgelegene Stelle der Lagune, der Junge streckte sich am Heck aus und der Vater begann vor seinen Augen die Angelschnur auszuwerfen. Es ist anzunehmen, daß Rua jetzt einschlief. Jedenfalls saß, als er erwachte, eine fremde Gestalt neben seinem Vater, und sein Vater war dabei, so schnell er nur konnte Fische über Fische an Bord zu ziehen. »Wer ist jener Mann, Vater?« fragte Rua. »Das geht dich nichts an«, antwortete sein Vater, und Rua nahm an, der Fremde wäre vom Ufer her zu ihnen herübergeschwommen. Nacht für Nacht fuhren sie nun auf die Lagune zu den einsamsten Stellen hinaus; Nacht für Nacht tauchte der Fremde plötzlich unter ihnen auf, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden, und Morgen für Morgen kam das Kanoe mit Fischen beladen heim. »Mein Vater ist wirklich ein Glückspilz«, dachte Rua. Endlich, eines schönen Tages, erhielten sie Besuch von einer, dann einer zweiten Schiffsgesellschaft, die bewirtet werden mußten; Vater und Sohn brachen später als gewöhnlich nach der Lagune auf, und ehe das Kanoe an Ort und Stelle war, war es bereits vier Uhr geworden und der Morgenstern stand dicht unter dem Horizont. Da schien der Fremde von einem plötzlichen Unbehagen befallen; er drehte sich um und wandte zum erstenmal Rua das Gesicht eines Menschen zu, der lange schon tot ist, mit weit aufgerissenen, leuchtenden Augen. Dann starrte er lange Zeit nach Osten, blies auf seine Fingerspitzen wie einer, den es friert, stieß einen seltsamen, schauerlichen Ton aus, der halb ein Pfeifen, halb ein Stöhnen war, und bei dem einem das Blut in den Adern gerann, und zerfloß, gerade in dem Augenblick als der Morgenstern aus dem Meere auftauchte, plötzlich in Nichts. Jetzt verstand Rua, weshalb es seinem Vater so gut ging, weshalb seine Fische in der Morgenfrühe verfaulten und weswegen immer etliche davon auf den Friedhof getragen und auf die Gräber gelegt wurden. Nun war zwar mein Gewährsmann ganz entschieden kein Feind des Aberglaubens, trotzdem blieb er stets nüchtern und bezeugte für derartige Dinge ein gewisses überlegenes Interesse, das ich mit gutem Recht als wissenschaftlich bezeichnen kann. Da also der letzte Punkt ihn an einen ähnlichen Brauch auf Tahiti erinnerte, fragte er Rua, ob die Fische auf den Gräbern liegen gelassen wurden, oder ob man sie nur scheinbar opferte und dann wieder mit sich nähme? Es stellte sich heraus, daß der alte Mariterangi beides tat; manchmal brachte er seinem schattenhaften Partner lediglich ein Scheinopfer dar, mitunter ließ er seine Fische aber auch ganz ehrlich auf dem Grabe vermodern.

Es ist klar, daß wir in Europa ähnliche Geschichten kennen: der polynesische »varua ino« oder »aitu o le vao« ist offenbar ein naher Verwandter des transsylvanischen Vampyrs. Aus der nachstehenden Geschichte gehen die nahen Beziehungen beider deutlich hervor. Auf dem damals zum Teil noch unzivilisierten Atoll Penrhyn lebte einst ein Häuptling, der lange Zeit ein heilsamer Schrecken der Eingeborenen war. Er starb und wurde begraben; kaum hatten jedoch seine bisherigen Nachbarn die Süßigkeit ihrer Freiheit gekostet, als auch schon sein Geist im Dorfe umging. Furcht packte sie alle; aus den wichtigsten Männern und Zauberern wurde ein Rat gebildet und mit Genehmigung Rarotongans, des Missionars, der nicht minder ins Bockshorn gejagt war als die anderen, sowie in Gegenwart verschiedener Weißer – darunter auch meines Freundes Mr. Ben Hird – wurde das Grab geöffnet, vertieft, bis man auf Wasser stieß, und die Leiche mit dem Gesicht nach unten neu eingegraben. Das Pfählen von Selbstmördern in England, wie es vor kurzem noch Sitte war, sowie das Köpfen der Vampyre im östlichen Europa bilden enge Parallelen hierzu.

Auf Samoa fürchtet man sich nur vor den unbegrabenen Toten. Während des letzten Krieges sind viele im Busch gefallen; ihre Leichen wurden mitunter geköpft, von den eingeborenen Pastoren eingeholt und begraben; das genügte jedoch aus irgendeinem Grunde nicht, jeder Geist fuhr fort, auf dem Schauplatz seines Ablebens zu spuken. Als der Friede erklärt wurde, spielten sich an manchen Orten, hauptsächlich aber in der Nähe der hochgelegenen Schluchten von Lotoanuu, wo die Kämpfe sich konzentriert hatten und die Verluste am heftigsten gewesen waren, merkwürdige Szenen ab. Die weiblichen Verwandten der Toten kamen, von den Überlebenden des Kampfes begleitet, mit Matten oder Laken beladen. Die Stellen, wo die Betreffenden gefallen waren, wurden sorgfältig erforscht, dann wurde das Laken auf dem Boden ausgebreitet und die Frauen hielten, von pietätvoller Sorge getrieben, daneben Wacht. Wenn irgendein Lebewesen sich darauf niederließ, wurde es die ersten beiden Male verscheucht, das drittemal jedoch wußte man, daß es der Geist des Toten war; es wurde daher eingefangen, nach Hause gebracht und neben der Leiche begraben. Damit hatte der Aitu seine Ruhe gefunden. Diese Zeremonie entsprang sicherlich den schlichtesten, frommsten Motiven; sie hatte zum Ziel den Frieden der Seele, der Beweggrund war pietätvolle Liebe. Der gegenwärtige König will jedoch nichts von den gefährlichen Aitus wissen; er erklärt, die Seelen der Unbegrabenen wanderten lediglich im Fegefeuer umher, unglücklich wohl, ohne die Möglichkeit, das eigentliche Totenland zu erreichen, aber in keiner Hinsicht schädlich. Diese streng klassische Auffassung spiegelt zweifellos den Standpunkt der Aufgeklärten wider, während die Flucht meines Lafaeles die gröberen Schrecken der Unwissenden zum Ausdruck bringt.

Der Glaube an die exorzierende Kraft der Grabriten erklärt vielleicht die an sich sonst erstaunliche Tatsache, daß kein Polynesier das Grauen des Europäers vor menschlichem Gebein und Mumien teilt. Aus dem einen stellte er früher die geschätztesten Schmuckstücke her; man pflegte es in den Häusern oder in Gräberhöhlen aufzubewahren, ja, die Wächter des königlichen Grabes wohnten mit ihren Kindern unter den Gebeinen zahlreicher Generationen von Verstorbenen. Die Mumien wurden selbst während der Herstellung ebensowenig gefürchtet. Auf den Marquesas, in den Siedlungen unmittelbar an der Küste, wurden sie von den Mitgliedern des Haushaltes eigenhändig wiederholt geölt und dem Sonnenlicht ausgesetzt, um sie herzurichten; auf den Karolinen werden sie auch heute noch in dem Rauchfang des Familienherdes konserviert. Außerdem ist die Kopfjägerei noch hart an der Türschwelle meines Hauses auf Samoa zu Hause, und zehn Jahre ist es her, daß auf den Gilbertinseln die Witwe verpflichtet war, den Schädel ihres toten Gatten eigenhändig auszugraben, zu reinigen, zu polieren und dann Tag und Nacht mit sich herumzutragen. In allen diesen Fällen können wir annehmen, daß der Vorgang, entweder des Trocknens oder des Reinigens, den Aitu völlig exorziert.

Der paumotische Glaube ist jedoch weniger klar. Hier wird der Mann ordnungsgemäß begraben und muß von nun an bewacht werden. Er wird auch bewacht, trotzalledem geht sein Geist um. In der Tat ist es nicht der Zweck dieser Wachen, derartige Wanderungen zu verhüten; sie sollen vielmehr durch höfliche Aufmerksamkeit die inhärente Bosheit des Toten besänftigen. Vernachlässigung kann – so nimmt man an – ihn ärgern und seine Verfolgungen heraufbeschwören, daher wägen die Alten und Schwachen das Risiko mitunter ab und ziehen es vor, zu Hause zu bleiben. Man vergesse nicht, daß es des Toten eigene Sippe und nächste Freunde sind, die so seinen bösen Willen durch ihre Nachtwachen milde stimmen. Selbst diese beschwichtigende Zeremonie gilt als gefährlich, es sei denn, daß zahlreiche Personen daran teilnehmen; in Rotoava wurde mir eines Tages ein Junge eigens deshalb vorgeführt, weil er ganz allein neben seines Vaters Grab gewacht hatte. Weder die verwandtschaftlichen Bindungen des Toten noch sein im Leben bewiesener Charakter vermögen den Ausgang zu beeinflussen. Einer der verflossenen Gouverneure, der auf Fakarava an den Folgen eines Sonnenstichs starb, war zu seinen Lebzeiten sehr beliebt und steht auch heute noch im liebevollen Andenken der Leute, trotzdem geht sein Geist, mit allen Schrecken des Todes bekleidet, auf der Insel um, so daß die Nachbarschaft des Regierungssitzes in der Dunkelheit ängstlich gemieden wird. Ja, diese heitere Lehre läßt sich wie folgt zusammenfassen: Alle Menschen werden Vampyre, und die Vampyre verschonen niemanden. Aber hier stehen wir plötzlich einer gewinnenden Ausnahme gegenüber: die Geister der Pfeifer sind ausgesprochene Stammesgeister. Wenn ich mich nicht irre, umgeben und unterrichten sie einzig ihre Stammesverwandten, und das Medium ist stets von dem Geschlecht des sich mitteilenden Geistes. So sehen wir denn einerseits die Bande der Familie mit dem Tode abgeschnitten, andererseits aber auch in hilfreicher Weise über ihn hinaus weiterbestehen.

Nach der tahitischen Sage war die Seele des Kindes in Blätter eingepackt. Die Geister der Frischverstorbenen gelten nämlich als besondere Delikatesse. Wenn sie getötet werden, wird das Haus mit Blut bespritzt. Ruas toter Fischer befand sich in der Auflösung; zersetzt – und zwar in furchtbarer Weise zersetzt – war auch sein Baumgeist. Die Geister sind also materielle Wesen, und nur durch die materiellen Anzeichen der Verwesung unterscheiden sie sich von den lebenden Menschen. Diese so weit verbreitete Ansicht gesellt dem stark Grausigen, das in den widerwärtigsten polynesischen Sagen zum Ausdruck gelangt, noch einen besonders abstoßenden Zug hinzu, den manchmal auch die liebenswürdigsten Einzelheiten nicht zu mildern vermögen. Ich führe zu diesem Zweck zwei ziemlich weit auseinanderliegende Beispiele aus Tahiti und Samoa an.

Zuerst das tahitische. Ein Mann ging einst auf Besuch zu dem Gatten seiner Schwester, die schon seit längerer Zeit verstorben war. Zu ihren Lebzeiten war die Schwester nach Inselart stets zierlich gekleidet gegangen mit einem Blumenkranze auf dem Kopf. Mitten in der Nacht wachte nun der Bruder durch einen überirdisch lieblichen Duft auf, der im Hause hin und her schwebte. Die Lampe wird wohl ausgebrannt gewesen sein, denn kein Tahitier würde sich im Dunkeln niedergelegt haben. Eine Weile lag er so voller Entzücken, dann rief er auch die anderen herbei. »Riecht keiner von euch den Blumengeruch?« erkundigte er sich. »O ja,« erwiderte sein Schwager, »daran sind wir hier gewöhnt.« Am folgenden Morgen gingen die beiden Männer spazieren, und der Witwer gestand seinem Schwager, daß seine Frau ständig das Haus besuche, ja, daß er sie einmal sogar gesehen hätte. Sie hätte die gleiche Gestalt und Kleidung wie zu ihren Lebzeiten gehabt, und sei auch mit Blumen geschmückt gewesen: nur hätte sie sich leicht schwebend ein paar Zoll über dem Erdboden bewegt und sei auch trockenen Fußes über den Flußspiegel geglitten. Und jetzt kommen wir zu dem fraglichen Punkte: Stets habe sie nur ihre Rückseite gezeigt, und die Schwäger wurden sich, während sie die Sache erörterten, einig, das hätte seinen Grund darin, daß sie die Spuren der Verwesung verbergen wolle.

Und nun meine samoanische Geschichte. Ich verdanke sie der Freundlichkeit des Herrn Dr. F. Otto Sierich, dessen Sammlung folkloristischer Erzählungen ich mit Spannung entgegensehe. Ein Mann auf Manu’a hatte zwei Frauen geehelicht, ohne Kinder von ihnen zu bekommen. Er ging daher nach Sawaii, heiratete dort ein drittes Mal und hatte mehr Glück. Als seine Frau ihre Stunde kommen fühlte, erinnerte er sich, daß er hier in einem fremden Lande nur ein armer Mann sei, und daß er sich, wenn das Kind geboren würde, wegen der Geringfügigkeit seiner Geschenke schämen müßte. Vergeblich suchte seine Frau ihn von dem Gegenteil zu überzeugen. Er kehrte zu seinem Vater nach Manu’a zurück, um bei ihm Hilfe zu suchen, und machte sich mit dem, was er in der Eile erraffen konnte, noch in der gleichen Nacht auf den Rückweg. Nun hatten aber seine Frauen von seinem Kommen erfahren; sie waren zornig, daß er nicht blieb, um sie zu besuchen, fingen ihn am Strande bei seinem Kanoe ab und töteten ihn. Währenddessen lag seine dritte Frau in Sawaii im Schlaf; ihr Kind war inzwischen geboren worden und schlummerte an ihrer Seite; da wurde sie von dem Geiste ihres Gatten geweckt. »Stehe auf,« sagte er, »mein Vater liegt krank auf Manu’a, wir müssen ihn besuchen.« »Gut,« sagte sie, »nimm du das Kind, während ich die Matten trage.« »Ich kann das Kind nicht nehmen,« antwortete der Geist, »ich bin vom Meere her zu kalt.« Als sie an Bord waren, roch die Frau den Leichengeruch. »Wie kommt das?« fragte sie. »Was hast du in dem Kanoe, denn ich spüre Leichengeruch?« »Nichts ist in dem Kanoe«, entgegnete der Geist. »Es ist nur der Landwind, der von den Bergen weht, wo irgendein Tier verendet ist.« Es scheint noch dunkel gewesen zu sein, als sie Manu’a erreichten – wohl die rascheste Überfahrt, die je gemacht wurde – denn als sie in das Innere des Riffes einfuhren, sahen sie die Totenfeuer im Dorfe brennen. Wieder bat sie ihn, das Kind zu tragen, jetzt aber brauchte er sich nicht mehr zu verstellen. »Ich kann dein Kind nicht tragen,« sagte er, »denn ich bin tot, und die Feuer, die du brennen siehst, sind die Feuer meines Begräbnisses.«

Wer neugierig ist, kann in Dr. Sierichs Buch den unerwarteten Ausgang dieser Geschichte lesen. Das Obige genügt für meine Zwecke. Obwohl der Mann eben erst gestorben war, war sein Geist doch schon verwest, als ob Verwesung das Merkmal, ja die Quintessenz der Geister sei. Die Totenwache auf den Paumotu dauert nur zwei Wochen, und man sagte mir, dieses sei die Zeit, die eine Leiche zur Auflösung brauche. Der Geist, der stets die Zeichen der Verwesung an sich trägt – Gefahr, die mit dem Zerfallsprozeß ihr Ende zu nehmen scheint – hier bieten sich verführerische Möglichkeiten von Kombinationen für einen Liebhaber von Theorien. Doch all solche Theorien sind unhaltbar. Die Dame mit den Blumen war schon lange tot und ihr Geist trug angeblich immer noch die Zeichen der Vergänglichkeit an sich. Der Gouverneur war weit über vierzehn Tage in der Erde verscharrt und ging als Vampyr noch immer um.

Von dem Herumirren der Toten im Fegefeuer, von der wüsten mangaischen Sage zu erzählen, nach der es infernalische Gottheiten gibt, die die Seelen aller Verstorbenen verzaubern und vernichten, von den verschiedenen submarinen und ätherischen Zwischenwelten zu berichten, wo die Toten schwelgen, müßig umherschweben oder die Beschäftigungen ihres Daseins auf Erden wieder aufnehmen, würde ermüdend sein. Nur eine Geschichte möchte ich noch anführen, denn sie ist nicht nur an sich recht sonderbar und auf Tahiti weit verbreitet, sondern hat das Interessante für sich, daß sie aus der nachchristlichen Ära stammt, also erst wenige Jahre alt ist. Eine Prinzessin aus regierendem Hause war gestorben und wurde nach der Nachbarinsel Raiatea überführt. Dort verfiel sie der Herrschaft eines Geistes, der ihr befahl, den ganzen Tag über auf Kokospalmen herumzuklettern und ihm Nüsse zu pflücken; eines Tages aber wurde sie von einem zweiten Geist aus ihrer eigenen Familie in dieser elenden Sklaverei entdeckt und auf ihre Klagen hin nach Tahiti zurückgebracht, wo ihr Leib zwar immer noch bewacht wurde, sie ihn aber durch die herannahende Verwesung aufgedunsen vorfand. Ein lebendiger Zug an dem Märchen ist die Tatsache, daß die Prinzessin beim Anblick ihres so entstellten und entehrten Tabernakels bat, doch lieber endgültig unter die Toten gerechnet zu werden. Dafür war es aber anscheinend schon zu spät, ihr Geist wurde durch den wenigst würdevollen Eingang in den Leib zurückbefördert, und ihre erschrockenen Verwandten sahen, wie der Körper sich bewegte. Die scheinbar dem Fegefeuer zugehörigen Arbeiten, die die Prinzessin verrichten mußte, sowie ihr Grauen vor dem faulenden Leichnam sind beides recht auffallende Einzelheiten.

Die Wahrheit ist, daß alle diese Geschichten einander in vielen Punkten widersprechen, und sie werden außerdem noch für den Fremden durch eine geheimnisvolle Sprache verdunkelt. Gespenster, Vampyre, Geister und Götter werden miteinander verwechselt. Und doch glaube ich zu erkennen, daß (mit einigen Ausnahmen) jene, die wir unter die Götter rechnen können, die wenigst boshaften sind. Zwar geht eine Reihe von Dauergeistern, die auch Morde verüben, in einigen Winkeln Samoas um, aber jene legitimen Götter von Upolu und Sawaii, deren Kriege und Kricketturniere vor kurzem erst die Gesellschaft erschütterten, waren, soweit ich ersehen konnte, nicht besonders oder zum mindesten nicht in dem Maße gefürchtet. Der Geist von Anaa, der sich von Seelen nährte, ist zwar entschieden ein etwas unbehaglicher Zeitgenosse, aber die hohen Götter des Archipels erscheinen doch im ganzen hilfreich. Mahinui – nach dem unser Sträflingskatechet getauft war – Gott des Meeres und wie Proteus mit einer endlosen Menge von dienenden Gottheiten umgeben – pflegt zum Beispiel Schiffbrüchigen zu Hilfe zu kommen und sie in Gestalt eines Regenbogenfisches an Land zu tragen. Die gleiche Gottheit trug auch die Priester von einer Insel des Archipels zur anderen, ja, noch in diesem Jahrhundert hat man Menschen mit seiner Hilfe fliegen sehen. Die Titulargottheit jeder Insel ist gleichfalls hilfsbereit und kündet durch eine bestimmte keilförmige Wolke am Horizont das Kommen eines Schiffes an.

Wer diese Atolle richtig vor sich sieht, so schmal, so unfruchtbar, so allseits hart vom Meere bedrängt, dem will es scheinen, als herrsche hier ein Überreichtum an gespensterhaften Einwohnern. Aber mit denen, die ich aufgezählt habe, ist ihre Zahl noch nicht erschöpft. Aus den verschiedenen salzigen Tümpeln und Teichen kann man schöne Frauen mit langem roten Haar aufsteigen und sich baden sehen, nur sind sie furchtsam wie die Mäuse und tauchen, sowie sie einen Schritt auf der Koralle herannahen hören, auf Nimmerwiedersehen im Wasser unter. Man kennt sie als gesunde, harmlose Lebewesen, Bewohner einer unterirdischen Welt; die gleiche Vorstellung herrscht auch auf Tahiti, wo sie ebenfalls rote Haare haben. Tetea ist ihr tahitischer, Mokurea ihr paumotischer Name.