Achtzehntes Kapitel


Achtzehntes Kapitel

Worin mit wenigen Worten zwei Punkte dargetan werden: erstens die Macht der Krämpfe, und zweitens die Gewalt der Umstände.

Zwei Tage nach dem Frühstück bei Mrs. Hunter blieben die Pickwickier noch in Eatanswill und erwarteten mit Spannung irgendwelche Nachrichten von ihrem verehrten Meister. Mr. Tupman und Mr. Snodgraß waren wieder lediglich auf ihre eigenen geselligen Talente angewiesen, wogegen Mr. Winkle auf die dringendsten Einladungen hin bei Pott wohnte, wo er seine ganze Zeit der liebenswürdigen Frau des Hauses widmete. Bisweilen wohnte Mr. Pott selbst der Unterhaltung bei, um das Glück der beiden vollständig zu machen. Stets tief in seine großartigen Pläne für die öffentliche Wohlfahrt und die gänzliche Vernichtung des „Independent“ versunken, pflegte sich der große Mann von seinem hohen geistigen Standpunkt im allgemeinen nicht in die niedrige Sphäre gewöhnlicher Geister herabzulassen, bei seltenen Gelegenheiten aber, zum Beispiel, wenn es galt, einen Pickwickier dadurch zu ehren, stieg er von seinem Piedestal herab auf die Erde und paßte dabei huldreich seine Bemerkungen dem Verständnis der großen Menge an und schien, wenn auch nicht dem Geiste nach, so doch äußerlich, ihr anzugehören.

Bei diesem Benehmen des berühmten Publizisten kann man sich leicht denken, daß gewaltige Überraschung auf dem Gesichte Mr. Winkles zu lesen war, als eines Morgens, während er allein frühstückte, Mr. Pott hastig die Tür aufriß und ebenso hastig wieder zuschlug, majestätisch auf ihn zuschritt, die dargebotne Hand zurückstieß, mit den Zähnen knirschte, um dadurch seinen Worten noch größere Schärfe zu geben, und mit grimmiger Stimme losdonnerte:

„Schlange!“

„Sir!!“ rief Mr. Winkle und sprang von seinem Stuhle auf.

„Schlange, Sir“, wiederholte Mr. Pott, erhob seine Stimme und dämpfte sie dann plötzlich wieder. „Ich sagte Schlange, Sir, nehmen Sie den Ausdruck in seiner schärfsten Bedeutung.“

Wenn man bis morgens um zwei Uhr in der vertraulichsten Kameradschaftlichkeit mit einem Manne zusammengesessen hat, und er kommt dann um halb zehn Uhr mit der ernsten Begrüßung: „Schlange!“ herein, kann man mit Fug und Recht schließen, daß sich in der Zwischenzeit irgend etwas Unangenehmes zugetragen hat. So dachte auch Mr. Winkle.

Er erwiderte Mr. Potts eisigen Blick und nahm auf Verengen des erzürnten Publizisten die „Schlange“ so stark er konnte, ohne daß ihm jedoch die Sache dadurch verständlicher wurde.

„Schlange, Sir? Schlange, Mr. Pott? Was meinen Sie damit, Sir? Sie belieben zu scherzen.“

„Scherzen, Sir?“ rief Mr. Pott mit einer Handbewegung, die ein heftiges Verlangen verriet, seinem Gast den Teetopf aus Britanniametall an den Kopf zu schleudern. „Ha – Scherzen!! Doch nein, ich will mich beherrschen; ich will mich beherrschen, Sir“, setzte er hinzu und warf sich zum Beweis, daß ihm das bereits gelungen, mit schäumendem Rachen in einen Stuhl.

„Mein lieber Herr …“, begann Mr. Winkle.

„Mein lieber Herr!?“ fuhr Pott auf. „Wie können Sie sich unterstehen, Sir, lieber Herr zu mir zu sagen? Wie können Sie es wagen, mir überhaupt noch ins Gesicht zu sehen?“

„Gut, gut, Sir“, antwortete Mr. Winkle. „Wenn Sie schon das Wort .wagen‘ gebrauchen, wie können Sie es wagen, mir ins Gesicht zu sehen und mich eine Schlange zu nennen, Sir?“

„Weil Sie eine sind.“

„Beweisen Sie mir das, Sir“, sagte Mr. Winkle, warm werdend. „Beweisen Sie mir das!“

Ein Widerschein ingrimmiger Wut flog über sein durchgeistigtes Gesicht, als der Publizist das Morgenblatt des „Independent“ aus der Tasche zog. Er wies mit dem Finger auf einen Artikel und warf dann die Zeitung Mr. Winkle über den Tisch zu.

Betroffen las Mr. Winkle, wie folgt:

„Unser obskurer und niedrig gesinnter Kollege hat die Frechheit gehabt, in einigen ekelerregenden Bemerkungen über die letzte Wahl dieser Stadt die unantastbare Heiligkeit des Privatlebens zu verletzen und auf eine Art, die nicht mißverstanden werden kann, die persönlichen Angelegenheiten unsres letzten Kandidaten, Mr. Fizkins, zu begeifern, der übrigens trotz seiner unverdienten Niederlage, wie wir mit Sicherheit voraussagen können, das nächstemal den Sieg davontragen wird. Was würde der Schurke sagen, wenn wir, gleich ihm, alle dem Publikum schuldigen Rücksichten des Anstände“ beiseite setzen und den Schleier lüften wollten, der glücklicherweise sein Privatleben vor dem allgemeinen Gelächter, um nicht zu sagen, vor der allgemeinen Entrüstung, noch schützt? Was würde er sagen, wenn wir Tatsachen und Umstände näher beleuchten wollten, die zu offenkundig sind, um nicht von jedermann gesehen zu werden, außer von unserem maulwurfäugigen Kollegen? Was würde er sagen, wenn wir nachfolgendes Gedichtchen drucken lassen wollten, das uns ein talentvoller Mitbürger und Korrespondent zugeschickt hat, als wir eben die ersten Worte dieses Artikels niederschrieben:

AN EINEN LEEREN POT

Oh, Pot! Oh, hättest du gewußt,

Wie falsch das Weib an deiner Brust,

Vergangen wäre dir der Dünkel.

Du hättest sie, ach, wie so gern,

Gelassen gleich dem süßen Herrn,

Den sie jetzt küßt und herzt, dem W…..“

„Was“, fragte Mr. Pott feierlich, „was reimt sich auf Dünkel, Sie Elender?“

„Was sich auf Dünkel reimt?“ erwiderte Mrs. Pott, die in diesem Augenblick eintrat und der Antwort zuvorkam. „Was sich auf Dünkel reimt? Nun, ich dächte, Winkle.“

Zärtlich lächelte sie dem verblüfften Pickwickier zu und streckte ihm die Hand entgegen. Der aufgeregte junge Mann wollte sie in seiner Verwirrung ergreifen, aber Mr. Pott trat zornig zwischen ihn und seine Gattin.

„Zurück, Ma’am, zurück! Wollen Sie ihm vor meinen eigenen Augen noch die Hand reichen?“

„Mr. P.“, sagte die Dame erstaunt.

„Elende“, donnerte der Publizist. „Da, sieh her! Hier, Madame, ein Gedichtchen auf einen leeren Topf. Ein leerer Topf, das bin ich, Ma’am. Das falsche Weib, Ma’am, das sind Sie.“

Mit diesem Wutausbruch, der so etwas wie ein leichtes Beben auf dem Gesicht seiner Frau hervorrief, warf er ihr die Morgennummer des „Eatanswiller Independenten“ vor die Füße.

„So wahr ich hier stehe, mein Herr“, sagte Mrs. Pott erstaunt und bückte sich, um das Blatt aufzuheben. „So wahr ich hier stehe, mein Herr!“ Es scheint so, als läge nichts Schreckliches in dem kurzen Satz: „So wahr ich hier stehe, mein Herr“ – wenn er einem gedruckt begegnet; aber der Ton, in dem er ausgesprochen, und der Blick, von dem er begleitet wurde, schienen ein Ungewitter anzukündigen, das sich über Mr. Potts Haupt zusammenzog, und machten gebührenden Eindruck auf ihn. Auch ein völlig ahnungsloser Beobachter hätte aus Potts besorgter Miene die Bereitwilligkeit ablesen können, seine Stiefeletten jedem geeigneten Stellvertreter zu überlassen, der in diesem Augenblick Neigung gezeigt hätte, in ihnen an Ort und Stelle stehenzubleiben.

Mrs. Pott durchflog den Artikel, stieß einen gellenden Schrei aus, warf sich ihrer ganzen Länge nach auf den Teppich vor dem Kamin nieder, schrie dabei und stampfte dermaßen mit den Absätzen, daß über ihren Seelenzustand kein Zweifel obwalten konnte.

„Meine Liebe“, rief Pott, der vor Schreck erstarrte, „ich sagte doch nicht, daß ich glaube, ich …“ Aber seine Stimme wurde von dem Geschrei seiner Ehehälfte übertönt.

„Meine liebe Mrs. Pott, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich“, flehte Mr. Winkle; aber das Geschrei und Gestampfe wurde immer lauter und heftiger.

„Meine Liebe“, begann Mr. Pott von neuem, „es tut mir wirklich äußerst leid. Wenn du schon keine Rücksicht auf deine Gesundheit nehmen willst, so nimm doch Rücksicht auf mich, meine Liebe. Die Leute werden vor unserem Hause zusammenlaufen.“ Aber je inständiger er bat, desto gellender und kreischender wurde das Geschrei seiner Gemahlin.

Zum Glück befand sich nun eine Mrs. Pott sehr ergebene Leibwache im Hause, eine junge Dame, deren Amt nach außen hin in der Beaufsichtigung der Garderobe bestand. Tatsächlich machte sie sich auf vielerlei Art nützlich; ganz besonders, wenn es sich darum handelte, denjenigen Wünschen und Neigungen ihrer Herrin Vorschub zu leisten und nachzuhelfen, die den Intentionen des unseligen Pott zuwiderliefen. Das Geschrei drang natürlich zu den Ohren dieser jungen Dame und lockte sie mit einer Eile ins Zimmer, die das ausgesuchte Arrangement ihrer Haube und Frisur bedenklich zu derangieren drohte.

„Oh, meine teure, teure Mistreß“, rief die Leibwache und warf sich wie wahnsinnig neben Mrs. Pott auf die Knie, „oh, meine teuerste Mistreß, was ist geschehen?“

„Dein Herr, dieses Ungeheuer“, murmelte die Patientin.

Pott war sichtlich betreten.

„Es ist eine Schande“, sagte die Leibwache in vorwurfsvollem Tone. „Oh, er wird Sie noch zu Tode quälen, Ma’am. Oh, Sie arme, liebe Frau.“ Pott wurde immer weicher, aber die Gegenpartei schritt rücksichtslos zum Angriff.

„Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, Goodwin“, murmelte Mrs. Pott, krampfhaft die Handgelenke besagter Goodwin umfassend. „Du bist das einzige Wesen auf der Welt, das es gut mit mir meint.“

Goodwin hielt den Augenblick für günstig, auf eigne Faust eine kleine Haustragödie zu veranstalten, und vergoß einen Strom von Tränen.

„Niemals, Ma’am, niemals“, schluchzte sie. „Oh, Sir, Sie sollten sich mehr in acht nehmen; ja, wahrhaftig, das sollten Sie; Sie wissen nicht, wie sehr es Madame schaden kann; ich weiß, Sie werden es noch einmal bitter bereuen, ich habe es immer gesagt.“

Der unglückliche Pott betrachtete angstvoll und stumm die Szene.

„Goodwin“, flüsterte Mrs. Pott mit ersterbender Stimme.

„Ma’am?“

„Ach, wenn du wüßtest, wie ich diesen Mann geliebt habe …“

„Denken Sie nicht daran! Es quält Sie, Ma’am“, sagte die Leibgarde.

Pott schnitt ein jammervoll-ängstliches Gesicht. Jetzt war es Zeit, ihm den Gnadenstoß zu geben.

„Und jetzt“, schluchzte Mrs. Pott, „jetzt muß ich mich so behandeln lassen, muß mir in Gegenwart eines Dritten, der so gut wie ein Fremder ist, Vorwürfe machen und mich beschimpfen lassen. Nein, Goodwin, ich ertrage es nicht länger“, stieß sie hervor und richtete sich in den Armen ihrer Wärterin auf. „Mein Bruder ist Leutnant. Er muß die Sache in die Hand nehmen. Ich will mich scheiden lassen, Goodwin.“

„Es würde ihm jedenfalls recht geschehen“, sagte Goodwin mit einem Blick auf den unglücklichen Publizisten.

Was für Gefühle die Androhung einer Scheidung in Mr. Potts Brust auch erregen mochte, er unterließ es, sie in Worte zu kleiden, und begnügte sich mit der de- und wehmütigen Frage: „Willst du mich nicht anhören, mein Engel?“

Ein neuerliches Schluchzen war die einzige Antwort. Die Krämpfe stellten sich wieder ein, und Mrs. Pott wollte unaufhörlich wissen, warum sie eigentlich geboren sei, und verlangte noch andere einschlägige Auskünfte.

„Mein Engel“, ließ Mr. Pott sich vernehmen, „gib doch solchen quälenden Gefühlen nicht Raum. Ich habe wirklich keinen Augenblick geglaubt, daß der Artikel auch nur die mindeste Begründung haben könnte; nein, Teuerste, das wäre ja rein unmöglich. Es ärgerte mich nur, meine Liebe; ja, ich darf wohl sagen, es machte mich wütend, daß das Independentenpack sich erfrechen konnte, ein solches Schandgedicht zu veröffentlichen. Das ist alles.“ Mr. Pott warf einen flehenden Blick auf die unschuldige Ursache des ganzen Unheils, als wolle er ihn bitten, ja nichts von der „Schlange“ zu sagen.

„Und was für Maßregeln, Sir, gedenken Sie zu ergreifen, um sich Genugtuung zu verschaffen?“ fragte Mr. Winkle, dessen Mut in eben dem Maße zunahm, als er Pott den seinigen verlieren sah.

„Ach, Goodwin“, ächzte Mrs. Pott, „wird er den Redakteur des ,Independent‘ durchpeitschen? Sag mir nur das eine, Goodwin!“

„Still, still, Ma’am; bitte, seien Sie doch/ruhig“, tröstete die Leibwache. „Ich bin überzeugt, er wird es tun, wenn Sie es wünschen, Ma’am.“

„Auf alle Fälle“, sagte Pott rasch, als er sah, daß seine Ehehälfte entschlossen schien, wieder Krämpfe zu bekommen. „Das versteht sich doch von selbst.“

„Wann, Goodwin, wann?“ fragte Mrs. Pott, immer noch schwankend, ob sie nicht doch in Ohnmacht fallen solle.

„Auf der Stelle, versteht sich“, erwiderte Mr. Pott. „Heute noch.“

„Ach, Goodwin“, fing Mrs. Pott aufs neue an, „das ist das einzige Mittel, die Beleidigung zu rächen und mich vor der Welt wieder zu rehabilitieren.“

„Ganz gewiß, Ma’am“, versicherte Goodwin. „Kein Mann, der wirklich ein Mann ist, könnte sich weigern.“

Da die Krämpfe noch immer drohend im Hinterhalt lauerten, beteuerte Mr. Pott aufs neue, er werde alles tun; aber schon der bloße Gedanke, ihre Ehre könne nur im mindesten in Zweifel gezogen werden, beunruhigte seine Gattin dermaßen, daß sie bestimmt noch ‚ein halbes dutzendmal Rückfälle bekommen haben würde, wenn nicht die unverdrossene Goodwin durch unermüdliche Anstrengungen und der arme, geschlagene Pott durch wiederholtes flehentliches Bitten um Verzeihung es verhindert hätten. Erst als der Unglückliche wieder durch Androhung von Krämpfen und Vorwürfen aller Art in seine gewohnten Schranken zurückgedrängt war, erholte sich Mrs. Pott so weit, daß man zum Frühstück gehen konnte. „Der niederträchtige Zeitungsklatsch wird Sie doch nicht etwa veranlassen, Ihren Aufenthalt bei uns abzukürzen, Mr. Winkle?“ fragte sie, durch Tränen lächelnd.

„Das will ich nicht hoffen“, fiel Mr. Pott ein, tief innerlich von dem Wunsche durchdrungen, sein Gast möge an der gerösteten Brotschnitte, die er soeben an seine Lippen führte, ersticken und dadurch seinem Aufenthalt auf immer ein Ende machen! „Das will ich nicht hoffen.“

„Sie sind wirklich zu gütig“, sagte Mr. Winkle, „aber ich habe heute früh, als ich noch in meinem Schlafzimmer war, einen Brief von Mr. Tupman erhalten, worin er mir meldet, es sei ein Schreiben von Mr. Pickwick eingetroffen mit der Bitte, noch heute zu ihm nach Bury zu kommen. Wir sind deshalb insgesamt entschlossen, mittags abzureisen.“

„Aber Sie werden doch wieder zurückkommen?“ fragte Mrs. Pott.

„Oh, gewiß“, versicherte Mr. Winkle.

„Darf ich mich darauf verlassen?“ fragte Mrs. Pott und warf ihrem Gast verstohlen einen zärtlichen Blick zu.

„Unbedingt“, antwortete Mr. Winkle.

Das Frühstück wurde schweigend beendet, denn jedes Mitglied der Gesellschaft brütete über seinen eignen persönlichen Angelegenheiten. Mrs. Pott bedauerte sehr, einen Verehrer zu verlieren; ihr Gatte bereute sein unüberlegtes Versprechen, den Redakteur des „Independent“ mit der Hetzpeitsche zu behandeln, und der Gast war ärgerlich, sich in einer so peinlichen Lage zu befinden. Der Mittag rückte heran, und nach manchem Lebewohl und vielfachen Versprechungen, bald wiederzukommen, riß sich Mr. „Winkle endlich los.

Sobald er sich wieder zeigt, vergifte ich ihn, schwor Mr. Pott innerlich, als er sich in seine Studierstube zurückzog, um seine Donnerkeile zu schmieden.

„Wenn ich je wieder zurückkomme und mich noch mal mit diesem Pack einlasse, dachte Mr. Winkle auf seinem Weg zum „Pfau“, so verdiene ich selbst die Hundepeitsche, und damit Punktum.

Seine Freunde standen bereit, Kutsche und Pferde ebenfalls, und im Verlauf von einer halben Stunde befanden sich die Herren auf derselben Straße, auf der Mr. Pickwick und Sam kürzlich ihre Reise gemacht hatten. Da wir den Weg bereits entsprechend geschildert haben, fühlen wir uns nicht berufen, Auszüge aus Mr. Snodgraß‘ herrlich-poetischer Beschreibung mitzuteilen.

Mr. Weller stand vor dem Tore des „Engel“, um sie zu empfangen, und führte sie in das Zimmer Mr. Pickwicks, wo sie zu nicht geringer Überraschung der Herren Winkle und Snodgraß und zur größten Verlegenheit Mr. Tupmans den alten Wardle und Mr. Trundle antrafen.

„Wie geht’s, wie steht’s?“ rief der alte Herr und ergriff Mr. Tupmans Hand. „Sehen Sie doch nicht so sentimental und empfindsam drein. Es läßt sich mal nicht ändern, alter Freund. Um meiner Schwester willen hätte ich gewünscht, daß Sie sie bekommen hätten, aber in Ihrem Interesse freut es mich sehr, daß es nicht so gekommen ist. Ein junger Fant wie Sie kann es heutzutage immer noch besser treffen; oder? Mit diesen Trostesworten klopfte der alte Herr Mr. Tupman auf die Schulter und lachte herzlich.

„Nun, und wie geht es denn Ihnen, meine verehrtesten Herren?“ fuhr er fort, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß gleichzeitig die Hände schüttelnd.

„Ich habe soeben zu Pickwick gesagt, daß wir Sie über Weihnachten alle zu Gast haben müssen. Wir müssen diesmal eine Hochzeit bei uns arrangieren, und zwar eine Hochzeit im buchstäblichen Sinne des Wortes.“

„Eine Hochzeit?!“ rief Mr. Snodgraß und wurde blaß wie die Wand.

„Ja, eine Hochzeit. Erschrecken Sie nur nicht gleich; es handelt sich nur um Trundle und Bella.“

„So, so. Ah!“ sagte Mr. Snodgraß, dem ein Stein vom Herzen fiel. „Da gratuliere ich wirklich herzlich, Sir. Und was macht denn unser Joe?“

„Oh, dem geht’s immer gut“, erwiderte der alte Herr. „Schläft wie gewöhnlich.“

„Und Ihre Mutter und der geistliche Herr und die andern alle?“

„Alle wohlauf.“

„Und wo“, fragte Mr. Tupman gepreßt, „wo ist – sie, Sir?“ Er wandte den Kopf ab und bedeckte seine Augen mit der Hand.

Sie?“ wiederholte der alte Herr mit verständnisinnigem Kopfschütteln. „Sie meinen meine ledige Schwester; oder?“ Mr. Tupman nickte stumm und gramverzehrt. „Ach, die ist fort. Sie wohnt jetzt bei Verwandten, weit von hier. Sie konnte sich mit den Mädchen nicht recht vertragen, und darum ließ ich sie ziehen. Aber kommen Sie jetzt, das Essen steht auf dem Tisch. Sie müssen nach Ihrer Fahrt hungrig sein. Ich habe Appetit ohne Fahrt. Also los.“

Die Herren ließen dem Mahl alle Gerechtigkeit widerfahren, und beim Dessert erzählte Mr. Pickwick zum allgemeinen Schrecken und Unwillen seiner Zuhörer das Abenteuer, das er bestanden, und wie leider das Schicksal die Schändlichkeiten des teuflischen Jingle mit Erfolg gekrönt habe.

„Und der Rheumatismus, den ich mir in dem Garten geholt habe“, schloß Mr. Pickwick, „hält mich bis jetzt noch im Zimmer fest.“

„Ich habe auch so eine Art Abenteuer gehabt“, nahm Mr. Winkle lächelnd das Wort und erzählte sofort von dem boshaften Schmähartikel im „Eatanswiller Independenten“ und dem daraus entstandenen Familienzwist im Hause des gemeinsamen Freundes, des Redakteurs.

Mr. Pickwicks Stirn verfinsterte sich sichtlich während dieses Berichtes. Seine Freunde bemerkten es und beobachteten tiefstes Stillschweigen, als Mr. Winkle zu Ende war. Dann schlug Mr. Pickwick mit der geballten Faust heftig auf den Tisch und sprach:

„Es ist doch wirklich unglaublich, daß wir bestimmt zu sein scheinen, kein Haus zu betreten, ohne auf die eine oder andre Art Streit und Zank zu verursachen! Ich frage, beweist es nicht die Unbesonnenheit, oder noch schlimmer, die Gewissenlosigkeit meiner Freunde, so etwas aussprechen zu müssen? Unter welchem Dach man auch einquartiert sein mag, jedesmal kostet es den Seelenfrieden und das Glück irgendeines arglosen weiblichen Wesens! Ist es nicht, sage ich …“

Mr. Pickwick hätte wahrscheinlich noch geraume Zeit so weitergeredet, wäre der Fluß seiner Beredsamkeit nicht durch den Eintritt Sams, der einen Brief brachte, unterbrochen worden; er fuhr sich mit seinem Taschentuch über die Stirn, nahm seine Brille herunter, wischte die Gläser ab, und als er sie aufsetzte, hatte seine Stimme die gewohnte Sanftheit wieder.

„Was hast du da, Sam?“ fragte er.

„Dieser Brief hat schon zwei Tage auf der Post gelegen“, erwiderte Mr. Weller. „Mit ’ner Oblate versiegelt und von ’ner Geschäftsfote geschrieben.“

„Ich kenne die Hand nicht“, sagte Mr. Pickwick und erbrach den Umschlag. „Barmherziger Gott, was ist das? Es muß ein Scherz sein; es – es – kann nicht Ernst sein.“

„Was ist denn los?“ riefen alle wie aus einem Munde.

„Es ist doch niemand gestorben?“ fragte Wardle, beunruhigt durch Mr. Pickwicks sichtliche Bestürzung. Mr. Pickwick reichte den Brief über den Tisch, bat Mr. Tupman, ihn vorzulesen, und sank dann sprachlos vor Entsetzen in seinen Stuhl zurück. Mit stockender Stimme las Mr. Tupman:

„Freemans-Court, Cornhill, den 18. August 1830

In Sachen Bardell kontra Pickwick.

Sir!

Beauftragt von Mrs. Marta Bardell, eine Klage wegen Nichterfüllung eines Eheversprechens gegen Sie einzuleiten, worin die Klägerin eine Entschädigung von fünfzehnhundert Pfund fordert, erlauben wir uns, Sie zu benachrichtigen, daß wir den Prozeß bei dem zuständigen Zivilgerichtshof anhängig gemacht haben. Wir ersuchen Sie, uns gefl. mit umgehender Post Ihren Rechtsfreund in London, der Sie vertreten wird, namhaft zu machen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst
Dodson und Fogg

An Mr. Samuel Pickwick“

In dem stummen Erstaunen, mit dem jeder der Herren seinen Nachbarn und dann alle zusammen Mr. Pickwick anblickten, lag etwas so Ausdrucksvolles, daß lange Zeit niemand zu sprechen wagte. Endlich brach Mr. Tupman das Stillschweigen.

„Dodson und Fogg“, wiederholte er mechanisch.

„Bardell kontra Pickwick“, sagte Mr. Snodgraß sinnend.

„Seelenfrieden und Glück argloser weiblicher Wesen“, murmelte Mr. Winkle mit zerstreuter Miene.

„Es ist eine Verschwörung!“ ächzte Mr. Pickwick, als er endlich wieder sprechen konnte. „Eine niederträchtige Verschwörung von diesen beiden beutelschneiderischen Advokaten Dodson und Fogg. Mrs. Bardell würde so etwas nie eingefallen sein; sie hat das Herz nicht dazu, und auch keinen Grund. – Lächerlich, wirklich, zu lächerlich.“

„Was ihr Herz anbelangt“, sagte Mr. Wardle und schnitt „in Gesicht, „so müssen Sie das freilich am besten beurteilen können. Ich will Ihnen den Mut nicht nehmen, aber so viel kann ich wohl zuversichtlich behaupten, daß in bezug auf die Klage den Herren Dodson und Fogg ein besseres Urteil zustehen dürfte als uns allen zusammen.“

„Es ist ein niederträchtiger Versuch, Geld zu erpressen“, rief Mr. Pickwick.

„Hoffentlich nichts Schlimmeres“, meinte Mr. Wardle mit einem kurzen, trocknen Husten.

„Wer hat mich je anders mit ihr sprechen sehen als wie als Mieter mit seiner Hauswirtin?“ fuhr Mr. Pickwick mit großer Heftigkeit fort. „Wer hat mich jemals mit ihr allein gesehen? Nicht einmal meine Freunde hier …“

„Ein einziges Mal ausgenommen“, warf Mr. Tupman bescheiden ein.

Mr. Pickwick wechselte die Farbe.

„Hm, hm“, sagte Mr. Wardle. „Das ist aber von großer Wichtigkeit. Es ist doch hoffentlich dabei nichts Verdächtiges vorgefallen?“

Mr. Tupman warf seinem Meister einen schüchternen Blick zu. „N – nein“, sagte er, „nicht gerade etwas Verdächtiges. Aber, ich weiß nicht, wie es zuging, sie lag in seinen Armen.“

„Grundgütiger Himmel!“ stöhnte Mr. Pickwick, dem sich plötzlich die volle Erinnerung an die damalige schreckliche Szene aufdrängte. „Welch furchtbares Beispiel für die Macht der Umstände! Ja, es war so, es war so.“

„Und Sie gaben sich alle Mühe, sie zu beschwichtigen“, warf Mr. Winkle etwas boshaft hin.

„Ja, ja, ja“, nickte Mr. Pickwick kummervoll. „Ich leugne es nicht. Es war so.“

„Hallo! Für einen Fall, an dem nichts Verdächtiges ist, klingt das aber doch ein bißchen wunderlich, meinen Sie nicht auch, Mr. Pickwick; ha? Oh, Sie alter Schlaufuchs!“ Mr. Wardle lachte, daß die Gläser auf dem Kredenztisch klirrten.

„Ein schreckliches Zusammentreffen von Verdachtsmomenten!“ jammerte Mr. Pickwick und griff sich an die Stirn. „Winkle – Tupman – ich bitte Sie wegen meiner Bemerkung von vorhin um Verzeihung. Wir sind samt und sonders Opfer der Umstände, und ich bin das beklagenswerteste.“

Sinnend begrub er das Haupt in den Händen, und Mr. Wardle warf den übrigen Herren bedeutungsvolle Blicke zu.

„Die Sache muß sich aufklären, so oder so“, sagte Mr. Pickwick nach einer Weile, erhob das Haupt und schlug auf den Tisch. „Ich muß diese Dodson und Fogg persönlich sprechen. Morgen fahre ich nach London.“

„Morgen noch nicht“, riet Mr. Wardle. „Sie sind noch zu lahm.“

„Nun gut, dann übermorgen.“

„Übermorgen ist der erste September, und Sie haben uns doch zugesagt, unter allen Umständen den Jagdausflug auf Sir Geoffrey Mannings Besitz mitzumachen!“

„Also gut, dann Donnerstag. Sam!“

„Sir?!“ erwiderte Mr. Weller.

„Bestelle auf Donnerstag früh für uns beide zwei Plätze nach London.“

„Sehr woll, Sir.“ Mr. Weller verließ das Zimmer und schlenderte, die Hände in den Taschen und die Augen sinnend zu Boden geschlagen, langsam auf die Post.

„Ein lockerer Zeisig das, der Alte“, brummte er vor sich hin. „Macht sich da an die Bardell ran, die noch obendrein einen Jungen hat. Jaja, so treiben’s diese alten Wüstlinge, trotz ihres ehrbaren Aussehens. Hätt’s ihm, weiß Gott, nicht zugetraut.“

Und in diesem Tone weiter moralisierend, lenkte Mr. Samuel Weller seine Schritte nach dem Einschreibebüro.

Neunzehntes Kapitel


Neunzehntes Kapitel

Ein angenehmer Tag mit einem unerfreulichen Schluß.

Die gefiederten Bewohner der Stoppelfelder begrüßten in seliger Unkenntnis der zu ihrem Verderben getroffenen Vorbereitungen den Morgen des ersten September als einen der schönsten, die sie in dieser Jahreszeit gesehen hatten. Manches junge Rebhuhn stolzierte mit der ganzen Hoffart der Jugend selbstgefällig einher, und manches alte schaute aus runden Augen mit der Miene eines weisen, abgeklärten Vogels dem törichten Treiben zu und badete sich, das drohende Verhängnis nicht ahnend, wonnetrunken in der frischen Morgenluft. Und doch lagen sie bereits wenige Stunden später leblos am Boden.

Es war also, um in Prosa zu sprechen, ein schöner Morgen, so schön, daß man kaum hätte glauben können, die wenigen Monate eines englischen Sommers seien bereits vorüber. Hecken, Felder und Bäume, Hügel und Moorland boten dem Auge die wechselreichen Schattierungen eines vollen, saftigen Grüns; kaum war ein Blatt gefallen, kaum mischte sich ein gelbes Pünktchen in die Farbe des Sommers und verriet das Herannahen des Herbstes. Wolkenlos breitete sich der Himmel aus, die Sonne schien hell und warm, das Gezwitscher der Vögel und das Summen von Myriaden Sommerinsekten erfüllten die Luft. Die Gärten prangten mit bunten Blumen in reicher Schönheit und funkelten im Morgentau gleich Beeten blitzender Juwelen. Alles trug den Stempel des Sommers, und noch war nicht eine seiner schönen Farben verblichen.

So war der Morgen, an dem ein offner Wagen mit drei Pickwickiern und den Herren Wardle und Trundle (Mr. Snodgraß hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben) und Mr. Sam Weller, der neben dem Kutscher auf dem Bocke saß, vor einem Tor an der Landstraße hielt, hinter dem ein baumlanger Wildhüter und ein Junge in Halbstiefeln und Lederhosen, jeder mit einer Jagdtasche von bedeutendem Umfang und einem Paar Hühnerhunden versehen, bereits warteten.

„Hm, warum haben die so große Taschen?“ flüsterte Mr. Winkle Mr. Wardle zu, als man den Wagentritt niederließ.

„Zum Füllen!“ rief der alte Wardle. „Wozu denn sonst. Sie sollen die eine füllen und ich die andre, und wenn wir damit fertig sind, geht’s erst noch an die Taschen unsrer Jagdwämser.“

Mr. Winkle stieg aus, ohne auf diese Bemerkung etwas zu erwidern, dachte aber in seinem Herzen, wenn die Gesellschaft so lange im Freien bleiben würde, bis er eine von den Jagdtaschen gefüllt hätte, so würde sie sich wohl einen bedenklichen Schnupfen holen.

„Herein, Juno! Schön, Alte! Leg dich, Daphne, leg dich“, liebkoste Wardle die Hunde. „Sir Geoffrey ist natürlich noch in Schottland, Martin?“

Der baumlange Heger bejahte und sah verwundert auf Mr. Winkle, der seine Flinte so hielt, als beabsichtige er, mit seiner Rocktaschenklappe den Hahn zu spannen, und dann auf Mr. Tupman, der sie so trug, als ob er sich vor ihr fürchtete; übrigens ist kaum daran zu zweifeln, daß er sich wirklich fürchtete.

„Meine Freunde sind in derlei Dingen noch unbewandert, Martin“, erklärte Wardle, der den Blick bemerkte. „Da heißt’s: ,Leben und Lernen.‘ Aber sie werden schon noch tüchtige Schützen werden. Bitte übrigens um Verzeihung, Mr. Winkle, Sie haben ja bereits Erfahrung.“

Mr. Winkle lächelte schwach aus seiner blauen Halsbinde hervor, stolperte dabei über seine Flinte und hätte sich in seiner Verwirrung unfehlbar erschossen, wenn die Läufe geladen gewesen wären.

„Sie müssen das Dings da anders halten, wenn’s mal geladen is“, sagte der baumlange Wildhüter mürrisch, „oder ich will verdammt sein, wenn Sie nicht einen von uns kalt machen.“

Mr. Winkle veränderte auf diese Ermahnung so plötzlich seine Stellung, daß sein Flintenlauf in ziemlich kräftige Berührung mit Mr. Wellers Kopf kam.

„Hallo“, rief Sam, hob seinen Hut auf und rieb sich die Schläfe. „Hallo, Sir, auf die Art können Sie mit einem Schlag eine von diesen Taschen füllen, daß auf beiden Seiten noch was rausschaut.“

Das erheiterte den Jungen mit den Lederhosen derart, daß er aus vollem Halse heraus lachte, was wiederum Mr. Winkle veranlaßte, majestätisch die Stirn zu runzeln.

„Wohin haben Sie den Jungen mit unserer Atzung bestellt, Martin?“ fragte Mr. Wardle.

„Zum Baumhügel, um zwölf Uhr, Sir.“

„Der gehört doch nicht zu Sir Geoffreys Jagdgebiet – oder?“

„Nein, Sir, is aber dicht dabei. Gehört dem Kapitän Boldwig; ’s wird uns aber niemand stören, ’s ist ein feiner Rasen dort.“

„Schön“, versetzte der alte Wardle. „Aber jetzt wird’s langsam Zeit. Je früher wir dran sind, um so besser! Wollen Sie also bis dahin hier auf uns warten, Pickwick?“

Mr. Pickwick hätte ums Leben gern der Jagd beigewohnt, nicht nur, weil ihm um Mr. Winkles Leib und Leben bang“ war, sondern es auch an einem so einladenden Morgen eine wahre Tantalusqual bedeutet hätte, allein zu bleiben, während sich die andern amüsierten, und erwiderte deshalb mit trübseliger Miene:

„Ich muß wohl; leider.“

„Ist denn der Herr nicht Jäger, Sir?“ fragte der lange Heger.

„Nein“, antwortete Wardle. „Und außerdem kommt er mit seinen Beinen nicht recht fort.“

„Ich würde sehr gern mitgehen“, seufzte Mr. Pickwick. „Wirklich, sehr gern.“

Eine kleine Pause allgemeinen Bedauerns.

„Hinter der Hecke steht ein Schiebkarren“, meldete sich der Junge. „Vielleicht könnt sich der Herr von seinem Bedienten nachschieben lassen. Über die Zäun‘ könnten mer ’n schon ’nüberheben.“

„Famos!“ rief Mr. Weller, der selbst ein brennendes Verlangen verspürte, die Jagd mit anzusehen, erfreut aus. „Famos! Bravo, Milchbart! Gleich werden wir die Karre haben.“

Das ging aber nicht so ohne weiteres. Der baumlange Wildhüter protestierte nämlich feierlich dagegen, daß ein Gentleman auf einem Schubkarren eine Jagd mitmache, und nannte es eine grobe Verletzung aller weidmännischen Regeln und Gebräuche.

Das war zwar ein bedeutendes Hindernis, aber doch kein unüberwindliches. Der Heger wurde durch Geld und gute Worte andern Sinnes gemacht und begnügte sich damit, dem erfinderischen Jungen, der die Maschine in Vorschlag gebracht, wortlos eins hinter die Ohren zu geben. Mr. Pickwick wurde also in dem Karren verstaut, und die Jagdgesellschaft brach auf, wobei Wardle und der lange Heger den Zug anführten und Mr. Pickwick, von Sam geschoben, die Nachhut bildete.

„Halt, halt, Sam!“ rief Mr. Pickwick, als sie mitten in dem ersten Stoppelfeld angekommen waren.

„Was gibt’s?“ fragte Wardle.

„Ich lasse mich keinen Schritt weiterschieben“, erklärte der Gelehrte entschlossen, „wenn nicht Mr. Winkle sofort seine Flinte anders hält.“ „Wie soll ich sie denn halten?“ fragte der unglückliche Winkle.

„Die Mündung nach abwärts!“

„Das ist ja ganz unweidmännisch“, wendete Mr. Winkle ein.

„Mir vollständig gleichgültig“, erwiderte Mr. Pickwick, „ob es weidmännisch ist oder nicht; ich lasse mich nicht, bloßer Formalitäten wegen, auf einem Schubkarren erschießen.“

„Ich wette, der Herr wird die Ladung noch jemand in die Wampe pfeffern, ehe er sich’s versieht“, brummte der Lange.

„Also gut, meinetwegen“, seufzte der arme Mr. Winkle und drehte sein Gewehr um. „So!“

„’s geht doch nichts über ein geruhiges Leben!“ sagte Mr. Weller, und der Zug bewegte sich wieder vorwärts.

„Halt!“ rief Mr. Pickwick nach kaum hundert Schritten abermals.

„Was gibt’s denn schon wieder?“ fragte Wardle.

„Tupmans Flinte ist nicht sicher; ich seh es, sie ist nicht sicher.“

„Wie? Was? Nicht sicher?“ fragte Mr. Tupman im Tone höchster Angst.

„Ich meine, so, wie Sie sie tragen“, sagte Mr. Pickwick. „Es rat mir leid, wieder eine Störung zu veranlassen, aber ich muß darauf bestehen, daß Sie Ihr Gewehr halten wie Mr. Winkle.“

Mr. Tupman gab bereitwilligst und mit größter Hast seinem Gewehr die gewünschte Richtung, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung, die beiden Amateure die Läufe nach abwärts gekehrt, wie ein paar Soldaten bei einem militärischen Leichenbegängnis.

Plötzlich standen die Hunde. Die Gesellschaft stahl sich noch einen Schritt weiter und blieb gleichfalls stehen.

„Was machen denn die Hunde mit ihren Beinen?“ flüsterte Mr. „Winkle. „Sie stehen so wunderlich da.“

„Pst! Sehen Sie denn nicht?“ verwies ihn „Wardle leise. „Sie stellen etwas.“

„Stellen etwas?“ fragte Mr. Winkle, umherschauend. als hoffe er, den reizvollen Punkt in der Landschaft zu entdecken, dem die scharfsinnigen Tiere offenbar ihre Aufmerksamkeit widmeten. „Stellen etwas? Und was stellen sie denn?“

„Aufpassen!“ rief Wardle, in der Aufregung des Augenblicks die Frage überhörend. „Da! Da! – Feuer!“

Ein scharfes, schwirrendes Geräusch! Mr. Winkle bebte entsetzt zurück. Piff, Paff erscholl es, und schon verzog sich das Rauchwölkchen, das einen Augenblick über den Jägern geschwebt, in den Lüften.

„Wo sind sie?“ fragte Mr. Winkle, in höchster Aufregung wild um sich blickend. „Wo sind sie? Sagen Sie mir, wann ich schießen soll. Wo sind sie, wo sind sie?“

„Wo sie sind?“ entgegnete Wardle und hob ein paar Hühner auf, die die Hunde zu seinen Füßen niedergelegt hatten. „Wo sie sind? Nun, hier sind sie.“

„Nein, nein, ich meine die andern“, sagte Mr. Winkle verwirrt.

„Für diesmal weit genug weg“, erwiderte Wardle und lud kaltblütig sein Gewehr wieder.

„In fünf Minuten werden wir wahrscheinlich eine zweite Kette antreffen“, sagte der lange Heger. „Wenn der Herr jetzt anlegt, kann der Schuß vielleicht gerade in dem Augenblick losgehen, wo sie auffliegen.“

„Hahaha!“ johlte Mr. Weller.

„Sam!“ verwies Mr. Pickwick voll Mitgefühl für die Verlegenheit seines Freundes.

„Sir?“

„Lache nicht!“

„Zu Befehl, Sir!“ antwortete Mr. Weller und entschädigte sich mit Gesichterschneiden hinter dem Schubkarren zur großen Belustigung des Jungen mit den Lederhosen, der darüber in ein wieherndes Gelächter ausbrach und sich deshalb von dem langen Wildhüter ein paar Püffe zuzog.

„Bravo, alter Kamerad“, ermunterte Wardle Mr. Tupman. „Sie feuerten doch wenigstens.“

„Allerdings“, erwiderte Mr. Tupman stolz, „ich schoß.“

„Gut so; Sie werden das nächstemal schon was treffen, wenn Sie gut zielen. Es ist ganz leicht; nöch?“

„Ja, es ist sehr leicht“, sagte Mr. Tupman. „Nur daß es einen gräßlich in die Schulter stößt. Es hat mich fast umgerissen. Ich hätte nie gedacht, daß die kleinen Dinger so ausschlagen können.“

„Sie werden sich an das mit der Zeit schon gewöhnen“, tröstete der alte Herr lächelnd. „Also weiter. – Alles bereit? Alles in Ordnung mit dem Schubkarren da hinten?“

„Alles in Ordnung, Sir“, erwiderte Mr. Weller.

„Also flott, flott.“

„Festgehalten, Sir“, sagte Sam und hob den Schubkarren wieder auf.

„Gut, gut“, rief Mr. Pickwick, und vorwärts ging’s.

„Bleiben Sie jetzt mit dem Schubkarren stehen“, rief Wardle, als das Vehikel über eine Hecke in das nächste Feld gehoben und Mr. Pickwick wieder hineingesetzt worden war.

„Schon recht, Sir“, versetzte Mr. Weller und hielt.

„Und Sie gehen mir langsam nach, Winkle“, sagte der alte Herr, „und kommen Sie diesmal nicht zu spät.“

„Unbesorgt“, antwortete Mr. Winkle. „Stehen die Hunde?“

„Nein, noch nicht; ruhig jetzt, ruhig.“

Die Herren schlichen vorwärts und würden unbemerkt an den gewünschten Platz gekommen sein, hätte nicht Mr. Winkle bei Ausführung einer sehr schwierigen Evolution mit seiner Flinte in dem entscheidenden Augenblick zufälligerweise den Drücker berührt. Der Schuß ging über den Kopf des Jungen weg und gerade auf die Stelle, wo sich eine Sekunde früher die Hirnschale des langen Hegers befunden hatte.

„Warum, zum Teufel, haben Sie denn abgedrückt?“ fragte der alte Wardle, während die Hühner lustig davonflogen.

„Ein solches Gewehr habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen“, stotterte der arme Winkle, das Schloß betrachtend, als ob das noch irgend etwas helfen könnte. „Es geht von selbst los.“

„Ach was, geht von selbst los!“ versetzte Wardle ein wenig gereizt. „Ich wollte, es würde auch von selbst etwas treffen.“

„Hm, kann ja noch werden, Sir“, bemerkte der Heger mit dumpfer, prophetischer Stimme.

„Was wollen Sie mit dieser Bemerkung sagen, Sir?“ fragte Mr. Winkle ärgerlich.

„Nichts, Sir, nichts“, entschuldigte sich der Wildhüter. „Ich selbst habe keine Familie, Sir. Und die Mutter von dem Jungen da bekäme was Hübsches von Sir Geoffrey, wenn er auf seinem Gute erschossen würde. Laden Sie nur wieder, Sir, laden Sie nur wieder.“

„Nehmt ihm die Flinte ab!“ rief Mr. Pickwick aus dem Schubkarren heraus, von Entsetzen über die schwarzen Ahnungen des Langen geschüttelt. „Nehmt ihm die Flinte ab! Hört mich denn niemand?“ Aber niemand wollte dem Befehl Folge leisten.

Mr. Winkle schoß einen rebellischen Blick auf Mr. Pickwick, lud sein Gewehr aufs neue und ging mit der übrigen Gesellschaft weiter.

Wir fühlen uns verpflichtet, unter Berufung auf Mr. Pickwicks Zeugnis ausdrücklich zu bemerken, daß Mr. Tupman in seiner Handlungsweise weit mehr Klugheit und Besonnenheit bekundete als Mr. Winkle. Nicht, daß wir damit etwa dem Rufe des letztgenannten Herrn in allen Fächern des Jagdsportes irgendwie zu nahe treten wollten! Wie Mr. Pickwick treffend bemerkt, so hat sich, worin auch immer der Grund liegen mag, schon seit undenklichen Zeiten der Fall ereignet, daß oft gerade die besten und größten Philosophen, die bis in die tiefsten Tiefen der Erkenntnis eingedrungen waren, nicht die Fähigkeiten besaßen, die Theorie in die Praxis zu übertragen.

Mr. Tupmans Vorgehen war, wie dies bei großen Entdeckungen gewöhnlich der Fall ist, äußerst einfach. Mit dem schnellen Blick des Genies hatte er die beiden Hauptpunkte, auf die es ankam, sofort erfaßt: erstens, sein Gewehr abzuschießen, ohne sich selbst zu verletzen, und zweitens, es abzuschießen ohne Gefahr für die Umstehenden. Nachdem er damit die Schwierigkeit, überhaupt zu schießen, gelöst hatte, war das, was übrigblieb, nämlich die Augen zu schließen und abzudrücken, ein rein mechanischer Prozeß.

Einmal, als Mr. Tupman diese Regel abermals mit Glück befolgt hatte und befriedigt die Augen wieder aufschlug, sah er ein dickes Rebhuhn verwundet zu Boden fallen. Er war eben im Begriff, Mr. Wardle zu seinem unwandelbaren Glück zu gratulieren, als dieser auf ihn zutrat und ihm warm die Hand drückte.

„Tupman“, fragte der alte Herr, „hatten Sie es gerade auf dieses Huhn abgesehen?“

„Nein“, sagte Mr. Tupman schlicht. „Nein.“

„Doch, doch!“ erwiderte Wardle. „Ich habe es genau gesehen. Sie haben es direkt herausgeschossen. Ich habe Sie doch darauf zielen sehen und kann Ihnen nur sagen, der beste Schütze auf der Welt hätte es nickt feiner herunterholen können. Sie sind geschickter, als ich geglaubt habe, Mr. Tupman. Gestehen Sie es nur, Sie sind schon öfter auf der Jagd gewesen!“

Vergeblich versicherte Mr. Tupman mit bescheidnem Lächeln, Mr. Wardle irre sich; aber gerade dieses Lächeln wurde für einen Beweis des Gegenteils angesehen, und von dem Augenblick an war sein Ruf fest begründet. Leider steht dieser so leicht erworbne Ruhm nicht vereinzelt in der Weltgeschichte da, denn Erfolg ist nicht auf die Hühnerjagd allein beschränkt.

Mr. Winkle feuerte und knallte inzwischen unentwegt drauflos, ohne weitere bemerkenswerte Ergebnisse herbeizuführen; bald schoß er so hoch in die Luft, wie sich das Rebhuhn nie zu erheben liebt, bald so nahe am Boden hin, daß sich die Aussicht auf eine lange Lebensdauer der Hunde Wesentlich verringerte. Im Lichte des Phantasieknallens gesehen, boten seine Schüsse viel Abwechslung und Kunstgenuß; waren sie jedoch wirklich auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, so mußten seine Bestrebungen als im Grunde gänzlich verfehlt bezeichnet werden. Es ist ein anerkannter Grundsatz: Jede Kugel hat ihr Ziel. Aber auf Mr. Winkles Schrotkörner angewendet, stempelte er sie zu unglücklichen Findelkindern, die, ihrer natürlichen Rechte beraubt, planlos im Weltenraum umherirrten.

„Verdammt schwüler Tag, wie?“ sagte Wardle, ging auf den Schubkarren zu und wischte sich den Schweiß von der glühend roten Stirn.

„In der Tat“, erwiderte Mr. Pickwick. „Die Sonne brennt fürchterlich, sogar für mich. „Wie müssen Sie es erst empfinden!“

„Ja“, sagte der alte Herr. „Scheußlich. Aber es ist jetzt zwölf Uhr durch. Sehen Sie dort den grünen Hügel?“

„Gewiß.“

„Dort werden wir frühstücken. Und, beim Zeus, da ist auch der Junge schon mit dem Korb, so pünktlich wie eine Uhr.“

„Wahrhaftig“, rief Mr. Pickwick fröhlich. „Ein guter Junge das. Ich werde ihm einen Schilling schenken. Vorwärts, Sam, schieb mich.“

„Festgehalten, Sir!“ sagte Mr. Weiler, neubelebt durch die Aussicht auf einen guten Imbiß. „Weg da, junges Lederbein! Wenn du mein kostbares Leben schätzest, wirfst du mir den Wagen nich um, wie der Schenlmän zum Kutscher sagte, als man ihn nach dem Galgen fuhr.“

Und seinen Schritt in einen munteren Trab verwandelnd, schob Mr. Weller seinen Herrn schnell auf den grünen Hügel, leerte ihn gewandt neben dem Korb aus und fing mit der größten Eile an, auszupacken.

„Eine Kalbspastete“, begann er einen Monolog, als er die Speisen auf den Rasen legte. „Eine feine Sache das, wenn man die Dame kennt, wo ihr gebacken hat, und man sicher ist, daß nich ’ne Katze der Vater is. Schließlich Wurst, wenn sie beide einander so ähnlich sin, daß sie selbst die Pastetenbäcker nich zu unterscheiden vermögen.“

„Vermögen sie das in der Tat nicht, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ausgeschlossen, Sir“, erwiderte Mr. Weller und lüftete den Hut. „Loschierte mal im nämlichen Hause mit ’nem solchen Pastetenbäcker. War ein durchtriebener Kunde, und ’s gab nichts, aus dem er nich Pasteten machen konnte, ,’ne Unzahl Katzen halten Sie da, Mr. Brooks‘, sagte ich mal im Vertrauen zu ihm. – ,O ja‘, meinte er, ,es sin deren ziemlich viele.‘ – ,Sie müssen ’n großer Katzenfreund sein‘, sagte ich. – ,Die andern sind’s‘, sagte er und zwinkerte dabei, ,sie haben aber jetzt ihre Zeit nich, erst bis der Winter kommt.‘ – ,Sie haben ihre Zeit nich?‘ fragte ich. – ,Nö‘, sagte er, ,Früchte haben ihre Zeit im Sommer, Katzen im Winter.‘ – ,Was meinen Sie eigentlich damit?‘ fragte ich. – ,Meinen?‘ sagte er. ,Na, ich meine, daß ich mir mit die Schlächterzunft n nich einlassen will, wo die Fleischpreise immer in die Höhe schraubt. – Mr. Weller‘, sagte er und drückte mir die Hand, ,sagen Sie’s nich weiter, es liegt nur an die Zubereitung. Meine Fabrikate werden aus lauter Hochwild gemacht‘, sagte er und deutete auf ein sehr hübsches gestreiftes Kätzchen, ,und ich verwandle ihnen in Ochsenfleisch, Kalbfleisch oder Nieren, wie’s grade verlangt wird, je nachdem die Preise stehen und die Mode wechselt.'“

„Das muß ein sehr erfinderischer junger Mann gewesen sein“, sagte Mr. Pickwick mit einem leichten Schauder.

„War er auch, Sir, und die Pasteten waren wunderschön. – Zunge! ’s is was Gutes um ’ne Zunge, wenn’s keine Weiberzunge is. – Brot! – Schinken! – Man könnte ihn nich schöner malen. – Kaltes Rindfleisch in Schnitten, sehr gut. Was is in den steinernen Krügen dort, verehrter Jüngling?“

„In diesen hier Bier“, antwortete der Bursche und nahm ein paar große steinerne Flaschen, die mit einem ledernen Riemen zusammengebunden waren, von der Schulter. „Hier drin kalter Punsch und da Knickebein.“

„’n fesselnder Anblick, wenn man’s so im Ganzen beisammen hat“, sagte Mr. Weller, seine Anordnungen mit Befriedigung betrachtend. „Nun, meine Herren, bedienen Sie sich, wie die Engländer zu den Franzosen sagten, als sie die Bajonette aufsteckten.“

Es bedurfte keiner zweiten Einladung für die Gesellschaft, dem Mahle seine volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und ebensowenig waren dringende Bitten erforderlich, Mr. Weller, den baumlangen Wildhüter und die beiden Jungen zu veranlassen, sich in einiger Entfernung ins Gras zu strecken und ihren Anteil an dem Frühstück entgegenzunehmen.

Eine alte Eiche spendete der Gruppe freundlich Schatten, und reiches Ackerland und Wiesen, von üppigen Hecken durchschnitten und anmutig mit Gehölz umsäumt, lagen ausgebreitet zu ihren Füßen.

„Es ist entzückend, wirklich, entzückend!“ rief Mr. Pickwick, von dessen ausdrucksvollem Gesicht sich die Haut durch die Wirkung der Sonnenstrahlen in Fetzen ablöste.

„Wirklich und wahrhaftig, das ist’s, alter Freund“, versetzte Wardle. „Kommen Sie. Ein Glas Punsch.“

„Mit größtem Vergnügen“, sagte Mr. Pickwick, und die Heiterkeit seines Gesichtes, nachdem er getrunken, zeugte von der Aufrichtigkeit seiner Erwiderung. „Ausgezeichnet“, bemerkte er, mit den Lippen schmatzend. „Vortrefflich. Ich will gleich noch eins trinken. Kühlend, sehr kühlend. Meine Herren, unsre Freunde zu Dingley Dell, sie leben hoch!“

Mit lautem Beifall wurde der Toast aufgenommen.

„Ich will Ihnen sagen, was ich tun will, um meine Geschicklichkeit im Schießen wiederzugewinnen“, sagte Mr. Winkle, Brot und Hammelfleisch mit seinem Taschenmesser zerlegend. „Ich werde ein ausgestopftes Rebhuhn auf eine Stange stecken und mich daran üben, indem ich mich zuerst in geringer Entfernung davon aufstelle und allmählich immer weiter zurücktrete. Ich glaube, das muß eine treffliche Übung sein.“

„Ich kenne einen Schenlmän, Sir“, sagte Mr. Weller, „wo es auch so machte und mit zwei Ellen anfing. Aber er versuchte es nicht zum zweitenmal, denn er blies den Vogel auf den ersten Schuß so rein herunter, daß niemand mehr ’ne Feder von ihm finden konnte.“

„Sam!“ rief Mr. Pickwick.

„Sir?“

„Sei so gut und behalte deine Anekdoten für dich, bis man dich auffordert.“

„Sehr wohl, Sir.“ Mr. Weiler blinzelte mit dem Auge, das nicht durch die eben an die Lippen geführte Bierkanne verdeckt war, so spaßhaft, daß die beiden Jungen sich vor Lachen gar nicht mehr helfen konnten und sogar der baumlange Heger sich zu einem Grinsen herabließ.

„Wirklich, ein vorzüglicher kalter Punsch“, bemerkte Mr. Pickwick, mit dem steinernen Krug liebäugelnd, „’s ist aber auch ein warmer Tag. Tupman, lieber Freund, ein Glas Punsch?“

„Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte Mr. Tupman.

Nachdem Mr. Pickwick sein Glas geleert hatte, trank er schnell noch eins, um sich zu überzeugen, ob nicht etwa Pomeranzenschalen darin seien, die ihm im Tod zuwider waren, und als er seine Befürchtung unbegründet sah, leerte er noch ein weiteres auf die Gesundheit des gemeinsamen Freundes Snodgraß und fühlte sich dann gebieterisch genötigt, noch eins zu Ehren des unbekannten Punschbrauers vorzuschlagen.

Diese schnelle Aufeinanderfolge von Gläsern äußerte eine beträchtliche Wirkung auf den Gelehrten. Sein Gesicht erstrahlte in sonnigstem Lächeln; Fröhlichkeit umspielte seine Lippen, und rosige Laune glänzte in seinem Auge. Allmählich dem Einflüsse des Getränks unterliegend, dessen aufregende Eigenschaft durch die Hitze noch erhöht wurde, gab er einem starken Verlangen, ein Lied vorzutragen, das er in seiner Kindheit gehört, nach, und da der Versuch fehlschlug, suchte er seinem Gedächtnis durch eine weitere Anzahl von Gläsern Punsch und Knickebein nachzuhelfen, was insofern eine unerwünschte Wirkung hervorzubringen schien, als er plötzlich vergaß, so, wie er vorhin die Strophen des Liedes vergessen, überhaupt in artikulierten Lauten zu sprechen, und endlich, nachdem er sich auf seine Beine gestellt, um eine feurige Rede zu halten, in den Schubkarren fiel und augenblicklich einschlief.

Nachdem der Korb wieder gepackt und jeder Erweckungsversuch an Mr. Pickwicks tiefem Schlummer gescheitert war, fand eine Beratung statt, ob es besser wäre, wenn Mr. Weller seinen Herrn wieder zurückführe, oder ob man ihn liegenlassen sollte, wo er lag, bis sich alles wieder auf den Rückweg begeben würde. Endlich entschied man sich für das letztere, und da eine neuerliche Expedition nicht über eine Stunde dauern sollte und Mr. Weller inständig bat, die Gesellschaft begleiten zu dürfen, wurde beschlossen, Mr. Pickwick in dem Karren zu belassen und ihn erst auf dem Rückweg wieder mitzunehmen. Die Jagdpartie machte sich also wieder auf, und Mr. Pickwick schnarchte behaglich im Schäften fort. Daß Mr. Pickwick im Schatten fortgeschnarcht hätte, bis seine Freunde zurückgekommen wären, oder, in Ermangelung dessen, bis sich die Schatten des Abends herniedergesenkt haben würden, unterliegt wohl keinem Zweifel, vorausgesetzt natürlich, daß man ihn in Frieden gelassen hätte. Dies war nun aber leider nicht der Fall.

Kapitän Boldwig war ein kleiner hochfahrender Mann mit steifer schwarzer Halsbinde und einem blauen Überrock, und ließ er sich einmal herab, auf seinem Gute herumzugehen, vergaß er nie, außer einem dicken spanischen Rohr mit Messingzwinge einen Ober- und einen Untergärtner mit äußerst demütigen Gesichtern mitzunehmen, denen er bei solchen Gelegenheiten mit gebührender Würde und Barschheit seine Befehle erteilte. Denn Kapitän Boldwigs Schwägerin hatte einen Marquis geheiratet, sein Wohnsitz war eine Villa, sein Garten ein Park, und alles um ihn pompös und vornehm.

Mr. Pickwick hatte noch keine halbe Stunde geschlafen, als der kleine Kapitän Boldwig, von seinen beiden Gärtnern begleitet, so schnell daherschritt, wie es seine Wichtigkeit und Würde nur irgend erlaubte, an die Eiche kam, stehenblieb, tief Atem holte, sich in der Gegend mit einer Miene umsah, als ob sie sich hochgeehrt fühlen müßte, von ihm in Augenschein genommen zu werden, dann mit seinem Stock kräftig auf den Boden stieß und sich an seinen Obergärtner wandte.

„Hunt!“

„Ja, Sir“, sagte der Gärtner.

„Walze diesen Platz morgen früh. Verstanden, Hunt?“

„Ja, Sir.“

„Und sorge dafür, daß er überhaupt in ordentlichem Stand erhalten wird. Hörst du, Hunt?“

„Ja, Sir.“

„Und erinnere mich daran, daß ich anschlagen lasse, daß niemand ungestraft meinen Grund und Boden betreten darf. Auch Selbstschüsse muß ich anbringen und dergleichen, um das gemeine Pack fernzuhalten. Verstanden, Hunt?“

„Ich werde bestimmt nichts vergessen, Sir.“

„Ich bitte um Verzeihung, Sir“, sagte der andre Gärtner und griff mit der Hand an seinen Hut.

„Na, Wilkins, was willst denn du?“ fragte Kapitän Boldwig.

„Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich glaube, es müssen heute Leute den Rasen betreten haben.“

„Ha!“ rief der Kapitän und sah sich überall um.

„Sir, sie haben, glaube ich, hier gezecht.“

„Die Pest über die Bande, wenn sie das wirklich getan haben“, sagte Kapitän Boldwig. Da fiel sein Blick auf die Überbleibsel, die auf dem Rasen umherlagen. „Bei Gott, sie haben hier wirklich ein Gelage gehalten. Ich wollte, ich hätte die Landstreicher hier“, knirschte er und schwang seinen Stock. „Ich wollte, ich hätte die Landstreicher hier.“

„Ich bitte um Verzeihung, Sir“, begann Wilkins wieder, „aber …“

„Aber was? He?“ brüllte der Kapitän. Seine Augen folgten den furchtsamen Blicken Wilkins, und er bemerkte Mr. Pickwick in dem Schubkarren. „Wer bist du, du Schlingel?“ rief er und versetzte Mr. Pickwick mit seinem Stock einige unsanfte Stöße. „Wie heißt du?“

„Knickebein“, murmelte der Unsterbliche aus dem Schlaf.

„Wie?“ fragte Kapitän Boldwig.

Keine Antwort.

„Wie sagte er, daß er heiße?“ fragte der Kapitän wieder.

„Knickebein, glaube ich, Sir“, erwiderte Wilkins.

„Das ist eine Unverschämtheit, eine bodenlose Unverschämtheit“, raste Kapitän Boldwig. „Jetzt stellt er sich, als ob er schliefe. Es ist „in Betrunkener, ein betrunkener Plebejer. Fahre ihn weg, Wilkins, auf der Stelle.“

„Wohin soll ich ihn fahren, Sir?“ fragte Wilkins demütig.

„Fahre ihn zum Teufel.“

„Sehr wohl, Sir“, antwortete Wilkins.

„Halt!“

Wilkins hielt.

„Fahre ihn“, sagte der Kapitän, „fahre ihn in den Pfandstall. Wollen mal sehen, ob er sich immer noch Knickebein nennt, wenn er zu sich kommt. Er soll mich nicht zum Narren halten; nein, er soll mich nicht zum Narren halten. Fahr ihn weg.“

Auf diesen diktatorischen Befehl wurde also Mr. Pickwick weggefahren, und der große Kapitän Boldwig setzte voll Zorn seinen Spaziergang fort. Unbeschreiblich war das Erstaunen der kleinen Jagdgesellschaft, als sie bei ihrer Rückkehr fand, daß Mr. Pickwick samt dem Schubkarren verschwunden war. Es war das rätselhafteste, unerklärlichste Ereignis, von dem man jemals gehört hatte. Wenn sich ein Lahmer ohne weiteres auf die Beine gemacht und das Weite gesucht hätte, so würde dies schon ein außerordentliches Begebnis gewesen sein, aber wenn noch dazu das Verschwinden eines schweren Karrens die Sache komplizierte, so verlängerte das das Phänomen sozusagen bis ins Metaphysische. Sie durchsuchten jeden Winkel im ganzen Umkreis, sowohl miteinander als auch einzeln, schrien, pfiffen, lachten, riefen – alles mit gleich schlechtem Erfolg; Mr. Pickwick war spurlos verschwunden, und nach einigen Stunden fruchtlosen Suchens gelangte man zu dem unerfreulichen Schluß, daß man ohne ihn nach Hause zurückkehren müßte.

Mittlerweile war Mr. Pickwick nach dem Pfandstall gefahren und dort samt Vehikel eingestellt worden. Zur unermeßlichen Freude und Belustigung nicht nur für alle Jungen des Dorfes, sondern für drei Viertel der Bevölkerung, die sich ringsum versammelt hatten, um sein Erwachen abzuwarten, schlief er noch immer auf seinem Schubkarren. Hatte es den Leuten schon hohen Genuß gewährt, ihn hereinführen zu sehen, wieviel größer erst war ihr Entzücken, als er sich nach einigen schlaftrunknen Rufen nach Sam in dem Schubkarren halb erhob und mit unbeschreiblichem Erstaunen umherblickte.

Natürlich wurde sein Erwachen mit allgemeinem Geschrei begrüßt, und seine unwillkürliche Frage: „Was gibt’s?“ veranlaßte einen zweiten Jubelsturm, der womöglich noch lauter war als der erste.

„Das is ein Mordsspaß“, johlte der Pöbel.

„Wo bin ich?“ rief Mr. Pickwick.

„Im Pfandstall“, höhnte die Menge.

„Wie bin ich denn hierhergekommen? Weshalb denn? Wer hat mich hergebracht?“

„Boldwig – Kapitän Boldwig“, war die einzige Antwort.

„Laßt midi hinaus“, rief Mr. Pickwick. „Wo ist mein Diener? Wo sind meine Freunde?“

Erst kam eine Rübe geflogen, dann eine Kartoffel, ein Ei und andre kleine greifbare Beweise der Volkslaune.

Wie lange dieser Auftritt gedauert oder wieviel. Mr. Pickwick noch zu leiden gehabt haben würde, läßt sich nicht annähernd bestimmen, wäre nicht plötzlich ein Wagen angefahren, dem der alte Wardle und Sam Weller entstiegen, von denen der erstere in kürzerer Zeit, als man es lesen, geschweige denn schreiben kann, an Mr. Pickwicks Seite trat und ihm im selben Augenblick in den Wagen half, als letzterer mit dem Amtsbüttel einen kurzen entscheidenden Boxgang erfolggekrönt zu Ende geführt hatte.

„Holt die Polizei“, schrie ein Dutzend Stimmen.

„Jaja, aber nur recht schnell“, sagte Mr. Weller und schwang sich auf den Bock. „Mein Kompliment – Mr. Wellers Kompliment – an den Amtmann, und ich laß ihm sagen, ich hab ihm seinen Büttel lahmgedroschen, und wenn er noch einen hat, komm ich morgen wieder und werd mir ’n auch ausborgen! Fahr zu, Kutscher!“

„Ich werde augenblicklich in London eine Klageschrift gegen diesen Kapitän Boldwig wegen grundloser Verhaftung einreichen“, sagte Mr. Pickwick, als die Kutsche aus dem Marktflecken draußen war.

„Wir haben uns leider eine Überschreitung der Grenzen zuschulden kommen lassen“, gab Wardle zu bedenken.

„Mir vollständig gleichgültig“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich strenge die Klage an.“

„Das lassen Sie wohl besser bleiben“, meinte Wardle.

„Warum denn?“

„Weil“, antwortete der alte Wardle, vor Lachen beinahe berstend, „weil man den Spieß umdrehen und sagen könnte, wir hätten zuviel kalten Punsch getrunken.“

Mr. Pickwicks Mienen verzogen sich zu einem Lächeln, er mochte sich sträuben, wie er wollte; das Lächeln wurde‘ zum Lachen, das Lachen zum Wiehern, das Wiehern wurde allgemein, und um sich die gute Laune zu erhalten, stiegen die Herren am ersten Wirtshaus an der Straße ab und befahlen eine Runde Grog und ein Glas noch extra für Mr. Samuel Weller.

Zwanzigstes Kapitel


Zwanzigstes Kapitel

Zeigt, was für tüchtige Geschäftsleute Dodson und Fogg sind und wie gut sich ihre Schreiber unterhalten. Ein rührendes Wiedersehen zwischen Mr. Weller und seinem Vater und eine Schilderung, welch auserlesene Geister in der „Elster“ zusammenkommen.

In einem schmutzigen Hause am entferntesten Ende von Freemans Court Cornhill saßen in einem Vorderzimmer zu ebener Erde die vier Schreiber der Herren Dodson und Fogg, zweier Anwälte Seiner Majestät bei den Gerichtshöfen von Kings Bench und Common Pleas zu Westminster und Prokuratoren beim Oberkanzleigericht.

Das Büro der Herren Dodson und Fogg war ein dunkles, dumpfes, muffiges Zimmer mit einer Nebenabteilung, die die Schreiber durch eine hohe spanische „Wand vor den Blicken der Klienten verbarg, ein paar alten hölzernen Stühlen, einer sehr laut tickenden Uhr, einem Kalender, einem Regenschirmständer, einer Reihe von hölzernen Hutnägeln, einigen Wandbrettern, worauf verschiedene schmutzige Aktenfaszikel lagen, mehreren alten hölzernen Schubkästen mit Aufschriften und allerlei steinernen‘ Tintenkrugruinen von verschiedener Gestalt und Größe. Eine Glastür führte in das Vorzimmer der Kanzlei, und auf der andern Seite dieser Glastür zeigte sich am nächsten Freitagmorgen nach dem eben berichteten Ereignis Mr. Pickwick, gefolgt von Mr. Weller.

„Könnt ihr nicht reinkommen?“ rief eine Stimme aus dem Verschlag auf Mr. Pickwicks schüchternes Klopfen.

„Ist Mr. Dodson oder Mr. Fogg zu Hause?“ fragte Mr. Pickwick bescheiden und näherte sich mit dem Hut in der Hand dem Verschlage.

„Mr. Dodson ist nicht zu Hause und Mr. Fogg hat dringende Geschäfte“, antwortete die Stimme, und zugleich sah der dazugehörige Kopf, mit einer Feder hinter dem Ohr, über die spanische Wand nach Mr. Pickwick hinüber.

Es war ein unförmiger Kopf; das fuchsrote Haar, sorgfältig nach der einen Seite gescheitelt und mit Pomade angeklebt, umrahmte in kleinen halbkreisförmigen Locken ein glattes, mit kleinen Äuglein geziertes und von einem schmutzigen Hemdkragen und einer schwarzen, strickartigen Halsbinde abgeschloßnes Gesicht.

„Mr. Dodson ist nicht zu Hause, und Mr. Fogg hat dringende Geschäfte“, sagte der Mann, dem der Kopf angehörte.

„Wann wird Mr. Dodson zurückkommen, Sir?“ fragte Mr. Pickwick.

„Kann’s nicht sagen.“

„Wird Mr. Fogg lange beschäftigt sein, Sir?“

„Weiß nicht.“

Mit großer Sorgfalt begann der Mann seine Feder zu schneiden, während ein andrer Schreiber, sich ein Seidlitzpulver mischend, hinter seinem Pultdeckel beifällig lachte.

„So will ich warten“, sagte Mr. Pickwick.

Da keine Antwort erfolgte, setzte er sich unaufgefordert und lauschte auf die laut tickende Uhr und auf die halblaut geführte Unterhaltung der Schreiber.

„Das war ein Spaß, was?“ sagte einer der Herren in einem braunen Rock mit Messingknöpfen und tintenfarbenen Tuchhosen am Schluß einer unverständlich leisen Erzählung seiner Abenteuer vom verfloßnen Abend.

„Mordsmäßig“, sagte der Seidlitzpulvermann.

„Tom Cummins hatte den Vorsitz“, fuhr der Schreiber mit dem braunen Rock fort. „Es war halb fünf Uhr, als ich nach Somers Town kam, und ich hatte einen Derartigen weg, daß ich das Schlüsselloch nicht finden konnte und die Alte herausklopfen mußte. Möchte nur wissen, was der alte Fogg sagen würde, wenn er das erführe. Ich glaube, ich bekäme meine vierzehn Tage.“

Die humoristische Bemerkung wurde allgemein belacht.

„Mit Fogg war’s diesen Morgen wieder mal ein Riesen-Jux“, sagte der Mann in dem braunen Rock, „während Jack oben die Akten sortierte und ihr beide auf dem Stempelamt wart. Fogg war hier und las gerade die Korrespondenz durch, da kam der Kerl aus Camberwell herein, den wir verklagt haben … „Wie heißt er doch schnell?“

„Ramsey“, antwortete der Schreiber, der mit Mr. Pickwick gesprochen hatte.

„Ja, richtig, Ramsey. Ein komischer Kerl mit seinem Hungerleidergesicht. ,Nun, Sir‘, sagte der alte Fogg mit einem grimmigen Blick‘ – Ihr wißt doch, wie er ist – ,nun, Sir, Sie kommen wohl, um die Sache zu begleichen?‘ – Ja, Sir‘, sagte Ramsey und griff in die Tasche, ,die Schuld macht zwei Pfund zehn Schilling und die Kosten drei Pfund fünf Schilling; da ist es.‘ – Er ächzte wie eine Wetterfahne, als er das Geld aus seinem Löschpapier herauswickelte. Der Alte sah zuerst auf das Geld, dann auf ihn und räusperte sich trocken, daß ich gleich merkte, wo er hinauswollte. ,Sie wissen vermutlich nicht, daß wir eine Deklaration eingereicht haben, wodurch sich die Kosten bedeutend erhöhen?‘ sagte er. – ,Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Sir‘, sagte Ramsey und fuhr vor Schreck zusammen, ,die Zeit ist doch erst gestern abend abgelaufen, Sir.‘ – .Natürlich ist es mein Ernst‘, erwiderte Fogg, ,mein Schreiber hat sie soeben eingereicht. Mr. Wicks, ist nicht Mr. Jackson mit der Deklaration, in Sachen Bullman kontra Ramsey, bereits fort?‘ Natürlicherweise sagte ich ja, und dann hustete Fogg wieder. ,Mein Gott‘, sagte Ramsey, ,und ich habe mich beinahe zu Tode gemartert, um das Geld zusammenzukratzen und rechtzeitig abzuzahlen, und jetzt soll alles umsonst sein?‘ – ,Keineswegs‘, versetzte Fogg kaltblütig. ,Sie brauchen nur wieder umzukehren, etwas mehr aufzutreiben und es zur rechten Zeit zu bringen.‘ – ,Aber, bei Gott, es ist mir unmöglich‘, sagte Ramsey und schlug mit der Faust auf den Tisch. – .Beleidigen Sie mich nicht, Sir‘, schrie der Alte und spielte sich auf den Zornigen. – ,Ich beleidige Sie doch nicht, Sir‘, entschuldigte sich Ramsey. – ,Sie entfernen sich auf der Stelle, Sir‘, sagte Fogg, ,und kommen erst wieder, Sir, wenn Sie sich zu betragen gelernt haben.‘ Ramsey wollte noch etwas erwidern, aber der Alte ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er steckte daher sein Geld in die Tasche und schlich hinaus. Die Tür war kaum zu, da wandte sich der alte Fogg mit einem süßen Lächeln zu mir und zog die Deklaration aus seiner Rocktasche. ,Wicks‘, sagte er, .nehmen Sie eine Droschke, fahren Sie so schnell wie möglich ins Eingabeprotokoll und geben Sie das ab. Die Kosten stehen ganz sicher, denn er ist ein zuverlässiger Mann mit einer großen Familie und einem wöchentlichen Einkommen von fünfundzwanzig Schilling. Wenn’s schließlich zum Verhaftsbefehl kommt, wird ihn sein Prinzipal schon auslösen. Abzwacken, wo’s nur geht, Mr. Wicks, das ist Christenpflicht. Bei seiner großen Familie und seinem schmalen Einkommen kann ihm eine solche Lektion nur eine heilsame Warnung sein, und er wird sich das Schuldenmachen abgewöhnen; was meinen Sie, Mr. Wicks?‘ – Und er lächelte beim Hinausgehen so gutmütig, daß es eine Lust war, ihn anzusehen. Er ist wirklich ein vortrefflicher Geschäftsmann“, fügte Wicks im Tone der höchsten Bewunderung hinzu.

„Nette Bande das, Sir“, flüsterte Mr. Weller seinem Herrn zu. „Haben kuriose Begriffe von ’nem Spaß, Sir.“

Mr. Pickwick nickte bekümmert und hustete laut, um die Aufmerksamkeit der jungen Gentlemen hinter dem Verschlag auf sich zu lenken, die sich daraufhin endlich herabließen, Notiz zu nehmen.

„Ob Fogg wohl jetzt zu sprechen ist?“ sagte Jackson. „Was meinst du?“

„Will nachsehen“, erwiderte Wicks und stand gemächlich von seinem Stuhl auf. „Wen soll ich Mr. Fogg melden?“

„Pickwick“, antwortete der Gelehrte.

Mr. Jackson ging die Treppe hinauf, kehrte gleich darauf mit der Meldung zurück, Mr. Fogg würde in fünf Minuten für Mr. Pickwick zu sprechen sein, und setzte sich wieder hinter sein Pult.

„Wie, sagte er, heißt er?“ flüsterte Wicks.

„Pickwick. Es ist der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick“, erwiderte Jackson, und sofort ließ sich ein Scharren und unterdrücktes Lachen hinter dem Verschlag vernehmen.

„Sie beobachten Ihnen, Sir“, flüsterte Mr. Weller.

„Sie beobachten midi, Sam?“ fragte Mr. Pickwick. „Wieso? Wer?“

Mr. Weller deutete mit dem Daumen über seine Schulter, und als Mr. Pickwick aufblickte, gewahrte er zu seinem Mißvergnügen, daß sämtliche Schreiber mit dem Ausdruck größter Heiterkeit über die spanische Wand herüberspähten, offenbar, um sich den Zerstörer weiblichen Seelenfriedens genauer anzusehen. Sofort fuhren die vier Köpfe zurück, und im nächsten Augenblick hörte man Schreibfedern hastig über Papier hinrauschen.

Gleich darauf ertönte die Glocke, die in der Kanzlei hing, und Mr. Jackson sagte, Mr. Fogg sei jetzt bereit, Mr. Pickwick zu empfangen. Daraufhin ging Mr. Pickwick mit dem Schreiber die Treppe hinauf und ließ Sam Weller unten. Jackson klopfte und geleitete auf das „Herein“ Mr. Pickwick ins Zimmer.

„Ist Mr. Dodson schon zurück?“ fragte Mr. Fogg.

„Soeben gekommen, Sir.“

„Sagen Sie ihm, er möchte sich heraufbemühen.“

„Ja, Sir“, antwortete Jackson und entfernte sich.

„Nehmen Sie Platz, Sir“, sagte Fogg. „Hier ist der Akt. Mein Kollege wird sogleich hier sein. Wir können dann über die Sache sprechen.“

Pickwick nahm einen Stuhl und das Dokument; aber anstatt es zu lesen, schielte er darüber weg und faßte den Advokaten näher ins Auge. Es war ein ältlicher Herr mit einem finnigen Gesicht, wie ein Vegetarier, in einem schwarzen Rock, dunkel melierten Beinkleidern und kurzen schwarzen Gamaschen, eine Art von Wesen, das mit dem Pulte, an dem es schrieb, verwachsen und ungefähr ebenso gefühlvoll zu sein schien. Nach einigen Minuten Stillschweigen erschien Mr. Dodson, ein plumper, stämmig gebauter Mann, mit einem strengen Blick und einer lauten Stimme, und die Unterhaltung nahm ihren Anfang.

„Dies ist Mr. Pickwick“, sagte Fogg.

„Aha, Sie sind der Beklagte in Sachen Bardell kontra Pickwick?“ fragte Dodson.

„So ist es, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

„Nun, Sir“, fuhr Dodson fort, „was haben Sie uns vorzuschlagen?“

„Ja“, wiederholte Fogg, steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich gemächlich in seinen Armstuhl zurück. „Was haben Sie uns vorzuschlagen, Mr. Pickwick?“

„Pst, Fogg“, sagte Dodson, „lassen Sie mich hören, was Mr. Pickwick zu sagen hat.“

„Ich komme, meine Herren“, begann Mr. Pickwick mit einem friedlichen Blick auf die beiden Partner, „ich komme, meine Herren, um Ihnen mein Erstaunen über Ihr gestriges Schreiben auszudrücken und Sie zu fragen, auf was für Gründe Sie Ihre Klage stützen?“

„Auf Gründe …“, begann Fogg, aber Mr. Dodson unterbrach ihn:

„Mr. Fogg, lassen Sie mich sprechen.“

„Bitte sehr, Mr. Dodson.“

„Was die Gründe der Klage betrifft, Sir“, fuhr Dodson abweisend und mit Würde fort, „so müssen Sie schon Ihr eignes Gewissen und Ihre eignen Gefühle befragen. Wir lassen uns lediglich durch die Angaben unsrer Klienten leiten, mögen dieselben nun wahr oder falsch, glaubwürdig oder unglaubwürdig sein. Jedenfalls muß ich Ihnen gestehen, daß ich als Geschworener unumwunden sagen würde, es könne hinsichtlich Ihres Vorgehens nur eine Ansicht herrschen.“

Mr. Dodson warf, mit der Miene eines in seinem Moral –gefühl schwer verletzten Mannes, den Kopf zurück und sah auf Fogg, der die Hände noch tiefer in seine Hosentaschen versenkte und mit weisem Kopfnicken im Brustton der Überzeugung bestätigte: „Nur eine Ansicht.“

„Die Klageschrift, Sir“, fuhr Mr. Dodson fort, „ist ordnungsgemäß abgefaßt. Mr. Fogg, wo ist das Eintragungsbuch?“

„Hier“, antwortete Fogg und reichte einen Quartband in Pergament herüber.

„Hier steht unter dem achtundzwanzigsten August achtzehnhundertunddreißig“, las Dodson laut vor, „Middlessex, Klagschrift von Marta Bardell, Witwe, gegen Samuel Pickwick. Schadenersatz, fünfzehnhundert Pfund. Dodson und Fogg für die Klägerin. Alles ganz ordnungsgemäß, Sir, vollkommen ordnungsgemäß.“

Dodson hustete und sah auf Fogg, der in sein „vollkommen ordnungsgemäß“ einstimmte.

„Ich habe Sie also dahin zu verstehen“, bemerkte Mr. Pickwick, „daß Sie auf der Klage beharren?“

„Sehr richtig.“

„Und die Entschädigung soll sich also wirklich auf fünfzehnhundert Pfund belaufen?“

„Zu dem, daß Sie uns recht verstehen“, erwiderte Dodson, „kann ich noch die Versicherung hinzufügen, daß sie sich auf den dreifachen Betrag belaufen würde, wenn sich unsre Klientin hätte von uns raten lassen.“

„Ich glaube, Mrs. Bardell hat noch ausdrücklich bemerkt“, fügte Fogg mit einem Blick auf Dodson hinzu, „sie würde von dieser Summe keinen Penny nachlassen.“

„Selbstverständlich nicht“, erwiderte Dodson ernst. Denn die Klage war eben erst eingeleitet worden, und es wäre Mr. Pickwick nicht einmal gestattet worden, sich gleich anfangs zu vergleichen, selbst wenn er Lust dazu gehabt hätte.

„Da Sie keine Vorschläge machen, Sir“, setzte Dodson hinzu, Mr. Pickwick ein Dokument hinhaltend, „so tue ich wohl am besten, Ihnen eine Abschrift der Klage zu überreichen.“

„Also gut, meine Herren“, sagte Mr. Pickwick und stand voll Ingrimm auf. „Das „Weitere werden Sie von meinem Rechtsanwalt hören.“ „Es wird uns ein Vergnügen sein“, erwiderte Fogg, sich die Hände reibend.

„Ein außerordentliches“, bestätigte Dodson und öffnete die Tür.

„Und ehe ich gehe, meine Herren“, bemerkte Mr. Pickwick und drehte sich an der Treppe noch einmal empört um, „erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß von allen schändlichen und schuftigen Machinationen …“

„Einen Augenblick, Sir, einen Augenblick“, unterbrach ihn Mr. Dodson mit großer Höflichkeit. „Mr. Jackson – Mr. Wicks …“

Die beiden Schreiber erschienen sofort am Fuß der Treppe.

„Ich möchte nur, daß Sie mit anhören, was dieser Herr sagt“, rief ihnen Dodson hinunter. „Bitte, fahren Sie fort, Sir. ,Schändliche und niederträchtige Machinationen‘ haben Sie, glaube ich, gesagt?“

„Jawohl“, antwortete Mr. Pickwick wutentbrannt. „Ich habe gesagt, Sir, daß von allen schändlichen und schuftigen Machinationen, die jemals ausgeheckt wurden, diese die schuftigste ist. Und ich wiederhole es, Sir.“

„Sie haben es gehört, Mr. Wicks?“ rief Dodson.

„Vergessen Sie den Wortlaut nicht, Mr. Jackson!“ sagte Fogg.

„Vielleicht beliebt es Ihnen, uns auch noch Betrüger zu nennen, Sir?“ fragte Dodson. „Bitte, Sir, tun Sie sich keinen Zwang an.“

„Ich tue es auch nicht“, sagte Mr. Pickwick. „Ja, Sie sind Betrüger.“

„Sehr schön“, versetzte Dodson. „Sie können doch unten alles hören, Mr. Wicks?“

„Gewiß, Sir“, antwortete Mr. Wicks.

„Kommen Sie lieber ein paar Stufen weiter herauf, wenn Sie es nicht verstehen“, fügte Mr. Fogg hinzu.

„Fahren Sie fort, Sir, fahren Sie fort. Nennen Sie uns auch noch Diebe, Sir! Oder belieben vielleicht, einen von uns tätlich zu insultieren? Bitte, nur zu, Sir! Wir werden nicht den geringsten Widerstand leisten. Bitte, nur zu!“

Da sich Fogg verführerischerweise in das Bereich von Mr. Pickwicks geballter Faust begab, so ist kaum daran zu zweifeln, daß seiner nachdrücklichen Bitte willfahrt worden wäre, hätte sich nicht Sam, der von Anfang an Zeuge des Streites gewesen, ins Mittel gelegt, indem er schnell aus der Schreibstube die Treppe heraufrannte und seinen Herrn beim Arm ergriff.

„Gleich kommen Sie mit fort“, sagte er. „Katz und Maus ’s ’n hübsches Spiel, wenn nich Sie die Maus und zwei Rechtsgelehrte die Katzen sin, in welchem Falle es erhitzend is, aber nich lustig. Kommen Sie mit, Sir. Wenn Sie schon jemand durchbleuen müssen, dann kommen Sie raus auf den Hof und nehmen Sie mir vor; ’s is weniger kostspielig.“

Und ohne das geringste Zeremoniell zog Mr. Weller seinen Herrn die Treppe hinunter über den Hof hinweg, und nachdem er ihn sicher bis nach Cornhill gebracht hatte, trat er hinter ihn, bereit, ihm zu folgen, wohin es auch sei.

Mr. Pickwick ging zerstreut weiter, bis „r dem Rathaus gegenüber stand, und wandte dann seine Schritte Cheapside zu. Sam war bereits neugierig, wohin es jetzt gehen sollte, als sich sein Herr mit den Worten umwandte: „Sam, ich muß sogleich zu Mr. Perker.“

„Da hätten Sie gestern abend schon hingehen sollen, Sir“, versetzte Mr. Weller.

„Ich glaube das auch“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Und ich weiß es“, erwiderte Mr. Weller.

„Ich hätte nur vorher gern noch ein Glas Brandy mit Wasser getrunken, um mich zu beruhigen. Wo kann man hier wohl eins bekommen, Sam?“

Mr. Wellers Lokalkenntnisse in London waren unbegrenzt, speziell in dieser Hinsicht. Er antwortete, ohne sich im geringsten besinnen zu müssen:

„Zweiter Hof rechts, das vorletzte Haus gleich hier auf dieser Seite. Setzen Sie sich in die Box neben dem Kamin, weil da nämlich das Tischbein nich in der Mitte von der Tischplatte is, wie bei die andern; das is nämlich störend.“

Mr. Pickwick hielt sich genau an seines Dieners Angaben und trat, von diesem gefolgt, in die bezeichnete Schenke, wo ihm der warme Grog alsbald vorgesetzt wurde, während sich Mr. Weller in respektvoller Entfernung, wiewohl an demselben Tisch, niederließ und sich eine Pinte Porter bringen ließ.

Das Zimmer war recht gewöhnlicher Art und wurde augenscheinlich mit Vorliebe von Droschkenkutschern frequentiert. Verschiedne Gentlemen dieses Standes tranken und rauchten an den verschiednen Wandtischen. Unter ihnen fiel besonders ein stämmiger ältlicher Herr mit einem roten Gesicht auf und erregte Mr. Pickwicks Aufmerksamkeit. Er saß am gegenüberstehenden Wandtisch und rauchte mit großer Vehemenz; aber jedesmal nach einem halben Dutzend Zügen nahm er seine Pfeife aus dem Mund, sah abwechselnd Mr. Weller und Mr. Pickwick an und begrub dann in einem Maßkrug so viel von seinem Gesicht, als die Dimensionen des Gefäßes zu fassen vermochten, um dann abermals seine Blicke auf Sam und Mr. Pickwick zu richten und Wolken aus seiner Pfeife zu blasen. Endlich legte er seine Beine auf die Bank, lehnte sich rückwärts an die Wand, paffte dabei rastlos und ließ die beiden überhaupt nicht mehr aus den Augen.

Anfangs war das Benehmen des stämmigen Gentlemans der Beobachtung Mr. Wellers entgangen; als ihm jedoch auffiel, daß sich Mr. Pickwicks Brille immer von neuem nach dieser Richtung wandte, folgte er seinen Blicken und legte sofort die Hand über die Augen, als ob ihm der erblickte Gegenstand auffalle und er sich nur noch seiner Identität versichern wolle. Seine Zweifel waren jedoch im Augenblick behoben, denn nachdem der stämmige Gentleman wieder eine dichte Rauchwolke von sich geblasen hatte, kam eine rauhe Stimme, befremdlich wie die Töne eines Bauchredners, hinter dem großen Tuch heraus, das seinen Hals verhüllte, und langsam quollen die Worte hervor: „Hei, Sammy!“

„Wer ist das, Sam?“ fragte Mr. Pickwick.

„Hei, na das hätt ich nicht gedacht, Sir“, antwortete Mr. Weller mit erstaunten Augen. „Das ist doch der Alte.“

„Der Alte?“ sagte Mr. Pickwick. „Was für ein Alter?“

„Mein Vater, Sir“, erwiderte Mr. Weller. „Wie geht’s dir, mein gutes altes Stück?“ Nach diesem rührenden Erguß kindlicher Zärtlichkeit machte Mr. Weller neben sich Platz, und der stämmige Mann kam, mit der Pfeife im Mund und dem Krug in der Hand, herüber, um ihn zu begrüßen.

„Na, Sammy“, sagte der Vater, „da hab ich dich doch, warte mal, das sind ja schon zwei Jahre und mehr, nich gesehen.“

„Noch viel länger hast du das nich, alte Haut“, antwortete der Sohn. „Wie geht’s der Stiefmutter?“

„Ach, ich will dir mal was sagen, Sammy“, sagte Mr. Weller senior mit sehr feierlicher Miene, „da gab’s keine niedlichere Frau, ich meine so als Witwe; ich bin nämlich ihr Erlebnis. Sammy, sie war eine süße Krabbe; aber jetzt kann ich von ihr bloß sagen, wo sie doch so eine ungewöhnlich nette Witwe war, da ist es jammerschade, daß sie ihren Zustand verändert hat. Sie benimmt sich nicht wie ein Eheweib, Sammy.“ „Macht sie nicht?“ fragte Mr. Weller junior.

Der ältere Mr. Weller schüttelte sein Haupt und antwortete mit einem Seufzer: „Ich hab einmal zu oft geheiratet, ich hab’s einmal zu oft getan. Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater, mein Junge, und sei furchtbar vorsichtig mit Witwen; das ganze Leben lang; besonders wenn sie ein Wirtshaus gehabt haben, Sammy.“

Nachdem Mr. Weller senior seinem Sohne diesen väterlichen Rat mit großem Pathos erteilt hatte, stopfte er sich eine neue Pfeife aus einer zinnernen Tabaksdose, die er in der Tasche bei sich trug, und begann wieder wie ein Schlot zu rauchen.

„Verzeihung, Sir“, sagte er, auf sein Thema zurückkommend, nach einer gewichtigen Pause zu Mr. Pickwick, „bin doch hoffentlich nich persönlich geworden; Sie haben doch nich womöglich auch ’n Wittweib geheiratet?“

„Nein“, erwiderte Mr. Pickwick lachend, und Sam Weller flüsterte schnell seinem Vater zu, in welchem Verhältnis er zu dem Herrn stand. „Bitte um Verzeihung, Sir“, sagte Mr. Weller senior und zog dabei den Hut, „ich hoffe doch, Sie haben, keinen Kummer mit Sammy, Sir?“

„Nicht im geringsten“, sagte Mr. Pickwick.

„Sehr erfreut, dies zu hören, Sir. Habe mir nämlich alle erdenkliche Mühe mit seiner Erziehung gegeben; ließ ihn schon als Gassenjunge rumstrolchen, wie er noch ganz klein war. Das einzige Mittel, ’nen Jungen fiffig zu machen.“

„Ist das Verfahren nicht etwas gefährlich? Ich könnte es mir jedenfalls denken“, meinte Mr. Pickwick lächelnd.

„Is auch nich immer zuverlässig“, fügte Mr. Weller junior hinzu. „Ich habe es erst in diesen Tagen wieder erfahren.“

„Was du nich sagst“, brummte sein Vater.

„Doch!“ erwiderte Sam und erzählte in kurzen Worten, wie ihn Hiob Trotter arglistig an der Nase herumgeführt hatte.

Mr. Weller senior hörte gespannt bis zu Ende zu und fragte dann:

„War nicht einer von den Kerls dürr und hoch aufgeschossen und hatte langes Haar, und die Schnauze ging immer im Galopp?“

Mr. Pickwick verstand den letzten Teil der Beschreibung nicht ganz, aber da er den ersten begriff, sagte er auf gut Glück: „Ja.“

„Und war nich der andere ’n schwarzhaariger Kerl mit ’ner maulbeerfarbenen Livree und ’nem großen Schädel?“

„Jaja, der ist es“, fielen Mr. Pickwick und Sam hastig ein.

„Dann weiß ich, wo sie sind und was mit ihnen los is. Die sind beide ganz gemütlich in Ipswich.“

„Was Sie nicht sagen!“ rief Mr. Pickwick.

„Tatsache“, erwiderte Mr. Weller, „und ich will Ihnen auch sagen, woher ich es weiß. Ich fahre dann und wann für ’nen Freund ’ne Ipswicher Droschke. Gerade an dem Tag, wo Sie sich die Nacht vorher den Reißmantüchtig geholt haben, da war ich nämlich im ,Mohrenknaben‘ in Chelmsford, und die beiden auch, und von da habe ich sie schnurstracks nach Ipswich gefahren, und da wollen sie sich wohl ziemlich lange aufhalten, meinte der mit die Maulbirnen-Livree.“

„Ich muß ihnen nach“, rief Mr. Pickwick. „Wir können Ipswich genausogut besuchen wie jeden anderen Ort. Ich muß ihm unbedingt nach.“ „Sag mal, irrst du dich auch nich, Gouverneur?“ fragte Mr. Weller junior.

„Ach woher, Sammy, die sehen, doch ganz auffällig aus, und denn wunderte ich mich auch, daß sich der Herr mit seinem Diener so gemein machte, und denn hörte ich auch noch, wie sie lachten und sagten, daß sie dem alten Feuerfrosch eins ausgewischt hatten.“

„Alten … was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Alten Feuerfrosch, Sir; womit sie zweifelsohne Ihnen meinten, Sir.“

Es liegt zwar nichts Niederträchtiges oder Beschimpfendes in. der Bezeichnung „alter Feuerfrosch“, aber sie ist auch Keineswegs ausgesprochen ehrerbietig oder gar schmeichelhaft. Die Erinnerung an alle jene Widerwärtigkeiten, die Jingle verschuldet hatte, waren in Mr. Pickwick lebendig geworden, sobald Mr. Weller mit seiner Erzählung begonnen hatte: es bedurfte nur noch eines Tropfens, um das Maß überlaufen zu lassen, und der „alte Feuerfrosch“ war dieser Tropfen.

„Ich muß ihm nach“, rief Mr. Pickwick und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Ich werde so wie übermorgen vom ,Ochsen‘ in Whitechapel aus nach Ipswich runtergondeln“, sagte Mr. Weller senior, „und wenn Sie wirklich hinwollen, fahren Sie am besten mit mir.“

„Da haben Sie recht“, sagte Mr. Pickwick. „Sehr gut; ich kann nach Bury schreiben, daß ich in Ipswich zu treffen sein werde. Wir fahren also mit Ihnen. Aber haben Sie es denn so eilig, Mr. Weller? Wollen Sie nicht noch einen Schluck trinken?“

„Sie sind sehr gütig, Sir“, antwortete Mr. Weller stockend, „so ’n Gläschen Branntwein auf Ihre Gesundheit und Sammys Glück würde vielleicht nichts schaden.“

„Sicher nicht“, versetzte Mr. Pickwick. „Ein Glas Brandy hierher!“

Das Getränk wurde gebracht, Mr. Weller schüttelte sein Haar gegen Mr. Pickwick, nickte Sam zu und stürzte das Glas in seine geräumige Kehle hinab, als wäre es nur ein Fingerhütchen voll.

„Bravo, Vater“, sagte Sam. „Aber nimm dir in acht, alter Knabe, daß dir die Gicht nich wieder besuchen kommt.“

„Ich hab ’n Universalmittel dagegen gefunden, Sammy.“

„Ein Universalmittel gegen die Gicht?“ rief Mr. Pickwick und zog hastig sein Notizbuch hervor. „Und was wäre das?“

„Die Gicht, Sir“, erklärte Mr. Weller, „die Gicht ist ’n Leiden, wo vom allzu bequemen und behaglichen Leben herrühren tut. Wenn Sie mal die Gicht kriegen, Sir, dann heiraten Sie ’n Wittweib, das „ne laute Stimme hat und sie auch zu gebrauchen versteht: Sie werden nie wieder die Gicht bekommen. Ein Kapitalrezept, Sir. Ich habe es gründlich eingenommen und garantiere Ihnen, es vertreibt jede Krankheit, wo von zu großem Wohlbehagen herrühren tut.

Nachdem Mr. Weller dieses unschätzbare Geheimnis preisgegeben hatte, sog er die letzten Tropfen aus seinem Glas, blinzelte wehmütig, seufzte tief auf und entfernte sich langsam.

„Nun, was denkst du von dem, was dein Vater sagt, Sam?“ fragte Mr. Pickwick lächelnd.

„Was ich denke, Sir?“ erwiderte Sam. „Nun, ich denke, er ist das Opfer von die Ehe, wie Blaubarts Hauskaplan mit „ner Träne des Mitleids sagte, als er ihm begrub.“

Mr. Pickwick antwortete nichts auf diesen sehr passend angebrachten Schluß, bezahlte und machte sich auf den Weg nach Grays Inn.

Als er dies entlegene Viertel erreicht hatte, war es bereits acht Uhr vorüber, und der ununterbrochene Strom von Herren in bespritzten Stiefeln, schmutzigen weißen Hüten und abgetragnen Kleidern, der zu den verschiednen Ausgängen herausquoll, sagte ihm, daß die Mehrzahl der Kanzleien für diesen Tag geschlossen sei.

Nachdem er zwei steile und schmutzige Treppen erstiegen hatte, fand er seine Ahnung erfüllt. Mr. Perkers Außentür war verschlossen und die Grabesstille, die auf Mr. Wellers wiederholtes Anklopfen folgte, verriet, daß die Schreiber Feierabend gemacht hatten.

„Das ist eine schöne Geschichte, Sam“, sagte Mr. Pickwick. „Ich hätte keine Stunde verlieren sollen, ihn aufzusuchen. Ich weiß, ich werde jetzt die ganze Nacht kein Auge schließen vor Unruhe, die Sache nicht rechtzeitig einem Manne vom Fach übergeben zu haben.“

„Hier kommt ’n altes Weib die Treppe rauf, Sir“, bemerkte Mr. Weller. „Vielleicht weiß sie, wo wir jemand finden können. Holla, Frau Gräfin, wo sind Mr. Perkers Leute?“

„Perkers Leute?“ sagte ein dürres, elend aussehendes altes Weib, oben an der Treppe stehenbleibend, um Atem zu schöpfen. „Mr. Perkers Leute sind fort, und ich will eben die Schreibstube auskehren.“

„Sind Sie Mr. Perkers Magd?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nö, Scheuerfrau“, antwortete das alte Weib.

„Hm“, sagte Mr. Pickwick halblaut zu Sam. „Es ist doch sonderbar, Sam, daß man die alten Weiber in diesem Viertel immer Scheuerfrauen nennt. Möchte doch wissen, warum eigentlich?“

„Es kommt, glaube ich, daher, daß ihnen das Scheuern auf den Tod zuwider ist.“

„Sollte mich nicht wundern“, gab Mr. Pickwick mit einem Blick auf die Alte zu, deren Äußeres sowohl wie der Zustand der Schreibstube, die sie jetzt geöffnet hatte, einen tief eingewurzelten Widerwillen gegen die Anwendung von Seife und Wasser verrieten. „Wissen Sie vielleicht, wo ich Mr. Perker finden kann?“

„Nö, weiß nicht“, antwortete die Alte mürrisch. „Er is verreist.“

„Das ist mißlich“, meinte Mr. Pickwick. „Können Sie mir nicht sagen, wo sein Schreiber ist?“

„O ja. Weiß schon, wo er is, aber ’s wird ihm gar nicht passen, wenn ich’s Ihnen sag.“

„Es ist etwas sehr Wichtiges“, fuhr Mr. Pickwick fort.

„Hat’s nicht Zeit bis morgen früh?“

„Nicht gut.“

„Na, wenn’s gar so was Besonderes is“, brummte die Alte, „will ich Ihnen sagen, wo er is. Hoffentlich krieg ich’s nicht. Wenn Sie jetzt grade in die ,Elster‘ gehen und in der Bar nach Mr. Lowten fragen, können S‘ ’n finden. So heißt der Schreiber von Mr. Perker.“

Nachdem Mr. Pickwick sich noch darüber hatte belehren lassen, das fragliche Gasthaus stehe in einem Hofe und habe den doppelten Vorteil, in der Nähe von Clare Market zu liegen und an die Rückseite von New-Inn zu stoßen, kletterte er mit Sam glücklich die gefährliche Treppe wieder hinunter und suchte die „Elster“ auf.

Diese beliebte Schenke, den Bacchanalien Mr. Lowtens und Konsorten geweiht, war, was gewöhnliche Leute mit dem Namen Schanklokal bezeichnet haben würden. Der Wirt war ein Mann, der sich aufs Geldmachen verstand, was sich durch den Umstand, daß ein Verschlag unter dem Schenkzimmerfenster, an Gestalt und Größe einer Sänfte nicht unähnlich, an einen Schuhflicker vermietet war, hinlänglich verriet; daß er zugleich auch Philanthrop war, ging aus dem Schütze hervor, den er einem Pastetenbäcker angedeihen ließ, der seine Leckerbissen ungestört an der Türschwelle verkaufen durfte. Hinter den niederen Fenstern, die mit Vorhängen von Safranfarbe geziert waren, staken zwei bis drei gedruckte Anpreisungen von Devonshire-Apfelwein und Danziger Sprossenbier, während eine große schwarze Tafel mit weißen Buchstaben einem verehrlichen Publikum anzeigte, daß 500000 Fässer Doppelbräu in den Kellern des Etablissements lägen, wobei sie den Geist in einer kitzelnden Ungewißheit hinsichtlich der Richtung ließ, nach der sich diese ungeheuren Gewölbe ins Innere der Erde erstrecken möchten. Fügt man noch hinzu, daß ein verwittertes Schild das halbblinde Konterfei einer Elster darstellte, die eine krumme Linie von brauner Farbe aufmerksam betrachtete, ein Gekleckse, das man den Nachbarn von Jugend auf als einen Baumstumpf bezeichnet hatte, so ist alles Erwähnenswerte über das Äußere des Gebäudes gesagt.

Als sich Mr. Pickwick vor dem Schenkverschlag blicken ließ, tauchte eine ältliche Frau hinter einem Wandschirm auf und vertrat ihm den Weg. „Ist Mr. Lowten hier, Ma’am?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja, Sir. – Charley, führe den Herrn zu Mr. Lowten.“

„Der Herr kann jetzt nicht hinein“, erwiderte ein schlenkriger Pikkolo mit einem roten Kopf. „Mr. Lowten singt eben was Komisches, und es könnt ihn rausbringen, ’s wird gleich aus sein, Sir.“

Ein allgemeines Hämmern auf. die Tische und ein lebhaftes Klingeln der Gläser kündigten im selben Augenblick an, daß der Gesang soeben beendigt worden war.

Mr. Pickwick überließ es Sam, es sich im Schenkzimmer gütlich zu tun, und wurde zu Mr. Lowten geführt.

Auf die Ankündigung: „Es will Sie jemand sprechen, Sir“, richtete ein junger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, der den Stuhl am oberen Ende der Tafel innehatte, seine Blicke erstaunt nach der Richtung, aus der die Stimme kam, und sein Erstaunen schien sich keineswegs zu vermindern, als seine Augen auf einer Person haftenblieben, die er nie zuvor gesehen hatte.

„Ich bitte um Entschuldigung, Sir“, begann Mr. Pickwick, „und auch der andern Herren wegen tut es mir leid, daß ich störe, aber ich komme in einer sehr dringenden Angelegenheit, und wenn Sie mir in einer Ecke dieses Zimmers fünf Minuten lang Gehör schenken wollten, würden Sie mich sehr verbinden.“

Der junge Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht stand auf, zog einen Stuhl in einen dunklen Winkel zu Mr. Pickwick und lauschte aufmerksam auf dessen Leidensgeschichte.

„Ja“, sagte er, als Mr. Pickwick geendet hatte. „Dodson und Fogg – scharfe Praktiker das. – Vortreffliche Geschäftsleute, Dodson und Fogg, Sir. Perker ist verreist und wird vor Ende der nächsten Woche nicht zurückkommen. Aber wenn Sie eine Replik wünschen und mir die Abschrift der Klage mitteilen wollen, so kann ich alle Schritte einleiten, die bis zu seiner Rückkunft nötig sind.“

„Eben deswegen bin ich hier“, sagte Mr. Pickwick und händigte Mr. Lowten sein Dokument ein. „Wenn etwas Besonderes vorfallen sollte, so können Sie mir nach Ipswich schreiben.“

„Sehr wohl“, erwiderte Mr. Perkers Schreiber und fügte, da er Mr. Pickwick neugierige Blicke nach dem Tisch hinüberwerfen sah, hinzu: „Wollen Sie sich nicht ein halbes Stündchen zu uns setzen, Sir? Wir haben heute abend eine exquisite Gesellschaft beisammen. Dort den Sekretär von Samkins und Greens und Smithers und Prices Substituten, der Erste Schreiber von Pimkins und Tomas – singt großartig – und Jack Bamber und noch viele andre. Sie kommen vermutlich vom Lande. Wollen Sie nicht mithalten?“

Mr. Pickwick konnte einer so verlockenden Gelegenheit, die menschliche Natur zu studieren, unmöglich widerstehen. Er ließ sich der Gesellschaft in aller Form vorstellen, erhielt den Ehrenplatz neben dem Präsidenten angewiesen und bestellte sich ein Glas von seinem Lieblingsgetränk.

Ganz gegen seine Erwartung trat tiefe Stille ein.

„Stört Sie doch nicht, wenn ich rauche, Sir?“ fragte endlich sein Nachbar zur Rechten, ein Gentleman in einem gestreiften Hemd mit Mosaikknöpfen, mit einer Zigarre im Mund.

„Nicht im geringsten“, erwiderte Mr. Pickwick. „Ich habe es sehr gern, wenn ich auch selbst Nichtraucher bin.“

„Letzteres kann ich von mir nicht sagen“, fiel ein andrer Herr an der gegenüberliegenden Seite des Tisches ein. „Rauchen ersetzt mir Wohnung, Speise und Trank.“

Mr. Pickwick sah den Sprecher von der Seite an und dachte: Wenn es ihm auch die weiße Wäsche ersetzen würde, wäre es noch besser.

Abermals trat eine Pause ein. Mr. Pickwick störte offenbar als Fremder mit seiner Gegenwart die Gesellschaft.

„Mr. Grundy wird uns mit einem Liedchen erfreuen“, brach der Präsident das Schweigen.

„Nein, wird er nicht“, sagte Mr. Grundy.

„Warum nicht?“ fragte Mr. Lowten.

„Weil ich nicht kann“, versetzte Mr. Grundy.

„Sagen Sie lieber, weil Sie nicht wollen.“

„Also gut, weil ich nicht will.“

Mr. Grundys so bestimmte Weigerung, die Gesellschaft zu unterhalten, veranlaßte ein abermaliges Stillschweigen.

„Will denn niemand etwas zur Unterhaltung beitragen?“ fragte der Präsident entmutigt.

„Warum tragen denn Sie selbst nichts dazu bei, Herr Präsident?“ fragte ein junger Mann mit einem Backenbart, Schielaugen und einem schmutzigen offenen Hemdkragen am untern Ende des Tisches.

„Hört, hört!“ rief der Gentleman mit den Mosaikknöpfen.

„Weil ich nur ein einziges Lied kann und es bereits gesungen habe“, erwiderte der Präsident. „Es kostet ja eine Strafrunde, wenn man an einem Abend dasselbe Lied zweimal singt.“

Gegen diese Erwiderung ließ sich nichts einwenden, und das Gespräch stockte abermals.

„Ich war heute abend“, sagte Mr. Pickwick, in der Hoffnung, ein Thema zur Sprache zu bringen, an dem sich die ganze Gesellschaft beteiligen könnte, „ich war heute abend an einem Ort, den Sie alle ohne Zweifel sehr gut kennen, den ich aber seit vielen Jahren nicht mehr besucht habe und der mir eigentlich fast fremd ist. Ich meine Grays Inn, meine Herren. Merkwürdiges Winkelwerk für eine so große Stadt wie London, diese alten Inns.“

„Bei Gott“, flüsterte der Präsident Mr. Pickwick über den Tisch zu, „Sie haben damit etwas berührt, worüber wenigstens einer von uns in einem fort sprechen könnte. Der alte Jack Bamber wird gleich damit herausrücken. Man hat ihn noch nie über etwas anderes sprechen hören, als über die Inns, und er hat fast sein ganzes Leben einsam drin gehaust, bis er halb verrückt drüber geworden ist.“

Die Person, auf die Lowten anspielte, war ein kleiner, gelber, hochschulteriger Mann, der jetzt plötzlich sein helles graues Auge mit einem forschenden, durchdringenden Blick auf Mr. Pickwick richtete. Auf seinen markanten Zügen lag beständig ein unveränderliches bitteres Lächeln, sein Kinn war auf eine lange fleischlose Hand mit Nägeln von außerordentlicher Länge gestützt, und als er jetzt den Kopf auf die Seite neigte und unter den buschigen grauen Augenbrauen hervorschaute, lauerte in seinem durchdringenden Blick ein seltsamer Ausdruck grollender Schlauheit, vor dem sich das Auge des Beschauers unwillkürlich abwandte.

So sah der Mann aus, der jetzt sein Gesicht der Gesellschaft zukehrte und, plötzlich ganz Feuer und Leben, zu erzählen begann.

Zweites Kapitel


Zweites Kapitel

Die Reise des ersten Tages und die Abenteuer des ersten Abends nebst ihren Folgen.

Eben war die pünktliche Helferin bei allem Tagewerk, die Sonne, aufgegangen und begann mit ihrem Schein den Morgen des dreizehnten Mai eintausendachthundertsiebenundzwanzig zu erhellen, als sich Mr. Samuel Pickwick gleich einer zweiten Sonne von seinem Lager erhob, das Fenster seines Schlafgemachs öffnete und auf die Welt zu seinen Füßen hinabblickte.

Goswellstreet lag unter ihm. Goswellstreet zu seiner Rechten, Goswellstreet zu seiner Linken – so weit das Auge reichte. Die andere Seite der Goswellstreet lag genau gegenüber. „Beschränkt wie der Horizont jener Philosophen“, murmelte Mr. Pickwick, „die sich damit begnügen, die Dinge zu untersuchen, die vor ihnen liegen, ohne sich um die Wahrheiten zu kümmern, die dahinter liegen. Genausogut könnte ich mich damit zufriedengeben, immer nur Goswellstreet zu begaffen, ohne mir die Mühe zu machen, die Gebiete zu ergründen, von denen sie rings umgeben ist.“ Nach‘ dieser bewundernswerten Reflexion schlüpfte Mr. Pickwick in seine Kleider und packte zusätzliche Garderobe in seinen Mantelsack. Große Männer sind hinsichtlich ihres äußeren selten wählerisch. Die Tätigkeit des Rasierens, Ankleidens und Kaffeetrinkens war bald beendet, und eine Stunde später langte Mr. Pickwick, mit dem Mantelsack in der Hand, seinem Fernrohr in der Tasche des Überrocks und seinem Notizbuch in der „Westentasche – also bereit zur Aufnahme aller merkwürdigen Entdeckungen –, bei Saint Martin le Grand an, wo die Droschken stehen.

„Fuhrwerk!“ rief Mr. Pickwick.

„Genau richtig, mein Herr!“ brüllte ein Prachtstück von Kerl in einer sackleinenen Jacke, mit einer gleichartigen Schürze und einem numerierten Messingschild um den Hals ausgestattet, als wäre er einer Raritätensammlung entsprungen. Es war ein sogenannter Schlepper. „Genau richtig, mein Herr! Na los, erste Droschke ran!“ Gleich wurde die „erste Droschke“ aus dem Wirtshaus gezerrt, wo sie gerade ihre Morgenpfeife geraucht hatte, und Mr. Pickwick nebst Mantelsack im Wagen verstaut.

„Golden Groß“, befahl Mr. Pickwick.

„Wieder bloß ’n Schietkram, Tommy“, rief der Kutscher verdrießlich seinem Freund, dem Schlepper, zu, der ihm diesen Kunden zugewiesen hatte, und trieb sein Pferd an.

„Wie alt ist. dieses Tier, mein Freund?“ fragte Mr. Pickwick und rieb sich mit dem Schilling, den er als Fahrgeld bereit hielt, die Nase.

„Zweiundvierzig“, entgegnete der Kutscher mit einem forschenden Blick auf seinen Passagier.

„Was?“ rief Mr. Pickwick und langte nach seinem Notizbuch.

Der Kutscher wiederholte seine Behauptung. Mr. Pickwick sah ihm scharf ins Gesicht, aber der Mann zuckte nicht mit der Wimper; daher notierte er unverzüglich das Faktum.

„Und wie lange halten Sie es eingespannt?“ forschte Mr. Pickwick weiter, um genauere Auskünfte zu erhalten.

„Zwei bis drei Wochen“, erwiderte der Mann.

„Wochen?“ sagte Mr. Pickwick erstaunt und griff wieder nach seinem Notizbuch.

„Es hat seinen Stall in Pentonwil“, bemerkte der Kutscher kaltblütig, „aber ich nehme es selten mit nach Hause, von wegen die Schwäche.“

„Wegen seiner Schwäche?“ wiederholte verblüfft Mr. Pickwick.

„Es fällt immer um, wenn’s aus dem Geschirr kommt“, fuhr der Kutscher fort, „aber wenn’s drin ist, so richtig festgewürgt, und ich halt die Zügel stramm, da kann’s ja nicht umkippen. Ich habe auch ’n paar mächtig breite Räder; sobald der Gaul sich rührt, laufen sie ihm nach, und vorwärts muß er, da hilft ihm alles nichts.“

Mr, Pickwick trug diese äußerung wörtlich in sein Taschenbuch ein, in der Absicht, die Tatsache als ein einzigartiges Beispiel für die Zähigkeit der Pferde, selbst unter den kümmerlichsten Lebensverhältnissen, dem Klub mitzuteilen. Die Eintragung war kaum beendet, da waren sie auch schon in Golden Groß. Der Kutscher sprang vom Bock und half Mr. Pickwick heraus; Mr. Tupman, Mr. Snodgraß und Mr. Winkle, die bereits sehnsüchtig auf ihren berühmten Meister gewartet hatten, umdrängten ihn bei der Begrüßung.

„Hier ist Ihr Fahrgeld“, sagte Mr. Pickwick und reichte dem Kutscher den Schilling; aber wie erstaunt war der Gelehrte, als dieser unberechenbare Mensch die Münze auf das Straßenpflaster warf und in blumigen Redewendungen um das Vergnügen bat, mit Mr. Pickwick um diesen Betrag boxen zu dürfen.

„Sie sind wohl toll?“ rief Mr. Snodgraß.

„Oder betrunken!“ meinte Mr. Winkle.

„Oder beides!“ sagte Mr. Tupman.

„Ran hier!“ rief der Droschkenkutscher und fuchtelte mit den Fäusten wie ein Uhrwerk. „Ran hier – alle vier Mann!“

„Das gibt ’n Fez!“ schrie ein halbes Dutzend Mietkutscher. „Nimm sie in die Mache, Sam!“ Und schon drängten sie sich vergnügt um die Gesellschaft.

„Was für ’n Skandal ist hier los, Sam?“ fragte ein Gentleman in schwarzen Kalikoärmeln.

„Skandal?“ wiederholte der Kutscher, „zu was braucht er meine Nummer?“

„Ich habe Sie ja gar nicht nach Ihrer Nummer gefragt“, sagte Mr. Pickwick erstaunt.

„Na, zu was brauchen Sie sie denn?“ fragte der Kutscher.

„Aber ich weiß sie ja gar nicht“, antwortete Mr. Pickwick unwillig.

„Sollte man das glauben?“ sagte der Kutscher zu den Umstehenden. „Sollte man das glauben: steigt doch da so ’n Spitzel in den Wagen und schreibt sich nicht bloß die Nummer auf, sondern obendrein noch jedes Wort, das man sagt – alles in seine Kladde.“ (Mr. Pickwick ging ein Licht auf: das Notizbuch war gemeint.)

„Hat er tatsächlich?“ fragte ein anderer Kutscher.

„Klar, hat er“, antwortete der erste, „und damit er mir noch fester am Kragen hat, besorgt er sich noch drei Zeugen, von wegen Beweise und so. Aber dem will ich’s geben, und wenn ich sechs Monate dafür kriege. Los, ran hier!“ Und schon warf der Kutscher, ohne die geringste Rücksicht auf sein Privateigentum, seinen Hut auf die Erde, schlug Mr. Pickwick die Brille aus dem Gesicht und ließ diesem Angriff sofort einen Schlag gegen Mr. Pickwicks Nase und einen weiteren gegen dessen Brust folgen. Ein dritter traf Mr. Snodgraß‘ Auge und ein vierter zur Abwechslung Mr. Tupmans Weste. Dann tanzte der Kutscher auf der Straße herum, kam wieder auf den Bürgersteig zurück und beraubte Mr. Winkle durch einen harten Schlag gegen den Bauch völlig des Atems. All das geschah in kaum einem halben Dutzend Sekunden.

„Wo ist die Polizei?“ rief Mr. Snodgraß.

„Zerrt ihn unter die Pumpe!“ riet ein Pastetenverkäufer.

„Das sollen Sie mir büßen!“ keuchte Mr. Pickwick.

„Spitzel!“ brüllte die Menge.

„Ran hier!“ schrie der Droschkenkutscher, der während der ganzen Zeit ununterbrochen seine Boxübungen fortgesetzt hatte.

Die Menge hatte bisher untätig dagestanden und die Szene verfolgt; als sich aber die Kunde verbreitete, die Pickwickier sollten Spitzel sein, da begannen die Leute mit beachtlicher Lebhaftigkeit den Vorschlag des Pastetenverkäufers auf seine Zweckmäßigkeit zu erörtern, und man kann nicht ahnen, zu welchen Tätlichkeiten es noch gekommen wäre, wenn nicht ein neuer Ankömmling sich eingemischt und das Geplänkel überraschend beendet hätte.

„Was ist das hier für ’n Fez?“ fragte ein langer, schmächtiger junger Mann in einem grünen Rock, der ganz plötzlich aufgetaucht war.

„Spitzel!“ brüllte die Menge abermals.

„Wir sind keine“, ächzte Mr. Pickwick in einem Ton, der jeden Unbefangenen sofort überzeugen mußte.

„Wirklich nicht? Tatsache? Wirklich nicht?“ fragte der junge Mann Mr. Pickwick, während er sich durch wohlgezielte Stöße mit den Ellenbogen in die Gesichter der Leute Bahn brach. Der Gelehrte legte in wenigen hastigen Worten den wahren Stand der Dinge dar.

„Na, dann kommen Sie“, sagte der Grünrock, der ununterbrochen redete, und zog Mr. Pickwick mit Gewalt hinter sich her. „Da, Nummer neunhundertvierundzwanzig, nimm dein Geld und pack dich – respektabler Herr – kenne ihn gut – ist ja Blödsinn, was du sagst – hierher, mein Herr! Und wo sind Ihre Freunde? – Alles nur Mißverständnis, wie ich sehe – macht nichts – kommt schon mal vor – besten Familien – keine Lebensgefahr – Schwein muß der Mensch haben – ab dafür! – Starker Tobak – schätze die Sorte – verdammte Schurken.“ Mit solchen und ähnlichen abgebrochenen Sätzen, die er mit außerordentlicher Zungenfertigkeit heraussprudelte, führte der Fremde Mr. Pickwick und seine Jünger in die Gaststube eines Wirtshauses.

„He, Kellner!“ schrie der Fremde und läutete dabei heftig mit der Glocke, „Gläser her, Branntwein und Wasser, heiß, stark, süß, anständige Menge – Auge beschädigt, mein Herr? – Kellner! Rohes Rindfleisch für das Auge dieses Herrn! – nichts besser als rohes Rindfleisch für eine Quetschung, mein Herr; kalter Laternenpfahl auch sehr gut, aber unbequem – verdammt unbequem, halbe Stunde auf offener Straße mit Auge am Laternenpfahl stehen – äh – aber sehr gut – hahaha!“ Und ohne auch nur Atem zu holen, schluckte der Fremde auf Anhieb einen Viertelliter der dampfenden Mischung und warf sich behaglich in einen Stuhl, als wäre nichts Unangenehmes vorgefallen.

Während sich die drei Jünger in Dankesbeteuerungen gegenüber ihrem neuen Bekannten ergingen, hatte Mr. Pickwick Muße, dessen Kleidung und äußere Erscheinung genauer in Augenschein zu nehmen.

Er war von mittlerer Statur, aber die Schmächtigkeit seines Körpers und die Länge seiner Beine ließen ihn viel größer erscheinen. Sein grüner Rock mochte zu jener Zeit, als die Schwalbenschwänze Mode waren, hübsch gewesen sein; er hatte aber augenscheinlich damals einem weit kleineren Manne gehört, da die verschmierten, fadenscheinigen ärmel dem Fremden kaum bis zum Handgelenk reichten. Er war bis ans Kinn zugeknöpft; dafür drohte jedoch sichtlich die Gefahr, daß die Rückennähte platzen könnten. Eine alte Krawatte zierte seinen Hals – aber keine Spur eines Hemdkragens war vorhanden. Die knappen schwarzen Beinkleider zeigten da und dort glänzende Stellen und verrieten so, daß sie schon lange ihren Dienst leisteten. Sie waren straff über ein Paar geflickte Schuhe gezogen, um die schmutzigen weißen Strümpfe zu verbergen; aber ohne Erfolg. Sein langes schwarzes Haar quoll in ungepflegten Locken zu beiden Seiten unter einem verdellten alten Hut hervor, und hin und wieder kam das nackte Handgelenk zwischen den Enden der Handschuhe und den Aufschlägen der Rockärmel zum Vorschein. Das Gesicht war schmal und hager, aber ein unbeschreiblicher Ausdruck von zudringlicher Unverschämtheit und grenzenloser Selbstüberhebung sprach sich in der ganzen Erscheinung des Mannes aus.

So sah die Gestalt aus, die Mr. Pickwick durch seine Brille, die er glücklicherweise wiedergefunden hatte, musterte und der er sich jetzt – nachdem seine Freunde sich erschöpft hatten – mit den wärmsten und gewähltesten Dankesbeteuerungen für den soeben gewährten Beistand näherte.

„Gern geschehen“, schnitt ihm der Fremde kurz das Wort ab. „Kein Wort mehr – verdammter ‚Kerl, der Droschkenkutscher. Nimmt’s mit fünfen auf – wäre ich Ihr Freund Grünrock gewesen – hol mich dieser und jener – hätte ihm den Kopf zerdroschen – ohne Umstände – Kellner, einen Schweinsrüssel – und den Pastetenmann dazu – nein, keinen Schinken.“

Diese zusammenhängende Rede wurde durch die Meldung des Rochester Postillions unterbrochen, daß der „Kommodore“ sogleich abfahren würde.

„Kommodore?“ rief der Fremde aufspringend. „Mein Wagen – eingeschrieben – Außensitz – zahlen Sie meinen Grog – kein Kleingeld – abgegriffenes Silber – die reinsten Hosenknöpfe – geht nicht – wie?“ Dabei schüttelte er pfiffig den Kopf.

Nun hatten zufällig Mr. Pickwick und seine Begleiter ebenfalls Rochester als erstes Reiseziel festgesetzt und kamen deshalb mit ihrem neuen Bekannten überein, daß sie die Rücksitze des Wagens nehmen wollten, wo sie alle nebeneinander Platz hätten.

„Rauf mit Ihnen“, sagte der Fremde und half Mr. Pickwick mit einer Hast auf die Kutsche, die der Würde des Gelehrten beträchtlich Abbruch tat.

„Kein Gepäck, Sir?“ fragte der Kutscher.

„Wer – ich? – Da, dieses Papierpaket – weiter nichts – das andere Gepäck ist zu Wasser fort – Kisten, zugenagelt und groß wie die Häuser – schwer, schwer, verdammt schwer“, erwiderte der Fremde und zwängte sein Paket, das verdächtig danach aussah, als enthielte es nur ein Hemd und ein Sacktuch, so gut es ging, in die Tasche.

„Achtung – Köpfe“, rief er gleich darauf, als sie unter einem niedrigen Torbogen durchführen. „Schauderhafter Durchlaß – gefährliche Sache – vorgestern – fünf Kinder – Mutter – große Dame, aß Sandwiches – denkt nicht an den Bogen – Krach – Bumm – Kinder sehen sich um – Mutter ohne Kopf – Sandwich in der Hand – keinen Mund, um ihn hineinzustecken – Haupt der Familie tot – scheußliche Geschichte. Sehen Sie dort Whitehall, Sir? Schöner Ort – kleines Fenster – auch dort jemand Kopf verloren – Karl der Erste nämlich. – Nahm sich auch nicht genug in acht – was meinten Sie, Sir?“ . „Ich dachte soeben“, sagte Mr. Pickwick, „über die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge nach.“

„Ja, ja. Karl der Erste – heute zur Tür des Palastes hinein – morgen durchs Fenster hinaus, aufs Schafott. – Philosoph, Sir?“

„Hm, ja. Ein Beobachter der menschlichen Natur, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

„So? – Ich auch. – Die meisten Leute sind’s, wenn sie wenig zu tun und noch weniger zu leben haben. – Poet, Sir?“

„Mein Freund, Mr. Snodgraß, hat eine starke poetische Ader.“

„So? – Ich auch. – Episches Gedicht – zehntausend Verse – Julirevolution – an Ort und Stelle verfaßt – Mars bei Tag, Apollo bei Nacht – Kanonendonner – Geistesblitze.“

„Sie waren bei jenem glorreichen Schauspiel anwesend, Sir?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Anwesend?“ wiederholte der Grünrock. „Will’s meinen3– feuerte drauflos – Idee durch den Kopf geschossen – rasch in ein Weinhaus – schrieb sie nieder – wieder zurück – Schuß auf Schuß – eine andere Idee – abermals ins Weinhaus – Feder und Tinte – aufs neue zurück – gestochen und gehauen – großartige Zeit, Sir. – Jagdliebhaber, Sir?“ wandte er sich plötzlich an Mr. Winkle.

„Ein wenig, Sir.“

„Feiner Sport, Sir, feiner Sport. Hunde, Sir?“

„Zur Zeit nicht“, entgegnete Mr. Winkle.

„Ah, Sie sollten Hunde halten – herrliche Tiere – schlaue Geschöpfe – hatte selbst einmal einen – Hühnerhund – merkwürdiger Instinkt – gehe eines Tages auf den Anstand – trete in eine Umzäunung – pfeife – Hund wie festgenagelt – pfeife wieder – ,Ponto!‘ Rührt sich nicht. – Rufe noch mal: – ,Ponto! Ponto!‘ – Rührt sich nicht – wie festgewurzelt – stiert auf ein Brett – sehe auf und lese die Inschrift: ,Der Wildhüter hat Befehl, alle Hunde, die er im Bereich dieser Umzäunung antrifft, totzuschießen.‘ – Wundervoller Hund, unschätzbarer Hund – kolossal.“

„In der Tat, einzig in seiner Art“, sagte Mr. Pickwick „Würden Sie gestatten, daß ich mir das notiere?“

„Gewiß, Sir, gewiß. Können noch hundert Geschichten von demselben Tier haben. – Schöne Mädchen, Sir!“

„Sehr schöne“, bestätigte Mr. Tupman, der soeben einer vorübergehenden jungen Dame einige nicht eben pickwickische Blicke zugeworfen hatte.

„Englische Mädchen nicht so schön wie spanische – edle Gestalten – pechschwarzes Haar – dunkle Augen – liebliche Formen – süße Geschöpfe – bezaubernd.“

„Sie sind in Spanien gewesen, Sir?“

„Hm – lebte dort – halbes Menschenalter.“

„Viele Eroberungen gemacht, Sir?“ fragte Mr. Tupman weiter.

„Eroberungen? – Tausende. – Don Bolaro Fizzgig – Grande – einzige Tochter – Donna Christina – prachtvolles Geschöpf – verliebt in mich bis zum Wahnsinn – eifersüchtiger Vater – hochherzige Tochter – schöner Engländer – Donna Christina in Verzweiflung – Blausäure – Magenpumpe im Mantelsack – Operation glücklich durchgeführt – der alte Bolaro außer sich vor Entzücken – willigte in unsere Verbindung – Händedrücke und Tränenströme – romantische Geschichte – kolossal.“

„Ist die Dame jetzt in England, Sir?“ fragte Mr. Tupman, auf den die Schilderung der Reize Donna Christinas einen mächtigen Eindruck gemacht hatte.

„Tot, Sir, tot“, sagte der Fremde und drückte den spärlichen Überrest eines uralten Baumwollschnupftuches an sein rechtes Auge. „Nie ganz genesen, trotz der Magenpumpe – untergrabene Konstitution – Opfer geworden.“

„Und ihr Vater?“ fragte der poetische Snodgraß.

„Elend und Gewissensbisse. – Plötzlich verschwunden – Stadtgespräch – Nachforschungen überall – erfolglos – öffentlicher Brunnen auf dem Hauptplatze hört auf zu springen – Wochen vergehen – immer noch kein Wasser – Arbeiter kommen – schöpfen aus – finden meinen Schwiegervater mit dem Kopf in der Hauptröhre stecken, mit einem ausführlichen Bekenntnis in seinem rechten Stiefel – ziehen In heraus. – Brunnen springt wieder – wie früher.“

»Würden Sie mir gestatten, Sir, diesen kleinen Roman niederzuschreiben?“ fragte Mr. Snodgraß, tief ergriffen.

„Gewiß, Sir, gewiß – noch fünfzig andre, wenn Sie sie hören wollen. – Ein seltsames Leben geführt – merkwürdige Geschichte – nicht ungewöhnlich, aber höchst interessant.“

An diesem Faden spann der Fremde – nur hin und wieder ein Glas Bier einschaltend, wenn die Pferde gewechselt wurden – so lange weiter, bis sie die Rochesterbrücke erreichten; und bereits zu diesem Zeitpunkt hatten Mr. Pickwick und Mr. Snodgraß ihre Notizbücher mit ausgewählten Partien seiner Abenteuer restlos vollgeschrieben.

„Großartige Ruine!“ rief Mr. Augustus Snodgraß mit der poetischen Glut, der er seinen Dichterruhm verdankte, als sie des schönen alten Schlosses ansichtig wurden.

„Welch herrliche Gelegenheit für einen Altertumsforscher!“ ließ sich Mr. Pickwick vernehmen, als er sein Fernrohr ans Auge gebracht hatte.

„Hm, schöner Platz“, sagte der Fremde. – „Glorioses Gebäude – zürnende Mauern –wankende Bogen–dunkle Nischen – krachende Stiegen – ehrwürdiger Dom – dumpfer Geruch – alte Stufen – ausgehöhlt von den Tritten der Pilgrime – kleine sächsische Türen – Beichtstühle wie Theaterkassenlogen – wunderliche Käuze, diese Mönche – Päpste, Lordschatzmeister und alle Arten alter Burschen mit großen roten Gesichtern und abgebrochnen Nasen – alle Tage zu sehen – auch Koller von Büffelhaut – Luntengewehre – Sarkophage – herrlicher Ort – alte Legenden – wunderliche Historien – kolossal.“ – Der Fremde fuhr in diesem Selbstgespräch fort, bis sie das „Wirtshaus zum Ochsen“ in Highstreet erreichten und haltmachten.

„Bleiben Sie hier, Sir?“ fragte Mr. Nathanael Winkle.

„Hier? – Ich nicht – aber Sie werden gut daran tun – gutes Haus – famose Betten – Wrights Hotel nebenan teuer – sehr teuer – ’ne halbe Krone auf der Rechnung, wenn Sie den Kellner nur ansehen – fordern Ihnen noch mehr ab, wenn Sie zu einem Freunde essen gehen – verwünschte Kerle – toll.“

Mr. Winkle beugte sich zu Mr. Pickwick hinüber und flüsterte ihm einige Worte zu. Mr. Pickwick besprach sich leise mit Mr. Snodgraß, und Mr. Snodgraß mit Mr. Tupman. Allgemeines Einverständnis und beifälliges Kopfnicken. Dann wandte sich Mr. Pickwick zu dem Fremden.

„Sie haben uns diesen Morgen einen sehr wesentlichen Dienst geleistet, Sir. Würden Sie uns vielleicht gestatten, Ihnen einen kleinen Beweis unsrer Dankbarkeit zu liefern, indem wir Sie um die Ehre Ihrer Gesellschaft bei Tisch bitten?“

„Mit größtem Vergnügen – will natürlich nichts vorschreiben, aber Geflügel und Champignons – kapitale Sache! – Welche Zeit?“

„Sagen wir einmal …“ Mr. Pickwick zog seine Uhr zu Rate; „es ist jetzt bald drei Uhr; paßt Ihnen fünf Uhr?“

„Würde mir sehr passen“, entgegnete der Fremde. „Also präzis fünf Uhr – habe die Ehre bis dahin.“

Er lüftete seinen zerdrückten Hut einige Zoll, setzte ihn nachlässig wieder aufs Ohr und begab sich dann mit seinem Papierpaket eiligen Schrittes auf die Straße.

„Augenscheinlich ein weitgereister Mann und ein trefflicher Beobachter“, sagte Mr. Pickwick.

„Ich hätte gern sein Epos gelesen“, meinte Mr. Snodgraß.

„Und ich seinen Hund gesehen“, sagte Mr. Winkle.

Mr. Tupman sagte nichts, aber er dachte an Donna Christina, die Magenpumpe und den Springbrunnen, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

Die Herren ließen sich ein gemeinsames Wohnzimmer geben, prüften ihre Schlafzimmer, bestellten ein Mittagessen und verließen sodann den Gasthof, um sich die Stadt und ihre Umgebung anzusehen“:

Nach sorgfältiger Durchsicht der Notizen Mr. Pickwicks finden wir, daß seine Bemerkungen über die vier Städte Stroud, Rochester, Chatham und Brompton sich von denen andrer Reisenden, die gleichfalls diese Orte besucht haben, nicht wesentlich unterscheiden. Wir können daher eine allgemeine Übersicht seiner Schilderungen geben.

„Die Haupterzeugnisse dieser Städte“, sagte Mr. Pickwick, »scheinen Soldaten, Matrosen, Juden, Kreide, Garnelen, Polizeimänner und Dockarbeiter zu sein. Die Haupthandelsartikel, die man in den Straßen ausgestellt sieht, sind Seemannsartikel, Zwieback, äpfel, Seezungen und Austern. Die Straßen bieten einen sehr belebten Anblick, besonders infolge der gehobenen Stimmung des Militärs. Es ist wahrhaft entzückend für das Herz eines Philanthropen, diese Braven begeistert umhertorkeln zu sehen, besonders wenn wir in Betracht ziehen, daß es den ihnen nachziehenden Gassenjungen eine wohlfeile, unschuldige Unterhaltung und Anlaß zu Scherz und Fröhlichkeit bietet. – Nichts“, setzt Mr. Pickwick hinzu, „kommt der Gutmütigkeit eines Soldaten gleich. So wurde am Tage vor meiner Ankunft ein solcher in dem Hause eines Gastwirts gröblich beleidigt. Das Schenkmädchen weigerte sich nämlich entschieden, ihm noch weiter Branntwein zu geben, und er zog – natürlich nur im Scherze – das Bajonett und verwundete das Mädchen damit an der Schulter. Und doch war dieser brave Bursche der erste, der am nächsten Morgen wieder im Hause erschien und dadurch bewies, daß er geneigt sei, den ihm zugefügten Schimpf zu übersehen und den Vorfall zu vergessen.

Der Verbrauch von Tabak“, fährt Mr. Pickwick fort, „muß in diesen Städten sehr groß sein, wie auch sein Geruch, der die Straßen erfüllt, allen denen, die das Rauchen lieben, ungemein angenehm sein muß. Ein oberflächlicher Beobachter würde sich vielleicht über den herrschenden Schmutz beschweren; wenn man jedoch ins Auge faßt, daß dieser nur ein Beweis für den lebhaften und blühenden Handelsverkehr ist, so kann man sich natürlich nur darüber freuen.“

Punkt fünf Uhr erschien der Fremde und bald darauf das Essen. Er hatte sich seines Papierpaketes entledigt, aber sein Anzug war unverändert; auch war er womöglich noch redseliger als am Morgen.

„Was ist das?“ fragte er, als der Kellner den Deckel von einer der Schüsseln entfernte.

„Seezungen, Sir.“

„Seezungen – ah! – Kapitale Fische – kommen alle von London – Postwageneigentümer geben politische Diners – Wagen voll Seezungen – Dutzende von Körben – pfiffige Burschen. Glas Wein, Sir?“

„Bitte sehr“, sagte Mr. Pickwick.

Zuerst trank der Unbekannte mit Mr. Pickwick, dann mit Mr.Snodgraß, dann mit Mr.Tupman, dann mit Mr.Winkle und schließlich auf die Gesundheit der ganzen Gesellschaft, alles fast ebenso schnell hintereinander, wie er sprach.

„Teufelslärm auf der Treppe, Kellner“, sagte er. „Bänke hinauf – Zimmerleute herunter – Lampen, Gläser, Harfen. – Was gibt’s denn?“

„Ball, Sir“, antwortete der Kellner.

„Assemblee – wie?“

„Nein, Sir, keine Assemblee; Ball für wohltätige Zwecke, Sir.“

„Wissen Sie nicht, Sir, ob hier in der Stadt viele schöne Frauen sind?“ fragte Mr. Tupman angelegentlich.

„Prächtig – fabelhaft. Kent, Sir, Kent ist weltberühmt; äpfel, Kirschen, Hopfen und Frauen. – Glas Wein, Sir?“

„Bitte sehr.“

Der Fremde füllte und leerte sein Glas.

„Ich würde ganz gern mit dabeisein“, sagte Mr. Tupman, dem der Ball nicht aus dem Kopf ging.

„Eintrittskarten zu einer halben Guinee beim Wirt, Sir“, mischte sich der Kellner ein.

Mr. Tupman drückte wiederholt seinen Wunsch aus, der Festlichkeit beizuwohnen, machte sich aber, da er in dem umflorten Blick Mr. Snodgraß und in den in Gedanken verlorenen Mienen Mr. Pickwicks keinem Verständnis begegnete, mit großem Eifer über den Portwein und das Dessert her. Der Kellner entfernte sich, und die Gesellschaft blieb allein, um die der Mahlzeit folgenden Stunden in traulicher Unterhaltung zu verbringen.

„Sie entschuldigen, Sir“, sagte der Fremde. „Flasche ruht – muß kreisen – der Sonne gleich – bis zum letzten Tropfen – keine Restchen.“ Wieder leerte er sein Glas, das er kaum zwei Minuten zuvor gefüllt hatte, und schenkte sich mit der Miene eines an Wein gewöhnten Mannes aufs neue ein.

Die Flasche machte die Runde, und bald wurde eine neue bestellt. Der Fremde schwatzte, und die Pickwickier hörten zu. Mr. Tupman fühlte sich mit jedem Augenblick mehr geneigt, den Ball zu besuchen. Mr. Pickwicks Gesicht erglühte in einem Ausdruck alles umfassender Menschenliebe, und Mr. Winkle und Mr. Snodgraß sanken in festen Schlaf.

„Oben fangen sie bereits an“, sagte der Fremde. „Hören Sie? – Geigenklänge – jetzt die Harfe – es geht los.“ Musik tönte durch das Haus und verkündete den Beginn der ersten Quadrille.

„Ich ginge gar zu gerne“, begann Mr. Tupman abermals.

„Ich auch“, versetzte der Fremde. „Verdammtes Gepäck – langweiliges Gezottel – keinen passenden Anzug – ärgerlich, nicht wahr?“

Nun gehörte zu den Grundzügen der Pickwick-Theorie unter anderem auch allumfassendes Wohlwollen, und niemand erwies sich eifriger in der Befolgung dieses edlen Grundsatzes als Mr. Tracy Tupman. Die Zahl der in den Protokollen der Gesellschaft verzeichneten Fälle, in denen dieser vortreffliche Mann Hilfsbedürftige zu anderen Klubmitgliedern nach Geldunterstützung oder abgelegten Kleidern geschickt hat, ist fast unglaublich.

„Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen zu diesem Zwecke einen Anzug borgen zu können“, sagte er, „aber Sie sind ziemlich schlank und ich …“

„Bißchen fett – ein echter Bacchus – ohne Kranz – vom Faß gestiegen und in Tuchhosen geschlüpft. – Haha! – Geben Sie mal die Flasche rüber.“

Ob Mr. Tupman ein wenig indigniert über den befehlenden Ton war, oder ob er als eines der bedeutendsten Pickwick-Klub-Mitglieder sich durch den respektlosen Vergleich mit einem unberittenen Bacchus verletzt fühlte, ist ein Faktum, das sich heute nicht mehr mit Sicherheit ermitteln läßt. Jedenfalls reichte er die Flasche hinüber, hustete ein paarmal und sah den Fremden einige Sekunden mit finsterem Gesichte an. Als er jedoch bemerkte, daß sich dieser durch seine Blicke nicht im geringsten beirren ließ, gewannen seine Züge allmählich ihren milderen Ausdruck wieder, und er brachte aufs neue den Ball zur Sprache.

„Ich wollte bemerken, Sir“, sagte er, „daß, wenn auch mein Anzug Ihnen zu weit ist, Ihnen doch vielleicht der meines Freundes Mr. Winkle besser passen würde.“

Der Fremde maß Mr. Winkle mit den Augen, und seine Züge erglänzten von Zufriedenheit.

„Wie angegossen.“

Mr. Tupman sah sich um. Der Wein, der bereits an Mr. Snodgraß und Mr. Winkle seine schlafbringende Wirkung geübt, hatte sich auch der Sinne Mr. Pickwicks bemächtigt. Allmählich hatte der würdige Gentleman die verschiedenen Stadien durchlaufen, die der durch eine reichliche Mahlzeit veranlaßten Lethargie und ihren Folgen vorangehen, von dem Gipfelpunkt der Heiterkeit bis zu der Abgrundtiefe geistigen Elends, und wieder zurück. Wie eine Glaslampe im Freien, mit Luft in der Röhre, hatte er für einen Augenblick einen unnatürlichen Glanz verbreitet, dann war sein Licht zu einem kaum sichtbaren Flämmchen zusammengeschrumpft, das nach einer Weile für einen Moment wieder mit irrem und unsicherem Scheine aufflackerte, um schließlich ganz zu erlöschen. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken, und ein beständiges Schnarchen, gelegentlich durch einen Erstickungsanfall unterbrochen, war das einzig hörbare Anzeichen der Anwesenheit des großen Mannes.

Die Versuchung, den Ball zu besuchen und die ersten Eindrücke der Schönheit der Kenter Damen zu genießen, übte gewaltigen Einfluß auf Mr. Tupman aus, und nicht minder groß war die Versuchung, den Fremden mitzunehmen, zumal er Ort und Einwohner so gut zu kennen schien, als ob er von Kindheit auf daselbst gelebt hätte. Mr. Winkle schlief, und Mr. Tupman wußte aus Erfahrung, daß sein Freund beim Erwachen sofort schwer ins Bett sinken würde. Er schwankte noch.

„Schenken Sie sich ein und geben Sie die Flasche herüber“, mahnte der unermüdliche Gast.

„Winkle und ich schlafen zusammen. Wenn ich ihn jetzt weckte, könnte ich ihm nicht gut begreiflich machen, was ich von ihm will; aber er hat einen Abendanzug in. seinem Gepäck“, begann Mr. Tupman nach einer Weile. „Ich denke, Sie könnten ihn ganz gut auf dem Ball tragen; ich brächte ihn nachher wieder an Ort und Stelle, ohne daß er überhaupt etwas von der Sache erführe.“

„Glänzend!“ meinte der Fremde. „Famose Idee – verdammt verdrießliche Lage – vierzehn Röcke in den Kisten – und jetzt fremde Kleider anziehen müssen – sehr guter Gedanke das – gewiß.“

„Wir müssen aber jetzt unsre Eintrittskarten lösen“, sagte Mr. Tupman.

„Nicht der Mühe wert, Guinee zu halbieren. – Wollen losen, wer für beide zahlt. – Ich rate – Sie werfen. Also: – Frauenzimmer – Frauenzimmer – holdes Frauenzimmer.“

Das Goldstück fiel nieder, und der Drache, aus Galanterie Frauenzimmer genannt, kam nach oben zu liegen.

Mr. Tupman klingelte, kaufte die Karten und ließ Kerzen bringen. In einer Viertelstunde war der Fremde mit Nathanael Winkles Kleidern ausstaffiert.

„Es ist ein neuer Frack“, erklärte Mr. Tupman, als sich der Fremde mit großer Selbstgefälligkeit in einem Ankleidespiegel betrachtete. „Der erste, der mit unsern Klubknöpfen gemacht wurde.“ – Er zeigte auf die vergoldeten Knöpfe, die die Buchstaben P. K. und dazwischen Mr. Pickwicks Brustbild aufwiesen.

„P. K.?“ sagte der Fremde. – „Schnurriger Einfall – Bild des alten Knaben und P. K.? – Was bedeutet P. K.? – Seltsamer Frack – wie?“

Mr. Tupman erklärte mit steigendem Unwillen und großer Wichtigkeit die Bedeutung der geheimnisvollen Devise.

„Etwas kurz in der Taille – nicht?“ meinte der Fremde und verrenkte sich, um im Spiegel einen Blick auf die rückwärtigen Knöpfe zu erhaschen, die allerdings so ziemlich zwischen den Schulterblättern saßen. „Gerade wie eine Briefträgerjacke – wunderliche Fräcke das – statutenmäßig angefertigt – kein Maß genommen – geheimnisvolle Schickung der Vorsehung. – Alle kleinen Leute kriegen lange Röcke – alle großen kurze.“

So schwatzte der Fremde weiter, stutzte dabei seine – oder vielmehr Mr. Winkles – Garderobe zurecht und ging, von Mr. Tupman begleitet, die Treppe hinauf, die in den Ballsaal führte.

„Ihre Namen, meine Herren?“ fragte der Türsteher.

Mr. Tupman wollte vortreten, um seinen Namen und Titel anzugeben, aber der Fremde hinderte ihn daran.

„Nein. Keine Namen, ganz gute Namen – aber nicht bekannt – nicht berühmt genug – ganz famose Namen für eine kleine Reisegesellschaft, machen aber keinen Eindruck in öffentlichen Assemblees – inkognito besser – Herren aus London – distinguierte Fremde oder so.“

Die Tür wurde geöffnet: Mr. Tracy Tupman und der Fremde betraten den Ballsaal.

Es war ein langer Raum mit scharlachrot ausgeschlagnen Bänken, der durch Wachskerzen in gläsernen Wandleuchtern erhellt wurde. Für die Musik war eine erhöhte Tribüne aufgeschlagen, und die Quadrillen wurden von zwei oder drei Reihen von Tänzern gewissenhaft absolviert. Zwei Spieltische standen in einem anstoßenden Zimmer, und zweimal zwei alte Damen mit einer entsprechenden Anzahl Herren saßen beim Whist.

Die Tour war zu Ende; die Tänzer und Tänzerinnen promenierten im Saale, und Mr. Tupman pflanzte sich mit seinem Gefährten in einer Ecke auf, um die Gesellschaft zu beobachten.

„Entzückende Weiber“, meinte er.

„Warten Sie noch ein Weilchen“, sagte der Fremde. „Wird gleich lustiger. – Beste Gesellschaft fehlt noch – kurioses Nest – oberste Arsenalbeamten kennen nicht die untern – untere Arsenalbeamte nicht die niedern Patrizier – niedere Patrizier nicht die Kaufleute – Bezirkshauptmann kennt keinen Menschen.“

„Was ist das für ein junger Mensch, der dort, mit dem blonden Haar, den kleinen Augen und dem bunten Frack?“ fragte Mr. Tupman.

„Pst, bitte – kleine Augen? – Bunter Frack? – Junger Mensch? – Fähnrich im siebenundneunzigsten Regiment. Wilmot Snipe Wohlgeboren – vornehme Familie – die Snipes – sehr vornehm.“

„Sir Thomas Clubber, Lady Clubber und Fräulein Töchter!“ rief der Türsteher mit Stentorstimme.

Große Sensation: ein hochgewachsener Gentleman in blauem Frack mit blanken Knöpfen, begleitet von einer großen Dame in blauem Atlaskleid und zwei jungen Damen in sehr modernen Roben in derselben Farbe, trat in den Saal.

„Bezirkshauptmann – großes Tier – höchst bedeutender Mann“, flüsterte der Fremde Mr. Tupman ins Ohr, als der Wohltätigkeitsausschuß Sir Thomas Clubber nebst Familie nach dem obern Teil des Saales führte.

Wilmot Snipe, Wohlgeboren, nebst ändern Gentlemen der besten Gesellschaft drängten sich an die Misses Clubber heran, um ihnen ihre Huldigungen darzubringen, und Sir Thomas Clubber stand bolzengerade da und betrachtete über sein schwarzes Halstuch hinweg die versammelte Gesellschaft.

„Mr. Smithie, Mrs. Smithie und Fräulein Töchter!“ lautete die nächste Meldung des Türstehers.

„Wer ist Mr. Smithie?“ fragte Mr. Tracy Tupman.

„Irgendein Arsenalbeamter“, antwortete der Fremde.

Mr. Smithie verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor Sir Thomas Clubber, und Sir Thomas Clubber erwiderte den Gruß mit stolzer Herablassung. Lady Clubber belorgnettierte Mrs. Smithie nebst Familie, während Mrs. Smithie ihrerseits eine Mrs. Soundso anstarrte, deren Gatte nicht Arsenalbeamter war.

„Oberst Bulder nebst Frau Gemahlin und Fräulein Tochter“, waren die nächsten Ankömmlinge.

„Garnisonskommandant“, beantwortete der Fremde Mr. Tupmans fragenden Blick.

Miß Bulder wurde sehr warm von den Misses Clubber bewillkommnet, und auch zwischen der Frau Oberst und Lady Clubber fand eine über alle Beschreibung zärtliche Begrüßung statt. Oberst Bulder und Sir Thomas Clubber boten sich gegenseitig ihre Dosen an und sahen ganz wie ein Paar Robinson Crusoes aus – Alleinherrscher auf einer menschenleeren Insel.

Während die Aristokratie der Stadt – nämlich die Bulders, Clubbers und Snipes – in dieser Weise ihre Würde oben im Saal wahrte, ahmten die übrigen Klassen der Gesellschaft ihr Beispiel in den ändern Teilen nach. Die weniger noblen Offiziere des Siebenundneunzigsten widmeten sich den Familien der untergeordneten Arsenalbeamten. Die Frauen der Anwälte und Weinhändler standen an der Spitze einer dritten Kaste (die Frau des Brauers machte den Bulders einen Besuch), und Mrs. Tomlinson, die Gattin des Posthalters, schien durch stillschweigende Übereinkunft das Haupt der Frauen aus dem Handelsstande zu repräsentieren.

Eine der populärsten Personen war ein kleiner dickbäuchiger Herr mit einem in die Höhe gestrichnen Kranz von schwarzen Haaren, der eine ungeheure Glatze umgab – Dr. Slammer, Regimentsarzt beim Siebenundneunzigsten. Der Doktor schnupfte mit jedermann, lachte, tanzte, machte Witze, spielte Whist, kurz, tat alles und war überall. Aber noch viel wichtiger als dies alles nahm der kleine Doktor seine unablässigen Huldigungsakte vor einer kleinen alten Witwe, deren kostbares, mit Schmuck überladenes Kleid sie als eine äußerst wünschenswerte Zugabe zu einem magern Einkommen kennzeichnete.

„Klotzig reich – heiratslustige Alte – windbeuteliger Doktor – kein übler Gedanke – Mordsspaß.“

Mr. Tupman sah den Fremden fragend an.

„Will mit der Witwe tanzen“, sagte der Fremde.

„Wer ist sie?“ fragte Mr. Tupman.

„Weiß nicht – in meinem Leben nie gesehen – den Doktor ausstechen. – Mal sehen.“

Der Fremde ging quer durch den Saal, lehnte sich an das Kaminsims und begann, der fetten, kleinen alten Dame Blicke ehrfurchtsvoller und melancholischer Bewunderung zuzuwerfen. Mr. Tupman sah in stummem Erstaunen zu. Der Fremde machte, während der kleine Doktor mit einer ändern Dame tanzte, reißende Fortschritte. Die Witwe ließ ihren Fächer fallen; der Fremde hob ihn auf, überreichte ihn. – Ein Lächeln – eine Verbeugung – ein Knicks – einige verbindliche Worte, dann ging er keck auf den Festordner los, kehrte mit ihm zurück – eine kleine einleitende Pantomime –, und schon trat er mit Mrs. Budger in die Quadrille ein.

So groß auch Mr. Tupmans Verwunderung über dieses summarische Verfahren war, so wurde sie doch durch die des Doktors bei weitem übertroffen. Der Fremde war jung, und die Witwe fühlte sich geschmeichelt. Des Doktors Aufmerksamkeiten blieben fortan unbeachtet, und seine entrüsteten Blicke machten auf seinen unerschütterlichen Nebenbuhler nicht den geringsten Eindruck. Dr. Slammer war außer sich. Er, der Dr. Slammer, Regimentsarzt vom Siebenundneunzigsten, im Augenblick ausgelöscht von einem Menschen, den niemand zuvor gesehen und von dem man auch jetzt noch nicht wußte, wer er war! Dr. Slammer, Dr. Slammer vom Siebenundneunzigsten, verschmäht! Unmöglich! Es konnte nacht sein! Und doch war es so. Da standen sie. Was, er stellte ihr sogar seinen Freund vor? Dr. Slammer wollte seinen Augen nicht trauen. Abermals sah er hin und fühlte die schmerzliche Notwendigkeit, sich einzugestehen, daß ihn seine Sehorgane nicht betrogen. Mrs. Budger tanzte mit Mr. Tracy Tupman, da war kein Irrtum mehr möglich. Ja, es war leibhaftig die Witwe, die da mit ungewöhnlicher Leichtigkeit an ihm vorbeihüpfte, und Mr. Tracy mit der allerfeierlichsten Miene desgleichen, und sie tanzten, als sei eine Quadrille nichts Belustigendes, sondern eine Feuerprobe des Herzens, die größte Standhaftigkeit heischte.

Stumm und geduldig ertrug der Doktor all das, wie auch das darauf folgende Präsentieren von Glühwein und Konfekt nebst dem Kokettieren, das von solchen Aufmerksamkeiten untrennbar ist.

Als jedoch der Fremde verschwand, um Mrs. Budger zu ihrem Wagen zu geleiten, stürzte Dr. Slammer rasch aus dem Saal, und jedes Teilchen seines bisher eingestöpselten Grimmes brauste auf und trat ihm in großen Schweißtropfen auf die zornrote Glatze.

Der Fremde kehrte mit Mr. Tupman zurück. Er sprach leise und lachte. Der kleine Doktor dürstete nach seinem Blute. Offenbar fühlte sich sein Nebenbuhler als Sieger und frohlockte darüber!

„Sir!“ sagte der Doktor mit furchtbarer Stimme, trat in die Ecke zu seinem Gegner und zog eine Karte hervor. „Mein Name ist Slammer, Dr. Slammer, – beim siebenundneunzigsten Regiment – Chathamkaserne. – Hier meine Karte, mein Herr.“

„Ah“, entgegnete der Fremde kaltblütig, „Slammer – sehr verbunden – ungemein aufmerksam – jetzt nicht krank. – Slammer – werde im Bedarfsfall nach Ihnen schicken.“

„Sie – Sie sind ein Intrigant, mein Herr“, keuchte der Doktor wütend. „Ein Hasenfuß – eine Memme – ein Lügner – ein – ein ….. Werden Sie mir nicht endlich Ihre Karte geben, Sir?“

„Aha – starker Glühwein hier – gutmütiger Wirt – sehr töricht, sehr – Limonade viel besser – zu heiß im Saal – ältere Herren – haben dann morgen Katzenjammer – böse Sache“, sagte der Fremde und machte Miene, sich zu entfernen.

„Sie wohnen hier im Hause, Sir“, knirschte der zornige kleine Mann. „Sie sind jetzt betrunken, Sir. Sie werden morgen von mir hören, Sir. Ich werde Sie schon ausfindig machen, Sir.“

„Meinetwegen, wenn’s Ihnen Freude macht“, versetzte der unbeirrbare Fremde.

Dr. Slammer setzte mit einem Giftblick und einem zornigen Klaps seinen Hut auf, und der Fremde und Mr. Tupman gingen in das Schlafgemach, um das erborgte Gefieder wieder in den Handkoffer des nichtsahnenden Mr. Winkle zu stecken.

Der Gentleman lag in tiefem Schlaf, und so war denn die Rückerstattung bald vollzogen. Der Fremde benahm sich sehr drollig, und dem von Sherry, Glühwein, Lichtern und Damen verwirrten Mr. Tracy Tupman kam die ganze Sache als ein ausgezeichneter Spaß vor. Der neue Freund entfernte sich, und Mr. Tupman half sich, nachdem er mit einiger Mühe die ursprünglich für den Kopf berechnete öffnung seiner Nachtmütze gefunden und bei seinen Anstrengungen, dem Lichte einen passenden Platz anzuweisen, den Leuchter umgeworfen hatte, durch eine Reihe komplizierter Evolutionen in sein Bett, in dem er kurz darauf in tiefen Schlaf fiel.

Am nächsten Morgen hatte es kaum sieben ausgeschlagen, als Mr. Pickwicks reger Geist aus dem Zustand der Bewußtlosigkeit, in den der Schlummer ihn gewiegt, durch ein lautes Pochen an der Zimmertür geweckt wurde.

„Wer ist da?“ rief Mr. Pickwick, von seinem Kissen auffahrend.

„Der Hausknecht, Sir.“

„Was wollen Sie?“

„Bitte, können Sie mir nicht sagen, welcher Herr von Ihrer Gesellschaft einen blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen trägt, mit den Buchstaben P. K. drauf?“

Der Rock wird zum Ausbürsten hinausgehängt worden sein, überlegte sich Mr. Pickwick, und der Mann hat vergessen, wem er gehört. – „Mr. Winkle“, rief er laut. „Im dritten Zimmer rechts.“

„Danke, Sir“, versetzte der Hausknecht und entfernte sich.

„Was gibt’s?“ rief Mr. Tupman, als ein lautes Klopfen an seiner Tür ihn aus seiner tiefen Ruhe aufschreckte.

„Kann ich mit Mr. Winkle sprechen, Sir?“ entgegnete der Hausknecht von außen.

„Winkle! – Winkle!“ rief Mr. Tupman ins Nebenzimmer.

„Hallo?“ antwortete eine schwache Stimme unter der Bettdecke hervor.

»Jemand will Sie sprechen. An der Tür.“

Nachdem sich Mr. Tracy Tupman soweit angestrengt hatte, drehte er sich auf die andere Seite und fiel sofort wieder in tiefen Schlaf.

„Mich sprechen?“ brummte Mr. Winkle, sprang aus seinem Bett und zog in aller Eile ein paar Kleidungsstücke an. „Mich? Hier, so weit von London? Wer, um Himmels willen, kann hier etwas von mir wollen?“

„Ein Herr im Gastzimmer, Sir“, versetzte der Hausknecht, als Mr. Winkle die Tür öffnete. „Der Herr will Sie nicht lange aufhalten, doch er kann sich auf keinen Fall abweisen lassen, sagt er.“

„Höchst seltsam!“ sagte Mr. Winkle. „Nun, ich werde gleich hinunterkommen.“

Er hüllte sich rasch in einen Reiseschal, zog seinen Schlafrock an und ging die Stiege hinunter. Eine alte Frau und ein paar Kellner scheuerten das Gastzimmer. Ein Offizier in Halbuniform blickte aus dem Fenster, wandte sich dann mit einer steifen Verbeugung an den eintretenden Mr. Winkle, befahl dem Dienstpersonal, sich zu entfernen, und schloß sorgfältig die Tür.

„Mr. Winkle, wie ich vermute?“

„Das ist allerdings mein Name, Sir.“

„Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, Sir, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich Sie in der Angelegenheit eines Freundes, des Dr. Slammer, von Siebenundneunzig, besuche.“

„Dr. Slammer?“ fragte Mr. Winkle erstaunt.

„Dr. Slammer. Er bat mich, Ihnen in seinem Namen zu sagen, daß Ihr Benehmen gestern abend nicht der Art war, daß es sich ein Mann von Ehre gefallen lassen kann und wie es sich kein Mann von Ehre gegen einen ändern erlauben würde.“

Mr. Winkles Erstaunen war zu echt und zu augenfällig, tun Mr. Slammers Sekundanten zu entgehen.

„Mein Freund Dr. Slammer“, fuhr er daher fort, „ersuchte mich, hinzuzufügen, daß er fest überzeugt ist, Sie wären einen großen Teil des gestrigen Abends betrunken gewesen und wüßten daher vielleicht nichts mehr von dem Umfang der Beleidigung, die Sie sich zuschulden kommen ließen. Er trug mir deshalb auf, Ihnen zu sagen, daß er sich, wenn Sie diesen Umstand als eine Entschuldigung Ihres Benehmens geltend machen wollten, mit einer schriftlichen Abbitte, die ich Ihnen in die Feder zu diktieren hätte, begnügen

„Eine schriftliche Abbitte?“ wiederholte Mr. Winkle im Tone grenzenlosen Staunens.

„Sie wissen natürlich, welche Wahl Ihnen übrigbleibt“, versetzte der Offizier kühl.

„Wurde Ihnen dieser Auftrag wirklich für mich übergeben?“ fragte Mr. Winkle, dessen Sinne sich während dieser seltsamen Unterhaltung hoffnungslos verwirrten.

»Ich war nicht anwesend“, entgegnete der Besuch, „und infolge Ihrer entschiedenen Weigerung, Dr. Slammer Ihre Karte zu geben, hat mich besagter Herr gebeten, mir über die Identität des Besitzers eines höchst ungewöhnlichen Rockes – eines blauen Fracks mit vergoldeten Knöpfen, auf denen sich ein Brustbild und die Buchstaben P. K. befinden – Gewißheit zu verschaffen.“

Mr. Winkle wäre vor Entsetzen beinahe umgesunken, als er seinen eignen Frack so genau beschreiben hörte. Dr. Slammers Freund fuhr fort:

„Den hier im Gasthof soeben angestellten Recherchen zufolge gelangte ich zu der Überzeugung, daß der Eigentümer des fraglichen Kleidungsstückes gestern nachmittag mit drei Herren hier angekommen ist. Ich sandte sogleich zu dem Herrn, der mir als mutmaßliche Hauptperson der Gesellschaft beschrieben wurde, und dieser selbst hat mich an Sie verwiesen.“

Wenn es dem Hauptturm von Rochester-Castle plötzlich eingefallen wäre, seinen Platz zu verlassen und sich gerade dem Gasthof gegenüber aufzupflanzen, so hätte Mr. Winkle nicht überraschter sein können. Sein erster Gedanke war, sein Frack sei ihm vielleicht gestohlen worden.

„Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?“ fragte er. „Bitte sehr.“

Hastig eilte er die Treppe hinauf und öffnete mit zitternden Händen seinen Reisesack. Der Frack lag an seinem gewohnten Platz; eine genauere Besichtigung zeigte jedoch deutliche Spuren, daß er in der letzten Nacht getragen worden war.

Es muß doch seine Richtigkeit haben, sagte sich Mr. Winkle, und der Rock entglitt seinen Händen. Ich habe nach dem Essen zuviel Wein getrunken und entsinne mich dunkel, daß ich nachher auf der Straße spazierenging und eine Zigarre rauchte. Ja, ja, so muß es sein. Ich war sehr betrunken, muß mich umgekleidet – und jemand beleidigt haben. Es kann gar nicht anders sein. Und dieser Besuch ist die schreckliche Folge all dessen.

Mit diesen Worten lenkte Mr. Winkle seine Schritte wieder zum Gastzimmer zurück.

Er war zu dem düsteren und schrecklichen Entschluß gekommen, die Forderung des kampflustigen Dr. Slammer anzunehmen und somit auch das Schlimmste über sich ergehen zu lassen.

Zu dieser Entscheidung war er durch die verschiedensten Rücksichten gezwungen, unter denen sein Ruf im Klub an erster Stelle stand. Stets hatte er als hohe Autorität gegolten, wenn es sich um offensive, defensive oder inoffensive sportliche Angelegenheiten gehandelt hatte, bei denen die Gewandtheit eine Rolle spielt; wenn er nun bei dieser ersten Gelegenheit, selbst Farbe zu bekennen, vor der Prüfung zurückbebte – dazu noch unter den Augen seines Meisters –, dann war es für immer um seinen Rang geschehen. Zudem erinnerte er sich, von Leuten, die allerdings in solchen Dingen nicht recht Bescheid wußten, häufig die Vermutung gehört zu haben, daß auf Grund eines stillschweigenden Einverständnisses zwischen den Sekundanten die Pistolen nur selten mit Kugeln geladen würden, und überdies zog er noch in Erwägung, daß Mr. Snodgraß, wenn er ihn zum Sekundanten wählen und ihm die Gefahr in glühenden Farben Schildern würde, sich vielleicht in dieser Angelegenheit an Mr. Pickwick wenden könnte, der dann zweifellos keinen Augenblick zögern würde, die Ortspolizeibehörde zu informieren, um auf diese Weise die Tötung oder Verstümmelung eines seiner Jünger zu verhindern.

Das waren so seine Gedanken, als er in das Gastzimmer zurückkehrte und daselbst seine Absicht kundgab, die Herausforderung des Doktors anzunehmen.

„Wollen Sie mir einen Vertreter namhaft machen, damit ich Ort und Stunde der Zusammenkunft festsetzen kann?“ fragte der Offizier.

„Ganz unnötig“, entgegnete Mr. Winkle. „Sie können beides mir namhaft machen. Für einen Sekundanten werde ich‘ sodann schon Sorge tragen.“

„Paßt es Ihnen heute abend vor Sonnenuntergang?“ fragte der Offizier in gleichgültigem Ton.

„Sehr gut“, entgegnete Mr. Winkle – und dachte bei sich: Sehr schlimm.

„Kennen Sie das Fort Pitt?“

„Ja, ich habe es gestern gesehen.“

„Dann bitte ich Sie, sich auf dem Felde, das den Laufgraben abschließt, auf den Platz zu bemühen, wo die Schanze einen Winkel bildet, den Fußpfad linker Hand einzuschlagen, und geradeaus zu gehen, bis Sie meiner ansichtig werden. Ich werde die Herren dann zu einer geschützten Stelle führen, wo die Angelegenheit abgemacht werden kann, ohne daß wir eine Störung zu befürchten haben.“

Störung zu befürchten! dachte Mr. Winkle.

„Das wäre wohl alles, dächte ich“, sagte der Offizier.

„Ich wüßte auch nicht, was noch zu besprechen wäre“, entgegnete Mr. Winkle.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen.“

Der Offizier pfiff eine Arie und entfernte sich.

Beim Frühstück herrschte eine ziemlich trübselige Stimmung. Mr. Tupman war nach der durchschwärmten Nacht nicht in der Lage, aufzustehen, Mr. Snodgraß schien an einer poetischen Depression zu laborieren, und selbst Mr. Pickwick zeigte eine ungewöhnliche Vorliebe für Schweigen und Sodawasser. Mr. Winkle wartete ängstlich auf eine günstige Gelegenheit. Sie ließ nicht lange auf sich warten. Mr. Snodgraß machte den Vorschlag, das Kastell zu besichtigen, und da Mr. Winkle der einzige von der Gesellschaft war, der Lust zu einem Spaziergang bezeugte, gingen sie miteinander aus.

„Snodgraß“, begann Mr. Winkle, als sie die belebteren Straßen hinter sich hatten, „mein lieber Snodgraß, kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?“ Im Innersten seines Herzens dachte er: Ach, wäre es doch nicht der Fall!

„Unbedingt“, beteuerte Mr. Snodgraß. „Ich schwöre es Ihnen bei allem …“

„Nein, nein“, unterbrach ihn Mr. Winkle, erschreckt durch den Gedanken, Mr. Snodgraß könnte sich unwillkürlich durch einen Eid die Zunge binden. „Schwören Sie nicht, schwören Sie nicht; es ist ganz und gar unnötig.“

Mr. Snodgraß ließ die Hand, die er in poetischem Schwünge zu den Wolken erhoben hatte, wieder sinken und nahm die Miene gespanntester Aufmerksamkeit an.

„Ich bedarf Ihres Beistandes in einer Ehrensache, lieber Freund!“

„Mit Freuden“, versetzte Mr. Snodgraß und drückte voll Wärme die Hand Mr. Winkles.

„Mit einem Doktor, Dr. Slammer vom siebenundneunzigsten Regiment“, sagte Mr. Winkle, der die Sache so feierlich wie möglich machen wollte, „eine Ehrensache mit einem Offizier, dem ein Kamerad sekundiert, heute abend vor Sonnenuntergang, auf einem abgelegnen Feld, in der Nähe des Forts Pitt.“

„Sie können auf mich rechnen“, versicherte Mr. Snodgraß. Er war zwar erstaunt, aber keineswegs fassungslos.

Es ist wirklich kaum zu glauben, wie kaltblütig alle – außer den Beteiligten – sich in so einer Angelegenheit benehmen. Mr. Winkle hatte das nicht bedacht und die Gefühle seines Freundes nach den eignen eingeschätzt.

„Die Folgen können schrecklich sein“, gab Mr. Winkle zu bedenken.

„Hoffentlich nicht“, meinte Mr. Snodgraß.

„Der Doktor ist, glaube ich, ein sehr guter Schütze.“

„Das sind Offiziere meistens“, bemerkte Mr. Snodgraß ruhig. „Aber Sie sind’s doch auch, nicht wahr?“

Mr. Winkle bejahte und änderte, da er seinen Gefährten nicht hinreichend bestürzt sah, seine Taktik.

„Snodgraß“, sagte er, und seine Stimme bebte vor Erregung, „wenn ich falle, so werden Sie in einem Paket, das ich in Ihre Hände zu legen gedenke, einen Brief finden an – an meinen Vater.“

Auch diese Attacke schlug fehl. Mr. Snodgraß war zwar gerührt, übernahm aber die Besorgung des Schreibens so Bereitwillig wie ein Briefträger.

„Wenn ich fallen sollte“, fuhr Mr. Winkle fort, „oder wenn der Doktor fällt, so werden Sie, als bei der Sache beteiligt, vor Gericht gestellt. Schrecklich der Gedanke, meinen Freund der Gefahr der Deportation, wenn nicht noch Schlimmerem, auszusetzen!“

Mr. Snodgraß kratzte sich zwar ein wenig den Kopf, aber sein Heroismus war unerschütterlich. „Wenn es Freundespflicht gilt“, rief er begeistert, „biete ich allen Gefahren Trotz.“

Wie verwünschte Mr. Winkle in seinem Innern die aufopfernde Freundschaft seines Gefährten, als sie einige Minuten schweigend nebeneinander gingen, beide tief in Gedanken versunken.

Der Morgen entschwand, und Mr. Winkle geriet in Verzweiflung.

„Snodgraß“, sagte er, plötzlich haltmachend, „daß uns nur ja keine Störung dazwischenkommt! Sie dürfen durchaus nicht etwa eine Anzeige machen oder die Polizei anrufen, um durch meine oder die Verhaftung des Dr. Slammer vom siebenundneunzigsten Regiment, wohnhaft in der Chathamkaserne, diesem Duelle vorzubeugen. Ich sage Ihnen, tun Sie es nicht.“

Mr. Snodgraß ergriff die Hand seines Freundes mit Wärme und beteuerte enthusiastisch: „Seien Sie unbesorgt!“

Ein Schauder überlief Mr. Winkle, als er die schreckliche Überzeugung gewann, daß er von der ängstlichkeit seines Freundes nichts zu hoffen hatte und bestimmt war, das lebende Ziel einer Feuerwaffe zu werden.

Nachdem die Lage der Dinge mit allen Nebenumständen mit Mr. Snodgraß erörtert worden und in einem Kaufladen Pistolen, Pulver, Blei und Zündhütchen besorgt waren, kehrten die beiden Freunde in den Gasthof zurück; Mr. Winkle, um über das bevorstehende Duell nachzudenken, und Mr. Snodgraß, um die Waffen für den augenblicklichen Gebrauch gehörig instand zu setzen.

Es war ein trüber, unfreundlicher Abend, als sich beide auf den Weg machten. Mr. Winkle hatte sich, um der Beobachtung der Leute zu entgehen, in einen ungeheuren Mantel gehüllt, und Mr. Snodgraß trug unter dem seinen die Werkzeuge der Zerstörung.

„Haben Sie alles bei sich?“ fragte Mr. Winkle mit erstickter Stimme.

„Alles“, erwiderte Mr. Snodgraß. „Auch Munition die Fülle, wenn die ersten Schüsse resultatlos verlaufen sollten. Ein Viertelpfund Pulver in der Schachtel und zehn Zeitungen zu Pfropfen in der Tasche.“

Das waren Freundschaftsbeweise, für die sich jeder Mensch hätte ungemein verpflichtet fühlen müssen. Vermutlich waren aber Mr. Winkles Dankesgefühl zu übermächtig, um sich in Worten ausdrücken zu lassen, denn er sagte nichts und ging, wenn auch ziemlich langsam, weiter.

„Wir kommen ganz zur rechten Zeit“, bemerkte Mr. Snodgraß, als sie über die Hecke des ersten Feldes kletterten. „Die Sonne will eben untergehen.“

Mr. Winkle blickte auf den sinkenden Feuerball und dachte mit Schmerz an die Möglichkeit seines eigenen „Untergangs“, der ihm in so kurzer Frist bevorstehen konnte.

„Dort ist der Offizier!“ rief er, nachdem sie wieder einige Minuten gegangen waren.

„Wo?“

„Dort! Der Herr in dem blauen Mantel.“

Mr. Snodgraß blickte in die Richtung, die ihm der Finger seines Freundes wies, und gewahrte eine verhüllte Gestalt. Durch Winken mit der Hand gab der Offizier zu erkennen, daß er ihrer gleichfalls ansichtig geworden, und die Freunde folgten ihm in einiger Entfernung.

Der Himmel wurde mit jedem Augenblick trüber, und melancholisch heulte der Wind über die einsamen Felder, wie ein Riese, der seinem Hund pfeift. Das Düstere der Szene stimmte Mr. Winkle todestraurig. Er schauerte zusammen, als er an dem Laufgraben vorbeikam – der sah aus wie ein kolossales Grab.

Der Offizier bog plötzlich von dem Fußpfad ab, klomm über ein Pfahlwerk, stieg über eine Hecke, und sie gelangten auf ein abgeschlossenes Feld. Zwei Herren warteten bereits dort; der eine ein kleiner wohlbeleibter Mann mit schwarzem Haar, der andre eine stattliche Erscheinung in einem militärischen Überrock – mit vollkommenem Gleichmut auf einem Feldstuhl sitzend.

„Die Gegenpartei und ein Wundarzt, vermutlich“, sagte Mr. Snodgraß. „Nehmen Sie ein Tröpfchen Branntwein.“

Mr. Winkle ergriff die Feldflasche, die ihm sein Freund hinreichte, und labte sich mit einem langen Schluck an der belebenden Flüssigkeit.

„Mein Freund Mr. Snodgraß, Sir“, stellte er vor, als der Offizier herantrat.

Dr. Slammers Sekundant verbeugte sich und brachte ein ähnliches Futteral, wie Mr. Snodgraß es bei sich führte, zum Vorschein.

„Ich denke, weitere Worte sind wohl überflüssig“, begann er kaltblütig, als er den Pistolenkasten öffnete, »da eine Abbitte entschieden abgelehnt wurde.“

„Ganz Ihrer Meinung, Sir“, versetzte Mr. Snodgraß, dem es langsam schwül zumute wurde.

„Wollen Sie vielleicht die Schritte abzählen!“

„Bitte sehr“, entgegnete Mr. Snodgraß.

Die Distanz wurde abgeschritten und die weiteren Vorbereitungen getroffen.

„Sie werden diese Waffen besser als Ihre eignen finden“, sagte der Sekundant der Gegenpartei und bot seine Pistolen an. „Sie haben doch beim Laden zugesehen? Oder haben Sie vielleicht etwas gegen deren Benützung einzuwenden?“

„Nicht das mindeste“, versicherte Mr. Snodgraß. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, denn er hatte nur sehr schleierhafte Begriffe vom Laden einer Pistole.

„So können wir, denke ich, jetzt unsre Duellanten aufstellen“, bemerkte der Offizier mit einer Gleichgültigkeit, als wären die beiden Gegner Schachfiguren und die Sekundanten die Spieler.

„Ja, das können wir“, erwiderte Mr. Snodgraß, der in seiner Unerfahrenheit in solchen Dingen zu jedem Vorschlag ja gesagt haben würde.

Der Offizier verfügte sich zu Dr. Slammer, und Snodgraß trat an Mr. Winkles Seite.

„Es ist alles in Ordnung“, sagte er und händigte seinem Freunde die Pistole ein. „Geben Sie mir Ihren Mantel.“

„Sie haben doch den Brief an sich genommen, teurer Freund?“ fragte der arme Winkle.

„Alles in Ordnung. Zielen Sie ruhig und schießen Sie ihn durch die Schulter.“

Mr. Winkle kam dieser Rat sehr ähnlich vor wie ein anderer, den Zuschauer bei Straßenboxkämpfen stets und stur auch für den kleinsten Jungen übrig haben: Los, feste, hau ihn um! – Ein großartiger Rat; wenn man nur wüßte, wie man es machen soll. Dennoch legte er schweigend seinen Mantel ab – es verging eine geraume Weile, bis er damit zu Rande kam.– und nahm die Pistole entgegen. Die Sekundanten traten zurück, der Mann auf dem Feldstuhl tat ein Gleiches, und die Duellanten gingen aufeinander zu.

Mr. Winkle stand in dem Rufe außerordentlicher Menschenfreundlichkeit. Vermutlich war auch sein Wunsch, niemand absichtlich zu verletzen, die einzige Ursache, warum er, kaum an der verhängnisvollen Stelle angelangt, die äugen schloß und daher das seltsame und unerklärliche Benehmen des Dr. Slammer nicht gewahren konnte. Dieser stutzte nämlich, sah seinen Gegner an, trat zurück, rieb sich die Augen, sah wieder hin und rief endlich:

„Halt! Halt!“

„Was soll das heißen“, sagte er, als die beiden Sekundanten zu ihm eilten. „Das ist nicht der Mann.“

„Nicht der Mann?“ sagte Dr. Slammers Freund.

„Nicht der Mann?“ wiederholte Mr. Snodgraß.

„Nicht der Mann?“ rief der Gentleman mit dem Feldstuhl in der Hand.

„Bestimmt nicht“, entgegnete der kleine Doktor. „Das ist nicht die Person, die mich gestern nacht beleidigte.“

„Höchst sonderbar!“ rief der Offizier.

„Allerdings!“ sagte der Gentleman mit dem Feldstuhl mit Autoritätsmiene und nahm eine Prise. „Die Frage ist nur, ob dieser Herr, da er auf dem Kampfplatze erschien, nicht formell als das Individuum betrachtet werden muß, das gestern nacht unsern Freund Dr. Slammer beleidigte, mag es nun dieselbe Person sein oder nicht.“

Mr. Winkle hatte die Augen geöffnet und die Ohren dazu, als er seinen Gegner von Einstellung der Feindseligkeiten Sprechen hörte. Er begriff sofort, daß offenbar ein Mißverständnis vorlag und sein Ansehen ungemein steigen mußte, wenn er den wahren Grund seines Erscheinens auf dem Kampfplatz verschwieg. Er trat daher kühn vor und sprach:

„Nein, ich bin’s nicht. Ich weiß es.“

„Dann ist es eine Verhöhnung Dr. Slammers“, sagte der i^Mann mit dem Feldstuhl. „Grund genug, in der Sache fortzufahren.“

„Ich bitte, einen Augenblick, Payne“, fiel ihm der Sekundant ins Wort. „Warum haben Sie mir das nicht heute morgen mitgeteilt, Sir?“

„Ja, ja, warum nicht – warum nicht?“ wiederholte der Herr mit dem Feldstuhl unwillig.

„Ich bitte, lassen Sie mich machen, Payne“, mischte sich der Offizier ein. „Muß ich meine Frage wiederholen, Sir?“

„Weil Sie, mein Herr“, entgegnete Mr. Winkle, der inzwischen Zeit gehabt hatte, über eine passende Antwort nachzudenken, „weil Sie, mein Herr, eine betrunkene und allen Anstandes bare Person als den Träger eines Rockes bezeichneten, den ich nicht allein zu tragen, sondern sogar erfunden zu haben, die Ehre habe – der einstimmig angenommenen Uniform des Pickwick-Klubs in London, Sir. Ich fühlte mich verpflichtet, die Ehre dieser Uniform zu verfechten, und aus keinem ändern Grunde, Sir, habe ich die Forderung ohne weitere Nachforschung angenommen.“

„Mein werter Herr“, rief der gutmütige kleine Doktor und trat mit ausgestreckter Hand heran, „ich ehre Ihren ritterlichen Mut. Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen zu sagen, daß ich Ihr Benehmen höchlich bewundere und außerordentlich bedauere, Sie für nichts und wieder nichts ‚hierherbemüht zu haben.“

„Ich bitte, sprechen Sie nicht davon“, lehnte Mr. Winkle bescheiden ab.

„Ich bin stolz darauf, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Sir“, versicherte der kleine Doktor.

„Auch mir gewährt es das größte Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben“, entgegnete Mr. Winkle.

Der Doktor und Mr. Winkle reichten sich die Hände; ein Gleiches taten dann Mr. Winkle und Leutnant Tappleton, der Sekundant des Doktors, dann Mr. Winkle und der Herr mit dem Feldstuhl, und endlich Mr. Winkle und Mr. Snodgraß; letzterer ganz hingerissen von Bewunderung über das ritterliche Benehmen seines heldenmütigen Freundes.

„Ich dächte, wir könnten jetzt nach Hause gehen“, meinte Leutnant Tappleton.

„Gewiß“, erklärte der Doktor.

„Wenn nicht etwa“, fügte der Herr mit dem Feldstuhl bei, „wenn nicht etwa Mr. Winkle sich durch die Forderung beleidigt fühlt, in welchem Falle er natürlich das Recht hat, Satisfaktion zu verlangen.“

Mr. Winkle erklärte mit großer Selbstverleugnung, daß die Genugtuung, die er bereits bekommen hatte, hinreichte.

„Vielleicht fühlt sich aber der Sekundant des Gentleman durch gewisse Bemerkungen, die ich anfänglich fallenließ, verletzt“, fuhr der Herr mit dem Feldstuhl fort. „Wäre dies der Fall, so würde ich mich glücklich schätzen, ihm auf der Stelle Satisfaktion zu geben.“

Mr. Snodgraß äußerte sogleich, er wäre dem Herrn für sein liebenswürdiges Anerbieten sehr verbunden, sähe sich jedoch veranlaßt, abzulehnen, da ihn der Verlauf der Sache ungemein befriedigte. Die beiden Sekundanten schlössen ihre Waffenfutterale, und alle verließen den Kampfplatz fröhlicher, als sie gekommen waren.

„Bleiben Sie lange hier?“ fragte Dr. Slammer Mr. Winkle, als sie freundschaftlich nebeneinander gingen.

„Ich denke, wir werden übermorgen wieder abreisen.“

„Dann hoffe ich wenigstens das Vergnügen zu haben, Sie und Ihren Freund bei mir zu sehen, um gemeinsam nach diesem widerwärtigen Mißverständnis noch einen heitern Abend zu verbringen. Sie sind doch nicht für heute vergeben?“

„Wir haben noch einige Freunde hier“, wendete Mr. Winkle ein, „von denen wir uns ungern trennen möchten. Aber vielleicht besuchen Sie und Ihre Kameraden uns im ,Ochsen‘?“

„Mit größtem Vergnügen“, entgegnete der kleine Doktor. „Würde zehn Uhr zu spät sein, um noch ein halbes Stündchen bei Ihnen zu plaudern?“

„Oh, gewiß nicht. Ich werde mich glücklich schätzen, Sie meinen Freunden Mr. Pickwick und Mr. Tupman vorzustellen.“

„Wird mir eine große Ehre sein“, meinte Dr. Slammer, der sich nicht träumen ließ, wer wohl Mr. Tupman wäre.

„Wir dürfen also auf Sie zählen?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Gewiß.“

Sie hatten inzwischen die Landstraße wieder erreicht, nahmen herzlichen Abschied voneinander und trennten sich. Dr. Slammer begab sich mit seinen Freunden nach der Kaserne, und Mr. Winkle kehrte, von Mr. Snodgraß begleitet, in den Gasthof zurück.

  1. Ein beachtliches Beispiel für den prophetischen Gehalt der Imagination des Fremden: diese Unterhaltung fand im Jahre 1827 statt, die Revolution erst 1830.

Elftes Kapitel


Elftes Kapitel

Beseitigt auch den letzten Zweifel an Mr. Jingles Uneigennützigkeit.

Es gibt in London verschiedene alte Wirtshäuser, die zu der Zeit, da die Postkutschen ihre Fahrten in einer ernsteren und feierlicheren Weise als heutzutage zurücklegten, die Hauptquartiere der berühmtesten Kutschen waren, wogegen sie jetzt zu wenig mehr als zu Warte- und Einschreibelokalen für Frachtfuhrleute herabgesunken sind. In den nobleren Stadtvierteln würde man sie freilich vergebens suchen. Wer diese alten Stätten zu Gesicht bekommen will, der muß die obskuren Stadtteile aufsuchen; da wird er in entlegenen Winkeln noch einige von ihnen finden. Ihre düstere, altväterliche Fassade ist inmitten der neumodischen Umgebung unverkennbar.

Im Borough stehen noch ungefähr ein halb Dutzend solcher Häuser, die ihre äußere Form unverändert beibehalten haben und sowohl der modernen Verschönerungssucht wie den Eingriffen des Spekulationsgeistes entgangen sind. Es sind große geräumige, wunderliche alte Gebäude mit Galerien, Hausfluren und Treppen, weit und altväterlich genug, um Stoff zu hundert Gespenstergeschichten zu liefern. In dem Hofe eines dieser Wirtshäuser, das kein geringeres Schildzeichen als das des „Weißen Hirsches“ führte, war an demselben Morgen, der Mr. Pickwicks und Mr. Wardles Unglücksnacht folgte, ein Mann emsig mit dem Bürsten eines schmutzigen Stiefelpaares beschäftigt. Er trug eine grobe, gestreifte Weste mit schwarzen Kalikoärmeln und blauen Glasknöpfen, braune Kniehosen und Gamaschen. Ein hellrotes Schnupftuch war lose und ungezwungen um seinen Hals geknüpft, und ein alter weißer Hut saß nachlässig auf dem einen Ohr. Der Mann hatte zwei Reihen Stiefel – die eine gereinigt, die andre noch schmutzig – vor sich, und bei jedem Zuwachs in der gewichsten Reihe unterbrach er für einen Augenblick seine Tätigkeit, um deren Ergebnisse mit offensichtlichem Behagen zu überschauen.

Im Hof zeigte sich nichts von dem rührigen, lärmenden Treiben, das für ein Gasthaus mit großem Ausspann charakteristisch ist. Drei oder vier schwerfällige Frachtwagen – jeder mit einer Ladung bepackt, die bis zum zweiten Stock eines gewöhnlichen Hauses gereicht hätte – standen an dem einen Ende des Hofes unter Dach. Ein weiterer, der vermutlich noch an diesem Morgen abfahren sollte, war ins Freie gezogen. Der weitverzweigte Hofraum war auf zwei Seiten von der Rückfront des Gebäudes begrenzt, wo die Schlafzimmer lagen; vor ihnen liefen – entsprechend der Lage der Schlafzimmer, in einer Doppelreihe übereinander – Galerien mit alten klobigen Geländern entlang. Über der Tür, die zur Gaststube und zum Frühstückszimmer führte, hing eine Doppelreihe von Klingeln. Sie waren durch einen kleinen Dachvorsprung gegen Regen geschützt und konnten von den Schlafzimmern aus in Tätigkeit gesetzt werden. Sodann gab es da verschiedene kleinere Schuppen und Überdachungen. In ihnen waren zwei bis drei Gigs oder Karren untergekommen. Wer sich aber nach dem Stall umgesehen hätte, dem hätte nur hin und wieder der schwere Tritt eines Karrengauls oder das Klirren einer Kette verraten, daß er am entfernteren Ende des Hofes zu finden war. Wir wollen noch hinzufügen, daß einige Jungen in Arbeitskitteln auf dem schweren Gepäck, den Wollsäcken und anderen Stücken, die ringsum auf Strohhaufen umherlagen, ihre Schlafstatt gefunden hatten – und damit haben wir bereits recht genau den Anblick beschrieben, den der Hof des „Weißen Hirsches“, High Street, Borough, an diesem Morgen bot.

Eine der Klingeln fing an, laut zu scheppern, und schon zeigte sich in der oberen Schlafzimmergalerie ein schmuckes Zimmermädchen; es klopfte an eine Tür, bekam von innen einen Auftrag und rief über das Geländer:

„Sam!“

„Hallo?“ erwiderte der Mann mit dem weißen Hut.

„Nummer zweiundzwanzig will seine Stiefel.“

„Frag Nummer zweiundzwanzig, ob er sie gleich jetzt haben will oder ob er warten will, bis er sie kriegt“, war die Antwort.

„Mach doch keine Dummheiten, Sam“, entgegnete das Mädchen begütigend. „Der Herr will die Stiefel jetzt.“

„So, will er das, mein Jüngferchen? Aber ich tanze doch nicht nach deiner Pfeife“, sagte der Stiefelputzer. „Sieh mal diese Stiebel an: elf Paar, und ein unverheirateter Schuh, wo dem Stelzbeinigen Nummer sechs gehört. Die elf Paar sin bis halb neun und der Unverheiratete bis neun Uhr bestellt. Wer ist Nummer zweiundzwanzig, daß er den andern ausstechen will? Nein, nein; ’s muß allens die Reihe nach gehen, wie der Henker immer sagte, wenn er ’n heißen. Arbeitstag hatte. Tut mir leid, Sir, daß Sie warten müssen; ’s wird aber bald an Ihnen die Reihe kommen.“

Mit diesen Worten nahm der Mann mit dem weißen Hut wieder seine Arbeit auf und bürstete einen Stulpenstiefel mit erneuter Emsigkeit.

Abermals ertönte eine Klingel, und die geschäftige alte Wirtin im „Weißen Hirsch“ erschien auf der entgegengesetzten Galerie.

„Sam!“ rief sie. „Wo ist denn der faule Schlingel? Sam! Aha, da sind Sie ja. Warum geben Sie denn keine Antwort?“

„Wäre nich höflich, zu antworten, ehe Sie nich ausgesprochen haben“, entgegnete Sam grämlich.

„Da, putz geschwind diese Schuhe für Nummer siebzehn und bring sie dann in das Zimmer Nummer fünf im ersten Stock.“ Die Wirtin warf ein Paar Schuhe in den Hof und verschwand.

„Nummer fünf“, sagte Sam, hob die Schuhe auf, nahm ein Stück Kreide aus der Tasche und schrieb das Merkzeichen ihrer Bestimmung auf die Sohlen. „Damenschuhe und ein Extrazimmer? Die is wohl kaum als Frachtgut angekommen.“

„Sie is erst heute morgens gekommen“, rief das Mädchen, das noch immer auf dem Galeriegeländer lehnte. „Mit einem Herrn in einer Mietskutsche, demselben, wo jetzt seine Stiefel will. Mach doch schnell, endlich.“

„Warum hast du mir das nich gleich gesagt?“ versetzte Sam unwillig und langte die fraglichen Stiefel aus dem übrigen Haufen heraus. „Kann’s doch nich riechen, daß sie nich ’nem gewöhnlichen Dreipennyfuchser gehören? Eignes Zimmer und ’ne Dame obendrein! Wenn er so was wie ’n Schenlmän is, wirft er tagsüber ’n Schilling ab, die sonstigen Aufträge noch nich mal Inbegriffen.“

Angespornt durch diese begeisternde Aussicht, bürstete Master Samuel so emsig drauflos, daß in ein paar Minuten Stiefel und Schuhe im Strahlenglanz dastanden, worauf er sich an die Tür von Nummer fünf verfügte und klopfte.

„Herein!“ rief eine männliche Stimme.

Sam machte seinen besten Kratzfuß, als er einen Herrn und eine Dame beim Frühstück sitzen sah. Nachdem er diensteifrig die Stiefel dem Herrn und die Schuhe der Dame, rechts und links zu Füßen, niedergelegt hatte, zog er sich wieder nach der Tür zurück.

„Hausknecht.!“ sagte der Herr.

„Sir?“ versetzte Sam, die Hand auf der Klinke.

„Kennen Sie vielleicht – na, wie heißt’s doch – Doktors Commons?“

„Ja, Sir.“

„Wo ist es?“

„Pauls-Kirchhof, Sir; niederer Bogenweg gegen die Straße raus, ’n Buchladen an die eine, ’n Gasthof an die andre Ecke, und in der Mitte zwei Türsteher als Lizenzangler.“

„Lizenzangler?“ fragte der Herr.

„Lizenzangler. Zwei Kerle mit weißen Schürzen – zückendem Hute, wenn man durchgeht. ,Lizenz, Sir, Lizenz gefällig?‘ Kurioser Schlag Leute – und ihre Herren auch – Anwälte von Old Bailey, Sir, Irrtum ausgeschlossen.“

„Und was wollen sie denn?“ fragte der Herr.

„Was sie wollen? Sie, Sir! Doch nur! Und das wäre noch nicht das Schlimmste. Setzen alten Herren Dinge in ’n Kopp, wo sie sich in ihrem Leben noch nichts von haben träumen lassen. Mein Vater, Sir, ist ’n Kutscher – war Witwer – ein dicker Mann – ungemein stark. Als seine Frau starb, hinterließ sie ihm vierhundert Fund. Er geht zu den Commons, den Anwalt aufsuchen und sein Geld einstreichen, putzt sich extra aus, Stulpenstiefel, ’n Strauß ins Knopfloch, breitkrempigen Hut auf, grünes Halstuch um, ganz wie ’n Schenlmän. Geht durch den Bogenweg, denkt an nichts, als wie er sein Geld anlegen will – kommt ’n Agent auf ihn zu, greift an die Krempe: ,Lizenz, Sir, Lizenz gefällig?‘ – ,Was ist das für ein Ding?‘ fragt mein Vater. ,Lizenz, Sir, Lizenz!‘ – ,Nu, was soll’s mit der Lizenz denn?‘ fragt mein Vater. ,Heiratslizenz‘, sagt der Angler. ,Hol mich der Henker, wenn mir so was einfällt‘, sagt mein Vater. ,Ich denke, Sie könnten eine brauchen‘, sagt der Agent. Mein Vater macht halt und besinnt sich ein bißchen. ,Nö‘, sagt er, ,gehen Sie zum Kuckuck, ich bin zu alt und noch obendrein viel zu dick zu.‘ – ,1 wo denn, Sir‘, sagt der Agent, ,wir haben erst letzten Montag ’n Herrn verheiratet, wo zweimal so dick war wie Sie.‘ – ,Ist das auch wirklich wahr?‘ fragt mein Vater. ,Ganz bestimmt‘, sagt der Agent. ,Sie sind ’n Totengerippe gegen ihm; nur hier rein, Sir, hier rein!‘ Und mein Vater läuft ihm richtig nach, wie ’n zahmer Affe ’nem Leierkasten, in eine kleine Schreibstube, wo ’n Kerl unter schmutzigem Papier und Blechbüchsen sitzt und so tut, als war er mächtig beschäftigt. ,Bitte, nöhmen Sü Platz, während ich der Urkunde ausfertigen tue, Sir‘, sagt der Advokat. ,Danke, Sir‘, sagt mein Vater, setzt sich, reißt die Augen auf und stiert die Namen auf den Büchsen an. ,Wie ist Ihr Name?‘ fragt der Advokat. ,Tony Weller‘, sagt mein Vater. ,Kirchspiel?‘ fragt der Advokat. ,Belle Savage‘, sagt mein Vater – denn da pflegte er sein Fuhrwerk einzustellen. Was das mit einem Kirchspiel sollte, wußte er nich. ,Der Name von die Frauensperson?‘ fragt der Advokat. Mein Vater ist wie aus den Wolken gefallen. ,Hol mich der Henker, wenn ich’s weiß‘, sagt er. >Wie, Sie wissen’s nicht?‘ sagt der Advokat. ,So wenig wie Sie‘, sagt mein Vater. ,Kann man ihn nich nachher reinschreiben?‘ – .Unmöglich‘, sagte der Advokat.– ,Auch recht‘, sagt mein Vater, ,so schreiben Sie Mrs. Clarke.‘ – ,Was für ’ne Clarke‘, fragt der Advokat und tunkt seine Feder in die Tinte. – ,Susanna Clarke im Markis von Granby zu Dorting‘, sagt mein Vater, ,sie wird mich schon nehmen, wenn ich ihr drum ersuche; hab zwar noch nichts davon gesagt, aber ich weiß, sie nimmt mir.‘ Die Lizenz wird also ausgestellt, und sie nimmt ihn. Und was noch mehr ist: sie hat ihn jetzt und ich hab von die vierhundert Fund nich ’n einziges zu sehen gekriegt. Ich bitte um Verzeihung, Sir“, fügte Sam zum Schluß hinzu, „aber wenn ich auf diese verdrießliche Geschichte komme, da geht’s bei mir fort wie bei ’nem frischgeschmierten Karren.“

Sam harrte noch einen Augenblick, ob nichts Weiteres gewünscht werde, und verließ, als dies nicht der Fall war, das Zimmer.

„Halb zehn – gerade die rechte Zeit; brechen wir auf“, sagte der Gentleman, der selbstverständlich Mr. Jingle war. „Zeit – wofür?“ fragte die alte Jungfer kokett. „Lizenz, teuerster Engel – Meldezettel für den Geistlichen – dich mein nennen – morgen“, erklärte Mr. Jingle und drückte der Jungfrau die Hand.

„Die Lizenz! Ach!“ sagte Rachel errötend. „Die Lizenz“, wiederholte Mr. Jingle. „Die Türen auf, die Fenster auf, geschwinde, geschwinde.“

„Ach, wie du es eilig hast“, flüsterte Miß Rachel verschämt.

„Eilig? – Stunden – Tage – Wochen – Monate – Jahre sind nichts, wenn wir vereint sind. – Können dann kommen – mit Wagen – Eisenbahn – tausend Pferdekraft meinetwegen – läßt uns kalt.“

„Könnten – könnten wir nicht heute schon getraut werden?“ fragte Rachel.

„Unmöglich – kann nicht sein – Meldung an den Geistlichen – Lizenz heute – Trauung morgen.“

„Ich fürchte so, mein Bruder wird uns auffinden“, sagte Rachel.

„Auffinden? – Blech – viel zuviel durchgeschüttelt vom Wagensturz. – Übrigens außerordentliche Vorsicht – Postwagen aufgegeben – zu Fuß gegangen – Mietkutsche genommen – hier im Borough – letzter Platz in der Welt, der ihm einfiele. – Haha! – Kapitaler Einfall das – wahrhaftig.“

„Bleib nicht zu lange aus“, bat die alte Jungfer zärtlich, als Mr. Jingle seinen zerknüllten Hut auf das Haupt stülpte. „Lange wegbleiben? Von dir? Grausame Circe!“ Und Mr. Jingle hüpfte scherzhaft auf die alte Jungfer zu, drückte einen keuschen Kuß auf ihre Lippen und tänzelte aus dem Zimmer.

„Teurer Mann!“ rief Miß Rachel, als sich die Tür hinter ihm schloß.

„Verwünschte alte Schachtel!“ brummte Mr. Jingle, als er den Hausflur erreichte.

Es ist schmerzlich, Betrachtungen über die Treulosigkeit des männlichen Geschlechts anzustellen; wir unterlassen es daher, den Faden von Mr. Jingles Gedankengang weiter zu verfolgen, der ihn auf seinem Wege zu Doktors Commons beschäftigte. Für unsere Zwecke genügt es, wenn wir berichten, daß er glücklich den Schlingen der beiden Drachen mit den weißen Schürzen, die den Eingang des Zauberschlosses hüteten, entging und wohlbehalten in dem Büro des Generalvikars anlangte. Dort wurde ihm im Namen des Erzbischofs von Canterbury ein höchst schmeichelhaftes Dokument mit der Aufschrift: „Den geliebten und getreuen Alfred Jingle und Rachel Wardle unsern Gruß“, ausgefertigt. Er steckte das geheimnisvolle Pergament sorgfältig in die Tasche und kehrte triumphierend nach dem „Weißen Hirsch“ zurück. Er war noch auf dem Heimweg, als drei Herren – zwei wohlbeleibte und ein magerer – in den Hof des „Weißen Hirsches“ traten und sich daselbst umsahen, als suchten sie jemand, an den sie sich um Auskunft wenden könnten. Master Samuel Weller war eben dabei, ein Paar Stulpenstiefel blank zu reiben, die einem Pächter gehörten, der sich bei einem Imbiß von zwei bis drei Pfund kaltem Rindfleisch und etlichen Kannen Porter von der Mühsal des Marktbetriebes erholte, da trat der magere Herr auf ihn zu. „Mein Freund“, begann der magere Herr. Das ist auch einer von der Gratissorte, dachte Sam. Würde mir sonst nich seinen Freund nennen. – „Was steht zu Diensten, Sir?“ fragte er laut.

„Mein Freund“, versetzte der magere Herr mit einem einleitenden Räuspern, „logieren gegenwärtig viele Leute im Hause? Sehr geschäftig, wie ich sehe.“

Sam warf einen verstohlenen Blick auf den Frager. Es war ein kleiner, ausgetrockneter Mann mit einem dunklen, runzeligen Gesicht und kleinen, unruhigen schwarzen Augen, die zu jeder Seite der kleinen inquisitorischen Nase hervorblinzelten, als ob sie fortwährend mit diesem Teile seines Antlitzes Verstecken spielten. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug Stiefel, so glänzend wie seine Augen, eine schmale weiße Halsbinde und ein feines Hemd mit einer Halskrause. Eine goldene Uhrkette mit Petschaften taumelte aus seiner Weste heraus, und in den Händen, die er beim Sprechen mit der Miene eines geübten Examinators unter die Frackschöße steckte, hielt er ein Paar schwarze Lederhandschuhe.

„Viel zu tun, wie ich sehe?“ fragte der kleine Mann. „Na, ’s geht an, Sir“, versetzte Sam, „Wir machen nich Bankrott, werden aber auch nich Teich. Wir essen unsern Schöpsenbraten ohne Kapern und kümmern uns wenig um Meerrettich, wenn wir Ochsenfleisch kriegen können.“ „Ah“, sagte der kleine Mann, „Sie sind ein Spaßvogel, wie ich merke.“

„Mein ältester Bruder litt an dieser Krankheit“, entgegnete Sam. „Vielleicht ist sie ansteckend. Jedenfalls haben wir immer zusammen in einem Bett geschlafen.“

„Ein wunderliches altes Haus das“, sagte der kleine Mann, sich umsehend.

„Hätten Sie uns nur ein Wort geschrieben, daß Sie kommen wollten, würden wir’s haben ausbessern lassen“, versetzte Sam ruhevoll.

Der kleine Mann schien etwas verblüfft durch diese seltsamen Entgegnungen und ging sich mit seinen Freunden besprechen. Dann holte er eine Prise Schnupftabak aus einer silbernen Dose und war augenscheinlich im Begriff, seine Fragen wieder aufzunehmen, als einer der beleibten Herren, der ein höchst gutmütiges Gesicht hatte und eine Brille und ein Paar schwarze Gamaschen trug, ihm zuvorkam.

„Es handelt sich nämlich darum“, sagte der Herr mit dem gutmütigen Gesicht, „daß mein Freund hier“ – er deutete dabei auf den andern beleibten Herrn – „Ihnen eine halbe Guinee geben will, wenn Sie auf zwei oder drei Fragen genü …“

„Pardon, mein werter Herr“, unterbrach ihn der kleine Mann. „Sie gestatten. Der erste Grundsatz in der Behandlung solcher Fälle besteht darin, daß der Klient sich in keiner Weise mehr einmengt, wenn die Sache einmal einem Sachwalter übertragen ist. In der Tat, Mr…. Äh“, er wandte sich an den andern beleibten Gentleman. „Pardon, ich habe den Namen Ihres Freundes vergessen.“

„Pickwick“, sagte Mr. Wardle.

„Ah, Pickwick; richtig, Mr. Pickwick. Mein werter Herr, ich werde mich glücklich schätzen, Ihre Privatansichten als die eines amicus curiae entgegenzunehmen, aber Sie müssen einsehen, wie wenig sich Ihre Einmengung mit einem derartigen ,ad captandum‘-Argument, wie es das Anbieten einer halben Guinee ist, mit meinem Verfahren verträgt. Ja, ja, mein werter Herr, so ist es!“ Der kleine Mann begründete das logisch, indem er eine Prise Tabak nahm, und legte dann sein Gesicht in ungemein gelehrte Falten.

„Ich wollte weiter nichts“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, „als die höchst mißliebige Angelegenheit zu einem möglichst schleunigen Ende bringen.“

„Ganz recht, ganz recht“, sagte der kleine Mann.

„Und in dieser Absicht“, fuhr Mr. Pickwick fort, „machte ich Gebrauch von einem Argument, das mir meine Erfahrung als das erfolgreichste in allen Fällen bezeichnet.“

„Gewiß, gewiß“, sagte der kleine Mann. „Sehr gut, sehr gut – in der Tat. Aber Sie hätten mir dies mitteilen sollen.

Ich bin überzeugt, mein werter Herr, daß Sie über den Umfang des Vertrauens, das ein Sachwalter anzusprechen hat, nicht im unklaren sein können. Wenn über diesen Punkt eine autoritative Begründung nötig sein sollte, so möchte ich Sie auf den wohlbekannten Fall von Barnwell und …“

„Aber Sie wollten mich doch für ’ne halbe Guinee ausfragen“, fiel Sam ein. „Gut, ich bin bereit. Mehr kann man doch nich sagen, Sir. Oder ja? Und nun ist die zweite Frage, was, zum Teufel, Sie von mir wollen, wie der Mann sagte, als er den Geist sah.“

„Wir wünschen zu wissen – „, begann Mr. Wardle. „Pardon, mein werter Herr!“ fiel der geschäftige kleine Mann wieder ein.

Mr. Wardle zuckte die Achseln und schwieg. „Wir wünschen zu wissen“, nahm der kleine Mann feierlich das Wort, „und wir fragen Sie, um im Hause keine Besorgnisse zu erregen, wir wünschen zu wissen, sage ich, wer gegenwärtig hier logiert.“

„Wer hier logiert?“ wiederholte Sam nachdenklich. „Erstens mal ’n Stelzfuß in Nummer sechs, ’n Paar hessische Stiefel in Nummer dreizehn, zwei Paar Halbstiefel in siebzehn, diese gelben Stulpen in der Kammer neben dem Schenkverschlag und fünf weitere Stulpenstiefel im Gastzimmer.“ „Weiter nichts?“ fragte der kleine Mann. „Warten Sie mal“, versetzte Sam, sich plötzlich entsinnend, „’n Paar ziemlich abgetragene Wellingtonstiefel und ’n Paar Damenschuhe in Nummer fünf.“

„Was sind das für Schuhe?“ fragte Wardle hastig, den Sams wunderliche Aufzählung der Wirtshausbewohner ebensosehr wie Mr. Pickwick verwirrt hatte.

„Machwerk aus der Provinz“, entgegnete Sam. „Keine Firma drin?“

„Brown.“

„Woher?“

„Muggleton.“

„Sie sind’s!“ rief Mr. Wardle. „Beim Himmel, wir haben sie gefunden.“

„Hm!“ sagte Sam. „Die Wellingtonstiefel sind nach Doktors Commons gegangen.“

„Ho“, sagte der kleine Mann.

„Ja, er holt ’ne Lizenz.“

„Da war es aber höchste Zeit für uns“, rief Mr. Wardle. „Zeigen Sie uns das Zimmer; wir dürfen keinen Augenblick verlieren.“

„Pardon, mein werter Herr, ich bitte“, sagte der kleine Mann – „Vorsichtig, vorsichtig.“

Er zog aus seiner Tasche eine rotseidene Börse, sah Sam streng an und zückte ein Goldstück.

Sam verzog sein Gesicht zu einem ausdrucksvollen Grinsen.

„Führen Sie uns geschwind zu dem Zimmer, aber ohne uns anzumelden, und das Goldstück gehört Ihnen“, sagte der kleine Mann.

Sam warf die gelben Stulpen in eine Ecke und ging durch einen dunklen Gang und ein weites Stiegenhaus voran. Am Ende des zweiten Ganges hielt er inne und streckte seine Hand aus.

„Da haben Sie“, flüsterte der Sachwalter, als er das Geld in die Hand des Stiefelputzers legte. „Ist das hier das Zimmer?“

Sam nickte bejahend.

Mr. Wardle öffnete die Tür, und alle drei traten in demselben Augenblick ins Zimmer, als Mr. Jingle, der inzwischen zurückgekehrt war, eben der alten Jungfer die Lizenz zeigte.

Miß Rachel stieß einen lauten Schrei aus, warf sich in einen Sessel und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mr. Jingle knüllte die Lizenz zusammen und steckte sie in seine Rocktasche. Die unwillkommenen Gäste traten in die Mitte des Zimmers.

„Sie sind ein – ein netter Schurke!“ rief Mr. Wardle, atemlos vor Zorn.

„Mein werter Herr – mein werter Herr!“ ermahnte der kleine Mann und legte seinen Hut auf den Tisch. „Bitte, bedenken Sie doch, Ehrenkränkung, Entschädigungsklage. Beruhigen Sie sich, mein werter Herr, pardon …“

„Wie konnten Sie sich unterstehen, meine Schwester aus meinem Hause zu entführen?“ rief Mr. Wardle.

„Ja – ja – sehr gut“, sagte der kleine Mann. „Das können Sie fragen. Wie konnten Sie sich unterstehen, Sir? Nun, Sir?“

„Wer, zum Teufel, sind denn Sie?“ fragte Mr. Jingle mit einer Heftigkeit, daß der kleine Herr unwillkürlich einige Schritte zurückwich.

„Wer er ist, Sie Halunke?“ schrie Mr. Wardle dazwischen. „Mein Rechtsbeistand ist er, Mr. Perker von Grays Inn. Perker, ich will, daß man diesen Kerl gerichtlich verfolgt – er muß zur Rechenschaft gezogen werden – ich will – ich will – Gott verdamm mich – ich will ihn zugrunde richten, den Schuft. Und du“, fuhr Mr. Wardle, sich plötzlich an seine Schwester wendend,_ fort, „du, Rachel, was soll das heißen, daß du in einem Alter, wo du doch schon endlich klug sein könntest, mit einem Landstreicher davonläufst, Schande über deine Familie bringst und dich selber unglücklich machst? Setz deinen Hut auf und komm nach Hause! Schaffen Sie geschwind eine Mietkutsche her und bringen Sie die Rechnung dieser Dame, hören Sie? Sie!“

„Sogleich, Sir“, versetzte Sam, der auf Mr. Wardles ungestümes Klingeln mit einer Schnelligkeit erschienen war, die annehmen ließ, daß er den ganzen Vorgang durch das Schlüsselloch mit angesehen hatte.

„Setz deinen Hut auf!“ wiederholte Mr. Wardle. „Nichts da“, sagte Jingle. „Das Zimmer verlassen, Sir, nichts zu schaffen hier – Dame kann tun, was sie will – mehr als einundzwanzig Jahre.“

„Mehr als einundzwanzig?“ rief Mr. Wardle verächtlich. „Jawohl, mehr als einundvierzig.“

„Das bin ich nicht“, sagte die alte Jungfer, deren Entrüstung über den Entschluß, in Ohnmacht zu fallen die Oberhand gewann.

„Allerdings nicht“, versetzte Mr. Wardle. „In ein paar Stunden bist du fünfzig.“

Sofort stieß die Tante einen lauten Schrei des Entsetzens aus und sank besinnungslos zusammen.

„Ein Glas Wasser!“ rief der menschenfreundliche Mr. Pickwick der Wirtin zu.

„Ein Glas Wasser?“ sagte Mr. Wardle leidenschaftlich.

„Bringen Sie einen Zuber und gießen Sie ihn ihr über den Kopf. Es wird ihr guttun. Sie hat eine derartige Abkühlung reichlich verdient.“

„Pfui, Sie Unmensch!“ rief die mildherzige Wirtin. „Die Ärmste!“ Und unter freundlichem Zureden benetzte sie, von ihrem Dienstmädchen unterstützt, die Schläfen der ohnmächtigen Jungfrau mit Essig, rieb ihr die Hände, kitzelte ihr die Nase, löste ihr das Mieder und wandte die sonstigen üblichen Belebungsmittel an, mit denen mitleidige Frauen Damen beizuspringen pflegen, die sich bemühen, in Krämpfe und Ohnmachten zu fallen.

„Die Kutsche steht bereit, Sir“, meldete Sam in der Türe.

„Also los!“ rief Mr. Wardle. „Ich werde sie die Treppe hinuntertragen.“ Sofort erneuerten sich die Krämpfe mit verdoppelter Heftigkeit.

Die Wirtin war eben im Begriff, einen heftigen Protest gegen dieses Verfahren einzulegen, und hatte sich auch bereits durch die unwillige Frage, ob sich Mr. Wardle vielleicht für den Herrn der Schöpfung halte, Luft, gemacht, als Mr. Jingle sich ins Mittel legte.

„Hausknecht“, sagte er, „holen Sie mal einen Polizeibeamten.“

„Halt! Halt!“ rief der kleine Mr. Perker. „Überlegen Sie sich das, Sir, überlegen Sie sich das.“

„Habe nichts zu überlegen“, versetzte Mr. Jingle. „Sie ist großjährig – möchte sehen, wer sich untersteht, sie fortzunehmen – gegen ihren Willen.“

„Ich will nicht fort“, flüsterte die alte Jungfer. „Mit meiner Einwilligung nicht.“ (Anschließend bekam sie einen schauerlichen Rückfall.)

„Meine werten Herren“, sagte der kleine Mann leise und nahm Mr. Wardle und Mr. Pickwick heimlich beiseite. »Meine werten Herren, wir sind da in einer bösen Situation. Es ist ein äußerst schlimmer Fall; ja, ja, tatsächlich! Wir haben nämlich durchaus kein Recht, meine Herren, die Handlungsweise dieser Dame irgendwie zu gängeln. Ich habe Sie im voraus darauf aufmerksam gemacht, werter Herr, daß wir uns auf einen Vergleich gefaßt machen müßten.“

Es trat eine kurze Pause ein.

„Und welche Art von Vergleich würden Sie vorschlagen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Je nun, mein werter Herr, unser Freund ist in einer unangenehmen Lage. Wir müssen zufrieden sein, mit einem Geldopfer davonzukommen.“

„Ich will lieber alles über mich ergehen lassen, als diese Schmach geduldig hinnehmen und meine Schwester in ihrer Blindheit in ihr eigenes Unglück rennen sehen“, sagte Mr. Wardle.

„Ich glaube, es wird sich machen lassen“, entgegnete der kleine Geschäftsmann. „Mr. Jingle, wollen Sie einen Augenblick mit uns ins nächste Zimmer kommen?“

Mr. Jingle war bereit, und die vier begaben sich in eine leere Stube daneben.

„Nun, Sir“, begann der kleine Mann, nachdem er sorgfältig die Tür geschlossen hatte, „es gibt da keinen andern Weg, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen – treten Sie einen Moment hierher, Sir, hierher, ans Fenster, wir können da unter vier Augen sprechen, Sir – so, Sir, ich bitte, nehmen Sie Platz, Sir. Also, unter uns gesagt, werter Herr, es ist doch klar, daß Sie diese Dame nur um ihres Geldes willen entführt haben. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sir, runzeln Sie nicht die Stirn; wir sprechen doch unter uns, und unter dem „wir“ verstehe ich nur Sie und mich. Wir sind beide Männer von Welt und wissen recht wohl, daß dies bei unsern Freunden dort nicht der Fall ist, was?“ Mr. Jingles Gesicht heiterte sich allmählich auf, und ein Blinzeln des Einverständnisses zuckte für einen Moment um sein linkes Auge.

„Sehr gut, sehr gut“, sagte der kleine Mann, als er den Eindruck, den seine Worte gemacht hatten, gewahrte. „Nun verhält sich die Sache indessen so, daß die Dame außer ein paar hundert Pfund nur wenig oder gar nichts besitzt, bis ihre Mutter einmal stirbt, und die ist ja noch eine sehr rüstige alte Dame, mein lieber Herr …“

„Alte“, wiederholte Mr. Jingle kurz und nachdrücklich.

„Nun ja“, gab der Anwalt mit einem leichten Hüsteln zu. „Sie haben ganz recht, mein werter Herr, sie ist ziemlich alt.

Aber sie stammt aus einer alten Familie, mein werter Herr, ich meine alt im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Urahne dieser Familie kam nach Kent, als Julius Cäsar in Britannien einfiel, und seitdem ist, mit Ausnahme eines einzigen, das unter einem der Heinriche enthauptet wurde, kein. Glied dieser Familie vor dem fünfundachtzigsten Jahre gestorben. Und die alte Dame ist jetzt erst dreiundsiebenzig, mein werter Herr.“ Der kleine Mann hielt inne und nahm eine Prise Tabak.

„Nun, und?“ fragte Mr. Jingle.

„Nun, und, mein werter Herr? Darf ich Ihnen eine Prise anbieten? Nicht? Ah, um so besser. – Kostspielige Angewohnheit. Nun, mein werter Herr, Sie sind ein hübscher junger Mann. Ein Mann von Welt, könnten Ihr Glück machen, wenn Sie Vermögen hätten, wie?“

„Nun, und?“ sagte Mr. Jingle wieder.

„Verstehen Sie nicht, was ich meine?“

„Nicht ganz.“

„Meinen Sie nicht – nun, mein werter Herr, ich stelle es Ihnen nur anheim, aber meinen Sie nicht, daß fünfzig Pfund und Freiheit besser wären als Miß Wardle und ein langes Warten?“

„Geht nicht. Viel zuwenig!“ sagte Mr. Jingle, aufstehend.

„Überlegen Sie sich’s, mein werter Herr“, mahnte der kleine Anwalt und faßte Mr. Jingle beim Rockknopf. „’s ist eine schöne runde Summe. Ein Mann, wie Sie, könnte sie in ganz kurzer Zeit verdreifachen. Mit fünfzig Pfund läßt sich’s weit kommen, mein werter Herr.“

„Aber noch weiter mit hundertundfünfzig“, entgegnete Mr. Jingle kaltblütig.

„Nun, mein werter Herr, wir wollen nicht leeres Stroh dreschen“, nahm der kleine Mann seinen Vortrag wieder auf. „Sagen Sie1, sagen Sie siebzig.“

„Reicht nicht“, versetzte Mr. Jingle.

„Aber so laufen Sie doch nicht immer gleich weg, mein werter Herr, bitte, eilen Sie doch nicht so“, erwiderte der kleine Mann. „Achtzig? Kommen Sie, ich schreibe Ihnen sofort die Anweisung.“

„Nun, mein werter Herr“, entgegnete der kleine Mann, Mr. Jingle immer noch am Knopf haltend, „dann sagen Sie mir geradeheraus, wieviel Sie haben wollen.“

„Kostspielige Angelegenheit“, versetzte Mr. Jingle, „Geld aus meiner Tasche – Post, neun Pfund – Lizenz, drei – macht zwölf – Entschädigung hundert, macht hundertundzwölf – Ehrenkränkung – die Dame verloren.“

„Schon gut, schon gut, mein werter Herr“, sagte der kleine Mann mit einem schlauen Blick. Die beiden letzten Punkte wollen wir vielleicht aus dem Spiele lassen. Hundertundzwölf? – Sagen wir hundert.“

„Und zwanzig“, fügte Mr. Jingle bei.

„Kommen Sie; ich will Ihnen die Anweisung schreiben“, entgegnete der kleine Mann und setzte sich in dieser Absicht an den Tisch. „Übermorgen zahlbar“, fügte er mit einem Blick auf Mr. Wardle hinzu. „Und wir können inzwischen die Dame mitnehmen.“

Mr. Wardle nickte verdrießlich.

„Ein–hun–dert“, buchstabierte der kleine Mann.

„Und zwanzig“, ergänzte Mr. Jingle.

„Aber, mein Herr, ich bitte Sie“, ereiferte sich der kleine Mann.

„Schreiben Sie’s“, fiel ihm Mr. Wardle ins „Wort, „damit wir ihn schon endlich loswerden.“

Der kleine Mann schrieb die Anweisung, und Mr. Jingle steckte sie in die Tasche.

„Und jetzt schauen Sie, daß Sie augenblicklich hinauskommen!“ fuhr Mr. Wardle auf.

„Mein werter Herr“, begütigte der kleine Mann.

„Und merken Sie sich“, fuhr Mr. Wardle fort, „daß mich nichts – nicht einmal die Rücksicht auf die Ehre meiner Familie – veranlaßt haben würde, diesen Vergleich einzugehen, wenn ich nicht wüßte, daß Sie mit dem Geld in der Tasche womöglich noch früher dem Teufel in den Rachen laufen werden, als es ohnedies der Fall wäre.“

„Mein werter Herr“, suchte der kleine Mann aufs neue zu beschwichtigen.

„Lassen Sie mich, Perker!“ rief Mr. Wardle. „Und Sie, Sir, machen Sie, daß Sie hinauskommen.“

„Soll augenblicklich geschehen“, erwiderte Mr. Jingle unverschämt. „Servus, Pickwick.“

Wenn ein unbefangener Zeuge während des letzteren Teils der erwähnten Besprechung das Gesicht des ausgezeichneten Mannes und großen Gelehrten hätte sehen können, würde er sich wohl nicht wenig gewundert haben, daß die Glut der Entrüstung in seinen Augen nicht zum mindesten seine Brillengläser schmolz, so majestätisch erschien er in seinem Zorn. Seine Nasenflügel bebten, und seine Fäuste ballten sich unwillkürlich, als er sich in so unverschämt kollegialer Weise von dem Schurken begrüßen hörte. Aber er hielt an sich und rieb ihn nicht zu Staub.

„Da“, fuhr der verhärtete Bösewicht fort und warf Mr. Pickwick die Lizenz vor die Füße. „Namen ändern lassen – Dame nach Haus nehmen – gut für ,Tapps‘.“

Mr. Pickwick war Philosoph, und Philosophen sind im Grund weiter nichts als gewappnete und gepanzerte Menschen. Aber der Pfeil war gut gezielt und hatte durch den Harnisch philosophischer Weltanschauung seinen Weg bis in das innerste Herz des Menschen gefunden. In der Überfülle seiner Wut schleuderte er Jingle das Tintenfaß nach und rannte wie toll hinterdrein. Doch der Komödiant war bereits verschwunden, und Mr. Pickwick fühlte sich plötzlich von kräftigen Armen aufgehalten.

„Na, das Schreibgerät muß bei Ihnen zu Hause wohlfeil sein“, sagte Sam. „Eine Tinte, die von selbst schreibt und noch dazu an die Wand malt, alter Herr! Nur ruhig Blut, Sir! Hat nicht viel Zweck, ’nem Menschen mit so langen Beinen nachzurennen, der jetzt schon am andern Ende des Borough ist.“

Mr. Pickwicks Geist war, wie der aller wahrhaft großen Männer, stets Vernunftgründen zugänglich. Er war ein schneller und tiefer Denker, und die Überlegung eines Augenblicks genügte, ihn die Machtlosigkeit, seiner Wut einsehen zu lassen. Sie minderte sich daher so schnell wieder, wie sie losgebrochen war. Er verschnaufte sich und warf wohlwollende Blicke auf seine Freunde.

Sollen wir einen Auszug aus Mr. Pickwicks meisterhafter Beschreibung geben, wie herzbrechend Miß Wardle wehklagte, als sie sich von dem treulosen Jingle verlassen sah? Sein Tagebuch, von Tränen der Teilnahme teilweise verwischt, liegt offen vor uns. Ein „Wort, und es ist in den Händen des Druckers. Doch nein! Das sei ferne von uns.

Langsam und traurig kehrten am andern Tage die beiden Freunde nebst der verlassenen Jungfrau mit der schwerfälligen Muggletoner Postkutsche nach Hause zurück. Düster und trübe lagerte der schwarze Mantel einer Sommernacht auf den Fluren, als sie Dingley Dell erreichten und an dem Portal von Manor Farm aus dem Wagen stiegen.

Zwölftes Kapitel


Zwölftes Kapitel

Abermalige Reise und eine archäologische Entdeckung. Mr. Pickwicks Entschluß, einer Parlamentswahl beizuwohnen, und das Manuskript des alten Geistlichen.

Eine Nacht der Ruhe in dem tiefen Schweigen von Dingley Dell und ein Spaziergang von einer Stunde Dauer in der duftigen, erfrischenden Morgenluft reichten hin, bei Mr. Pickwick die Folgen der vorausgegangenen Körperermüdung und Gemütsbedrückung zu beheben. Zwei ganze Tage war der Treffliche von seinen Freunden und Jüngern getrennt gewesen, und voll Freude und Entzücken begrüßte er Mr. Winkle und Mr. Snodgraß, als er ihnen auf dem Heimweg von seinem frühen Spaziergang begegnete.

„Und was“, sagte er, nachdem er seinen beiden Freunden die Hand gedrückt und sie sich gegenseitig aufs herzlichste bewillkommt hatten, „was macht Tupman?“

Mr. Winkle, an den diese Frage vornehmlich gerichtet war, schwieg. Er wandte das Gesicht ab und schien von einer wehmütigen Erinnerung ergriffen zu werden.

„Snodgraß“, fragte Mr. Pickwick ernst, „was macht unser Freund? Er ist doch nicht krank?“

„Nein“, versetzte Mr. Snodgraß, und eine Träne zitterte an seinem gefühlvollen Auge, wie ein Regentropfen an einem Fensterrahmen. „Nein. Er ist nicht krank.“

Mr. Pickwick blieb stehen und sah abwechselnd bald den einen, bald den andern seiner Freunde an.

„Winkle, Snodgraß“, rief er. „Was soll das heißen? Wo ist unser Freund? Was ist vorgefallen? Sprecht, ich bitte, ich beschwöre, nein, ich befehle es euch, sprecht!“

Es lag eine Feierlichkeit, eine Würde in Mr. Pickwicks Benehmen, denen sich nicht widerstehen ließ. „Er ist fort“, sagte Mr. Snodgraß.

„Fort?“ rief Mr. Pickwick. „Fort?“

„Fort“, wiederholte Mr. Snodgraß.

„Wohin?“ rief Mr. Pickwick.

„Wir wissen es selbst nicht“, entgegnete Mr. Snodgraß, indem er ein Schreiben aus seiner Tasche zog und es seinem Freunde überreichte. „Gestern morgen, als ein Brief von Mr. Wardle mit der Meldung einlief, daß er am Abend seine Schwester zurückbringen würde, bemerkten wir, daß die Schwermut, der sich unser Freund tags zuvor schon hingegeben hatte, zunahm. Bald nachher war er verschwunden. Wir vermißten ihn den ganzen Tag über, und am Abend Brachte uns der Stallknecht aus der ,Krone‘ in Muggleton diesen Brief. Tupman hatte ihn am Morgen dort gelassen, mit dem ausdrücklichen Befehl, ihn vor Abend nicht abzugeben.“

Mr. Pickwick öffnete den Brief. Er trug die Handschrift seines Freundes und enthielt folgende Zeilen:

„Mein lieber Pickwick!

Sie, mein teurer Freund, stehen hoch über den Gebrechlichkeiten und Schwächen, denen der gewöhnliche Mensch nur zu leicht anheimfällt. Sie wissen nicht, was es heißt, plötzlich von einem lieblichen, bezaubernden Wesen verlassen zu sein und das Opfer eines Elenden zu werden, der unter der Maske der Freundschaft die grinsende Fratze der Arglist verbarg. Ich hoffe auch, daß Sie es nie an sich erfahren mögen. Ein Brief unter der Adresse: ,Lederne Flasche‘, Cobham in Kent, wird an mich gelangen, wenn ich noch am Leben bin. Ich fliehe den Anblick einer Welt, die mir verhaßt geworden. Sollte ich sie ganz und gar verlassen, so weinen Sie mir eine Träne nach und vergeben Sie mir. Das Leben, mein lieber Pickwick, ist mir unerträglich geworden. Der Mut, der in der Seele glimmt, ist des Lastträgers Tragriemen, auf dem die schwere Bürde der Erdenmühen und Erdensorgen ruht; nehmen Sie ihn weg, so erdrückt uns das Gewicht. Teilen Sie dies Rachel mit! Ach, dieser Name!

Tracy Tupman.“

„Wir müssen auf der Stelle von Dingley Dell aufbrechen“, sagte Mr. Pickwick, als er das Schreiben wieder zusammenfaltete. „Es wäre nach dem, was vorgefallen, unter keinen Umständen für uns schicklich, länger hierzubleiben. Wir haben die Verpflichtung, unserm Freunde zu folgen und ihn aufzusuchen.“ Mit diesen Worten führte er sie zu dem Hause.

Daselbst tat er unverzüglich sein Vorhaben kund und blieb, trotz der dringlichsten Bitten, unerschütterlich. Geschäfte, sagte er, forderten seine unverzügliche Abreise.

Der alte Geistliche war zufällig zugegen.

„Wie, ist’s Ihnen wirklich Ernst, abzureisen?“ fragte er und nahm Mr. Pickwick beiseite.

Mr. Pickwick wiederholte seine frühere Versicherung.

„Dann nehmen Sie hier dies kleine Manuskript“, fuhr der alte Herr fort, „das ich Ihnen selbst vorzulesen gedachte. Ich fand es unter den hinterlassenen Papieren eines Freundes von mir, eines Arztes an dem Irrenhaus unsrer Grafschaft, die mir zum Verbrennen oder Aufbewahren, je nachdem ich es für gut fände, übergeben wurden. Ich kann kaum glauben, daß das Manuskript wirklich von einem Irrsinnigen herrührt, obschon es keinesfalls die Handschrift meines Freundes ist. Mag es übrigens wirklich das Konzept eines Wahnsinnigen oder den Rasereien irgendeines Unglücklichen nachgebildet sein, was mir wahrscheinlicher dünkt, lesen Sie es und urteilen Sie dann selbst.“

Mr. Pickwick nahm das Manuskript und verabschiedete sich von dem wohlwollenden alten Herrn unter vielen Achtungs- und Freundschaftsversicherungen.

Schwerer wurde der Abschied von den Bewohnern Manor Farms, bei denen sie so viele Liebe und Gastfreundschaft genossen hatten. Mr. Pickwick küßte die jungen Damen – fast, könnte man sagen, als ob sie seine eignen Töchter gewesen wären –, doch schien diesem Gruße ein bißchen zu viel Feuer beigemengt zu sein, als daß dieser Vergleich ganz passend wäre, umarmte die alte Dame mit der Zärtlichkeit eines Sohnes, tätschelte die roten Wangen der Dienstmägde in patriarchalischer Weise und ließ dabei in die Hände einer jeden einige stofflichere Beweise seines Wohlwollens gleiten. Noch herzlicher war der Abschied der Herren von ihrem wackeren alten Wirte und Mr. Trundle, und sie vermochten sich erst von den lieben Leuten loszureißen, als endlich nach vielem Rufen Mr. Snodgraß aus einem dunklen Gange auftauchte, dem bald nachher Emilie mit nicht ganz so wie sonst leuchtenden Augen folgte. Die Herren sahen sich oft nach Manor Farm um, als sie langsam weitergingen, und Mr. Snodgraß warf manches Kußhändchen zurück in die Luft, wo so etwas wie ein Damentaschentuch lange aus einem der oberen Fenster flatterte, bis sie einen Feldweg einschlugen und die Hecken das alte Haus verbargen. In Muggleton verschafften sie sich eine Mietkutsche nach Rochester. Dort angelangt, hatte sich das Obermaß ihres Schmerzes so weit gelegt, daß sie ein splendides Mittagessen zu sich nehmen konnten, und sobald sie die nötigen Weisungen hinsichtlich des Weges eingeholt hatten, setzten sie sich wieder in Bewegung, um eine Nachmittagsfußpartie nach Cobham zu machen.

Es war ein herrlicher Spaziergang, denn der Juninachmittag war wunderschön, und der Weg führte sie durch einen tiefen, schattigen Wald. Leise rauschend fuhr ein kühles Lüftchen durch das dichte Laub, und die Vögel in den Zweigen belebten die Landschaft mit ihrem Gesang. Moos und Efeu bedeckten dicht die Rinde der alten Bäume, und das sanfte Grün des Rasens bekleidete den Grund wie ein seidner Teppich. Schließlich gelangten sie in einen offnen Park mit einer alten Halle in der wunderlichen und pittoresken Bauart aus Königin Elisabeths Zeiten. Auf beiden Seiten zogen sich lange Alleen aus stattlichen Eichen und Ulmen hin; große Rudel von Hochwild labten sich an dem frischen Grase, und hin und wieder lief ein aufgeschreckter Hase über den Weg.

„Oh, wenn doch“, rief Mr. Pickwick und sah sich in der Landschaft um, „wenn doch alle, die das gleiche Leiden bedrückt wie unsern Freund, hierherkämen! Gewiß müßte die frühere Liebe zum Leben bald wieder zurückkehren.“ „Mir aus der Seele gesprochen“, meinte Mr. Winkle.

„Und in der Tat“, fügte Mr. Pickwick nach einer halben Stunde, während der sie bei einem Dorfe angelangt waren, hinzu, „selbst für einen Welthasser muß dieser Park der schönste und lieblichste Aufenthalt sein, den man sich nur denken kann.“ Auch hiermit waren sowohl Mr. Winkle als Mr. Snodgraß einverstanden. Sie fragten nun nach der „Ledernen Flasche“ und wurden an ein reinliches und bequemes Dorfwirtshaus gewiesen, in das sie sogleich traten, um sich nach einem Gentleman namens Tupman zu erkundigen. „Führe die Herren ins Gastzimmer, Tom“, sagte die Wirtin.

Ein stämmiger Bauernbursche öffnete am Ende des Hausflures eine Tür, und die drei Freunde traten in ein langes, niedriges Zimmer, in dem eine große Anzahl von gepolsterten Sesseln mit hohen, wunderlich geschnitzten Lehnen stand und eine Reihe alter Porträts und rohkolorierter Drucke die Wände zierte. Am oberen Ende befand sich eine gedeckte Tafel mit gebratenem Geflügel, Schinken, Bier und dergleichen, hinter dem Mr. Tupman in einer Weise beschäftigt war, die auf nichts weniger als auf einen lebensüberdrüssigen Menschen schließen ließ.

Bei dem Eintritt seiner Freunde legte Mr. Tupman Messer und Gabel nieder und trat ihnen mit einer Miene voll Trauer entgegen. „Ich erwartete nicht, Sie hier zu sehen“, sagte er, Mr. Pickwicks Hand ergreifend. „Wie gütig von Ihnen.“

„Ach“, sagte Mr. Pickwick, setzte sich nieder und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Beendigen Sie Ihr Mahl und kommen Sie dann ein wenig mit mir ins Freie. Ich möchte gern ein Wort unter vier Augen mit Ihnen sprechen.“

Mr. Tupman tat, wie ihm geheißen; Mr. Pickwick labte sich inzwischen mit einer Kanne Bier, und dann gingen beide miteinander hinaus.

Ungefähr eine halbe Stunde sah man sie auf dem Kirchhof auf und ab spazieren. Mr. Pickwick gab sich alle Mühe, den fürchterlichen Entschluß seines Freundes zu bekämpfen. Ob Mr. Tupman bereits seiner Einsamkeit ‚müde war oder ob er der eindringlichen Beredsamkeit seines Freundes nicht widerstehen konnte – gleichviel, Tatsache ist, daß er nicht widerstand.

Es kümmere ihn wenig, sagte er, wo er den Rest seines kümmerlichen Daseins hinschleppe, und da sein Freund nun einmal einen so großen Wert auf seine unbedeutende Begleitung lege, so sei er willens, ferner an seinen Abenteuern teilzunehmen.

Mr. Pickwick lächelte. Sie drückten sich die Hände und gingen zurück, um sich mit ihren Gefährten zu vereinigen.

In diesem Augenblick geschah es, daß Mr. Pickwick jene unsterbliche Entdeckung machte, die der Stolz und der Ruhm seiner Freunde wurde und die Altertumsforscher aller Länder mit Neid erfüllte. Sie waren eben an der Tür ihres Gasthauses vorbeigekommen und ein wenig ins Dorf hinuntergegangen, und als sie wieder umkehrten, fiel Mr. Pickwicks Auge auf einen kleinen zerbrochnen Stein vor der Tür eines Bauernhauses, der halb in der Erde stak.

Er blieb stehen.

„Das ist doch sonderbar“, sagte er.

„Was ist sonderbar?“ fragte Mr. Tupman und sah jeden Gegenstand in seiner Nähe an, nur den rechten nicht. „Um Gottes willen, was gibt’s denn?“

Diese letzten Worte bildeten den Ausruf eines nicht zu bewältigenden Erstaunens, durch den Umstand veranlaßt, daß Mr. Pickwick, ganz begeistert von seiner Entdeckung, vor dem kleinen Stein auf die Knie niederfiel und mit seinem Taschentuch den Schmutz abzuwischen begann. „Da ist eine Inschrift“, sagte er.

„Ist es denn möglich?“ versetzte Mr. Tupman.

„Ich unterscheide“, fuhr Mr. Pickwick fort, indem er aus Leibeskräften rieb und mit höchster Spannung durch seine Brille spähte, „ich unterscheide ein Kreuz und ein B und dann ein T. Das ist höchst wichtig“, fügte er, aufspringend, hinzu. „Es ist irgendeine sehr alte Inschrift, vielleicht viel älter als die alten Armenhäuser dieses Ortes. Sie darf nicht verlorengehen.“

Er klopfte an die Tür des Bauernhauses. Der Besitzer öffnete.

„Wissen Sie nicht, wie dieser Stein hierherkam, mein Freund?“ fragte wohlwollend Mr. Pickwick.

„Nein, Sir“, antwortete der Mann höflich. „Er lag schon hier, lange, ehe ich oder einer von uns geboren wurde.“

Mr. Pickwick warf einen triumphierenden Blick auf seinen Gefährten.

„Sie – Sie – hängen vermutlich nicht allzusehr an ihm?“ fragte er, zitternd vor innerer Erregung. „Würden Sie ihn nicht verkaufen?“

„Na, wer möcht denn den kaufen?“ fragte der Mann mit einer Miene, die wahrscheinlich sehr pfiffig sein sollte.

„Kurz und gut, ich gebe Ihnen zehn Schilling, wenn Sie mir ihn dafür herausgraben wollen“, entgegnete Mr. Pickwick.

Man kann sich das Erstaunen des ganzen Dorfes vorstellen, als Mr. Pickwick den Stein, der mit einem einzigen Spatenstich herausgehoben war, mit nicht geringer körperlicher Anstrengung eigenhändig nach dem Wirtshaus trug und ihn, nachdem er ihn zuvor sorgfältig gewaschen, auf den Tisch legte.

Das Frohlocken und die Freude der Pickwickier kannten keine Grenzen, als endlich ihre Geduld und ihre Emsigkeit im Waschen und Abkratzen von Erfolg gekrönt war. Der Stein war uneben und zerbrochen, die Buchstaben standen schief und unregelmäßig, dessenungeachtet aber ließ sich das folgende Bruchstück einer Inschrift deutlich entziffern:


BILST
UM
PSSEIN
NGRAE
NZZ
EICH
EN.

Mr. Pickwicks Augen leuchteten vor Entzücken, als er sich niedersetzte und den aufgefundenen Schatz von allen Seiten betrachtete. Er hatte eins der höchsten Ziele seines Ehrgeizes erreicht. In einer wegen der Überreste aus früheren Jahrhunderten berühmten Grafschaft, in einem Dorfe, in dem sich gegenwärtig noch einige Denkwürdigkeiten älterer Zeiten vorfanden, hatte er, er, der Präsident des Pickwick-Klubs, eine seltsame und merkwürdige Inschrift von unzweifelhaft antikem Charakter entdeckt, die den Blicken so vieler gelehrter Forscher vor ihm entgangen war. Kaum wollte er seinen Augen trauen.

„Dies – dies“, sagte er, „ist bestimmend für mich. Wir kehren morgen nach London zurück.“

„Morgen?“ riefen seine verwunderten Begleiter.

„Ja, morgen. Dieser Schatz muß rasch nach einem Orte gebracht werden, wo er mit Muße gründlich untersucht und gehörig gewürdigt werden kann. Auch habe ich noch einen andern Grund für diesen Schritt. In einigen Tagen findet eine Parlamentswahl in dem Flecken Eatanswill statt, wo Mr. Perker, ein Herr, den ich kürzlich kennenlernte, als Agent für einen der Kandidaten auftreten wird. Wir wollen Zeugen davon sein und eine Szene, die für jeden Engländer von so hoher Wichtigkeit ist, aufs sorgfältigste beobachten.“

„Ja, das wollen wir“, stimmten die drei Freunde aufs lebhafteste ein.

Mr. Pickwick blickte um sich. Die Wärme und Anhänglichkeit seiner Jünger entzündeten die Glut seiner Begeisterung. Er war ihr Führer, und er fühlte es.

„Wir wollen dieses glückliche Zusammentreffen mit einem Gläschen feiern“, sagte er.

Auch dieser Vorschlag wurde mit einstimmigem Beifall aufgenommen, und nachdem Mr. Pickwick den wichtigen Stein in einem von der Wirtin erstandenen Bretterkistchen geborgen, setzte er sich an das Kopfende des Tisches in einen Armstuhl. Dann verbrachten die Herren den Abend bei Wein und fröhlicher Unterhaltung.

Es war elf Uhr vorbei – eine späte Stunde für das kleine Dorf Cobham –, als sich Mr. Pickwick nach dem Schlafgemach begab, das zu seiner Aufnahme hergerichtet worden war. Er öffnete das Gitterfenster, stellte das Licht auf den Tisch und erging sich in einer Reihe von Betrachtungen über die inhaltvollen Begebnisse der letzten zwei Tage.

Ort wie Stunde waren so recht zu dieser Stimmung geeignet, und Mr. Pickwick erwachte erst aus seinem Grübeln, als die Turmuhr die zwölfte Stunde verkündete. Der erste Glockenton schlug feierlich an sein Ohr; als aber der letzte ausgeklungen hatte, wurde ihm die tiefe Stille unerträglich; es war ihm fast, als hätte er einen Freund verloren. Er war nervös und aufgeregt, entkleidete sich hastig, stellte das Licht auf den Kamin und ging zu Bett.

Jeder hat wohl schon den unbehaglichen Gemütszustand erfahren, in dem das Gefühl körperlicher Ermattung vergebens gegen die Schlaflosigkeit ankämpft. Auch bei Mr. Pickwick war dies gegenwärtig der Fall. Er wälzte sich von der einen Seite auf die andere und schloß beharrlich die Augen, um mit Gewalt einzuschlummern; aber vergeblich. Lag nun der Grund in der ungewohnten Anstrengung des Tages, an dem genossenen Getränk oder an dem fremden Bett – wie dem auch sein mag, seine Gedanken kehrten ohne Unterlaß zu den grimmigen Bildern in der Gaststube und zu den alten Legenden zurück, von denen im Verlaufe des Abends die Rede gewesen. Nachdem er sich in dieser Weise eine Stunde ruhelos umhergewälzt hatte, kam er zu der unbehaglichen Überzeugung, daß er vergeblich einzuschlafen versuche, weshalb er aufstand und sich teilweise ankleidete. Alles, dachte er, ist besser als das Daliegen in Phantasien der allerschrecklichsten Art. Er sah zum Fenster hinaus. Tiefste Dunkelheit. Er ging im Zimmer auf und ab und fühlte sich höchst einsam.

Er war etliche Male vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster spaziert, als ihm plötzlich das Manuskript des alten Geistlichen wieder ins Gedächtnis kam. Ein guter Einfall! War es vielleicht auch uninteressant, so konnte es ihn möglicherweise in Schlaf wiegen. Er holte es daher aus seiner Rocktasche, rückte einen kleinen Tisch an die Seite seines Bettes, schneuzte das Licht, setzte seine Brille auf und schickte sich zum Lesen an. Es waren wunderliche Schriftzüge; die Blätter bekleckst und beschmutzt.

Auch der Titel hatte etwas Unheimliches, und Mr. Pickwick konnte es sich nicht versagen, ängstliche Blicke im Zimmer umherzuwerfen. Nach einiger Überlegung fühlte er jedoch die Albernheit, solchen Gefühlen Raum zu geben; er putzte das Licht abermals und las, wie folgt:

MANUSKRIPT EINES IRREN

„Ja! Eines Irren! Wie mir dieses Wort vor vielen Jahren ins Herz geschnitten hätte! Wie es das Entsetzen, das mich zuweilen anzuwandeln pflegte, geweckt und das Blut glühend und zischend durch meine Adern gejagt haben würde, bis der kalte Tau der Angst in großen Tropfen auf meine Stirn getreten wäre und meine Knie vor Furcht geschlottert hätten! Aber jetzt liebe ich es. Es ist ein schönes Wort. Zeigt mir den Monarchen, dessen finsterer Groll je so gefürchtet worden wäre wie der starre Blick des Wahnsinns, dessen Stricke und Beile nur halb so sicher wären wie der Griff eines Tobsüchtigen. Haha! Es ist etwas Großes, wahnsinnig zu sein, angesehen zu werden wie ein wilder Löwe durch die Stäbe des Eisengitters, die lange, stille Nacht durch zu heulen und mit den Zähnen zu knirschen und lustig mit den Ketten dareinzuklirren und dann, im Entzücken über diese köstliche Musik, sich im Stroh zu wälzen und zu wühlen. Es lebe das Tollhaus! Oh, es ist ein herrlicher Ort!

Ich erinnere mich der Zeit, wo mich der Gedanke, wahnsinnig zu werden, mit einem solchen Entsetzen erfüllte, daß ich oft, wenn ich aus dem Schlafe auffuhr, auf die Knie niederfiel und inbrünstig zu Gott flehte, er möchte den Fluch meiner Familie von mir nehmen; daß ich den Anblick der Heiterkeit und des Glückes floh, um mich an einsamen Orten zu verbergen, und manche langsam sich schleppende Stunde verbrachte, um die Fortschritte des Fiebers zu beobachten, das mein Gehirn verzehrte. Ich wußte, daß der Wahnsinn in meinem Blute kreiste und tief im Mark meiner Knochen steckte, daß zwar eine Generation von dieser Pest bewahrt geblieben war, aber daß ich der erste sein werde, bei dem sie wieder ins Leben treten müßte. Ich wußte, daß es so sein mußte, daß es immer so gewesen war und immer so sein würde, und wenn ich mich in einem belebten Saal in irgendeine dunkle Ecke zurückzog und die Leute flüstern, sich zuwinken und die Augen auf mich richten sah, da wußte ich, daß sie über den zum Wahnsinn Verdammten sprachen, und schlich mich hinweg, um in der Einsamkeit meinen Grübeleien nachzuhängen. So währte es Jahre, lange, lange Jahre. Die Nächte hier sind hin und wieder auch lang, sehr lang; aber sie sind nichts gegen die qualvollen, ruhelosen Nächte und die schrecklichen Träume, die mich damals heimsuchten. Ein Schauder überläuft mich, wenn ich nur daran denke. Düstere Gestalten mit tückischen, lauernden Gesichtern drückten sich in die Ecken meines Schlafgemachs und beugten sich des Nachts über mein Bett, um mich wahnsinnig zu machen. In leisem Flüstern erzählten sie mir, der Boden des alten Hauses, in dem mein Großvater starb, sei von seinem Blute getränkt, das er im Wahnsinn selber vergossen. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es schrie in meinem Kopfe, bis das Zimmer widerdröhnte, daß zwar eine Generation vor ihm vor Wahnsinn bewahrt geblieben sei, aber sein Großvater jahrelang, an den Boden gefesselt, dagelegen habe, damit er sich nicht selbst in Stücke risse. Ich wußte, sie sagten mir die Wahrheit, ich wußte es nur zu gut. Ich hatte es jahrelang vorher schon herausgefunden, obgleich man es mir zu verbergen suchte. Haha! Ich war ihnen zu schlau, ich, der Irrsinnige!

Endlich kam es über mich, und da nahm es mich wunder, wie ich mich je davor hatte fürchten können. Ich konnte jetzt unter die Leute gehen und mit ihnen lachen und johlen, so gut wie irgendeiner. Ich wußte, daß ich wahnsinnig war, aber sie hatten nicht die leiseste Ahnung davon. Wie jauchzte ich in meinem Innern über den Streich, den ich ihnen jetzt spielte, ihnen, die früher auf mich deuteten und mir nachblinzelten, als ich noch nicht irrsinnig war und nur in der Furcht lebte, ich könnte es eines Tages werden! Und wie bebte ich vor Freude, wenn ich allein war und dachte, wie gut ich mein Geheimnis zu bewahren verstand und wie rasch meine Freunde mich verlassen würden, wenn sie die Wahrheit erführen. Ich hätte vor Lust laut aufschreien mögen, wenn ein lärmender Zechbruder allein mit mir speiste und ich mir das Leichengesicht und die bebenden Beine des Burschen vorstellte, wenn er gewußt hätte, daß der liebe Freund, der neben ihm saß und sein Messer schärfte, ein Tollhäusler war, der die Macht und halb auch den Willen hatte, das gefährliche Werkzeug in sein Herz zu stoßen. Oh, es war ein lustiges Leben!

Reichtümer flössen mir zu, Schätze über Schätze, und ich schwelgte in Freuden, deren Genuß in dem Bewußtsein meines Geheimnisses einen tausendfältigen Wert für mich bekam. Ich erbte weitläufige Besitzungen. Das Gesetz, sogar das argusäugige Gesetz, ließ sich täuschen und spielte bestrittene Tausende in die Hand eines Wahnsinnigen. Wo war der Verstand der scharfsichtigen, der sogenannten vernünftigen Leute? Wo der Witz der Rechtsgelehrten, die doch sonst so leicht Nullitätsgründe aufzufinden wissen? Die Schlauheit des Tollen hatte sie alle überlistet.

Ich hatte Geld. Wie umschmeichelte man mich! Ich verschwendete. Wie wurde ich gepriesen! Wie sich jene drei stolzen, hochmütigen Brüder vor mir demütigten! Und auch der alte, grauköpfige Vater, welche Achtung, welche Ehrerbietigkeit, welche aufopfernde Freundschaft! – Ja, er betete mich an. Der alte Mann hatte eine Tochter, die Schwester der jungen Männer, und alle fünf waren arm. Ich war reich, und als ich das Mädchen heiratete, sah ich in dem triumphierenden Lächeln, das auf den Gesichtern ihrer dürftigen Verwandten spielte, daß sie sich des Gelingens ihres wohlangelegten Planes und der schönen Beute freuten. Es war nur an mir, zu lächeln. Zu lächeln? Nein, laut hinauszubrüllen, mir die Haare zu zerraufen und mich auf der Erde zu wälzen vor lauter Entzücken. Sie ließen sich’s nicht träumen, die Tochter und Schwester an einen Wahnsinnigen verkuppelt zu haben.

Doch, halt! Wenn sie es auch gewußt hätten, würden sie sie geschont haben? Das Glück einer Schwester gegen das Gold ihres Gatten – ist es mehr als die leichteste Feder, die ich in die Luft blasen kann, gegenüber der glänzenden Kette, die meinen Körper schmückte? In einem Punkte wurde ich übrigens trotz meiner Schlauheit getäuscht. Wäre ich nicht wahnsinnig gewesen – merkwürdig, obgleich wir Irren doch sonst schlau genug sind, stellt sich doch hin und wieder eine Verwirrung bei uns ein –, so würde ich doch gewußt haben, daß das Mädchen weit lieber kalt und steif in einem bleiernen Sarge denn als beneidete Braut in meinen Prunkgemächern gelegen wäre. Ich würde gewußt haben, daß ihr Herz einem schwarzäugigen Knaben gehörte, dessen Namen ich sie einmal in dem Flüstern ihres unruhigen Schlafes nennen hörte, wobei sie zugleich Andeutungen fallenließ, sie sei mir geopfert worden, um den alten weißköpfigen Mann und die hochmütigen Brüder der Dürftigkeit zu entreißen.

Ich kann mich an Gestalten und Gesichter nicht mehr recht erinnern, aber ich weiß, daß das Mädchen schön war. Ich weiß das ganz gewiß, denn in hellen Mondnächten, wenn ich aus dem Schlafe auffahre, sehe ich still und regungslos in einem Winkel meiner Zelle eine abgezehrte Gestalt mit langen schwarzen, über die Schultern fallenden Locken stehen, die sich von keinem irdischen Lufthauch bewegen, die Augen starr auf mich geheftet, ohne je damit zu zucken oder sie zu schließen. Pst! Das Blut strömt mir eiskalt zum Herzen, während ich dies niederschreibe; die Gestalt ist die ihrige; ihr Gesicht ist sehr blaß, und die Augen glänzen wie Glas; aber ich kenne sie wohl. Sie bewegt sich nie, verzieht nie die Stirn und den Mund, wie es die andern tun, die bisweilen diesen Ort erfüllen, aber sie ist mir sogar noch schrecklicher als die Gespenster, die mich vor Jahren zum Wahnsinn verlockten, sie kommt frisch aus dem Grabe und hat ganz das Aussehen einer Leiche.

Fast ein Jahr lang sah ich dieses Gesicht immer blasser werden; fast ein Jahr lang sah ich Tränen über die vergrämten Wangen rinnen, ohne daß ich den Grund kannte. Aber endlich kam ich doch dahinter. Man konnte es mir nicht länger verbergen. Sie hatte mich nie geliebt, und ich habe auch nie geglaubt, daß sie mich liebte. Sie verachtete meinen Reichtum und haßte den Glanz, der sie umgab. Das hatte ich nicht erwartet. Sie liebte einen andern. An eine solche Möglichkeit hatte ich nie gedacht. Seltsame Gefühle bemächtigten sich meiner, und irgendeine geheimnisvolle Macht flüsterte mir Gedanken zu, die in meinem Hirne wirbelten und tobten. Sie haßte ich nicht, wohl aber den Menschen, um den sie immer weinte. Ich beklagte ja, ich beklagte das elende Leben, zu dem sie von ihren kaltherzigen und selbstsüchtigen Verwandten verdammt worden war. Ich wußte, daß sie nicht lange machen konnte, aber der Gedanke, sie könnte vor ihrem Tode einem unglücklichen Geschöpfe das Leben geben, das die Bestimmung trüge, den Wahnsinn auf seine Sprößlinge fortzupflanzen, gab den Ausschlag. Ich faßte den Entschluß, sie zu ermorden.

Viele Wochen trug ich mich mit dem Gedanken, sie zu vergiften, dann, sie zu ertränken, und dann, sie zu verbrennen. Ein herrliches Schauspiel, das große Haus in Flammen, in denen das Weib des Wahnsinnigen zu Asche verbrannte. Dann auch noch der Spaß, eine große Belohnung für die Entdeckung des Täters auszusetzen und einen vernünftigen Menschen für eine Tat, die er nie begangen, im Winde baumeln zu sehen – und all dies durch die Schlauheit eines Wahnsinnigen! Ich dachte oft an diesen Plan, aber endlich gab ich ihn wieder auf. Oh, welch eine Lust, Tag für Tag das Rasiermesser zu streichen, die Schärfe der Schneide zu befühlen und an das Klaffen zu denken, das ein Schnitt mit diesem dünnen, glänzenden Stahl hervorbringen würde!

Endlich flüsterten mir die Geister, die mich früher sooft besucht hatten, ins Ohr, daß die Zeit gekommen war, und drückten mir dabei das offene Rasiermesser in die Hand. Ich faßte es mit festem Griff, stand leise vom Bett auf und beugte mich, über mein schlafendes Weib. Sie hatte ihr Gesicht mit den Händen bedeckt. Ich entfernte sie sachte, und sie sanken auf ihre Brust. Sie hatte geweint, denn ihre Wangen trugen noch die feuchten Spuren von Tränen. Ihr Gesicht war sanft und ruhig, und in dem Augenblick, als ich sie so betrachtete, überflog ein leichtes Lächeln ihre blassen Züge. Ich legte leise meine Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr auf, aber nur wie in einem vorübergehenden Traum. Ich beugte mich abermals vorwärts. Sie schrie auf und erwachte.

Eine einzige Bewegung meiner Hand würde für immer jeden Laut aus ihrer Kehle erstickt haben. Aber ich war erschreckt und trat zurück. Ihre Augen waren fest auf die meinigen geheftet. Ich weiß nicht, wie es zuging, aber sie schüchterten mich ein und nahmen mir allen Mut. Sie erhob sich aus dem Bett, unverwandt ihre Blicke auf mich gerichtet. Ich zitterte, hielt das Rasiermesser in der Hand, konnte mich aber nicht von der Stelle bewegen. Sie ging auf die Tür zu. Kurz davor drehte sie sich um und wandte die Augen von meinem Gesicht ab. Der Zauber war zerstört. Ich sprang auf sie zu und faßte sie am Arm. Schrei folgte auf Schrei, und sie sank zu Boden.

Jetzt hätte ich sie, ohne ein Widerstreben befürchten zu müssen, ermorden können, aber der Lärm hatte alle im Hause auf die Beine gebracht. Ich hörte Fußtritte auf den Treppen, versteckte das Rasiermesser wieder an seinem Ort, öffnete die Tür und rief laut um Hilfe. Man kam, hob sie auf und legte sie wieder auf ihr Bett. So lag sie einige Stunden besinnungslos da; aber mit dem Leben und der Sprache kehrte nicht auch die Vernunft wieder; sie tobte in wilden und wütenden Delirien.

Man rief Ärzte herbei, große und berühmte Gelehrte, die in prächtigen Equipagen mit wunderschönen Pferden und prunkenden Lakaien, vorfuhren. Sie wichen wochenlang kaum von ihrem Bett. Endlich hielten sie ein Konsilium, in dem sie sich leise und feierlich in einem Nebenzimmer miteinander berieten. Einer, der allerberühmteste, nahm mich sodann beiseite, bat mich, ich solle mich auf das Schlimmste gefaßt machen, und erklärte mir, mir, dem Wahnsinnigen, daß mein Weib irrsinnig sei. Er stand mit mir an einem offenen Fenster, blickte mir ins Gesicht, und seine Hand ruhte dabei auf meinem Arm. Mit einem Ruck hätte ich ihn auf die Straße hinunterschleudern können. Es wäre ein köstlicher Spaß gewesen, wenn ich es getan hätte; aber mein Geheimnis stand auf dem Spiel, und so ließ ich ihn gehen. Ein paar Tage nachher sagten sie mir, ich müßte meine Frau aufs strengste beaufsichtigen lassen und ihr einen Wärter bestellen. – Ich! – Ich ging ins Freie, wo mich niemand hören konnte, und lachte, daß die Luft von meinem Jauchzen widerhallte.

Sie starb den Tag darauf. Der weißköpfige alte Mann folgte ihr zum Grabe, und die stolzen Brüder ließen eine Träne auf die starre Leiche der Unglücklichen fallen, deren Leid sie, als sie noch lebte, ohne mit der Wimper zu zucken, mit angesehen hatten. Alles dies war Nahrung für meine innere Lust, und ich lachte beim Heimfahren von dem Leichenbegängnis hinter dem weißen Taschentuch, daß mir die Tränen in die Augen traten.

Aber obgleich ich meinen Plan durchgeführt und sie unter die Erde gebracht hatte, so war ich doch unruhig und verstört und fühlte, daß mein Geheimnis nicht lange mehr verborgen bleiben konnte. Ich vermochte nicht, die wilde Heiterkeit und Freude, die in meinem Innern kochte, zu verheimlichen; ich mußte ihr, wenn ich allein zu Hause war, durch Hüpfen, Tanzen, Zusammenschlagen der Hände und lautes Hinausbrüllen Luft machen. Ging ich aus und sah ich überall eine geschäftige Menge durch die Straßen oder nach dem Theater eilen oder hörte ich Musik“ und sah tanzen, so fühlte ich eine so tobende Lust, daß ich in die Häuser hätte einbrechen, den Leuten Stück für Stück das Fleisch vom Leibe reißen und laut aufheulen mögen in tollem Entzücken. Aber ich knirschte mit den Zähnen, stampfte mit den Füßen auf die Erde und grub mir die Nägel in die Hände. So hielt ich mich gewaltsam zurück, und noch kein Mensch ahnte, daß ich wahnsinnig war.

Ich erinnere mich noch, obgleich dies zu den letzten Dingen gehört, deren ich mich entsinnen kann, denn seit kurzem vermenge ich die Wirklichkeit mit meinen Träumen, und da ich so viel zu tun habe, daß ich trotz der größten Eile nicht fertig zu werden vermag, so gebricht es mir an Zeit, beide aus der wunderlichen Verwirrung, in der sie vor mir auftauchen, zu trennen, ich erinnere mich noch, wie ich endlich meinen Zustand merken ließ. Haha! Es ist mir, als sähe ich noch die entsetzten Blicke, als fühlte ich noch die Leichtigkeit, womit ich sie von mir schleuderte, ihnen die geballten Fäuste in die aschfahlen Gesichter schlug und dann auf den Flügeln des Windes dahineilte, die schreiende und tobende Menge weit hinter mir zurücklassend. Die Kraft „eines Riesen kehrt in meine Muskeln zurück, wenn ich nur daran denke. Da, wie diese Eisenstange sich unter meinem wütenden Griffe biegt! Ich könnte sie zerbrechen wie einen dürren Ast, wenn nur nicht die langen Gänge mit den vielen Türen wären, ich glaube nicht, daß ich mich zurechtfinden könnte, und wenn auch, ich weiß recht wohl, daß unten eiserne Tore sind, die man immer verriegelt und verschlossen hält. Sie wissen, mit was für einem schlauen Irren sie es zu tun haben, und sind stolz darauf, mich hier zu haben, um mich zeigen zu können.

Wo war ich stehengeblieben? Ja, richtig. Ich hatte einen kleinen Ausflug gemacht. Es war spät in der Nacht, als ich nach Hause kam, und ich fand den hochmütigsten der drei stolzen Brüder auf mich warten, eines dringenden Geschäfts wegen, wie er sagte; ich erinnere mich noch recht gut. Ich haßte diesen Menschen mit dem ganzen Haß des Wahnsinns. Oft und oft hatte es mir schon in den Fingern gejuckt, ihn zu zerreißen. Man sagte mir, daß er da wäre. Ich eilte rasch die Treppe hinauf. Er hatte mir etwas mitzuteilen. Ich schickte die Dienerschaft fort. Es war spät, und wir befanden uns allein, zum erstenmal.

Anfangs hielt ich meine Augen sorgfältig von ihm abgewandt, denn ich wußte, wovon er keine Ahnung hatte, ja, ich freute mich dessen, daß die Glut des Wahnsinns wie strahlendes Feuer aus meinen Blicken leuchtete. Endlich fing er an zu sprechen. Meine täglichen Ausschweifungen und die sonderbaren Reden, so bald nach dem Tode seiner Schwester, seien eine Kränkung ihres Andenkens. Wenn er dies mit vielen Umständen, die anfänglich seiner Beobachtung entgangen seien, zusammenhalte, so müsse er glauben, daß ich sie nicht gut behandelt hätte. Er wollte wissen, ob seine Annahme, ich beabsichtige, einen Schatten auf ihr Andenken zu werfen und ihre Familie zu kränken, richtig sei. Er sei es der Uniform, die er trage, schuldig, diese Erklärung zu fordern.

Dieser Mensch hatte ein Offizierspatent bei der Armee, ein Patent, das mit meinem Gelde und mit dem Elend seiner Schwester erkauft war. Er war der Rädelsführer eines Komplottes, das mich in eine Enge treiben und ihm Griffe in meine Kasse ermöglichen sollte. Er hauptsächlich hatte seine Schwester gezwungen, mich zu heiraten, trotzdem er wußte, daß ihr Herz jenem piepsenden Bürschlein gehörte. Seiner Uniform schuldig! Er! Der Livree seiner Schande! Ich wandte ihm meine Augen zu, ich konnte nicht anders, aber ich sprach kein Wort. Ich sah die plötzliche Veränderung, die unter dem Glutstrahl meiner Blicke in ihm vorging. Er war ein mutiger Mensch, aber die Farbe wich aus seinem Gesicht; er rückte den Stuhl zurück. Ich rückte ihm mit dem meinigen nach, und als ich lachte – ich war damals sehr lustig –, sah ich, daß er schauderte. Ich fühlte, wie der Wahnsinn in mir aufbrauste. Er fürchtete sich vor mir.

,Sie haben Ihre Schwester sehr geliebt, als sie noch am Leben war‘, sagte ich, ,natürlich, sehr geliebt.‘

Er sah unruhig im Zimmer umher, und ich gewahrte, wie seine Hand die Lehne seines Stuhles ergriff; aber er antwortete nicht.

,Du Schuft‘, sagte ich. ,Ich habe dich durchschaut; ich bin dem höllischen Komplott, das ihr gegen mich schmiedet, auf die Spur gekommen und weiß, daß ihr Herz an einem andern hing, ehe ihr sie zwangt, mein Weib zu werden. Ich weiß es, ich weiß es.‘

Er sprang von seinem Stuhl auf, schwang ihn in der Luft und rief mir zu, zurückzuweichen, denn ich war ihm, während ich sprach, immer näher gerückt.

Ich schrie mehr, als ich sprach, denn ich fühlte, wie die Raserei über mich kam, und die alten Geister flüsterten mir ins Ohr und hetzten mich, ich solle ihm das Herz aus dem Leibe reißen.

,Gott verdamm dich‘, fuhr ich plötzlich auf und stürzte auf ihn los, ,ich habe sie getötet. Ich bin ein Wahnsinniger. Nieder, du Hund. Blut – Blut muß ich sehen.‘

Ich warf den Stuhl, den er in seinem Entsetzen nach mir schleuderte, mit einem Schlage beiseite, packte ihn, und wir stürzten beide mit einem dumpfen Krachen zu Boden.

Ein herrlicher Kampf, denn er war ein großer, starker Mann, der sich um sein Leben wehrte, und ich ein Toller, der mit der Kraft des Wahnsinns rang und nach seinem Blute dürstete.

Keine Kraft auf Erden hätte mir die Spitze bieten können, und ich behielt recht. Abermals recht, obgleich ich wahnsinnig war! Sein Kämpfen wurde immer schwächer. Ich kniete auf seiner Brust und umkrallte seine Gurgel mit ehernen Griffen. Sein Gesicht wurde purpurrot, die Augen quollen ihm aus dem Kopf, und er schien mich mit der herausgestreckten Zunge zu verhöhnen. Ich drückte immer fester zu.

Da flog die Tür plötzlich krachend auf, und eine Menge Leute drang herein und rief sich gegenseitig zu, mich, den Wahnsinnigen, zu ergreifen. Mein Geheimnis war verraten, und mein Kampf galt jetzt nur noch meiner Freiheit. Ich war, ehe mich noch eine Hand berührte, wieder auf den Beinen, stürzte mich auf die Angreifer und bahnte mir mit den Armen, als hätte ich ein Beil in der Hand, mit dem ich alles niederschmetterte, einen Weg. Ich erreichte die Tür, schwang mich über das Treppengeländer und war im Nu auf der Straße.

Ich lief immer geradeaus, aber niemand wagte es, mich aufzuhalten. Ich hört“ das Geräusch der laufenden Füße hinter mir und verdoppelte meine Eile. Immer schwächer und schwächer wurde das Getöse und erstarb endlich ganz und gar. Aber immer noch jagte ich weiter über Sumpfgründe und Gräben, über Hecken und Zäune, unter wildem Jubelgeschrei, und die seltsamen Wesen, die mich von allen Seiten umgaben, stimmten mit ein, daß die ganze Luft von dem Geheul erfüllt war. Ich wurde von den Armen der Dämonen getragen, die im Winde dahinfegten und alle Hindernisse vor sich niederwarfen. Das Getümmel und die Eile, womit sie midi fortzogen, machten mich schwindlig, bis sie mich endlich gewaltsam von sich schleuderten und ich schwer auf die Erde niederstürzte. Als ich wieder erwachte, befand ich mich hier, hier, in dieser lustigen Zelle, wo mich die Sonne selten besucht und ihre Strahlen nur dazu dienen, mir die dunkeln Schatten, die mich umringen, und die stumme Gestalt in ihrem Winkel zu zeigen. Wenn ich wachend daliege, höre ich bisweilen seltsame Schreie, die aus entfernten Teilen dieses großen Gebäudes zu mir dringen. Was sie zu bedeuten haben, weiß ich nicht; aber sie kommen nie von der bleichen Gestalt, die ihrer nicht einmal achtet. Von den ersten Schatten des Abends bis zum frühesten Lichte des Morgens steht sie regungslos auf demselben Fleck, horcht auf die Musik meiner Eisenkette und sieht zu, wie ich in meinem Strohlager umherwühle.“

Am Schlüsse dieses Manuskripts stand, von einer andern Hand geschrieben, folgende Note:

„Der Unglückliche, dessen Zustand in den vorstehenden Zeilen geschildert ist, bietet, ein trauriges Beispiel für die verderblichen Folgen schlechter Erziehung und so lange fortgesetzter Ausschweifungen, bis sich ihre Folgen nicht mehr gutmachen ließen. Das wüste Leben seiner jüngeren Jahre hatte Fieber und Delirium erzeugt. In einem solchen Anfall bemächtigte sich seiner die wunderliche Vorstellung, daß der Wahnsinn in seiner Familie erblich sei, eine Vorstellung, die sich auf eine wohlbekannte pathologische Theorie gründet, die einesteils von den Ärzten scharf bestritten, andererseits beharrlich verfochten wird. Dies hatte allmählich Trübsinn zur Folge, der nach und nach in ausgesprochen“ Tobsucht überging. Es ist aller Grund vorhanden, daß die mitgeteilten Tatsachen, freilich in ihrer Darstellung durch eine kranke Phantasie verdreht, wirklich stattgefunden haben, und wenn man die Jugendverirrungen des Wahnsinnigen kennt, muß man sich nur wundern, daß seine Leidenschaften, sobald sie einmal des Zügels der Vernunft entbehrten, ihn nicht zu noch schrecklicheren Taten verleitet haben.“ Mr. Pickwicks Kerze war heruntergebrannt, und als das Licht plötzlich ohne ein vorangehendes warnendes Flackern auslöschte, schrak er in seinem aufgeregten Zustande lebhaft zusammen. Hastig warf er die Kleidungsstücke, die er beim Aufstehen angezogen hatte, wieder ab, sah sich furchtsam im Zimmer um, hüllte sich rasch in die Bettdecke und verfiel bald darauf in tiefen Schlaf.

Der Morgen war schon weit vorgerückt, und die Sonne schien herrlich in sein Schlafgemach, als er erwachte. Die Beklemmung der letzten Nacht war mit den dunklen Schatten, die die Landschaft umfingen, gewichen, und das Licht des strahlenden Morgens erfüllte sein Inneres. Nach einem kräftigen Frühstück machten sich die vier Reisenden nebst einem Manne, der ihnen den Stein „in dem Bretterkistchen nachtrug, nach Gravesend auf den Weg. Sie erreichten die Stadt gegen ein Uhr – ihr Gepäck hatten sie bereits von Rochester aus nach London zurückschicken lassen –, und da sie glücklicherweise auf einem Postwagen noch Außensitze bekamen, langten sie fröhlich und gesund noch am selben Abend zu Hause an. Die nächsten drei oder vier Tage verbrachten sie mit Vorbereitungen für ihren Besuch in .Eatanswill. Da jedoch der Bericht über alles, was auf dieses wichtige Unternehmen Bezug hat, ein gesondertes Kapitel erheischt, so sei hier nur kurz die weitere Geschichte der archäologischen Entdeckung mitgeteilt.

Aus den Klubverhandlungen erhellt, daß Mr. Pickwick in einer am Abend nach seiner Rückkehr abgehaltenen Generalversammlung eine Vorlesung über seinen Fund hielt, in der er viele scharfsinnige und gelehrte Hypothesen über die Bedeutung der Inschrift zum besten gab. Ein geschickter Künstler hatte eine getreue Zeichnung des Steines angefertigt und sie lithographiert, um Abdrücke davon der königlichen Gesellschaft für Altertumsforschung und andern gelehrten Korporationen zu übersenden, ein Schritt, der viele neidische und eifersüchtige Federn in Bewegung setzte. Mr. Pickwick selbst ließ eine Broschüre erscheinen, in der er auf sechsundvierzig enggedruckten Seiten siebenundzwanzig verschiedene Erklärungen der Inschrift veröffentlichte. Eine weitere Folge war, daß drei alte Herren ihre erstgeborenen Söhne auf den gesetzlich niedrigsten Pflichtanteil von einem Schilling setzten, weil sie sich unterfangen hatten, den archäologischen Wert der Entdeckung in Zweifel zu ziehen; ferner, daß ein enthusiastischer Altertumsfreund aus Verzweiflung, daß er den Sinn der Inschrift nicht zu ergründen vermochte, sich selbst entleibte, daß Mr. Pickwick zum Ehrenmitglied von siebzehn einheimischen und ausländischen Gesellschaften ernannt wurde, und schließlich, daß keine dieser siebzehn Gesellschaften etwas aus der rätselhaften Schrift zu machen wußte und daher alle darin übereinstimmten, daß der Fund außerordentlich wichtig wäre.

Nur Mr. Blotton – möge dieser Name der ewigen Verachtung aller Verehrer des Geheimnisvollen und Erhabenen anheimfallen –, nur Mr. Blotton unterfing sich, mit der Zweifelsucht und Sophisterei einer gemeinen Seele einen Erklärungsversuch geltend zu machen, der ebenso hämisch wie lächerlich war. Mr. Blotton hatte nämlich, erfüllt von dem niedrigen Wunsche, den Glanz des unsterblichen Namens „Pickwick“ zu besudeln, in Person eine Reise nach Cobham gemacht und erlaubte sich nun nach seiner Rückkehr in einer Rede an den Klub die sarkastische Bemerkung, daß er den Mann gesprochen hätte, von dem der Stein gekauft worden wäre, und daß dieser allerdings über das Alter des Steins keine Auskunft zu geben gewußt, wohl aber das hohe Alter der Inschrift feierlich in Abrede gestellt hätte. Letztere wäre lediglich eine Arbeit, die er selbst in müßigen Stunden ausgeführt hätte und die „Bill Stump sein Grenzzeichen“ bedeuten sollte, wobei sich der gute Stump mehr an den Klang der Worte als an die strengen Regeln der Grammatik gehalten hätte.

Der Pickwick-Klub nahm, wie sich von einem so erleuchteten Institut erwarten läßt, diese Erklärung mit der gebührenden Verachtung auf, schloß den scheelsüchtigen und anmaßenden Mr. Blotton aus dem Klubverbande aus und dotierte Mr. Pickwick eine goldne Brille zum Beweise seines Vertrauens und der Anerkennung seiner Verdienste. Mr. Pickwick ließ sich zum Dank für den Klub porträtieren und das Bild zum ewigen Gedächtnis im Versammlungssaal aufhängen.

Mr. Blotton war zwar ausgestoßen, gab sich aber nicht geschlagen. Er schrieb gleichfalls eine Broschüre, dedizierte sie den siebzehn gelehrten Gesellschaften, wiederholte darin die bereits vermeldeten Angaben und deutete an, daß er die besagten siebzehn Korporationen lediglich für ebenso viele „Narrenverbände“ halte. Dadurch wurde natürlich die gerechte Entrüstung dieser siebzehn Gesellschaften geweckt, und es erschienen mehrere neue Flugschriften. Die fremden gelehrten Gesellschaften korrespondierten mit den einheimischen; die einheimischen übersetzten die Flugschriften der fremden ins Englische, die fremden die Flugschriften der einheimischen in alle nur erdenklichen Sprachen, und so begann der berühmte wissenschaftliche Streit, der aller Welt unter dem Namen „Pickwickfehde“ bekannt geworden ist. Der nichtswürdige Versuch, Mr. Pickwicks Ruhm zu schmälern, fiel indes auf das Haupt seines boshaften Urhebers zurück. Die siebzehn gelehrten Gesellschaften erklärten den anmaßenden Mr. Blotton für einen unwissenden Intriganten und schickten fleißiger als je Abhandlungen in die Welt. Und bis auf diesen Tag ist der Stein ein unlesbares Monument der Größe Mr. Pickwicks und ein unvergängliches Zeichen seines Sieges über die Kleinlichkeit seiner Feinde.

Dreizehntes Kapitel


Dreizehntes Kapitel

Ein Vorfall von einschneidender Wirkung auf Mr. Pickwicks Leben und Geschichte.

Mr. Pickwicks Wohnung in Goß Wallstreet war zwar nicht groß, aber einem Mann von seinem Genie und seiner Beobachtungsgabe vorzüglich angepaßt. Sein Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock, sein Schlafzimmer im zweiten, und beide lagen vornheraus, so daß Mr. Pickwick sowohl von seinem Schreibtisch im Wohnzimmer wie von seinem Ankleidespiegel im Schlafgemach aus stets Gelegenheit hatte, die menschliche Natur in allen ihren unzähligen Phasen an einem Platze zu beobachten, der ihm fortwährend ein buntes Volksleben vor Augen führte. Seine Hauswirtin, Mrs. Bardell, die trostlose Hinterbliebene eines Zollbeamten, war eine stattliche Frau von lebhaftem Temperament, angenehmem Äußern und wohlausgebildetem Kochgenie. In ihrem Hause gab es weder Kinder noch Dienstboten, noch Federvieh. Seine einzigen Insassen waren, außer Mr. Pickwick, ein großer Mann und ein kleiner Knabe, der erstere ein Mietsmann, der zweite ein Sprößling Mrs. Bardells. Der große Mann kam immer abends Punkt zehn Uhr nach Hause, um sich in eine zwerghafte französische Bettstelle in dem hintern Zimmer zu zwängen, wogegen die kindlichen Spiele und gymnastischen Übungen des jungen Mr. Bardell sich ausschließlich auf die Plätze vor den Türen der Nachbarn und die Gossen vor dem Hause beschränkten. Reinlichkeit und Ruhe herrschten in dem Hause, in dem Mr. Pickwicks Wille als oberstes Gesetz galt. Jedermann, der den geschilderten häuslichen Zustand und die bewunderungswürdige Selbstbeherrschung Mr. Pickwicks kannte, würde das Benehmen des Gelehrten an dem Morgen des Vortages der Reise nach Eatanswill höchst mysteriös und unergründlich vorgekommen sein. Er ging mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, schaute alle drei Minuten einmal unruhig zum Fenster hinaus, sah fortwährend auf die Uhr und ließ noch viele andere bei ihm selten vorkommende Zeichen von Ungeduld wahrnehmen. Offenbar lag ihm etwas sehr Wichtiges im Sinn; doch was das sein konnte, vermochte selbst Mrs. Bardell nicht zu ergründen.

„Mrs. Bardell!“ hob Mr. Pickwick endlich an, als das langwierige Staubabwischen der Haushälterin sich seinem Ende zuneigte.

„Sir?“

„Ihr kleiner Knabe bleibt aber lange aus, Mrs. Bardell!“

„Nun, es ist auch ein ziemlich weiter Weg nach dem Borough, Sir“, entgegnete Mrs. Bardell.

„Da haben Sie freilich recht“, versetzte Mr. Pickwick und versank abermals in Stillschweigen, während Mrs. Bardell mit dem Staubabwischen fortfuhr.

„Mrs. Bardell!“ begann Mr. Pickwick nach einigen Minuten von neuem.

„Sir?“ sagte Mrs. Bardell wie zuvor.

„Glauben Sie, daß es bedeutend teurer käme, zwei Personen zu erhalten als eine einzige?“

„Ach Gott, Mr. Pickwick“, rief Mrs. Bardell aus, bis an den Rand ihrer Haube errötend, da sie in den Augen ihres Mieters ein heiratslustiges Blinzeln zu bemerken glaubte. „Ach Gott, Mr. Pickwick, was ist das für eine Frage?“

„Glauben Sie es wirklich?“ forschte Mr. Pickwick weiter.

„Ach Mr. Pickwick“, erwiderte Mrs. Bardell und kam mit ihrem Staubtuch bis dicht an die Ellenbogen des Gelehrten. „Das kommt ganz darauf an, ob es eine haushälterische und verständige Person ist, Sir.“

„Sehr wahr“, versetzte Mr. Pickwick, „aber ich denke, daß die Person, die ich im Auge habe“, bei diesen Worten fixierte er Mrs. Bardell sehr scharf, „diese Eigenschaften und noch überdies eine beträchtliche Weltkenntnis und Klugheit besitzt, was mir alles wesentlich von Nutzen sein dürfte.“

„Ach Gott, Mr. Pickwick!“ rief Mrs. Bardell aus und errötete abermals bis an den Rand ihrer Haube.

„Ich bin wirklich davon überzeugt“, sagte Mr. Pickwick, lebhaft werdend, wie es gewöhnlich bei ihm der Fall war, wenn er von einem ihn interessierenden Gegenstande sprach. „Ich bin wirklich fest davon überzeugt, und, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mrs. Bardell, ich habe bereits meinen Entschluß gefaßt.“

„Ach du meine Güte, Sir!“ rief Mrs. Bardell.

„Sie werden es allerdings auffallend finden“, fuhr Mr. Pickwick liebenswürdig fort und blickte dabei seine Hausgenossin mit freundlichem Lächeln an, „daß ich Sie über diese Angelegenheit gar nicht zu Rat gezogen und nicht eher etwas erwähnt habe als in dieser Stunde, wo ich Ihren kleinen Jungen ausgeschickt … He, he, was sagen Sie?“

Mrs. Bardell konnte nur mit einem Blick antworten. Sie hatte Mr. Pickwick längst im stillen verehrt, und jetzt sah sie sich mit einem Male auf den Gipfel eines Glücks gehoben, von dem sie sich nicht im entferntesten hatte träumen lassen. Mr. Pickwick stand im Begriff, ihr einen Antrag zu machen! – Ein wohlüberlegter Plan! – Ja, nur deshalb hatte er ihren Knaben ausgeschickt. Wie herrlich war das ausgedacht und wie klug ausgeführt.

„Nun“, fragte Mr. Pickwick, „was meinen Sie?“

„Ach, Mr. Pickwick“, erwiderte Mrs. Bardell, vor innerer Bewegung zitternd. „Sie sind zu gütig, Sir.“

„Meinen Sie nicht, daß ich Ihnen ein gutes Teil Mühe dadurch ersparen würde?“ fragte Mr. Pickwick weiter.

„Ach, aus der Mühe mache ich mir gar nichts, Sir“, erwiderte Mrs. Bardell, „und ich will mich, wenn ich Sie nur zufrieden weiß, gern noch einer größeren unterziehen. Ach, es ist unaussprechlich gütig von Ihnen, Mr. Pickwick, auf meine verlassene Lage soviel Rücksicht zu nehmen!“

„Ich muß gestehen“, versetzte Mr. Pickwick, „daran habe ich gar nicht einmal gedacht. Sie werden auf diese Art, wenn ich in der Stadt bin, immer jemand haben, der bei Ihnen bleibt. Vorausgesetzt, daß es Ihnen recht ist.“

„Oh, wie glücklich werde ich sein“, seufzte Mr. Bardell.

„Und Ihr kleiner Knabe wird einen Gefährten haben, und zwar einen recht aufgeweckten, der ihn, ich will wetten, in einer Woche mehr Schelmenstreiche lehren wird, als er sonst wohl in einem Jahre lernen würde.“ Mr. Pickwick begleitete diese Worte mit einem gutmütigen Lächeln.

„Oh, Sie teurer …“

Mr. Pickwick stutzte.

„Oh, du lieber, guter, herrlicher Mann!“ rief Mrs. Bardell aus, sprang von ihrem Stuhle auf und schlang ohne weitere Umstände unter einem Katarakt von Tränen ihre Arme um Mr. Pickwicks Nacken.

„Gerechter Gott!“ schrie Mr. Pickwick, ganz außer sich. „Mrs. Bardell, gute Frau, du lieber Himmel! – Welche Situation! – Ich bitte, bedenken Sie doch, Mrs. Bardell, ich beschwöre Sie um alles in der Welt, wenn jemand käme …“

„Oh, mag kommen, wer will!“ rief Mrs. Bardell im Liebestaumel. „Ich lasse dich nicht! Oh, du lieber, du guter Mann!“ Dabei klammerte sie sich noch fester an ihn.

„Barmherziger Gott!“ ächzte Mr. Pickwick und rang aus Leibeskräften, um sich loszumachen. „Ich höre jemand die Treppe heraufkommen. Ich bitte Sie um des Himmels willen, liebe Frau, seien Sie doch nur vernünftig!“

Aber alle Bitten und Vorstellungen blieben fruchtlos, Mrs. Bardell war in Pickwicks Armen in Ohnmacht gefallen, und ehe er noch Zeit finden konnte, sie auf einen Stuhl niederzusetzen, trat Master Bardell ins Zimmer, gefolgt von Mr. Tupman, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß.

Mr. Pickwick war wie vom Donner gerührt. Seine liebliche Bürde in den Armen haltend, stand er bestürzt und regungslos da und starrte seine Freunde an, ohne sie zu begrüßen, ja auch nur den geringsten Versuch zu machen, ihnen eine Erklärung zu geben. Die Herren machten große Augen, und Master Bardell glotzte von einem zum andern.

Die Verwirrung Mr. Pickwicks und das Erstaunen seiner Jünger waren so grenzenlos, daß sie wahrscheinlich sämtlich bis zum Wiedererwachen der Lebensgeister der guten Mrs. Bardell regungslos in ihren Stellungen verharrt haben würden, wenn sich nicht die kindliche Zärtlichkeit des Sprößlings der Ohnmächtigen auf eine höchst rührende Weise Luft gemacht hätte. Er war anfangs in seinem Manchesteranzug mit den großen Metallknöpfen erstaunt und ungewiß an der Tür stehengeblieben, aber allmählich erwachte in ihm der Verdacht, Mr. Pickwick könne seiner Mutter ein Leid angetan haben.

Er erhob ein jämmerliches Geschrei, stürzte auf den Unsterblichen los und begann seinen Kücken und seine Beine so empfindlich zu bearbeiten, wie es die Kraft seines kleinen Armes und das Ungestüm seiner Aufregung nur irgend gestatteten.

„So halten Sie doch den Schlingel fest!“ rief Mr. Pickwick in seiner Angst. „Er ist ja rein des Teufels!“

„Was gibt es denn eigentlich?“ fragten die drei Jünger wie aus einem Munde.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Mr. Pickwick verdrießlich. „Schaffen Sie mir nur den Knaben vom Halse und helfen Sie mir, die Frau die Treppe hinunterzubringen.“

„Ach, ich fühle mich schon wieder besser“, seufzte Mrs. Bardell mit schwacher Stimme.

„Erlauben Sie mir, Sie hinunterzubegleiten“, sagte der stets galante Mr. Tupman.

„Vielen Dank, Sir, vielen Dank“, rief Mrs. Bardell hysterisch und ließ sich mit ihrem zärtlichen Sprößling von Mr. Tupman die Treppe hinabführen.

„Ich kann gar nicht begreifen“, sagte Mr. Pickwick, als sein Freund zurückkehrte, „was mit der Frau eigentlich los ist. Ich hatte ihr kaum meine Absicht angekündigt, mir einen Diener zu halten, als sie geradezu in Paroxismus verfiel und schließlich ohnmächtig wurde. Ein höchst merkwürdiger Fall!“

„Höchst merkwürdig!“ riefen die drei Freunde.

„Sie versetzte mich tatsächlich in eine höchst unangenehme Lage“, fuhr Mr. Pickwick fort.

„Höchst unangenehm!“ wiederholten die Jünger, hüstelten und warfen sich bedeutsame Blicke zu, die Mr. Pickwick nicht entgingen. Sie mißtrauten ihm offenbar.

„Es wartet ein Mann auf dem Gange“, unterbrach Mr. Tupman endlich das Schweigen.

„Ohne Zweifel der Bediente, von dem ich sprach“, sagte Mr. Pickwick. „Ich habe heute morgen nach ihm geschickt. Würden Sie vielleicht die Güte haben, ihn hereinzurufen, lieber Snodgraß.“

Mr. Snodgraß tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf präsentierte sich Mr. Samuel Weller.

„Sie erinnern sich meiner wohl noch?“ redete ihn Mr. Pickwick an.

„Sollt’s meinen“, erwiderte Sam mit einem pfiffigen Blinzeln. „Tolle Sache das – damals –, aber er hat Sie umzingelt; weg war er, ehe einer ’ne Prise nehmen konnte, wie?“

„Lassen wir das jetzt“, fiel Mr. Pickwick hastig ein. „Ich wollte von etwas anderm mit Ihnen reden. Setzen Sie sich.“

„Danke, Sir“, sagte Sam und setzte sich, ohne sich weiter nötigen zu lassen, nachdem er vorher seinen alten weißen Hut auf einen Tisch vor der Tür gelegt hatte. „Er sieht nicht zum besten aus“, bemerkte er dabei mit einem freundlichen Lächeln, „sitzt aber erstaunlich gut und war ’n hübscher Deckel, ehe er sich von seiner Krempe trennte; jetzt ist er aber um so leichter, was der eine Vorteil is, und dann läßt jedes Loch frische Luft rein, und das ist der zweite.“

„Gut, gut“, sagte Mr. Pickwick, „aber jetzt zu der Sache, wegen der ich Sie habe rufen lassen.“

„Sehr wohl, Sir“, unterbrach ihn Sam, „nur raus damit, wie der Vater zu dem Kinde sagte, als es den Pfennig verschluckt hatte.“

„Vor allen Dingen möchte ich wissen“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ob Sie in irgendeiner Hinsicht mit Ihrem gegenwärtigen Posten unzufrieden sind.“

„Bevor ich auf diese Frage antworte“, versetzte Sam, „möcht ich gern wissen, ob Sie mir vielleicht, zu ’nem bessern verhelfen wollen?“

Ein Strahl gütigen Wohlwollens glänzte auf Mr. Pickwicks Angesicht.

„Ich bin halb und halb entschlossen, Sie selbst in Dienst zu nehmen.“

„So, sind Sie das?“ sagte Sam.

Mr. Pickwick nickte bejahend.

„Lohn?“ fragte Sam.

„Zwölf Pfund jährlich“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Kleidung?“

„Zwei Anzüge.“

„Arbeit?“

„Sie hätten mich zu bedienen und diese Herren hier und mich auf unsern Reisen zu begleiten.“

„Schon daß der Anschlagzettel unten runterkommt“, sagte Sam mit Nachdruck. „Ich bin an ’nen einzelnen Herrn vermietet und mit die Bedingungen einverstanden.“

„Sie nehmen also die Stelle an?“ fragte Mr. Pickwick.

„‚türlich“, erwiderte Sam. „Wenn mir die Livree nur halb so gut paßt wie die Stelle, kann’s gleich losgehen.“

„Sie haben doch ein Zeugnis?“

„Da müssen Sie sich an die Wirtin vom ,Weißen Hirsch‘ wenden“, versetzte Sam.

„Könnten Sie noch heute abend den Dienst antreten?“

„Augenblicks stecke ich mich in die Livree, wenn die zur Hand is“, entgegnete Sam äußerst heiter.

„Sprechen Sie heute abend um acht Uhr vor“, sagte Mr. Pickwick, „und wenn meine Erkundigungen nach Wunsch ausfallen, werde ich für eine Livree sogleich Sorge tragen.“

Abgesehen von einem einzigen liebenswürdigen Fehltritt, an dem ein Hausmädchen zu gleichen Teilen die Schuld trug, lautete die Auskunft über Mr. Wellers Aufführung so günstig, daß Mr. Pickwick sich vollkommen beruhigt fühlte und noch am selben Abend den Vertrag abschloß. Mit der Raschheit und Energie, die nicht nur das öffentliche, sondern auch das Privatleben des außerordentlichen Mannes charakterisierte, führte er Sam Weller in eine der Niederlagen, wo alte und neue Männerkleider vorrätig sind und man der lästigen und unbequemen Formalität des Maßnehmens enthoben ist, und noch vor Einbruch der Nacht war Mr. Weller mit einem grauen Rock mit P.-K.-Knöpfen, einem schwarzen Hut mit einer Kokarde, einer fleischfarbigen, gestreiften Weste, lichten Beinkleidern und Gamaschen und sonstigem Zubehör ausstaffiert.

„Bin doch neugierig“, sagte der so plötzlich umgewandelte Mr. Weller, als er am nächsten Morgen den Außensitz der Eatanswiller Postkutsche eingenommen hatte, „ob ich ’nen Bedienten, ’nen Stallknecht, ’nen Wildhüter oder einen Portier vorstellen soll. Scheine mir so ’ne Art Ragout von all dem zu sein. Na, macht nichts. Komme auf diese Weise zu ’ner Luftveränderung, kriege viel zu sehen und habe wenig zu tun, was mir alles prächtig zusagt. Vivat hoch! Die Pickwickier sollen leben!“

Vierzehntes Kapitel


Vierzehntes Kapitel

Einiges über die Wahlen in Eatanswill.

Es scheint, als ob die Bewohner von Eatanswill, wie die so mancher andern Kleinstädte, eine außerordentlich hohe Meinung von ihrer Wichtigkeit hatten. Jedermann daselbst schien sich für verpflichtet zu halten, mit Leib und Seele zu einer der beiden großen Parteien des Städtchens, den Blauen und den Gelben, zu gehören. Die Blauen ließen keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie den Gelben entgegentreten konnten, wie auch die Gelben jede Gelegenheit ergriffen, mit den Blauen Händel anzufangen. Die Folge davon war, daß es jedesmal zu skandalösen Auftritten kam, wenn die Gelben und Blauen auf dem Rathaus, dem Markte oder bei Versammlungen auf öffentlichen Plätzen zusammentrafen. Bei diesem Mangel an Harmonie wurde jede Angelegenheit in Eatanswill zur Parteifrage. Wenn die Gelben den Vorschlag machten, den Marktplatz mit neuen Laternen zu versehen, so riefen die Blauen zu öffentlichen Versammlungen auf und brachen den Stab über den wahnsinnigen Plan. Wenn die Blauen noch einen Brunnen in der Hauptstraße anlegen wollten, so schrien die Gelben, einer für alle und alle für einen, über Verrücktheit. Es gab blaue Läden und gelbe Läden, blaue Wirtshäuser und gelbe Wirtshäuser; es gab sogar einen blauen Flügel und einen gelben Flügel in den Kirchen.

Natürlich war es ein wesentliches und notwendiges Erfordernis, daß jede dieser gewaltigen Parteien ihr besonderes Organ hatte. Demzufolge gab es in der Stadt zwei Blätter – die „Eatanswill-Gazette“ und den „Eatanswill-Independent“. Erstere vertrat die Grundsätze der Blauen, der letztere war ausgesprochen gelb. Beides waren vorzüglich geleitete Blätter. – „Unsere unwürdige Nebenbuhlerin, die ,Gazette'“ – „das gemeine und niederträchtige Schmierblatt, der ,Independent'“ – „das erbärmliche Machwerk, die ,Gazette'“ – solche und andre geistsprühende Ausfälle waren in jeder Nummer zu Dutzenden anzutreffen und riefen bei der einen Hälfte der Bevölkerung die unbändigste Freude, bei der andern die höchste Erbitterung hervor.

Mr. Pickwick hatte vermöge seines gewohnten Scharfsinns und Seherblickes einen besonders günstigen Moment zu seiner Reise nach Eatanswill gewählt. Einen solchen Parteikampf hatte es seit Menschengedenken nicht gegeben. Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall war der blaue Kandidat, und Horatio Fizkin Esq. von Fizkin-Lodge bei Eatanswill war von seinen Freunden dazu ausersehen, das Interesse der Gelben zu vertreten. Die „Gazette“ stellte den Wählern von Eatanswill vor, daß nicht nur die Augen Englands, sondern der ganzen zivilisierten Welt auf sie gerichtet seien, und der „Independent“ verlangte gebieterisch zu wissen, ob die Bürger von Eatanswill wirklich die großen Männer wären, für die sie von jeher gegolten, oder elende sklavische Werkzeuge, die weder den Namen Engländer noch die Segnungen der Freiheit verdienten. Noch nie zuvor fieberte die Stadt in einer solchen Erregung.

Es war spätabends, als Mr. Pickwick und seine Freunde mit Sams Beistand vom Dach der Eatanswiller Postkutsche herabstiegen. Große blaue Seidenfahnen flatterten an den Wänden des Gasthauses „Zum Stadtwappen“, und an jedem Fenster waren ungeheure Papierbogen angeklebt, auf denen mit riesigen Buchstaben geschrieben stand, daß hier das Komitee Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren täglich seine Sitzungen abhielt. Eine Menge Gaffer war auf der Straße versammelt und betrachtete einen Mann auf dem Balkon, der sich zugunsten Slumkeys kirschrot und heiser schrie, obgleich die Gewalt seiner Beweisgründe von dem beständigen Gerassel einer großen Trommel, die das Komitee Mr. Fizkins an der Straßenecke aufgestellt hatte, einigermaßen geschwächt wurde. An seiner Seite stand ein geschäftiges kleines Männchen, das von Zeit zu Zeit den Hut abnahm und die Menge zu einem Beifallsgeschrei aufforderte, das dann auch jedesmal mit der größten Begeisterung ertönte, und als der kirschrote Herr sich violett geschrien, schien er seinen Zweck ebensogut erreicht zu haben, als hätte ihn jedermann verstanden.

Die Pickwickier waren kaum abgestiegen, als sie von einem Haufen der „Unabhängigen“ umringt und mit dreimaligem donnerndem Hurra empfangen wurden, in das sofort die ganze Volksmenge mit einem furchtbaren Triumphgebrüll einstimmte.

„Noch ein Hurra!“ kreischte das Männchen auf dem Balkon, und wieder brüllte die Menge, als wären ihre Lungen aus Gußeisen.

„Slumkey, hoch!“ schrien die Unabhängigen.

„Slumkey, hoch!“ wiederholte Mr. Pickwick und schwang seinen Hut.

„Nieder mit Fizkin“, schrie der Haufe.

„Nieder mit Fizkin“, rief auch Mr. Pickwick.

Und abermals erhob sich ein Gebrüll wie von einer ganzen Menagerie, wenn der Elefant die Glocke zur kalten Küche gezogen hat.

„Wer ist Slumkey?“ flüsterte Mr. Tupman.

„Weiß nicht“, versetzte Mr. Pickwick ebenso leise. „Pst! Fragen Sie nicht. Es ist immer das beste, bei solchen Gelegenheiten zu tun, was der große Haufe tut.“

„Aber angenommen, es sind zwei Haufen“, warf Mr. Snodgraß ein.

„Dann hält man mit dem größeren“, entgegnete Mr. Pickwick.

Ganze Bände hätten nicht mehr sagen können.

Die Herren traten ins Haus. Die Menge bildete Spalier und brüllte. Die erste Frage galt einem Nachtlager.

„Können wir hier Betten haben?“ fragte Mr. Pickwick den Kellner.

„Weiß nicht, Sir“, war die Antwort, „fürchte, es ist alles besetzt, Sir; will nachfragen, Sir.“

Der Kellner entfernte sich, kehrte aber augenblicklich wieder zurück und fragte, ob die Herren „Blaue“ wären.

Da weder Mr. Pickwick noch seine Gefährten ein besonderes Interesse an dem einen oder dem andern Kandidaten hatten, war die Frage etwas schwer zu beantworten. In diesem Dilemma erinnerte sich Mr. Pickwick an seinen neuen Freund Mr. Perker.

„Kennen Sie einen Herrn namens Perker?“ forschte er.

„Allerdings, Sir; Agent für Samuel Slumkey, Hochwohlgeboren.“

„Blau, nicht wahr?“

„Jawohl, Sir.“

„Dann sind wir auch Blaue“, sagte Mr. Pickwick; aber da er bemerkte, daß der Kellner ein mißtrauisches Gesicht machte, gab er ihm seine Karte mit dem Auftrag, sie Mr. Perker sogleich zu überbringen.

Der Kellner entfernte sich und kehrte im Augenblick zurück, bat Mr. Pickwick, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes Zimmer im ersten Stock, wo Mr. Perker an einem langen, mit Büchern und Papieren bedeckten Tische saß.

„Ah, ah, mein werter Herr“, rief der kleine Mann und stand auf. „Sehr erfreut, mein werter Herr, sehr erfreut. Bitte, nehmen Sie Platz. So haben Sie also Ihren Plan ausgeführt? Sie sind hergefahren, um einer Wahl beizuwohnen, nicht wahr?“

Mr. Pickwick bejahte.

„Ein heißer Kampf, mein werter Herr!“

„Ich bin entzückt, das zu hören“, versetzte Mr. Pickwick und rieb sich die Hände. „Ich sehe nichts lieber als Betätigung des Patriotismus, gleichviel, bei welcher Partei! – Ein heißer Kampf also?“

„Freilich, freilich“, antwortete der kleine Anwalt. „Sehr heiß. Wir haben alle Gasthäuser für unsere Partei mit Beschlag belegt und unsern Gegnern nichts als die Bierschenken gelassen, ein vorzüglicher Staatsstreich, mein werter Herr, nicht wahr?“ Der Kleine lächelte selbstgefällig und nahm eine tüchtige Prise.

„Und was wird wohl das Ergebnis des Kampfes sein?“ fragte Mr. Pickwick.

„Noch zweifelhaft, mein werter Herr; ziemlich zweifelhaft bis jetzt. Fizkins Leute halten dreiunddreißig Wähler im ,Weißen Hirsch‘ im Wagenschuppen eingeschlossen.“

„Im Wagenschuppen?“ fragte Mr. Pickwick erstaunt.

„Sie haben sie dort eingesperrt, bis sie sie nötig haben. Der Zweck ist, wie Sie sehen, daß wir ihnen nicht beikommen sollen, und selbst wenn wir es könnten, würde es nichts helfen, denn sie haben sie absichtlich betrunken gemacht. Ein tüchtiger Mensch, Fizkins Agent, sehr tüchtig!“ Mr. Pickwick schwieg betroffen.

„Und doch haben wir ziemliche Hoffnung“, fuhr Mr. Perker fort und dämpfte seine Stimme bis zum Geflüster. „Wir haben eine kleine Teegesellschaft hier gehabt, gestern abend. – Fünfundvierzig Frauen, mein werter Herr, und wir haben jeder einen grünen Sonnenschirm zum Andenken geschenkt, als sie nach Hause gingen.“

„Einen Sonnenschirm?“ fragte Mr. Pickwick.

„Tatsache, mein werter Herr, Tatsache. Fünfundvierzig grüne Sonnenschirme zu sieben Schillingen und sechs Pence das Stück. Alle Frauen lieben den Putz außerordentlich. Sicherte uns ihre Männer, alle, und die Hälfte ihrer Brüder; Strümpfe, Flanell und all das Zeug haben gar keine Wirkung. Meine Idee, mein teurer Herr, ganz allein meine Idee. Ob’s hagelt, regnet oder vor Hitze glüht. Sie können keine zwanzig Schritte auf der Straße gehen, ohne nicht wenigstens einem halben Dutzend grüner Sonnenschirme zu begegnen.“

Der kleine Mann wollte sich ausschütten vor Lachen, als ein schmächtiger Herr mit rotem Haar, das hin und wieder lichte Stellen zeigte, und einer Miene voll feierlicher Wichtigkeit und unergründlicher Gelehrsamkeit eintrat. Er trug einen langen braunen Oberrock, eine schwarze Tuchweste und modefarbige Beinkleider. Ein Augenglas baumelte an seiner Brust, und auf seinem Kopfe balancierte er einen niedrigen Hut mit breiter Krempe. Der neue Ankömmling wurde Mr. Pickwick als Mr. Pott, Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“, vorgestellt.

Nach einigen wenigen einleitenden Bemerkungen wandte sich Mr. Pott an Mr. Pickwick und fragte mit feierlichem Tone:

„Der Wahlkampf erregt wohl großes Interesse in der Hauptstadt, Sir?“

„Ich glaube, ja“, antwortete Mr. Pickwick.

„Ich habe Grund zu vermuten“, sagte Mr. Pott und sah Mr. Perker mit Bejahung heischendem Blick an, „ich habe Grund zu vermuten, daß mein Artikel im letzten Samstagblatt einigermaßen dazu beigetragen hat.“

„Ohne Zweifel“, bestätigte der kleine Anwalt.

„Die Presse ist ein gar mächtiger Hebel!“ sagte Pott.

Mr. Pickwick war vollständig derselben Ansicht.

„Ich schmeichle mir, Sir“, fuhr Pott fort, „daß ich die ungeheure Gewalt, die mir anvertraut ist, nie mißbraucht habe. Nie habe ich die Waffe, die in meine Hände gelegt ist, gegen den heiligen Busen des Privatlebens oder die persönliche Ehre gekehrt; ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich meine Kräfte, so schwach sie auch sein mögen, stets den Prinzipien des – des …“

Der Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“ schien sich ein wenig verrannt zu haben, und Mr. Pickwick kam ihm zu Hilfe und sagte: „Ohne Zweifel.“

„Und wie, mein Herr“, sagte Pott, „wie, mein Herr, erlauben Sie mir, die Frage an Sie als einen Unparteiischen zu richten, wie ist die öffentliche Meinung in London über meinen Kampf mit dem ,Independent‘?“

„Man ist ohne Zweifel sehr aufgeregt“, fiel Mr. Perker mit einem schlauen Blick ein.

„Der Kampf“, fuhr Pott fort, „soll so lange dauern, als ich Kraft und Leben habe und das bißchen Talent, das mir beschieden, mir innewohnt. Ich will nicht ablassen von dem Kampfe, und mag er die Gemüter so aufregen, daß sie die gewöhnlichen Geschäfte des alltäglichen Lebens darüber vergessen; von diesem Kampfe, sage ich, will ich nicht ablassen, bis ich meine Ferse auf den ,Independent‘ von Eatanswill gesetzt habe. Die Bewohnerschaft von London und das ganze englische Volk sollen wissen, daß es auf mich rechnen kann, daß ich sie nicht verlassen werde, daß ich entschlossen bin, ihre Sache zu verfechten bis ans Ende.“

„Das nenne ich Mut, in der Tat, mein Herr“, rief Mr. Pickwick und schüttelte Mr. Pott warm die Hand.

„Sie, mein Herr, sind ein Mann von Scharfsinn und Begabung, das spür ich wohl“, sagte Mr. Pott; er war noch fast atemlos von der Wucht seiner patriotischen Erklärung.

„Und ich“, sagte Mr. Pickwick, „fühle mich durch Ihre Meinungsäußerung hoch geehrt. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Reisegefährten vorstelle, einige Mitglieder des Klubs, den ich – mit Stolz sage ich es – gegründet habe?“

„Es wird mich unendlich freuen“, antwortete Mr. Pott.

Mr. Pickwick verließ das Zimmer, holte seine drei Freunde und stellte sie in aller Form dem Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“ vor.

„Nun, mein lieber Pott“, fragte der kleine Mr. Perker, „was machen wir mit unsern Freunden?“

„Wir könnten, dächte ich, hier im Hause bleiben“, meinte Mr. Pickwick.

„Nicht ein Bett mehr, mein werter Herr, nicht ein Bett mehr frei.“

„Sehr ärgerlich“, brummte Mr. Pickwick.

„Außerordentlich“, meinten auch seine Reisegefährten.

„Warten Sie mal“ sagte Mr. Pott, „im ,Pfau‘ wären noch zwei Betten, und was Mrs. Pott betrifft, so wird es sie gewiß außerordentlich freuen, Mr. Pickwick und einen seiner Freunde bei sich zu beherbergen, wenn die beiden andern Herren und ihr Diener sich, so gut es geht, im ,Pfau‘ behelfen wollen.“

Die Einladung wurde dankend angenommen,‘ und nach einem gemeinschaftlichen Mahl im „Stadtwappen“ schieden die Freunde. Mr. Tupman und Mr. Snodgraß verfügten sich in den „Pfau“, und Mr. Pickwick und Mr. Winkle begaben sich in die Wohnung Mr. Potts, nachdem sie zuvor ausgemacht hatten, sich am nächsten Morgen wieder im „Stadtwappen“ zu treffen und den Zug Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren auf den Wahlplatz zu begleiten.

Mr. Potts Familie bestand nur aus dem Herausgeber und seiner Ehehälfte.

„Meine Liebe!“ stellte Mr. Pott vor. „Meine Frau – Mr. Pickwick aus London.“

Mrs. Pott erwiderte den väterlichen Händedruck des Gelehrten mit bezaubernder Anmut, und Mr. Winkle, der vergessen worden war, machte unbeachtet in einem dunkeln Winkel Kratzfüße auf Kratzfüße.

„P., mein Schatz!“ sagte Mrs. Pott.

„Mein Leben?“

„Bitte, stelle mir doch auch den andern Herrn vor.“

„Bitte tausendmal um Verzeihung“, rief Mr. Pott. „Mrs. Pott – Mr. – Mr. –“

„Winkle“, ergänzte Mr. Pickwick.

„Winkle“, wiederholte Mr. Pott, und die Zeremonie war vorüber.

„Wir müssen vielmals um Entschuldigung bitten, Ma’am“, nahm Mr. Pickwick das Wort, „daß wir schon nach einer so kurzen Bekanntschaft eine solche Störung in Ihrem Hauswesen verursachen.“

„Aber ich bitte Sie, meine Herren, ich bitte Sie“, erwiderte der weibliche Pott mit Lebhaftigkeit. „Es ist ein unendlicher Genuß für mich, ich versichere Ihnen, wenn ich wieder neue Gesichter sehe. Ich lebe so von einem Tag zum andern, von einer Woche zur andern in diesem Nest und bekomme niemand zu Gesicht.“

„Niemand, meine Liebe?“ fiel Mr. Pott schalkhaft ein.

„Niemand als dich“, entgegnete Mrs. Pott mit Bitterkeit.

„Sie müssen wissen, Mr. Pickwick“, erläuterte der Wirt, „wir sind von einer Menge Vergnügungen ausgeschlossen, an denen wir unter andern Verhältnissen teilnehmen könnten. Meine öffentliche Stellung als Herausgeber der ,Eatanswill-Gazette‘, der Ruf, in dem dieses Blatt in der ganzen Gegend steht, mein bewegtes Leben im Strudel der Politik…“

„P., mein Schatz!“ unterbrach ihn Mrs. Pott.

„Mein Leben?“

„Du solltest lieber ein Thema zur Sprache bringen, an dem diese Herren auch ein Interesse haben können.“

„Aber, meine Liebe“, entschuldigte sich der Publizist demütig, „Mr. Pickwick nimmt Interesse daran.“

„Desto besser für ihn, wenn er kann“, versetzte Mrs. Pott mit Nachdruck. „Ich meinerseits habe deine ewige Politik herzlich satt, und die Zänkereien mit dem ,Independenten‘, und was dergleichen Unsinn mehr ist, widern mich förmlich an. Ich begreife nicht, P., wie du nur deine Albernheiten so auskramen magst.“

„Aber, meine Liebe“, sagte Mr. Pott.

„Ach! Unsinn! Laß mich!“ unterbrach ihn Mrs. Pott. „Spielen Sie Ecarte, mein Herr?“

„Ich wäre unendlich glücklich, es unter Ihrer Anweisung zu lernen“, erwiderte Mr. Winkle.

„Pott, stelle das Tischchen hier ans Fenster, damit ich von deiner langweiligen Politik nichts mehr höre!“

„Jane“, rief Mr. Pott dem Mädchen zu, das eben die Lichter brachte, „geh hinunter in mein Studierzimmer und hole mir den Jahrgang von achtzehnhundertachtundzwanzig der ,Gazette‘. Ich will Ihnen vorlesen“, wandte er sich an Mr. Pickwick, „was ich damals über den unglaublichen Einfall der Gelben, einen neuen Schlagbaumwärter anzustellen, schrieb. Ich denke, es wird Ihnen gefallen.“

„Ich bin wirklich sehr gespannt“, sagte Mr. Pickwick.

Der Jahrgang wurde gebracht, der Publizist setzte sich, und Mr. Pickwick nahm an seiner Seite Platz.

Wir haben das Tagebuch Mr. Pickwicks vergebens durchblättert, in der Hoffnung, einen Auszug aus jenem Aufsatz zu finden. Wir haben allen Grund zu glauben, daß Mr. Pickwick von dem Feuer und der Frische der Darstellung ganz bezaubert war, und Mr. Winkle erinnerte sich auch, daß des Meisters Augen während der ganzen Dauer der Vorlesung, wahrscheinlich im Übermaße des Genusses, geschlossen waren.

Die Ankündigung, daß das Essen aufgetragen sei, machte sowohl dem Ecarte wie der Rekapitulation der stilistischen Feinheiten der „Eatanswill-Gazette“ ein Ende. Mrs. Pott war eitel Entzücken und rosenfarbener Laune. Mr. Winkle hatte reißende Fortschritte in ihrer Gunst gemacht, und sie trug kein Bedenken, ihm im Vertrauen zuzuflüstern, daß Mr. Pickwick ein „charmanter alter Herr“ sei, ein Ausdruck, der einen Grad von Familiarität verriet, den sich nur wenige erlaubt haben würden, die mit dem Riesengeiste des Mannes näher bekannt waren. Nichtsdestoweniger haben wir es aufgezeichnet, um dadurch zugleich einen rührenden und überzeugenden Beweis zu geben, wie leicht Mr. Pickwick jedermanns Herz und Neigung zu gewinnen imstande war.

Es war spät in der Nacht, lange, nachdem sich Mr. Tupman und Mr. Snodgraß im hintersten Trakt des „Pfauen“ dem Schlafe überlassen hatten, als sich die beiden Freunde zur Ruhe begaben. Mr. Winkle verfiel bald in tiefen Schlaf, aber seine Gefühle und seine Bewunderung waren mächtig erregt, und manche Stunde noch, nachdem ihm der Schlaf die Außenwelt unzugänglich gemacht hatte, umgaukelten ihn das Angesicht und die Gestalt der reizenden Mrs. Pott.

Das Getöse und der Lärm am folgenden Morgen waren hinreichend, um jeden Gedanken, der nicht unmittelbar mit der bevorstehenden Wahl in Verbindung stand, auch dem verzücktesten Träumer aus dem Kopfe zu treiben. Das Rasseln der Trommeln, das Blasen der Hörner und Trompeten, das Schreien der Menschen und das Getrappel der Pferde dröhnten vom ersten Anbruch des Tages durch die Straßen, und Scharmützel zwischen den Plänklern beider Parteien belebten gelegentlich die Szene.

„Nun, Sam“, sagte Mr. Pickwick, als sein Bedienter in das Schlafzimmer trat, „heute ist alles lebendig, denke ich?“

„Reguläres Wettrennen, Sir“, antwortete Mr. Weller. „Unsre Leute halten heute Versammlung drunten im ,Stadtwappen‘ und haben sich bereits heiser gejohlt.“

„So?“ sagte Mr. Pickwick. „Sie sind wohl ihrer Partei sehr ergeben?“

„Tag meines Lebens, noch keine solche Ergebenheit gesehen, Sir.“

„Jeder stellt seinen Mann. Nicht wahr?“

„Ungemein“, erwiderte Sam. „Hab mein Leben Menschen noch nich so viel essen und trinken sehen. Nimmt mich wunder, daß sie nich platzen.“

„Vermutlich eine übelangebrachte Freigebigkeit der hiesigen Honoratiorenschaft“, meinte Mr. Pickwick.

„Sehr möglich“, erwiderte Sam kurz.

„Frische Gesellen scheinen es zu sein“, bemerkte Mr. Pickwick, einen Blick aus dem Fenster werfend.

„Ungemein frisch“, erwiderte Sam. „Ich und die zwei Kellner im ,Pfau‘ hatten die Independenten, wo gestern dort zu Nacht speisten, unter der Pumpe.“

„Die Independentenwähler unter der Pumpe?“

„Tja. Jeder schlief, wo er grade hingefallen war. Wir haben se heute morgen aus dem Dreck gezogen, einen nach dem andern, und sie unter den Brunnen gestellt, alle in schönster Ordnung. Das Komitee hat ’n Schilling pro Stück gezahlt.“

„Ist es denn möglich!“ rief Mr. Pickwick ganz erstaunt.

„Mein Gott, Sir“, sagte Sam, „wo sind Sie denn auf die Welt gekommen, daß Sie so was nich wissen? Das is doch noch gar nischt.“

„Nichts?“ fragte Mr. Pickwick.

„Noch gar nichts! Den Abend vor der letzten Wahl haben se das Schenkmädchen im ,Stadtwappen‘ bestochen, und die hat ’n Hokuspokus mit dem Brandy gemacht, wo sie den vierzehn Wählern einschenkte, wo im Hause über Nacht waren und noch nich abgestimmt hatten.“

„Was soll das heißen, einen Hokuspokus mit dem Brandy?“ fragte Mr. Pickwick.

„Hat ’n Schlaftränkchen reingegossen. Hol mich dieser und jener, wenn se nich alle wie die Ratzen schliefen, bis die Wahl schon zwölf Stunden vorüber war. Einen davon haben se auf ’n Schubkarren geladen und ins Stimmhaus gebracht, aber se konnten ’n nich hoch kriegen und mußten ’n wieder ins Bett bringen.“

„Seltsame Kniffe das“, sagte Mr. Pickwick, halb zu sich selbst, halb zu Sam.

„Noch nich halb so seltsam, Sir, wie die kuriose Geschichte, wo mal bei ’nem Wahlkampf hier meinem Alten passierte“, versetzte Sam.

„Wieso das?“

„Na, er führte mal jemand her; die Wahlzeit war vor der Tür, und er wurde von der einen Partei bestellt, Wahlmänner von London abzuholen. Den Abend vorher läßt ’n das Komitee der andern Partei heimlich rufen, und er kommt in ’ne große Stube, vollgepfropft mit Herren, Haufen von Papier, Tinte, Federn und so weiter. ,Ah, Mr. Weller‘, sagte der Präsident, ,freue mir, Ihnen zu sehen, Sir; wie befinden Sie sich, Sir?‘ – ,Sehr gut, danke Ihnen, Sir‘, sagt mein Alter, ,hoffe, Sie sind auch wohlauf.‘ – .Recht wohl, danke Ihnen‘, sagt der Herr, ,setzen Sie sich, Mr. Weller, bitte setzen Sie sich.‘ – Mein Vater setzt sich, und die beiden – er und der alte Herr – glotzen sich an. Rennen Sie mir nicht mehr?‘ fragt der Herr – .Wüßte nicht‘, meint mein Alter. – .Aber ich kenne Ihnen‘, sagt der Herr, ,ich kannte Ihnen schon, wie Sie noch ganz klein waren.‘ – .Möglich, aber ich erinnere mir nicht mehr‘, sagt mein Vater. – ,Merkwürdig‘, sagt der Herr, .Sie müssen ein kurzes Gedächtnis haben, Mr. .‘ – ,So besonders ist es freilich nicht‘, sagt mein Vater. – ,Glaube ich Ihnen‘, sagt der Herr. – Na und dann schenkten sie ihm ’n Glas Wein ein, redeten mit ihm über sein Fuhrwerk, brachten ihn in gute Laune und zuletzt drückten sie ihn ’ne Zwanzigfundnote in die Hand. – ,Is kein schöner Weg von hier nach London‘, sagt der Herr. – ,Lausig!‘ sagt mein Alter. – .Besonders am Kanal, glaube ich‘, sagt der Herr. – ,Die Strecke ist freilich mehr als mulmig‘, sagt mein Vater. – ,Nun, Mr. Weller‘, sagt der Herr, ,Sie führen ja doch ’ne gute Peitsche und können mit ihren Pferden machen, was Sie wollen. Wir halten große Stücke auf Ihnen, Mr. Weller, und wenn Ihnen auf Ihrer Fahrt mit den Wahlmännern ’n kleiner Unfall zustoßen möchte, wenn Sie sie zum Beispiel in den Kanal schmeißen würden, ohne daß einer dabei zu Schaden käme, da würde das Geld Ihnen gehören‘, sagt er doch. – ,Meine Herren, Sie sind sehr gütig‘, sagt mein Vater ,und ich will mit noch ein Glas Wein Ihre Gesundheit betrinken‘, sagt er und tut es auch; dann schaufelt er das Geld ein und macht seinen Kratzfuß. – Sie werden es kaum glauben“, fuhr Sam mit einem unverschämten Blick fort, „daß der Wagen, wie er am andern Tag mit den Wählern da längs kam, an derselben Stelle umschmiß und die Passagiere samt und sonders in den Kanal flogen.“

„Sie kamen aber doch wieder heraus?“ fragte Mr. Pickwick hastig.

„N – na“, versetzte Sam gedehnt, „ich glaube, ein alter Herr ist vermißt worden; ich weiß nur, sein Hut kam wieder zum Vorschein, aber ob sein Kopf drin war oder nich, kann ich nich genau sagen. Aber was mir bei dem sonderbaren Zufall am meisten wundert, ist, daß der Herr voraussagte, daß mein Vater am selben Platz und am selben Tag umwerfen würde.“

„Es ist ohne Zweifel ein ganz außerordentlicher Zufall. Aber bürsten Sie meinen Hut aus, Sam, ich höre Mr. Winkle zum Frühstück rufen.“ Mr. Pickwick eilte ins Wohnzimmer hinab, wo er das Frühstück aufgetragen und die Familie bereits vollzählig versammelt fand. Das Mahl wurde hastig eingenommen und die Hüte der Herren von den schönen Händen Mrs. Potts mit einem Ungeheuern blauen Bande geziert. Da Mr. Winkle es übernommen hatte, die Dame Pott zu einem Hausgiebel unweit der Rednertribüne zu geleiten, begaben sich Mr. Pickwick und Mr. Pott allein nach dem „Stadtwappen“, zu dessen Hinterfenster hinaus jemand vom Slumkey-Komitee eine Ansprache an sechs kleine Jungen und ein Mädchen hielt, die er bei jedem zweiten Satz mit der imposanten Anrede: „Männer von Eatanswill“ beehrte, worauf die erwähnten sechs kleinen Knaben in Beifallsstürme ausbrachen.

Der Hofraum wies unverwechselbare Merkmale des Glanzes und der Macht der Blauen von Eatanswill auf. Eine Armee von Fahnen war da zu sehen, manche nur an einer Stange, manche sogar an zweien; alle trugen passende Losungen in vier Fuß hohen goldenen Buchstaben von entsprechender Breite. Auch für ein großes Orchester war gesorgt; Trompeter, Fagottisten und Trommler, vier Mann hoch, verdienten ihr Geld im Schweiße ihres Angesichts. Besonders die Trommler, die wahre Muskelpakete darstellten. Ein Korps von Schutzleuten mit blauen Knüppeln, zwanzig Komiteemitglieder mit blauen Schärpen sowie ein wüster Haufen von Stimmberechtigten mit blauen Kokarden nebst Wahlmännern zu Fuß und hoch zu Roß waren aufmarschiert; ein offner Wagen mit vier Pferden für Samuel Slumkey Hochwohlgeboren und vier Zweispänner für seine Freunde und Gönner standen bereit. Die Fahnen flatterten, Und das Musikkorps spielte, die Schutzleute fluchten, die zwanzig Komiteemitglieder zankten sich, und die Menge brüllte, die Pferde bäumten sich, und die Postillions schwitzten; kurz, alles war zu Nutz, Frommen, Ehren und Ruhm Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall, des einen Bewerbers um die Vertretung des Fleckens Eatanswill im Unterhaus, auf den Beinen. Laut und lang ertönte das Jubelgeschrei, und gewaltig war das Rauschen einer der blauen Fahnen mit der Inschrift: „Freiheit der Presse“, als die Menge das rothaarige Haupt Mr. Potts am Fenster erblickte, und über alle Beschreibung steigerte sich der Enthusiasmus, als Samuel Slumkey Hochwohlgeboren selbst in Stulpenstiefeln und mit einer blauen Halsbinde sich zeigte, besagten Pott am Henkel faßte und durch melodramatische Pantomimen seine überschwenglichen Dankesgefühle gegenüber der „Eatanswill-Gazette“ vor der Menge an den Tag legte. „Ist alles bereit?“ fragte Samuel Slumkey Hochwohlgeboren Mr. Perker.

„Alles, mein werter Herr“, war die Antwort des kleinen Mannes.

„Es ist hoffentlich nichts vergessen worden?“

„Nichts, nichts, mein werter Herr, durchaus nichts. Am Hoftor stehen zwanzig Kerle mit frischgewaschnen Fäusten zum Händeschütteln, und sechs Kinder sind bereits auf den Armen ihrer Mütter, um sich auf die Wangen tätscheln und um ihr Alter fragen zu lassen. Geben Sie sich besonders mit den Kindern ab, mein werter Herr; so etwas hat immer eine große Wirkung!“

„Ja, ja, werde ich machen“, erwiderte der hochachtbare Samuel Slumkey.

„Und wenn Sie vielleicht, mein wertgeschätzter Herr“, fuhr der umsichtige kleine Mann fort, „wenn Sie es vielleicht so einrichten können – ich will nicht sagen, daß es unerläßlich ist –, aber wenn Sie es so einrichten könnten, daß Sie eins von den Kindern küssen würden – das würde sicher einen sehr vorteilhaften Eindruck auf die Menge machen.“

„Würde es nicht genausogut wirken, wenn jemand vom Komitee das tun würde?“ fragte der hochehrenwerte Samuel Slumkey.

„Ich fürchte, nein“, sagte der Agent. „Wenn Sie selbst es tun würden, mein wertgeschätzter Herr, dann würde Sie das ausgesprochen populär machen, denke ich.“

„Na schön“, sagte der hochehrenwerte Samuel Slumkey mit niedergeschlagener Miene, „dann muß es eben überstanden werden. Nichts zu machen.“ Unter dem Jubelgeschrei der versammelten Menge stellten sich das Musikkorps, die Wachleute, das Komitee und die Wahlmänner und die Berittenen und die Wagen in Reih und Glied, und jeder von den Zweispännern wurde mit so viel Herren vollgepfropft, als aufrecht darin Platz hatten; der für Mr. Perker bestimmte war mit Mr. Pickwick, Mr. Tupman, Mr. Snodgraß und ungefähr einem halben Dutzend Komiteemitgliedern bepackt. Es war ein Augenblick ungeheurer Spannung, als der Zug auf Samuel Slumkey Hochwohlgeboren wartete. Plötzlich erscholl ein gewaltiges Jubelgeschrei.

„Er kommt“, rief der kleine Mr. Perker mit einer Aufregung, die um so stärker wirken mußte, als der Zug nicht sehen konnte, was vorging.

Ein zweites, noch stärkeres Jubelgeschrei.

„Er hat den Männern die Hände geschüttelt!“

Ein drittes brausendes Hurra.

„Er hat die Kleinen getätschelt“, rief Mr. Perker, bebend vor Erregung.

Abermaliger Sturm.

„Er hat eins von ihnen geküßt“, schrie das Männchen entzückt.

Wieder ein Gebrüll.

„Er hat noch eins geküßt!“

Ein drittes Gebrüll.

„Er küßt sie alle der Reihe nach!“ schrie Mr. Perker begeistert, und unter dem betäubenden Jubelgeschrei der Menge setzte sich der Zug in Bewegung.

Wieso oder auf welche Weise er sich mit dem Zuge der Gegenpartei verwickelte und wie er sich aus der darauf folgenden Verwirrung wieder herausarbeitete, läßt sich nicht . feststellen, da Mr. Pickwick gleich anfangs von einer gelben Fahnenstange der Hut bis ans Kinn über das Gesicht geschlagen wurde. Als der Gelehrte wieder einen Ausblick auf seine Umgebung gewinnen konnte, sah er sich, wie er erzählt, mitten in einer ungeheuren Staubwolke, von grimmigen Gesichtern und wild geballten Fäusten, umringt. Er wurde wie von einer unsichtbaren Gewalt aus dem Wagen gerissen und persönlich in den Kampf verwickelt; aber mit wem oder wie oder wo, ist er nicht imstande zu bestimmen. Schließlich fühlte er sich von der andrängenden Menge auf eine hölzerne Treppe hinaufgeschoben, und als er seinen Hut vom Haupte löste, sah er sich von seinen Freunden umgeben und stand ganz vorn auf der linken Seite der Wahltribüne; die rechte war von den Gelben besetzt und das Zentrum für den Bürgermeister und seine Funktionäre reserviert. Einer der letzteren, der wohlbeleibte Ausrufer von Eatanswill, gebot mit einer ungeheuren Glocke Stillschweigen, während sich Horatio Fizkin Esq. und Samuel Slumkey Hochwohlgeboren, beide die Hand auf dem Herzen, mit äußerster Leutseligkeit gegen die brausende See von Köpfen verbeugten, die vor dem Gerüste wogte und mit Schreien, Jauchzen, Jubeln und Brüllen ein Getöse hervorbrachte, das einem Erdbeben Ehre gemacht haben würde.

„Dort ist Winkle“, sagte Mr. Tupman und zupfte seinen Freund am Ärmel.

„Wo?“ fragte Mr. Pickwick, seine Brille hervorziehend, die er glücklicherweise bis dahin in der Tasche behalten hatte.

„Dort“, antwortete Mr. Tupman, „auf dem Dachgiebel drüben.“

Und wirklich saß Mr. Winkle neben Mrs. Pott in der wuchtigen Hohlkehle eines Ziegeldaches ganz behaglich auf einem Stuhl. Sie winkten zum Zeichen des Erkennens mit ihren Taschentüchern, und Mr. Pickwick warf der Dame eine Kußhand zu.

Die Feierlichkeit hatte noch nicht begonnen, und da eine untätige Menge immer zu Spaßen aufgelegt ist, so war diese höchst unschuldige Handlung hinreichend, Anlaß zu rohen Scherzen zu geben.

„Ist das ein alter Sünder!“ rief eine Stimme. „Schielt noch nach den Weibern.“

„Ehrwürden Ziegenbock!“ meckerte ein anderer.

„Setzt sich noch extra die Brille auf, um nach einer Ehefrau zu schielen.“

„Gib auf deine Frau acht, Pott“, kreischte jemand in hohen Tönen, und ein schallendes Gelächter brach los.

Da diese Spottrufe außerdem von hämischen Vergleichen mit einem alten Bock und andern Witzeleien ähnlicher Art begleitet waren, die ganz dazu angetan schienen, die Ehre einer unschuldigen Dame anzutasten, kannte die Entrüstung des großen Mannes keine Grenzen; da aber im selben Augenblick Stillschweigen geboten wurde, begnügte er sich damit, auf die Menge einen sengenden Blick des Mitleids wegen ihrer mißleiteten Sinnesart zu werfen, was jedoch leider abermals ein furchtbares Gelächter zur Folge hatte.

„Ruhe!“ brüllten die Funktionäre.

„Whiffin, gebieten Sie Ruhe“, sagte der Bürgermeister mit der Würde, die seine hohe Stellung erforderte.

Der Ausrufer gab ein zweites Konzert mit seiner Glocke, und ein Mann in der Menge rief: „Frische Semmeln!“, was wiederum ein großes Gelächter erregte.

„Gentlemen“, schrie der Bürgermeister so laut, als es nur immer die Kraft seiner Stimme gestattete. „Gentlemen, Brüder, Wahlmänner der Stadt Eatanswill, wir sind heute hier versammelt, um einen Abgeordneten an Stelle unseres letzten …“

Abermals gellte eine vorlaute Stimme und rief:

„Hoch der Nagelschmied!“

Diese Anspielung auf das bürgerliche Gewerbe des Sprechers wurde mit einem ungeheuren Beifallsgeschrei aufgenommen, das unter Begleitung der Glockenmusik des öffentlichen Ausrufers den übrigen Teil der Rede, mit Ausnahme des Schlußsatzes, unverständlich machte. In diesem dankte der Bürgermeister der Versammlung für die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie ihn von Anfang bis zu Ende angehört hätte, eine Dankbezeugung, die ein zweites Jubelgeschrei erzeugte, das ungefähr eine Viertelstunde dauerte.

Hierauf bat ein großer hagerer Mann mit einer sehr steifen weißen Halsbinde, nachdem er wiederholt von der Menge aufgefordert worden war, einen Jungen nach Hause zu schicken und fragen zu lassen, ob er seinen Stimmzettel nicht unter dem Kopfkissen habe liegenlassen, die Versammlung um die Erlaubnis, eine taugliche und geeignete Person vorschlagen zu dürfen, die die Volksinteressen im Parlamente zu vertreten hätte, und als er sodann Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, genannt hatte, erhoben die Fizkinisten ein beifälliges und die Slumkeyisten ein mißbilligendes Geschrei, das so lange anhielt und so laut war, daß er und sein Adjunkt, statt zu sprechen, ebensogut lustige Lieder hätten singen können, ohne daß es aufgefallen wäre.

Nachdem die Freunde Horatio Fizkins Esq. in ihrem Triumph genügend geschwelgt hatten, trat ein gallsüchtiges Männchen mit einem rötlichgelben Gesicht vor, um eine andre taugliche und geeignete Person vorzuschlagen, die die Wahlbürger von Eatanswill im Unterhaus vertreten könnte. Leider besaß er kein Organ für die heitere Summung der Menge. So kam es, daß er nach ein paar sehr kurzen Proben seiner bilderreichen Beredsamkeit zunächst diejenigen Störenfriede beschimpfte, die in der Menge standen, und dann dazu überging, mit den Herren auf der Tribüne Flegeleien auszutauschen. Dabei entstand ein solcher Lärm, daß er genötigt wurde, seine Gefühle nur noch in bitterernsten Gebärden auszudrücken. Das tat er denn auch und überließ anschließend seinem Assistenten die Szene. Dieser ließ sich nicht weiter beirren, sondern las eine Rede von halbstündiger Dauer bis zum letzten Wort herunter.

Als dann Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill in höchsteigener Person auftrat, um die Wahlversammlung anzureden und kaum zu sprechen angefangen hatte, fiel die Musikbande, die von Samuel Slumkey Hochwohlgeboren aufgestellt war, mit einer Heftigkeit ein, gegen die ihre Leistungen am Morgen das reinste Kinderspiel waren.

Zur Vergeltung bearbeitete die Partei der Gelben die Köpfe und Rücken der Blauen in einer Weise, die die Blauen zu dem Versuch nötigte, sich von dieser lästigen Nachbarschaft zu befreien. Eine Prügelszene entwickelte sich, die der Bürgermeister nicht billigen zu können glaubte, weshalb er zwölf Schutzleute mit dem strikten Befehl entsandte, die Rädelsführer zu umzingeln, deren Anzahl sich ungefähr auf zweihunderundfünfzig Mann belief. Diese Auftritte versetzten Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge und seine Anhänger so in Zorn und Wut, daß schließlich Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge in eigner Person um die Erlaubnis bat, seinen Gegner, Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall, zu fragen, ob die Musikbande mit seiner Bewilligung spiele – eine Frage, deren Beantwortung Samuel Slumkey Hochwohlgeboren mit einer Entschiedenheit ablehnte, die Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge veranlaßte, seinem Gegner mit der Faust zu drohen, was diesen derart reizte, daß er Horatio Fizkin Esq. zum Kampf auf Leben und Tod herausforderte. Auf diese Verletzung aller bekannten Gesetze und jedes Herkommens ordnete der Bürgermeister ein neuerliches Glockenkonzert an und erklärte, er werde sowohl Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge als auch Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall vor sich bescheiden und den Frieden beschwören lassen. Auf diese furchtbare Androhung legten sich die Rechtsbeistände der beiden Kandidaten ins Mittel, und nachdem sich die Anhänger der zwei Parteien drei Viertelstunden lang herumgezankt hatten, lüftete Horatio Fizkin Esq. seinen Hut gegen Samuel Slumkey Hochwohlgeboren und Samuel Slumkey Hochwohlgeboren den seinigen gegen Horatio Fizkin Esq. Das klingende Spiel hörte auf, die Menge war verhältnismäßig still, und Horatio Fizkin Esq. konnte fortfahren.

Die Reden der beiden Kandidaten, so verschieden sie in jeder Rücksicht waren, ließen den großen Vorzügen und Verdiensten der Wahlbürger von Eatanswill volle Gerechtigkeit widerfahren. Jeder sprach sich dahin aus, daß die Welt noch nie freiere, aufgeklärtere, patriotischere, hochherzigere, uneigennützigere Männer gesehen habe als die Wähler der eignen Partei. Jeder spielte fein darauf an, daß die gegnerischen Wahlmänner an Gehirnerweichung und ähnlichen Schwächen litten, die sie unfähig machten, den wichtigen Pflichten nachzukommen, die ihnen oblägen. Beide sagten, der Handel, die Industrie und der Wohlstand von Eatanswill lägen ihnen mehr am Herzen als irgend etwas auf der Welt, und jeder meinte, mit Zuversicht behaupten zu dürfen, daß er der Erwählte des Tages werden würde.

Hierauf wurde durch Handaufheben auf der Tribüne abgestimmt. Der Bürgermeister entschied zugunsten Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall. Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bestand auf Gegenprobe, die jedoch das Resultat bestätigte. Sodann wurde dem Bürgermeister eine Dankadresse dotiert für sein würdevoll“ Benehmen als Vorsitzender.

Die Züge reihten sich wieder aneinander, die Wagen arbeiteten sich langsam durch das Gedränge, und die Menge fluchte und jauchzte ihnen nach, je nachdem es Sinnesart oder Laune eingaben.

Während der ganzen Zeit der Stimmenzählung war die Stadt in fieberischer Aufregung. Alles wurde auf die entgegenkommendste und nobelste Art betrieben. Konsumartikel waren in allen Wirtshäusern merkwürdig wohlfeil, und Sänften standen in allen Straßen für Wähler bereit, die von einem vorübergehenden Schwindel befallen wurden, eine Epidemie, die während des Wahlkampfes unter der sämtlichen stimmfähigen Bürgerschaft in einem höchst beunruhigenden Maße grassierte und unter deren Einwirkung ganze Massen von Menschen besinnungslos auf dem Pflaster umherlagen. Eine kleine Anzahl von Wahlmännern hielt ihre Stimme bis auf den letzten Tag zurück. Es waren das spekulative Köpfe, die sich noch von keiner Partei durch Argumente irgendwelcher Art hatten überzeugen lassen, so häufig sie auch den Zusammenkünften beigewohnt hatten.

Eine Stunde vor Schluß der Zählung bat Mr. Perker um die Ehre einer geheimen Unterredung mit diesen einsichtsvollen, edelgesinnten und patriotischen Männern. Es wurde ihm willfahrt. Seine Argumente waren kurz, aber überzeugend. Die Herren begaben sich in hellen Haufen in den Stimmsaal, und, als sie ihre Namen eingetragen hatten, wurde auch Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall als Abgeordneter für Eatanswill eingetragen.

Erstes Kapitel


Erstes Kapitel

Die Pickwickier.

Der erste Lichtstrahl, der das Dunkel erleuchtet und blendende Helligkeit an Stelle jener Finsternis verbreitet, in welche die frühe Geschichte der öffentlichen Laufbahn des unsterblichen Pickwick bisher eingehüllt schien, ging von der sorgsamen Durchsicht folgender Eintragungen in den Sitzungsberichten des Pickwick-Klubs aus, die der Herausgeber dieser Papiere seinen Lesern mit lebhaftem Vergnügen als Beweis für die gründliche Aufmerksamkeit, den unermüdlichen Fleiß und das feine Unterscheidungsvermögen vorlegt, womit die Nachforschungen in der Fülle verschiedenartiger Dokumente, die ihm anvertraut waren, seinerseits durchgeführt worden sind.

12. Mai 1817. Präsidium: Joseph Smiggers, Hochwohlgeb. SVL.–PKM.1 Folgende Resolutionen wurden einstimmig angenommen:

I. „Daß die Sitzungsteilnehmer mit dem Gefühl ungetrübter Befriedigung sowie uneingeschränkter Zustimmung die Verlesung des von Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM.2, beigebrachten Schriftstücks anhörten, welches den Titel trug: Spekulationen über die Quelle der Tümpel von Hampstead nebst einigen Bemerkungen zur Theorie der Stichlinge‘, und daß die Sitzungsteilnehmer hiermit dem besagten Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., ihren wärmsten Dank dafür aussprechen.“

II. „Daß die Sitzungsteilnehmer voll und ganz die Vorteile würdigen, welche der Wissenschaft gleichermaßen aus dem eben erwähnten Opus wie überhaupt aus den unermüdlichen Forschungen Samuel Pickwicks, Hochwohlgeb. HV. PKM., in Hornsey, Highgate, Brixton und Camberwell erwachsen müssen, und daher nicht umhin können, sich den unschätzbaren Gewinn lebhaft zu vergegenwärtigen, der sich aus einer Ausdehnung der Spekulationen dieses Gelehrten auf ein breiteres Feld, aus einer Erweiterung seiner Reisen und damit einer Vergrößerung seines Beobachtungsraumes zwangsläufig für den Fortschritt der Wissenschaft und die Verbreitung von Gelehrsamkeit ergeben würde.“

III. „Daß die Sitzungsteilnehmer in der eben erwähnten Absicht einen Vorschlag ernstlich in Erwägung gezogen haben, der von besagtem Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., und drei anderen, nachstehend aufgeführten Pickwickiern ausging, nämlich, eine neue Unterabteilung der Vereinigten Pickwickier unter der Bezeichnung ,Korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs‘ zu gründen.“

IV. „Daß der genannte Vorschlag die Unterstützung und Billigung der Sitzungsteilnehmer gefunden hat.“

V. „Daß daher die Korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs hiermit konstituiert ist und daß Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., Tracy Tupman, Hochwohlgeb. PKM., Augustus Snodgraß, Hochwohlgeb. PKM., und Nathanael“Winkle, Hochwohlgeb. PKM., hiermit nach erfolgter Nominierung zu Mitgliedern derselben ernannt sowie ferner ersucht worden sind, von Fall zu Fall authentische Berichte über ihre Reisen und Untersuchungen, über ihre Beobachtungen der Sitten und Gebräuche wie auch über alle ihre Erlebnisse unter Beifügung sämtlicher Details und Belege, zu denen jeweils die örtliche Szenerie oder irgendwelche Ideenverbindungen Anlaß geben sollten, an den in London residierenden Pickwick-Klub einzusenden.“

VI. „Daß die Sitzungsteilnehmer aufrichtig den Grundsatz der Selbstfinanzierung der Korrespondierenden Gesellschaft hinsichtlich eigener Reisekosten anerkennen und nicht das geringste dagegen einzuwenden haben, daß die Mitglieder der genannten Sektion unter dieser Bedingung ihre Forschungsreisen beliebig lange ausdehnen.“

VII. „Daß den Mitgliedern der obenerwähnten Korrespondierenden Gesellschaft hiermit eröffnet wird und ist, daß ihr Vorschlag, die Postwertzeichen für ihre Briefe sowie die Portogebühren für ihre Pakete selbst zu bezahlen, von den Sitzungsteilnehmern reiflich erwogen wordenist und daß die Sitzungsteilnehmer zu dem Ergebnis kamen, dieser Vorschlag sei der großen Geister, die ihn aufbrachten, durchaus würdig, und daß sie sich hierdurch vorbehaltlos mit ihm einverstanden erklären.“

Ein nachlässiger Beobachter – so fügt der Schriftführer, dessen Aufzeichnungen wir den folgenden Bericht verdanken, hinzu –, ein nachlässiger Beobachter also hätte vielleicht nichts Außergewöhnliches an der Glatze gefunden, auch nicht an den kreisrunden Brillengläsern, die während der Verlesung obiger Resolutionen unverwandt auf sein (des Schriftführers) Gesicht gerichtet waren. Für solche aber, die da wußten, daß Pickwicks gigantisches Hirn hinter dieser Stirn arbeitete und daß die strahlenden Augen Pickwicks hinter jenen Gläsern funkelten, war der Anblick wahrhaft fesselnd.

Da saß der Mann, der die gewaltigen Tümpel von Hampstead bis zu ihren Quellen erforscht und die wissenschaftliche Welt mit seiner Theorie der Stichlinge aufgewühlt hatte, da saß er so ruhig und unbewegt wie die tiefen Wasser der erstgenannten an einem eiskalten Tag oder wie ein einsames Exemplar der letzteren tief im Bauch eines irdenen Kruges. Und um wieviel reizvoller wurde das Schauspiel noch, als seine Anhänger einstimmig in den Ruf“Pickwick“ ausbrachen, worauf Leben und Munterkeit in ihn fuhren und dieser erlauchte Mann gelassen den Lehnstuhl bestieg, auf dem er so lange gesessen hatte, und sich an den Klub wandte, der von ihm selbst gegründet worden war. Welch eine Studie für einen Künstler bot diese erregende Szene dar! Pickwick in seiner Beredsamkeit, die eine Hand mit Grazie hinter seinem Rockschoß verbergend, die andere in der Luft schwenkend, um seinen begeisternden Vortrag noch lebendiger zu gestalten! Seine exponierte Stellung enthüllte Röhrenhosen und Gamaschen, die wohl unbeachtet geblieben wären, wenn sie einen gewöhnlichen Menschen geziert hätten, die nun aber, da Pickwick seinerseits sie zierte (wenn wir uns des Ausdrucks bedienen dürfen), spontane Ehrfurcht und Hochachtung einflößten. Rings um ihn die Männer, die sich freiwillig entschlossen hatten, die Gefahren seiner Reisen zu teilen, und daher auserwählt waren, auch den Ruhm seiner Entdeckungen mit ihm zu genießen. Zu seiner Rechten saß Mr. Tracy Tupman; der allzu empfängliche Tupman, der stets die Weisheit und Erfahrung reiferer Jahre mit der Begeisterung und Glut des Jünglings verband, wenn es sich um die reizvollste und verzeihlichste aller menschlichen Schwächen handelte – um die Liebe. Die Jahre und das Wohlleben hatten seiner einst romantischen Gestalt einen größeren Umfang verliehen; die schwarzseidene Weste hatte sich immer mehr hervorgedrängt, Zoll für Zoll war die goldene Uhrkette dem Gesichtskreis Tupmans entrückt worden, nach und nach war das volle Kinn über die Grenzen der weißen Krawatte hinausgequollen, aber Tupmans Inneres hatte keine Veränderung erlitten: Bewunderung des schönen Geschlechts war immer noch seine Hauptleidenschaft.

Zur Linken seines großen Meisters saß der poetische Snodgraß und neben ihm Mr. Winkle, der Freund der Wälder und Jagden. Ersterer poetisch in einen Mantel gehüllt, dessen geheimnisvolles Blau von einem Kragen aus Kaninchenfell gekrönt wurde, während letzterer in einem neuen grünen Jagdrock, einem gewürfelten schottischen Halstuch und enganliegenden Tuchbeinkleidern prangte.

Mr. Pickwicks Rede bei diesem Anlaß sowie die darauffolgenden Debatten sind in den Protokollen des Klubs niedergelegt. Beide haben große ähnlichkeit mit den Diskussionen anderer berühmter Körperschaften, und da es immer interessant ist, der Verwandtschaft zwischen den äußerungen großer Männer nachzugehen, seien hier wenigstens die ersten Seiten erwähnt.

Mr. Pickwick bemerkte (so lautet die Darstellung des Schriftführers), daß der Ruhm jedermann besonders am Herzen läge. Seinem Freunde Snodgraß ginge es vor allem um dichterischen Ruhm; ebenso erstrebenswert wäre der Ruhm, Herzen zu erobern, für seinen Freund Tupman, und der Ehrgeiz, Ruhm zu ernten in den weidmännischen Bereichen zu Lande, zu Wasser und in der Luft wäre schier übermächtig in der Brust seines Freundes Winkle. Er (Mr. Pickwick) wollte nicht ableugnen, daß auch auf ihn menschliche Leidenschaften und Gefühle gewissen Einfluß hätten (Beifall) – vielleicht sogar menschliche Schwächen (laute Zurufe:“Keinesfalls!“); aber er möchte doch annehmen, daß die Flamme der Selbstsucht, wenn sie je in seiner Brust aufloderte, mit Nachdruck von dem Wunsche erstickt würde, in erster Linie der Menschheit zu dienen. Lob und Preis dem Menschentum – das wäre der Fittich seines Geistes; Menschenliebe wäre für ihn die höchste Instanz. (Stürmischer Beifall.) Er hätte einen gewissen Stolz empfunden – das gäbe er offen zu, und seine Feinde dürften nun darüber herfallen –, er hätte also einen gewissen Stolz empfunden, als er der Welt seine Stichlingstheorie eröffnet hätte; sie mochte nun anerkannt werden oder auch nicht. (Ein Ruf: „Das ist sie schon!“ und lauter Beifall.) Er wollte der Versicherung des ehrenwerten Pickwickiers, dessen Stimme er soeben gehört hätte, Glauben schenken – also gut: sie wäre anerkannt; aber wenn auch der Ruhm jener Abhandlung bis an die äußerste Grenze der Welt dringen sollte, so würde doch der Stolz, mit dem er auf die Autorschaft dieses Erzeugnisses blickte, nichts gegen das Gefühl des Stolzes sein, mit dem er in diesem, dem stolzesten Augenblick seines Daseins um sich blickte. (Beifall.) Er wäre ja nur eine unscheinbare Person (Widerspruch); aber er könnte trotzdem nicht umhin, zu empfinden, daß man ihn zu einer sehr ehrenvollen und auch nicht ungefährlichen Sendung auserkoren hätte. Das Reisen wäre jetzt eine mißliche Sache; zumal bei der notorischen Unzuverlässigkeit der Kutscher. Man brauchte sich nur umzublicken und die Vorfälle zu betrachten, die sich ringsumher ereigneten. überall würden Wagen umgeworfen, Pferde gingen durch, Boote kippten um und Dampfkessel platzten. (Beifall – eine Stimme: „Nein!“) Nein? (Beifall.) Das verehrliche Pickwick-Klub-Mitglied, das so laut „Nein!“ gerufen hätte, möchte doch vortreten und alles das leugnen, wenn es könnte! (Beifall.) Der da „Nein!“ gerufen hätte, sollte sich melden! (Enthusiastischer Beifall.) Ob es womöglich ein erfolgloser und enttäuschter Mensch wäre, um den Ausdruck Kleinigkeitskrämer zu vermeiden (lauter Beifall), den die Eifersucht auf das – vielleicht unverdiente – Lob, das man seinen (Mr. Pickwicks) Untersuchungen gezollt hätte, und der Kummer über den Schimpf, den ihm seine eigenen läppischen Konkurrenzversuche eingebracht hätten, schließlich zu dieser ekelhaften und verleumderischen Art …

Hier meldete sich Mr. Blotton (von Aldgate) unter Berufung auf die Geschäftsordnung zum Wort. Ob etwa der verehrliche Pickwickier auf ihn anspielen wollte? (Rufe:“Zur Geschäftsordnung!“ – „Hinsetzen!“ – „Ja!“ – „Nein!“ – „Weiter!“ – „Laß doch sein!“ und so weiter.)

Mr. Pickwick erklärte, er könnte es nicht über sich bringen, sich durch Geschrei unterkriegen zu lassen. Er hätte allerdings den ehrenwerten Herrn gemeint. (Große Aufregung.)

Mr. Blotton sagte, er hätte darauf weiter nichts zu erwidern, als daß er die unwahre und lächerliche Beschuldigung des ehrenwerten Vorredners mit tiefer Verachtung zurückweisen müßte. (Große Bewegung.) Der ehrenwerte Vorredner wäre ein Aufschneider. (Ungeheure Verwirrung und laute Rufe: „Zur Geschäftsordnung!“ und „Hinsetzen!“.)

Mr. A. Snodgraß meldete sich zum Wort. Er sähe sich genötigt, an den Vorsitzenden zu appellieren. („Hört.!“) Er wünschte zu wissen, ob es geduldet werden könnte, daß dieser schmähliche Streit zwischen zwei Mitgliedern des Klubs fortgesetzt würde. („Hört, hört!“)

Der Vorsitzende gab hierauf seiner Überzeugung Ausdruck, daß der ehrenwerte Pickwickier den Ausdruck zurücknehmen würde, dessen er sich soeben bedient hätte.

Mr. Blotton erklärte, dies bei aller Achtung vor dem Vorsitzenden nicht tun zu wollen.

Der Vorsitzende hielt es darauf für seine Pflicht, den ehrenwerten Herrn direkt zu fragen, ob er sich des ihm entschlüpften Ausdrucks im landläufigen Sinne bedient hätte.

Mr. Blotton zögerte nicht im geringsten, die Frage zu verneinen; er hätte das Wort lediglich in seiner pickwickischen Bedeutung gebraucht. („Hört, hört!“) Er fühlte sich verpflichtet, zu erklären, daß er persönlich die größte Hochachtung für den betroffenen ehrenwerten Herrn empfände. Als einen Aufschneider hätte er ihn lediglich in einer gewissen pickwickischen Perspektive betrachtet. („Hört, hört!“)

Mr. Pickwick fühlte sich durch die offene, aufrichtige und umfassende Erklärung seines verehrten Freundes vollkommen zufriedengestellt und erklärte gleichzeitig, daß auch seine eigenen Bemerkungen nur als Klubausdruck aufzufassen wären. (Beifall.)

Hier enden diese Eintragungen, und mit der Debatte geschah, nachdem sie zu einem so überaus befriedigenden und einleuchtenden Ergebnis geführt hatte, zweifellos das gleiche. Wir besitzen zwar keine offiziellen Berichte über die Tatsachen, welche der Leser im nächsten Kapitel verzeichnet finden wird, aber sie wurden sorgfältig aus Briefen und anderen handschriftlichen Dokumenten zusammengestellt, deren Echtheit genügend außer Zweifel steht, um ihre zusammenhängende Darstellung in erzählerischer Form zu rechtfertigen.

  1. Stellvertretender Vorsitzender auf Lebenszeit. – Pickwick-Klub-Mitglied.
  2. Hauptvorsitzender. – Pickwick-Klub-Mitglied.

Neununddreißigstes Kapitel.


Neununddreißigstes Kapitel.

Wie Herr Winkle aus der Bratpfanne heraus hübsch ordentlich ins Feuer selbst gerät.

Nachdem der unter einem bösen Stern geborene Gentleman, der die unglückliche Ursache des von uns bereits beschriebenen ungewöhnlichen Lärms und der Störung sämtlicher Bewohner von Royal Crescent gewesen war, eine Nacht voll Bangigkeit und Angst zugebracht hatte, verließ er das Dach, unter dem seine Freunde noch schlummerten, und entfloh, ohne zu wissen wohin. Die vortrefflichen, edlen Gesinnungen, die Herrn Winkle zu diesem Schritte antrieben, können nie zu hoch oder zu warm gepriesen werden, »Wenn« – überlegte Herr Winkle bei sich selbst – »wenn dieser Dowler sich untersteht (und ich zweifle keineswegs daran), seine Drohungen persönlicher Gewalttätigkeiten gegen mich in Ausführung zu bringen, so werde ich nicht umhin können, ihn herauszufordern.

Er hat eine Frau. Diese Frau liebt ihn über alles und kann ohne ihn nicht leben. Gütiger Gott! wenn ich ihn in der Blindheit meines Zornes tötete, was für Gefühle würden mich dann verfolgen!« Dieser peinliche Gedanke wirkte so mächtig auf das Gemüt des menschenfreundlichen jungen Mannes, daß seine Knie zusammenschlugen und aus seinem Gesichte beunruhigende Merkmale von tiefer innerer Bewegung sich bekundeten. Unter dem Einflusse solcher Betrachtungen ergriff er daher seinen Koffer, schlich sich leise die Treppen hinab, verschloß die verwünschte Haustür so geräuschlos wie möglich und machte sich davon. Er lenkte seine Schritte gegen das Royal-Hotel, traf dort eine Kutsche, die im Begriff war, nach Bristol zu fahren; und da ihm Bristol für seine Zwecke ein ebenso guter Ort dünkte wie jeder andere, so stieg er auf den Bock und erreichte den Ort seiner Bestimmung so schnell, wie man den zwei Pferden, die täglich zwei oder mehrere Male den ganzen Tag hin und her machen mußten, billigerweise zumuten konnte.

Er nahm sein Quartier im Gasthof Zum Busch, und entschlossen, alle briefliche Verbindung mit Herrn Pickwick solange auszusetzen, bis Herrn Dowlers Zorn nach menschlicher Berechnung einigermaßen verraucht wäre, ging er aus, um sich die Stadt zu besehen, an der ihm weiter nichts auffiel, als daß sie noch ein wenig schmutziger war als jeder andere Ort, den er bisher in Augenschein genommen. Nachdem er die Docks, die Schiffswerft und die Kathedrale besichtigt, erfragte er den Weg nach Klifton und schlug sofort die Richtung ein, die man ihm bezeichnet hatte. Wie indessen das Pflaster von Bristol nicht das breiteste oder reinlichste auf Erden ist, so sind auch die Straßen dieser Stadt eben nicht die geradesten, und da Herr Winkle durch ihre mannigfaltigen Wendungen und Drehungen sehr verwirrt wurde, so sah er sich nach einem anständigen Laden um, wo er sich aufs neue Rat holen und Erkundigungen einziehen könnte.

Seine Augen fielen auf ein neu angestrichenes Haus, das vor kurzem in ein Mittelding zwischen einem Laden und einem Privathaus verwandelt worden war. Eine über das fächerförmige Fenster der Haustür vorhängende rote Lampe würde es deutlich genug als den Wohnsitz eines Heilkünstlers bezeichnet haben, hätte nicht auch das Wort »Chirurgenstube« in goldenen Buchstaben auf dem Getäfel geprangt, über dessen Fenster in früheren Zeiten die Vorderstube gewesen war. Da Herr Winkle dies für einen geeigneten Ort hielt, um seine Nachforschungen anzustellen, so trat er in den kleinen Laden, wo die mit vergoldeten Lettern überschriebenen Schubfächer und Flaschen sich befanden, und als er niemand traf, klopfte er mit einer halben Krone auf den Ladentisch, um die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen, die sich vielleicht im Hinterzimmer befinden möchten. Dies Hinterzimmer hielt er für das innerste und ganz besondere Heiligtum der Anstalt, weil das Wort »Chirurgenstube« hier aufs neue, und zwar zur Abwechslung diesmal mit weißen Lettern an die Tür gemalt war. Auf sein erstes Klopfen hörte er ein bis jetzt wohl vernehmbares Geräusch, das demjenigen ähnlich, wenn mit Rapieren gefochten wird, plötzlich auf, und beim zweiten trat ein gelehrt aussehender junger Herr mit einer grünen Brille auf der Nase und einem gewaltigen Buch in der Hand ruhig in den Laden, stellte sich hinter den Tisch und fragte nach dem Begehren seines Gastes.

»Ich bedaure, wenn ich Sie störe, Sir«, sagte Herr Winkle, »aber würden Sie nicht die Güte haben, mir zu sagen, wo –«

»Ha! ha! ha!« lachte der gelehrte junge Herr, das große Buch in die Luft werfend und mit erstaunlicher Gewandtheit in demselben Augenblicke wieder auffangend, wo es sämtliche Flaschen auf dem Tisch zu Atomen zu zertrümmern drohte. »Das nenne ich einmal einen Zufall.«

Das war es auch wirklich, denn Herr Winkle war über das auffallende Benehmen des Äskulapsohnes so über die Maßen erstaunt, daß er unwillkürlich gegen die Tür zurücktrat und äußerst unruhig über diesen sonderbaren Empfang aussah.

»Wie, – kennen Sie mich nicht?« fragte der Medikus.

Herr Winkle murmelte, er habe nicht das Vergnügen.

»Nun«, fuhr der Doktor fort, »dann habe ich noch Hoffnung: wenn mir das Glück nur ein bißchen will, kann ich die Hälfte der alten Weiber von Bristol zu Kunden bekommen. Packe dich, du verschimmelter alter Spitzbube, fort mit dir!«

Unter dieser Verwünschung, die dem großen Buche galt, schleuderte der Doktor das Werk mit bewundernswürdiger Fertigkeit nach dem entfernten Ende des Ladens, nahm seine grüne Brille ab und ließ das leibhaftige Grinsen des Robert Sawyer Esquire, früher in Guys-Hospital, mit einer Privatwohnung in Landstreet, erkennen.

»Sie haben mich also nicht sogleich erkannt?« fragte Herr Bob Sawyer, mit freundschaftlicher Wärme Herrn Winkle die Hand schüttelnd.

»Auf Ehre nicht«, antwortete Herr Winkle, den Druck erwidernd.

»Haben Sie denn meinen Namen nicht gesehen?« fuhr Bob Sawyer fort, die Aufmerksamkeit seines Freundes auf die äußere Türe lenkend, wo ebenfalls weiß angemalt die Worte standen: »Sawyer, früher Nockemorf.«

»Ich habe es nicht bemerkt«, erwiderte Herr Winkle.

»Bei Gott, wenn ich gewußt hätte, daß Sie es sind, so wäre ich sogleich herausgestürzt und hätte Sie in meine Arme geschlossen«, sagte Bob Sawyer: »aber so wahr ich lebe, ich meinte es sei der Steuereinnehmer.«

»Wirklich?« fragte Herr Winkle.

»Ja«, antwortete Bob Sawyer: »und ich wollte eben sagen, ich sei nicht zu Hause. Möchte übrigens wissen, was er mir mitzuteilen hätte, denn er kennt mich so wenig wie der Beleuchtungs- und Pflastersteuereinnehmer. Der Steuerbote für die Kirche indes scheint zu erraten, wer ich bin, und der Wassersteuerbote kennt mich auch; denn diesem habe ich gleich nach meiner Ankunft einen Zahn ausgezogen. Doch kommen Sie jetzt, treten Sie herein.«

So schwatzend trieb Herr Bob Saywer seinen Freund Winkle in das Hinterzimmer, allwo niemand Geringerer als Herr Benjamin Allen saß und zu seinem Zeitvertreib mit einem glühenden Schüreisen kleine runde Löcher in das Kamingesims bohrte.

»Wahrhaftig«, sagte Herr Winkle, »das ist ein Vergnügen, das ich nicht erwartet hätte. Sie haben ja einen recht hübschen Platz hier.«

»O ja, so ziemlich«, erwiderte Bob Sawyer. »Ich machte bald nach unserer köstlichen Abendgesellschaft das Examen? meine Freunde schossen mir das Nötige zur Einrichtung vor, und nun legte ich mir einen schwarzen Anzug nebst einer Brille bei, um so feierlich wie möglich auszusehen, und kam hierher.«

»Sie haben ohne Zweifel ein recht hübsches Geschäftchen?« fragte Herr Winkle mit einem Kennerblick.

»O ja«, erwiderte Bob Sawyer; »so hübsch, daß Sie nach Verfluß von wenigen Jahren den ganzen Profit in ein Weinglas legen und mit einem Stachelbeerblatt bedecken können.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?« meinte Herr Winkle. »Schon die Vorräte –«

»Lauter Larifari, Freundchen«, sagte Bob Sawyer. »In der einen Hälfte der Schubladen ist gar nichts, und die andern können nicht einmal herausgezogen werden.«

»Sie scherzen«, sagte Herr Winkle.

»Nein, auf Ehre«, erwiderte Bob Sawyer, in den Laden tretend und die Wahrhaftigkeit seiner Versicherung dadurch bekräftigend, daß er zu verschiedenen Malen vergeblich an den kleinen vergoldeten Knöpfen der falschen Schubladen zerrte.

»Im ganzen Laden ist kaum etwas Reelles, außer den Blutegeln, und auch diese haben schon einmal Dienste geleistet.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, rief Herr Winkle sehr überrascht.

»Hoffentlich«, erwiderte Bob Sawyer; »denn was nützte mir sonst all das Scheingepränge. Doch, was wollen Sie jetzt genießen? Halten Sie es mit uns. Ben, mein lieber Kamerad, geh an den Schenktisch und hole uns den Patentverdauer.«

Herr Benjamin Allen gab seine Bereitwilligkeit durch ein Lächeln zu erkennen und zog aus dem Schrank an seinem Ellenbogen eine schwarze, halbvolle Branntweinflasche hervor.

»Sie trinken natürlich ohne Wasser?« fragte Bob Sawyer.

»Danke Ihnen«, erwiderte Herr Winkle,- »es ist noch ziemlich früh, und ich nehme lieber Wasser dazu, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Nicht das geringste, wenn Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können«, erwiderte Bob Sawyer, mit großen Behagen ein Glas hinabstürzend. »Ben, die Kruke.«

Herr Benjamin Allen zog aus demselben Versteck einen kleinen messingenen Topf hervor, auf den Bob Sawyer stolz zu sein behauptete, besonders weil er so apothekermäßig aussehe. Das Wasser war in diesem kunstgerechten Topf mittels mehrerer Schaufeln Kohlen, die Herr Bob Sawyer aus einem bequemen, »Sodawasser« überschriebenen Wandschrank genommen hatte, zum Sieden gebracht. Dann mischte Herr Winkle seinen Branntwein, und die Unterhaltung fing bereits an, recht belebt zu werden, als sie durch einen jungen Burschen unterbrochen wurde, der in einer bescheidenen grauen Livree mit goldbetreßtem Hut und einem kleinen verdeckten Korb unter dem Arm in den Laden trat und von Herrn Bob Sawyer mit den Worten bewillkommt wurde:

»Kommst du endlich, Tom, du Tagedieb?«

Der Junge trat sogleich vor.

»Gewiß bist du wieder mit allen Gassenjungen von Bristol herumgeschlingelt, du fauler Spitzbube«, fuhr Herr Bob Sawyer fort.

»Nein, Sir, ganz gewiß nicht«, erwiderte der Knabe.

»Ich will es dir auch nicht raten«, sagte Herr Bob Sawyer mit drohender Geberde. »Wer wird auch wohl einen Geschäftsmann rufen lassen, wenn man sieht, daß sein Laufbursche auf der Gasse spielt wie kleine Kinder? Hast du denn gar keinen Sinn für dein Geschäft, du Gauner? Hast du die Arzneien alle abgegeben?«

»Ja, Sir.«

»Die Pulver für das Kind in dem großen Hause, wo die neue Familie wohnt, und die Pillen, die der übellaunige alte Herr mit seinem Podagra täglich viermal einzunehmen hat?«

«Ja, Sir.«

»Nun, so mach die Tür zu und besorge den Laden.«

»Nun«, sagte Herr Winkle, als der Knabe sich entfernt hatte: »die Sachen scheinen doch nicht so schlimm zu stehen, wie Sie mich glauben machen wollten. Sie haben doch jedenfalls einige Medizin auszuschicken.«

Herr Bob Sawyer sah in den Laden, ob kein Fremder ihn hören könne, dann aber beugte er sich zu Herrn Winkle und sagte leise:

»Er bringt sie alle in die falschen Häuser.«

Herr Winkle blickte äußerst verwundert um sich: Bob Sawyer aber und sein Freund lachten.

»Sehen Sie«, sagte Bob, »er geht in ein Haus, läutet, gibt dem Diener ein Paket ohne Aufschrift ab und entfernt sich wieder. Der Bediente bringt es in die Wohnstube, der Herr öffnet es und liest die Aufschrift: ›Ein Trank, vorm Schlafengehen einzunehmen – Pillen, wie das letztemal – Wasser, wie gewöhnlich – das Pulver. Nach den Vorschriften des Doktor Sawyer, früher Nockemorf, sorgfältig bereitet usw.‹ Er zeigt es seiner Frau, die liest die Aufschrift ebenfalls: dann geht das Paket wieder an die Dienerschaft zurück, und diese liest es auch. Am andern Tage kommt der Bursche wieder und sagt, es tue ihm sehr leid – er habe sich vergriffen – das große Geschäft – so viele Pakete zum Austragen – Komplimente von Herrn Sawyer, früher Nockemorf. Der Dame wird bekannt, und so, Freundchen, muß es ein Mediziner angreifen: ich versichere Sie, alter Freund, das wirkt weit besser als alle Ankündigungen von der Welt. Wir haben eine Vierunzenflasche, die schon in halb Bristol gewesen ist und noch in manche Häuser wandern muß.«

»Du mein Himmel, jetzt geht mir ein Licht auf«, bemerkte Herr Winkle. »Ein ganz vortrefflicher Plan.«

»O, Ben und ich haben schon ein Dutzend ähnliche ausgedacht«, erwiderte Bob Sawyer sehr vergnügt. »Der Lampenanzünder bekommt achtzehn Pence wöchentlich dafür, daß er jedesmal, wenn er vorbeigeht, zehn Minuten lang die Nachtglocke läutet, und mein Junge stürzt immer gerade während der kirchlichen Andacht, wenn die Leute nichts zu tun haben, als umherzusehen, in die Kirche und ruft mich hinaus, mit einem Gesicht, auf dem sich Schauder und Entsetzen malen. Ach Gott, sagt dann alles, es muß jemand plötzlich krank geworden sein. Man hat zu Sawyer, früher Nockemorf, geschickt. Welche Praxis der junge Mann schon hat!«

Nach dieser Enthüllung einiger Geheimnisse der Arzneiwissenschaft warfen sich Herr Bob Sawyer und sein Freund Ben Allen in ihre Stühle zurück und lachten aus vollem Halse. Als sie dieses Vergnügen nach Herzenslust genossen, wurde das Gespräch auf Gegenstände gelenkt, bei denen Herr Winkle unmittelbar interessiert war.

Wir haben, wenn wir nicht irren, schon früher einmal angedeutet, daß Herr Benjamin Allen nach dem Branntwein gewöhnlich sentimental wurde. Dieser Fall gehört nicht zu den seltenen, wie wir selbst bezeugen können, da wir es schon hier und da mit Patienten zu tun hatten, denen es ebenso erging. Herr Benjamin Allen war vielleicht gerade um diese Periode seines Daseins mehr als je zu diesem Zustand der Benebelung geneigt, und seine Krankheitsgeschichte ist kurz folgende: Er hatte sich schon beinahe drei Wochen bei Herrn Bob Sawyer aufgehalten; Herr Bob Sawyer zeichnete sich nicht gerade durch Mäßigkeit aus, so wenig wie Herr Benjamin Allen durch den Besitz eines extra festen Kopfes, und die Folge davon war, daß Ben während dieser Zeit zwischen teilweisem und gänzlichem Beschwipstsein geschwankt hatte.

»Mein teurer Freund!« sagte Herr Ben Allen, die zeitweise Abwesenheit des Herrn Bob Sawyer benutzend, der in den Laden gegangen war, um einige von den oben erwähnten gebrauchten Blutegeln abzugeben, »mein teurer Freund, ich bin sehr unglücklich.«

Herr Winkle sprach sein herzliches Bedauern darüber aus und wollte wissen, ob er nichts tun könne, um den Kummer des leidenden Studenten zu erleichtern.

»Ach nein, mein teurer Freund, nichts«, erwiderte Ben. »Sie erinnern sich Arabellas, Winkle – meiner Schwester Arabella: – ein kleines Mädchen, Winkle, mit schwarzen Augen – damals als wir bei Wardle waren? Ich weiß nicht, ob Sie sie zufällig bemerkt haben – ein hübsches, kleines Mädchen, Winkle. Vielleicht fällt sie Ihnen bei meiner Beschreibung wieder ein.«

Herr Winkle bedurfte keineswegs einer solchen Erklärung an die reizende Arabella, und zu seinem Glück; denn die Beschreibung ihres Bruders Benjamin hätte ohne Zweifel sein Gedächtnis nicht sehr aufgefrischt. Er antwortete daher mit aller Ruhe, die er aufzubieten vermochte, er erinnere sich der jungen Dame noch sehr gut und wünsche von Herzen, daß sie sich wohl befinde.

»Unser Freund Bob ist ein herrlicher Kerl, Winkle«, war die einzige Antwort des Herrn Ben Allen.

»Gewiß«, sagte Herr Winkle, dem diese nahe Zusammenstellung der beiden Namen keineswegs behagte.

»Ich hatte sie für einander bestimmt; sie waren für einander geschaffen, für einander in die Welt gesandt, für einander geboren, Winkle«, sagte Herr Ben Allen, indem er mit großem Nachdruck sein Glas niederstellte. »Es waltet ein besonderes Geschick in dieser Sache, mein lieber Herr; sie sind nur um fünf Jahre von einander im Alter getrennt und beider Geburtstage fallen in den August.«

Herr Winkle war zu begierig, zu hören, was folgen würde, als daß er großes Erstaunen über diesen außerordentlichen und wirklich wunderbaren Umstand ausgedrückt hätte. Herr Ben Allen erzählte ihm daher nach ein paar Tränen weiter, trotz aller seiner Achtung, Wertschätzung und Verehrung für seinen Freund, zeige Arabella unbegreiflicher- und pflichtvergessenerweise die entschiedenste Abneigung gegen seine Person.

»Ich glaube«, so schloß Herr Ben Allen, »ich glaube, es steckt eine frühere Neigung dahinter.«

»Haben Sie vielleicht eine Vermutung über die betreffende Person?« fragte Herr Winkle recht zögernd.

Herr Ben Allen ergriff das Schüreisen, schwang es nach Kriegerart über seinem Haupte, führte einen furchtbaren Schlag gegen einen in seiner Einbildung vorhandenen Hirnschädel und sagte in höchst bedeutsamem Tone, es sei sein einziger Wunsch, das erraten zu können.

»Ich würde ihm dann sagen, was ich von ihm denke«, sagte Herr Ben Allen und schwang aufs neue, noch drohender als zuvor, das Schüreisen.

All das mußte natürlich äußerst beschwichtigend auf die Gefühle des Herrn Winkle wirken, der ein paar Minuten lang stillschwieg, endlich aber sich den Mut faßte, zu fragen, ob Miß Allen in Kent sei?

»Nein, nein«, sagte Herr Ben Allen, das Schüreisen auf die Seite legend und sehr pfiffig dreinblickend: »Wardles Haus schien mir eben nicht der geeignetste Platz für ein widerspenstiges Mädchen. Da nun unsere Eltern tot sind und ich ihr natürlicher Beschützer und Vormund bin, so habe ich sie in der hiesigen Gegend auf ein paar Monate zu einer alten Tante gebracht, die in einem zwar etwas abgelegenen, aber dennoch recht hübschen Ort wohnt. Das soll sie schon kurieren, mein Freund. Wo nicht, so gehe ich ein Weilchen mit ihr ins Ausland und versuche, ob das nicht hilft.«

»Ah, die Tante ist also in Bristol?« stotterte Herr Winkle.

»Nein, nein: nicht in Bristol«, erwiderte Herr Ben Allen, den Daumen über seine rechte Schulter legend; »dort nach dieser Seite hin – da unten. Aber still jetzt; Bob kommt; kein Wörtchen, teuerster Freund, kein Wörtchen.« HZ

So kurz diese Unterhaltung gewesen war, so versetzte sie doch Herrn Winkle in die peinlichste Aufregung und Angst. Die mutmaßliche frühere Neigung nagte in seinem Herzen. War er vielleicht der Gegenstand derselben? Konnte die schöne Arabella um seinetwillen den luftigen Bob Sawyer verächtlich angeblickt haben, oder hatte er einen glücklichen Nebenbuhler? Er beschloß, sie um jeden Preis zu besuchen; aber hier stellte sich ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegen, denn er konnte schlechterdings nicht erraten, ob Ben Allens erklärende Worte: »dort nach dieser Richtung« und »da unten« eine Entfernung von drei, dreißig oder dreihundert Meilen zu bedeuten hatten.

Indes war ihm für den Augenblick keine Muße gestattet, seinen Liebesgedanken länger nachzuhängen; denn Bob Sawyers Rückkehr war der unmittelbare Vorläufer einer noch warmen Fleischpastete, und der Hausbesitzer bestand darauf, er müsse sie verzehren helfen. Eine Frau, die Herrn Bob Sawyers Haushälterin vorstellte, deckte den Tisch: ein drittes Paar Messer und Gabeln wurde von der Mutter des Jungen in der grauen Livree entlehnt (denn Herrn Sawyers häusliche Einrichtungen befanden sich noch auf einem beschränkten Fuße); sodann setzten sie sich zu Tisch, und das Bier wurde, wie Herr Sawyer bemerkte, in vaterländischem Zinn aufgetragen.

Nach dem Essen ließ Herr Bob Sawyer den größten Mörser aus dem Laden holen und begann einen dampfenden Rumpunsch darin zu brauen, wozu er die Materialien in kundiger Apothekerweise mit dem Stößel umrührte und verband. Herr Sawyer hatte als Junggeselle nur ein einziges Glas im Haus, das ehrenhalber für Herrn Winkle als den Gast bestimmt wurde. Ben Allen erhielt daher einen unten mit einem Kork zugestopften Trichter und Bob Sawyer begnügte sich mit einem jener weitrandigen, von einer Menge kabalistischer Zeichen bedeckten Glasgefäße, in denen die Apotheker den betreffenden Vorschriften gemäß ihre Flüssigkeiten auszumessen pflegen. Nachdem diese Präliminarien im reinen waren, wurde der Punsch gekostet und für vortrefflich erklärt. Sofort wurde der Beschluß gefaßt, Bob Sawyer und Ben Allen sollten die Erlaubnis haben, zwei Gläser zu trinken, bis Herr Winkle mit einem fertig würde, und nach allen diesen Einleitungen begannen sie mit großem Vergnügen und guter Kameradschaftlichkeit das Gelage.

Gesungen wurde nicht, weil Herr Bob Sawyer es mit der Würde seines Amtes für unverträglich hielt. Um sich jedoch für diese Entbehrung zu entschädigen, schwatzten und lachten sie so laut, daß man sie am Ende der Straße hören konnte und wahrscheinlich auch hörte. Diese Unterhaltung erheiterte auch dem Laufburschen wesentlich seine Arbeit und trug zu seiner ferneren Ausbildung bei; denn statt den Abend seiner gewöhnlichen Beschäftigung zu widmen, nämlich seinen Namen auf den Ladentisch zu schreiben und dann wieder auszulöschen, schaute er heute durch die Glastür, wo er genug zu hören und zu sehen bekam.

Herrn Bob Sawyers Lustigkeit wurde schnell zur Ausgelassenheit; Herr Ben Allen fiel in seine Sentimentalität zurück, und der Punsch war beinahe ganz verschwunden, als der Bursche hereinstürzte und meldete, es sei soeben ein junges Frauenzimmer gekommen und habe gesagt, Herr Sawyer, früher Nockemorf, möchte sogleich einen Patienten besuchen, der ein paar Straßen entfernt wohne. Das war das Signal zum Ende des Gelages. Herr Bob Sawyer verstand die Botschaft, nachdem man sie ihm etliche zwanzigmal wiederholt hatte, band ein nasses Tuch um seinen Kopf, um sich wieder nüchtern zu machen, was ihm auch einigermaßen gelang, setzte sofort seine grüne Brille auf und ging seinem Berufe nach. Trotz aller Bitten, bis zu seiner Rückkehr zu bleiben, nahm Herr Winkle, da er es rein unmöglich fand, mit Herrn Ben Allen eine vernünftige Unterhaltung über den Gegenstand, der seinem Herzen am nächsten lag, oder sonst über etwas anderes anzuknüpfen, Abschied und kehrte in den Busch zurück.

Die ängstliche Aufregung seines Gemüts und die zahllosen Gedanken, die Arabella in ihm hervorgerufen, verhinderten es, daß seine Portion aus dem Punschmörser die Wirkung hervorbrachte, die unter andern Umständen unausbleiblich gewesen wäre. Nachdem er daher noch im Schenkstübchen ein Glas Whisky mit Soda getrunken, begab er sich, durch die Vorfälle des Abends mehr entmutigt als aufgerichtet, in das Gastzimmer.

Vorn am Kamin saß ein langer Herr in einem großen Überrock, der ihm den rücken zuwandte; sonst befand sich niemand in der Stube. Es war ein für diese Jahreszeit etwas kühler Abend, und der Herr schob seinen Stuhl auf die Seite, um dem neuen Gaste auch etwas vom Feuer zukommen zu lassen. Aber wer vermag Herrn Winkles Gefühle zu schildern, als er auf einmal das Gesicht und die Gestalt des rachsüchtigen, blutdürstigen Dowler erblickte!

Herrn Winkles erster Gedanke war, so stark wie möglich an der nächsten Klingelschnur zu ziehen; aber diese hing unglücklicherweise unmittelbar hinter Herrn Dowlers Kopf. Er hatte schon einen Schritt dahin getan, hielt aber auf einmal still, und als er das tat, zog sich Herr Dowler hastig zurück.

»Ach, Herr Winkle, seien Sie ruhig. Schlagen Sie mich nicht. Ich kann es nicht ertragen. Einen Schlag! Nein, nie!« sagte Herr Dowler, sah aber weit sanftmütiger aus, als Herr Winkle von einem so wilden Manne erwartet hatte.

»Einen Schlag, Sir?« stammelte Herr Winkle.

»Einen Schlag, Sir«, erwiderte Dowler. »Beruhigen Sie Ihre Gefühle. Setzen Sie sich. Hören Sie mich an.«

»Sir«, sagte Herr Winkle, von Kopf bis Füßen zitternd, »bevor ich mich darauf einlassen kann, ohne die Anwesenheit eines Kellners neben Ihnen oder Ihnen gegenüber zu sitzen, muß ich mich durch vorläufige Auseinandersetzung mit Ihnen verständigen. Sie haben gestern abend eine schreckliche Drohung gegen mich fallen lassen, Sir – ja, eine schreckliche Drohung, Sir!«

Bei diesen Worten wurde Herr Winkle leichenblaß und hielt inne.

»Allerdings«, sagte Dowler mit einem beinahe ebenso weißen Gesicht: »ich habe da« allerdings getan. Die Umstände waren verdächtig: sie sind geklärt worden. Ich achte Ihre Tapferkeit. Ihre Gesinnung ist aufrichtig. Bewußte Unschuld. Hier ist meine Hand. – Nehmen Sie sie.«

»Wirklich, Sir«, versetzte Herr Winkle, unschlüssig, ob er seine Hand geben solle oder nicht, denn er fürchtete beinahe, es möchte eine Schlinge sein: »wirklich, Sir, ich –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach ihn Dowler. »Sie fühlen sich beleidigt. Sehr natürlich. Es ginge mir auch so. Ich hatte unrecht. Ich bitte um Verzeihung. Seien Sie freundlich. Vergeben Sie mir.«

Mit diesen Worten ergriff Dowler gewaltsam Herrn Winkles Hand, schüttelte sie mit äußerster Heftigkeit, schwur, Herr Winkle sei ein Mann von außerordentlichem Mut, und er habe von ihm eine höhere Meinung als je.

»Jetzt«, sagte Dowler, »setzen Sie sich. Erzählen Sie alles. Wie fanden Sie mich? Wann sind Sie mir nachgereist? Seien Sie offen. Sprechen Sie.«

»Es ist ganz zufällig«, erwiderte Herr Winkle, in hohem Grade verblüfft über die sonderbare, unerwartete Art dieses Zusammentreffens: »reiner Zufall.«

»Freut mich«, sagte Dowler. »Ich wachte heute morgen auf. Ich hatte meine Drohungen vergessen. Ich lachte über die Geschichte. Ich hatte gar keine bösartigen Absichten. Ich sagte es auch sogleich.«

»Wem haben Sie es gesagt?« fragte Herr Winkle.

»Meiner Frau. – ›Du hast ein Gelübde getan‹, sagte sie. – ›Ja‹, sprach ich. – ›Es war recht unüberlegt‹, meinte sie. – ›Ich weiß wohl‹, sagte ich. ›Ich will es zurücknehmen. Wo ist er?‹«

»Wer?« fragte Herr Winkle.

»Sie«, erwiderte Dowler. »Ich ging die Treppe hinunter. Sie waren nicht zu finden. Pickwick sah recht ärgerlich aus. Schüttelte den Kopf. Hoffte, es würden keine Gewalttätigkeiten vorkommen. Ich sah alles ein, Sie fühlten sich beleidigt. Sie waren ausgegangen, vielleicht um einen Freund zu holen. Vielleicht auch um Pistolen. ›Großer Mut‹, sagte ich. ›Ich bewundere ihn.‹«

Herr Winkle hustete, und da er anfing, zu verstehen, was es geschlagen hatte, so nahm er eine höchst gewichtige Miene an.

»Ich habe ein Billett an Sie zurückgelassen«, fuhr Dowler fort. »Ich sagte, es tut mir leid. Es war auch so. Ein dringendes Geschäft rief mich hierher. Sie waren nicht zufrieden. Sie sind nachgereist. Sie verlangten eine nähere Erklärung. Sie haben recht gehabt. Jetzt ist alles vorbei. Mein Geschäft ist abgemacht. Morgen reise ich zurück. Gehen Sie mit mir.«

Je weiter Dowler in seiner Erklärung fortschritt, um so würdevoller wurde Herrn Winkles Antlitz. Die geheimnisvolle Art, wie ihre Unterhaltung anfing, war erklärt: Herr Dowler hatte ebenso viele Einwendungen gegen das Duell wie er selbst. Kurz und gut, dieser auftobende, schreckliche Mann war einer der herrlichsten Hasenfüße, so weit man um sich blickte. Er hatte Herrn Winkles Abwesenheit durch das Medium seiner eigenen Erschrockenheit betrachtet, hatte wirklich denselben Schritt getan wie jener und sich klüglich zurückgezogen, bis jede Aufregung des Gefühls sich gelegt haben konnte.

Als der wirkliche Stand der Sache in Herrn Winkles Kopf dämmerte, blickte er höchst furchtbar drein und sagte, er sei vollkommen befriedigt; er sagte das aber in einem Tone, woraus Herr Dowler notwendig schließen mußte, wenn dies nicht der Fall wäre, so hätte es unausweichbar zu einer höchst schauderhaften und zerstörenden Katastrophe kommen müssen. Herr Dowler schien von einem geziemenden Gefühl der Großmut und Herablassung des Herrn Winkle ergriffen zu sein, und die beiden kriegführenden Parteien verabschiedeten sich zur Nacht mit mannigfachen Versicherungen ewiger Freundschaft.

Ungefähr um halb ein Uhr, als Herr Winkle etliche zwanzig Minuten im vollen üppigen Genuß des ersten Schlafe« geschwelgt hatte, wurde er plötzlich durch lautes Klopfen an seine Kammertür geweckt, das sich mit vermehrter Heftigkeit erneuerte und ihn veranlaßte, im Bett aufzuspringen und zu fragen, wer da sei und was es gäbe?«

»Erlauben Sie, Sir, es ist ein junger Mann da, der sagt, er müsse Sie sogleich sehen«, antwortete die Stimme des Stubenmädchens.

»Ein junger Mann?« rief Herr Winkle.

»Ja, Sie werden es sogleich zu wissen bekommen, Sir«, ertönte eine andere Stimme durch das Schlüsselloch, »und wenn dieser interessante junge Mensch nicht unverzüglich hineingelassen wird, so wäre es sehr wohl möglich, daß seine Beine vor seinem Kopf hineinkämen.«

Der junge Mann stieß nach dieser sanften Andeutung recht artig an eins der unteren Bretter der Tür, als wenn er seiner Bemerkung Kraft und Nachdruck geben wollte.

»Sind Sie’s, Sam?« fragte Herr Winkle aus dem Bett springend.

»Nein unmöglich: einen Gentleman auch nur annähernd sicher zu erkennen, wenn man ihn nicht sieht, Sir«, erwiderte die Stimme dogmatisch.

Herr Winkle zweifelte nicht mehr, wer der junge Mann sei und öffnete die Tür. Auch hatte er es kaum getan, als Herr Samuel Weller mit großer Hast eintrat, sorgfältig von innen abschloß, mit großem Bedacht den Schlüssel in seine Westentasche steckte und, nachdem er Herrn Winkle von Kopf zu Fuß gemustert, also anhob:

»Sie sind ein sehr humoristischer junger Gentleman, Sir.«

»Was wollen Sie mit diesem Benehmen, Sam?« fragte Herr Winkle entrüstet. »Gehen Sie hinaus, Sir; im Augenblick! Was glauben Sie denn, Sir?«

»Was ich glaube?« erwiderte Sam. »Kommen Sie, Sir; das ist noch viel zu gut, wie die junge Dame sagte, als sie mit dem Pastetenbäcker Händel anfing, weil er eine Schweinspastete an sie verkaufte, wo das Inwendige nichts als lauter Fett war. Was ich glaube? Gut, ich glaube, daß das gar nicht so übel ist – gar nicht so übel.«

Öffnen Sie die Tür und verlassen Sie sogleich dies Zimmer«, sagte Herr Winkle.

»Ich werde dieses Zimmer hier ganz in dem nämlichen Augenblick verlassen, Sir, wenn Sie es verlassen«, antwortete Sam in höchst eindringlichem Tone und setzte sich dabei mit vollendeter Gravität nieder. »Wenn ich es für nötig finde, Sie auf den Rücken zu packen und fortzuführen, so werde ich das letzte bißchen Zeit nehmen, das noch dazu da ist. Aber erlauben Sie mir, die Hoffnung auszudrücken, daß Sie mich nicht zu diesem Äußersten treiben werden: und wenn ich das sage, so fällt mir der Edelmann ein, der die widerspenstige Auster mit der Nadel nicht herausholen konnte und sagte, er fürchte, er müsse sie zusammenschlagen.«

Am Ende dieser für ihn ungewöhnlich langen Rede stemmte Herr Weller seine Hände auf die Knie und sah Herrn Winkle mit einem Ausdruck ins Gesicht, worin deutlich zu lesen war, daß er nicht die entfernteste Absicht habe, sich durch Ausflüchte abspeisen zu lassen.

»Sie sind ein zu Scherzen aufgelegter junger Mann, Sir«, fuhr Herr Weller im Tone moralischen Vorwurfs fort, »daß Sie unsern lieben Herrn in alle möglichen Torheiten verwickeln, während es doch sein Grundsatz ist, überall den geraden Weg zu gehen. Sie sind noch viel schlimmer, Sir, als Dodson, und was Fogg betrifft, so betrachte ich ihn als einen geborenen Engel gegen Sie.«

Nachdem Herr Weller diese seine letzte Empfindung mit einem nachdrücklichen Schlag auf beide Knie begleitet hatte, kreuzte er mit sehr entrüsteter Miene die Arme und warf sich in seinen Stuhl zurück, als erwartete er die Verteidigung des Verbrechers.

»Mein guter Junge«, sagte Herr Winkle, die Hand ausstreckend und mit den Zähnen klappernd, denn er hatte während der ganzen Lektion des Herrn Weller in einem leichten Nachtgewande dagestanden, »mein guter Junge, ich achte Ihre Anhänglichkeit an meinen vortrefflichen Freund, und es tut mir in der Tat sehr leid, ihm Ursache zum Kummer gegeben zu haben. Da, Sam, da!«

»Gut«, sagte Sam mürrisch, obgleich er die hingebotene Hand ehrerbietig schüttelte – »es darf Ihnen wohl leid tun, und mich freut es sehr, daß Sie mich hier getroffen haben: denn wenn ich ihm dazu helfen kann, so soll ihm keine sterbliche Seele einen Kummer machen.«

»Da haben Sie ganz recht, Sam«, erwiderte Herr Winkle. »Aber jetzt gehen Sie zu Bett und morgen früh wollen wir weiter über die Sache sprechen.«

»Es tut mir sehr leid«, erklärte Sam, »aber ich kann nicht zu Bett gehen.«

»Nicht zu Bett gehen?« wiederholte Herr Winkle.

»Nein«, sagte Sam, den Kopf schüttelnd, »es kann nicht sein.«

»Sie werden doch nicht in der Nacht zurückreisen wollen, Sam?« drängte Herr Winkle sehr überrascht,

»Nein, außer wenn Sie es absolut wünschen«, versetzte Sam, »aber ich darf dieses Zimmer hier nicht verlassen. Der Herr hat mir ganz ausdrückliche Befehle gegeben.«

»Unsinn, Sam«, sagte Herr Winkle. »Ich muß zwei oder drei Tage hier bleiben, und was mehr ist, Sam, Sie müssen auch hier bleiben, um mir zu einer Zusammenkunft mit einer jungen Dame zu verhelfen – nämlich, mit Fräulein Allen. Sie erinnern sich ihrer; ich muß und will sie sehen, bevor ich Bristol verlasse.«

Statt aller Antwort auf diese Vorschläge schüttelte Sam mit großer Festigkeit sein Haupt und erwiderte ausdrucksvoll:

»Es kann nicht sein.«

Nach manchen Argumentationen und Vorstellungen von Herrn Winkles Seite jedoch und nach einer umständlichen Auseinandersetzung über das Zusammentreffen mit Dowler begann Sam zu schwanken, und zuletzt kam ein Vertrag zustande, dessen Hauptbedingungen folgende waren:

Daß sich Sam entfernen und Herrn Winkle im ungestörten Besitz seines Zimmers lassen solle, jedoch mit der Erlaubnis, die Tür von außen zu schließen und den Schlüssel mitzunehmen; dagegen habe er, im Fall ein Feuer ausbrechen oder sonst eine Gefahr eintreffen sollte, die Tür sofort zu öffnen. Ferner solle am nächsten Morgen in aller Frühe dem Herrn Dowler ein Brief an Herrn Pickwick mitgegeben werden, worin Sam und Herr Winkle um Erlaubnis bitten, zu dem bereits bezeichneten Zwecke in Bristol zu bleiben und um Antwort mit der nächsten Postkutsche ersuchen: falle diese günstig aus, so sollen die besagten Parteien bleiben – wenn nicht, unmittelbar nach Empfang des Schreibens nach Bath zurückreisen. Endlich solle Herr Winkle gehalten sein und sich verpflichten, in der Zwischenzeit nicht durch das Fenster, den Kamin oder sonst auf hinterlistige Art zu entweichen.

Nachdem diese Punkte festgesetzt waren, schloß Sam die Tür und ging.

Er war beinahe die Treppen heruntergegangen, als er stehenblieb und den Schlüssel aus der Tasche zog.

»Das Niederschlagen habe ich ganz vergessen«, sagte Sam, sich halb zurückwendend. »Der Herr hat es doch ausdrücklich gesagt. O, ich Allerweltsdummkopf! Doch, es macht nichts«, setzte er, plötzlich sich klar werdend, hinzu: »es läßt sich ja morgen leicht nachholen.«

Durch diesen Gedanken augenscheinlich sehr getröstet, steckte Herr Weller den Schlüssel abermals in die Tasche, ging ohne weitere Gewissensbisse die paar Treppen vollends hinunter und verfiel bald darauf, gleich den übrigen Bewohnern des Hauses, in tiefe Ruhe.