Siebzehntes Kapitel

Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshause zu Selby Royal im Gespräch mit der hübschen Herzogin von Monmouth, die mit ihrem Gatten, einem erschöpft aussehenden Mann von sechzig Jahren, unter seinen Gästen war. Es war die Teestunde, und das milde Licht der großen, mit einem Spitzenschleier bedeckten Lampe, die auf dem Tische stand, fiel auf das entzückende Porzellan und das getriebene Silber des Services, das bei der Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich mit den Tassen zu schaffen, und ihre vollen roten Lippen lächelten über etwas, was Dorian ihr zuflüsterte. Lord Henry lag zurückgelehnt in einem mit Silberstoff überzogenen Korbstuhl und schaute auf die beiden. Auf einem pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat so, als hörte sie zu, wie ihr der Herzog einen brasiliischen Käfer schilderte, den er jüngst für seine Sammlung erworben hatte. Drei junge Leute in eleganter Gesellschaftstoilette versorgten einige der Damen mit Teegebäck. Die Gesellschaft, die Dorian auf seiner Besitzung bewirtete, bestand aus zwölf Personen, und am nächsten Tag wurden noch einige erwartet.

»Worüber redet ihr beiden?« sagte Lord Henry, der langsam an den Tisch trat und seine Tasse niedersetzte. »Ich hoffe, Dorian hat dir von meinem Plan, alles wiederzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine reizende Idee.«

»Aber ich will nicht wiedergetauft werden, Harry,« erwiderte die Herzogin und sah ihn mit ihren wundervollen Augen an. »Ich bin mit meinem eigenen Namen sehr zufrieden, und ich denke, Herr Gray sollte es auch mit seinem sein.«

»Liebe Gladys, um keinen Preis der Welt möchte ich einen der beiden Namen ändern. Sie sind beide vollendet. Ich dachte hauptsächlich an Blumen. Gestern schnitt ich mir für mein Knopfloch eine Orchidee ab. Es war eine wunderbar gefleckte Blume, so wirkungsvoll wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenlosigkeit fragte ich einen der Gärtner, wie sie heißt. Er sagte mir, es sei ein schönes Exemplar der Robinsoniana oder etwas anderes Schreckliches der Art. Es ist eine traurige Wahrheit, aber wir haben das Talent, den Dingen schöne Namen zu geben, verloren. Der Name ist alles. Ich streite nie gegen das Tun. Mein einziger Streit geht gegen die Worte. Das ist der Grund, warum ich den gemeinen Realismus in der Literatur verabscheue. Der Mann, der einen Spaten bei seinem Namen nennen kann, sollte gezwungen werden, einen zur Hand zu nehmen. Er ist zu weiter nichts tauglich.«

»Wie sollten wir also dich nennen, Harry?« fragte sie. »Sein Name ist Prinz Paradox,« sagte Dorian.

»Jawohl!« rief die Herzogin aus, »wird sofort anerkannt.« »Ich will ihn nicht hören,« lachte Lord Henry und ließ sich in einen Stuhl sinken. »Vor einer Etikette gibt es keine Rettung. Ich lehne den Titel ab.«

»Fürsten können nicht abdanken,« warnten reizende Lippen.

»Du wünschest also, daß ich meinen Thron verteidige?« »Ja.«

»Ich sage die Wahrheiten von morgen.« »Ich lebe die Irrungen von heute.«

»Du entwaffnest mich, Gladys,« rief er, über ihre Laune entzückt.

»Deines Schildes, Harry, nicht deines Speers.«

»Ich kämpfe nie gegen die Schönheit,« sagte er mit grüßender Handbewegung.

»Das ist ein Fehler, Harry, glaube es mir. Du stellst die Schönheit viel zu hoch.«

»Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich meine, schön sein ist besser als gut sein. Aber anderseits ist niemand mehr als ich bereit, anzuerkennen, daß gut sein besser ist als häßlich sein.«

»Dann ist also die Häßlichkeit eine der sieben Todsünden?« rief die Herzogin. »Was wird aus deinem Orchideengleichnis?«

»Häßlichkeit ist eine der sieben Tugenden, Gladys. Die darfst du, wenn du deiner Tory-Gesinnung treu bleiben willst, nicht unterschätzen. Bier, die Bibel und die sieben tödlichen Tugenden haben unser England zu dem gemacht, was es ist.«

»Du liebst also dein Vaterland nicht?« fragte sie. »Ich lebe darin.«

»Um es besser tadeln zu können.«

»Würdest du lieber sehn, daß ich mich dem Urteil Europas über unser Land anschließe?« fragte er.

»Was sagen sie von uns?«

»Sie sagen, Tartüff sei nach England ausgewandert und habe da einen Laden aufgemacht.«

»Ist das von dir, Harry?« »Ich schenke es dir.«

»Ich kann es nicht brauchen. Es ist zu wahr.«

»Du brauchst nicht zu erschrecken. Unsere Landsleute fühlen sich nie getroffen, wenn man sie schildert.«

»Sie sind zu praktisch.«

»Sie sind mehr schlau als praktisch. Wenn sie die Bilanz ziehen, gleichen sie die Dummheit durch Reichtum und das Laster durch Heuchelei aus.«

»Und doch haben wir große Dinge getan.«

»Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.« »Wir haben ihre Last getragen.«

»Nur bis zur Börse.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube an unser Volk,« rief sie.

»Es repräsentiert das Überleben der Rücksichtslosigkeit.« »Es hat Entwicklung.«

»Verfall reizt mich mehr.« »Wie stehts mit der Kunst?« »Eine Krankheit.« »Liebe?«

»Eine Illusion.« »Religion?«

»Modernes Surrogat für den Glauben.« »Du bist ein Skeptiker.« »Niemals! Skepsis ist der Anfang alles Glaubens.« »Was bist du?«

»Definieren heißt beschränken.« »Gib mir einen Faden.«

»Fäden zerreißen. Du verlörest deinen Weg im Labyrinth.« »Du machst mich wirblig. Reden wir von sonst jemandem. «

»Unser Wirt ist ein reizendes Thema. Vor vielen Jahren wurde er Prinz Wunderhold getauft.«

»Ah! erinnere mich nicht daran!« rief Dorian Gray. »Unser Wirt ist heute abend recht greulich!« antwortete die Herzogin und errötete. »Ich glaube, er denkt, Monmouth habe mich aus rein wissenschaftlichen Gründen geheiratet, als bestes Musterstück eines modernen Schmetterlings.«

»Ich hoffe aber, er steckt keine Stecknadeln in Sie, Frau Herzogin,« lachte Dorian.

»Oh, das tut schon meine Jungfer, Herr Gray, wenn sie sich über mich ärgert.«

»Und worüber ärgert sie sich denn, Frau Herzogin?« »Wegen lauter Kleinigkeiten, Herr Gray, glauben Sie nur. Gewöhnlich, weil ich zehn Minuten vor neun hereinkomme und ihr sage, bis halb neun müsse ich angezogen sein.« »Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr kündigen!«

»Ich wage es nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich meine Hüte. Sie erinnern sich an den Hut, den ich auf dem Gartenfest bei Lady Hilstone trug? Natürlich nein; aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so tun. Sehn Sie, den hat sie aus nichts gemacht. Jeder gute Hut ist aus nichts gemacht.«

»Wie jeder gute Ruf, Gladys,« fiel Lord Henry ein. »Jede Wirkung, die man ausübt, verschafft einem einen Feind. Um populär zu sein, muß man ein Durchschnittsmensch sein.«

»Bei Frauen nicht,« sagte die Herzogin und schüttelte den Kopf, »und Frauen regieren die Welt. Ich versichere Sie, wir können Durchschnittsmenschen nicht ausstehn. Wir Frauen, hat einmal einer gesagt, lieben mit den Ohren, wie ihr Männer mit den Augen liebt, wenn ihr überhaupt liebt.«

»Mir scheint, wir tun nie etwas anderes,« murmelte Dorian.

»Ah! dann lieben Sie nie in Wirklichkeit,« antwortete die Herzogin und legte etwas Schmerzliches in ihren Ton.

»Liebe Gladys!« rief Lord Henry. »Wie kannst du das sagen? Die Gefühle leben von der Wiederholung, und die Wiederholung verwandelt einen Trieb in eine Kunst. Überdies, jedesmal, wenn man liebt, ist es das erste Mal, daß man je geliebt hat. Die Verschiedenheit des Gegenstandes ändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht sie nur intensiver. Wir können im Leben im besten Fall nur ein einziges großes Erlebnis haben, und die geheime Kunst des Lebens ist, dieses Erlebnis so oft wie möglich zu reproduzieren.«

»Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?« fragte die Herzogin nach einer Pause.

»Besonders wenn es einen verwundet hat,« antwortete Lord Henry.

Die Herzogin wandte sich Dorian Gray zu und sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck in ihren Augen an. »Was sagen Sie dazu, Herr Gray?« forschte sie.

Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den Kopf zurück und lachte. »Ich bin immer derselben Meinung wie Harry, Frau Herzogin.«

»Auch wenn er unrecht hat?« »Harry hat nie unrecht.«

»Und macht seine Philosophie Sie glücklich?« »Ich bin nie aufs Glück ausgewesen. Wer braucht Glück? Ich bin auf Genuß ausgewesen.«

»Und haben ihn gefunden, Herr Gray?« »Oft. Zu oft.«

Die Herzogin seufzte. »Ich suche den Frieden,« sagte sie, »und wenn ich jetzt nicht zum Anziehen gehe, habe ich heute abend keinen.«

»Ich werde Ihnen ein paar Orchideen holen, Frau Herzogin,« rief Dorian, stand auf und ging das Gewächshaus hinunter.

»Du flirtest schändlich mit ihm,« sagte Lord Henry zu seiner Kusine. »Sieh dich vor! Er ist gefährlich.« »Wenn er es nicht wäre, gäb’s keinen Kampf.« »Griechen kämpfen denn also gegen Griechen?« »Ich bin auf der Seite der Trojaner. Sie stritten für eine Frau.«

»Sie wurden geschlagen.« »Es gibt schlimmere Dinge als Gefangenschaft.« »Du galoppierst mit losem Zügel.« »Das Tempo macht’s leben,« war der schnelle Gegenstoß. »Ich schreib es heute abend in mein Tagebuch.« »Was?«

»Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.«

»Ich bin nicht einmal versengt. Meine Flügel sind unberührt.«

»Du benutzt sie zu allem, nur nicht zum Fliehen.« »Der Mut ist von den Männern zu den Frauen übergegangen. Das ist ein neues Erlebnis für uns.«

»Du hast eine Nebenbuhlerin.« »Wen?«

Er lachte. »Lady Narborough,« flüsterte er. »Sie betet ihn an!«

»Du machst mir Angst. Solch graues Altertum ist uns Romantikern verhängnisvoll.«

»Romantisch! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.« »Männer haben uns erzogen.«

»Aber nicht erklärt.«

»Gib uns eine Definition unseres Geschlechts,« forderte sie ihn heraus.

»Sphinxe ohne Geheimnisse.«

Sie sah ihn lächelnd an. »Wie lange Herr Gray ausbleibt!« sagte sie. »Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm noch nicht gesagt, was mein Kleid für eine Farbe hat.«

»Ah! du mußt das Kleid nach der Farbe seiner Blumen wählen, Gladys.«

»Da ergäbe ich mich zu früh.«

»Die romantische Kunst fängt mit dem Höhepunkt an.« »Ich muß für die Möglichkeit des Rückzugs sorgen.«

»Nach der Art der Parther?«

»Sie fanden in der Wüste Sicherheit, das wäre mir nicht möglich.«

»Man läßt Frauen nicht immer die Wahl,« antwortete er; aber kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, da hörte man aus der Tiefe des Treibhauses einen erstickten Schrei, dem der dumpfe Ton eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf. Die Herzogin stand vor Schreck regungslos da. Und mit dem Ausdruck der Angst in den Augen eilte Lord Henry unter den hängenden Zweigen der Palmen hindurch und fand Dorian Gray am Boden liegen. Er lag, mit dem Gesicht auf den kalten Ziegeln, in schwerer Ohnmacht da und sah aus wie tot.

Man trug ihn schnell in den blauen Salon und legte ihn auf ein Sofa. Nach kurzer Zeit kam er wieder zu sich und sah sich verstört um.

»Was ist geschehen?« fragte er. »Oh, ich weiß! Bin ich hier sicher, Harry?« Er fing an zu zittern.

»Lieber Dorian,« antwortete Lord Henry, »du hattest nur eine Ohnmacht. Das war alles. Du scheinst übermüdet. Es wäre besser, du kämst nicht zum Diner herunter. Ich werde dich vertreten.«

»Nein, ich werde herunterkommen,« sagte er und stand mühsam auf. »Ich komme lieber herunter. Ich darf nicht allein sein.«

Er ging in sein Zimmer und kleidete sich um. Er zeigte eine unbekümmerte Fröhlichkeit, als er bei Tisch saß, aber hie und da überlief ihn ein Schauder, wenn er daran dachte, daß er gegen die Scheiben des Gewächshauses gepreßt wie ein weißes Tuch das lauernde Gesicht James Vanes gesehn hatte.

Achtzehntes Kapitel

Am nächsten Tag verließ er das Haus nicht und blieb fast immer in seinem Zimmer. Eine wilde Angst vor dem Tod hatte ihn erfaßt, und dabei war ihm das Leben gleichgültig geworden. Das Gefühl, aufgespürt, gehetzt und umstellt zu sein, verließ ihn nicht mehr. Wenn nur der Wandteppich im Wind zitterte, fuhr er zusammen. Das tote Laub, das gegen die Scheiben geweht wurde, schien ihm seinen eigenen vergeblichen Vorsätzen, seiner wilden Reue zu gleichen. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das Gesicht des Matrosen und die Augen, die sich durch das feucht beschlagene Glas bohren wollten, und das Entsetzen schien ihm wieder ans Herz zu fassen.

Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die die Rache aus der Nacht hervorgerufen und ihm die gräßliche Gestalt der Strafe vorgespiegelt hatte. Das wirkliche Leben war Chaos, aber es lag eine schreckliche Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte den Gewissensbiß gegen die flüchtigen Füße der Sünde. Die Phantasie ließ jedes Verbrechen Entsetzen im Schoße tragen. In der gemeinen Welt der Tatsachen wurden die Bösen nicht bestraft und die Guten nicht belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, die Schwachen mußten unterliegen, und weiter geschah nichts. Überdies wäre jeder Fremde, der um das Haus gestreift wäre, von den Dienern oder den Pförtnern gesehn worden. Wären irgendwelche Fußspuren auf den Beeten bemerkt worden, so hätten es die Gärtner berichtet. Ja, es war bloße Phantasie gewesen. Sibyl Vanes Bruder war nicht zurückgekommen, um ihn zu töten. Er war mit seinem Schiff fortgefahren, um in irgendeinem stürmischen Meer unterzugehn. Vor ihm war er jedenfalls sicher. Der Mann wußte ja nicht, wer er war, und konnte es nicht erfahren. Die Maske der Jugend hatte ihn gerettet.

Und doch, wenn es nur eine Gestalt der Phantasie gewesen war, wie furchtbar war der Gedanke, daß das Gewissen so schreckliche Hirngespinste erzeugen, ihnen sichtbare Form und Bewegung geben konnte! Was für ein Leben war ihm beschieden, wenn Tag und Nacht die Schatten seines Verbrechens in dunklen Ecken auf ihn lauerten, ihn an stillen Orten narrten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er beim Mahle saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er im Schlafe lag! Als der Gedanke sich ihm ins Gehirn schlich, wurde er blaß vor Angst, und die Luft schien ihm auf einmal kälter geworden. Oh! in was für einer wilden Stunde des Wahnsinns hatte er seinen Freund getötet! Wie grauenhaft war schon die Erinnerung an die Szene. Er sah alles wieder vor sich; jede gräßliche Einzelheit kam mit verstärktem Grausen wieder zu ihm. Aus dem schwarzen Grab der Zeit stieg furchtbar und in Scharlach gehüllt das Bildnis seiner Sünde auf. Als Lord Henry um sechs Uhr hereinkam, fand er ihn weinend. Er weinte wie einer, dem das Herz brechen will.

Erst am dritten Tage wagte er wieder auszugehn. Es lag etwas in der hellen, tannenwürzigen Luft dieses Wintermorgens, das ihm seine Fröhlichkeit und seine Lebenslust wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen Bedingungen der Umgebung hatten die Wandlung hervorgebracht. Seine Natur selbst hatte sich gegen das Übermaß der Angst aufgelehnt, die ihre vollendete Ruhe hatte stören und verderben wollen. Mit fein und zart gebauten Naturen ist es immer so. Ihre starken Leidenschaften müssen zermalmen oder zergehn; sie bringen den Menschen entweder um oder sterben selbst. Oberflächliche Schmerzen und oberflächliche Liebesgefühle leben weiter. Die Liebesgefühle und Schmerzen, die stark und tief sind, gehn an ihrer eigenen Heftigkeit zugrunde. Außerdem hatte er die Überzeugung gewonnen, daß er das Opfer einer Schreckphantasie gewesen war, und blickte jetzt auf seine Ängste mit einer Art Mitleid und ziemlicher Verachtung zurück.

Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin eine Stunde im Garten spazieren und fuhr dann durch den Park, um die Jagdgesellschaft zu treffen. Der Reif lag wie Salz auf dem Gras. Der Himmel sah aus wie ein umgestülpter Becher aus blauem Metall. Eine dünne Schicht Eis war am Rande des flachen, schilfumwachsenen Teiches.

An der Ecke des Tannenwaldes gewahrte er Sir Geoffrey Clouston, den Bruder der Herzogin, der eben zwei verbrauchte Patronen aus seiner Büchse entfernte. Dorian sprang vom Wagen, sagte dem Groom, er solle mit dem Pferd nach Hause fahren, und ging durch das welke Farnkraut und das Gestrüpp des Unterholzes auf seinen Gast zu.

»Gute Jagd, Geoffrey?« fragte er.

»Nicht sehr gut, Dorian. Die meisten Vögel scheinen aufgeflogen. Ich denke, es wird nach Tisch besser sein, wenn wir einen andern Platz suchen.«

Dorian schlenderte an seiner Seite weiter. Die starke, würzige Luft, die braunen und roten Lichter, die im Walde schimmerten, das laute Geschrei der Treiber, das manchmal erschallte, und die scharfen Schüsse aus den Büchsen, die dann folgten, das alles belebte ihn und erfüllte ihn mit einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war von sorgloser Heiterkeit durchdrungen, von der hohen Unbekümmertheit der Freude.

Plötzlich brach an einer Stelle, an der dicke Büschel alten Grases standen, kaum zwanzig Meter vor ihnen, die schwarzgestülpten Ohren steif haltend und die langen Hinterbeine nach vorn werfend, ein Hase heraus. Er jagte auf ein Erlengebüsch zu. Sir Geoffrey warf die Büchse an die Schulter, aber in der graziösen Bewegung des Tieres war etwas, was Dorian Gray seltsam entzückte, und er rief schnell: »Schieß nicht, Geoffrey! Laß ihn leben!« »Unsinn, Dorian!« lachte sein Gefährte, und wie der Hase mit langen Sätzen ins Dickicht springen wollte, feuerte er. Man hörte zwei Schreie, den Schrei eines getroffenen Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei eines Menschen im Todeskampf, der noch furchtbarer ist.

»Gott im Himmel! ich habe einen Treiber getroffen!« rief Sir Geoffrey. »Was war das für ein Esel, vor die Büchse zu kommen! Hört auf mit Schießen!« rief er mit lauter Stimme. »Ein Mann ist getroffen worden!«

Der Wildhüter rannte mit einem Stock in der Hand herbei.

»Wo, Herr, wo?« rief er. Zur selben Zeit hörte das Feuern auf der ganzen Linie auf.

»Hier,« antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und eilte auf das Dickicht zu. »Warum in aller Welt halten Sie Ihre Leute nicht weiter zurück? Für heute hab ich genug vom Jagen.« Dorian sah ihnen nach, wie sie in das Erlengebüsch gingen und die Zweige zur Seite bogen. Nach ein paar Augenblicken erschienen sie wieder und zogen einen Körper ins Freie heraus. Er wandte sich entsetzt weg. Es schien, das Mißgeschick folgte ihm, wohin er ging. Er hörte, wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot sei, und die bejahende Antwort des Hüters. Der Wald schien ihm plötzlich von Gesichtern zu wimmeln. Er hörte unzählige Tritte und das leise Flüstern von Stimmen. Ein großer kupferfarbener Fasan schwirrte durch die Zweige über ihm.

Nach ein paar Augenblicken, die für ihn in seiner verstörten Verfassung wie viele qualvolle Stunden waren, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er fuhr zusammen und sah sich um.

»Dorian,« sagte Lord Henry, »es wäre besser, ihnen zu sagen, daß die Jagd für heute abgebrochen ist. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn sie fortgesetzt würde.«

»Ich wollte, sie würde für immer abgebrochen, Harry,« antwortete er bitter. »Die ganze Sache ist häßlich und grausam. Ist der Mann. . .?«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

»Leider ja,« erwiderte Lord Henry. »Er bekam die ganze Ladung in die Brust. Er muß sofort gestorben sein. Komm, gehn wir nach Hause.«

Sie gingen zusammen in der Richtung der großen Allee und sprachen ungefähr fünfzig Meter lang kein Wort. Dann blickte Dorian Lord Henry an und sagte tief aufseufzend:

»Es ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.«

»Was denn?« fragte Lord Henry. »Oh, dieser Zwischenfall vermutlich! Mein Lieber, da ist nichts zu ändern. Der Mann war selber schuld. Warum kam er direkt vor die Büchsen? Außerdem geht es uns nichts an. Für Geoffrey ist es natürlich recht unangenehm. Es ist nicht gut, Treiber niederzuknallen. Das bringt die Leute auf den Gedanken, man sei ein schlechter Schütze. Und das ist Geoffrey nicht; er schießt sehr gut! Aber es hat keinen Wert, über die Sache zu reden.«

Dorian schüttelte den Kopf. »Es ist ein böses Omen, Harry. Ich habe das Gefühl, als ob einem von uns etwas Schreckliches geschehen müßte. Mir selbst vielleicht,« fügte er hinzu und legte in schmerzlicher Bewegung die Hand über die Augen.

Der andere lachte. »Das einzige Schreckliche in der Welt ist Langeweile, Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Aber es ist nicht wahrscheinlich, daß wir darunter leiden werden, außer, wenn die Gesellschaft bei Tisch von diesem Vorfall redet. Ich muß ihnen sagen, daß dieses Thema Tabu ist. Und was du von Omen sagst, so was wie ein Omen gibt es nicht! Das Geschick sendet keine Herolde voraus; es ist dazu zu weise oder zu grausam. Überdies, was in aller Welt könnte bei dir geschehen, Dorian? Du hast alles, was ein Mensch auf Erden begehren kann. Es gibt keinen, der nicht freudig mit dir tauschte.«

»Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschte, Harry. Du mußt nicht lachen, ich sage die Wahrheit. Der elende Bauer, der eben gestorben ist, ist besser daran als ich. Ich habe Angst vor dem Tode. Seine ungeheuren Flügel scheinen in der bleiernen Luft um mich zu schwingen. O Gott! siehst du nicht da einen Mann hinter den Bäumen, der zu mir hersieht, der auf mich wartet?«

Lord Henry blickte auf die Stelle, wo die behandschuhte Hand zitternd hinwies. »Ja,« sagte er lächelnd, »ich sehe den Gärtner, der auf dich wartet. Vermutlich will er dich fragen, was für Blumen du heute abend auf der Tafel haben willst. Wie gräßlich nervös du bist, mein Lieber! Wenn wir wieder in der Stadt sind, mußt du zu meinem Arzt gehn.«

Dorian stieß einen Seufzer der Befreiung aus, als er den Gärtner herankommen sah. Der Mann grüßte, schaute einen Augenblick zögernd auf Lord Henry und brachte dann einen Brief hervor, den er seinem Herrn übergab. »Ihre Gnaden sagten mir, ich solle auf Antwort warten,« sagte er.

Dorian steckte den Brief in die Tasche. »Bestell der Frau Herzogin, ich werde kommen,« sagte er kalt. Der Mann machte kehrt und ging schnell aufs Haus zu.

»Wie gern die Frauen gefährliche Dinge tun,« lachte Lord Henry. »Das ist eine ihrer Eigenschaften, die ich am meisten bewundere. Eine Frau wird mit jedem in der Welt flirten, solange andere Menschen zusehn.«

»Wie gern du gefährliche Dinge sagst, Harry! Aber diesmal bist du auf ganz falscher Fährte. Die Herzogin gefällt mir sehr gut, aber ich liebe sie nicht.«

»Und die Herzogin liebt dich sehr, aber du gefällst ihr nicht, so ist die Sache wieder im gleichen.«

»Du klatschest, Harry, und diesmal gibt es keine Grundlage für den geringsten Klatsch.«

»Die Grundlage jedes Klatsches ist eine unmoralische Sicherheit,« sagte Lord Henry und steckte eine Zigarette an.

»Um eines Epigramms willen opferst du jeden Menschen, Harry. «

»Die Welt geht aus freien Stücken zum Altar, wo sie geopfert wird,« war die Antwort.

»Ich wollte, ich könnte lieben,« rief Dorian Gray, und tiefes Pathos klang in seiner Stimme. »Aber es scheint, ich habe die Glut verloren und die Sehnsucht vergessen. Ich bin zu sehr in mich selbst konzentriert. Meine eigene Person ist mir zur Last geworden. Ich muß entfliehen, fortgehn, vergessen! Es war töricht von mir, überhaupt hierher zu kommen. Ich denke, ich werde an Harvey telegraphieren, die Jacht bereitzuhalten. Auf einer Jacht ist man sicher.«

»Wovor sicher, Dorian? Irgend etwas beunruhigt dich.«

»Ich kann es dir nicht sagen, Harry,« wiederholte er düster. »Und es ist wohl nur eine Anwandlung. Dieser unglückliche Zwischenfall hat mich aus der Fassung gebracht. Ich habe eine gräßliche Vorahnung, etwas Ähnliches könne mir zustoßen.«

»Was für ein Unsinn!«

»Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich habe die Empfindung. Ah! hier ist die Herzogin in einem Tailor made-Kostüm Wenn Artemis so eins getragen hätte, sähe sie genau so aus. – Sie sehn, wir sind zurück, Frau Herzogin.«

»Ich habe schon alles gehört, Herr Gray,« antwortete sie. »Der arme Geoffrey ist ganz außer sich. Und Sie hatten ihn gebeten, nicht auf den Hasen zu schießen. Wie seltsam!«

»Ja, es war sehr seltsam. Ich weiß nicht, was mich dazu brachte. Eine Laune vermutlich. Es war ein so reizender Kerl. Aber es tut mir leid, daß man Ihnen davon sprach. Es ist ein trauriges Thema.«

»Es ist ein langweiliges Thema,« fiel Lord Henry ein. »Es hat nicht den geringsten psychologischen Wert. Wenn nun aber Geoffrey es absichtlich getan hätte, wie interessant wäre er! Ich möchte gern jemand kennen, der einen wirklichen Mord begangen hat.«

»Wie gräßlich von dir, Harry!« rief die Herzogin. »Nicht wahr, Herr Gray? Harry, Herr Gray ist wieder unwohl. Er will ohnmächtig werden!«

Dorian hielt sich mit Anstrengung aufrecht und lächelte. »Es ist nichts, Frau Herzogin,« murmelte er, »meine Nerven sind schrecklich durcheinander. Es ist nichts weiter. Ich fürchte, ich bin heute morgen zuviel gegangen. Ich hörte nicht, was Harry sagte. War es sehr schlimm? Sie müssen es mir ein andermal sagen. Ich denke, ich tue am besten, mich hinzulegen. Sie entschuldigen mich, nicht wahr?«

Sie hatten die große Treppe erreicht, die vom Gewächshaus zur Terrasse emporführte. Als die Glastür sich hinter Dorian geschlossen hatte, wandte sich Lord Henry der Herzogin zu und sah sie mit seinen schläfrigen Augen an. »Bist du sehr in ihn verliebt?« fragte er.

Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da und blickte auf die Landschaft. »Ich wollte, ich wüßte es,« sagte sie schließlich.

Er schüttelte den Kopf. »Wissen wäre verhängnisvoll. Die Ungewißheit reizt einen. Ein Nebel macht die Dinge wundervoll .«

»Man kann seinen Weg verlieren.«

»Alle Wege enden am selben Punkt, liebe Gladys.« »Was für ein Punkt ist das?«

Enttäuschung.«

»Das war mein Debüt im Leben,« seufzte sie.

»Sie kam mit einer Krone zu dir.« »Ich bin der Herzogskrone müde.« »Sie steht dir gut.«

»Nur in der Öffentlichkeit.« »Monmouth hat Ohren.«

»Alte Leute sind schwerhörig.«

»Ist er nie eifersüchtig gewesen?« »Ich wollte, er wäre es.«

Oben in seinem Zimmer lag inzwischen Dorian Gray auf einem Sofa. Jede Fiber seines Körpers erbebte. Das Leben war für ihn auf einmal eine gräßliche Bürde geworden, die nicht mehr zu tragen war. Der schreckliche Tod des unglücklichen Treibers, der im Dickicht wie ein wildes Tier erschossen worden, war ihm eine Vorbedeutung seines eigenen Todes. Er war fast in Ohnmacht gesunken, als Lord Henry in einer zufälligen Laune seinen zynischen Scherz gemacht hatte.

Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn seine Sachen für den Nachtschnellzug, der nach der Stadt fuhr, packen und den Wagen zu halb neun Uhr vor die Tür bestellen. Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby Royal zuzubringen. Der Ort hatte nichts Gutes für ihn; der Tod ging da am hellen Tage um. Das Gras des Waldes war mit Blut befleckt worden.

Dann schrieb er einen Brief an Lord Henry, in dem er ihm sagte, er fahre in die Stadt, um seinen Arzt zu konsultieren, und bitte ihn, in seiner Abwesenheit die Gäste zu unterhalten. Als er das Briefchen eben in den Umschlag steckte, klopfte es an die Tür, und sein Diener kam, ihm mitzuteilen, der Wildhüter wünsche ihn zu sprechen. Er runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Schick ihn herein!« murmelte er, nachdem er ein paar Augenblicke gezögert hatte. Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch aus einer Schublade und legte es vor sich hin.

»Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von heute morgen, Thornton,« sagte er und nahm die Feder zur Hand.

»Ja, Herr,« antwortete der Wildhüter.

»War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige zu versorgen?« fragte Dorian, müde dreinsehend. »Wenn es an dem ist, wünsche ich nicht, daß sie in Not zurückbleiben. Ich werde ihnen die Summe schicken, die Sie für richtig halten.«

»Wir wissen nicht, wer es ist, Herr. Deswegen nahm ich mir die Freiheit, vorzusprechen.«

»Sie wissen nicht, wer es ist?« fragte Dorian, ohne recht hinzuhören. »Was meinen Sie damit? War es nicht einer von Ihren Leuten?«

»Nein, Herr. Hab ihn nie im Leben gesehn. Sieht aus wie ein Matrose, Herr.«

Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand. Ihm war, als hörte sein Herz auf einmal auf zu schlagen.

»Ein Matrose!« rief er aus. »Sagten Sie ein Matrose?«

»Ja, Herr. Er sieht aus, als wäre er eine Art Matrose gewesen; auf beiden Armen tätowiert und so in der Art.«

»Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?« fragte Dorian, beugte sich vor und sah den Mann mit starren Augen an. »Etwas, woraus man seinen Namen erfährt?«

»Einiges Geld, Herr – nicht viel, und einen Revolver. Nichts von einem Namen. Sieht anständig aus, der Mann, aber etwas struppig. Eine Art Matrose, denken wir.«

Dorian sprang auf. Eine wilde Hoffnung blitzte in ihm auf. Er klammerte sich leidenschaftlich an sie an. »Wo liegt der Leichnam?« rief er. »Schnell! Ich muß ihn sofort sehn.«

»Er liegt in einem leeren Stall in der Home Farm, Herr. Die Leute mögen so was nicht in ihrem Haus. Sie sagen, eine Leiche bringt Unglück!«

»Home Farm! Gehn Sie sofort hin und warten Sie auf mich! Ein Stallknecht soll mein Pferd bringen! Nein, ist nicht nötig. Ich gehe selbst zum Stall, es geht schneller.«

Nach kaum einer Viertelstunde galoppierte Dorian Gray, so schnell er konnte, die lange Allee hinab. Die Bäume schienen in gespenstigem Zuge an ihm vorbeizufliegen und wilde Schatten sich ihm in den Weg zu werfen. Einmal scheute das Pferd vor einem weißen Pfosten und warf seinen Reiter fast ab. Er schlug dem Tier die Peitsche über den Nacken. Das Pferd teilte die dämmernde Luft wie ein Pfeil, die Steine stoben von seinen Hufen.

Endlich hielt er an der Home Farm. Zwei Männer standen im Hof. Er sprang aus dem Sattel und warf einem die Zügel hin. Im letzten Stall schimmerte ein Licht. Ihm war es, als ob da die Leiche liegen müsse; er eilte zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.

Da hielt er einen Augenblick inne. Er fühlte, daß er vor einer Entdeckung stand, die sein Leben entweder rettete oder zerstörte. Dann warf er die Tür zurück und trat ein.

Auf einem Haufen Sackleinwand am Ende des Stalles lag die Leiche eines Mannes in einer groben Bluse und blauen Hosen. Ein schmutziges Taschentuch war ihm übers Gesicht gelegt worden. Eine schlechte Kerze hatte man in eine Flasche gesteckt, sie brannte düster.

Dorian Gray schauderte. Er fühlte, daß seine Hand das Tuch nicht fortnehmen konnte, und rief einen der Knechte herein.

»Nehmen Sie das hier vom Gesicht! Ich will ihn sehn,« sagte er und hielt sich am Türpfosten fest.

Als der Knecht es getan hatte, trat Dorian vor. Ein Schrei der Freude entfuhr ihm. Der Mann, der im Dickicht erschossen worden war, war James Vane.

Er stand ein paar Minuten da und sah den Leichnam an. Als er nach Hause ritt, standen seine Augen voller Tränen, denn er wußte, er war gerettet.

Neunzehntes Kapitel

Es hat keinen Sinn, daß du mir sagst, du willst gut werden,« rief Lord Henry und tauchte seine Finger in eine rote Kupferschale, die mit Rosenwasser gefüllt war. »Du bist vollkommen! Bitte, werde nicht anders.«

Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Nein, Harry, ich habe zu viel furchtbare Dinge im Leben getan. Ich will keine mehr tun. Ich fing gestern damit an, Gutes zu tun.«

»Wo warst du gestern?«

»Auf dem Lande, Harry. Ich war allein in einem kleinen Dorfwirtshaus.

»Lieber Junge,« sagte Lord Henry lächelnd, »auf dem Lande kann jeder gut sein. Da gibt es keine Versuchungen. Das ist der Grund, warum die Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so ganz und gar ohne Kultur sind. Kultur ist eine Sache, die keineswegs leicht zu erreichen ist. Es gibt nur zwei Wege, zu ihr zu kommen. Der eine heißt Bildung, der andere Verdorbenheit. Die Leute auf dem Lande haben zu beiden keine Gelegenheit, darum versumpfen sie.«

»Bildung und Verdorbenheit,« wiederholte Dorian. »Ich habe sie beide kennen gelernt. Es scheint mir jetzt schrecklich, daß man sie immer zusammen findet. Denn ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich werde anders werden. Ich glaube, ich bin anders geworden.«

»Du hast mir noch nicht erzählt, was du Gutes getan hast. Wie war es doch? Einmal oder öfter hast du etwas Gutes getan?« fragte sein Gefährte und nahm sich eine kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen Teller, auf die er aus einem muschelförmigen durchlöcherten Löffel weißen Zucker streute. Ich kann es dir erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, die ich niemand sonst erzählen könnte. Ich habe einen Menschen geschont. Es klingt eitel, aber du verstehst, was ich meine. Sie war sehr schön und hatte eine wunderbare Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war es, was mich zuerst anzog. Du erinnerst dich an Sibyl, nicht wahr? Wie lange das her ist! Nun Hetty gehörte natürlich nicht unserm Stande an. Sie war nichts weiter als ein Dorfmädchen. Aber ich liebte sie wirklich. Ich bin sicher, daß ich sie liebte. Während dieses ganzen wundervollen Monats Mai, den wir gehabt haben, ritt ich hinaus und sah sie zwei-, dreimal in der Woche. Gestern erwartete sie mich in einem kleinen Obstgarten. Die Apfelblüten fielen auf ihr Haar hernieder, und sie lächelte. Diesen Morgen vor Sonnenaufgang sollte sie mit mir kommen. Plötzlich entschloß ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich sie gefunden hatte.«

»Ich glaube, das Ungewohnte, das du dabei empfunden hast, muß ein richtiger Wollustschauer für dich gewesen sein, Dorian,« unterbrach Lord Henry. »Aber ich kann dein Idyll für dich zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Ratschläge und brachst ihr das Herz. Das war der Anfang deiner Besserung.«

»Harry, du bist schrecklich! Du mußt nicht so abscheuliche Dinge sagen. Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich weint sie und so weiter. Aber keine Schande ist über sie gekommen. Sie kann wie Perdita in ihrem Garten bei Krauseminze und Ringelblumen weiterleben.«

»Und über einen treulosen Florizel weinen,« sagte Lord Henry lachend und lehnte sich in den Stuhl zurück. »Lieber Dorian, du hast ganz seltsam knabenhafte Anwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird je mit einem ihres eigenen Standes glücklich werden? Ich nehme an, sie wird eines Tages mit irgendeinem rohen Fuhrmann oder einem groben Bauern verheiratet. Schön, die Tatsache, daß sie dich gekannt und dich geliebt hat, wird sie dazu bringen, ihren Mann zu verachten, und sie wird sich unglücklich fühlen. Vom moralischen Standpunkt kann ich nicht sagen, daß ich von deiner großen Entsagung viel halte. Selbst als Anfang betrachtet ist sie kümmerlich. Überdies, wie willst du wissen, ob Hetty nicht in diesem Augenblick in einem Mühlwasser liegt, in das die Sterne scheinen, und liebliche Wasserlilien um sich hat wie Ophelia?«

»Ich kann das nicht ertragen, Harry! Du spottest über alles und hast deinen Spaß damit, und dann deutest du auf die ernstesten Tragödien. Es tut mir jetzt leid, daß ich dir die Sache erzählte. Ich kümmere mich nicht um das, was du sagst. Ich weiß, ich habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute morgen an dem Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr blasses Gesicht am Fenster. Es sah aus wie ein Zweig Jasmin. Wir wollen nicht weiter davon sprechen. Mache keinen Versuch, mich zu überreden, daß das erste Gute, was ich seit Jahren getan habe, das erste kleine Opfer, das ich je gebracht habe, tatsächlich eine Art Sünde sei. Ich will besser werden. Erzähle mir etwas von dir! Was ist in der Stadt los? Ich bin tagelang nicht im Klub gewesen.«

»Die Leute erörtern immer noch das Verschwinden des armen Basil.«

»Ich hätte gedacht, sie könnten in all der Zeit genug davon bekommen haben,« sagte Dorian mit leichtem Stirnrunzeln und goß sich etwas Wein ein.

»Mein Lieber, sie reden erst seit sechs Wochen davon, und das englische Publikum ist wirklich nicht der Anspannung des Geistes fähig, mehr als ein Thema im Vierteljahr zu haben. Sie haben in letzter Zeit viel Glück gehabt. Sie hatten meinen Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord. Jetzt haben sie das geheimnisvolle Verschwinden eines Künstlers bekommen. Die hiesige Polizei bleibt hartnäckig dabei, daß der Mann in dem grauen Ulstermantel, der am 9. November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris gereist ist, der arme Basil gewesen ist, und die französische Polizei erklärt, Basil sei überhaupt nie in Paris angekommen. Vermutlich erfahren wir in etwa vierzehn Tagen, er sei in San Francisco gesehn worden. Es ist eine kuriose Sache, aber von jedem, der verschwindet, heißt es, man habe ihn in San Francisco gesehn. Es muß eine entzückende Stadt sein und all die Anziehungskraft der künftigen Welt besitzen.«

»Was glaubst du, daß Basil zugestoßen ist?« fragte Dorian, der seinen Burgunder gegen das Licht hielt und sich wunderte, wie es kam, daß er so ruhig über die Sache plaudern konnte.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wenn Basil Gefallen daran findet, sich versteckt zu halten, kümmert es mich nicht. Wenn er tot ist, will ich nicht an ihn denken. Der Tod ist das einzige, wovor ich Angst habe. Ich hasse ihn.«

»Warum?« fragte Dorian müde.

»Darum,« sagte Lord Henry und führte eine offene Riechdose zur Nase, »weil man heutzutage alles überleben kann außer dem Tod. Tod und Philistertum sind im neunzehnten Jahrhundert die beiden einzigen Tatsachen, die man nicht forterklären kann. Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, Dorian. Du mußt mir Chopin spielen. Der Mann, mit dem meine Frau durchbrannte, spielte wundervoll Chopin. Arme Viktoria! ich hatte sie sehr gern. Das Haus ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber schließlich beklagt man den Verlust auch seiner übelsten Gewohnheiten. Vielleicht vermißt man sie am meisten. Sie sind ein wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit.«

Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, ging ins nächste Zimmer, setzte sich ans Klavier und ließ seine Finger über die weiß und schwarzen Elfenbeintasten gleiten. Als der Kaffee gebracht wurde, hielt er inne, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: »Harry, ist dir je eingefallen, Basil könnte ermordet worden sein?«

Lord Henry gähnte. »Basil war sehr populär und trug immer eine Uhr für drei Mark. Warum hätte man ihn ermorden sollen? Er war nicht gescheit genug, um Feinde zu haben. Natürlich war er ein überaus genialer Maler. Aber ein Mensch kann malen wie Velazquez und doch so dumm wie möglich sein. Basil war wirklich ziemlich dumm. Er interessierte mich nur einmal, und das war damals, als er mir vor vielen Jahren gestand, er bete dich leidenschaftlich an, und du seist das beherrschende Motiv seiner Kunst.«

»Ich mochte Basil sehr gern,« sagte Dorian, und seine Stimme hatte einen traurigen Klang. »Aber sagt man im Publikum nicht, er sei ermordet worden?«

»Oh, ein paar Zeitungen sagen es. Es scheint mir nicht im geringsten wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt schreckliche Orte in Paris; aber Basil war nicht der Mann, der sie aufsuchte. Er war nicht neugierig. Das war sein Hauptfehler.

»Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir erzählte, ich hätte Basil ermordet?« fragte Dorian. Er sah ihn gespannt an, als er das gesagt hatte.

»Ich würde sagen, lieber Freund, daß du einen Charakter posierst, der dir nicht steht. Alles Verbrechen ist gewöhnlich, gerade wie alle Gewöhnlichkeit ein Verbrechen ist. Dir fehlt die Gabe, Dorian, einen Mord zu begehn. Es tut mir leid, wenn ich damit deine Eitelkeit kränke, aber ich versichere dich, es ist so. Das Verbrechen gehört ganz und gar den untern Klassen. Ich tadle sie nicht im geringsten. Ich sollte meinen, das Verbrechen sei ihnen, was uns die Kunst ist, einfach eine Art, sich außergewöhnliche Empfindungen zu verschaffen.«

»Eine Art, sich Empfindungen zu verschaffen? Glaubst du also, ein Mensch, der einmal einen Mord begangen hat, wäre imstande, das nämliche Verbrechen noch einmal zu begehn? Sag das nicht!«

»Oh, alles wird zum Genuß, wenn man es zu oft tut!« rief Lord Henry lachend. »Das ist eins der wichtigsten Geheimnisse des Lebens. Indessen meine ich, der Mord ist immer eine verfehlte Sache. Man sollte nie etwas tun, wovon man nicht nach dem Essen plaudern kann. Aber lassen wir den armen Basil. Ich wollte, ich könnte glauben, er hätte ein so romantisches Ende genommen, wie du fragst; aber ich kann nicht. Ich glaube eher, er fiel von einem Omnibus in die Seine, und der Schaffner vertuschte die Sache. Ja, ich sollte meinen, das war sein Ende. Ich sehe ihn jetzt auf dem Rücken unter dem dunkelgrünen Wasser liegen, und die schweren Kähne schwimmen über ihm, und lange Stücke Tang hängen in seinem Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch viel Gutes gemalt hätte. In den letzten zehn Jahren ist es mit seiner Malerei sehr zurückgegangen.«

Dorian seufzte, und Lord Henry schlenderte durch das Zimmer und machte sich daran, einen absonderlichen Papagei aus Java am Kopf zu kraulen, einen großen Vogel mit grauem Gefieder und rotem Schopf und Hals, der sich auf einer Bambusstange hin und her bewegte. Als seine spitzen Finger ihn berührten, ließ der Vogel die weiße Haut seiner faltigen Lider über die schwarzen Augen, die wie Glas aussahen, fallen und fing an, sich hin und her zu schwingen.

»Ja,« fuhr er fort, drehte sich um und zog das Taschentuch aus der Tasche, »mit seiner Malerei war es ganz vorbei. Mir schien, sie hatte etwas verloren. Sie hatte ein Ideal verloren. Als du mit ihm nicht mehr so befreundet warst, hörte er auf, ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander gebracht? Ich vermute, er langweilte dich. Wenn das der Fall war, hat er dir nie verziehen. Das ist bei den langweiligen Menschen gewöhnlich so. Nebenbei, was ist aus dem wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht hat? Ich glaube, ich habe es nicht gesehn, seit er es fertig gemacht hat. Oh, ich erinnere mich, daß du mir vor vielen Jahren gesagt hast, du hättest es nach Selby geschickt, und es sei unterwegs abhanden gekommen oder gestohlen worden. Du bekamst es nie zurück? Wie schade! Es war tatsächlich ein Meisterstück. Ich entsinne mich, ich wollte es kaufen. Ich wollte, ich hätte es jetzt. Es stammte aus Basils bester Zeit. Nachher war seine Kunst die seltsame Mischung aus schlechter Malerei und guten Absichten, die einem Mann immer Anspruch darauf gibt, ein hervorragender englischer Maler zu heißen. Inseriertest du nicht deswegen? Das hättest du tun sollen.«

»Ich weiß es nicht mehr,« sagte Dorian. »Vermutlich tat ich es. Aber ich mochte es nie wirklich leiden. Es tat mir leid, daß ich dazu gesessen hatte. Die Erinnerung an das Ding ist mir verhaßt. Warum sprichst du davon? Es erinnerte mich oft an die seltsamen Zeilen von einem Stück – ›Hamlet‹, glaube ich – wie heißen sie?

›Wie das Bildnis eines Grames,
Ein Antlitz ohne Herz.‹

»Ja, so sah es aus.«

Lord Henry lachte. »Wenn ein Mensch das Leben künstlerisch nimmt, ist sein Hirn sein Herz,« antwortete er und setzte sich in einen Lehnstuhl.

Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug auf dem Klavier ein paar sanfte Akkorde an. »Wie das Bildnis eines Grames,« wiederholte er, »ein Antlitz ohne Herz.«

Der ältere Freund legte sich zurück und blickte mit halb geschlossenen Augen zu ihm hinüber. »Nebenbei, Dorian,« sagte er nach einer Pause, »was nützte es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und verlöre – wie heißt die Stelle doch? – seine eigene Seele?«

Die Musik brach schrill ab. Dorian sprang auf und starrte seinen Freund an. »Warum fragst du mich das, Harry?«

»Mein Lieber,« sagte Lord Henry und zog die Brauen erstaunt hoch, »ich fragte dich, weil ich dachte, du könntest mir eine Antwort darauf geben. Das ist alles. Ich ging letzten Sonntag durch den Hyde Park, und nahe beim Marble Arch stand eine kleine Gruppe schäbig gekleideter Menschen, die einem gewöhnlichen Straßenprediger zuhörten. Als ich vorbeiging, hörte ich den Mann mit schreiender Stimme diese Frage an sein Publikum richten. Es berührte mich ziemlich dramatisch. London ist sehr reich an absonderlichen Wirkungen dieser Art. Ein regnerischer Sonntag, ein ungehobelter Christ im Regenmantel, ein Kreis kränklicher, blasser Gesichter unter einem welligen Dach tropfender Schirme und ein wundervoller Satz gellend und hysterisch in die Luft geworfen – es war in seiner Art wirklich sehr gut, es lag eine gewisse Schwungkraft darin. Ich dachte daran, dem Mann zu sagen, die Kunst habe eine Seele, aber der Mensch habe keine. Ich fürchte indessen, er hätte mich nicht verstanden.«

»Nicht, Harry. Die Seele ist eine furchtbare Wirklichkeit. Sie kann gekauft werden und verkauft und vertauscht. Sie kann vergiftet werden, sie kann vollkommen gemacht werden. In jedem von uns lebt eine Seele, ich weiß es.«

»Bist du dessen ganz gewiß, Dorian?« »Ganz gewiß.«

»Ah! dann muß es eine Illusion sein. Die Dinge, die man für ganz sicher hält, sind niemals wahr. Das ist das Verhängnis des Glaubens und die Lehre der Romantik. Wie feierlich du bist! Du mußt nicht so ernsthaft sein. Was hast du oder ich mit den abergläubischen Vorstellungen unserer Zeit zu tun? Nein, wir haben unsern Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel mir etwas! Spiel mir ein Nocturno, Dorian, und während du spielst, sag mir mit leiser Stimme, wie du dir deine Jugend bewahrt hast. Du mußt wahrlich ein geheimes Mittel haben! Ich bin nur zehn Jahre älter als du, und ich bin runzlig und abgenutzt und gelb. Du bist wahrhaft wundervoll, Dorian! Du hast nie entzückender ausgesehn als heute abend! Du gemahnst mich an den Tag, an dem ich dich zum erstenmal sah. Du warst ein kecker und doch schüchterner Bursche und ganz und gar außergewöhnlich. Du hast dich natürlich verändert, aber nicht in der Erscheinung. Ich wollte, du sagtest mir dein Geheimnis. Meine Jugend wiederzubekommen, täte ich alles in der Welt, außer Gymnastik treiben, früh aufstehn oder ehrbar sein. Jugend! Es gibt nichts, was ihr gleichkommt. Es ist Unsinn, von der Unwissenheit der Jugend zu reden. Die einzigen Menschen, auf deren Ansichten ich jetzt mit einigem Respekt höre, sind Leute, die viel jünger als ich sind. Sie scheinen mir voraus. Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Den Alten widerspreche ich immer. Ich tue es aus Prinzip. Wenn du sie nach ihrer Meinung über etwas fragst, das gestern vorgefallen ist, so geben sie in feierlichem Ton die Meinungen zum besten, die 1820 gangbar waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, an alles glaubten und von nichts etwas wußten. Wie entzückend das ist, was du da spielst. Ob es wohl Chopin in Mallorca geschrieben hat, wo das Meer um die Villa weinte und der salzige Schaum gegen die Scheiben klatschte? Es ist wunderbar romantisch. Was für ein Segen ist es, daß uns die eine Kunst geblieben ist, die nicht nachahmend ist! Hör nicht auf! Ich brauche heute abend Musik. Es kommt mir vor, als seist du der junge Apollo und ich Marsyas, der dir zuhört. Ich habe meine eigenen Kümmernisse, Dorian, von denen nicht einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters ist nicht, daß man alt wird, sondern daß man jung bleibt. Ich bin manchmal über meine eigene Aufrichtigkeit erstaunt. Ah, Dorian, wie glücklich du bist! Wie köstlich ist dein Leben gewesen! Du hast tief von allem getrunken. Du hast die Trauben an deinem Gaumen zerdrückt. Nichts ist dir verborgen geblieben. Und es ist nicht mehr für dich gewesen als der Klang von Musik. Es konnte dir nichts anhaben; du bist noch derselbe.«

»Ich bin nicht mehr derselbe, Harry.«

»Doch, du bist derselbe. Ich bin begierig, wie dein Leben weitergehn wird. Verdirb es nicht durch Entsagung! Jetzt bist du ein vollkommener Typus. Mach dich nicht unvollkommen! Jetzt bist du ganz ohne Tadel. Du brauchst nicht den Kopf zu schütteln: du weißt, du bist es. Außerdem, Dorian, täusche dich nicht selbst. Das Leben wird nicht vom Willen oder Vorsatz regiert. Das Leben ist eine Sache der Nerven und Fibern und allmählich aufgebauten Zellen, in denen das Denken wohnt und die Leidenschaft ihre Träume hat. Du magst wähnen, du ständest sicher da und seist stark. Aber ein zufälliger Farbenton in einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, ein besonderer Duft, den du einst geliebt hast und der tiefe Erinnerungen mit sich führt, eine Zeile eines vergessenen Gedichts, die dir wieder einfällt, ein paar Takte aus einem Musikstück, das du nicht mehr gespielt hast, ich sage dir, Dorian, von derlei Dingen hängt unser Leben ab. Browning schreibt irgendwo darüber; aber unsere eigenen Sinne wissen es ohnedies. Es gibt Augenblicke, wo ich plötzlich den Duft von weißem Flieder spüre, und ich durchlebe wieder den seltsamsten Monat meines Lebens. Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen, Dorian. Die Welt hat gegen uns beide Zeter geschrien, aber sie hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. Du bist der Typus dessen, wonach die Zeit sucht und was sie fürchtet, gefunden zu haben. Ich bin so froh, daß du nie etwas getan hast, nie eine Statue gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas außerhalb deiner Person geschaffen hast! Das Leben ist deine Kunst gewesen. Du hast dich in Musik gesetzt. Die Tage deines Lebens sind deine Sonette.«

Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ja, das Leben ist köstlich gewesen,« sagte er halblaut. »Aber ich werde dieses Leben nicht fortsetzen, Harry. Und du darfst nicht so überschwengliche Dinge zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich glaube, wenn du es wüßtest, würdest selbst du dich von mir wenden! Du lachst. Lache nicht!«

»Warum spielst du nicht weiter, Dorian? Geh wieder ans Klavier und spiele mir das Nocturno noch einmal. Sieh den großen honigfarbenen Mond, der in der dunkeln Luft hängt. Er wartet auf dich, daß du ihn entzückst, und wenn du spielst, kommt er näher zur Erde heran. Du willst nicht? Dann wollen wir in den Klub gehn. Es war ein entzückender Abend, und wir müssen ihn entzückend beenden. In White’s Club ist jemand, der unendlich wünscht, dich kennen zu lernen, der junge Lord Poole, Bournemouths ältester Sohn. Er hat schon deine Krawatten kopiert und hat mich gebeten, ihn mit dir bekannt zu machen. Er ist ganz wundervoll und erinnert mich ein bißchen an dich.«

»Ich hoffe nicht,« sagte Dorian mit schmerzlichem Ausdruck in den Augen. »Aber ich bin müde heute abend. Ich gehe nicht in den Klub. Es ist fast elf Uhr, und ich will früh zu Bett gehn.«

»Bleib noch! Du hast noch nie so gut gespielt wie heute abend. Es war etwas in deinem Anschlag – etwas Wundervolles. Er hatte mehr Ausdruck, als ich je früher von dir gehört habe.«

»Das kommt daher, daß ich jetzt gut werde,« antwortete er lächelnd. »Ich bin schon ein wenig anders.«

»Du kannst für mich kein anderer werden, Dorian,« sagte Lord Henry. »Du und ich werden immer Freunde sein.«

»Aber einst hast du mich mit einem Buche vergiftet. Ich sollte das nicht verzeihen. Harry, versprich mir, daß du das Buch nie einem leihen willst! Es richtet Unheil an.« »Lieber Freund, du fängst wirklich an zu moralisieren. Du wirst bald herumlaufen wie die Bekehrten und die Erweckungsprediger, und wirst die Menschen vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden bist. Du bist viel zu entzückend für so etwas. Außerdem hat es keinen Zweck. Du und ich sind, was wir sind, und werden sein, was wir sein werden. Was die Vergiftung durch ein Buch angeht, so etwas gibt es nicht. Die Kunst hat keinen Einfluß auf das Tun. Sie vernichtet den Trieb des Handelns. Sie ist wundervoll unfruchtbar. Die Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, sind solche, die der Welt ihre eigene Schande zeigen, weiter nichts. Aber wir wollen nicht über Literatur diskutieren. Komm morgen her! Ich reite um elf Uhr aus. Wir könnten zusammen reiten, und nachher nehme ich dich zum Frühstück zu Lady Branksome mit. Das ist eine reizende Frau, und sie will dich wegen einiger Wandteppiche, die sie kaufen will, zu Rate ziehen. Bitte, komm! Oder sollen wir zu unserer kleinen Herzogin gehn? Sie sagt, sie sieht dich gar nicht mehr. Vielleicht hast du genug von ihr? Ich dachte es mir. Ihre flinke Zunge geht einem auf die Nerven. Also, in jedem Fall sei um elf Uhr hier.« »Muß ich wirklich kommen, Harry?«

»Unbedingt. Der Park ist jetzt entzückend. Ich glaube, der Flieder ist seit dem Jahr, in dem ich dich kennen lernte, nicht mehr so schön gewesen.«

»Schön. Ich werde um elf Uhr hier sein,« sagte Dorian. »Gute Nacht, Harry.« Als er an der Tür war, zögerte er einen Augenblick, als ob er noch etwas sagen wollte. Dann seufzte er und ging.

Zwanzigstes Kapitel

Es war eine wundervolle Nacht und so warm, daß er den Überzieher auf dem Arm trug und nicht einmal das seidene Halstuch umnahm. Als er seine Zigarette rauchend langsam nach Hause ging, kamen zwei junge Leute im Gesellschaftsanzug an ihm vorbei. Er hörte, wie einer von ihnen dem andern zuflüsterte: »Das ist Dorian Gray.« Er dachte daran, wie es ihm immer gefallen hatte, wenn man auf ihn zeigte oder ihn ansah oder über ihn redete. Er war es jetzt müde, seinen Namen zu hören. Der halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er in letzter Zeit so oft gewesen war, bestand darin, daß niemand ihn kannte. Er hatte dem Mädchen, das er zur Liebe gelockt hatte, oft gesagt, er sei arm, und sie hatte es geglaubt. Er hatte ihr einmal gesagt, er sei schlecht, und sie hatte gelacht und geantwortet, schlechte Menschen seien immer sehr alt und sehr häßlich. Was sie für ein Lachen hatte ! – gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie hübsch sie gewesen war in ihrem Baumwollkleidchen und ihrem großen Hut! Sie wußte von nichts etwas, aber sie besaß alles, was er verloren hatte.

Zu Hause hatte sein Diener seine Rückkehr abgewartet. Er schickte ihn ins Bett und warf sich im Bücherzimmer aufs Sofa und fing an, über einiges von dem, was Lord Henry gesagt hatte, nachzudenken.

War es wirklich wahr, daß man nie anders werden konnte? Er verspürte ein wildes Verlangen nach der unbefleckten Reinheit seiner Knabenzeit – seiner lilienweißen Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er wußte, er hatte sie befleckt, hatte seinen Geist mit Verderbnis gefüllt und seine Phantasie in Entsetzen getaucht; er hatte einen schlechten Einfluß auf andere geübt und eine furchtbare Freude daran gehabt; und von den Menschenleben, die sein eigenes gekreuzt hatten, waren es die reinsten und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande gebracht hatte. Aber war das nicht wieder gut zu machen? Gab es keine Hoffnung für ihn?

Oh! in welch ungeheuerlichem Augenblick von Hochmut und Leidenschaft hatte er das Gebet gesprochen, das Bild solle die Last seiner Tage tragen und er den fleckenlosen Glanz ewiger Jugend bewahren! Sein ganzes verfehltes Leben kam daher. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde ihre sichere, schnelle Buße nach sich gezogen hätte. Es lag etwas Reinigendes in der Strafe. Nicht »Vergib uns unsere Sünden«, sondern »Züchtige uns für unsere Missetaten« sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten Gott sein.

Der mit seltsamem Schnitzwerk umrahmte Spiegel, den Lord Henry ihm vor so vielen Jahren geschenkt hatte, stand auf dem Tisch, und die Liebesgötter mit ihren silberweißen Gliedern lachten wie vorzeiten auf dem Rahmen. Er nahm ihn zur Hand, wie er es in der Schreckensnacht getan, als er zuerst die Veränderung an dem verhängnisvollen Bilde gewahrt hatte, und blickte mit verzweifelten, tränenumschleierten Augen in die blanke Fläche. Einst hatte ihm ein Mensch, der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen überspannten Brief geschrieben, der mit den wahnsinnigen Worten schloß: »Die Welt ist anders geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen wurdest. Die geschwungenen Linien deiner Lippen wandeln die Geschichte.« Die Sätze kamen ihm jetzt ins Gedächtnis, und er wiederholte sie immer und immer wieder. Dann haßte er seine Schönheit, schleuderte den Spiegel zu Boden und zertrat ihn in silberne Splitter. Gerade seine Schönheit hatte ihn zugrunde gerichtet, seine Schönheit und die Jugend, um die er gebetet hatte. Wenn die zwei nicht gewesen wären, wäre sein Leben vielleicht makellos geblieben. Seine Schönheit war ihm nur eine Maske gewesen, seine Jugend nur ein Blendwerk. Was war Jugend im besten Fall? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit oberflächlicher Stimmungen und blasser Gedanken. Warum hatte er ihr Gewand getragen? Nur die Jugend hatte ihn in die Schmach gebracht.

Es war besser, nicht ans Vergangene zu denken. Er mußte an sich und seine eigene Zukunft denken. James Vane war in einem namenlosen Grab im Kirchhof zu Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich eines Nachts in seinem Laboratorium erschossen, hatte aber das Geheimnis nicht verraten, zu dessen Mitwisserschaft er gezwungen worden war. Die Aufregung über Basil Hallwards Verschwinden würde sich bald legen; sie war schon schwächer geworden. Dann war er ganz sicher. Auch war es in der Tat nicht der Tod Basil Hallwards, was seinen Geist am meisten bedrückte. Der lebendige Tod seiner eigenen Seele ließ ihm keine Ruhe. Basil hatte das Porträt gemalt, das sein Leben zerstört hatte. Er konnte ihm das nicht verzeihen. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte Dinge zu ihm gesagt, die unerträglich waren und die er doch geduldig ertragen hatte. Der Mord war nichts als der Wahnsinn eines Augenblicks gewesen. Und Alan Campbells Selbstmord war seine eigene Tat; sein freier Entschluß, der ging ihn nichts an.

Ein neues Leben! Ein neues Leben brauchte er. Darauf wartete er. Gewiß hatte er es schon angefangen. Ein unschuldiges Geschöpf hatte er jedenfalls geschont. Er wollte nie wieder die Unschuld in Versuchung führen. Er wollte gut sein.

Als er an Hetty Merton dachte, kam ihm der Gedanke, ob sich wohl das Bild in dem verschlossenen Zimmer verändert habe. Gewiß war es doch nicht mehr so gräßlich, wie es gewesen war. Vielleicht könnte er, wenn sein Leben ein reines würde, jede Spur schlechter Leidenschaft aus dem Bilde treiben. Vielleicht waren die Zeichen der Schlechtigkeit schon verschwunden. Er wollte hinaufgehn und nachsehn.

Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe hinauf. Als er die Tür aufschloß, flog ein frohes Lächeln über sein seltsam junges Gesicht und weilte einen Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut sein, und das gräßliche Ding, das er versteckt hielt, brauchte nicht länger ein Gegenstand des Schreckens für ihn zu sein. Ihm war, als sei die Last schon jetzt von ihm genommen.

Er ging ruhig hinein, schloß die Tür hinter sich, wie er gewohnt war, und zog den Purpurvorhang von dem Bilde. Ein Schrei der Qual und des Zorns kam von seinen Lippen. Er konnte keine Veränderung sehn, außer daß in den Augen ein Ausdruck wie von Schlauheit lag und um den Mund die gebogene Falte des Heuchlers. Das Bild war noch grauenhaft – grauenhafter, wenn möglich, als vorher – und der scharlachrote Fleck auf der Hand schien mehr zu glänzen und sah mehr wie frisch vergossenes Blut aus. Er zitterte. War es bloß Eitelkeit gewesen, was ihn dazu gebracht hatte, einmal etwas Gutes zu tun? Oder die Luft zu einer neuen Art Empfindung, wie Lord Henry mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder der Trieb, eine Rolle zu spielen, der uns manchmal dazu bringt, etwas zu tun, was besser ist als wir selbst? Oder vielleicht all das zusammen genommen? Und warum war der rote Fleck größer als vorher? Er schien wie eine fürchterliche Krankheit weitergefressen zu haben, bis zu den faltigen Fingern. Es war Blut auf den gemalten Füßen zu sehn, als ob es von den Händen getropft wäre – Blut selbst an der Hand, die nicht das Messer geführt hatte. Gestehn? Bedeutete das, daß er gestehn sollte? Sich aufgeben und hingerichtet werden? Er lachte. Er wußte, der Gedanke war ungeheuerlich. Überdies, selbst wenn er gestünde, wer würde ihm glauben? Es war nirgends eine Spur des ermordeten Mannes. Alles, was zu ihm gehörte, war zerstört worden. Er selbst hatte verbrannt, was unten geblieben war. Die Welt würde nichts anderes sagen, als daß er verrückt sei. Man würde ihn ins Irrenhaus sperren, wenn er auf seiner Geschichte bestünde … Aber es war seine Pflicht, zu gestehn, öffentliche Schande zu erdulden und öffentlich Buße zu tun. Es war ein Gott, der den Menschen zurief, ihre Sünden der Erde wie dem Himmel zu beichten. Nichts, was er tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde selber gebeichtet hatte. Seine Sünde? Der Tod Basil Hallwards schien ihm sehr unwichtig! Er dachte an Hetty Merton. Denn es war ein ungerechter Spiegel, dieser Spiegel seiner Seele, auf den er blickte. Eitelkeit? Gier nach Neuem? Heuchelei? War in seiner Entsagung nicht mehr als das gewesen? Es war noch etwas darin gewesen. Wenigstens meinte er es. Aber wer weiß? . . . Nein, es war nichts weiter darin gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Als Heuchler hatte er die Maske der Güte getragen. Um der Neugier willen hatte er es mit der Selbstverleugnung versucht. Er erkannte es jetzt. Aber dieser Mord – sollte dieser Mord sein Leben lang hinter ihm her sein? Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit tragen? Sollte er wirklich ein Geständnis ablegen? Niemals. Es gab nur ein einziges, was als Beweis gegen ihn dienen konnte. Das Bildnis selbst – das war beweiskräftig. Er wollte es zerstören. Warum hatte er es so lange behalten? Einst war es ihm ein Genuß gewesen zuzusehn, wie es sich veränderte und alt wurde. In letzter Zeit hatte er keinen solchen Genuß mehr verspürt. Es hatte ihn nachts nicht schlafen lassen. Wenn er ausgegangen war, war er voller Angst gewesen, fremde Augen könnten darauf blicken. Es hatte Schwermut in seine Lüste gebracht. Die bloße Erinnerung an das Bild hatte viele Augenblicke der Freude gestört. Es war ihm wie ein Gewissen gewesen. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören.

Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis kein Fleck mehr darauf war. Es war blank und glänzte. Wie es den Maler getötet hatte, so sollte es das Werk des Malers und alles, was es bedeutete, töten. Es sollte die Vergangenheit töten, und wenn die tot wäre, würde er frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Leben der Seele töten, und wenn diese gräßlichen Zeichen der Drohung nicht mehr wären, hätte er Frieden. Er ergriff das Messer und durchbohrte das Bild damit.

Man hörte einen Schrei und ein Krachen. Der Schrei war in seiner Todesnot so gräßlich, daß die Dienerschaft entsetzt aufwachte und aus ihren Zimmern stürzte. Zwei Herren, die auf dem Platz unten vorbeigingen, blieben stehn und blickten an dem stattlichen Haus empor. Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen, und nahmen ihn mit zurück. Der Mann läutete mehrmals, aber es meldete sich niemand. Außer einem Licht in einem der Dachfenster war das ganze Haus dunkel. Nach einer Weile ging er fort und stellte sich in einen anstoßenden Säulengang und behielt das Haus im Auge.

»Wem gehört dieses Haus, Schutzmann?« fragte der ältere der beiden Herren.

»Herrn Dorian Gray,« war die Antwort des Polizisten.

Sie blickten einander an, als sie weitergingen, und lächelten. Der eine von beiden war der Oheim Sir Henry Ashtons.

Innen, im Bedientenzimmer, sprachen die halb angezogenen Bedienten leise flüsternd miteinander. Die alte Frau Leaf weinte und rang die Hände. Francis war blaß wie der Tod.

Nach etwa einer Viertelstunde nahm er den Kutscher und einen der Lakaien mit sich und schlich die Treppe hinauf. Sie klopften an, aber es kam keine Antwort. Sie riefen. Alles war still. Schließlich stiegen sie, nachdem sie vergebens versucht hatten, die Tür zu sprengen, aufs Dach und ließen sich auf den Balkon hinunter. Die Balkontür gab leicht nach, ihre Riegel waren alt.

Als sie eingetreten waren, sahen sie ein glänzendes Porträt ihres Herrn an der Wand hängen, wie sie ihn zuletzt gesehn hatten, in all dem Wunder seiner köstlichen Jugend und Schönheit. Auf dem Boden aber lag ein toter Mann im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er war welk, runzlig und Abscheu erregend. Erst als sie die Ringe untersuchten, erkannten sie, wer es war.

Elftes Kapitel

Lange Jahre konnte sich Dorian Gray nicht von dem Einfluß dieses Buches befreien. Oder es wäre vielleicht zutreffender zu sagen, er versuchte nie, sich von ihm zu befreien. Er ließ sich aus Paris nicht weniger als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und ließ sie verschiedenfarbig einbinden, auf daß sie zu seinen verschiedenen Stimmungen und zu den wechselnden Launen einer Natur paßten, über die er manchmal jede Herrschaft verloren zu haben schien. Der Held des Buches, der junge Pariser, in dem die romantischen und die wissenschaftlichen Neigungen so seltsam gemengt waren, wurde für ihn eine Art vorbildlicher Typus seiner selbst. Und in Wahrheit schien ihm das ganze Buch die Geschichte seines eigenen Lebens zu enthalten, die niedergeschrieben worden war, ehe er es gelebt hatte.

In einem Punkt war er glücklicher als der phantastische Romanheld. Er kannte nie – und hatte in Wahrheit nie einen Grund dazu – das fast groteske Grauen vor Spiegeln und glatten Metalloberflächen und stillen Wassern, das den jungen Pariser so früh im Leben überkam und das durch den plötzlichen Verfall einer Schönheit veranlaßt worden war, die einstmals so hervorragend gewesen sein mußte, Mit einer fast grausamen Freude – und vielleicht liegt in fast jeder Freude, wie sicher in jeder Lust, Grausamkeit – las er gern den letzten Teil des Buches mit seinem wahrhaft tragischen, wenn auch etwas übertrieben pathetischen Bericht über die Leiden und die Verzweiflung eines Menschen, der selber verloren hatte, was er an andern und an der Welt so sehr schätzte.

Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward und viele andre außer ihm so bezaubert hatte, schien ihn nie zu verlassen. Selbst solche, die die schlimmsten Dinge über ihn gehört hatten – und von Zeit zu Zeit schlichen seltsame Gerüchte über seine Lebensführung durch London und wurden zum Klubgespräch –, konnten nichts, was ihm zur Unehre gereichte, glauben, wenn sie ihn sahen, Er sah immer aus wie einer, der sich in der Welt fleckenlos bewahrt hatte. Männer, die unanständige Reden führten, verstummten, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat. Es lag etwas in der Reinheit seines Gesichtes, das sie zurechtwies. Seine bloße Anwesenheit schien ihnen die Erinnerung an die Unschuld zurückzurufen, die sie befleckt hatten. Sie wunderten sich, wie einer, der so reizend und anmutsvoll war wie er, der Befleckung einer Zeit hatte entgehn können, die schmutzig und sinnlich zugleich war.

Oft, wenn er nach einer geheimnisvollen längeren Abwesenheit, die sich öfter wiederholte und manchmal zu seltsamen Vermutungen unter denen, die seine Freunde waren oder sich dafür hielten, Veranlassung gab, nach Hause zurückkehrte, kletterte er ins Dachgeschoß hinauf, öffnete mit dem Schlüssel, den er jetzt immer bei sich trug, die Tür zu dem verschlossenen Zimmer und stand mit einem Spiegel in der Hand vor dem Porträt, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, und blickte bald auf das schlimme und gealterte Gesicht auf der Leinwand, bald auf das schöne, junge Antlitz, das ihm aus der glatten Fläche des Spiegels entgegenlachte. Die Stärke des Gegensatzes regte geradezu sein Lustgefühl an. Er verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit, gewann mehr und mehr Interesse an der Verderbnis seiner eigenen Seele. Er untersuchte mit peinlicher Sorgfalt und manchmal mit ungeheuerlichem und furchtbarem Entzücken die gräßlichen Linien, die die faltige Stirn verunstalteten oder um den dicken, sinnlichen Mund krochen, und fragte sich manchmal, welche Spuren die scheußlicheren wären, die der Sünde oder die des Alters.

Er legte seine weißen Hände neben die plumpen, aufgetriebenen Hände des Bildes und lächelte. Er machte sich über den mißgeschaffenen Körper und die verfallenden Glieder lustig.

Es gab freilich Augenblicke, wenn er schlaflos in seinem eigenen parfümduftenden Gemache oder in dem schmutzigen Zimmer der kleinen berüchtigten Kneipe in der Nähe der Docks lag, die er unter einem falschen Namen und in Verkleidung zu besuchen pflegte – wo er mit einem Mitleid, das um so schärfer war, als es rein egoistischen Ursprungs war, an das Verderben dachte, das er über seine Seele gebracht hatte. Aber solche Augenblicke waren selten. Die Neugier auf das Leben, die Lord Henry zuerst in ihm erweckt hatte, als sie im Garten ihres Freundes zusammensaßen, schien mit ihrer Befriedigung zu wachsen. Je mehr er kennen lernte, um so mehr verlangte es ihn, zu erfahren. Er hatte wahnsinnige Hungergelüste, die heißhungriger wurden, je mehr er sie fütterte.

Aber er war doch nicht wirklich liederlich geworden, wenigstens nicht in seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- oder zweimal in jedem Monat während des Winters und jeden Mittwoch abend während der Dauer der Saison öffnete er der Welt sein schönes Haus und hatte immer die berühmtesten Musiker, die seine Gäste mit ihrer wunderbaren Kunst entzückten. Seine kleinen Diners, bei deren Arrangement Lord Henry ihm immer half, waren ebensosehr wegen der sorgsamen Auswahl und Placierung der Eingeladenen bekannt, wie wegen des erlesenen Geschmacks, der sich in der Dekoration der Tafel mit ihren feinen symphonischen Arrangements exotischer Blumen, ihren gestickten Decken und dem antiken Gold- und Silbergeschirr zeigte.

Es gab tatsächlich viele, besonders unter den ganz jungen Leuten, die in Dorian Gray die richtige Verwirklichung eines Typus sahen, von dem sie in den Tagen von Eton oder Oxford oft geschwärmt hatten, eines Typus, der so etwas wie die wahre Bildung und Kultur des Gelehrten mit der Grazie und der Vornehmheit und den vollendeten Manieren eines Mannes von Welt vereinigen sollte, oder die sie wenigstens zu sehn sich einbildeten. Ihnen schien er einer aus der Schar derer zu sein, die Dante schildert, die da suchten, »sich vollkommen zu machen durch den Kultus der Schönheit“. Gleich Gautier war er einer, für den »die sichtbare Welt da war“.

Und gewiß war ihm das Leben die erste und größte der Künste, und auf das Leben schienen alle andern Künste nur eine Vorbereitung zu sein. Die Mode, durch die einen Augenblick lang Gemeingut aller wird, was in Wahrheit phantastisch und Laune eines einzelnen ist, und das Dandytum, das in seiner besonderen Art ein Versuch ist, eine völlig moderne Schönheit zu verkörpern, übten natürlich ihren Reiz auf ihn aus. Seine Art, sich zu kleiden, und die besondern Stile, die er von Zeit zu Zeit zur Schau trug, hatten ihren deutlichen Einfluß auf die jungen Stutzer von den Bällen in Mayfair und den Fenstern des Pall Mall Klub, die ihn in allem, was er tat, kopierten, und die den absichtslosen Reiz seiner anmutigen, wenn schon ihm nur halb ernsten Geckereien nachzuahmten suchten.

Denn er war zwar nur zu gern bereit, die Rolle zu übernehmen, die ihm fast unmittelbar, nachdem er volljährig geworden war, zuflog, und er fand tatsächlich einen besondern Genuß in dem Gedanken, er könne dem London seiner Zeit wahrhaft das werden, was der Verfasser des »Satyricon“ einst dem kaiserlichen Rom Neros gewesen war. aber im innersten Herzen verlangte es ihn doch, etwas mehr zu sein als ein bloßer arbiter elegantiarum und nicht bloß über das Tragen eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder das Halten eines Spazierstockes zu Rate gezogen zu werden. Er versuchte, einen neuen Plan der Lebensführung zu entwerfen, der seine philosophische Grundlage und geordnete Prinzipien haben und in der Vergeistigung der Sinne seine höchste Vollendung finden sollte.

Der Kultus der Sinne ist oft, und mit vielem Recht, in Verruf gebracht worden, da die Menschen einen natürlichen, instinktmäßigen Abscheu vor Leidenschaften und Triebempfindungen haben, die stärker als sie selbst scheinen und die sie, wie sie wissen, mit den weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein haben. Aber es kam Dorian Gray so vor, als wäre die wahre Natur der Sinne nie verstanden worden, und als wären sie nur darum wild und tierisch geblieben, weil die Welt versuchte, sie hungern zu lassen und dadurch zur Unterwerfung zu bringen, oder sie durch Qualen zu töten, anstatt dahin zu streben, sie zu Elementen einer neuen Geistigkeit zu machen, deren vorherrschendes Kennzeichen ein feiner Instinkt für die Schönheit war. Wenn er auf den Gang der Menschen durch die Geschichte zurückblickte, wurde er wie von einem Gefühl des Verlustes heimgesucht. Auf so viel war verzichtet worden und zu so kleinem Zweck! Es hatte wahnsinnige freiwillige Entsagungen gegeben, ungeheuerliche Formen der Selbstpeinigung und Selbstverleugnung, deren Ursprung Furcht und deren Ergebnis eine Erniedrigung war, unendlich viel schrecklicher als die eingebildete Erniedrigung, vor der sie sich in ihrer Unwissenheit retten wollten, da die Natur in ihrer wundervollen Ironie den Anachoreten hinaustrieb, damit er mit den wilden Tieren der Wüste zusammen sein Futter suche, und dem Eremiten die Tiere des Feldes zu Gefährten gab.

Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein neuer Hedonismus kommen, der dazu bestimmt war, das Leben zu erneuern und es vor dem groben, häßlichen Puritanismus zu erretten, der in unsern Tagen sein seltsames Wiedererwachen gefunden hatte. Gewiß, er würde dem Intellekt zu gehorchen haben; aber er würde nie eine Theorie oder ein System anerkennen, das das Opfer irgendeiner Art Gefühls- oder Trieberlebnisses verlangte. Sein Ziel war gerade die Erfahrung und das Erlebnis selbst, nicht die Früchte der Erfahrung, so süß oder so bitter sie auch wären. Von der Askese, die die Sinne tötet, würde dieser Hedonismus ebensowenig wissen wollen wie von der gewöhnlichen Liederlichkeit, die sie stumpf macht. Aber er sollte die Menschen lehren, sich auf die Momente eines Lebens zu konzentrieren, das selbst nur ein Moment ist.

Es gibt wenige unter uns, die nicht manchmal vor Tagesgrauen erwacht sind, entweder nach einer der traumlosen Nächte, die uns fast verliebt in den Tod machen, oder nach einer Nacht voller Entsetzen und Alpdruckslüste, die fürchterlicher sind als die Wirklichkeit selber und die von dem starken Leben triefen, das in allem Grotesken lauert und das der gotischen Kunst ihre unvertilgbare Lebenskraft gibt– denn diese Kunst, möchte man meinen, ist ganz besonders die Kunst derer, deren Geist von der Krankheit des Fiebertraums verwirrt worden ist. Langsam schieben sich weiße Finger zwischen den Vorhängen durch und scheinen zu zittern. In schwarzen verzerrten Formen kriechen lautlose Schatten in die Zimmerecken und bleiben da hocken. Draußen regen sich die Vögel im Laub, oder man hört die Schritte von Männern, die zur Arbeit gehn, oder das Seufzen und Heulen des Windes, der von den Bergen kommt und das schweigsame Haus umfährt, als ob er sich fürchtete, die Schläfer zu wecken, und doch es nicht lassen könnte, den Schlaf aus seiner purpurnen Höhle heraufzurufen. Schleier um Schleier aus dünner, dunkelfarbener Gaze hebt sich, und allmählich werden den Dingen die Formen und Farben wiedergegeben, und wir gewahren das Grauen des Tages, der die Welt in ihrem uralt-gleichen Bild wiederherstellt. Die bleichen Spiegel bekommen wieder ihr Scheinleben. Ausgelöscht stehen die Kerzen, wo wir sie gelassen haben, und neben ihnen liegt das halb aufgeschnittene Buch, in dem wir gelesen, oder die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet haben oder den wir zu oft gelesen haben. Nichts scheint uns verändert. Aus den unwirklichen Schatten der Nacht kommt das wirkliche Leben, wie wir es gekannt hatten, hervor. Wir müssen es wieder da aufnehmen, wo wir es gelassen hatten, und es überschleicht uns ein furchtbares Gefühl von der Notwendigkeit der Fortdauer der Energie in demselben ermüdenden Kreislauf stereotyper Gewohnheit, oder vielleicht ein wildes Verlangen, unsere Lider möchten sich eines Morgens einer Welt öffnen, die in den dunkeln Stunden zu unserer Lust neu geformt worden wäre, einer Welt, in der die Dinge frische Linien und Farben hätten und verwandelt wären oder andere Geheimnisse enthielten, einer Welt, in der die Vergangenheit einen kleinen oder gar keinen Platz hätte oder wenigstens nicht in der Bewußtseinsform der Pflicht oder der Reue weiter lebte, wo selbst das Gedächtnis an die Freude Bitterkeit birgt und die Erinnerung an die Lust den Schmerz im Gefolge hat.

Solche Welten zu schaffen, schien Dorian Gray die wahre Aufgabe oder eine der wahren Aufgaben des Lebens; und auf seiner Suche nach Erlebnissen der Sinne und starken Empfindungen, die zugleich neu und lustvoll wären und jenes Element der Seltsamkeit besäßen, das der Romantik so wesentlich ist, nahm er oft gewisse Denkungsarten an, von denen er wohl wußte, daß sie seiner Natur in Wahrheit fremd waren, gab sich ihren feinen Einflüssen hin und ließ sie dann, nachdem er sozusagen ihre Farbe getrunken und seine geistige Neugier befriedigt hatte, mit der seltsamen Gleichgültigkeit fallen, die mit einem wirklich glühenden Temperament nicht unvereinbar ist, die in Wahrheit sogar, nach manchem Psychologen unserer Zeit, oft eine Bedingung dafür ist.

Es ging einmal das Gerücht über ihn, er stehe im Begriff, katholisch zu werden; und gewiß hatte der katholische Kult immer eine große Anziehung für ihn. Das tägliche Meßopfer, das in Wahrheit ehrwürdiger und furchtbarer ist als alle Opfer der antiken Welt, ergriff ihn ebensosehr durch seine prachtvolle Unbekümmertheit um den Augenschein der Sinne wie durch die primitive Einfachheit seiner Elemente und das ewige Pathos der Menschentragödie, der es ein Symbol sein wollte. Er kniete gern auf das kalte Marmorpflaster nieder und beobachtete, wie der Priester in seiner feierlichen, mit Blumen bestickten Dalmatika langsam mit weißen Händen den Vorhang des Tabernakels beiseite schob oder die mit edeln Steinen geschmückte Monstranz, die die blasse Hostie enthielt – die zuzeiten, möchte man gern glauben, wirklich der panis coelestis ist, das Brot der Engel – gleich einer Laterne in die Höhe hob; oder wie er, angetan mit den Gewändern der Passion Christi, die Hostie in den Kelch tauchte und sich die Brust schlug um seiner Sünden willen. Die rauchenden Weihrauchfässer, die die ernsthaften Knaben, in Spitzen und Scharlach gekleidet, wie große, goldfarbene Blumen in der Luft schwangen, übten eine tiefe Bezauberung auf ihn aus. Wenn er hinausging, blickte er wohl neugierig auf die dunkeln Beichtstühle und hatte Lust, in dem Düster eines solchen zu sitzen und Männern und Frauen zu lauschen, wie sie durch das abgegriffene Gitter die wahre Geschichte ihres Lebens flüsterten.

Aber er verfiel nie dem Irrtum, irgendeinen Glauben oder ein System formell zu akzeptieren und dadurch die Entfaltung seines Geistes zu hemmen, gleichsam eine Herberge, die nur gut ist für den Aufenthalt einer Nacht oder für ein paar Stunden einer Nacht, in der keine Sterne am Himmel sind und der Mond im Werden ist, mit einem Haus zu verwechseln, in dem man sein Leben verbringt. Die Mystik, mit ihrer wunderbaren Macht, uns gemeine Dinge fremd und ungemein zu machen, und mit der tiefen Ketzerei, die immer in ihrem Gefolge zu sein scheint, ergriff ihn für ein halbes Jahr; und dann neigte er wieder ein anderes halbes Jahr zu den materialistischen Lehren der darwinistischen Bewegung in Deutschland und fand einen seltsamen Genuß darin, die Gedanken und Leidenschaften der Menschen bis zu einer perigleichen Zelle im Hirn oder einem weißen Nerv im Körper zurückzuverfolgen, und schwelgte in der Vorstellung von der völligen Abhängigkeit des Geistes von gewissen physischen Bedingungen, krankhaften oder gesunden, normalen oder pathologischen. Jedoch, wie vorhin von ihm gesagt wurde: eine Theorie vom Leben schien ihm irgend Bedeutung zu haben im Vergleich mit dem Leben selbst. Er war sich in aller Schärfe bewußt, wie unfruchtbar alle Spekulation des Geistes ist, wenn sie vom Tun und vom Versuche getrennt ist. Er wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre Geistesmysterien zu offenbaren haben.

Und so erforschte er zu einer Zeit die wohlriechenden Stoffe und die Geheimnisse ihrer Herstellung, destillierte schwer mit Düften beladene Öle und verbrannte wohlriechendes Gummi aus dem Orient. Er sah, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht ihr Gegenstück im Leben der Sinne hatte, und machte sich daran, ihre wahren Beziehungen zu entdecken und also herauszufinden, was im Weihrauch war, der einen mystisch machte, und in der Ambra, die einem die Leidenschaften erweckte, und in den Veilchen, die die Erinnerung an gestorbene Liebe heraufriefen, und im Moschus, der das Hirn verwirrte, und im Tschambak, der die Phantasie schmutzig machte; und oft versuchte er, eine wahrhafte Psychologie der Düfte auszuarbeiten und die verschiedenen Einwirkungen zu bestimmen: Einwirkungen süß duftender Wurzeln und wohlriechender, Blütenstaub tragender Blumen, aromatischer Balsame und dunkler, stark riechender Hölzer, des Baldrians, der zum Erbrechen reizt, von der es heißt, sie könne die Melancholie aus der Seele der Hovenia, die die Menschen toll macht, und der Abe, von der es heißt, sie könne die Melancholie aus der Seele jagen.

Zu einer andern Zeit widmete er sich gänzlich der Musik und in einem langen, verdunkelten Zimmer, dessen Decke in goldenen und roten Tönen gehalten war, und dessen Wände mit olivgrünem Lack überzogen waren, gab er manchmal absonderliche Konzerte, in denen tolle Zigeuner auf kleinen Zithern spielten, oder ernste, in gelbe Schals gehüllte Tunesier die gespannten Saiten ungewöhnlich großer Lauten zupften, während grinsende Neger eintönig auf Kupfertrommeln schlugen, und schmächtige Inder mit dem Turban auf dem Kopf auf scharlachroten Matten saßen und durch lange Pfeifen aus Rohr oder Messing bliesen und dadurch große Brillenschlangen und Klapperschlangen wirklich oder angeblich bezauberten. Die mißtönenden Intervalle und schrillen Dissonanzen barbarischer Musik sprachen manchmal erregend zu ihm, wenn Schuberts Lieblichkeit, Chopins schönes Leid und die mächtigen Harmonien des großen Beethoven machtlos in sein Ohr fielen. Er sammelte aus allen Weltteilen die seltsamsten Instrumente, die man finden konnte, entweder in den Gräbern toter Völker oder unter den wenigen wilden Stämmen, die die Berührung mit der europäischen Zivilisation überlebt haben, und nahm sie gern zur Hand und versuchte auf ihnen zu spielen. Er hatte die geheimnisvolle Juruparis der Indianer vom Rio Negro, die die Frauen nicht ansehn dürfen, und die selbst junge Männer nicht zu sehn bekommen, ehe sie gefastet und sich gegeißelt haben, und die irdenen Gefäße der Peruaner, die den schrillen Schrei der Vögel wiedergeben, und Flöten aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile hörte, und den wohllautenden grünen Jaspis, den man bei Cuzco findet und der einen seltsam süßen Ton von sich gibt. Er hatte bemalte, mit Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die rasselten, wenn man sie schüttelte, die langen Zinken der Mexikaner, in die der Spieler nicht bläst, sondern durch die er die Luft einzieht; das mißtönende Ture der Amazonenstämme, das die Wachen ertönen lassen, die den ganzen Tag in hohen Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine Entfernung von drei Seemeilen gehört werden kann; das Teponaztli, das zwei vibrierende Zungen aus Holz hat und mit Stöcken geschlagen wird, die mit einer Art elastischem Gummi eingeschmiert sind, der aus dem milchigen Saft von Pflanzen gewonnen wird; die Dotl-Glocken der Azteken, die in Büscheln wie Trauben aufgehängt werden; und eine große zylindrische Trommel, über die Häute großer Schlangen gespannt waren, gleich der, die Bernal Diaz sah, als er mit Cortez den mexikanischen Tempel besuchte, und von deren nagendem Ton er uns eine so lebhafte Schilderung hinterlassen hat. Der phantastische Charakter dieser Instrumente bezauberte ihn, und er fühlte einen seltsamen Genuß, wenn er daran dachte, daß die Kunst wie die Natur ihre Mißgeburten hat, Dinge von scheußlicher Gestalt und mit abscheulichen Stimmen. Aber nach einiger Zeit wurde er ihrer müde, saß in seiner Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord Henry, lauschte hingerissen der Tannhäuser-Musik und erblickte in dem Vorspiel dieses großen Kunstwerks eine Darstellung der Tragödie seiner eigenen Seele.

Wieder ein anderes Mal warf er sich auf das Studium der Juwelen und erschien auf einem Kostümball als Anne de Joyeuse, Admiral von Frankreich, in einem Gewand, das mit fünfhundertundsechzig Perlen besetzt war. Der Geschmack daran hielt ihn jahrelang fest, und, man kann sagen, verließ ihn nie. Er verbrachte oft den ganzen Tag damit, die verschiedenen Steine, die er gesammelt hatte, zu ordnen und wieder in die Kästen zurückzulegen, wie zum Beispiel den olivgrünen Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, den Cymophan mit seinem dünnen Silberstrich, den pistazienfarbenen Chrysolith, rosenfarbene und Weingelbe Topase, Karfunkel mit Scharlachfeuer und zitternden Sternen mit je vier Strahlen, flammenrote Kaneelsteine, orangefarbene und violette Spinelle und Amethyste mit ihren regelmäßig aufeinanderfolgenden Schichten von Rubinen und Saphiren. Er liebte das rote Gold des Sonnensteins und die perigleiche Weiße des Mondsteins und den gebrochenen Regenbogen des milchigen Opals. Er ließ sich von Amsterdam drei Smaragde von außergewöhnlicher Größe und Farbenfülle kommen und hatte einen Türkis de la vieille roche, der den Neid aller Kenner erregte.

Er kam auch auf wundervolle Geschichten über Edelsteine. In Alphonsos Clerica!is Disciplina war eine Schlange mit Augen aus wirklichen Hyazinthsteinen erwähnt, und in der Alexandersage hieß es vom Eroberer von Emathia, er habe im Jordantal Schlangen gefunden »mit Geschmeiden aus richtigen Smaragden, die auf ihren Rücken gewachsen waren“. Im Gehirn des Drachen, wird uns erzählt, sei ein Edelstein, und »dadurch, daß man ihm goldene Buchstaben und ein Scharlachgewand zeige«, könne das Ungeheuer in einen magischen Schlaf versetzt und erschlagen werden. Nach dem großen Alchimisten Pierre de Boniface sollte der Diamant einen Mann unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. Der Karneol besänftigte den Zorn, der Hyazinth rief den Schlaf hervor, und der Amethyst vertrieb die Dünste des Weins. Der Granat trieb Teufel aus, und der Hydrophyt beraubte den Mond der Farbe. Der Selenit nahm mit dem Mond zu und ab, und der Meloceus, der Diebe entdeckte, konnte nur durch Zickleinblut kraftlos gemacht werden. Leonardus Camillus hatte einen weißen Stein gesehn, der aus dem Hirn einer frisch getöteten Kröte genommen worden, und der ein sicheres Gegenmittel gegen Gift war. Der Bezoar, den man im Herzen des arabischen Hirsches fand, war ein Zauber, der die Pest heilen konnte. In den Nestern arabischer Vögel war der Aspilates, der nach Demokrit jeden, der ihn trug, vor Feuersgefahr schützte.

Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier mit einem großen Rubin in der Hand durch seine Stadt. Die Tore am Palast Johannes des Priesters waren »aus Sarder gemacht, in den das Horn der Hornviper hineinverarbeitet war, so daß niemand Gift ins Haus bringen konnte“. Über dem Giebel waren »zwei goldene Apfel, in denen zwei Karfunkel waren«, auf daß das Gold bei Tage erglänzen könnte und die Karfunkel bei Nacht. In Lodges seltsamem Roman »Eine Perle von Amerika“ war mitgeteilt, daß man im Zimmer der Königin »alle keuschen Damen der Welt erblicken konnte, »wie aus Silber ziseliert«, wenn man »durch fleckenlose Spiegel aus Chrysolithen, Karfunkeln, Saphiren und grünen Smaragden“ blickte. Marco Pob hatte gesehn, wie die Bewohner Zipangus den Toten rosenfarbene Perlen in den Mund steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle verliebt, die der Taucher dem König Perozes gebracht hatte, und hatte den Dieb erschlagen und sieben Monde über den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den großen Hinterhalt lockten – Prokop erzählt die Geschichte –, warf er die Perle weg, und sie wurde nie wiedergefunden, obwohl Kaiser Anastasius fünfhundert Pfund Goldstücke für sie aussetzte. Der König von Malabar hatte einem Venezianer einen Rosenkranz von dreihundertundvier Perlen gezeigt, eine für jeden Gott, den er anbetete.

Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders VI., Ludwig XII. von Frankreich besuchte, war, nach Brantôme, sein Pferd über und über voll goldener Blätter, und seine Mütze hatte zweifache Reihen Rubine, die ein starkes Licht ausstrahlten. Karl von England ritt in Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig Diamanten besetzt waren.

Richard II. hatte ein Gewand, das auf dreißigtausend alte Mark geschätzt wurde und das mit Ballasrubinen bedeckt war. Nach der Schilderung Halls trug Heinrich VIII. auf seinem Wege zum Tower vor seiner Krönung »ein Panzerhemd aus getriebenem Gold, das Wams war bestickt mit Diamanten und andern reichen Steinen, und um den Hals trug er eine Kette aus großen Ballasrubinen“. Die Günstlinge Jakobs 1. trugen Ohrringe aus Smaragden, die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard II. schenkte Piers Gaveston eine ganze Rüstung aus rotem Gold, die mit Hyazinthsteinen geschmückt war, eine Halskette aus goldenen Rosen, mit Türkisen besetzt, und eine mit Perlen übersäte Sturmhaube. Heinrich II. trug Handschuhe bis zum Ellbogen hinauf, die mit Juwelen besetzt waren, und hatte einen Falkenierhandschuh, mit zwölf Rubinen und zweiundfünfzig großen erlesenen Perlen verziert. Der Herzogshut Karls des Kühnen, des letzten Herzogs von Burgund aus seinem Geschlecht, war mit birnenförmigen Perlen behängt und mit Saphiren besetzt.

Wie köstlich das Leben einmal gewesen war! Wie verschwenderisch in seiner Pracht und Zier! Vom Luxus der Toten auch nur zu lesen war wundervoll.

Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Stickereien und den gewirkten Tapeten zu, die in den frostigen Zimmern der nördlichen Völker an die Stelle der Freskogemälde getreten waren. Als er dieses Gebiet erforschte – und er hatte immer in außerordentlichem Maße die Gabe, für den Augenblick von allem, was er in Angriff nahm, völlig angezogen zu werden – wurde er fast niedergeschlagen, wenn er an die Vernichtung dachte, die die Zeit über schöne und wundervolle Dinge gebracht hatte. Er jedenfalls war dieser Vernichtung entronnen. Sommer folgte auf Sommer, und die gelben Jonquillen blühten und starben vielmals dahin, und abscheuliche Nächte wiederholten die Geschichte ihrer Schande, aber er war unverändert. Kein Winter entstellte sein Gesicht oder beschädigte seinen blumenhaften Flaum. Wie anders war es mit stofflichen Dingen! Wohin waren sie gegangen? Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf dem die Götter gegen die Giganten kämpften, das von braunen Mädchen Athene zur Freude gewirkt worden war? Wo war das große Velanum, das Nero über das Kolosseum in Rom gespannt hatte, das riesenhafte Purpursegel, auf dem der Sternenhimmel abgebildet war und Apollo, der einen Wagen lenkt, den weiße Stuten ziehen, die an goldenen Zügeln gehalten werden? Ihn verlangte, die seltsamen Tischtücher zu sehn, die für den Sonnenpriester gewebt worden waren, und auf denen all die Leckerbissen und Speisen zur Schau gewirkt waren, die man für ein Festgelage brauchen konnte: das Totengewand des Königs Chilperich, mit seinen dreihundert goldenen Bienen; die phantastischen Gewänder, die die Entrüstung des Bischofs von Pontus erregten, die mit »Löwen, Panthern, Bären, Hunden, Wäldern, Felsen, Jägern – wahrlich mit allem, was ein Maler in der Natur finden kann«, geziert waren; und den Rock, den Karl von Orleans einst trug, auf dessen Ärmel die Verse eines Liedes gestickt waren, das anfing: »Madame, je suis tout joyeux«, wobei die musikalische Begleitung der Worte in Goldfäden ausgeführt und jede Note – damals in eckiger Form – durch vier Perlen bezeichnet war. Er las von dem Zimmer, das im Palast zu Reims zur Benutzung für die Königin Johanna von Burgund hergerichtet worden war, und das mit »dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien geziert war, die das Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig Schmetterlingen, deren Flügel ebenso mit dem Wappen der Königin geschmückt waren, das Ganze in Gold ausgeführt“. Katharina von Medici hatte ein Trauerbett, das für sie aus schwarzem Samt gemacht worden war, worauf Halbmonde und Sonnen gestickt waren. Die Bettvorhänge waren aus Damast und hatten Laubgewinde und Girlanden auf einem Grund von Gold und Silber gestickt, und vom Rand hingen Fransen mit Perlstickereien herab, und das Bett stand in einem Zimmer, in dem reihenweise die Wahlsprüche der Königin in schwarzem gerissenen Samt auf Silberstoff hingen. Ludwig XIV. hatte in seinem Gemach fünfzehn Fuß hohe goldgestickte Karyatiden. Das Staatsbett Sobieskis, des Königs von Polen, war aus Smyrna-Goldbrokat gemacht, auf dem in Türkisen Verse aus dem Koran gestickt waren. Seine Füße aus vergoldetem Silber waren schön ziseliert und verschwenderisch mit emaillierten und edelsteinfunkelnden Medaillons besetzt. Es stammte aus dem Türkenlager vor Wien, und das Banner Mohammeds war unter dem zitternden, goldstrotzenden Betthimmel aufgehängt.

Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten Proben zusammen zu bekommen, die er von Webarbeiten und Stickereien finden konnte. Er verschaffte sich Musseline aus Delhi, in die herrliche goldene Palmblätter geweht und auf die irisierende Käferflügel genäht waren; die Gazen aus Dacca, die, weil sie so durchscheinend sind, im Orient »gewebte Luft“ oder »fließendes Wasser“ oder »Abendtau“ genannt werden; Stoffe aus Java mit seltsamen Figuren; feine gelbe chinesische Gardinen; Bücher, in gelbbraunen Atlas oder hellblaue Seide gebunden, in die Wappenlilien, Vögel und Abzeichen gewebt waren; Schleiergewebe mit ungarischen Spitzen; sizilianische Brokate und steife spanische Samte; georgische Arbeiten mit ihren vergoldeten Münzen und japanische Fukusas mit ihrem grüngetönten Gold und ihren Vögeln mit wunderbar ausgearbeitetem Gefieder. Er hatte ferner eine besondere Neigung für kirchliche Gewänder und für alle Gegenstände, die mit dem Ritus der Kirche in Zusammenhang standen. In den langen Kästen aus Zedernholz, die auf dem westlichen Korridor seines Hauses standen, hatte er manche seltenen und schönen Stücke angesammelt, Proben des wahrhaften Gewandes der Braut Christi, die Purpur und Edelsteine und feines Linnen tragen muß, um den bleichen, abgezehrten Leib darin zu bergen, der von dem Leiden, das sie selber aufsucht, erschöpft und von selbst auferlegter Qual verwundet ist. Er besaß einen üppigen Chorrock aus karmesinroter Seide und goldgewirktem Damast, der mit einem fortlaufenden Muster von goldenen Granatäpfeln geschmückt war, die sich über sechsblätterigen, regelmäßigen Blüten befanden, unter denen auf jeder Seite das Tannzapfenmuster in Staubperlen gestickt war. Die Goldstickereien waren in einzelne Fächer geteilt, die Szenen aus dem Leben der Jungfrau darstellten, und die Krönung der Jungfrau war in farbiger Seide auf die dazugehörige Kappe gestickt. Das war italienische Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer Chorrock war aus grünem Samt, mit herzförmigen Gruppen von Akanthusblättern bestickt, aus denen langstielige weiße Blüten herauswuchsen, die fein mit Silberfäden und bunten Kristallperlen bis ins einzelne ausgearbeitet waren. Die Spange trug den Kopf eines Seraphs aus Goldfäden in Hochstickerei gefertigt. Die Boten waren in einem fortlaufenden Muster aus roter und goldfarbener Seide gewebt und mit Medaillonbildern vieler Heiligen und Märtyrer, unter denen der heilige Sebastian war, bedeckt. Er hatte ferner Meßgewänder aus bernsteinfarbener Seide, aus blauer Seide und Goldbrokat, aus gelbem Seidendamast und Goldstoffen, auf denen sich Darstellungen der Passion und der Kreuzigung Christi befanden, und die mit Löwen und Pfauen und andern Emblemen bestickt waren; Dalmatiken aus weißem Atlas und rosenrotem Seidendamast, die mit Tulpen und Delphinen und Wappenlilien geziert waren; Altardecken aus karmesinrotem Samt und blauem Leinen; und viele Korporalia, Tücher, die zum Verdecken des Abendmahlskelches bestimmt waren, und Armbinden. In den mystischen Verrichtungen, zu denen diese Dinge bestimmt waren, lag etwas, das seine Phantasie anregte.

Denn diese Schätze und alles, was er in seinem reizenden Hause sammelte, waren für ihn Mittel zum Vergessen, und Beschäftigungen, durch die er eine Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm zuzeiten unerträglich schien. An der Wand des verlassenen verschlossenen Zimmers, in dem er in seiner Knabenheit so oft geweilt hatte, hatte er mit eigenen Händen das entsetzliche Porträt aufgehängt, dessen Züge in ihrer Veränderung ihm die wirkliche Erniedrigung seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang das rot und goldene Bahrtuch angebracht. Wochenlang ging er wohl nicht hinauf, vergaß das gräßliche Gemälde und hatte wieder sein leichtes Herz, seine wundervolle Fröhlichkeit, seine leidenschaftliche Hingabe an das Dasein an und für sich. Dann schlich er sich plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, besuchte scheußliche Orte in der Nähe von Blue Gate Fields und blieb da Tag um Tag, bis es ihn nicht mehr duldete. Nach seiner Rückkehr setzte er sich dann wohl vor das Bild, manchmal voller Ekel vor ihm und vor sich selbst, zu andern Zeiten aber mit dem Stolz des Individualismus, der den halben Zauber der Sünde ausmacht, und dann lächelte er wohl in geheimem Vergnügen über das häßliche Abbild, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich seine war.

Nach ein paar Jahren konnte er es nicht aufhalten, lange außerhalb Englands zu sein, und gab die Villa, die er in Trouville zusammen mit Lord Henry gehabt hatte, auf, und ebenso das kleine Haus mit den weißen Wänden in Algier, wo sie mehr als einmal den Winter verbracht hatten. Er ertrug den Gedanken nicht, von dem Bilde getrennt zu sein, das so zu einem Teil seines Lebens geworden war, und fürchtete auch, während seiner Abwesenheit könnte jemand trotz der künstlichen Schlösser, die er an der Tür hatte anbringen lassen, Zutritt in das Zimmer erlangen. Er wußte ganz gut, daß das Bild niemandem etwas sagen würde. Allerdings hatte das Porträt unter all der Gemeinheit und Häßlichkeit des Gesichts seine ausgeprägte Ähnlichkeit mit ihm behalten; aber was konnte man daraus entnehmen? Er würde über jeden lachen, der den Versuch machen wollte, ihn zu schmähen. Er hatte es nicht gemalt. Was bedeutete es ihm, wie schändlich und schmachvoll es aussah? Selbst wenn er jemandem die Wahrheit sagen wollte, wer würde sie glauben?

Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal auf dem Lande auf seiner großen Besitzung in Nottinghamshire war, die eleganten jungen Leute, die meistens seine Gesellschaft bildeten, bewirtete, und die Leute der Gegend durch den üppigen Luxus und den verschwenderischen Glanz seiner Lebenshaltung in Staunen setzte, verließ er wohl plötzlich seine Gäste und fuhr eilends in die Stadt zurück, um zu sehn, ob sich niemand an der Tür zu schaffen gemacht habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es gestohlen worden wäre? Der bloße Gedanke flößte ihm kaltes Entsetzen ein. Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis erfahren. Vielleicht hatte die Welt schon Verdacht geschöpft.

Denn ebenso wie er viele bezauberte, gab es nicht wenige, die Mißtrauen gegen ihn hatten. Es war sehr nahe daran gewesen, daß seine Aufnahme in einen Klub im Westend, auf die er kraft seiner Geburt und seiner Stellung in der Gesellschaft vollen Anspruch hatte, in geheimer Abstimmung abgelehnt worden wäre, und es hieß, daß einmal, als ein Freund ihn in das Rauchzimmer des Churchill Club mitgenommen hatte, der Herzog von Berwick und ein anderer Herr in auffallender Weise aufgestanden und hinausgegangen wären. Seltsame Erzählungen waren über ihn im Umlauf, nachdem er sein fünfundzwanzigstes Jahr überschritten hatte. Es wurde gemunkelt, er sei in einer elenden Spelunke in den entlegenen Teilen Whitechapels in einem Streit mit fremden Matrosen beobachtet worden, und er gehe mit Dieben und Falschmünzern um und kenne die Geheimnisse ihres Gewerbes. Sein auffallendes Verschwinden zu bestimmten Zeiten war bekannt, und wenn er dann wieder in der Gesellschaft erschien, flüsterte man miteinander in den Ecken oder ging mit einem gewissen Lachen an ihm vorüber, oder sah ihn mit kühlen, forschenden Blicken an, als wäre man entschlossen, hinter sein Geheimnis zu kommen.

Von solchen Dreistigkeiten und Versuchen der Geringschätzung nahm er natürlich keine Notiz, und in den Augen der meisten Leute war seine offene freundliche Art, sein entzückendes Knabenlächeln und die unendliche Grazie der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen schien, an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, wie sie das Gerede nannten, das über ihn umging. Man konnte indessen bemerken, daß einige von denen, die besonders intim mit ihm gewesen waren, ihn nach einiger Zeit zu meiden schienen. Frauen, die ihn glühend angebetet hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft getrotzt und sich über die Konvention hinweggesetzt hatten, sah man vor Scham oder Grauen erbleichen, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat.

Aber dieses Skandalgeflüster vermehrte für viele nur seinen seltsamen und gefährlichen Reiz. Sein großer Reichtum war ein gewisses Element der Sicherheit. Die Gesellschaft, wenigstens die zivilisierte Gesellschaft, ist nie sehr geneigt, zum Nachteil derer etwas zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. Sie fühlt instinktiv, daß das Benehmen wichtiger ist als die Moral, und nach ihrer Meinung ist die höchste Ehrbarkeit von geringerer Bedeutung als der Besitz eines guten Küchenchefs. Und schließlich ist es in der Tat ein schwacher Trost, wenn man erfährt, daß der Mann, der einem ein schlechtes Diner oder miserablen Wein vorgesetzt hat, in seinem Privatleben tadellos dasteht. Selbst die Kardinaltugenden können nicht mit beinahe kalt gewordenen Entrees versöhnen, wie Lord Henry einmal in einem Gespräch über das Thema bemerkte; und es spricht sehr viel für seine Meinung. Denn die Regeln der guten Gesellschaft sind dieselben wie die Regeln der Kunst, oder sollten es wenigstens sein. Die Form ist ein ganz und gar wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft. Sie sollte die Würde einer Zeremonie und ebenso ihre Unwirklichkeit haben, und sollte die Unaufrichtigkeit eines romantischen Stückes mit dem Witz und der Schönheit verbinden, die diese Stücke zu unserem Entzücken machen. Ist Unaufrichtigkeit so etwas Schreckliches? Ich denke, nein. Sie ist nur eine Art, durch die wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können.

In jedem Fall war dies die Meinung Dorian Grays. Er wunderte sich oft über die seichte Psychologie der Leute, die sich das Ich im Menschen als etwas Einfaches, Bleibendes, Verläßliches und Einheitliches vorstellen. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit einem wahrhaften Gewimmel von einzelnen Leben und einem Gewimmel von Sinnesempfindungen, ein zusammengesetztes, vielgestaltetes Geschöpf, das seltsame Erbschaften in seinem Denken und seinen Trieben in sich trug und dessen Fleisch sogar von furchtbaren Krankheiten der Gestorbenen angesteckt war. Er ging gern durch die kalten Räume der kleinen Gemäldegalerie in seinem Landhause und betrachtete sich die verschiedenen Porträts derer, deren Blut in seinen Adern floß. Da war Philipp Herbert, den Francis Osborne in seinen »Memoiren über die Regierungen der Königin Elisabeth und des Königs Jakob“ als einen schildert, »der am Hofe wegen seines schönen Gesichts beliebt war, das ihm nicht lange Gesellschaft leistete“. War es das Leben des jungen Herbert, das er manchmal führte? War ein seltsamer, giftführender Keim von Körper zu Körper gegangen, bis er in seinem angelangt war? War es eine dumpfe Erinnerung an diesen zerstörten Liebreiz gewesen, die damals, in Basil Hallwards Atelier, schuld war, daß er so plötzlich und fast ohne Ursache das wahnsinnige Gebet gesprochen hatte, das eine solche Veränderung über sein Leben gebracht hatte? Und hier stand in goldgesticktem, rotem Kamisol, juwelengeschmücktem Überrock und goldgesäumten Hals- und Ärmelkrausen Sir Antony Sherard mit den schwarz und silbernen Beinschienen. Was war das Vermächtnis, das er von diesem Mann hatte? Hatte der Geliebte der Giovanna von Neapel ihm ein Erbe der Sünde und Schmach vermacht? Waren seine eigenen Handlungen nur die Träume, die der Gestorbene nicht zu verwirklichen gewagt hatte? Und dort lächelte aus der verblichenen Leinwand Lady Elisabeth Devereux mit ihrer Gazehaube, ihrem perlenbesetzten Brustlatz und ihren rosenroten Schlitzärmeln. Eine Blume hielt sie in ihrer rechten Hand, und ihre Linke umfaßte einen emaillierten Halsschmuck aus weißen und roten Rosen. Auf einem Tisch ihr zur Seite lag eine Mandoline und ein Apfel. Große grüne Rosetten waren auf ihren kleinen spitzen Schuhen. Er wußte um ihr Leben und die seltsamen Geschichten, die man von ihren Liebhabern erzählte. Hatte er etwas von ihrem Naturell an sich? Diese ovalen Augen mit den schweren Lidern schienen seltsam auf ihn zu sehen.

Und wie war es mit George Willoughby mit seinem gepuderten Haar und seinen wunderlichen Schönheitspflästerchen? Wie schlimm er aussah! Das Gesicht war melancholisch und von dunkler Farbe, und die sinnlichen Lippen schienen verächtlich verzogen. Kostbare Spitzenkrausen fielen über die mageren gelben Hände, die so überladen mit Ringen waren. Er war ein Dandy des achtzehnten Jahrhunderts gewesen und in seiner Jugend der Freund von Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord Beckenham, dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten Tagen, der auch einer der Zeugen der geheimen Eheschließung mit Frau Fitzberbert gewesen war? Wie stolz und schön er war mit seinen kastanienbraunen Locken und seiner herausfordernden Haltung! Was für Leidenschaften hatte er übermacht? Die Welt hatte ihn für schändlich gehalten. Er hatte die Orgien in Carlton House angeführt. Der Stern des Hosenbandordens blitzte auf seiner Brust. Neben ihm hing das Porträt seiner Gemahlin, einer blassen Frau mit dünnen Lippen, die schwarz gekleidet war. Auch ihr Blut floß in ihm. Wie seltsam das alles schien! Und seine Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, weinbenetzten Lippen – er wußte, was er von ihr bekommen hatte. Er hatte von ihr seine Schönheit bekommen und seine Sucht nach der Schönheit anderer. Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantingewand. Es war Weinlaub in ihrem Haar, und der purpurne Saft floß über das Glas, das sie hielt. Die Fleischtöne des Bildes waren verblichen, aber die Augen waren noch wundervoll in der Tiefe und dem Glanz ihrer Farbe. Sie schienen ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging.

Aber man hatte Ahnen ebenso in der Literatur wie in seinem eigenen Geschlecht, Ahne, deren Typus und Naturell einem vielleicht oft näher steht, und sie sicher einen Einfluß ausübten, von dem man sich bestimmtere Rechenschaft geben konnte. Es gab Zeiten, wo es Dorian Gray vorkam, als sei die ganze Geschichte nichts als ein Bericht seines eigenen Lebens, nicht wie er es nach Taten und Umständen geführt hatte, sondern wie seine Phantasie es für ihn geschaffen hatte, wie es in seinem Hirn und seinen Trieben gewesen war. Er hatte das Gefühl, sie alle gekannt zu haben, diese seltsamen, furchtbaren Gestalten, die über die Bühne der Welt geschritten waren und die Sünde so wunderbar und das Böse so tief und fein gemacht hatten. Es kam ihm so vor, als wäre auf geheimnisvolle Weise ihr Leben sein eigenes gewesen.

Der Held des wunderbaren Romans, der auf sein Leben solchen Einfluß geübt hatte, hatte diese seltsame Phanasie auch gekannt. Im siebenten Kapitel erzählt er, wie er mit Lorbeer bekränzt, damit der Blitz ihn nicht treffen könne, als Tibersus in einem Garten zu Capri gesessen und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen habe, während Zwerge und Pfauen sich um ihn spreizten und der Flötenspieler den Weihrauchschwinger neckte; und wie er als Caligula mit den Stallknechten mit ihren grünen Schürzen in den Ställen gezecht und aus einem elfenbeinernen Futtertrog mit dem Pferd, das ein juwelengeschmücktes Stirnband trug, zusammen gegessen habe; und wie er als Domitian durch einen Korridor gewandelt sei, an dessen Wänden Marmorspiegel waren, in denen er mit verstörten Blicken auf den Reflex des Dolches sah, der sein Leben beenden sollte, krank an der Langenweile, dem furchtbaren taedium vitae, das die überkommt, denen das Leben nichts versagt; und wie er durch einen hellen Smaragd der blutigen Schlächterei im Zirkus zugesehn habe und dann in einer Sänfte aus Perlen und Purpur, die von silbergesprenkelten Maultieren gezogen wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen nach einem Hause von Gold gefahren sei und gehört habe, wie die Menschen ihm zuriefen: Nero Cäsar! als er vorbeifuhr; und wie er als Heliogabal sein Gesicht mit Farben bemalt habe und mit den Frauen am Rochen gesessen und den Mond aus Karthago geholt und ihn in mystischer Ehe der Sonne vermählt habe.

Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel und die beiden unmittelbar folgenden, in denen, wie in seltsamen Gobelins oder künstlerisch gearbeiteten Emaillen, die furchtbar-schönen Gestalten derer gemalt waren, die Laster und Blut und Müdigkeit zu Ungeheuern und Wahnsinnigen gemacht hatten: Filippo, der Herzog von Mailand, der sein Weib erschlug und ihre Lippen mit einem scharlachroten Gift bestrich, damit ihr Geliebter von dem Leichnam, den er im Schmerze liebkoste, den Tod küssen sollte; Pietro Barbi, der Venezianer, der als Paul der Zweite bekannt ist und der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen wollte, dessen Tiara, die zweihunderttausend Gulden wert war, um den Preis einer furchtbaren Sünde gekauft worden; Gian Maria Visconti, der Hunde hatte, mit denen er auf lebende Menschen Jagd machte und dessen Leichnam nach seiner Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt hatte, mit Rosen bedeckt wurde; der Borgia mit seinem weißen Pferd, neben dem der Brudermord ritt, und dessen Mantel vom Blute Perottos befleckt war; Pietro Riario, der Kardinal-Erzbischof von Florenz, Kind und Liebster von Sixtus IV., dessen Schönheit nur von seiner Ausschweifung erreicht wurde, und der Leonora von Aragonien in einem Pavillon empfing, der mit weißer und karmesinroter Seide ausgeschlagen und voller Nymphen und Kentauren war, und der einen Knaben vergoldete, damit er beim Gelage als Ganymedes oder Hylas dienen konnte; Ezzelin, dessen Melancholie nur durch das Schauspiel des Todes geheilt werden konnte, und der eine Leidenschaft für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten Wein – der Sohn des Satans, wie man raunte, und dazu einer, der seinen Vater im Spiel betrogen, als er mit ihm um seine Seele würfelte; Giambattista Cibo, der aus Spott den Namen Innozenz annahm und in dessen starr und stumpf gewordene Adern von einem jüdischen Arzt das Blut dreier Jünglinge gepumpt worden war; Sigismondo Malatesta, der Geliebte der Isotta und der Herr von Rimini, der in Rom im Bilde als Feind Gottes und der Menschen verbrannt wurde und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte und Ginevra d’Este aus einem smaragdenen Becher Gift zu trinken gab und der zu Ehren einer schändlichen Leidenschaft eine heidnische Kirche für christlichen Gottesdienst baute; Karl VI., der so wild für seines Bruders Weib erglüht war, daß ein Aussätziger ihm den Wahnsinn verkündet hatte, der über ihn kommen werde, und der, als sein Hirn krank und absonderlich geworden war, sich nur im Spiel mit sarazenischen Karten beruhigte, auf denen die Bilder von Liebe und Tod und Wahnsinn waren; und in seinem schmucken Koller und der juwelengeschmückten Mütze und den akanthusgleichen Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre bei seiner Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug und dessen Liebreiz so groß war, daß, als er sterbend in der gelben Piazza von Perugia lag, die ihn gehaßt hatten, das Einen nicht zurückhalten konnten, und Atalanta, die ihn verflucht hatte, ihn segnete.

Ein grauenvoller Zauber ging von ihnen allen aus. Er sah sie bei Nacht, und sie verwirrten seine Gedanken zu seltsamen Phantasien am Tag. Die Renaissance kannte seltsame Methoden der Vergiftung – Vergiftung durch einen Helm und eine angezündete Fackel, durch einen bestickten Handschuh und einen mit Steinen besetzten Fächer, durch eine vergoldete Ambrakugel und eine Bemsteinkette: Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden. Es gab Augenblicke, wo er das Böse lediglich als eine Möglichkeit ansah, durch die er seine Idee des Schönen verwirklichen konnte.

Zwölftes Kapitel

Es war am neunten November, am Vorabend seines achtunddreißigsten Geburtstages, wie er sich nachher oft erinnerte.

Er ging gegen elf Uhr von Lord Henry, bei dem er zum Diner gewesen war, nach Hause. Er war in schwere Pelze gehüllt, da die Nacht kalt und neblig war. An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley Street ging im Nebel jemand sehr schnell an ihm vorüber, der den Kragen seines Mantels hochgeschlagen hatte. Er trug eine Handtasche. Dorian erkannte ihn: es war Basil Hallward. Eine seltsame Angst, über die er sich keine Rechenschaft ablegen konnte, überkam ihn. Er ließ nicht merken, daß er ihn erkannte, und ging schnell weiter nach Hause zu.

Aber Hallward hatte ihn gesehn. Dorian hörte, wie er erst stehn blieb und ihm dann nacheilte. In wenigen Augenblicken lag Basils Hand auf seinem Arm.

»Dorian! Was für ein außerordentlicher Glückszufall! Ich war bei dir und habe in deinem Bücherzimmer seit neun Uhr auf dich gewartet. Schließlich tat mir dein müder Bedienter leid, und ich sagte ihm, als er mich hinausließ, er solle zu Bett gehn. Ich fahre mit dem Zwölfuhrzug nach Paris, und ich hatte den lebhaften Wunsch, dich vor der Abreise zu sehen. Ich dachte, das müßtest du sein oder wenigstens dein Pelzmantel, als du vorbeigingst. Aber ich war nicht ganz sicher. Hast du mich nicht erkannt?«

»In diesem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal Grosvenor Square erkennen. Ich glaube, mein Haus ist hier irgendwo in der Nähe, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es tut mir leid, daß du weggehst, ich habe dich eine Ewigkeit nicht gesehn. Aber ich denke, du wirst bald wieder zurück sein?«

»Nein, ich werde ein halbes Jahr von England fort sein. Ich will in Paris ein Atelier mieten und mich einschließen, bis ein großes Bild fertig ist, das ich im Kopfe habe. Indessen, ich wollte nicht über mich reden. Hier sind wir an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick eintreten. Ich habe dir etwas zu sagen.«

»Es wird mich freuen. Aber versäumst du deinen Zug nicht?« sagte Dorian Gray mit matter Stimme, während er die Stufen hinaufging und die Tür mit seinem Drücker öffnete.

Das Licht der Laterne flackerte im Nebel unruhig hin und her, und Hallward sah auf die Uhr. »Ich habe noch eine Menge Zeit,« antwortete er. »Der Zug geht erst zwölf Uhr fünfzehn, und es ist jetzt eben erst elf. In Wahrheit war ich im Begriff, in den Klub zu gehn, um da nach dir zu fragen, als ich dich traf. Du siehst, das Gepäck hält mich nicht auf, da ich die schweren Stücke vorausgeschickt habe. Alles, was ich mit mir nehme, ist in dieser Handtasche, und ich kann Victoria Station leicht in zwanzig Minuten erreichen.«

Dorian sah ihn an und lächelte. »Was für eine Art für einen berühmten Maler zu reisen! Eine Handtasche und ein Ulstermantel! Komm herein, sonst dringt der Nebel ins Haus. Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit mir. Nichts ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.«

Hallward schüttelte den Kopf, als er eintrat, und folgte Dorian ins Bücherzimmer. Ein helles Holzfeuer brannte in dem offenen Kamin. Die Lampen waren angezündet, und ein holländischer silberner Likörkasten stand offen nebst einigen Sodawassersiphons und großen Kristallgläsern auf einem eingelegten Tischchen.

»Du siehst, Dorian, dein Diener hat es mir ganz behaglich gemacht. Er gab mir alles, was ich brauchte, einschließlich deiner besten Zigaretten mit Goldmundstück. Er ist ein sehr freundliches Menschenkind. Er gefällt mir viel besser als der Franzose, den du früher hattest. Was ist übrigens aus dem geworden?«

Dorian zuckte die Achseln. »Ich glaube, er heiratete das Dienstmädchen Lady Radleys und etablierte sie in Paris als englische Kleidermacherin. Die Anglomanie ist drüben jetzt sehr in Mode, höre ich. Das ist doch dumm von den Franzosen, nicht? Aber, weißt du, er war durchaus kein schlechter Bedienter. Ich konnte ihn nie leiden, aber ich hatte nicht über ihn zu klagen. Man bildet sich oft etwas ein, das ganz sinnlos ist; er war mir sehr ergeben und schien ganz traurig, als er wegging. Willst du noch eine Soda mit Kognak? Oder Lieber Wein und Selters? Ich trinke immer Wein und Selters. Im nächsten Zimmer steht es sicher.«

»Danke, ich nehme nichts mehr,« sagte der Maler, legte Mantel und Mütze ab und warf sie auf die Tasche, die er in die Ecke gestellt hatte. »Und nun, lieber Freund, möchte ich ernsthaft mit dir reden. Du mußt nicht so die Stirn runzeln, du machst es mir dadurch viel schwerer.«

»Um was handelt es sich denn?« rief Dorian in einem Tone, der die Sache nicht wichtig nahm und doch abweisend war. »Ich hoffe, es handelt sich nicht um mich. Ich habe heute abend keine Lust zu mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.«

»Es handelt sich um dich,« antwortete Hallward mit seiner ernsten, tiefen Stimme, »und ich muß es dir sagen. Ich werde dich nicht länger als eine halbe Stunde aufhalten.«

Dorian seufzte und zündete sich eine Zigarette an. »Eine halbe Stunde!« murmelte er.

»Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich rede nur um deinetwillen. Ich halte es für richtig, daß du erfährst, daß die fürchterlichsten Dinge über dich in London geredet werden.«

»Ich will nicht das geringste davon hören. Ich mag den Klatsch über andere Leute, aber über mich selbst interessiert er mich nicht. Er hat nicht einmal den Reiz der Neuheit.« »Was über dich geredet wird, muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige Mensch hat Interesse an seinem guten Namen. Du darfst die Leute nicht von dir reden lassen wie von einem lasterhaften und gesunkenen Menschen. Natürlich hast du deine gesellschaftliche Stellung und deinen Reichtum und was noch sonst derart. Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Verstehe wohl, ich glaube diesen Gerüchten nicht! Zum mindesten kann ich ihnen nicht glauben, wenn ich dich sehe. Die Sünde ist etwas, was sich einem Menschen aufs Gesicht schreibt. Sie kann nicht verhehlt werden. Die Menschen reden manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht! Wenn ein Unwürdiger ein Laster hat, zeigt es sich in den Linien seines Mundes, in seinen gesenkten Lidern, sogar in der Form seiner Hände. Jemand – ich nenne seinen Namen nicht, aber du kennst ihn – kam im vorigen Jahr zu mir und wollte sich malen lassen. Ich hatte ihn vorher gesehn und hatte damals nie etwas über ihn gehört – inzwischen habe ich freilich genug gehört. Er bot mir einen außerordentlich hohen Preis. Ich lehnte ab. Es war etwas in den Formen seiner Finger, was mir widerwärtig war. Ich weiß jetzt, daß ich mit dem, was ich von ihm dachte, ganz recht hatte. Er führt ein schreckliches Leben. Aber du, Dorian, mit deinem reinen, strahlenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren unberührten Jugend – ich kann nichts, was gegen dich gesagt wird, glauben. Aber ich sehe dich jetzt selten, und du kommst jetzt nie mehr zu mir ins Atelier, und wenn ich dir fern bin und all diese häßlichen Dinge höre, die die Leute über dich raunen, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher kommt es, Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von Berwick aufsteht und das Klubzimmer verläßt, wenn du hereinkommst? Woher kommt es, daß so viele Männer der Gesellschaft dein Haus nie betreten und dich nie zu sich einladen? Du warst mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn vorige Woche bei einem Diner. Dein Name fiel zufällig im Gespräch, in Verbindung mit den Miniaturen, die du für die Ausstellung im Dudley hergegeben hast. Staveley verzog das Gesicht und sagte, du hättest vielleicht den erlesensten künstlerischen Geschmack, aber du seist ein Mann, den kein reines Mädchen kennen lernen dürfe, und mit dem keine züchtige Frau im selben Zimmer sitzen solle. Ich erinnerte ihn daran, daß ich mit dir befreundet bin, und fragte ihn, was er damit meinte. Er sagte es mir. Er sagte es mir vor allen Leuten gerade heraus. Es war schändlich! Warum ist deine Freundschaft jungen Männern so verhängnisvoll? Da war der unglückliche Jüngling in der Garde, der Selbstmord begangen hat. Du warst sehr mit ihm befreundet. Da war Sir Henry Ashton, der mit einem befleckten Namen England verlassen mußte. Du und er waren unzertrennlich. Wie ist es mit Adrian Singleton und seinem furchtbaren Ende? Wie mit Lord Kents einzigem Sohne und seiner Karriere? Ich traf gestern seinen Vater in St. James‘ Street. Er schien gebrochen vor Schande und Kummer. Wie steht es mit dem jungen Herzog von Perth? Was für eine Art Leben führt er jetzt? Welcher anständige Mensch wollte mit ihm umgehen? »“Hör auf, Basil! Du redest von Dingen, von denen du nichts weißt,« sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen biß und in einem Tone unendlicher Verachtung sprach. »Du fragst mich, warum Berwick das Zimmer verläßt, wenn ich hereinkomme. Es geschieht, weil ich sein Leben genau kenne, nicht, weil er etwas von mir weiß. Mit dem Blut, das er in den Adern hat, wie könnte da sein Konto in Ordnung sein? Du fragst mich um Henry Ashton und den jungen Perth? Lehrte ich den einen seine Laster und den andern seine Ausschweifungen? Wenn Kents dummer Sohn seine Frau von der Straße nimmt, was geht das mich an? Wenn Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen Wechsel schreibt, bin ich sein Aufseher? Ich weiß, wie die Menschen in England schwatzen. Die Mittelklassen breiten ihre moralischen Vorurteile behaglich über ihre großen Eßtische aus und flüstern über etwas, was sie die Schändlichkeiten derer nennen, denen es besser als ihnen geht, hauptsächlich um damit zu prahlen, daß sie sich in feiner Gesellschaft bewegen und im intimen Verkehr mit denen stehn, die sie verleumden. In unserm Land genügt es, daß jemand vornehm ist und Geist hat, damit jede gemeine Zunge sich gegen ihn rührt. Und was für eine Sorte Leben führen diese Menschen, die sich als moralisch aufspielen, selber? Mein Lieber, du vergißt, daß wir in der Heimat der Heuchler leben!«

»Dorian,« rief Hallward, »darum handelt es sich nicht. England ist schlimm genug, ich weiß es, und die englische Gesellschaft ist ganz und gar schlecht. Das ist der Grund, warum ich wünsche, daß du gut bist. Du bist nicht gut gewesen. Man hat ein Recht, einen Menschen nach der Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde übt. Deine scheinen allen Sinn für Ehre, für Tugend, für Reinheit zu verlieren. Du hast sie mit einer wahnsinnigen Genußgier erfüllt. Sie sind in die Tiefe gesunken. Du hast sie dahin geführt. Jawohl, du hast sie dahin geführt und kannst doch lächeln, und lächelst jetzt! Und es kommt noch Schlimmeres! Ich weiß, du und Harry sind unzertrennlich. Gewiß hättest du aus diesem Grund, wenn aus keinem andern, dich hüten müssen, den Namen seiner Schwester zum Spott zu machen. »Nimm dich in acht, Basil! Du gehst zu weit!«

»Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du Lady Gwendolen kennen lerntest, hatte sie nie auch nur der Hauch eines Geredes berührt. Gibt es in London eine einzige anständige Frau, die jetzt in ihrem Wagen sich im Park sehn lassen möchte? Ja, nicht einmal ihren Kindern ist es erlaubt, bei ihr zu leben. Dann hört man andere Geschichten – Geschichten, daß man dich gesehn hat, wie du dich in der Dämmerung aus gräßlichen Häusern gestohlen hast und verkleidet in die niederträchtigsten Höhlen Londons geschlichen bist. Ist das wahr? Kann das wahr sein? Als ich zuerst so etwas hörte, lachte ich. Ich höre es jetzt, und es schaudert mich. Wie steht es mit deinem Landhaus, und wie geht es da zu? Dorian, du weißt nicht, was man von dir sagt! Ich will dir das nicht sagen, ich will dir keine Predigt halten. Ich erinnere mich, Harry sagte einmal, jeder, der im Beruf des Geistlichen dilettiert, sagt zunächst immer, er wolle nicht predigen, und bricht dann sofort sein Wort. Also gut, ich will dir eine Predigt halten. Ich will, daß du ein solches Leben führst, daß die Welt Achtung vor dir haben muß. Ich will, daß du einen reinen Namen und ein geordnetes Register hast. Ich will, daß du dich von den schrecklichen Menschen lossagst, die deine Genossen sind. Zucke nicht so mit den Achseln! Sei nicht so gleichgültig! Du hast einen starken Einfluß. Laß ihn einen guten sein, nicht einen schlechten. Man sagt, du verdirbst jeden, mit dem dii intim wirst, und es sei völlig genug, daß du ein Haus betrittst, damit irgendeine Schande nachfolge. Ich weiß nicht, ob es so ist oder nicht. Wie sollte ich es wissen? Aber man sagt es. Man hat mir Dinge erzählt, daß es unmöglich ist, daran zu zweifeln. Lord Cloucester war in Oxford einer meiner liebsten Freunde. Er zeigte mir einen Brief, den seine Frau ihm geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in Mentone im Sterben lag. Dein Name kam in der furchtbarsten Beichte vor, die ich je im Leben gelesen habe. Ich sagte ihm, es sei Wahnsinn – ich kennte dich durch und durch, sagte ich, und du seist nicht imstande zu irgend etwas der Art. Ich sagte ihm, ich kennte dich. Aber kenne ich dich? Ich möchte wissen, ob ich dich kenne! Ehe ich darauf antworten könnte, müßte ich deine Seele sehn.«

»Meine Seele sehn!« flüsterte Dorian Gray, stand vom Sofa auf und wurde fast weiß vor Angst.

»Ja,« antwortete Hallward ernst, und tiefer Schmerz lag im Klang seiner Stimme, »deine Seele müßte ich sehn. Aber das kann nur Gott!«

Ein bitteres Hohngelächter brach aus dem Munde des Jüngeren. »Du sollst sie selber sehn, noch heute nacht!« rief er und nahm eine Lampe vom Tisch. »Komm, sie ist ein Werk deiner eigenen Hand. Warum solltest du es nicht ansehn? Du kannst nachher der Welt alles davon erzählen, wenn du willst. Niemand würde dir glauben. Wenn sie dir glaubten, hätten sie mich nur um so lieber. Ich kenne die Zeit besser als du, obwohl du langweilig davon reden kannst. Komm, sag ich dir! Du hast genug von Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du sie von Angesicht zu Angesicht sehn. «

Der Wahnsinn des Hochmuts lag in jedem Wort, das er sprach. Er stampfte in seiner knabenhaften, dreisten Art auf den Boden. Er empfand eine furchtbare Freude bei dem Gedanken, ein anderer solle sein Geheimnis teilen, und der Mann, der das Porträt gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schmach war, solle für den Rest seines Lebens mit der gräßlichen Erinnerung an das, was er getan, beladen werden.

»Ja,« fuhr er fort, indem er näher an ihn herantrat und ihm fest in seine strengen Augen sah, »ich will dir meine Seele zeigen. Du sollst das Ding sehn, von dem du dir einbildest, nur Gott könne es sehn.«

Hallward trat zurück. »Das ist Lästerung, Dorian!« rief er. »Du solltest keine solchen Reden führen. Sie sind schrecklich und haben keinen Sinn.«

»Meinst du?« Er lachte wieder.

»Ich weiß es. Was ich dir heute sagte, sagte ich zu deinem Besten. Du weißt, ich war dir immer ein treuer Freund.«

»Werde jetzt nur nicht gerührt! Komm zu Ende mit dem, was du zu sagen hast!«

Das Gesicht des Malers zuckte schmerzlich. Er schwieg einen Augenblick, und ein wildes Gefühl des Mitleids überkam ihn. Schließlich, was hatte er für ein Recht, in das Leben Dorian Grays zu spähen? Wenn er auch nur den zehnten Teil dessen getan hatte, was über ihn geredet wurde, wieviel mußte er gelitten haben! Dann richtete er sich auf und ging zum Kamin und blieb da stehn. Er blickte auf die brennenden Klötze mit ihrer Asche, die wie weißer Reif aussah, und auf die zuckenden Flammen.

»Ich warte, Basil,« sagte der junge Mann mit harter, heller Stimme.

Hallward drehte sich um. »Was ich zu sagen habe, ist dies!« rief er. »Du mußt mir irgendeine Antwort auf diese schrecklichen Anklagen geben, die gegen dich erhoben werden! Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende unwahr sind, werde ich dir glauben. Bestreite sie, Dorian, bestreite sie! Kannst du nicht sehn, was ich durchmache? Mein Gott, sag mir nicht, daß du schlecht und verdorben und schändlich bist!«

Dorian Gray lächelte. Seine Lippen kräuselten sich verächtlich. »Komm nach oben, Basil,« sagte er ruhig. »Ich habe da Aufzeichnungen von Tag zu Tag, ein Tagebuch über mein Leben, und es kommt nie aus dem Zimmer heraus, in dem es geschrieben wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mitkommst.«

»Ich werde mit dir kommen, Dorian, wenn du es haben willst. Ich sehe, ich habe meinen Zug versäumt. Das macht nichts; ich kann morgen fahren. Aber gib mir heute nacht nichts zu lesen! Ich brauche nur eine klare Antwort auf meine Frage.«

»Die soll dir droben gegeben werden. Ich kann sie hier nicht geben. Du wirst nicht lange zu lesen haben.«

Dreizehntes Kapitel

Er trat aus dem Zimmer und fing an, die Treppe hinaufzugehn; Basil Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie traten leise auf, wie man es instinktiv bei Nacht zu tun pflegt. Die Lampe warf auf die Wand und die Treppe phantastische Schatten. Einige Fenster klirrten in dem Wind, der sich erhoben hatte.

Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, stellte Dorian Gray die Lampe auf den Fußboden, nahm den Schlüssel aus der Tasche und schloß auf. »Du bestehst auf einer Antwort, Basil?« fragte er leise.

»Ja.«

»Mit Vergnügen,« erwiderte er lächelnd. Dann fügte er mit etwas rauher Stimme hinzu: »Du bist der einzige Mensch in der Welt, der Anspruch darauf hat, alles über mich zu wissen. Du hast mehr mit meinem Leben zu tun gehabt, als du glaubst.« Damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und trat ein. Ein kalter Luftzug traf sie, und das Licht schoß einen Augenblick zu einer dunkelorangefarbenen Flamme empor. Er schauderte. »Schließe die Tür hinter dir!« flüsterte er und stellte die Lampe auf den Tisch.

Hallward blickte erstaunt um sich. Das Zimmer sah aus, als sei es seit vielen Jahren nicht bewohnt. Ein verblichener flämischer Wandteppich, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer cassone und ein fast leerer Bücherschrank, das war, außer einem Stuhl und einem Tisch, alles, was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb heruntergebrannte Kerze anzündete, die auf dem Kaminsims stand, sah Basil, daß das ganze Zimmer mit Staub bedeckt war und daß der Teppich in Fetzen lag. Eine Maus lief ängstlich hinter die Täfelung. Es roch dumpfig nach Schimmel.

»Du glaubst also, nur Gott sehe die Seele, Basil? Zieh den Vorhang zurück, und du wirst meine sehn.«

Die Stimme, die sprach, war kalt und grausam.

»Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst eine Rolle!« erwiderte Hallward und runzelte die Stirn.

»Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun,« sagte der junge Mann; und er riß den Vorhang von seiner Stange und warf ihn zu Boden.

Ein Ausruf des Entsetzens kam von den Lippen des Malers, als er in der schlechten Beleuchtung das häßliche Gesicht auf der Leinwand sah, das ihn angrinste. Es lag etwas in dem Ausdruck, das ihn mit Widerwillen und Ekel erfüllte. Großer Gott! es war Dorian Grays eigenes Gesicht, auf das er blickte! Das Gräßliche, was es auch war, hatte die wunderbare Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem dünnen Haar und etwas Rot auf dem sinnlichen Mund. Die stumpfen Augen hatten etwas von ihrem lieblichen Blau bewahrt, die edeln, geschwungenen Linien um die feingebauten Nüstern und der plastische Hals waren noch nicht ganz geschwunden. Ja, es war Dorian selbst. Aber wer hatte das gemacht? Er glaubte das Werk seines eigenen Pinsels zu erkennen, und der Rahmen war von ihm selbst entworfen. Der Gedanke war ungeheuerlich, aber ihn überkam Angst. Er ergriff die Kerze und hielt sie nahe ans Bild. In der linken Ecke stand sein Name in langen hellroten Buchstaben.

Es war irgendeine verruchte Parodie, eine schmähliche, unwürdige Satire. Er hatte das nie gemalt. Aber doch, es war sein eigenes Bild. Er wußte es und hatte die Empfindung, als wandle sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in stockendes Eis. Sein eigenes Bild! Was sollte das heißen? Warum war es verändert? Er drehte sich um und sah Dorian mit fiebernden Augen an. Sein Mund zuckte, und seine Zunge klebte am Gaumen und schien sich nicht rühren zu können. Er fuhr mit der Hand über die Stirn; kalter Schweiß bedeckte sie.

Der junge Mann stand an den Kamin gelehnt da und beobachtete ihn mit dem seltsamen Ausdruck, den man auf den Mienen derer sieht, die vom Spiel eines großen Künstlers in einem Theaterstück ganz hingerissen sind. Es war kein wirklicher Schmerz und keine wirkliche Freude. Es war nur die Leidenschaft des Zuschauers, vielleicht noch mit einem Flackern des Triumphs in den Augen. Er hatte die Blume aus seinem Knopfloch genommen und sog ihren Duft ein oder tat wenigstens so.

»Was bedeutet das?« rief Hallward endlich. Seine eigene Stimme klang ihm grell und seltsam in den Ohren.

»Vor vielen Jahren, als ich fast noch ein Knabe war,« sagte Dorian Gray und zerdrückte die Blume in seiner Hand, »lerntest du mich kennen, schmeicheltest mir und lehrtest mich, auf mein Aussehn eitel zu sein. Eines Tages machtest du mich mit einem deiner Freunde bekannt, der mir erklärte, was für eine wunderbare Sache die Jugend sei, und du vollendetest ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit offenbarte. In einem tollen Augenblick – ich weiß auch jetzt nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht – sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würdest du es ein Gebet nennen …

»Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich daran! Nein! So etwas ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht. Die Leinwand ist verschimmelt. Die Farben, die ich benutzt habe, hatten irgendein schädliches, mineralisches Gift in sich. Ich sage dir, so etwas ist unmöglich!«

»Ah, was ist unmöglich?« murmelte der junge Mann, ging zum Fenster und lehnte seine Stirn an die kalte, nebelnasse Scheibe.

»Du sagtest mir, du hättest das Bild zerstört.«

»Das habe ich falsch gesagt. Es hat mich zerstört.«

»Kannst du dein Ideal nicht darin erblicken?« sagte Dorian bitter.

»Ich glaube nicht, daß es mein Bild ist.« »Mein Ideal, wie du es nennst . .

»Wie du es nanntest.«

»Es hatte nichts Böses in sich nichts Schmachvolles. Du warst für mich ein Ideal, wie ich es nie wieder finden werde. Dies ist das Gesicht eines Satyrs.«

»Es ist das Gesicht meiner Seele.«

»Mein Heiland! was habe ich angebetet! Es hat die Augen eines Teufels.«

»Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil!« rief Dorian mit einer wilden Bewegung der Verzweiflung.

Hallward wandte sich wieder dem Bild zu und starrte es an. »Mein Gott! es ist wahr,« rief er aus, »und das hast du aus deinem Leben gemacht! Wehe, du mußt noch schlechter sein, als die, die so schlimm von dir reden, ahnen!« Er hielt das Gesicht wieder nahe an die Leinwand und untersuchte sie genau. Die Oberfläche schien völlig unangetastet und geblieben, wie sie aus seinen Händen gekommen war. Von innen war augenscheinlich die Verderbnis und das Entsetzliche gedrungen. Durch einen seltsamen Zeugungsprozeß inneren Lebens fraß der Aussatz der Sünde langsam an dem Bilde. Das Faulen eines Leichnams, der im Wasser begraben liegt, war nicht so grauenhaft.

Seine Hand zitterte, und die Kerze fiel aus dem Leuchter auf den Fußboden und lag qualmend da. Er trat mit dem Fuß darauf und löschte sie aus. Dann warf er sich in den gebrechlichen Stuhl, der am Tisch stand, und begrub das Gesicht in den Händen.

»Guter Gott, Dorian, was für eine Züchtigung! Was für eine gräßliche Züchtigung!« Es kam keine Antwort, aber er konnte hören, wie der junge Mann am Fenster schluchzte. »Bete, Dorian, bete!« sagte er in leisem, eindringlichem Tone. »Wie war es, was man uns in der Kinderzeit aufsagen ließ? ›Führe uns nicht in Versuchung. Vergib uns unsere Sünden. Tilge unsere Missetaten.‹ Komm, wir wollen es zusammen sprechen! Das Gebet deines Hochmuts ist erhört worden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. Ich betete dich zu sehr an. Ich bin dafür gestraft worden. Du hast dich selbst zu sehr angebetet. Wir sind beide gestraft.

Dorian Gray drehte sich langsam um und sah ihn mit tränenumschleierten Augen an. »Es ist zu spät, Basil,« sagte er, und die Stimme versagte ihm fast.

»Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen zusammen hinknien, wir wollen versuchen, uns eines Gebetes zu erinnern. Steht nicht ein Vers irgendwo: ›Und wenn schon eure Sünden wie Scharlach sind, ich will sie weiß machen wie Schnee?‹«

»Solche Worte haben keinen Sinn mehr für mich.«

»Still! sag nicht so etwas! Du hast genug Schlimmes getan im Leben. Mein Gott! siehst du nicht, wie das verruchte Bild höhnisch zu uns her schielt?«

Dorian Gray sah auf das Bild, und plötzlich überkam ihn ein unwiderstehliches Gefühl des Hasses gegen Basil Hallward, als ob es ihm von dem Bildnis auf der Leinwand eingeflößt würde, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr geraunt würde. Die wilde Wut eines gehetzten Tieres erwachte in ihm, und er verabscheute den Mann, der am Tische saß, mehr, als er je im Leben etwas verabscheut hatte. Er blickte wild um sich. Es glänzte etwas oben auf der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand. Sein Auge fiel darauf. Er erkannte, was es war. Es war ein Messer, das er ein paar Tage vorher mit herauf gebracht hatte, um ein Stück Schnur durchzuschneiden, und das er vergessen hatte, wieder fortzutragen. Er bewegte sich langsam darauf zu, wobei er an Hallward vorüber mußte. Sowie er an ihm vorbei war, ergriff er es und drehte sich um. Hallward bewegte sich auf seinem Stuhl, als ob er eben aufstehn wollte. Dorian stürzte auf ihn und stieß das Messer in die große Schlagader hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf den Tisch herunter und stieß wieder und wieder.

Es gab ein dumpfes Röcheln und den gräßlichen Ton eines Menschen, der am Blute erstickt. Dreimal streckten sich die krampfhaft ausgebreiteten Arme empor, und die Hände wogten mit steif gereckten Fingern grotesk durch die Luft. Er stieß noch zweimal mit dem Messer nach, aber der Mann rührte sich nicht mehr. Etwas fing an, auf den Boden zu tröpfeln. Er wartete einen Augenblick und drückte immer noch den Kopf herunter. Dann warf er das Messer auf den Tisch und lauschte.

Er konnte nichts weiter hören als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis zum Beginn der Treppe. Das Haus war völlig ruhig, niemand war zu hören. Ein paar Sekunden stand er über die Brüstung gelehnt und spähte hinab in den schwarzen, kochenden Brunnen der Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel heraus, kehrte in das Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich zu.

Das Ding saß noch im Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen, wunderlichen Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote, tief ausgebohrte Riß im Nacken gewesen und die schwarze, geronnene Pfütze, die sich auf dem Tisch langsam erweiterte, man hätte denken können, der Mann sei eingeschlafen.

Wie schnell das alles gegangen war! Er war seltsam ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte den Nebel auseinandergejagt, und der Himmel war wie ein ungeheurer Pfauenschweif mit unzähligen goldenen Augen ausgestirnt. Er sah hinunter und sah den Schutzmann, der seine Runde machte und mit der Laterne an die Türen der schweigend daliegenden Häuser leuchtete. Das rote Licht einer langsam fahrenden Droschke glomm an der Ecke auf und verschwand dann wieder. Eine Frau schlich langsam an den Geländern hin und taumelte im Gehn. Ihr Tuch flatterte im Winde. Hie und da blieb sie stehn und sah sich um. Plötzlich fing sie mit heiserer Stimme zu singen an. Der Schutzmann ging langsam über die Straße und sagte etwas zu ihr. Sie stolperte lachend weiter. Ein scharfer Windstoß fegte über den Platz. Die Gasflammen flackerten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten ihre schwarzen Zweige, die wie Eisenstangen aussahen, hin und her. Er fröstelte, trat zurück und schloß die Tür hinter sich.

Als er an der Stubentür angekommen war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er warf keinen Blick auf den ermordeten Menschen. Er fühlte, das Geheimnis der ganzen Sache bestand darin, sich die Situation nicht zu vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Porträt gemalt hatte, von dem all sein Elend kam, war aus dem Leben geschieden. Das war genug.

Dann erinnerte er sich der Lampe. Es war eine ziemlich absonderliche von maurischer Arbeit, aus mattem Silber gefertigt, das mit Arabesken aus schwarzem Stahl und mit ungeschliffenen Türkisen belegt war. Vielleicht könnte sie von seinem Diener vermißt werden, es könnte danach gefragt werden. Er zögerte einen Augenblick, dann kehrte er um und nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt sehn. Wie still sie war! Wie schrecklich weiß die langen Hände aussahen! Es war wie eine gräßliche Wachsfigur.

Er schloß die Tür hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter. Das Holzwerk krachte und schien wie klagend zu schreien. Er blieb ein paarmal stehn und wartete. Nein, es war alles still. Es war nichts zu hören als der Klang seiner eignen Tritte.

Als er in seinem Zimmer angelangt war, sah er die Tasche und den Mantel in der Ecke. Sie mußten irgendwo versteckt werden. Er schloß einen Geheimschrank in der Holzverkleidung auf, in dem er die eigenen Kleidungsstücke aufbewahrte, die er manchmal für seine Vermummungen brauchte, und tat die Sachen hinein. Er konnte sie später leicht verbrennen. Dann sah er nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei. Er setzte sich und fing an zu überlegen. In jedem Jahr – in jedem Monat beinahe – wurden in England Menschen für solche Dinge, wie er eben eins getan hatte, gehenkt. Eine tolle Mordlust war in der Luft gewesen. Ein roter Stern war der Erde zu nahe gekommen.

Aber was für einen Beweis gab es gegen ihn? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte gesehn, daß er noch einmal zurückgekommen war. Die meisten Bedienten waren in Selby Royal. Sein Diener war zu Bett gegangen … Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem Zwölfuhrzug, wie er vorgehabt hatte. Bei seinen seltsamen Gewohnheiten, sich von allem zurückzuziehen, würde es Monate dauern, bevor sich ein Argwohn regte. Monate! Jede Spur konnte lange vorher getilgt sein. Ein plötzlicher Einfall kam ihm. Er zog seinen Pelzmantel an, setzte den Hut auf und ging in das Vestibül. Dort stand er still und lauschte auf den langsamen, schweren Tritt des Schutzmannes draußen auf dem Pflaster und sah auf den Widerschein der leuchtenden Blendlaterne im Türfenster. Er wartete und hielt den Atem an.

Nach ein paar Augenblicken schob er den Riegel zurück, schlich hinaus und schloß die Tür sehr leise hinter sich zu. Dann fing er an, die Glocke zu ziehen. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener halb angezogen und sehr verschlafen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis,« sagte er und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe vergessen, meinen Drücker mitzunehmen. Wieviel Uhr ist es?«

»Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr,« antwortete der Mann, der nach der Uhr gesehn hatte, und blinzelte.

»Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.«

»Gewiß, gnädiger Herr.«

»Ist jemand hier gewesen?«

»Herr Hallward, gnädiger Herr. Er blieb hier bis elf Uhr und ging dann, um seinen Zug zu erreichen.«

»Schade, daß ich ihn nicht getroffen habe. Hinterließ er etwas?«

»Nein, gnädiger Herr; er sagte nur, er werde Ihnen von Paris aus schreiben, wenn er Sie im Klub nicht anträfe.«

»Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun Uhr zu wecken!«

»Sehr wohl, gnädiger Herr.«

Der Mann schlürfte in seinen Pantoffeln über die Durchfahrt in die Dienerwohnung.

Dorian Gray legte Hut und Mantel auf den Tisch und trat in das Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er im Zimmer hin und her, biß sich auf die Lippen und überlegte. Dann nahm er das Adreßbuch aus einem der Fächer und fing an zu blättern. »Alan Campbell, 152 , Hertford Street, Mayfair.« Ja; das war der Mann, den er brauchte.

Vierzehntes Kapitel

Um neun Uhr am nächsten Morgen trat sein Diener mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf seiner rechten Seite mit einer Hand unter der Wange und schlief friedlich. Er sah wie ein Knabe aus, der sich mit Spielen oder Arbeiten müde gemacht hat.

Der Mann mußte ihn zweimal an die Schulter fassen, ehe er erwachte, und als er die Augen öffnete, huschte ein schwaches Lächeln über seine Lippen, als ob er in einen entzückenden Traum versenkt gewesen wäre. Aber er hatte nicht geträumt. Seine Nacht war von keinen Bildern gestört worden, weder der Lust noch des Grauens. Aber die Jugend lächelt auch ohne Grund. Das ist einer ihrer besondern Reize.

Er wandte sich um und fing an, auf den Ellbogen gestützt, seine Schokolade zu schlürfen. Die milde Novembersonne floß ins Zimmer. Es war ein strahlender Himmel, und eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein Maimorgen.

Allmählich schlichen sich die Ereignisse der Nacht auf stillen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und stellten sich selbst mit furchtbarer Deutlichkeit wieder her. Er zuckte bei der Erinnerung an alles, was er gelitten hatte, zusammen, und einen Augenblick kam ihm das seltsame Gefühl des Hasses gegen Basil Hallward zurück, das ihn dazu gebracht hatte, ihn zu töten, als er im Stuhle saß, und er wurde kalt vor Wut. Und der tote Mann saß immer noch da, und jetzt gar im Sonnenlicht. Wie entsetzlich das war! So gräßliche Dinge waren für die Dunkelheit, nicht für den Tag.

Er fühlte, wenn er über das, was er durchgemacht hatte, ins Brüten kam, würde er krank oder wahnsinnig werden. Es gab Sünden, deren Zauber mehr in der Erinnerung als in der Ausführung bestand, seltsame Triumphe, die mehr dem Stolz als den Trieben Genüge taten und den Geist in eine lebhafte Empfindung der Freude versetzten, die größer war als jede Lust, die sie den Sinnen brachten oder je hätten bringen können. Aber diesmal war es nicht so eine. Das war eine, die man aus dem Geiste verjagen, die man mit Schlafmitteln behandeln, die man erwürgen mußte, damit sie einen nicht erwürgte.

Als es halb zehn schlug, fuhr er mit der Hand über die Stirn, stand dann schnell auf und kleidete sich fast noch sorgfältiger als gewöhnlich an, verwandte viel Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und Vorstecknadel und wechselte seine Ringe mehr als einmal. Dann verbrachte er längere Zeit beim Frühstück, kostete von den verschiedenen Gerichten, sprach dabei mit seinem Diener über neue Livreen, die er für die Dienerschaft in Selby machen lassen wollte, und sah seine Korrespondenz durch. Bei einigen Briefen lächelte er. Drei davon langweilten ihn. Einen las er ein paarmal durch und zerriß ihn dann mit einem leichten Ausdruck des Ärgers im Gesicht. »Diese greuliche Sache, das Gedächtnis eines Weibes!« wie Lord Henry einmal gesagt hatte.

Nachdem er seinen schwarzen Kaffee getrunken hatte, wischte er sich langsam die Lippen ab, bedeutete seinem Diener, er solle warten, und ging zum Tisch, setzte sich hin und schrieb zwei Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den andern reichte er dem Diener hin.

»Bringen Sie ihn nach Hertford Street 152 , Francis, und wenn Herr Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.«

Sowie er allein war, steckte er sich eine Zigarette an und begann auf einem Stück Papier zu zeichnen; er entwarf erst Blumen, dann kleine Architekturstücke und dann menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht, das er zeichnete, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging zum Bücherschrank und zog aufs Geratewohl einen Band heraus. Er war entschlossen, nicht an das zu denken, was geschehen war, ehe es durchaus notwendig war.

Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er nach dem Titel des Buches. Es waren Gautiers »Emaux et Camées«, Charpentiers Japanpapier-Ausgabe mit der Radierung von Jacquemart. Das Buch war in zitronengelbes Leder gebunden, auf das vergoldetes Laubwerk und punktierte Granatäpfel geprägt waren. Adrian Singleton hatte ihm den Band geschenkt. Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand Lacenaires, die kalte gelbe Hand »du supplice encore mal lavée« mit ihren roten Flaumhaaren und ihren »doigts de faune«. Er blickte auf seine eigenen weißen schlanken Finger und schauerte leicht zusammen. Dann las er weiter, bis er an die lieblichen Stanzen auf Venedig kam:

Sur une gamme chromatique
Le sein de perles ruisselant,
La Vénus de I’Adriatique
Sort de l’eau son corps rose et blanc.

Les dômes, sur l’azur des ondes
Suivant la phrase au pur contour,
S’enflent comme des gorges rondes
Que soulève un soupir d’amour.

L’esquif aborde et me dépose,
Jetant son amarre au pi!ier,
Devant une façade rose,
Sur le marbre d’un escalier.

Wie köstlich die Verse waren! Wenn man sie las, schien man in einer schwarzen Gondel mit silbernem Bug und schleppend langen Gardinen zu sitzen und die grünen Kanäle der rot- und perlfarbenen Stadt hinabzufahren. Die bloßen Zeilen im Buche schienen ihm wie die geraden Linien aus Türkisblau, die einem folgen, wenn man nach dem Lido rudert. Die raschen Farbenblitze erinnerten ihn an den Schimmer der Vögel mit ihren opal- und regenbogenfarbenen Kehlen, die um den schlanken Kampanile mit seinen Filigrandurchblicken flattern oder mit so stolzer Grazie durch die dunkeln, staubigen Arkaden trippeln. Er lehnte sich mit halb geschlossenen Augen zurück und sagte sich wieder und wieder die Verse vor:

Devant une façade rose,
Sur le marbre d’un escalier.

Das ganze Venedig lag in diesen zwei Zeilen. Er erinnerte sich an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und an eine wundervolle Liebe, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Tollheiten verleitet hatte. Es gab überall Romantik; aber Venedig hatte wie Oxford den Hintergrund für die Romantik noch bewahrt, und für den echten Romantiker ist der Hintergrund alles oder beinahe alles. Basil war einen Teil der Zeit bei ihm gewesen und hatte sich mit leidenschaftlichem Interesse Tintoretto hingegeben. Armer Basil! wie furchtbar, so zu sterben! Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von den Schwalben, die in dem kleinen Café in Smyrna ein und aus fliegen, wo die Hadschis sitzen und ihre Bemsteinperlen durch die Hand gehn lassen und die Kaufleute im Turban ihre langen Pfeifen rauchen und ernsthaft miteinander sprechen; er las von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der granitene Tränen weint in der Verlassenheit seines sonnenlosen Exils und nach dem heißen, lotusbedeckten Nil zurückverlangt, wo die Sphinxe sind und rosenrote Ibisse und weiße Geier mit goldfarbenen Klauen und Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die über den grünen, dampfenden Schlamm kriechen; er fing an, über die Verse zu sinnen, die ihre Musik aus Marmor zu holen scheinen, der von Küssen gefleckt ist, und uns von der seltsamen Statue berichten, die Gautier einer Altstimme vergleicht, dem »monstre charmant«, das im Porphyrsaal des Louvre ruht. Aber nach einer Weile fiel das Buch aus seiner Hand. Er wurde nervös, und eine schreckliche Angst überfiel ihn. Wie, wenn Alan Campbell nicht in England wäre? Tage könnten verstreichen, ehe er zurückkäme. Vielleicht lehnte er ab, zu kommen. Was sollte er denn tun? Jeder Augenblick war von tödlicher Wichtigkeit.

Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren – fast unzertrennlich sogar. Dann war die Intimität plötzlich zu Ende gewesen. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft trafen, war es nur Dorian Gray, der lächelte, Alan Campbell nie.

Er war ein äußerst begabter junger Mann, obwohl er kein wirkliches Verhältnis zu den sichtbaren Künsten hatte und das bißchen Sinn für Poesie, das er besaß, gänzlich Dorian Gray verdankte. Die geistige Leidenschaft, die ihn beherrschte, ging ganz auf die Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit auf Arbeiten im Laboratorium verwandt und hatte sein Examen in der Naturwissenschaft mit Auszeichnung bestanden. Er beschäftigte sich noch immer mit chemischen Studien und hatte sein eigenes Laboratorium, in das er sich oft den ganzen Tag einschloß, sehr zum Kummer seiner Mutter, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, er solle fürs Parlament kandidieren, und die undeutliche Vorstellung hatte, ein Chemiker sei eine Art Drogist. Er war indessen auch ein trefflicher Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die meisten Dilettanten. In der Tat war es die Musik, die ihn und Dorian Gray zuerst zusammengebracht hatte – die Musik und die unerklärliche Anziehung, die Dorian auszuüben imstande schien, wenn er wollte, und oft auch ausübte, ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an dem Abend, wo Rubinstein dort spielte, kennen gelernt, und von da an sah man sie immer zusammen in der Oper und überall, wo gute Musik zu hören war. Anderthalb Jahre dauerte ihre Freundschaft. Campbell war immer entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie für viele andere war Dorian Gray der Typus alles dessen, was im Leben wundervoll und bezaubernd ist. Ob es zwischen ihnen einen Streit gegeben hatte oder nicht, hat nie ein Mensch erfahren. Aber plötzlich bemerkten die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und daß Campbell jede Gesellschaft früh zu verlassen schien, bei der Dorian Gray anwesend war. Er hatte sich auch verändert – war manchmal seltsam melancholisch, schien fast keine Musik mehr hören zu wollen und spielte nie mehr selbst. Wenn er aufgefordert wurde, sagte er zu seiner Entschuldigung, die Wissenschaft nehme ihn so in Anspruch, daß ihm keine Zeit zum Üben übrig bleibe. Und dies war schon ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit gewissen absonderlichen Experimenten genannt worden.

Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. Fast jeden Augenblick sah er auf die Uhr. Als Minute um Minute verging, kam er in furchtbare Aufregung. Schließlich stand er auf und fing an, im Zimmer hin und her zu gehn. Er sah aus wie eine schöne Bestie im Käfig. Er machte lange Schritte und trat leise auf. Seine Hände waren seltsam kalt.

Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren Stürmen dem schroffen Grat eines schwarzen Abgrunds zugeschleudert wurde. Er wußte, was dieses Warten für ihn bedeutete; er sah es und drückte schaudernd mit seinen feuchten Händen die brennenden Lider zusammen, als wolle er dem Hirn die Sehkraft nehmen und die Augäpfel in ihre Höhle sperren. Es war umsonst. Das Hirn hatte seine eigene Nahrung, von der es sich mästete, und die Phantasie, die von der Angst ins Groteske gesteigert war, drehte und wand sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine schnöde Puppe in einem Schaukasten und grinste durch bewegliche Masken hindurch. Dann blieb plötzlich die Zeit für ihn stehn. Ja, die blinde, langsam atmende Zeit rührte sich nicht mehr, und, da sie tot war, jagten entsetzliche Gedanken mit furchtbarer Schnelligkeit über ihn hin und wühlten eine gräßliche Zukunft aus ihrem Grab und zeigten sie ihm. Er starrte darauf, und ihre Entsetzlichkeit machte ihn zu Stein.

Schließlich öffnete sich die Tür, und sein Diener trat ein. Er wandte ihm seine verglasten Augen zu.

»Herr Campbell,« sagte der Mann.

Ein Seufzer der Befreiung kam von seinen trockenen Lippen, und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.

»Bitten Sie ihn hereinzukommen, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er selbst war. Die Anwandlung von Feigheit war verflogen.

Der Diener verbeugte sich und ging. Nach ein paar Augenblicken kam Alan Campbell herein. Er sah sehr finster und etwas blaß aus, und seine Blässe trat noch stärker hervor durch seine kohlschwarzen Haare und die dunklen Brauen.

»Alan, das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.«

»Ich hatte die Absicht, dein Haus nie mehr zu betreten, Gray. Aber du schriebst, es sei eine Sache auf Leben und Tod.« Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam und überlegt. Es lag ein verächtlicher Ausdruck in dem festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanmantels und schien die Hand, die sich zur Begrüßung ausstrecken wollte, nicht zu bemerken.

»Ja, es ist eine Sache auf Leben und Tod, Alan, und für mehr als einen Menschen. Setz dich!«

Campbell setzte sich an den Tisch, und Dorian nahm einen Stuhl ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun mußte, war furchtbar.

Nach einem Augenblick gespannten Schweigens beugte er sich vor, und während er die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes, den er hatte holen lassen, beobachtete, sagte er: »Alan, in einem verschlossenen Zimmer unter dem Dach dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem außer mir niemand Zutritt hat, sitzt ein toter Mensch an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Spring nicht auf und blick mich nicht so an! Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, kümmert dich nicht! Was du zu tun hast, ist . .

»Halt! Gray. Ich will nichts weiter hören. Ob, was du mir gesagt hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es völlig ab, in dein Leben verwickelt zu werden. Behalte deine gräßlichen Geheimnisse für dich! Sie haben kein Interesse mehr für mich.«

»Alan, du wirst Interesse daran nehmen müssen! Dies Geheimnis wird dich interessieren müssen! Es tut mir furchtbar leid um dich, Alan, aber ich kann mir nicht helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich retten kann! Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. Ich habe keine Wahl! Alan, du bist Naturwissenschaftler. Du verstehst dich auf Chemie und derlei Dinge. Du hast Experimente gemacht. Was du zu tun hast, ist, das Ding da oben zu vernichten – es so zu vernichten, daß nicht eine Spur davon übrig bleibt. Niemand hat den Mann ins Haus kommen sehn. Man vermutet ihn in diesem Augenblick in Paris. Er wird monatelang nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf hier keine Spur von ihm gefunden werden. Du, Alan, mußt ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.«

»Du bist toll, Dorian!«

»Ah! Darauf habe ich gewartet, daß du mich Dorian nennst.«

»Du bist toll, sage ich dir, toll, daß du erwartest, ich würde einen Finger rühren, um dir zu helfen; toll, daß du mir dieses ungeheuerliche Bekenntnis ablegst? Ich will mit dieser Sache, sie mag sein, wie sie will, nichts zu tun haben. Glaubst du, ich werde für dich meinen Ruf aufs Spiel setzen? Was geht es mich an, mit was für einem Teufelswerk du zu tun hast?«

»Es war Selbstmord, Alan.«

»Das freut mich. Aber wer trieb ihn dazu? Wahrscheinlich du.«

»Lehnst du noch immer ab, das für mich zu tun?«

»Natürlich lehne ich es ab. Ich will nicht das geringste damit zu tun haben. Ich kümmere mich nicht darum, was für eine Schande über dich kommt. Du verdienst sie völlig. Ich würde nicht bedauern, dich entehrt zu sehn, öffentlich entehrt. Wie darfst du es wagen, mich, von allen Menschen in der Welt mich in diese Schändlichkeit hineinzubringen? Ich hätte gedacht, du verständest dich besser auf den Charakter eines Menschen. Dein Freund Lord Henry Wotton kann dir nicht viel Psychologie beigebracht haben, was er dir auch sonst beigebracht hat. Nichts wird mich vermögen, dir zu Hilfe einen Schritt zu tun. Du bist an den Unrechten gekommen. Geh zu einem deiner Freunde, aber nicht zu mir!«

»Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du weißt nicht, was für Weh er über mich gebracht hat. Mein Leben mag sein, wie es will: er hatte mehr damit zu tun, es zu erzeugen und zu verderben als der arme Harry. Er mag es nicht gewollt haben, es kommt aufs gleiche heraus.«

»Mord! Guter Gott, Dorian, so weit bist du gekommen? Ich werde dich nicht anzeigen. Es ist nicht meines Amtes. Überdies wird man dich festnehmen, auch ohne daß ich mich einmische. Niemand begeht je ein Verbrechen, ohne eine Dummheit zu machen. Aber ich will nichts damit zu tun haben.«

»Du mußt etwas damit zu tun haben! Warte, warte einen Augenblick; hör mich an! Nur hören sollst du, Alan. Alles, worum ich dich bitte, ist, ein bestimmtes wissenschaftliches Experiment zu machen. Du gehst in Krankenhäuser und Leichenhallen, und das Fürchterliche, was du da tust, rührt dich nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen Sezierraum oder in einem stinkenden Laboratorium auf einem plumpen Tisch liegen fändest, mit roten Rinnen, die man hineingeschlagen hat, damit das Blut hindurchfließt, würdest du ihn einfach als prächtiges Objekt betrachten. Kein Haar sträubte sich dir. Du nähmest nicht an, daß du irgend etwas Schlechtes tust. Im Gegenteil, wahrscheinlich hättest du das Gefühl, der Menschheit einen Dienst zu erweisen, oder die Summe des Wissens für die Welt zu vermehren, oder die wissenschaftliche Neugier zu befriedigen oder so etwas Ähnliches. Was ich von dir verlange, ist nichts anderes, als was du schon oft getan hast. Wahrhaftig, einen Leichnam aus der Welt zu schaffen muß weit weniger gräßlich sein als vieles, woran du gewöhnt bist. Und vergiß nicht: er ist das einzige Beweisstück gegen mich. Wenn er entdeckt wird, bin ich verloren; und er muß entdeckt werden, wenn du mir nicht hilfst.«

»Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts damit zu schaffen.«

»Alan, ich beschwöre dich! Denk an die Lage, in der ich bin. Jetzt eben, ehe du eintratst, sank ich fast in Ohnmacht vor Angst. Vielleicht lernst du eines Tages die Angst selbst kennen. Nein, denk nicht daran! Betrachte die Sache einfach vom Standpunkt der Wissenschaft. Du forschest nicht nach, woher die toten Dinge, an denen du experimentierst, kommen. Forsche jetzt auch nicht danach! Ich habe dir sowieso zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, zu tun, was ich sagte. Wir waren einmal Freunde, Alan.«

»Sprich nicht von diesen Tagen, Dorian; sie sind tot.«

»Tote Dinge verweilen manchmal. Der Mann da droben geht nicht fort. Er sitzt mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen am Tisch. Alan! Alan! wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! sie werden mich hängen! Verstehst du nicht? Sie werden mich für das, was ich getan habe, hängen!«

»Es hat keinen Wert, diese Szene länger fortzusetzen. Ich lehne es völlig ab, in der Sache etwas zu tun. Es ist wahnsinnig von dir, es von mir zu verlangen!«

»Du lehnst ab?« »Ja.«

»Ich beschwöre dich, Alan!« »Es ist zwecklos.«

Derselbe Ausdruck des Mitleids kam in Dorian Grays Augen. Dann streckte er die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch, faltete es sorgfältig und schob es über den Tisch. Nachdem er das getan hatte, stand er auf und ging zum Fenster.

Campbell blickte ihn erstaunt an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als er es gelesen hatte, wurde sein Gesicht totenblaß, und er sank in den Stuhl zurück. Ein entsetzliches Gefühl der Schwäche kam über ihn. Es war ihm, als schlüge sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode.

Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens wandte sich Dorian um, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Es tut mir so leid um dich, Alan,« sagte er, »aber du läßt mir keine Wahl. Ich habe den Brief bereits geschrieben. Hier ist er. Du siehst die Adresse. Wenn du mir nicht hilfst, sende ich ihn ab. Du weißt, was dann kommt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß du jetzt noch nein sagst! Ich wollte dich schonen. Du wirst mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. Du warst bitter, hart, beleidigend. Du hast mich behandelt, wie nie ein Mann gewagt hat mich zu behandeln – kein lebender Mann wenigstens. Ich ertrug alles. Jetzt ist es an mir, die Bedingungen zu diktieren.«

Campbell begrub das Gesicht in den Händen, und ein Schauder überlief ihn.

»Ja, die Reihe ist an mir, die Bedingungen zu diktieren, Alan. Du kennst sie. Die Sache ist ganz einfach. Komm, bohre dich nicht in dieses Fieber hinein! Die Sache muß getan werden. Sieh ihr ins Auge und tu sie!«

Ein Stöhnen entrang sich Campbells Lippen, und er bebte am ganzen Leib. Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims schien ihm die Zeit in kleine Stückchen Verzweiflung zu schneiden, von denen jedes einzelne unerträglich war. Er hatte das Gefühl, ein eiserner Ring werde allmählich fester und fester um seine Stirn gespannt, als ob die Schande, mit der er bedroht war, schon über ihn gekommen wäre. Die Hand auf seiner Schulter drückte wie eine Hand aus Blei. Sie war unerträglich. Sie schien ihn zu zerdrücken.

»Komm, Alan, du mußt dich entscheiden!»

»Ich kann es nicht tun,« sagte er mechanisch, als ob Worte die Dinge ändern könnten.

»Du mußt! Du hast keine Wahl. Zögere nicht!«

Er schwieg einen Augenblick. »Ist da oben in dem Zimmer ein Ofen oder so etwas?«

»Ja, es ist ein Asbest-Gasofen oben.«

»Ich werde nach Hause gehn müssen und einiges aus dem Laboratorium holen.«

»Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen! Schreib auf ein Stück Papier, was du brauchst, und mein Diener nimmt eine Droschke und holt dir die Sachen!«

Campbell warf ein paar Zeilen hin, trocknete sie und adressierte ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian nahm das Blatt und las es sorgfältig. Dann klingelte er, gab den Brief seinem Diener und schärfte ihm ein, so schnell wie möglich mit den Sachen, die er erhielte, zurückzukommen.

Als die Vestibültür sich schloß, fuhr Campbell nervös zusammen, stand auf und trat an den Kamin. Eine Art Fieberfrost schüttelte ihn. Fast zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden Männer ein Wort. Eine Fliege schwirrte im Zimmer umher, und das Ticken der Uhr war wie das Schlagen eines Hammers.

Als das Glockenspiel ein Uhr schlug, wandte sich Campbell um, blickte auf Dorian Gray und sah, daß seine Augen in Tränen schwammen. Es lag etwas in der Schönheit und dem Adel dieser leidvollen Züge, was ihn in Wut zu bringen schien. »Du bist infam, völlig infam!« rief er halblaut.

»Still, Alan, du hast mir das Leben gerettet!« sagte Dorian.

»Dein Leben? Daß Gott erbarm! Was für ein Leben ist das! Du bist von Verderbnis zu Verderbnis gegangen, und jetzt hast du dein Leben mit dem Verbrechen gekrönt.

Wenn ich tue, was ich tun werde, was zu tun du mich zwingst, so ist es nicht dein Leben, an das ich denke.«

»Ach, Alan,« sagte Dorian leise seufzend, »ich wollte, du hättest den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit dir habe.« Er wandte sich ab, als er so sprach, und blickte in den Garten hinaus. Campbell gab keine Antwort.

Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Bediente trat mit einem großen Mahagonikasten voller Chemikalien ein. Außerdem trug er eine lange Rolle Stahl und Platindraht und zwei sehr seltsam geformte Eisenklammern.

»Soll ich die Sachen hier lassen?« fragte er Campbell.

»Ja,« antwortete Dorian. »Und ich fürchte, Francis, ich habe noch einen Gang für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der die Orchideen nach Selby liefert?«

»Harden, gnädiger Herr.«

»Richtig – Harden. Bitte, fahren Sie gleich nach Richmond, sprechen Sie mit Harden persönlich und sagen Sie ihm, er solle doppelt soviel Orchideen schicken, als ich bestellt habe, und möglichst wenig weiße darunter. Oder, ich brauche überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond ist sehr hübsch, sonst würde ich Sie nicht damit behelligen.«

»Hat gar nichts zu sagen, gnädiger Herr. Wann soll ich zurück sein?«

Dorian sah Campbell an. »Wie lange brauchst du zu deinem Experiment, Alan?« fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Anwesenheit eines Dritten im Zimmer schien ihm außergewöhnlichen Mut zu machen. Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen.

»Es wird ungefähr fünf Stunden dauern.«

»Dann wird es Zeit genug sein, wenn Sie um halb sieben Uhr zurück sind, Francis. Oder warten Sie: legen Sie nur noch meine Sachen zum Umziehen zurecht. Sie können den Abend für sich verwenden. Ich esse nicht zu Hause und brauche Sie nicht mehr.«

»Danke, gnädiger Herr,« sagte der Mann und ging.

»Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer dieser Kasten ist! Ich trage ihn dir. Du bringst die andern Sachen.« Er sprach hastig und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm bezwungen. Sie verließen zusammen das Zimmer.

Als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten, zog Dorian den Schlüssel heraus und schloß auf. Dann hielt er inne, und ein unruhiger Ausdruck kam in seine Augen. Es schauderte ihn. »Ich glaube nicht, daß ich hineingehn kann, Alan,« flüsterte er.

»Das macht mir nichts. Ich brauch dich nicht,« sagte Campbell kalt.

Dorian öffnete halb die Tür. Als er es tat, sah er dem Porträt, das hell von der Sonne beleuchtet war, gerade ins Gesicht. Auf dem Boden lag der heruntergerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der Nacht zum erstenmal im Leben vergessen hatte, die verhängnisvolle Leinwand zu verbergen, und wollte gerade hineilen, als er schaudernd zurücktrat.

Was war das für ein grauenhafter roter Fleck, der naß und glänzend an einer der Hände klebte, als ob die Leinwand Blut geschwitzt hätte? Wie entsetzlich sah das aus! entsetzlicher schien es ihm im Augenblick, als die schweigsame Gestalt, von der er wußte, daß sie noch über den Tisch gelehnt dasaß, die Gestalt, deren grotesker, kläglicher Schatten auf dem fleckigen Teppich ihm zeigte, daß sie sich nicht geregt hatte, sondern noch da war, wo er sie gelassen hatte.

Er holte tief Atem, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit halb geschlossenen Augen und abgewandtem Kopf schnell hinein, entschlossen, nicht ein einziges Mal nach dem Toten zu sehen. Dann bückte er sich, nahm den gold- und purpurprangenden Vorhang auf und warf ihn über das Bild.

Da blieb er stehn; er hatte Angst, sich umzudrehn, und seine Augen richteten sich auf die verworrenen Muster des Vorhanges. Er hörte Campbell den schweren Kasten und die Eisen und die andern Dinge, die er für sein furchtbares Werk sich hatte kommen lassen, hereinbringen. Er fing an, sich zu fragen, ob Campbell und Hallward sich je gekannt hätten, und wenn ja, was sie voneinander gehalten hatten.

»Laß mich jetzt allein,« sagte eine rauhe Stimme hinter ihm.

Er wandte sich und eilte hinaus. Gerade hatte er noch gesehn, daß der Tote in den Stuhl zurückgelegt worden war, und daß Campbell in ein glänzendes, gelbes Gesicht blickte. Als er die Treppe hinabeilte, hörte er, wie das Zimmer geschlossen wurde.

Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell in das Bücherzimmer herunterkam. Er war blaß, aber völlig ruhig. »Ich habe getan, was du verlangtest,« sagte er. »Und jetzt, adieu! Wir wollen uns nie wieder begegnen.«

»Du hast mir das Leben gerettet, Alan. Ich werde das nie vergessen!« sagte Dorian schlicht.

Sowie Campbell fort war, ging er hinauf. Es roch furchtbar nach Salpetersäure im Zimmer. Aber was da am Tische gesessen hatte, war verschwunden.

Zweites Kapitel

Sie traten ein und erblickten Dorian Gray. Er saß am Klavier, wendete ihnen den Rücken und blätterte in einem Bande mit Schumanns Waldszenen. »Die mußt du mir leihen, Basil,« rief er. »Ich will sie spielen lernen. Sie sind ganz entzückend!«

»Das hängt ganz davon ab, wie du heute sitzt, Dorian.«

»Oh, ich habe das Sitzen satt, ich brauche kein lebensgroßes Bild von mir,« antwortete der junge Mann und drehte sich nach Art eines eigenwilligen, launischen Knaben auf dem Klavierstuhl herum. Als er Lord Henry gewahrte, färbte ein schwaches Rot einen Augenblick seine Wangen, und er sprang auf. »Ich bitte um Entschuldigung, Basil, aber ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist.«

»Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund von mir aus Oxford. Ich habe ihm eben erzählt, wie famos du sitzt, und jetzt hast du alles verdorben.«

»Mein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, haben Sie nicht verdorben, Herr Gray,« sagte Lord Henry, indem er auf ihn zuging und die Hand ausstreckte. »Meine Tante hat mir oft von Ihnen gesprochen. Sie sind einer ihrer Günstlinge und ich fürchte, auch ihrer Opfer.«

»Ich stehe zur Zeit bei Lady Agatha im schwarzen Buch,« antwortete Dorian und machte ein komisch bußfertiges Gesicht. »Ich versprach ihr, letzten Dienstag mit ihr in einen Klub in Whitechapel zu gehen, und ich habe es in der Tat völlig vergessen. Wir hätten zusammen vierhändig spielen sollen – drei Stücke, glaube ich. Ich weiß nicht, was sie zu mir sagen wird. Ich fürchte mich hinzugehn.«

»Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen überaus gewogen, und ich glaube nicht, daß es in Wahrheit etwas ausmacht, daß Sie nicht dort waren. Die Zuhörer dachten vermutlich, es sei vierhändig. Wenn Tante Agatha sich ans Klavier setzt, macht sie völlig genug Lärm für zwei Personen.«

»Das ist recht abscheulich gegen sie und nicht sehr hübsch gegen mich,« erwiderte Dorian und lachte.

Lord Henry sah ihn an. Ja, er war sicher wunderbar schön mit seinen fein geschwungenen Purpurlippen, seinen treuherzigen blauen Augen und seinem gewellten Goldhaar. Es lag etwas in seinen Mienen, das sofort Vertrauen hervorrief. Aller Schimmer der Jugend war da, und ebenso all die leidenschaftliche Keuschheit der Jugend. Man fühlte, er hatte sich in seiner Unbeflecktheit vor der Welt bewahrt. Kein Wunder, daß Basil Hallward ihn anbetete.

»Sie sind zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit zu befassen, Herr Gray viel zu hübsch.« Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und nahm eine Zigarette.

Der Maler hatte sich damit beschäftigt, seine Farben zu mischen und seine Pinsel zurechtzumachen. Er sah gequält aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung hörte, sah er ihn an, zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Harry, ich möchte dieses Bild heute fertig bekommen. Fändest du es sehr grob von mir, wenn ich dich bäte fortzugehn?«

Lord Henry lächelte und schaute Dorian Gray an. »Soll ich gehn, Herr Gray?« fragte er.

»Oh, bitte nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil ist wieder einmal schlecht aufgelegt, und ich kann ihn gar nicht leiden, wenn er verdrossen ist. Außerdem möchte ich Sie gern fragen, warum ich mich nicht mit Wohltätigkeit befassen soll?«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, daß man ernsthaft darüber reden müßte. Aber sicher werde ich nicht fortgehn, nachdem Sie mir erlaubt haben zu bleiben. Du bist doch nicht im Ernst dagegen, Basil, nicht wahr? Du hast mir oft gesagt, es sei dir recht, wenn die, die dir sitzen, einen haben, mit dem sie plaudern können.«

Hallward biß sich auf die Lippen. »Wenn Dorian es wünscht, mußt du natürlich bleiben. Dorians Launen sind für jeden Gesetz, außer ihm selbst.«

Lord Henry griff nach Hut und Handschuhen. »Trotz deiner dringlichen Aufforderung, Basil, fürchte ich, ich muß gehn. Ich habe versprochen, jemanden im Orleans zu treffen. Adieu, Herr Gray! Bitte, besuchen Sie mich einmal nachmittags in Eurzon Street. Um fünf Uhr bin ich fast immer zu Hause. Schreiben Sie mir, an welchem Tage Sie kommen. Es täte mir leid, wenn Sie mich verfehlten.«

»Basil, » rief Dorian Gray, »wenn Lord Henry Wotton geht, gehe ich auch. Du machst nie den Mund auf, solange du malst, und es ist schrecklich ermüdend, auf einem Podium zu stehn und sich Mühe zu geben, hübsch auszusehen. Bitte ihn zu bleiben. Ich bestehe darauf!«

»Bleibe, Harry, du machst Dorian ein Vergnügen damit und mir auch,« sagte Hallward, ohne von seinem Bild aufzuschauen. »Es ist völlig wahr, ich rede nie während der Arbeit und höre ebensowenig zu, und das muß für die Unglücklichen, die mir sitzen, schrecklich langweilig sein. Ich bitte dich, bleib!«

»Aber was mache ich mit meinem Mann im Orleans?«

Der Maler lachte. »Ich glaube, das wird keinerlei Schwierigkeiten machen. Setz dich wieder, Harry. Und nun, Dorian, geh auf das Podium und bewege dich nicht zu viel und achte nicht auf das, was Lord Henry sagt. Er hat einen sehr schlechten Einfluß auf alle seine Freunde, mich allein ausgenommen.«

Dorian Gray ging mit der Miene eines jungen griechischen Märtyrers die Stufen zum Podium hinauf und stieß gegen Lord Henry einen leichten, drolligen Seufzer aus. Er gefiel ihm gut. Er war so anders als Basil. Sie bildeten einen reizenden Kontrast. Und er hatte so eine schöne Stimme. Nach ein paar Augenblicken sagte er zu ihm: »Üben Sie wirklich einen sehr schlechten Einfluß aus, Lord Henry? So schlecht, wie Basil sagt?«

»So etwas wie guten Einfluß gibt es nicht, Herr Gray. Jeder Einfluß ist unmoralisch – unmoralisch im wissenschaftlichen Sinne.«

»Warum?«

»Weil, wer einen Menschen beeinflußt, ihm seine eigene Seele gibt. Er denkt nicht seine natürlichen Gedanken und glüht nicht in seinem natürlichen Feuer. Seine Tugenden gehören nicht wirklich ihm. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind geborgte. Er wird ein Echo der Musik irgendeines Fremden, Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Das Ziel des Lebens ist Selbstentfaltung. Seine eigene Natur vollkommen zu verwirklichen – dafür ist jeder von uns da. Die Menschen von heutzutage haben Angst vor sich selbst. Sie haben die höchste aller Pflichten vergessen, die Pflicht, die man sich selbst gegenüber hat. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungrigen und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen sterben Hungers und sind nackt. Der Mut ist unserm Geschlecht verloren gegangen. Vielleicht haben wir ihn nie wirklich besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft, die die Grundlage der Moral ist, die Furcht vor Gott, die das Geheimnis der Religion ist – das sind die zwei Dinge, die uns beherrschen. Und doch.

»Bitte, drehe den Kopf ein wenig mehr nach rechts, Dorian, sei so lieb!« sagte der Maler, der tief in seine Arbeit versenkt war und nur gewahrte, daß ein Zug in das Gesicht des Jünglings gekommen war, den er vorher nie darin gesehen hatte.

»Und doch,« fuhr Lord Henry mit seiner sanften, wohlklingenden Stimme und mit der anmutigen Handbewegung fort, die so bezeichnend an ihm war und die er schon seinerzeit in Eton gehabt hatte, »ich glaube, wenn ein einziger Mensch sein Leben völlig und ganz ausleben wollte, jeder Empfindung Form, jedem Gedanken Ausdruck, jedem Traum Wirklichkeit gehen wollte – ich glaube, die Welt erhielte einen solchen Schwung von Freudigkeit, daß wir all das Siechtum aus den Zeiten des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten – vielleicht zu etwas, das intimer und reicher wäre als das hellenische Ideal. Aber der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selber. Die Selbstverstümmelung der Wilden lebt in tragischer Weise in der Selbstverleugnung fort, die unser Leben verstümmelt. Wir werden für unser Verleugnen gestraft. Jeder Trieb, den wir ersticken möchten, wühlt sich im Geiste fort und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und hat die Sünde abgetan, denn das Tun ist eine Art Reinigung. Es bleibt nichts übrig als die Erinnerung an eine Lust oder der köstliche Schmerz, daß sie vorbei ist. Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben. Widerstehe ihr, und deine Seele wird krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die sie sich selber verboten hat, vor Verlangen nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze zu etwas Ungeheuerlichem und Gesetzwidrigem gemacht haben. Man hat wohl gesagt, die größten Geschehnisse in der Welt ereigneten sich im Hirne. Im Hirne, und einzig und allein im Hirne ereignen sich auch die großen Sünden der Welt. Sie, Herr Gray, Sie selber mit Ihrer rosigen Jugend und Ihrer Knabenunschuld, die wie weiße Rosen ist, Sie haben Leidenschaften gehabt, die Ihnen bange machten, Gedanken, die Sie in Schrecken setzten, Träume bei Tag und Träume im Schlaf, die, wenn Sie nur daran denken, das Blut der Scham in Ihre Wangen jagen…«

»Halten Sie ein!« rief Dorian Gray mit versagender Stimme, »halten Sie ein, mir wird wirr von Ihren Reden. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort auf Ihre Worte, aber ich kann sie nicht finden. Sprechen Sie nicht! Lassen Sie mich nachdenken. Oder lieber, lassen Sie mich den Versuch machen, nicht nachzudenken.«

Fast zehn Minuten lang stand er da, ohne sich zu regen, mit geöffneten Lippen und einem seltsamen Glanz in den Augen. Er war sich undeutlich bewußt, daß völlig neue Einflüsse in ihm am Werke seien. Jedoch schienen sie ihm in Wahrheit aus ihm selbst gekommen. Die paar Worte, die Basils Freund zu ihm gesprochen hatte – Worte, die ohne Zweifel von ungefähr und mit absichtlicher Paradoxie gesprochen waren –, hatten eine geheime Saite berührt, die zuvor nie berührt worden war, die er aber jetzt zittern und in seltsamer Wildheit rauschen hörte.

Die Musik hatte ihn so ähnlich erregt. Die Musik hatte ihn oft wirr gemacht. Aber die Musik war unbestimmt. Sie erzeugte in einem nicht eine neue Welt, sondern eher ein neues Chaos. Worte! bloße Worte! Wie furchtbar sie waren! Wie deutlich und lebendig und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und was war doch in ihnen für eine feine Magie! Sie schienen imstande, gestaltlosen Dingen plastische Gestalt zu geben und eine Musik in sich zu bergen, die so süß war wie die der Bratsche oder der Laute. Bloße Worte! Gab es denn irgend etwas, das so wirklich war wie Worte?

Ja: es hatte in seinem Jünglingsknabentum Dinge gegeben, die er nicht verstanden hatte. Er verstand sie jetzt. Das Leben wurde für ihn plötzlich feuerfarben. Ihm schien, er sei in leibhaftem Feuer gewandelt. Warum hatte er es nicht gemerkt?

Mit seinem feinen Lächeln beobachtete ihn Lord Henry. Er verstand sich auf den feinen psychologischen Moment, wo es galt, nicht zu reden. Er war stark interessiert. Er war über den plötzlichen Eindruck erstaunt, den seine Worte hervorgebracht hatten; er erinnerte sich an ein Buch, das er mit sechzehn Jahren gelesen, ein Buch, das ihm vieles offenbart hatte, was er zuvor nicht gekannt, und so war er neugierig, ob Dorian Gray jetzt ein ähnliches Erlebnis hätte. Er hatte nur einen Pfeil in die Luft geschossen. Hatte er ins Schwarze getroffen? Wie bezaubernd der Junge war!

Hallward malte mit seinem wundervollen kühnen Pinselstrich, der die wahre Feinheit und vollkommene Zartheit an sich hatte, die, in der Kunst jedenfalls, nur aus der Kraft kommt, drauf los. Er merkte nichts von dem Schweigen.

»Basil, ich habe genug gestanden!« rief Dorian Gray plötzlich. »Ich muß hinausgehn und mich in den Garten setzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.«

»Mein Lieber, das tut mir sehr leid. Wenn ich beim Malen bin, kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser gesessen. Du warst völlig ruhig. Und ich habe den Effekt erhascht, den ich brauchte, die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. Ich weiß nicht, was Harry zu dir gesagt hat, aber sicher hat er bewirkt, daß du den wundervollsten Ausdruck hast. Ich vermute, er hat dir Schmeicheleien gesagt. Du mußt kein Wort von allem, was er sagt, glauben.«

»Er hat mir gewiß keine Schmeicheleien gesagt. Vielleicht glaube ich darum nichts von allem, was er gesagt hat.«

»Sie wissen, daß Sie es alles glauben,« sagte Lord Henry und sah ihn mit seinen träumerischen, lockenden Augen an. »Ich komme mit Ihnen in den Garten. Es ist furchtbar heiß im Atelier. Basil, verschaffe uns ein Eisgetränk, mit Erdbeeren darin.«

»Gern, Harry. Drücke nur auf die Klingel, und wenn Parker kommt, werde ich ihm sagen, was ihr haben wollt. Ich bin jetzt mit dem Hintergrund hier beschäftigt und werde also später zu euch kommen. Halte Dorian nicht zu lange auf! Ich bin nie besser zum Malen aufgelegt gewesen als heute. Das wird mein Meisterwerk werden! Wie es dasteht, ist es mein Meisterwerk!«

Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand Dorian Gray, wie er sein Gesicht in den großen kühlen Fliederblütenbüscheln badete und fiebrig ihren Duft schlürfte, als wäre er Wein. Er trat nahe zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie tun ganz recht daran, es so zu machen,« sprach er leise. »Nichts kann die Seele heilen als die Sinne, gerade wie nichts die Sinne heilen kann als die Seele.«

Der Jüngling fuhr zusammen und trat zurück. Er war barhäuptig, und die Zweige hatten seine widerspenstigen Lokken verwirrt und ihre goldenen Strähnen in Unordnung gebracht. Es war ein furchtsamer Ausdruck in seinen Augen, wie ihn Menschen haben, die man plötzlich geweckt hat. Seine fein gebauten Nüstern bebten, und irgendein versteckter Nerv riß leise an seinen Purpurlippen, so daß sie in einem Zittern blieben.

»Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eins der großen Geheimnisse des Lebens: die Seele mittelst der Sinne, und die Sinne mittelst der Seele zu heilen. Sie sind ein prächtiges Menschenkind! Sie wissen mehr, als Sie denken, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen zu wissen nottut.«

Dorian Gray runzelte die Stirn und wandte den Kopf ab. Er mußte den jungen Mann, der groß und anmutig neben ihm stand, liebhaben. Sein romantisches, olivenfarbenes Gesicht und der müde Ausdruck darin interessierten ihn. Es war etwas in dem müden Ton seiner Stimme, was völlig bezauberte. Auch seine kühlen, weißen, blumenhaften Hände hatten einen besonderen Reiz. Sie bewegten sich wie Musik, wenn er sprach, und schienen eine eigene Sprache zu haben. Aber er fühlte Angst vor ihm und schämte sich, Angst zu haben. Warum war es einem Fremden vorbehalten geblieben, ihn sich selbst zu offenbaren? Basil Hallward kannte er seit Monaten, aber die Freundschaft zwischen ihnen hatte ihn nie geändert. Plötzlich war einer in sein Leben eingetreten, der ihm das Geheimnis des Lebens enthüllt zu haben schien. Und doch, wovor sollte er Angst haben? Er war kein Schulknabe und kein junges Mädchen. Es war töricht, zage zu sein.

»Wir wollen uns in den Schatten setzen,« sagte Lord Henry. »Parker hat uns zu trinken gebracht, und wenn Sie noch länger in dieser Sonnenglut stehen bleiben, werden Sie eine häßliche Haut bekommen, und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von der Sonne verbrennen lassen. Es würde Ihnen nicht stehen.«

»Was kann daran liegen?« rief Dorian Gray lachend, als er sich auf die Bank am Ende des Gartens setzte.

»Es sollte Ihnen alles daran liegen, Herr Gray.« »Wieso?«

»Weil Sie die entzückendste Jugend haben, und es gibt ein Ding, das zu haben sich lohnt: Jugend.«

»Ich empfinde das nicht, Lord Henry.«

»Nein, Sie empfinden es jetzt nicht. Eines Tages, wenn Sie alt und runzlig und häßlich sein werden, wenn das Denken Ihre Stirn mit seinen Linien verwüstet und die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihrem eklen Feuer gezeichnet hat, werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt, gehen Sie, wohin Sie wollen, entzücken Sie alle Welt. Wird es immer so sein? … Sie haben ein wunderbar schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sie haben es. Und Schönheit ist eine Form des Genies, steht in Wahrheit höher als das Genie, da sie keiner Erklärung bedarf. Sie gehört zu den großen Tatsachen der Welt, wie das Sonnenlicht oder der Frühling oder die Spiegelung der silbernen Muschel, die wir Mond nennen, in dunklen Gewässern. Sie kann nicht in Frage gestellt werden. Sie hat ihr göttliches Hoheitsrecht. Sie macht Fürsten aus denen, die sie haben. Sie lächeln? Oh! wenn Sie sie verloren haben, lächeln Sie nicht mehr… Die Menschen sagen manchmal, die Schönheit sei nur auf der Oberfläche. Das mag wohl sein. Aber zum mindesten ist sie nicht so oberflächlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit das Wunder aller Wunder. Nur hohle Menschen urteilen nicht nach dem Schein. Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.. . Ja, Herr Gray, die Götter sind Ihnen gnädig gewesen. Aber was die Götter geben, nehmen sie schnell wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, in denen Sie wahrhaft, vollkommen, völlig leben können. Wenn Ihre Jugend dahingeht, verläßt Sie auch Ihre Schönheit, und dann werden Sie mit einem Male entdecken, daß es keine Siege mehr für Sie gibt, oder daß Sie sich mit den niedrigen Siegen begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an Ihre Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie etwas Schrecklichem näher. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und führt Krieg gegen Ihre Lilien und Ihre Rosen. Sie werden gelb und hohlwangig werden und trübe blicken. Sie werden entsetzlich leiden … Ah! nehmen Sie Ihre Jugend wahr, solange Sie sie haben! Vergeuden Sie nicht das Gold Ihrer Tage, leihen Sie den Langweiligen kein Ohr, versuchen Sie nicht, das Los derer, deren Existenz hoffnungslos verfehlt ist, zu verbessern, geben Sie Ihr Leben nicht an die Unwissenden, die Gemeinen, die Gewöhnlichen hin! Das sind die krankhaften Ziele, die falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wundervolle Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie nichts für Sie verloren sein! Seien Sie immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen für Ihre Sinne! Fürchten Sie nichts! … Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares Symbol sein. Bei Ihrer Erscheinung gibt es nichts, was Sie nicht tun könnten. Die Welt gehört einen Sommer lang Ihnen… Im Augenblick, als ich Sie sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung haben, was Sie in Wahrheit sind, was Sie in Wahrheit sein könnten. Es war so viel in Ihnen, was mich entzündete, daß ich fühlte, ich müsse Ihnen etwas über Sie selber sagen. Mir kam der Gedanke, wie tragisch es wäre, wenn Sie vergebens wären. Denn nur so kurze Zeit dauert Ihre Jugend – so kurze Zeit. Die gemeinen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen wird im nächsten Juni ebenso gelb sein wie jetzt. In einem Monat werden purpurne Sterne an der Klematis sein, und Jahr für Jahr wird die grüne Nacht ihrer Blätter ihre purpurnen Sterne in ihrem Dunkel hegen. Aber wir bekommen nie wieder unsre Jugend. Der Puls der Freude, der in uns schlägt, wenn wir zwanzig sind, wird träge. Unsre Glieder ermatten, unsre Sinne verkommen. Wir verfallen und werden häßliche Puppen, und die Erinnerungen an die Leidenschaften verfolgen uns, vor denen wir zurückschreckten, und an die köstlichen Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den Mut hatten. Jugend! Jugend! Es gibt gar nichts in der Welt als Jugend.«

Dorian Gray hörte staunend mit weit geöffneten Augen zu. Der Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel in den Sand. Eine pelzverbrämte Biene schoß heran und umschwirrte ihn einen Augenblick lang. Dann begann sie hurtig über all die kleinen Blütensterne zu klettern. Er beobachtete sie mit dem seltsamen Interesse an Kleinigkeiten, das wir in uns erwecken wollen, wenn wir Angst vor entscheidenden Dingen haben, oder wenn uns ein neues Gefühl peinigt, dem wir keinen Ausdruck finden, oder wenn ein Gedanke, der uns in Schrecken setzt, das Hirn bestürmt und uns zur Übergabe auffordert. Nach einer Weile flog die Biene weg. Er sah, wie sie in den gefleckten Trichter einer Windenblüte kroch. Die Blume schien zu zucken und schwankte dann graziös auf und ab. Da erschien der Maler an der Ateliertür und machte ihnen hintereinander kurze Zeichen, sie sollten hereinkommen. Sie wandten sich einander zu und lächelten.

»Ich warte,« rief er. »Kommt herein! Das Licht ist vorzüglich, und ihr könnt eure Gläser mitbringen.«

Sie standen auf und gingen langsam den Weg zurück. Zwei grünweiße Schmetterlinge flatterten an ihnen vorbei, und im Birnbaum an der Gartenecke hub eine Amsel zu singen an.

»Sie freuen sich, daß Sie mich kennen gelernt haben, Herr Gray?« sagte Lord Henry und blickte ihn an.

»Ja, ich freue mich jetzt. Ich weiß nicht, ob ich mich immer freuen werde.«

»Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere, wenn ich es höre. Die Frauen gebrauchen es so gern. Sie zerstören jeden Roman mit ihrem Versuch, ihn ewig währen zu lassen. Es ist zudem ein sinnloses Wort. Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer lebenslänglichen Leidenschaft ist, daß die Laune etwas länger dauert.« Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine Hand auf Lord Henrys Arm. »Dann soll unsre Freundschaft eine Laune sein,« sagte er leise und errötete über seine eigene Kühnheit. Darauf ging er auf das Podium und nahm seine Pose wieder an.

Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbstuhl und sah ihn an. Die Striche und Hiebe des Pinsels auf der Leinwand waren das einzige Geräusch, das die Stille unterbrach, außer wenn hie und da Hallward zurücktrat, um seine Arbeit aus der Entfernung zu betrachten.

In den schrägen Sonnenstrahlen, die durch die offene Tür flossen, tanzte, von Gold überronnen, der Staub. Der schwere Duft der Rosen schien allenthalben zu lagern.

Nach etwa einer Viertelstunde hörte Hallward mit Malen auf, blickte lange auf Dorian Gray und dann lange auf das Bildnis, nagte an einem seiner langstieligen Pinsel und runzelte die Stirn. »Fertig!« rief er endlich, bückte sich hinab und schrieb in langen grellroten Buchstaben seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand.

Lord Henry trat heran und blickte prüfend auf das Bild. Es war ohne Frage ein wundervolles Kunstwerk, und ebenso wundervoll war die Ähnlichkeit.

»Mein Lieber, ich gratuliere dir herzlich,« sagte er. »Das ist das beste Porträt unsrer ganzen Zeit. Herr Gray, kommen Sie und sehen sich an.«

Der junge Mann fuhr auf wie aus einem Traum geweckt. »Ist es wirklich fertig?« fragte er und kam von dem Podium herab.

»Völlig fertig,« antwortete der Maler. »Und du hast heute glänzend gesessen. Ich bin dir überaus dankbar.«

»Das ist ganz und gar mein Verdienst,« warf Lord Henry ein. »Nicht wahr, Herr Gray?«

Dorian gab keine Antwort, sondern ging, ohne hinzuhören, auf das Bild zu. Als er es sah, trat er zurück, und seine Wangen erröteten einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck der Freude kam in seine Augen, als ob er sich zum erstenmal selbst gesehen hätte. Er stand reglos und staunend da, wobei er undeutlich hörte, daß Hallward zu ihm sprach, aber den Sinn der Worte nicht verstand. Der Eindruck seiner eigenen Schönheit kam wie eine Offenbarung über ihn. Er hatte ihn nie zuvor gehabt. Basil Hallwards Schmeicheleien waren ihm nur als reizende Übertreibungen der Freundschaft erschienen. Er hatte sie gehört, über sie gelacht und sie vergessen. Sie hatten keinen Einfluß auf sein Wesen gehabt. Da war Lord Henry Wotton mit seinem seltsamen Hymnus auf die Jugend, seiner furchtbaren Warnung vor ihrer Flüchtigkeit gekommen. Das hatte ihn zur rechten Zeit geweckt, und als er jetzt dastand und das Abbild seiner eigenen Schönheit beschaute, brach die volle Wirklichkeit der Schilderung über ihn herein. Ja, es kam ein Tag, an dem sein Antlitz verrunzelt und welk war, seine Augen trübe und farblos, die Grazie seiner Gestalt gebrochen und entstellt. Das Scharlachrot verschwand von seinen Lippen, und der Goldschimmer schlich sich aus seinen Haaren weg. Das Leben, das seine Seele bildete, zerstörte seinen Körper. Es war ihm beschieden, gräßlich, widerwärtig, abscheulich zu werden.

Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz wie ein Messer, und jede zarte Fiber seines Wesens erbebte. Seine Augen umdunkelten sich, und ein Tränenschleier fiel über sie. Er hatte das Gefühl, es lege sich eine eisige Hand auf sein Herz.

»Gefällt es dir nicht?« rief Hallward endlich, dem das Schweigen des Jünglings, dessen Bedeutung er nicht verstand, ein Stachel war.

»Natürlich gefällt es ihm,« sagte Lord Henry. »Wem sollte es nicht gefallen! Es gehört zum Größten in der modernen Kunst. Ich gebe dir dafür, was du verlangst. Ich muß es haben!«

»Es ist nicht mein Eigentum, Harry.«

»Wessen denn?«

»Dorians natürlich,« antwortete der Maler. »Da ist er glücklich zu preisen.«

»Wie traurig ist das!« sagte Dorian Gray leise und wandte die Augen nicht von seinem eigenen Bildnis. »Wie traurig ist das! Ich werde alt und gräßlich und widerwärtig werden, aber dieses Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie älter sein als dieser Junitag heute. . . Wenn es nur umgekehrt wäre! Wenn ich immer jung bleiben könnte und dafür das Bild immer älter würde! Dafür – dafür – dafür gäbe ich alles! Ja, es gibt nichts in der ganzen Welt, was ich nicht dafür gäbe! Ich gäbe meine Seele dafür!«

»Du wärst mit einer solchen Abmachung schwerlich einverstanden, Basil,« rief Lord Henry lachend. »Dein Bild würde bald schlimm aussehen.«

»Ich würde entschieden protestieren, Harry,« sagte Hallward.

Dorian Gray wandte sich um und sah ihn an. »Das glaube ich dir, Basil. Du liebst deine Kunst mehr als deine Freunde. Ich bin für dich nicht mehr, als eine Figur aus grüner Bronze ist. Kaum so viel, dürfte ich sagen.«

Der Maler starrte ihn erstaunt an. Es sah Dorian so gar nicht ähnlich, so zu sprechen. Was war geschehen? Er schien heftig erregt. Sein Gesicht war gerötet und seine Wangen glühten.

»Ja«, fuhr er fort, »ich bin dir weniger als dein Hermes aus Elfenbein oder dein silberner Faun. Die wirst du immer liebhaben. Wie lange wirst du mich liebhaben? Vermutlich bis zur ersten Runzel. Ich weiß jetzt, daß man, wenn man erst seine Schönheit verliert, alles verloren hat. Dein Bild hat mich das gelehrt. Lord Henry Wotton hat völlig recht. Es gibt nur ein Ding, das zu haben sich verlohnt: Jugend. Wenn ich merke, daß ich alt werde, werde ich mich umbringen.«

Hallward wurde blaß und griff nach seiner Hand. »Dorian, Dorian!« rief er, »sprich nicht so! Ich hatte nie einen Freund wie dich, und ich werde nie wieder so einen haben. Du bist doch nicht eifersüchtig auf tote Dinge, wie? – Du, der schöner ist als irgendeins von ihnen!«

»Ich bin eifersüchtig auf alles, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das du von mir gemalt hast. Warum soll es behalten, was ich verlieren muß? Jeder Augenblick, der vergeht, nimmt mir etwas und gibt ihm etwas. Oh, wenn es nur umgekehrt wäre! Wenn das Bild sich verändern könnte, und ich immer sein könnte, was ich jetzt bin! Warum hast du es gemalt? Es wird mich eines Tages verhöhnen – furchtbar verhöhnen!« Heiße Tränen traten ihm in die Augen; er riß seine Hand los, warf sich auf den Diwan und barg sein Gesicht in den Kissen, als ob er betete.

»Das ist dein Werk, Harry,« sagte der Maler in bitterem Tone.

Lord Henry zuckte die Achseln. »Es ist der wahre Dorian Gray – weiter nichts.«

»Das ist er nicht.«

»Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu tun?«

»Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat,« zürnte er.

»Ich blieb, als du mich batest,« war Lord Henrys Antwort.

»Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen zwei besten Freunden streiten; aber ihr beide seid schuld, daß ich das schönste Werk, das ich je schuf, hassen muß, und ich will es vernichten. Was ist es als Leinwand und Farbe? Ich will nicht zugeben, daß es zwischen uns drei Lebendige tritt und unser Leben zerstört.«

Dorian Gray hob seinen goldig schimmernden Kopf aus dem Kissen und sah bleich und noch mit Tränen in den Augen zu ihm hin, wie er zu dem kienenen Maltisch hinüberging, der unter dem hohen Fenster stand. Was wollte er tun? Seine Finger wühlten unter den herumliegenden Zinntuben und trockenen Pinseln, als suchten sie etwas. Ja, sie suchten das lange Malmesser mit seiner dünnen Klinge aus biegsamem Stahl. Er hatte es endlich gefunden. Nun wollte er die Leinwand zerschneiden. Mit einem unterdrückten Seufzer sprang der junge Mann vom Diwan auf, rannte auf Hallward zu, riß ihm das Messer aus der Hand und warf es ans Ende des Ateliers.

»Tu es nicht, Basil, tu es nicht!« rief er. »Es wäre Mord.«

»Es freut mich, daß dir mein Werk endlich gefällt, Dorian,« sagte der Maler kalt, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Ich hätte es gar nicht gedacht.«

»Gefällt? Ich bin verliebt in das Bild, Basil. Es ist ein Teil von mir selbst. Ich fühle es.«

»Schön, sobald du trocken bist, wirst du gefirnißt, gerahmt und zu dir hingeschickt. Dann kannst du mit dir machen, was du willst.« Und er ging zur Glocke, um Tee zu bestellen. »Du nimmst doch Tee, Dorian? Du auch, Harry? Oder hast du etwas gegen so einfache Genüsse?«

»Ich liebe einfache Genüsse leidenschaftlich,« sagte Lord Harry. »Sie sind die letzte Zuflucht des Komplizierten. Aber ich bin kein Freund von Szenen, außer auf der Bühne. Was für törichte Burschen ihr seid, alle beide! Ich möchte wissen, wer es gewesen ist, der den Menschen als vernünftiges Tier definiert hat. Der Mensch ist vielerlei, aber er ist nicht vernünftig. Alles in allem bin ich froh, daß er es nicht ist: obwohl ich wünsche, ihr sonderbaren Kerle ließet den Zank um das Bild. Du hättest viel besser getan, es mir zu geben, Basil. Dieser törichte Knabe braucht es nicht wirklich; aber ich brauche es.«

»Wenn du es einem andern gibst als mir, Basil, werde ich dir nie verzeihen!« rief Dorian Gray, »und ich erlaube niemandem, mich einen törichten Knaben zu nennen.«

»Du weißt, das Bild gehört dir, Dorian. Ich gab es dir, bevor es entstanden war.«

»Und Sie wissen, Sie waren ein bißchen töricht, Herr Gray, und Sie protestieren nicht ernsthaft dagegen, daran erinnert zu werden, daß Sie überaus jung sind.«

»Ich hätte heute morgen noch sehr lebhaft protestiert, Lord Henry.«

»Ah, heute morgen! Sie haben seitdem einiges erlebt.«

Es klopfte an die Tür; der Diener trat ein und servierte auf einem japanischen Tischchen den Tee. Die Tassen klapperten, und ein georgischer Samowar summte. Zwei gewölbte Schüsseln wurden von einem jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray goß den Tee ein. Die beiden Männer gingen langsam zum Tisch und sahen nach, was unter den Deckeln war.

»Wir wollen heute abend ins Theater gehn,« sagte Lord Henry. »Es ist sicher irgendwo etwas los. Ich habe versprochen, im White’s Klub zum Essen zu sein, aber es ist nur ein alter Freund, der auf mich wartet; so kann ich ihm ein Telegramm schicken, ich sei krank, oder ich sei infolge einer späteren Verabredung am Kommen gehindert. Ich glaube, das wäre eine recht hübsche Entschuldigung: sie hätte ganz das Überraschende der Aufrichtigkeit.«

»Es ist so lästig, sich umzuziehen,« brummte Hallward. »Und wenn man den Gesellschaftsanzug anhat, dann ist er so gräßlich.«

»Ja,« antwortete Lord Henry träumerisch, »die Tracht unsres Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so drückend. Die Sünde ist das einzige wirkliche Farbenelement, das dem Leben unsrer Zeit geblieben ist.«

»Du solltest wirklich vor Dorian solche Dinge nicht sagen, Harry.«

»Vor welchem Dorian? Dem einen, der uns den Tee eingießt, oder dem andern auf dem Bilde?«

»Vor keinem.«

»Ich ginge gern mit Ihnen ins Theater, Lord Henry,« sagte der junge Mann.

»Dann kommen Sie; und du auch, Basil, nicht wahr?«

»Ich kann wirklich nicht. Lieber nicht; ich habe eine Menge zu tun.«

»Schön. Dann werden wir zwei also allein gehn, Herr Gray.«

»Das wird mir großes Vergnügen machen.«

Der Maler biß sich auf die Lippen und schritt mit der Tasse in der Hand auf das Bild zu. »Ich werde beim wirklichen Dorian bleiben,« sagte er traurig.

»Ist es der wirkliche Dorian?« fragte das Original des Bildes und ging langsam zu ihm. »Sehe ich wirklich so aus?«

»Ja, du siehst genau so aus.« »Wie wundervoll, Basil!«

»Wenigstens ist deine Erscheinung genau so. Aber es wird sich nie verändern,« seufzte Hallward. »Das will etwas heißen!«

»Was die Menschen von der Beständigkeit und Treue für einen Lärm machen!« rief Lord Henry aus. »Und doch ist die Treue selbst in der Liebe lediglich eine Frage der Physiologie. Sie hat nichts mit unserm eigenen Willen zu tun. Junge Männer möchten treu sein und sind es nicht; alte Männer möchten treulos sein und können es nicht: weiter läßt sich nichts sagen.«

»Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian,« sagte Hallward. »Bleib hier und iß mit mir.«

»Ich kann nicht, Basil.« »Warum?«

»Weil ich Lord Henry Wotton versprochen habe, ihn zu begleiten.«

»Er hat dich darum nicht lieber, daß du deine Versprechen hältst. Er bricht seine immer. Ich bitte dich, nicht zu gehn.«

Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Ich beschwöre dich!«

Der Jüngling zögerte und blickte zu Lord Henry hinüber, der sie vom Teetisch aus mit belustigtem Lächeln beobachtete.

»Ich muß gehn, Basil,« antwortete er.

»Schön,« sagte Hallward und stellte seine Tasse auf das Tablett. »Es ist ziemlich spät, und da ihr euch noch umzuziehen habt, ist es besser, keine Zeit zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm bald zu mir. Komm morgen.«

»Gewiß.«

»Du vergißt es nicht?«

»Nein, natürlich nicht,« rief Dorian. »Und – Harry!«

»Ja“ Basil?«

»Vergiß nicht, worum ich dich bat, als wir heute morgen im Garten waren!«

»Ich habe es vergessen.«

»Ich verlasse mich auf dich!«

»Ich wollte, ich könnte mich auf mich selbst verlassen,« sagte Lord Henry lachend. »Kommen Sie, Herr Gray, mein Wagen steht unten, und ich kann sie nach Hause fahren. Adieu, Basil! Es war ein sehr interessanter Nachmittag.«

Als die Tür sich hinter ihnen schloß, warf sich der Maler auf ein Sofa, und ein schmerzlicher Ausdruck kam in seine Züge.

Weisheit und Religion

Weisheit und ReligionNur Heiliges verdient, berührt zu werden.

Es lohnt sich immer, eine Frage zu stellen, wenn es sich auch nicht immer lohnt, eine Frage zu beantworten.

Erfahrung ist der Name, den die Menschen ihren Irrtümern geben.

Ich möchte lieber meinen besten Freund als meinen ärgsten Feind verlieren. Denn um Freunde zu haben, braucht man nur gefällig zu sein; aber wenn ein Mann keinen Feind mehr hat, dann muß etwas Erbärmliches an ihm sein.

Ansichten, Charakter und Werke eines Menschen bedeuten wenig. Mag ein Skeptiker reden wie der edle Seigneur de Montaigne oder ein Heiliger wie der strenge Sohn der Monika, sobald er uns seine Geheimnisse offenbart, gelingt es ihm stets, unser Ohr zu bezaubern und unseren Lippen Schweigen zu gebieten.

Selbsterziehung ist das wahre Ideal des Menschen.

Wohlerzogene widersprechen anderen Leuten, Weise widersprechen sich selbst.

Zeit ist Geldverschwendung.

Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Versagers.

Der Fleiß ist die Wurzel aller Häßlichkeit.

Nichts zu tun ist die Bestimmung der Erwählten. Handeln ist etwas Beschränktes und Relatives. Unbeschränkt und absolut ist das Blickfeld dessen, der sich ruhig zurücklehnt und schaut, der einsam und traumverloren dahinwandelt.

Es ist immer schwieriger zu zerstören als zu erschaffen, und wenn das, was man zerstören muß, die Vulgarität und die Dummheit ist, so fordert die Zerstörung nicht nur Mut, sondern auch Verachtung.

In Prüfungen stellen Narren Fragen, die Weise nicht beantworten können.

Es ist nicht klug, der Welt sein Herz zu zeigen.

In unserem vulgären Zeitalter braucht jeder eine Maske.

Konventionell sein heißt Komödiant sein. Eine bestimmte Rolle spielen ist aber etwas ganz anderes und auch etwas sehr Schwierigeres.

Kein Mensch sieht so aus, wie er wirklich ist.

Es liegt eine gewisse Wollust in der Selbstanklage. Wenn wir uns selbst tadeln, so mit dem Gefühl, daß kein anderer das Recht habe, uns zu tadeln. Es ist die Beichte, die Absolution erteilt, nicht der Priester.

Ist Täuschung etwas so Schreckliches? Ich glaube nicht. Sie ist nur eine Methode, durch die wir unsere Persönlichkeit vervielfältigen können.

Das werde ich heute nacht in mein Tagebuch schreiben, daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.

Die Seele ist eine schreckliche Wahrheit. Man kann sie weder kaufen noch verkaufen oder verschachern. Sie kann vergiftet oder vollkommen gemacht werden. In jedem von uns wohnt eine Seele. Ich weiß es.

Scheint alles nur ein Traum zu sein?

Ach! was ist kein Traum? Für mich ist es, auf gewisse Weise, ein Nachhall von Musik. Ich sehe strahlende junge Gesichter und graue, neblige Quadrate. Griechische Gestalten durch gotische Kreuzgänge wandelnd, spielendes Leben in Ruinen und, was ich am meisten liebe auf der Welt, Poesie und Paradox im Tanz vereint! Nur ein böses Omen – Ihr Feuer! Sie spielen allzu sorglos mit dem Feuer.

Die Alten glauben alles, die Menschen im mittleren Alter mißtrauen allem, die Jungen wissen alles.

Nun hat aber der Wert einer Idee nicht das allergeringste mit der Aufrichtigkeit dessen zu tun, der sie ausspricht. Wahrscheinlich ist die Idee sogar von um so gediegenerem Geist, je unaufrichtiger der Betreffende ist, da sie in diesem Falle weder von seinen Bedürfnissen, seinen Wünschen noch von seinen Vorurteilen gefärbt ist.

Verstanden zu werden bedeutet heutzutage, ertappt zu sein.

Sie haben Ihre Figur verloren, und Sie haben Ihren Ruf verloren. Verlieren Sie nicht Ihre Fassung, Sie haben nur eine.

Ideale sind gefährlich. Realitäten sind besser.

Man sollte nie für etwas Partei nehmen.

Parteinahme ist der Anfang der Aufrichtigkeit, und gleich danach folgt der Eifer, und der Mensch wird ein langweiliger Schwätzer.

Das, was immer die Welt mit feierlichem Ernst behandelt hat, gehört zur komödienhaften Seite der Dinge.

Die Philanthropie, scheint mir, ist einfach die Zukunft solcher Leute geworden, die ihre Mitmenschen zu belästigen wünschen.

Einen guten Rat gebe ich immer weiter. Es ist das einzige, was man damit machen kann.

Ich ziehe noch jederzeit einen anständigen Dummkopf vor. Zugunsten der Dummheit läßt sich mehr sagen, als die Leute denken. Ich persönlich hege große Bewunderung für die Dummheit. Das ist vermutlich so etwas wie seelische Übereinstimmung.

Ich finde, wenn man etwas Unangenehmes zu sagen hat, sollte man stets ganz offen sein.

Diese Ungewißheit ist schrecklich. Ich hoffe, sie hält an.

Schicklich ist etwas Interessantes niemals.

Ich bin durchaus nicht zynisch, ich habe nur meine Erfahrungen, was allerdings ungefähr auf dasselbe herauskommt.

Er besaß das Seltenste auf Erden: gesunden Menschenverstand.

Er sagt, die Freiheit sei zur Zeit der Französischen Revolution erfunden worden. Welch abscheulicher Gedanke!

Bildung ist etwas Wunderbares. Doch sollte man sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, daß wirklich Wissenswertes nicht gelehrt werden kann.

Um wirklich mittelalterlich zu sein, dürfte man keinen Körper haben. Um wirklich modern zu sein, dürfte man keine Seele haben. Um wirklich griechisch zu sein, dürfte man keine Kleider haben.

Ich halte nicht viel von Ideen, ich bin mein Lebtag ganz gut ohne die vorangekommen.

Eine Idee, die nicht gefährlich ist, verdient es nicht, überhaupt eine Idee genannt zu werden.

Eine gelehrte Unterhaltung ist entweder die Leidenschaft des Unwissenden oder das Bekenntnis des geistig Unbeschäftigten. Das sogenannte veredelnde Gespräch aber ist nichts als ein einfältiger Versuch der noch einfältigeren Philanthropen, auf kleinmütige Weise die gerechte Erbitterung der untersten Gesellschaftsschichten zu entwaffnen.

Tätigsein ist der letzte Ausweg jener, die nicht verstehen zu träumen.

Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie nochmals zu schreiben.

Alle Geschichte muß durchaus universell sein; nicht in dem Sinne, daß sie alle gleichzeitigen Ereignisse der Vergangenheit umspannt, sondern durch das Allumfassende der zur Anwendung gelangenden Leitsätze.

Das Leid ist – so wunderlich das klingen mag – das Mittel, durch das wir existieren, weil es das einzige Mittel ist, das uns die eigene Existenz noch bewußt macht; und die Erinnerung an frühere Leiden brauchen wir als Gewähr, als Beweis dafür, daß wir noch immer wir selbst sind. Zwischen mir und meinen freudigen Erinnerungen liegt ein Abgrund, der nicht minder tief ist als der Abgrund zwischen mir und den wirklichen Freuden des Daseins.

Das Geheimnis des Lebens heißt Leiden. Hinter allem verbirgt sich nur dies! Zu Anfang unseres Lebens schmeckt das Süße uns so süß, das Bittere so bitter, daß wir unweigerlich unser ganzes Streben auf den Genuß richten und nicht nur »einen Monat oder zwei von Honig leben«, sondern am liebsten unser Leben lang keine andere Nahrung kosten möchten und dabei nicht wissen, daß wir unsere Seele Hunger leiden lassen.

Herzen sind dazu da, gebrochen zu werden.

Dennoch war es nicht das Mysterium, sondern die Komödie des Leidens, die ihn mit Staunen erfüllte, eine absolute Nutzlosigkeit, sein grotesker Mangel an Bedeutung.

Wir werden alle leiden für das, was uns die Götter geschenkt haben, schrecklich leiden.

Wenn die Götter uns strafen wollen, erhören sie unsere Gebete.

Die Götter sind rätselhaft. Nicht nur aus unseren Lüsten erschaffen sie das Werkzeug, uns zu geißeln. Sie verderben uns durch das, was in uns gut ist, edel, menschlich, liebenswert.

So leben die Götter: Entweder sinnen sie, wie Aristoteles uns versichert, ihrer eigenen Vollkommenheit nach, oder sie folgen, wie Epikur es sich vorstellte, mit dem gelassenen Blick des Zuschauers der Tragikkomödie der Welt, die sie selbst geschaffen haben. Auch wir könnten leben wie sie und mit den entsprechenden Empfindungen dem Ablauf der wechselvollen Szenen folgen, die Mensch und Natur uns darbieten.

Nur die Götter kosten den Tod. Apollo ist dahingegangen, doch Hyacinth, der ihn erschlagen haben soll, lebt. Nero und Narziß sind stets unter uns.

Ein Tor sein in den Augen der Götter und ein Tor sein in den Augen der Menschen ist nicht das gleiche.

Der wahre Tor, den Hohn und Haß der Götter trifft, ist der Mensch, der sich selbst nicht kennt.

Wenn ich überhaupt an die Religion denke, dann mit dem Gefühl, daß ich einen Orden stiften möchte für die, die nicht glauben können: die Bruderschaft der Vaterlosen könnte man ihn nennen, und an seinem Altar, wo keine Kerzen brennen, würde ein Priester, in dessen Herzen nicht der Friede wohnt, mit ungeweihtem Brot und leerem Kelch die Messe lesen. Alles, was wahr sein soll, muß zur Religion werden. Genau wie der Glaube sollte der Unglaube sein Ritual haben. Auch er hat seine Märtyrer ausgesät, darum sollte auch er seine Heiligen ernten und Gott täglich dafür danken, daß Er sich dem Menschen verbirgt.

Ob Glaube oder Unglaube, nichts darf mir von außen zukommen. Alle Symbole müssen meine eigenen Schöpfungen sein. Das Spirituelle muß seine eigene Form erschaffen können. Wenn ich sein Geheimnis nicht in mir selbst finde, so finde ich es nie. Wenn es nicht bereits in mir ist, so wird es mir nie zuteil werden.

Was den Glauben betrifft, so vermag ich alles zu glauben, vorausgesetzt, daß es ganz und gar unglaublich ist.

Was ist unglaubhafter als das, was man einmal so aufrichtig geglaubt hat? Gibt es etwas Unwahrscheinlicheres als das, was man selbst getan hat?

Die Menschheit kann an das Unmögliche glauben, aber an das Unwahrscheinliche wird sie nie glauben.

Religionen gehen unter, sobald ihre Wahrheit sich erweist. Die Wissenschaft ist das Archiv untergegangener Religionen.

»Die Religion?« »Der beliebte Ersatz für den Glauben.«

Skeptizismus ist der Beginn des Glaubens.

Es ist manchmal sehr schwer, wach zu bleiben, vor allem in der Kirche, aber Schlafen ist doch überhaupt nicht schwierig.

Immerhin meine ich, sie sollte ein Schwarzseidenes im Schrank haben, für die Kirche ist so etwas immer passend.

Was die Kirche angeht, so kann ich mir nichts Besseres für die Kultur eines Landes vorstellen als das Vorhandensein einer Gemeinschaft von Menschen, deren Pflicht es ist, an das Übernatürliche zu glauben, täglich Wunder zu vollbringen und die mythenbildende Kraft lebendig zu erhalten, die so wesentlich für die Phantasie ist. Doch kommt in der englischen Kirche derjenige zu Ehren, der fähig ist zu zweifeln, nicht der, der fähig ist zu glauben. Nur in unserer Kirche steht der Skeptiker am Altar, und der heilige Thomas gilt als die ideale Apostelgestalt.

Glaubensbekenntnisse werden akzeptiert, nicht weil sie vernünftig sind, sondern weil sie wiederholt werden.

Die Popen haben dem Volk den Himmel genommen.

Der Schwäche der Päpste verdankt die Menschheit vieles. Die guten Päpste haben an der Menschheit Schreckliches verschuldet.

Ich glaube nicht an Wunder. Ich habe ihrer zu viele gesehen.

Die verlorenen Söhne kehren immer zurück.

Religionen mögen immerhin aufgesogen werden, doch sie werden nie widerlegt, und die Erzählungen der griechischen Mythologie tauchen, von dem läuternden Einfluß des Christentums vergeistigt, in vielen Teilen des südlichen Europas wieder in unseren Tagen auf. Die alte Sage, daß die griechischen Götter bei der neuen Religion unter angenommenem Namen in Dienst traten, birgt mehr Wahrheit, als die meisten darin sehen möchten.

Was dieses Jahrhundert anbetet, ist Reichtum. Der Gott dieses Jahrhunderts ist der Reichtum. Um Erfolg zu haben, muß man Reichtum besitzen. Reichtum um jeden Preis.

Ein Nihilist, der jede Autorität ablehnt, weil er die Autorität als Übel erkannt hat, und der alles Leiden willkommen heißt, weil er dadurch seine Persönlichkeit verwirklicht, ist ein echter Christ. Für ihn ist das christliche Ideal eine Wahrheit.

Zugegeben, der Erlösungsgedanke ist schwierig zu erfassen. Doch glaube ich, seit Christus ist die tote Welt aus dem Schlaf erwacht. Seit er erschienen ist, leben wir. Ich glaube, der beste Beweis für den christlichen Menschwerdungsgedanken wird durch die Taten und Gedanken edler Menschen erbracht und nicht durch das Erzählen unbestätigter Geschichten.

»Erkenne dich selbst!« stand am Eingang der antiken Welt geschrieben. Über dem Eingang der neuen Welt wird geschrieben stehen »Sei du selbst«.

Die Botschaft Christi an den Menschen lautet einfach »Sei du selbst«. Dies ist das Geheimnis Christi.

Wenn Jesus von den Armen spricht, so meint er eigentlich Persönlichkeiten, und wenn er von den Reichen spricht, meint er eigentlich diejenigen, die ihre Persönlichkeit nicht entwickelt haben.

Jesus will sagen, daß der Mensch nicht durch das, was er hat, nicht einmal durch das, was er tut, sondern nur durch das, was er ist, zu seiner Vollendung gelangt.

Die Persönlichkeit ist etwas sehr Geheimnisvolles. Man kann einen Menschen nicht immer nach seinen Handlungen beurteilen. Er mag das Gesetz achten und doch schlecht sein. Er mag das Gesetz brechen und ist doch edel. Er ist vielleicht eine Sünde gegen die Gesellschaft und erreicht durch dieses Verbrechen seine wahre Selbstvollendung.

Und darum führt nur der ein Leben im Sinne Christi, der ganz und gar er selbst bleibt.

Jesus sieht das Leben, wie der Künstler es sieht, der weiß, daß kraft des unabweisbaren Gesetzes der Selbstvollendung der Dichter singen, der Bildhauer in Bronze denken und der Maler die Welt zum Spiegel seiner Empfindungen machen muß, so unbedingt und sicher, wie der Weißdorn im Frühling blühen und das Korn zur Erntezeit zu Gold reifen und der Mond auf seiner vorbestimmten Bahn vom Schild zur Sichel und von der Sichel zum Schilde werden muß.

Christi Platz ist bei den Dichtern. Sein Menschenbild entsprang direkt seiner Vorstellungskraft und kann nur durch sie verwirklicht werden. Was dem Pantheisten Gott war, war ihm der Mensch. Er hat als erster die aufgespaltenen Rassen als Einheit gesehen. Ehe er kam, gab es Götter und Menschen. Er allein sah, daß es auf dem Hügel des Lebens nur Gott und den Menschen gibt, und da seine mystische Fähigkeit des Mitempfindens ihm sagte, daß in ihm beide Fleisch geworden waren, nennt er sich bald Gottessohn, bald Menschensohn. Mehr als jede andere Gestalt in der Geschichte weckt er in uns den Sinn für das Wunderbare, an den die Romantik immer appelliert.