Sechzehntes Kapitel. Noch mehr Strickzeug.


Sechzehntes Kapitel. Noch mehr Strickzeug.

Madame Defarge und ihr Herr Gemahl kehrten traulich miteinander in den Schoß von Saint Antoine zurück, während ein Fleck in einer blauen Mütze durch Dunkelheit und Staub die ermüdende Allee neben der Straße sich hinunterbewegte und langsam in die Kompaßrichtung strebte, wo das Schloß des jetzt in seinem Grabe liegenden Monsieur le Marquis auf das Flüstern der Bäume lauschte. Die steinernen Gesichter hatten nunmehr so reichlich Muße, den Bäumen und dem Brunnen zuzuhören, daß die Dorfvogelscheuchen, die bei ihrem Spähen auf eßbares Grün oder brennbares abgestorbenes Reis sich in die Nähe des steinernen Hofes und der Terrassentreppe verirrten, in ihrer ausgehungerten Einbildungskraft auf den Gedanken kamen, die Gesichter seien anders geworden. In dem Dorfe erhielt sich noch ein Gerücht freilich nur schwach und abnehmend wie die Einwohnerschaft selbst , die Gesichter haben, als das Messer gestoßen wurde, den Ausdruck des Stolzes in den von Zorn und Schmerz umgewandelt, und als die baumelnde Gestalt vierzig Fuß hoch über dem Brunnen hing, sei abermals eine Veränderung vorgegangen, denn sie trügen von da an und für immer die grausame Miene gesättigter Rache. Auf dem steinernen Gesicht über dem großen Fenster des Schlafgemaches, wo der Mord geschah, zeigten sich in der gemeißelten Nase zwei feine Grübchen, die jedermann erkennen konnte, vorher aber nie jemand gesehen hatte; und wenn bei seltenen Gelegenheiten zwei oder drei zerlumpte Bauern aus dem Haufen der andern auftauchten, um einen hastigen Blick nach dem versteinerten Monsieur le Marquis zu werfen, so konnte keiner auch nur eine Minute mit dem mageren Finger danach hindeuten, ohne daß die übrigen auseinanderstoben, um unter Moos und Gebüsch sich zu bergen wie die Hasen, die freilich, glücklicher als sie, da auch ihre Nahrung fanden.

Schloß und Hütte, Steingesicht und baumelnde Gestalt, der rote Fleck auf dem Steinboden und das reine Wasser in dem Dorfbrunnen, Tausende von Morgen Landes, eine ganze Provinz von Frankreich, ja sogar ganz Frankreich lag unter dem Nachthimmel zu einer schwachen haarbreiten Linie konzentriert. So liegt eine ganze Welt mit ihrer Größe und Kleinheit in dem flimmernden Punkt eines Sterns. Und da bloßes menschliches Wissen einen Lichtstrahl zu spalten und die Art seiner Zusammensetzung zu zergliedern vermag, so liest wohl ein höherer Verstand in dem schwachen Widerschein dieser unserer Erde jeden Gedanken und jede Tat, jede Tugend und jedes Laster in den Seelen der darauf lebenden verantwortlichen Geschöpfe.

Die Defarges, Mann und Frau, kamen unter dem Schein der Sterne in einem holpernden Fiaker zu dem Tor jenes Teils von Paris, nach dem natürlich ihre Reise ging. Wie gewöhnlich mußte vor dem Wachhaus der Barriere haltgemacht werden, und die gewöhnlichen Laternen kamen zu der gewöhnlichen Untersuchung aus dem Wachhaus heraus. Monsieur Defarge stieg aus. Er kannte ein paar von den Soldaten und einen von der Polizei. Mit letzterem stand er auf sehr vertrautem Fuße, weshalb er ihn aufs freundschaftlichste grüßte.

Saint Antoine hatte die Defarges mit seinen mächtigen Schwingen wieder umfangen, und sie suchten, da sie an der Grenzscheide des Heiligen ausgestiegen waren, zu Fuß ihren Weg durch den schwarzen Kot und den Unrat der Straßen. Da sagte Madame Defarge zu ihrem Mann:

»Rede, mein Freund; was hat Jacques von der Polizei dir mitgeteilt?«

»Heute sehr wenig, aber doch alles, was er weiß. Es ist wieder ein Spion für unsern Stadtteil aufgestellt worden. Vielleicht sind’s ihrer viel mehr, aber er hat nur von diesem einen Kenntnis.«

»Wirklich?« versetzte Madame Defarge mit kalter Geschäftsmiene, die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Dann ist’s nötig, ihn einzutragen. Wie heißt der Mann?«

»Er ist ein Engländer.«

»Um so besser. Sein Name?«

»Barsad«, sagte Defarge, indem er durch die Aussprache ihn zu einem französischen machte; doch hatte er sich’s so angelegen sein lassen, ihn genau zu erfahren, daß in den Buchstaben kein Irrtum obwalten konnte.

»Barsad«, wiederholte Madame. »Gut. Taufname?«

»John.«

»John Barsad«, murmelte Madame ein paarmal vor sich hin. »Gut. Weiß man, wie er aussieht?«

»Alter ungefähr vierzig Jahre, Höhe fünf Fuß neun Zoll, schwarzes Haar, dunkle Hautfarbe, im allgemeinen ein ziemlich hübsches Gesicht, schwarze Augen, schmales, langes, bleiches Antlitz, Adlernase, aber nicht geradstehend, sondern eigentümlich gegen die linke Wange hin geneigt, daher ein unheimlicher Ausdruck.«

»Meiner Treu, das ist ein Porträt!« sagte Madame lachend. »Er soll morgen eingetragen werden.«

Sie hatten das Weinhaus erreicht, das, weil es bereits Mitternacht war, geschlossen war. Madame nahm drinnen ihren Posten alsbald an dem Pult ein, zählte die kleine Münze, die in ihrer Abwesenheit eingegangen, untersuchte die Vorräte, ging die Einträge im Buch durch, machte selbst weitere, befragte den Kellner über alles mögliche und ließ ihn endlich zu Bett gehen. Dann leerte sie den Inhalt der Geldschüssel zum zweitenmal aus und begann denselben, zu sicherer Aufbewahrung für die Nacht, partienweise in ihr Taschentuch zu knüpfen, so daß dadurch eine Kette getrennter Knoten gebildet wurde. Diese ganze Zeit über ging Defarge mit der Pfeife im Munde auf und ab und sah mit wohlgefälliger Bewunderung zu, ohne sich einzumengen. Ein solches Aufundabwandeln war überhaupt sein ganzer Lebensgang.

Die Nacht war heiß, und in der dumpfen, von einer ekelhaften Nachbarschaft umgebenen Weinstube roch es nicht am besten. Monsieur Defarges Geruchssinn gehörte zwar nicht zu den feinen, aber der Wein dünstete viel schärfer aus als sonst, und ebenso kam es ihm bei dem Rum, dem Anis und dem Branntwein vor. Er schnüffelte über das Gemisch dieser Gerüche, als er die ausgerauchte Pfeife weglegte.

»Du bist erschöpft«, sagte Madame, von ihren Geldknoten aufschauend. »Es riecht wie sonst auch.«

»Ich bin allerdings etwas müde«, räumte der Gatte ein.

»Und etwas niedergedrückt dazu«, sagte Madame, deren scharfes Auge nie so sehr in Anspruch genommen war, daß es nicht einige Blicke für ihn hätte erübrigen können. »Oh, die Männer, die Männer!«

»Aber meine Liebe«, begann Defarge.

»Nun, meine Liebe«, wiederholte Madame mit entschiedenem Kopfnicken »was soll meine Liebe? Du bist heute nacht sehr kleinmütig, mein Bester.«

»Nun ja«, sagte Defarge, als ob ein Gedanke sich von seiner Brust losrisse, »es ist in der Tat eine lange Zeit.«

»Ja, wohl eine lange Zeit«, versetzte seine Frau. »Und wenn es keine lange Zeit wäre? Rache und Vergeltung wollen Zeit haben; das ist die Regel.«

»Der Blitz, der auf einen Menschen niederfährt, braucht nicht lange«, sagte Defarge.

»Aber wie lange braucht’s«, fragte Madame ruhig, »um den Blitz vorzubereiten? Sag‘ mir dies.«

Defarge richtete gedankenvoll den Kopf auf, als ob auch in diesem etwas brüte.

»Es ist für ein Erdbeben keine lange Frist nötig«, sagte Madame, »eine Stadt zu zerstören. Wohlan, so sag‘ mir, wie lang das Erdbeben braucht, bis es zum Losbrechen fertig ist.«

»Vermutlich lange«, sagte Defarge.

»Aber wenn es einmal so weit ist, so kracht es und mahlt alles in Trümmer. In der Zwischenzeit schafft es vorbereitend, ohne daß man etwas davon hört oder sieht. Dies ist ein Trost für dich; halt ihn fest.«

Sie knüpfte mit flammendem Aug‘ einen Knoten, als ob sie einen Feind erdroßle.

»Ich sage dir«, fuhr Madame fort und streckte pathetisch die Hand aus, »daß es, wenn es auch lange braucht, doch schon auf dem Wege ist und kommen wird. Ich sage dir, es weicht nicht zurück und macht keinen Augenblick halt. Ich sage dir, es rückt ohne Unterlaß näher. Sieh umher und betrachte dir das Leben aller, die wir kennen, die Gesichter aller unserer Bekannten merke auf die Wut und die Unzufriedenheit, worin die Jacquerie mit jeder Stunde sich mehr befestigt. Könnten solche Zustände bleiben? Pah! wie närrisch du mir vorkommst.«

»Mein braves Weib«, erwiderte Defarge, der gesenkten Hauptes und mit auf dem Rücken verschlungenen Händen dastand, einem gelehrigen Schüler gleich, der seinem Katecheten aufmerksames Gehör schenkt, »ich beanstande von alledem nichts. Aber es hat schon so lange gedauert, und so mag es wohl kommen du weißt wohl, Frau, wie leicht dies möglich ist , daß wir’s nicht mehr erleben.«

»Nun und was dann?« fragte Madame, abermals einen Knoten drehend, als gelte es, einen neuen Feind zu erwürgen.

»Dann sehen wir eben den Triumph der Sache nicht«, antwortete Defarge mit einem halb kläglichen, halb apologetischen Achselzucken.

»So haben wir doch mitgeholfen«, sagte Madame, wieder mit dem Arme fuchtelnd. »Nichts, was wir tun, wird umsonst gewesen sein. Doch glaube ich aus voller Seele, wir können den Triumph noch mit ansehen. Und wenn es auch nicht sein sollte, und ich wüßte dies gewiß, so zeige man mir den Hals eines Aristokraten und Tyrannen, und ich will «

Madame biß jetzt die Zähne zusammen und drehte einen wahrhaft schrecklichen Knoten.

»Halt!« rief Defarge, ein wenig errötend, da ihn die Worte seiner Ehehälfte wie ein Vorwurf der Feigheit trafen, »auch ich werde mich durch nichts zurückschrecken lassen.«

»Ja; aber es ist eine Schwäche von dir, daß man dir zuweilen dein Opfer und die Gelegenheit zeigen muß, um deinen Mut aufrecht zu halten. Sei ein Mann auch ohne dies. Wenn die Zeit kommt, kannst du einen Tiger und einen Teufel loslassen, aber so lange mußt du warten und Tiger und Teufel an der Kette halten nicht zeigen, aber immer dafür vorbereitet sein.«

Madame verstärkte den Schluß dieses Stückchens Rat damit, daß sie mit ihrer Geldkette auf den kleinen Zahltisch schlug, als klopfe sie jemand das Gehirn heraus; dann nahm sie mit ruhiger Miene das Schnupftuch unter den Arm und bemerkte, es sei Zeit zum Schlafengehen.

Am nächsten Mittag sah man die merkwürdige Frau wieder in der Weinstube, mit emsigem Stricken beschäftigt, auf ihrem gewöhnlichen Platz. Eine Rose lag neben ihr, und wenn sie hin und wieder nach der Blume hinsah, so geschah es ohne einen Wechsel in ihrer gedankenvollen Miene. Einige Gäste saßen oder standen mit oder ohne Trunk umher. Es war ein sehr heißer Tag, und Scharen von Fliegen, die ihre neugierigen und gewagten Forschungen auf alle die klebrigen kleinen Gläser in der Nähe von Madame ausdehnten, fielen tot zu Boden. Ihr Untergang machte keinen Eindruck auf die außen herumspazierenden Fliegen, die in der gelassensten Weise auf sie niederschauten, als seien sie selbst Elefanten oder sonst etwas ebenso Verschiedenes, bis sie von dem gleichen Schicksal ereilt wurden. Merkwürdig, was für ein kopfloses Volk die Fliegen sind! Vielleicht dachten sie bei Hofe ebenso an jenem heißen Sommertage.

Eine durch die Tür eintretende Gestalt warf einen Schatten auf Madame Defarge; ohne hinzusehen, fühlte sie, daß dies ein neuer Gast war. Sie legte ihr Strickzeug nieder und steckte die Rose in ihren Kopfputz, ehe sie umschaute.

Es war seltsam. Sobald Madame Defarge die Rose aufgenommen hatte, hörten die Gäste auf zu sprechen und verloren sich allmählich aus der Weinstube.

»Guten Tag, Madame«, grüßte der neue Ankömmling.

»Guten Tag, Monsieur.«

Dies sprach sie laut, dann aber fügte sie innerlich hinzu, während sie wieder nach ihrem Strickzeug griff: »Ha, guten Tag. Alter ungefähr vierzig, Höhe fünf Fuß neun Zoll, schwarzes Haar, im allgemeinen ein ziemlich hübsches Gesicht, dunkle Hautfarbe, schwarze Augen, schmales, langes, bleiches Antlitz, Adlernase, aber nicht geradstehend, sondern eigentümlich gegen die linke Wange hin geneigt, daher ein unheimlicher Ausdruck! Guten Tag ein für allemal.«

»Darf ich um ein Gläschen alten Kognak und um einen Schluck frischen Wassers bitten, Madame?«

Madame willfahrte in höflicher Weise.

»Vortrefflicher Kognak dies, Madame.«

Es war das erstemal, daß ihm dieses Kompliment zuteil wurde, und Madame Defarge kannte sich zu gut aus, um es für etwas anderes zu nehmen. Sie sagte jedoch, daß dieses Lob dem Kognak schmeichelhaft sei, und nahm ihr Gestrick wieder auf.

»Ihr strickt ja recht geschickt, Madame.«

»Gewohnheit.«

»Auch ein recht hübsches Muster.«

»Meint Ihr?« versetzte Madame, mit einem Lächeln nach ihm hinsehend.

»Zuverlässig. Darf man fragen, was es geben soll?«

»Zeitvertreib«, sagte Madame, ihn noch immer lächelnd ansehend, während ihre Finger hurtig fortarbeiteten.

»Also nicht für den Gebrauch?«

»Je nachdem. Möglich, daß ich es eines Tages benutzen kann. Kommt die Zeit je nun«, fügte Madame bei, indem sie tief aufatmete und in einer Art ernster Koketterie mit dem Kopfe nickte, »so gedenke ich Gebrauch davon zu machen.«

Es war merkwürdig, aber der Geschmack von Saint Antoine schien sich durch eine Rose in dem Kopfputz der Madame Defarge verletzt zu fühlen. Zwei Männer, die gesondert nacheinander eintraten, hatten augenscheinlich Lust, etwas zu bestellen: als sie aber dieser Neuerung ansichtig wurden, stotterten sie, taten, als hätten sie einen Freund gesucht, der nicht da war, und entfernten sich wieder. Von den Gästen, die beim Eintritt des Fremden in der Weinstube gewesen, sah man keinen mehr; alle waren fortgegangen. Der Spion hatte seine Augen gut offen gehabt, aber nicht bemerken können, daß ein Zeichen gegeben worden wäre. Ihr Verschwinden war ganz natürlich und unverdächtig vor sich gegangen, als habe demselben durchaus keine Absicht, höchstens eine leere Börse zugrunde gelegen.

»John«, dachte Madame, in ihrer Arbeit innehaltend, obschon ihre Finger, während ihre Augen auf dem Fremden ruhten, automatisch sich fortbewegten. »Wenn du lange genug bleibst, so stricke ich in deinem Beisein das Wort Basard aus.«

»Ihr habt einen Mann, Madame?«

»Kinder?«

»Nein.«

»Das Geschäft scheint schlecht zu gehen.«

»Sehr schlecht. Die Leute sind so arm.«

»Ach, das unglückliche, bedauernswürdige Volk! Und noch obendrein so gedrückt, wie Ihr sagt.«

»Wie Ihr sagt«, versetzte Madame, ihn verbessernd und gewandt ein Extra-Etwas in seinen Namen strickend, was nichts Gutes für ihn bedeutete.

»Ich bitte um Verzeihung: allerdings habe ich so gesagt, aber, versteht sich, damit nur einen Gedanken von Euch ausgedrückt. Natürlich.«

»Einen Gedanken von mir ?« erwiderte Madame von oben herab. »Ich und mein Mann haben genug zu tun, diese Weinstube im Gang zu halten, ohne daß wir uns mit Gedanken plagen. Hier, denkt man an nichts weiter, als wie man sein Leben durchschlägt. Dies ist der Gegenstand unserer Gedanken, und er nimmt uns vom Morgen bis in die Nacht voll in Anspruch, ohne daß wir unsere Köpfe mit dem Denken für andere zu behelligen brauchen. Tue dies jeder für sich selbst: ich will nichts davon.«

Der Spion, der sich eingefunden hatte, um womöglich einige Krümlein aufzulesen oder etwas anzuspinnen, ließ auf seinem unheimlichen Gesicht nichts von dem Ärger seines Innern merken, sondern stand in galantem Geplauder da, lehnte seinen Ellenbogen auf Madame Defarges kleinen Zahltisch und schlürfte gelegentlich von seinem Kognak.

»Eine schlimme Geschichte, jene Hinrichtung Gaspards, Madame. Ach, der arme Gaspard!« fügte er mit einem mitleidigen Seufzer hinzu.

»Ei was«, entgegnete Madame leichthin und mit Kälte, »wenn die Leute in solcher Absicht zum Messer greifen, so müssen sie’s eben büßen. Er wußte im voraus, was ein solcher Luxus kostet, und hat den Preis dafür bezahlt.«

»Ich glaube«, sagte der Spion, seine Stimme zu einem Ton dämpfend, der zum Vertrauen einlud, und in jedem Muskel seines boshaften Gesichtes eine gekränkte revolutionäre Empfindlichkeit ausdrückend, »in Beziehung auf den armen Schelm herrscht viel Teilnahme und Unwille in diesem Stadtteil? Wir sprechen dies unter uns.«

»Wirklich?« versetzte Madame, sich einfältig stellend.

»Ist’s nicht so?«

»Da kommt mein Mann«, entgegnete Madame Defarge.

Der Inhaber der Weinstube blieb unter der Tür stehen. Der Spion grüßte, indem er an seinen Hut langte und unter einschmeichelndem Lächeln den Wirt mit den Worten anredete:

»Guten Tag, Jacques.«

Defarge sah ihn mit großen Augen an.

»Guten Tag, Jacques«, wiederholte der Spion mit etwas weniger Zuversicht oder mit einem weniger zutraulichen Lächeln unter dem Einfluß dieses Blickes.

»Ihr seid im Irrtum, Herr«, versetzte der Inhaber der Weinstube, »und haltet mich für jemand anders. Ich heiße nicht so. Mein Name ist Ernest Defarge.«

»Es kommt auf eines heraus«, sagte der Spion leichthin, obschon mit verbissenem Arger. »Guten Tag.«

»Guten Tag«, entgegnete Defarge trocken.

»Ich sagte eben zu Madame, mit der ich mich bei Eurem Eintritt zu unterhalten das Vergnügen hatte, man erzähle sich und es ist auch kein Wunder , daß das unglückliche Schicksal des armen Gaspard viel Teilnahme und Unwillen in Saint Antoine geweckt habe.«

»Gegen mich hat sich niemand in dieser Weise ausgesprochen«, sagte Defarge, den Kopf schüttelnd. »Ich weiß nichts davon.«

Nach diesen Worten trat er hinter den kleinen Zahltisch, legte seine Hand auf die Lehne des Stuhles, in dem Madame saß, und blickte über diese Schranke nach dem ihnen jetzt gegenüberstehenden Menschen hin, dem er sowohl wie sie von ganzem Herzen eine Kugel ins Hirn gegönnt hätte.

Der Spion, der sich auf sein Geschäft verstand, ließ sich in seiner nachlässigen Stellung nicht beirren, sondern trank sein Gläschen Kognak aus, nahm dann einen Schluck Wasser und bat um ein weiteres Glas. Madame Defarge bediente ihn, griff dann wieder zu ihrem Strickzeug und summte eine Arie vor sich hin.

»Ihr scheint Euch in diesem Viertel gut auszukennen das heißt, besser als ich«, bemerkte Monsieur Defarge.

»Durchaus nicht; aber ich hoffe bekannt zu werden. Ich fühle eine tiefe Teilnahme für seine unglücklichen Bewohner.«

»Ha!« murmelte Defarge.

»Das Vergnügen, mich mit Euch zu unterhalten, Monsieur Defarge, erinnert mich daran«, fuhr der Spion fort, »daß ich die Ehre habe, Euren Namen mit interessanten Vorgängen der Vergangenheit in Verbindung bringen zu können.«

»So?« versetzte Defarge gleichgültig.

»Jawohl. Ich weiß, daß Ihr nach der Freilassung des Doktor Manette Euch als sein alter Diener seiner angenommen habt. Er wurde Euch übergeben. Ihr seht, daß ich von den Verhältnissen unterrichtet bin.«

»Dies scheint in der Tat der Fall zu sein«, sagte Defarge.

Madame hatte ihm nämlich durch eine gelegentliche Berührung mit dem Ellenbogen, während sie im übrigen fortstrickte und trillerte, ihre Meinung angedeutet, daß er am besten tun werde, zu antworten, aber nur kurz.

»Zu Euch kam auch seine Tochter«, fuhr der Spion fort, »die ihn Euch abnahm und mit ihm nach England zurückkehrte; sie wurde begleitet von einem sauberen braunen Herrn wie hieß er doch? in einer Stutzperücke Lorry bei der Bank von Tellson und Kompanie.«

»Ganz richtig«, erwiderte Defarge.

»Sehr interessante Erinnerungen«, sagte der Spion. »Ich habe Doktor Manette und seine Tochter in England kennengelernt.«

»So?« entgegnete Defarge.

»Ihr hört wohl nicht mehr viel von ihnen?« fragte der Spion.

»Nein«, entgegnete Defarge.

»Eigentlich nie«, fiel Madame ein, die ihr Summen einstellte und von ihrer Arbeit aufsah. »Wir erfuhren, daß sie gut in England angelangt waren, und erhielten noch einen oder vielleicht zwei Briefe; aber seitdem sind sie ihren eigenen Lebensweg gegangen und wir den unsrigen. Wir haben keine Korrespondenz unterhalten.«

»Es ist vollkommen so, Madame«, sagte der Spion. »Sie wird demnächst heiraten.«

»Demnächst?« wiederholte Madame. »Sie war hübsch genug, daß man glauben sollte, sie hätte das längst getan. Ihr Engländer seid kalt, scheint mir.«

»Oh, Ihr wißt, daß ich ein Engländer bin?«

»Ich bemerke es an Eurer Sprache«, entgegnete Madame; »nach ihr beurteile ich den Mann.«

Er schien diese Identifikation nicht für ein Kompliment aufzunehmen; doch machte er gute Miene dazu und lachte. Nachdem er seinen Kognak ausgeschlürft hatte, fügte er hinzu:

»Ja, Miß Manette ist im Begriff, sich zu verehelichen. Aber nicht an einen Engländer, sondern an einen Mann, der wie sie selbst durch seine Geburt Frankreich angehört. Und da wir von Gaspard gesprochen haben – ach der arme Gaspard! es war grausam, sehr grausam – seltsamerweise muß es sich fügen, daß sie den Neffen des Herrn Marquis heiratet, um dessentwillen Gaspard um so viele Fuß erhöht wurde mit andern Worten, den gegenwärtigen Marquis. Aber er lebt unbekannt in England und ist dort kein Marquis, sondern läßt sich Mr. Charles Darnay nennen. D’Aulnais heißt die Familie seiner Mutter.«

Madame Defarge strickte stetig fort; aber die Kunde machte einen sichtlichen Eindruck auf ihren Gatten. Er mochte hinter dem kleinen Zahltisch tun, was er wollte – Licht schlagen oder seine Pfeife anzünden seine Unruhe verbarg sich nicht, und seine Hand blieb unsicher. Der Spion hätte kein Spion sein müssen, wenn dies ihm entgangen wäre und sich nicht seinem Gedächtnis eingeprägt hätte.

Nachdem Mr. Barsad wenigstens dieses Körnchen vielleicht ließ sich doch etwas daraus machen aufgefischt hatte, zahlte er, da kein anderer Gast kam, um ihm zu einem weiteren zu verhelfen, seine Zeche und verabschiedete sich, wobei er in höflicher Weise das Vergnügen fernerer Besuche bei Monsieur und Madame Defarge in Aussicht nahm. Er hatte sich schon einige Minuten in den Gassen von Saint Antoine verloren, während Mann und Frau noch immer für den Fall, daß er wieder zurückkäme, die gleiche Haltung bewahrten wie bei seinem Abgange.

»Kann es wahr sein, was er von Mamselle Manette gesagt hat?« begann endlich Defarge, der noch immer rauchend hinter seiner Frau stand und die Hand auf der Stuhllehne liegen hatte, mit gedämpfter Stimme.

»Da er’s gesagt hat«, versetzte Madame, ihre Augenbrauen ein wenig in die Höhe ziehend, »so ist es wahrscheinlich eine Lüge. Indes wäre es wohl möglich.«

»Wenn’s so wäre « sagte Defarge und hielt wieder inne.

»Wenn’s so wäre?« wiederholte seine Frau.

»Und wenn es so weit kommt, daß wir den Triumph erleben, so hoffe ich um ihretwillen, daß die Vorsehung ihren Mann von Frankreich fernhält.«

»Ihren Mann«, sagte, Madame Defarge mit ihrer gewöhnlichen Fassung, »wird das ihm bestimmte Schicksal ereilen, wo er auch sei, und seinem Ziele zuführen. Was kümmert uns dies?«

»Ja, aber doch sonderbar oder ist es wenigstens nicht jetzt sehr sonderbar«, versetzte Defarge, gewissermaßen unterhandelnd mit seiner Frau, als möchte er sie zu einem Zugeständnis bewegen, »daß bei aller unserer Sympathie für ihren Herrn Vater und sie der Name ihres Gatten in diesem Augenblick neben dem des höllischen Schurken, der uns eben verlassen hat, eingezeichnet werden mußte?«

»Wenn es so weit kommt, werden sich noch seltsamere Dinge zutragen«, antwortete Madame. »Ich habe allerdings beide hier, und sie stehen da um ihrer Verdienste willen. Das genügt.«

Während sie so sprach, rollte sie ihre Strickerei zusammen und nahm die Rose aus dem Tuche, das sie sich um den Kopf gebunden hatte. Entweder ahnte Saint Antoine instinktartig die Beseitigung des anstößigen Schmuckes, oder hatte er darauf gelauert; kurz, der Heilige faßte bald nachher den Mut, wieder einzutreten, und die Weinstube erhielt abermals das gewohnte Aussehen.

Abends, um die Zeit, als Saint Antoine vorzugsweise sein Inneres nach außen kehrte, indem er sich auf die Türstufen und Fenstersimse setzte oder um die Ecken der stinkenden Straßen und Sackgassen kam, um ein wenig frischere Luft zu suchen, konnte man Madame Defarge ordnungsmäßig mit dem Strickzeuge in der Hand von einer Stelle, von einer Gruppe zur andern gehen sehen als einen Missionar ihresgleichen hat es schon viele gegeben , den die Welt hervorzubringen besser unterlassen hatte. Alle die Weiber strickten. Sie strickten unnütze Dinge, aber die mechanische Arbeit war ein mechanischer Ersatz für Essen und Trinken; die Hände bewegten sich statt der Kiefer und statt des Verdauungsapparats. Hätten die klapperdürren Finger geruht, so würden die Magen das Kneifen des Hungers schwerer empfunden haben.

Aber wie die Finger gingen, so gingen auch die Augen und die Gedanken. Und während Madame Defarge von Gruppe zu Gruppe wandelte, gingen alle drei rascher und eifriger unter jedem Weiberhaufen, mit dem sie gesprochen hatte.

Ihr Mann rauchte unter der Tür und sah ihr mit Bewunderung zu. »Eine große Frau«, sagte er, »eine starke Frau, eine großartige Frau, eine schrecklich großartige Frau!«

Die Dunkelheit brach herein; dann kam da« Läuten der Kirchturmglocken und der ferne Zapfenstreich der königlichen Garde. Die Weiber saßen da und strickten und strickten. Es wurde Nacht um sie her. Eine andere Dunkelheit brach ebenso sicher herein, wenn einmal die Kirchenglocken, die von vielen stolzen Türmen lieblich über Frankreich hinläuteten, zu donnernden Kanonen umgeschmolzen waren und der Trommelschlag erscholl, um eine unglückliche Stimme zu ersticken jene Nacht, allgewaltig wie die Stimme der Macht und des Überflusses, der Freiheit und des Lebens. Es dunkelte so sehr um die Weiber her, die strickend und strickend dasaßen, daß sie ihr eigenes Ich umgaben mit dem tiefen nächtigen Schatten eines noch nicht errichteten Gebäudes, in dem sie sitzen wollten, um zu stricken, zu stricken und fallende Köpfe zu zählen.

Siebzehntes Kapitel. Ein Abend.


Siebzehntes Kapitel. Ein Abend.

Nie ging an der stillen Ecke in Soho die Sonne glänzender und herrlicher unter als an jenem denkwürdigen Abend, den der Doktor mit seiner Tochter unter der Platane verbrachte. Nie warf der Mond einen milderen Glanz über das große London als an jenem Abend, während sie noch unter dem Baume saßen und er durch die Blätter auf ihre Gesichter niederschien.

Lucie sollte am andern Morgen vor den Altar treten. Diesen letzten Abend hatte sie ihrem Vater vorbehalten, und sie saßen allein unter der Platane.

»Du bist glücklich, mein lieber Vater?«

»Vollkommen, mein Kind.«

Sie hatten wenig miteinander gesprochen, obschon sie bereits eine geraume Zeit dasaßen. Auch als es noch hell genug war, um zu arbeiten oder zu lesen, hatte sie weder ihr gewöhnliches Geschäft aufgenommen noch ihm vorgelesen. Unter solchem Zeitvertreib war ihr oft und vielmal unter dem Baum der Abend an seiner Seite entschwunden; aber der heutige glich den anderen nicht ganz, und es ließ sich da nichts erzwingen.

»Auch ich bin heute abend sehr glücklich, lieber Vater. Ich fühle mich selig in der Liebe, mit der der Himmel mich gesegnet hat in meiner Liebe zu Charles und in Charles‘ Liebe zu mir. Aber wenn nicht gleichwohl mein Leben fortwährend dir gewidmet sein dürfte, oder wenn diese Heirat es nötig machte, getrennt von dir zu leben, wäre es auch nur um einige Straßenlängen, so würde ich mich unglücklicher fühlen, als ich dir sagen kann, und müßte mir stets Vorwürfe machen. Selbst so, wie es ist «

Selbst so, wie es war, vermochte sie nicht weiter über ihre Stimme zu gebieten.

In dem melancholischen Mondlicht – es ist immer melancholisch, während das der Sonne oder jenes Licht, das man Menschenleben nennt, nur beim Kommen und Gehen diesen Charakter zeigt schlang sie den Arm um seinen Hals und legte das Gesicht an seine Brust.

»Teuerster Vater, kannst du mir dieses letztemal sagen, daß du dich ganz und vollkommen überzeugt fühlst, keine neue Liebe, keine neuen Pflichten von meiner Seite werden je den alten einen Abtrag tun? Ich weiß es wohl: aber weißt auch du es? Sagt dir dein Herz, daß du ruhig sein darfst?«

Ihr Vater antwortete mit einer heitern Überzeugungsfestigkeit, die keine erkünstelte sein konnte: »Vollkommen ruhig, mein Leben. Ja, mehr als dies«, fügte er hinzu, indem er sie zärtlich küßte; »meine Zukunft erscheint mir in dem Lichte deiner Verheiratung weit glänzender, als sie es ohne diese sein könnte, oder als je die Vergangenheit war.«

»Wenn ich dies hoffen könnte, mein Vater!«

»Glaube es nur, meine Liebe, es ist in der Tat so. Und es ist ja ganz einfach, daß es so sein muß. Du, die du so jung und aufopferungsvoll bist, hast freilich keinen Sinn für die Angst, die mich stets quälte, dein Leben könnte ein verfehltes sein «

Sie führte ihre Hand nach seinen Lippen; er aber nahm sie in die seinige und wiederholte das Wort.

»Verfehlt, mein Kind um meinetwillen der natürlichen Ordnung der Dinge entrückt. Bei deiner Uneigennützigkeit kannst du nicht begreifen, wie schwer mir dies auf der Seele gelegen hat; aber frage dich selbst – wie kann mein Glück vollkommen sein, wenn zu dem deinigen etwas fehlt?«

»Wenn ich Charles nie gesehen hätte, mein Vater, so wäre ich an deiner Seite vollkommen glücklich gewesen.«

»Aber du hast ihn gesehen, mein Kind, und es ist Charles. Wäre er’s nicht, so wär‘ es ein anderer gewesen. Wo nicht, so müßte ich mich selbst als die Ursache betrachten, und dann hätte die Nachtseite meines Lebens ihren Schatten über mich hinausgeworfen, um dich zu treffen.«

Es war seit der Gerichtsverhandlung das erstemal, daß sie ihn auf seine Leidensperiode anspielen hörte. Die Worte weckten in ihr ein neues befremdliches Gefühl, dessen sie sich noch lange nachher erinnerte.

»Sieh«, sagte der Doktor von Beauvais, seine Hand gegen den Mond erhebend, »ich habe von meinem Gefängnisfenster zu ihm aufgeschaut, obschon ich sein Licht nicht ertragen konnte. Ich habe nach ihm gesehen, als mich der Gedanke, er beleuchte das, was ich verloren, mit einer solchen Qual erfüllte, daß ich mit dem Kopfe gegen die Kerkerwände rannte. Ich sah nach ihm in einem so starren und des Lebens baren Zustande, daß ich an nichts zu denken vermochte als an die Zahl von Horizontallinien, die sich durch seine volle Scheibe ziehen ließen, und an die Zahl der senkrechten, mit denen man sie schneiden konnte.« Dann fügte er in seiner in sich gekehrten, gedankenvollen Weise bei: »Ich erinnere mich, es waren ihrer zwanzig so wie so, und die zwanzigste wollte nur noch mit Not hineingehen.«

Das unheimliche Gefühl, da« sie beschlich, als sie hörte, daß er auf diese Zeit zurückkam, beengte ihre Brust desto mehr, je länger er dabei verweilte, obschon in der Art seiner Rückblicke nichts lag, was Besorgnis einflößen konnte. Er schien einfach sich den Gegensatz seines dermaligen heiteren und glücklichen Zustandes zu den schweren Leiden der Vergangenheit vorzuführen.

»Ich sah nach ihm und machte mir dabei tausendmal Gedanken über das noch ungeborene Kind, dem man mich entrissen hatte. Lebte es noch war es lebend ans Licht gekommen oder hatte es der Jammer der Mutter getötet? War es ein Sohn, der mit der Zeit seinen Vater rächte? (Es gab während meiner Haft eine Zeit, in der mein Rachedurst unerträglich war.) War es ein Sohn, der vielleicht von meiner Geschichte nie etwas erfuhr und am Ende wohl gar auf den Gedanken kam, sein Vater sei aus der Welt geschieden durch eigenen Willen und eigene Tat? Oder war es eine Tochter, die zum Weibe heranwuchs?«

Sie zog ihn näher an sich und küßte ihn auf die Wange und auf die Hand.

»Ich habe mir meine Tochter vorgestellt, wie sie meiner ganz vergessen oder vielmehr, wie sie nichts von mir wußte oder ahnte. Jahr um Jahr verzeichnete ich mir die Fortschritte ihres Alters. Ich sah sie mit einem Manne verheiratet, der nichts wußte von meinem Schicksal. War ich doch ganz weggewischt aus der Erinnerung der Lebenden, und in der nächsten Generation nahm bloß ein leerer Raum meine Stelle ein.«

»Mein Vater, wenn ich nur anhören soll, daß du so von einer Tochter dachtest, die nicht vorhanden war, so schnürt es mir das Herz zusammen, als sei ich dieses Kind gewesen.«

»Du, Lucie? Eben aus dem Trost und der Stärkung, die ich dir verdanke, quellen solche Erinnerungen und ziehen zwischen uns und dem Monde dieses letzten Abends hin. Was habe ich eben gesagt?«

»Sie wußte nichts von dir. Sie kümmerte sich nicht um dich.«

»Richtig. Aber in anderen mondhellen Nächten, wenn die Trauer und das Schweigen mich in einer andern Weise ansprachen und eine Art kummervollen Friedens in meine Seele ausgossen, wie dies jede Erregung tun konnte, die den Schmerz zu ihrer Unterlage hatte bildete ich mir ein, sie komme in meine Zelle und führe mich hinaus aus den Kerkermauern ins Freie. Ich habe ihr Bild oft im Mondlicht gesehen, wie ich dich jetzt sehe, mit dem Unterschiede, daß ich sie nie in den Armen hatte; es stand zwischen dem kleinen vergitterten Fenster und der Tür. Aber du begreifst wohl, daß dies nicht das Kind war, von dem ich spreche?«

»Die Gestalt war nicht wesenhaft; das das Bild, die Vorstellung?«

»Nein. Es war etwa« anderes. Es stand vor meinem verstörten Gesichtssinn, ohne sich zu bewegen. Das Phantom, das meinem Geiste keine Ruhe ließ, war ein anderes und wirklicheres Kind. Dem Äußeren nach unterschied ich weiter nichts, als daß es seiner Mutter glich. Das andere hatte auch diese Ähnlichkeit wie du, war aber nicht dasselbe. Kannst du mir folgen, Lucie? Ich glaube, kaum. Du müßtest auch eine einsame Gefangene gewesen sein, um solche wirre Unterschiede zu begreifen.«

Sein gefaßtes ruhige« Wesen konnte nicht hindern, daß ihr das Blut kalt durch die Adern lief, als er in solcher Weise seinen alten Zustand zu zergliedern versuchte.

»In jener friedlicheren Mondlichtstimmung bildete ich mir ein, sie komme zu mir und führe mich hinaus, um mir zu zeigen, wie ihr ehelicher Hausstand voll war von liebenden Erinnerungen an den verlorenen Vater. Mein Bild hing in ihrem Zimmer, und ich lebte in ihren Gebeten. Ihr Leben war tätig, heiter, nützlich, aber in allem lag ein Zug aus meiner kläglichen Geschichte.«

»Mein Vater, jenes Kind war ich. An Güte kann ich mich zwar nicht mit ihm messen, aber in meiner Liebe war ich es.«

»Und sie zeigte mir ihre Kinder«, fuhr der Doktor von Beauvais fort, »und sie hatten von mir gehört und hatten gelernt, mich zu bemitleiden. Wenn sie an einem Staatsgefängnis vorbeikamen, wagten sie es nicht, sich seinen finstern Mauern zu nähern; aber sie blickten zu den Gittern in die Höhe und sprachen flüsternd miteinander. Sie konnte mich nie befreien, und es kam mir vor, sie führe mich immer wieder zurück, nachdem sie mir solche Dinge gezeigt hatte. Dann aber sank ich, meiner Seele in Tränen Erleichterung schaffend, auf die Knie nieder und segnete sie.«

»Mein Vater, ich hoffe, ich bin dies Kind. O mein teurer Vater, wirst du mich morgen mit der gleichen Inbrunst segnen?«

»Lucie, ich führe diese alten Leiden meinem Geiste vor, weil ich heute abend Grund habe, dich mehr zu lieben, als ich in Worten auszudrücken vermag, und Gott für mein Glück zu danken. In meinen wildesten Träumen habe ich mich nie zu dem Glück erhoben, das mir an deiner Seite wurde und das uns fortan bevorsteht.«

Er umarmte sie, empfahl sie feierlich dem Himmel und dankte Gott, daß er sie ihm geschenkt hatte. Dann gingen sie in das Haus zurück.

Zu der Vermählung war niemand gebeten als Mr. Lorry; nicht einmal eine Brautjungfer sollte mitgehen, die hagere Miß Proß ausgenommen. Wegen der Heirat brauchte die alte Wohnstätte nicht geändert zu werden: sie hatten dieselbe ausdehnen können, indem sie die oberen Zimmer, die früher dem apokryphischen Mieter gehörten, für sich nahmen, und weiter verlangten sie nichts.

Doktor Manette war bei dem kleinen Nachtessen sehr heiter. Sie saßen nur zu drei am Tisch, er, Lucie und Miß Proß. Er bedauerte, daß Charles nicht da war, hatte mehr als halb Lust, dem kleinen Komplott der Liebe, das ihn fernhielt, zu zürnen, und trank aus der Fülle seines Herzens auf seine Gesundheit.

So kam für ihn die Zeit, Lucie gute Nacht zu sagen, und sie trennten sich. Aber in der Stille der dritten Morgenstunde ging sie leise die Treppe hinunter nach seinem Zimmer, da sie nicht frei war von unbestimmten Befürchtungen.

Alles stand an seinem Platze; alles war ruhig, und er lag in sanftem Schlaf, das weiße Haar malerisch über das wenig zerdrückte Kissen hingegossen, während seine Hände auf der Decke lagen. Sie stellte ihr unnötiges Licht in einen beschattenden Winkel, schlich an sein Bett und berührte seine Lippen mit den ihrigen: dann beugte sie sich zu ihm nieder und betrachtete ihn.

Sein schönes Gesicht war von den bitteren Wassern der Gefangenschaft durchwühlt; er aber hatte die Spuren ihres Ganges mit dem Ausdruck einer so festen Entschlossenheit bedeckt, daß er selbst im Schlaf Gewalt über sie behielt. In selbiger Nacht sah man wohl durch das ganze weite Gebiet des Schlafs kein Gesicht, das in seinem ruhigen, willenskräftigen und behutsamen Kampfe mit einem unsichtbaren Feinde mehr Interesse geboten hätte.

Sie legte schüchtern die Hand auf die teure Brust und betete zu Gott, er möge ihre Liebe gegen ihn so treu erhalten, wie sie es wünsche und wie es sein Unglück verdiene. Dann nahm sie die Hand wieder weg, küßte ihn nochmal auf die Lippe und entfernte sich. Und als endlich die Sonne aufging, zitterten die Laubschatten der Platane auf seinem Gesicht so leicht, wie ihre Lippen sich bewegt hatten, als sie für ihn betete.

Achtzehntes Kapitel. Neun Tage.


Achtzehntes Kapitel. Neun Tage.

Der Hochzeitsmorgen war herrlich angebrochen, und draußen vor der geschlossenen Tür zu dem Zimmer des Doktors, wo dieser noch mit Charles Darnay Rücksprache hielt, stand alles bereit. Man konnte mit jedem Augenblicke nach der Kirche aufbrechen. Da war die schöne Braut, Mr. Lorry und Miß Proß, für die das Ereignis, mit dem sie sich um seiner Unvermeidlichkeit willen allmählich ausgesöhnt hatte, ein unbedingt beseligendes gewesen wäre, wenn nicht in einem Winkel ihrer Seele der Gedanke gelauert hätte, daß der Platz des Bräutigams eigentlich ihrem Bruder Salomon gehörte.

»Deshalb also«, sagte Mr. Lorry, der die Braut nicht genug bewundern konnte und rund um sie herumgegangen war, um jedes Stück ihres hübschen bescheidenen Anzugs zu mustern, »deshalb also, meine holdselige Lucie, habe ich Euch als kleines Kind über den Kanal herüberbringen müssen. Gott behüt‘ mich, wie wenig dachte ich damals, was ich tat, und wie leicht schlug ich die Verpflichtung an, die ich seinerzeit meinem Freunde Mr. Charles auferlegen sollte.«

»Es lag nicht in Eurem Willen«, bemerkte die praktische Miß Proß, »und Ihr konntet’s ja nicht wissen. Unsinn!«

»Meint Ihr? Gut; aber Ihr müßt nicht weinen«, sagte der sanfte Mr. Lorry.

»Ich weine nicht«, versetzte Miß Proß: »aber Ihr tut es.«

»Ich, meine Proß?« (Mr. Lorry war nachgerade so dreist geworden, gelegentlich sich einen Scherz gegen sie zu erlauben.)

»Ja, gerade eben; ich sah es mit eigenen Augen und wundere mich auch nicht darüber. Ein solches Geschenk von Silbergeschirr, wie Ihr’s ihnen gemacht habt, ist übrigens wohl imstande, jedermann Tränen zu entlocken. Es ist keine Gabel, kein Löffel darunter, über die ich nicht gestern nacht, als der Korb kam, geweint hätte, bis ich sie nicht mehr sehen konnte.«

»Das gereicht mir zu hohem Vergnügen«, entgegnete Mr. Lorry, »obschon ich auf Ehre nicht die Absicht hatte, durch diese unbedeutenden Erinnerungszeichen jemand Sand in die Augen zu streuen. Du mein Himmel, bei solchen Anlässen mag ein Mann sich wohl Gedanken darüber machen, was er alles versäumt hat. Herrje, Herrje, wenn ich erwäge, daß es nun fast schon fünfzig Jahre eine Mrs. Lorry geben könnte!«

»Nicht im geringsten«, bemerkte Miß Proß.

»Ihr meint doch nicht, daß es keine Mrs. Lorry hätte geben können?« versetzte Mr. Lorry.

»Pah!« sagte Miß Proß. »Ihr waret ein Hagestolz schon in der Wiege.«

»Hum, das scheint mir auch wahrscheinlich«, erwiderte Mr. Lorry, mit strahlender Miene seine Stutzperücke zurechtrückend.

»Und Ihr truget den Schnitt des Hagestolzen«, fuhr Miß Proß fort, »noch ehe Ihr in die Wiege kamt.«

Ermunterung.

»Dann bin ich, sollt‘ ich meinen, sehr stiefmütterlich behandelt worden«, sagte Mr. Lorry; »man hätte mir doch bei der Wahl des Schnitts eine Stimme lassen sollen. Doch genug. Meine teure Lucie« er legte sanft den Arm um ihren Leib »ich höre, im nächsten Zimmer rührt sich’s, und Miß Proß und ich als ein paar förmliche Geschäftsleute wollen die letzte gute Gelegenheit nicht verlieren, Euch etwas zu sagen, was Ihr gern hört. Ihr laßt Euren guten Vater in Händen, die so sorglich und liebevoll sind wie die Eurigen; man wird ihm während der nächsten vierzehn Tage, die Ihr in Warwickshire und seiner Nachbarschaft zuzubringen gedenkt, alle mögliche Aufmerksamkeit widmen, und sogar Tellson soll beziehungsweise ihm nachstehen. Wenn er dann nach Ablauf der vierzehn Tage sich Euch und Eurem Gatten anschließt, um den weiteren zweiwöchigen Ausflug durch Wales mitzumachen, so werdet Ihr sagen, wir haben ihn Euch in der besten Gesundheit und in der glücklichsten Gemütsstimmung zugeschickt. Nun, ich höre einen Tritt sich der Tür nähern. Erlaubt mir, mein teures Mädchen, Euch mit einem altmodischen Junggesellen-Segen zu küssen, ehe dieser Jemand kommt, um sein Eigentum in Anspruch zu nehmen.«

Er hielt einen Augenblick das schöne Antlitz vor sich hin, um den wohlbekannten Ausdruck der Stirne zu betrachten, und hielt dann mit einer Zartheit, die, wenn man dergleichen Dinge altmodisch finden will, mit ihrem Alter jedenfalls bis auf Adam hinaufreichte, ihr helles Goldhaar gegen das braune seiner Stutzperücke.

Die Tür des Nachbarzimmers öffnete sich, und der Doktor kam mit Charles Darnay heraus. Er war so leichenblaß ganz anders als beim Hineingehen , daß keine Spur von Farbe sich auf seinem Gesicht wahrnehmen ließ. Aber in seiner Haltung und in seinem Benehmen zeigte sich keine Veränderung, etwa mit der einzigen Ausnahme, daß Mr. Lorrys scharfer Blick aus einem schattenhaften Zuge entnahm, die frühere Angst und Furcht müsse wie ein kalter Wind über ihn hingegangen sein.

Er gab seiner Tochter den Arm und führte sie die Treppe hinab nach dem Wagen, den Mr. Lorry zu Ehren des Tages gemietet hatte. Die anderen folgten in einem zweiten Wagen, und bald waren in einer benachbarten Kirche, wo keine fremden Augen zuschauten, Charles Darnay und Lucie Manette glücklich vermählt.

Außer den Tränen, die während des Trauungsaktes aus dem Lächeln der kleinen Gruppe hervorblitzten, glänzten auch einige feurige, funkelnde Diamanten, die kürzlich der Dunkelheit in Mr. Lorrys Taschen entwischt waren, an der Hand der Braut. Sie kehrten nach Hause zurück zum Frühstück. Alles war gut abgelaufen, und zur gehörigen Zeit vermischte sich das goldige Haar, wie in dem Pariser Dachstübchen, so abermals hier mit den weißen Locken im Lichte der Morgensonne auf der Schwelle der Tür zum Abschied.

Ein schwerer Abschied, obschon nicht auf lange. Ihr Vater aber sprach ihr Mut zu und sagte endlich, während er sich sanft aus ihren umschlingenden Armen losmachte: »Nehmt sie, Charles, sie ist Euer.« Ihre bebende Hand winkte noch aus dem Kutschenfenster, und dann war sie fort.

Da die Ecke nicht dem Anlauf von Müßiggängern und Neugierigen ausgesetzt war und man nur sehr wenige und einfache Vorbereitungen getroffen hatte, so standen der Doktor, Mr. Lorry und Miß Proß allein auf der Straße. Wie sie jedoch sich in den willkommenen Schatten der kühlen alten Halle zurückzogen, bemerkte Mr. Lorry, daß mit dem Doktor eine große Veränderung vorgegangen war, als habe der dort aufgehobene goldene Arm einen giftigen Schlag nach ihm geführt.

Natürlich hatte er viel in sich verschlossen, und es stand zu erwarten, daß es, wenn der Zwang vorüber war, zu einem Losbruch kommen müsse. Aber es war der alte, scheue, irre Blick, der Mr. Lorry beunruhigte, und die gedankenlose Art, wie er nach seinem Kopfe griff und traurig nach seinem Zimmer hinaufstieg, erinnerte seinen Freund an den Weinschenk Defarge und an die Fahrt in der sternenhellen Nacht.

»Ich denke«, flüsterte er nach ängstlicher Erwägung Miß Proß zu, »ich denke, es ist am besten, wenn wir jetzt nicht mit ihm reden, sondern ihn ganz ungestört lassen. Ich muß bei Tellsons ein wenig nachsehen und komme schnell wieder zurück. Wir führen ihn dann aufs Land hinaus, machen dort Mittag, und alles wird wieder recht sein.«

Mit dem Nachsehen bei Tellsons ging es übrigens nicht so hurtig; er wurde zwei Stunden aufgehalten. Als er zurückkam, stieg er ohne Anfrage allein die alte Treppe hinan. Auf dem Flur zu des Doktors Zimmern angelangt, machte er betroffen halt, da er einen Ton hörte wie dumpfes Klopfen!

»Gütiger Gott!« rief er erschrocken. »Was ist dies?«

Miß Proß kam entsetzt auf ihn zu.

»O weh! o weh! Alles ist verloren!« rief sie, die Hände ringend. »Was kann ich meinem Vögelchen sagen? Er kennt mich nicht und macht Schuhe!«

Mr. Lorry tat, was er konnte, um sie zu beruhigen, und ging selbst in des Doktors Zimmer. Die Bank war gegen das Licht gerückt, wie er sie früher gesehen, als der Schuhmacher darauf arbeitete; sein Haupt war niedergebeugt, und die Hände gingen fleißig.

»Doktor Manette. Mein lieber Freund, Doktor Manette!«

Der Doktor sah ihn einen Augenblick halb fragend, halb in einer Weise an, als sei er ärgerlich über die Störung; dann beugte er sich wieder zu seinem Geschäfte nieder.

Er hatte Rock und Weste abgelegt; sein Hemd stand am Halse offen, wie er es sonst bei dieser Arbeit gewöhnt gewesen, und selbst der alte hagere, verblichene Ausdruck lag wieder auf seinem Gesicht. Er arbeitete eifrig, ungeduldig sogar, als wolle er hereinbringen, was er durch die Störung versäumt hatte.

Mr. Lorry betrachtete, was er in der Hand hatte, und sah, daß es ein Schuh von der alten Größe und Form war. Er nahm den anderen, der neben ihm lag, auf und fragte ihn, was dies sei.

»Ein Schuh für ein junges Frauenzimmer«, murmelte er, ohne aufzusehen. »Er sollte schon längst fertig sein. Laßt ihn liegen.«

»Aber, Doktor Manette, so seht mich doch an.«

Er gehorchte in der früheren mechanischen, unterwürfigen Weise, ohne in seiner Arbeit auszusetzen.

»Ihr kennt mich doch, mein lieber Freund? Besinnt Euch. Dies ist keine Beschäftigung, die für Euch paßt. Nehmt Eure Gedanken zusammen, Freund.«

Nichts konnte ihn bewegen, weiterzusprechen. Er schaute, wenn man ihn dazu aufforderte, für einen Augenblick auf, aber keine Überredung war imstande, ihm ein weiteres Wort zu entlocken. Er arbeitete, arbeitete und arbeitete schweigend, und Worte machten auf ihn denselben Eindruck, als wären sie in die Luft oder gegen eine echolose Wand gesprochen. Den einzigen Hoffnungsstrahl glaubte Mr. Lorry in dem Umstand zu entdecken, daß er bisweilen verstohlen aufsah, ohne daß er gefragt wurde. Es schien darin wenigstens ein Ausdruck von Neugierde oder Verlegenheit zu liegen, als versuche er, mit einigen Zweifeln in seinem Geist zurechtzukommen.

Zwei Dinge schienen Mr. Lorry zunächst von besonderer Wichtigkeit zu sein, erstlich, man müsse den Sachverhalt vor Lucie, und zweitens, man müsse ihn vor allen geheimhalten, die den Doktor kannten. Zu Ausführung der letzteren Vorsichtsmaßregel tat er ohne Säumen gemeinschaftlich mit Miß Proß die geeigneten Schritte, indem er aussprengen ließ, daß Mr. Manette unwohl sei und einige Tage völliger Ruhe bedürfe. Um die wohlwollende Täuschung, die an der Tochter geübt werden sollte, zu unterstützen, mußte Miß Proß an sie schreiben, er habe eine Berufung zu einem Kranken erhalten, und sich dabei auf einen angeblich von ihm selbst geschriebenen, aus ein paar hastig hingeworfenen Zeilen bestehenden Brief beziehen, der mit der gleichen Post an sie abgegangen sei.

Diese Maßregeln, die sich für alle Fälle empfahlen, traf Mr. Lorry in der Hoffnung, daß die Geistesirre nur vorübergehend sein werde. Besserte sich’s bald wieder, so hatte er noch etwas anderes im Rückhalt; er wollte sich nämlich auf die beste Art ein sicheres ärztliches Gutachten von dem Zustand des Doktors verschaffen. In letzterer Absicht beschloß er, mit möglichst wenigem Aufsehen ihn persönlich zu überwachen; er traf daher zum erstenmal in seinem Leben Vorkehrungen, um eine Zeitlang von Tellsons wegbleiben zu können, und bezog seinen Posten an dem Fenster in demselben Zimmer.

Nach kurzer Zeit machte er übrigens die Wahrnehmung, daß es schlimmer als nutzlos war, ihn anzureden, da er, wenn man ihm zusetzte, ganz verstört wurde. Er gab deshalb diesen Versuch schon am ersten Tage wieder auf und beschloß, nur sich selbst stets ihm vorzuhalten als stillschweigenden Widerspruch gegen die Halluzination, in der er befangen war oder in die er verfallen wollte. So blieb er denn am Fenster auf seinem Sitz, wo er las und schrieb und in scherzhafter Weise seine Bemerkungen über den freien Platz vor dem Hause machte.

Doktor Manette genoß, was man ihm zu essen und zu trinken reichte, und arbeitete an jenem ersten Tage fort, bis es so dunkel wurde, daß er nichts mehr sah arbeitete sogar eine halbe Stunde länger, als es Mr. Lorry möglich gewesen wäre, zum Lesen oder Schreiben noch etwas zu sehen. Nachdem er sein Werkzeug als für diesen Abend nutzlos beiseite gelegt hatte, stand Mr. Lorry auf und sagte zu ihm:

»Wollt Ihr nicht ausgehen?«

Er schaute in der alten Weise rechts und links vor sich auf den Boden, schaute in der alten Weise auf und wiederholte mit der alten tonlosen Stimme:

»Ausgehen?«

»Ja; mit mir einen Spaziergang machen. Warum nicht?«

Er versuchte nicht, auf diese Frage zu antworten, und sprach auch kein Wort weiter. Aber Mr. Lorry meinte, er sehe, daß der Doktor, während er mit dem Ellenbogen auf den Knien und den Kopf mit den Händen unterstützend im Dunkeln sich vorwärtsbeugte, in irgendeiner nebligen Weise die Frage an sich stelle: »Warum nicht?« Die Schlauheit des Geschäftsmannes erkannte darin einen Vorteil, und er beschloß, ihn festzuhalten.

Miß Proß und er teilten die Nacht in zwei Wachen und beobachteten ihn von Zeit zu Zeit aus dem anstoßenden Zimmer. Er schritt lange auf und ab, eh‘ er sich niederlegte, und als er es endlich tat, versank er bald in Schlaf. Am Morgen stand er zeitig wieder auf und begab sich schnurstracks nach seiner Bank, um wieder zu arbeiten.

An diesem zweiten Tage grüßte ihn Mr. Lorry heiter bei seinem Namen und redete mit ihm über Dinge, die ihm in der letzten Zeit gut bekannt gewesen waren, es erfolgte aber keine Antwort darauf, obschon man sah, daß er hörte, was man sagte, und daß er, wennschon in wirrer Weise, über das Gesprochene nachdachte. Dies ermutigte Mr. Lorry, Miß Proß des Tages öfters mit ihrer Arbeit ins Zimmer kommen zu lassen, bei welcher Gelegenheit sie von Lucie und ihrem dabei anwesenden Vater ruhig und ganz in der gewöhnlichen Weise sprachen, als ob alles wie sonst sei. Dies geschah ohne demonstrative Zugaben, weder lang noch oft genug, um ihm damit lästig zu werden, und Mr. Lorrys wohlwollendes Herz fühlte sich glücklich in der vermeintlichen Wahrnehmung, daß er öfter aufschaue und daß ihm gelegentlich die Disharmonie seiner Umgebung mit seinem Treiben aufzufallen schien.

Als es dunkel wurde, fragte ihn Mr. Lorry wieder wie früher:

»Lieber Doktor, wollt Ihr nicht ausgehen?«

Und wie früher wiederholte er:

»Ausgehen?«

»Ja; mit mir einen Spaziergang machen. Warum nicht?«

Diesmal tat Mr. Lorry, als gehe er nach verweigerter Antwort allein aus; er blieb eine Stunde fort und kehrte dann wieder zurück. In der Zwischenzeit hatte der Doktor den Sitz am Fenster eingenommen: er saß da und schaute auf die Platane hinunter. Wie aber Mr. Lorry wieder eintraf, schlich er nach seiner Bank zurück.

Die Zeit entschwand sehr langsam, und Mr. Lorrys Hoffnungen verdüsterten sich mehr und mehr. Das Herz wurde ihm mit jedem Tage schwerer. Der dritte kam und ging, der vierte, der fünfte. Fünf Tage, sechs Tage, sieben Tage, acht Tage, neun Tage.

Mit immer trüberen Hoffnungen und immer schwerer werdendem Heizen verbrachte Mr. Lorry diese angstvolle Zeit. Das Geheimnis blieb bewahrt, und die nichts ahnende Lucie war glücklich; aber es konnte ihm nicht entgehen, daß der Schuhmacher, dessen Hand anfangs außer Übung gewesen, eine schreckliche Geschicklichkeit gewann, und daß er nie so sehr sich auf seine Arbeit erpicht gezeigt, seine Finger sich nie so gewandt und hurtig erwiesen hatten als in dem Zwielicht des neunten Abends.

Zwölftes Kapitel. Der Mann von Zartgefühl.


Zwölftes Kapitel. Der Mann von Zartgefühl.

Nachdem Mr. Stryver mit sich über den hochherzigen Entschluß einig geworden war, des Doktors Tochter zu einer guten Partie zu verhelfen, nahm er sich vor, sie von ihrem Glück zu unterrichten, noch ehe er London verließ, um die lange Vakanz anzutreten. Einige geistige Debatten über den Punkt zeitigten in ihm die Ansicht, daß er ebensogut die Präliminarien als bereits abgetan betrachten könne; es lasse sich dann ganz nach Muße die Übereinkunft treffen, ob er ihr seine Hand eine oder zwei Wochen vor dem Michaelitermin oder in der kleinen Weihnachtsvakanz zwischen diesem und Sankt Hilari geben solle.

Was die starke Seite dieses Prozesses betraf, so bezweifelte er sie keinen Augenblick, sondern sah klar, welcher Wahrspruch erfolgen mußte. Der Jury vorgeführt mit seinen substantiellen weltlichen Gründen die einzigen Gründe, die er je der Beachtung würdig gehalten war es ein so einfacher Fall, daß sich kein schwacher Punkt darin finden ließ. Er trat selbst für den Kläger auf; seinem Anzeigenbeweise war so wenig anzuhaben, daß der Anwalt für die Verklagte sein Konzept wegwarf, und die Jury hielt es nicht einmal für der Mühe wert, auch nur beiseite zu treten und die Sache in Erwägung zu ziehen. Nachdem der Prozeß in solcher Weise durchgefochten war, stand in Stryver C. J. die Überzeugung fest, daß es keinen einfacheren Fall geben könne.

Demgemäß weihte Mr. Stryver die lange Vakanz mit einer förmlichen Einladung ein, Miß Manette nach den Anlagen von Vauxhall mitzunehmen; da dies abgelehnt wurde, so kam Ranclagh in Vorschlag, und als unerklärlicherweise auch daraus nichts wurde, fand er es für gebührend, sich in Soho zu präsentieren und dort seiner edlen Gesinnung Ausdruck zu geben.

Nach Soho also schulterte vom Temple aus Mr. Stryver seinen Weg, während auf der langen Vakanz noch die frische Blume ihrer Kindheit lag. Jedermann, der ihn schon auf der Dunstan-Seite von Templebar sah mit seinen nach Soho hinübergreifenden Projekten, mußte sich wundern über seine Sicherheit und die Stärke, denn die Knospen seiner Entwürfe kamen auf dem ganzen Wege in dem Beiseitestoßen aller schwächeren Leute zum Aufblühen.

Sein Weg führte ihn an Tellsons vorbei. Er hatte hier nicht nur Bankgelder liegen, sondern wußte auch, daß Mr. Lorry ein intimer Freund der Familie Manette war. Mr. Stryver nahm daraus Anlaß, in das Haus zu treten und Mr. Lorry zu eröffnen, welcher glänzende Horizont sich über Soho auftun solle. Er drückte die knarrende Tür auf, stolperte die zwei Treppen hinab, kam an den zwei alten Kassierern vorbei und schulterte sich in das moderige Hinterstübchen, wo Mr. Lorry vor großen Büchern mit Linien für Zahlen saß. Das Fenster hatte eiserne Gitter, als habe man es gleichfalls für Zahlen liniiert und als sei alles unter den Wolken nur eine Summe.

»Holla!« rief Mr. Stryver. »Wie geht’s Euch? Ich hoffe, Ihr seid wohl?«

Stryver hatte die großartige Eigentümlichkeit, daß er für jeden Platz oder Raum zu groß zu sein schien. Er war für Tellsons so viel zu groß, daß die alten Kontoristen in den fernen Ecken mit protestierenden Mienen aufschauten, als würden sie von ihm an die Wand gedrückt. Das Haus selbst, das in fernster Perspektive gravitätisch die Zeitung las, beugte sich mißvergnügt, als habe Stryvers Kopf sich in seiner verantwortlichen Weste gefangen.

Der höfliche Mr. Lorry versetzte in einem Musterton von Stimme, den er unter solchen Umständen männiglich angeraten haben würde:

»Wie befinden Sie sich, Mr. Stryver? Wie geht es Ihnen, Sir?«

Und sie drückten sich die Hände. Es lag in der Art des Händedrucks bei Tellsons etwas Eigentümliches, das sich an jedem Kontoristen einem Kunden gegenüber bemerklich machte, als wenn das Haus die Luft beherrsche. Mr. Lorry vollzog seinen Händedruck in einer selbstverleugnenden Weise wie ein Mann, der ihn für Tellson und Co. abgibt.

»Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Stryver?« fragte Mr. Lorry mit einer Geschäftsmiene.

»Nein, ich danke Ihnen. Mein Besuch ist privat und gilt Ihnen, Mr. Lorry. Ich bin gekommen, um ein Wörtchen mit Ihnen zu sprechen.«

»Ah, in der Tat!« sagte Mr. Lorry, sein Ohr senkend, während sein Auge nach dem Haus in der Perspektive hinschweifte.

»Ich bin im Begriff«, fuhr Mr. Stryver fort, indem er zutraulich seine Arme auf das Pult stützte (es schien nur zur Hälfte Raum für ihn zu haben, obschon es ein großes Doppelpult war), »ich bin im Begriff, Ihrer angenehmen kleinen Freundin, Miß Manette, einen Heiratsantrag zu machen, Mr. Lorry.«

»Ach herrje!« rief Mr. Lorry, sich das Kinn reibend und seinen Besuch zweifelhaft ansehend.

»Ach herrje, Sir?« wiederholte Stryver, zurücktretend. »Warum ach herrje? Wie muß ich Ihre Meinung verstehen, Mr. Lorry?«

»Meine Meinung?« antwortete der Geschäftsmann. »Sie ist natürlich nur freundschaftlich und anerkennungsvoll es macht Ihnen alle Ehre und kurz, meine Meinung ist ganz, wie Sie sie nur wünschen könnten. Aber in der Tat, Sie wissen, Mr. Stryver « Mr. Lorry hielt inne und schüttelte in ganz eigentümlicher Weise den Kopf, als müsse er gegen seinen Willen innerlich beifügen »Sie wissen, es spricht so allerlei gegen Sie.«

»Na«, sagte Stryver, indem er mit seiner streitsüchtigen Hand auf das Pult schlug, die Augen weiter aufsperrte und tief Atem holte, »wenn ich Sie verstehe, Mr. Lorry, so will ich mich hängen lassen.«

Mr. Lorry zupfte über den Ohren an seiner Stutzperücke, als könne er dadurch das Verständnis erleichtern, und nagte dann an der Fahne seiner Feder.

»Zum Teufel, Sir«, sagte Stryver, ihn mit großen Augen ansehend, »bin ich nicht eine annehmbare Partie?«

»O du meine Güte, ja. O ja. Sie sind annehmbar«, versetzte Mr. Lorry. »Wenn irgend jemand, so sind Sie annehmbar.«

»Lebe ich nicht in guten Verhältnissen?«

»Oh, wenn Sie das meinen, ja, Sie leben in guten Verhältnissen«, sagte Mr. Lorry.

»Und kann ich’s nicht immer weiter bringen?«

»Was dies betrifft«, entgegnete Mr. Lorry erfreut, ein weiteres Zugeständnis machen zu können, »Sie wissen, daß dies niemand in Zweifel zieht.«

»Nun denn, was auf Erden wollen Sie mit Ihrem Herrje sagen, Mr. Lorry?« fragte Stryver in merklicher Verblüfftheit.

»Ich ich Sind Sie im Begriff, eben jetzt zu ihr zu gehen?« erwiderte Mr. Lorry.

»Geradeswegs!« sagte Stryver mit einem Faustschlag auf das Pult.

»Das täte ich nicht, wenn ich an Ihrer Stelle wäre.«

»Warum nicht?« fragte Stryver. »Ich habe Sie in der Klemme«, fügte er bei, forensisch den Zeigefinger schüttelnd. »Sie sind ein Geschäftsmann und müssen als solcher Gründe anzugeben wissen. Nennen Sie mir Ihren Grund. Warum würden Sie nicht hingehen?«

»Weil ich einen solchen Schritt nicht tun möchte«, versetzte Mr. Lorry, »wenn ich nicht Anhaltspunkte für die Vermutung hätte, daß meine Werbung erfolgreich sein werde.«

»Hol‘ mich der Henker, das überbietet alles«, rief Stryver.

Mr. Lorry blickte zuerst nach dem fernen Haus hin und dann auf den beleidigten Stryver.

»Sitzt da ein Geschäftsmann ein Mann von Jahren ein Mann von Erfahrung sitzt in einer Bank«, sagte Stryver, »und nachdem ich ihm drei Hauptgründe für den besten Erfolg namhaft gemacht habe, fragt er nach den Anhaltspunkten dafür. Fragt danach und hat noch den Kopf zwischen den Schultern!«

Mr. Stryver betonte diese Eigentümlichkeit mit einem Nachdruck, als wäre die Frage unendlich weniger merkwürdig gewesen, wenn dem Frager der Kopf zu den Füßen gelegen hätte.

»Wenn ich von Erfolg spreche, so habe ich den Erfolg bei der jungen Dame im Auge, und wenn ich von Gründen und Anhaltspunkten rede, so meine ich damit solche, die auf die junge Dame Eindruck machen. Die junge Dame, mein guter Herr«, sagte Mr. Lorry, Stryver sanft auf den Arm klopfend, »die junge Dame. Die junge Dame geht vor allem.«

»Ihr wollt mir also zu verstehen geben, Mr. Lorry«, entgegnete Stryver, sich mit den Ellenbogen breit machend, »daß Sie von der fraglichen Dame die wohlerwogene Meinung hegen, sie sei eine zimperliche Närrin?«

»Das nicht gerade. Doch möchte ich Ihnen erklären, Mr. Stryver«, sagte Mr. Lorry errötend, »daß ich von niemand, wer es auch sei, ein achtungswidriges Wort über diese junge Dame anhören will. Und wenn mir ein Mann bekannt wäre ich hoffe, es ist nie der Fall von so roher Gesittung und so übermütigem Charakter, daß er sich nicht zu enthalten vermöchte, an diesem Pulte achtungswidrig von dieser jungen Dame zu sprechen, so sollte nicht einmal Tellsons mich hindern, ihm tüchtig meine Meinung zu sagen.«

Die Notwendigkeit, seinem Unmut nur in gedämpftem Ton Luft zu machen, hatte Mr. Stryvers Blutgefäße für den Fall wirklichen Zorns in einen gefährlichen Zustand versetzt; aber auch Mr. Lorrys Adern befanden sich, trotz ihrer sonstigen methodischen Blutströmung, nun die Reihe des Zürnens an ihm war, in nicht geringerer Aufregung.

»Das ist’s, was ich Ihnen bemerken wollte, Sir«, sagte Mr. Lorry. »Es ist mir lieb, wenn Sie mich verstanden haben.«

Mr. Stryver saugte eine Weile an dem Ende eines Lineals und zischte dann durch die Zähne eine Arie, die ihm wahrscheinlich Zahnweh machte. Endlich unterbrach er das peinliche Schweigen durch die Worte:

»Dies ist mir etwas Neues, Mr. Lorry. Sie raten mir also mit Bedacht, nicht nach Soho zu gehen und meine Hand anzubieten die Hand Stryvers, eines Advokaten vor dem Kingsbench?«

»Sie wünschen meinen Rat zu hören, Mr. Stryver?«

»Ja.«

»Sehr gut. Sie sollen ihn haben. Meine Meinung ist von Ihnen vollkommen richtig gedeutet worden.«

»Dann kann ich weiter nichts sagen«, entgegnete Stryver mit einem erkünstelten Lachen, »als daß dies alles überbietet ha, ha! die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.«

»Verstehen Sie mich wohl«, fuhr Mr. Lorry fort. »Als Geschäftsmann steht mir keine Befugnis zu, etwas über diese Angelegenheit zu sagen, denn als Geschäftsmann weiß ich nichts von ihr. Aber ich habe gesprochen als ein alter Mann, der Miß Manette auf seinen Armen getragen hat, und als ein treuer Freund des Hauses, der mit ganzer Seele an Miß Manette und ihrem Vater hängt. Sie werden sich erinnern, daß ich Ihr Vertrauen nicht gesucht habe. Meinen Sie nicht, daß ich recht haben könnte?«

»Gewiß nicht«, versetzte Stryver pfeifend. »Doch freilich, wer kann bei Dritten für gesunden Menschenverstand stehen? Nur selber ist der Mann. Ich vermute diesen gesunden Verstand in einer gewissen Region, Sie vermuten dort zimperlichen Butterbrotunsinn. ’s ist mir neu aber vielleicht haben Sie recht.«

»Was ich vermute, Mr. Stryver, habe ich auch zu prädizieren das Recht. Und verstehen Sie mich wohl, Sir«, fügte Mr. Lorry abermals errötend bei, »ich dulde nicht selbst hier bei Tellsons nicht , daß irgend jemand meine Worte nach seinem Sinn verdrehe.«

»Ah, ich bitte um Verzeihung«, sagte Stryver.

»Schon gut; ich danke Ihnen. Aber was ich noch bemerken wollte, Mr. Stryver es könnte Ihnen peinlich sein, wenn Sie finden müßten, daß Sie im Irrtum gewesen; ebenso peinlich dürfte Doktor Manette die Aufgabe fallen, gegen Sie rund heraus zu sprechen; und am allerpeinlichsten möchte wohl Miß Manette eine offene Erklärung werden. Sie wissen, daß ich so glücklich bin, mich der Ehre eines vertrauten Umgangs mit der Familie zu erfreuen. Wenn’s Ihnen genehm ist Sie sollen dabei gar nicht zur Sprache kommen und in keiner Weise kompromittiert werden, so will ich es auf mich nehmen, meinen Rat zu verbessern, indem ich in dieser Richtung einige Beobachtungen anstelle. Sollten Sie mit dem Ergebnis derselben nicht zufrieden sein, so steht es Ihnen immer frei, selbst zu untersuchen, ob ich richtig gesehen habe; sind Sie aber befriedigt mag es nun hinauslaufen, auf was es will , so bleibt beiden Partien erspart, was man sich gern ersparen möchte. Was sagen Sie dazu?«

»Wie lange müßte ich dann noch in London bleiben?«

»Oh, es handelt sich nur um einige Stunden. Ich kann heute abend nach Soho gehen und Sie dann in Ihrer Wohnung aufsuchen.«

»Dann sag‘ ich ja«, versetzte Stryver. »Jetzt möcht‘ ich doch nicht hin, denn wenn’s vielleicht so steht, so bin ich nicht mehr so erpicht auf die Sache. Ich sage ja und erwarte Sie heute abend. Guten Morgen.«

Dann wandte sich Mr. Stryver und stürmte durch die Bank hinaus, so daß die zwei alten Kontoristen sich mit aller Macht hinter ihren Ladentischen halten mußten, um von dem Luftstrom nicht umgeblasen zu werden. Das Publikum sah diese ehrwürdigen, schwächlichen Gestalten stets im Akt der Verbeugung, und man glaubte allgemein, wenn sie einen Kunden hinauskomplimentiert hätten, setzten sie in dem leeren Bureau ihre Bücklinge fort, um gleich für einen andern Ankömmling bereit zu sein.

Der Advokat war schlau genug, zu ahnen, daß der Bankier in Kundgebung seiner Ansicht nicht so weit gegangen wäre, wenn ihn nicht eine moralische Überzeugung dabei geleitet hätte. Obschon er nicht auf das Schlucken einer so großen Pille vorbereitet gewesen, würgte er sie dennoch hinunter. »Und nun«, sagte Mr. Stryver, als er sie endlich drunten hatte, indem er seinen forensischen Zeigefinger nach dem Temple im allgemeinen schüttelte, »werde ich mich am besten aus der Sache herauswinden, wenn ich euch alle auf den Holzweg setze.«

Das war ein Stückchen von der Kunst eines Old-Bailey-Taktikers, und er fand in diesem Gedanken eine große Erleichterung. »Du sollst mich nicht durch einen Korb blamieren, junges Frauenzimmer«, sagte Mr. Stryver. »Dafür will ich sorgen.«

Als daher Mr. Lorry spät abends gegen zehn Uhr bei Mr. Stryver einsprach, stak dieser in einer Menge von absichtlich umhergestreuten Büchern und Akten und schien den Gegenstand vom Morgen ganz vergessen zu haben. Er tat sogar erstaunt über Mr. Lorrys Besuch und benahm sich überhaupt zerstreut und wie ein Mann, der sich im Drange seiner Geschäfte kaum zu helfen weiß. »Nun«, sagte der gutmütige Sendling, nachdem er eine volle halbe Stunde vergeblich versucht hatte, dem verfänglichen Punkte beizukommen, »ich bin in Soho gewesen.«

»In Soho?« wiederholte Mr. Stryver kalt. »Ah, freilich an was denke ich doch!«

»Und es ist mir jetzt nicht mehr zweifelhaft«, fuhr Mr. Lorry fort, »daß ich in unserer kürzlichen Unterhaltung recht hatte. Meine Ansicht hat sich bestätigt, und ich wiederhole meinen Rat.«

»Ich versichere Ihnen«, versetzte Mr. Stryver in der freundlichsten Weise, »daß mir dies leid tut um Ihret- und um des armen Vaters willen. Ich weiß, dies muß immer ein peinlicher Gegenstand sein für die Familie; sprechen wir daher lieber nicht mehr davon.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Mr. Lorry.

»Kann mir’s denken«, entgegnete Mr. Stryver, indem er gleichsam in geschmeidiger Abfertigung den Kopf schüttelte: »doch es liegt nichts daran.«

»Ei ja, es liegt etwas daran«, drängte Mr. Lorry.

»Nein, ich versichere Ihnen, es liegt nichts daran. Wenn ich Verstand suchte, wo keiner ist, und einen löblichen Ehrgeiz voraussetzte, wo dieser fehlt, so war ich eben in einem Irrtum, über den ich mich jetzt erhaben fühle; das hat nichts geschadet. Junge Frauenzimmer haben schon oft ähnliche Torheiten begangen und sie später in Armut und Dunkelheit bereuen müssen. Von einem uneigennützigen Standpunkte aus tut es mir leid, daß die Sache zerfiel, weil sie für andere in weltlicher Beziehung eine Wohltat gewesen wäre; wenn ich sie aber in Beziehung auf mein Ich betrachte, so kann ich mich nur freuen, daß nichts aus ihr wurde, da ich in weltlicher Beziehung sehr schlecht dabei gefahren wäre; es ist kaum nötig, zu sagen, daß ich damit nichts gewinnen konnte. Doch es hat nichts geschadet. Ich habe dem jungen Frauenzimmer keinen Antrag gestellt, und unter uns, nach weiterer Erwägung glaube ich kaum, daß ich mich je soweit bloßgestellt hätte. Mr. Lorry, niemand vermag die zimperlichen Schwindeleien leerköpfiger Mädchen im Zaum zu halten; wer dies zu können vermeint, wird sich immer getäuscht finden. Doch ich bitte, nichts weiter davon. Ich sage Ihnen, um anderer willen tut es mir leid, aber für mich selbst bin ich froh darüber. Und ich bin Ihnen in der Tat sehr verbunden für Ihren Rat wie auch für Ihre Gefälligkeit, für mich auf den Busch zu klopfen. Sie kennen das junge Frauenzimmer besser als ich; Sie hatten recht es wäre nichts gewesen.«

Mr. Lorry war entsetzt und sah ganz dumm Mr. Stryver an, während dieser, als er ihn nach der Tür hinschulterte, einen wahren Regen von Großmut, Nachsicht und Wohlwollen auf sein irrendes Haupt niederschauern ließ.

»Nehmen Sie’s von der besten Seite, mein lieber Herr«, sagte Mr. Stryver. »Sprechen Sie nicht mehr davon, und ich danke Ihnen nochmal, daß Sie mir gestattet haben, Sie auszuholen. Gute Nacht!«

Mr. Lorry stand in der Nacht draußen, ohne zu wissen, wie es zugegangen war. Mr. Stryver lag rücklings auf seinem Sofa und blinzelte nach der Decke hin.

Dreizehntes Kapitel. Der Mann ohne Zartgefühl.


Dreizehntes Kapitel. Der Mann ohne Zartgefühl.

Wenn Sydney Carton je irgendwo leuchtete, so leuchtete er gewiß nie in dem Hause des Doktors Manette. Er war im Laufe eines vollen Jahres oft dort gewesen und hatte sich stets nur als denselben verdrossenen, mürrischen Bummler erwiesen. Wenn es ihm ums Reden zu tun war, so sprach er gut; aber das Licht seines Innern drang nur selten durch die Wolke der Trägheit, die ihn mit so verhängnisvollem Düster umschattete.

Und doch kümmerte er sich um die Straßen, die jenes Haus umgaben, und die stummen Steine ihres Pflasters. Manche Nacht war er unstet und unglücklich daran auf- und abgewandelt, wenn der Wein nicht als flüchtiger Erfreuer auf ihn gewirkt hatte; an manchem traurigen Frühmorgen sah man seine einsame Gestalt dort lungern und lungern, wenn die ersten Strahlen der Sonne die architektonische Schönheit der fernen Kirchtürme und Prachtbauten hervorhoben, wie vielleicht der stille Morgen ein Gefühl für bessere Dinge, die sonst vergessen und unerreichbar waren, in seinem Geiste wachrief. Letzter Zeit hatte das vernachlässigte Bett in dem Tempelhof ihn spärlicher als je gesehen, und oft war er, nachdem er sich nur für ein paar Minuten darauf hingeworfen, wieder aufgestanden, um jene Ecke zu umspuken.

An einem Tage im August – denn Mr. Stryver hatte, nachdem er seinen Schakal unterrichtet, daß er sich in der Heiratsangelegenheit eines Besseren besonnen habe, sein Zartgefühl nach Devonshire geführt, und der Anblick und der Wohlgeruch der Blumen in den Citystraßen boten einiges Gute selbst dem Schlimmsten, einige Gesundheit auch dem Kranken, und ein bißchen Jugend selbst dem Ältesten betraten Sydneys Füße wieder dasselbe Pflaster. Sie irrten anfangs unschlüssig umher, bis sie allmählich von einem Gedanken belebt wurden, und in der Ausarbeitung dieses Gedankens trugen sie ihn nach der Tür des Doktors hin.

Man wies ihn die Treppe hinauf, und er fand Lucie bei ihrer Arbeit allein. Es war ihr in seiner Nähe nie recht behaglich gewesen, und sie empfing ihn mit einiger Verlegenheit, als er neben ihrem Tisch Platz nahm. Wie sie jedoch bei dem Austausch der gewöhnlichen ersten Gemeinplätze ihm ins Gesicht sah, bemerkte sie eine Veränderung darin.

»Ich fürchte, Sie sind nicht wohl, Mr. Carton.«

»Nein. Aber das Leben, das ich führe, Miß Manette, ist der Gesundheit eben nicht förderlich. Was ist auch von oder bei solchen Wüstlingen zu erwarten?«

»Ist es nicht verzeihen Sie mir, aber die Frage liegt mir schon auf den Lippen ist es nicht schade, daß Sie nicht einen besseren Wandel führen?«

»Gott weiß, es ist eine Schmach.«

»Warum werden Sie nicht anders?«

Als sie teilnehmend nach ihm hinsah, wurde sie durch den Anblick von Tränen in seinem Auge wehmütig überrascht. Auch in seiner Stimme waren Tränen, während er antwortete:

»Es ist zu spät. Von einem Besserwerden ist keine Rede mehr. Aber schlechter wird’s werden, und ich werde noch tiefer sinken.«

Er stützte den Ellbogen auf den Tisch und bedeckte die Augen mit seiner Hand. Der Tisch zitterte in dem Schweigen, das nun folgte.

Sie hatte ihn nie in einer so weichen Stimmung gesehen und kam darüber sehr in Not. Er bemerkte dies, ohne daß er sie ansah, und sagte:

»Ich bitte, verzeihen Sie mir, Miß Manette. Ich breche zusammen unter dem Gewicht dessen, was ich Ihnen sagen möchte. Wollen Sie mich anhören?«

»Wenn es Sie erleichtert, ja. Wie sehr würde ich mich freuen, Mr. Carton, wenn ich Sie dadurch glücklicher machen könnte.«

»Gott segne Sie für Ihr zartes Mitleid.«

Nach einer kleinen Weile enthüllte er sein Gesicht und fuhr mit festerer Stimme fort:

»Scheuen Sie sich nicht, mich anzuhören, und schrecken Sie nicht zurück vor meinen Worten. Ich gleiche einem Menschen, der jung gestorben ist. Mein ganzes Leben kann als gewesen betrachtet weiden.«

»Nein, Mr. Carton. Ich bin überzeugt, daß der beste Teil davon noch vorhanden ist. Gewiß, Sie können Ihrer selbst noch viel, viel würdiger werden.«

»Sagten Sie Ihrer, Miß Manette und obschon ich das besser weiß, obschon ich das Geheimnis meines elenden Herzens besser kenne , so werde ich es Ihnen nie vergessen.«

Sie wurde blaß und zitterte. Er kam ihr zu Hilfe mit seiner starren Verzweiflung an sich selbst, die dem Gespräch einen von jedem anderen so verschiedenen Charakter verlieh.

»Wenn es möglich gewesen wäre, daß Sie die Liebe des Mannes hätten erwidern können, den Sie vor sich sehen eines armseligen, mißbrauchten, dem Trunk ergebenen Geschöpfs, wie Sie es vor sich sehen so würde er doch selbst am Tag und in der Stunde seines Glücks sich bewußt geblieben sein, daß er nur Elend, Leid und Reue über Sie bringen könnte daß er Sie entehren und mit sich in den Staub ziehen würde. Ich weiß wohl, daß Sie kein zarteres Gefühl für mich hegen können und verlange es auch nicht; ja, ich danke sogar Gott dafür, daß es nicht sein kann.«

»Kann ich nicht auch sonst zu Ihrer Rettung beitragen, Mr. Carton? Kann ich ich bitte nochmals um Verzeihung Sie nicht zurückrufen auf einen besseren Weg? Sollte es mir denn in keiner Weise möglich sein, Ihr Vertrauen zu vergelten? Ich weiß, es ist ein Vertrauen«, fügte sie nach einigem Stocken bescheiden und mit Tränen im Auge hinzu »ich weiß, Sie würden dies zu niemand anders sagen. Kann ich es nicht zu Ihrem eigenen Besten wenden, Mr. Carton?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Nein, Miß Manette, es ist nicht mehr möglich. Wenn Sie mir noch ein wenig weiter zuhören wollen, so ist alles geschehen, was Sie je für mich tun können. Ich wünsche, Sie mögen wissen, daß Sie der letzte Traum meiner Seele gewesen sind. Trotz meiner Herabwürdigung bin ich doch nicht so ganz verkommen gewesen, daß nicht Ihr und Ihres Vaters Anblick, desgleichen der Anblick einer Heimat, wie sie durch Sie geworden ist, alte Schatten, die ich längst vergangen geglaubt, wieder in mir wachgerufen hätte. Seit ich Sie kennenlernte, quälte mich eine Reue, die mir sonst als eine Unmöglichkeit erschienen wäre, und ich hörte in mir alte flüsternde Stimmen mich aufwärts drängen, die ich für auf immer verstummt hielt. Es kamen mir längst entschwundene Gedanken von neuem Streben, einem neuen Anfang von einem Abschütteln der Trägheit und Sinnlichkeit von einer Wiederaufnahme des aufgegebenen Kampfes. Ein Traum, alles ein Traum, der mit nichts endet und den Schläfer läßt, wo er sich niederlegte; aber ich möchte, daß Sie wissen, daß Sie ihn eingeflößt haben!«

»Ist nichts davon zurückgeblieben? O Mr. Carton, besinnen Sie sich! Versuchen Sie es noch einmal!«

»Nein, Miß Manette; ich habe dabei stets empfunden, welch ein unwürdiges Geschöpf ich bin. Und doch gab ich der Schwäche nach, und sie hat noch immer Macht über mich, zu wünschen, daß Sie erfahren möchten, mit welcher plötzlichen Gewalt Sie den Aschenhaufen, der ich bin, in helle Lohe umgewandelt haben freilich nur in ein Feuer, das seiner Wesenheit nach von der meinigen unzertrennlich war und nicht zünden, nicht leuchten, kurz, keinen Dienst leisten, sondern nur müßig brennen konnte.«

»Wenn es mein Mißgeschick wollte, Mr. Carton, daß ich Sie noch unglücklicher machen mußte, als Sie waren, ehe Sie mich kennenlernten «

»Sprechen Sie nicht so, Miß Manette, denn wenn es überhaupt noch möglich gewesen wäre, so würden Sie mich gerettet haben. Sie werden nie die Ursache sein, wenn es mit mir noch schlimmer geht.«

»Wenn Ihr Seelenzustand, wie Sie mir ihn schildern, doch einigermaßen einem Einfluß von meiner Seite zuzuschreiben ist, wäre dieser Einfluß ich weiß nicht, ob ich mich recht klar machen kann nicht dahin zu wenden, daß er Ihnen von Nutzen würde? Besitze ich gar keine Macht, die Ihnen nützen könnte?«

»Ich bin hergekommen, Miß Manette, um das Beste, dessen ich noch fähig bin, zu verwirklichen. Lassen Sie mich durch den Rest meines verfehlten Lebens die Erinnerung tragen, daß als letztes Aufflackern ich Ihnen mein Herz aufgeschlossen habe, und daß damals noch etwas in mir war, was Sie beklagen und bemitleiden konnten.«

»Ach, ich bitte Sie wieder und wieder aufs flehentlichste und aus dem Grund meiner Seele, glauben Sie mir, Sie sind noch besserer Dinge fähig.«

»Muten Sie mir keinen solchen Glauben zu. Miß Manette. Ich habe mich geprüft und weiß es besser. Doch ich betrübe Sie und will deshalb ein Ende machen. Darf ich, wenn ich mir diesen Tag wieder vergegenwärtige, die Überzeugung in mir tragen, das letzte Vertrauen meines Lebens ruhe nur in Ihrer reinen, unschuldigen Brust und werde nie von jemand geteilt werden?«

»Wenn Ihnen dies ein Trost ist, so nehmen Sie meine Versicherung.«

»Auch nicht von dem teuersten Wesen, das das Schicksal Ihnen zuführt?«

»Mr. Carton«, versetzte sie nach einer Pause voll Aufregung, »das Geheimnis betrifft Sie, nicht mich, und ich verspreche Ihnen, es zu achten.«

»Ich danke Ihnen. Noch einmal Gottes Segen über Sie.«

Er drückte ihre Hand an seine Lippen und ging nach der Tür.

»Sorgen Sie nicht, Miß Manette, daß ich je auch nur mit dem flüchtigsten Wort auf dieses Gespräch zurückkommen werde. Es soll nie wieder von mir berührt werden. Wenn ich tot wäre, so könnte es nicht sicherer bewahrt sein. Noch in meiner Sterbestunde soll mir die eine heilige Erinnerung vorschweben ich werde Sie dankbar dafür segnen , daß meine letzten Bekenntnisse über mich Ihnen gemacht wurden und daß mein Name, mein Elend und meine Verirrungen Ihnen zu Herzen gingen. Möge es sonst leicht und glücklich sein!«

Er war so ganz anders, als er sich bisher je gezeigt hatte, und der Gedanke, wieviel er verschleudert und wieviel er jeden Tag unterdrückt und verdorben hatte, erfüllte Lucie Manette mit solcher Wehmut, daß sie, als er dastand und nach ihr zurückschaute, helle Tränen vergoß.

»Trösten Sie sich«, sagte er; »ich bin eines solchen Gefühls nicht wert, Miß Manette. Noch eine Stunde oder zwei, und die gemeinen Kameradschaften und Angewöhnungen, an denen ich hänge, obschon ich sie verachte, werden bewirken, daß ich solche Tränen noch weniger verdiene als der nächste beste Elende, der sich über die Straße schleppt. Trösten Sie sich! Aber in meinem Innern werde ich gegen Sie stets sein, was ich jetzt bin, obschon mein Äußeres sich darstellen wird, wie Sie es bisher gesehen haben. Glauben Sie mir dies; außer dieser Bitte liegt mir nur noch eine am Herzen.«

»Ich will Ihnen glauben, Mr. Carton.«

»Also meine letzte. Habe ich diese noch vorgebracht, so will ich Sie von einem Gast befreien, mit dem Sie, wie ich wohl weiß, nichts gemein haben und der durch eine unüberspringbare Kluft von Ihnen getrennt ist. Ich weiß, es ist nutzlos, es zu sagen, aber es drängt sich mir aus der Seele hervor. Für Sie und jeden, der Ihnen teuer ist, könnte ich alles tun. Wäre meine Laufbahn von besserer Art, so daß sie mir Gelegenheiten böte, Opfer zu bringen, so wollte ich sie mit Freuden benützen, für Sie und Ihre Lieben. Versuchen Sie in ruhigen Stunden sich daran zu erinnern, daß dies mein heißer, aufrichtiger Ernst ist. Die Zeit wird kommen, vielleicht bald kommen, die Ihnen neue Bande bringt Bande, die Sie noch stärker und zärtlicher an die Heimat fesseln, der Sie zur Zierde gereichen die heiligsten Bande, die das Glück Ihres Lebens ausmachen. O Miß Manette, wenn das kleine Ebenbild von dem Angesicht eines glücklichen Vaters zu Ihnen aufblickt, wenn Sie Ihre eigene Schönheit in dem Sprößling zu Ihren Füßen neu aufblühen sehen, so denken Sie hin und wieder daran, daß es einen Menschen gibt, der bereitwillig sein Leben hingäbe, um ein Leben, das Sie liebt, an Ihrer Seite zu erhalten.«

Er sagte »Lebewohl!«, sagte »Ein letztes Gott behüt!« und verließ sie.

Zweites Kapitel. Der Postwagen.


Zweites Kapitel. Der Postwagen.

Es war die Doverstraße, die an einem Freitag des November spät abends vor der ersten der Personen lag, mit denen unsere Erzählung zu schaffen hat, und auf derselben Straße wackelte auch die Postkutsche von Dover Shooter’s Hill hinan. Die Person stampfte gleich den übrigen Personen neben dem Wagen im Schlamm bergan – nicht weil den Umständen nach ein Spaziergang besonderes Vergnügen gewährte, sondern weil die Steigung so jäh, das Pferdegeschirr so lästig, der Schmutz so tief und die Kutsche so schwer war, daß die Rosse schon dreimal hatten halten müssen und außerdem einmal sogar die meuterische Absicht verraten hatten, mit Sack und Pack wieder nach Blackheath umzukehren. Doch kannten Zügel und Peitsche, Postknecht und Schaffner gemeinsam jenen Kriegsartikel, der die Annahme verbot, daß es mit Verstand begabte Tiere gäbe; und obgleich dieser Satz eher eine schonende Behandlung begründen sollte, hatte man doch durch die gegenwärtige erzielt, daß das Gespann kapitulierte und zu seiner Pflicht zurückkehrte.

Mit gesenkten Köpfen und zitternden Schweifen arbeiteten sich die Pferde durch den tiefen Straßenschlamm, indem sie zwischenhinein zappelten und strauchelten, als wolle bei ihnen alles aus den Gelenken gehen. Sooft der Kutscher sie mit einem behutsamen »Oha!« haltmachen ließ, schüttelte das nächste Handpferd ungestüm den Kopf und das dahinter befindliche Geschirr, gleichsam um mit ungewöhnlicher Emphase anzudeuten, daß die Kutsche da nicht hinaufzubringen sei. Und wenn das Roß in solcher Weise rasselte, fuhr der Passagier, wie ängstliche Reisende zu tun pflegen, zusammen und zeigte eine traurige Miene.

Auf allen Taleinschnitten lag ein qualmender Nebel, der sich in seiner Trübseligkeit bergan wälzte wie ein böser Geist, der Ruhe sucht, ohne sie finden zu können. Er war feucht und ungemein kalt und bewegte sich in langsam aufeinanderfolgenden kleinen Wellenzügen, denen eines faulen Seestriches nicht unähnlich, durch die Luft. Sein Gewölk ließ das Licht der Kutschenlaternen nur auf ein paar Schritte unterscheiden, und der Dampf der sich abmühenden Pferde ging darin auf, so daß man meinen konnte, die abgehetzten Tiere seien die Quelle des ganzen Nebelmeeres.

Außer den gedachten Reisenden schritten noch zwei andere neben der Kutsche her. Alle drei waren bis über die Ohren verhüllt und trugen Stulpenstiefel. Keiner davon hätte nach dem Augenschein sich ein Urteil über das Aussehen des andern bilden können, und jeder war gegen die Geistesaugen seiner beiden Mitpassagiere ebenso verhüllt wie gegen ihre leiblichen. In jenen Tagen hütete man sich wohl vor allzu schneller Vertraulichkeit, da jeder, dem man auf der Straße begegnete, ein Räuber oder der Verbündete von Räubern sein konnte. Mit Charakteren der letzteren Gattung traf man besonders leicht zusammen, denn jedes Posthaus, jede Schenke konnte jemanden aufweisen, der im Solde des »Kapitäns« stand, mochte es nun der Wirt selbst oder irgendein unscheinbarer Stallbediensteter sein. So dachte auch der Lenker der Doverpost an jenem Freitagabend des Novembers Siebzehnhundertfünfundsiebzig, während er, Shooters Hill hinanholpernd, in seinem Kasten hinten auf dem Wagen stand, sich die Füße klopfte und weder Auge noch Hand von der Truhe vor ihm verwandte, in der auf einem Unterbau von Stutzsäbeln ein geladener Musketon und sechs oder acht geladene Reiterpistolen lagen.

Die Doverpost befand sich wie gewöhnlich in der angenehmen Lage, daß der Wagenführer die Reisenden und jeder Reisende seine Mitpassagiere und den Wagenführer, kurz, einer den andern beargwöhnte und der Postillion sich auf niemand als auf seine Pferde verlassen mochte, obschon auch er, sofern das liebe Vieh in Frage kam, es mit gutem Gewissen auf beide Testamente hätte beschwören können, daß es nicht für eine solche Reise paßte.

»Oha!« rief der Postillion. »So recht. Jetzt nur noch einen Zug, und ihr seid droben. Hol‘ euch der Teufel dafür, denn ich habe Not genug gehabt, euch hinaufzubringen. – Joe!« »Holla!« entgegnete der Wagenführer. »Wieviel Uhr schätzt Ihr, Joe?« »Gut zehn Minuten über elf.« »Oh, Mord und Tod«, rief der Postknecht ärgerlich, »und noch nicht einmal auf dem Shooter. Zu – hü! Vorwärts mit euch!«

Das emphatische Pferd, das in einem Akt der entschlossensten Verneinung von der Peitsche erreicht worden war, fing wieder kräftig an zu klettern, und die drei andern Rosse folgten seinem Beispiel. Noch einmal arbeitete sich die Doverpost vorwärts, und die Stulpstiefel der Reisenden klatschten nebenher. Sie hatten mit dem Wagen haltgemacht und demselben treulich Gesellschaft geleistet. Wäre einem von den dreien der vermessene Gedanke gekommen, den andern den Vorschlag zu machen, sie wollten in Dunkel und Nebel ein wenig vorausgehen, so hätte er sich damit sicher der Gefahr ausgesetzt, auf der Stelle als Straßenräuber niedergeschossen zu werden.

Der letzte Anlauf brachte den Postwagen auf die Höhe des Berges. Die Pferde hielten wieder an, um sich zu verschnaufen, und der Wagenlenker stieg ab, um für die kommende Bergsenkung den Radschuh einzulegen und den Passagieren den Kutschenschlag zu öffnen.

»Pst, Joe!« sagte der Postillion in warnendem Ton, indem er von seinem Bock niederschaute.

»Was wißt Ihr, Tom?«

Beide lauschten.

»Ich höre ein Pferd uns nachtraben, Joe.«

»Und ich sag‘, es galoppiert, Tom«, versetzte der Wagenlenker, indem er seinen Schlag losließ und hurtig nach seinem Platz hinaufkletterte. »Meine Herren, in des Königs Namen, geschwind eingestiegen!«

Der für unsere Geschichte vorgemerkte Passagier stand eben auf dem Kutschentritt und wollte hinein; die beiden andern hielten sich dicht hinter ihm und waren im Begriff, ihm zu folgen. Der erstere blieb halb in, halb außer der Kutsche auf seinem Tritt, das andere Paar drunten auf der Straße. Sie alle blickten lauschenden Ohrs von dem Postillion auf den Wagenführer und von dem Wagenführer auf den Postillion. Beide gaben ihnen die Blicke zurück, und selbst das emphatische Pferd spitzte die Ohren und schaute rückwärts, ohne einen Widerspruch zu erheben.

Die Stille, die auf das Aufhören des Rädergerassels und Rossegestampfs folgte, machte das Schweigen der Nacht nur um so eindrucksvoller. Das Schnauben der Pferde teilte der Kutsche eine zitternde Bewegung mit, als befände sie sich in einem Zustand von Aufregung. Die Herzen der Passagiere klopften vielleicht hörbar laut. Jedenfalls erzählte die stille Pause sehr verständlich von Leuten, die außer Atem waren, aber gleichwohl keine Luft einzuziehen wagten und unter beschleunigtem Herzschlagen dessen harrten, was da kommen sollte.

Man hörte, daß ein Pferd in wütendem Galopp den Berg hinaufjagte.

»Oho!« brüllte der Wagenlenker, so laut er konnte, in die Nacht hinaus. »Ihr dort – halt! – oder ich gebe Feuer!«

Der Hufschlag hielt plötzlich inne, und mit Not kämpfte sich die Stimme eines Mannes durch den Nebel: Ist das die Dover-Post?«

»Was kümmert’s Euch, wer wir sind?« entgegnete der Wagenlenker. »Wer seid Ihr

»Ich frage, ob dies die Dover-Post ist.«

»Wozu braucht Ihr dies zu wissen?«

»Ich will zu einem ihrer Passagiere.«

»Wie heißt der Passagier?«

»Mr. Jarvis Lorry.«

Der Reisende auf dem Tritt ließ sogleich merken, daß dies sein Name sei. Der Wagenlenker, der Postillion und die beiden andern Passagiere betrachteten ihn mißtrauisch.

»Bleibt, wo Ihr seid«, rief der Wagenlenker der Stimme im Nebel zu, »denn wenn mir aus Versehen etwas passiert, so könnt‘ ich’s Eurer Lebtage nicht wieder gutmachen. Der Gentleman namens Lorry soll unumwunden antworten.«

»Was gibt’s!« fragte darauf der Passagier mit leiser, unsicherer Stimme. »Wer will etwas von mir? Ist es Jerry?«

»Die Stimme dieses Jerry gefällt mir gar nicht, wenn er wirklich so heißt«, brummte der Wagenlenker vor sich hin. »Der Jerry ist heiserer, als mir lieb ist.«

»Ja, Mr. Lorry.«

»Was gibt’s?«

»Man hat mich Euch mit einer Depesche nachgeschickt. Von T. und Co.«

»Ich kenne diesen Boten, Schaffner«, sagte Lorry, wieder auf die Straße hinaustretend, wobei ihm die beiden andern Passagiere, die nicht geschwind genug in die Kutsche kommen, den Schlag schließen und das Fenster aufziehen konnten, von hinten her hurtiger, als sich eben mit der Höflichkeit vertrug, Beihülfe leisteten. »Laßt ihn herankommen: es ist nichts Unrechtes.«

»Ich will’s hoffen, bin aber noch nicht so fest überzeugt davon«, sprach der Wagenlenker rauh vor sich hin. »He, Ihr!«

»Nun, was soll’s?« entgegnete Jerry, noch heiserer als zuvor.

»Reitet im Schritt heran – habt Ihr mich verstanden? Und wenn Ihr an Eurem Sattel Halfter habt, so kommt mir ihnen mit der Hand nicht zu nahe; denn ich habe verteufelt hurtig etwas versehen, und wenn es geschieht, so nimmt es die Form des Bleis an. So, jetzt laßt mich Euch mustern.«

Die Gestalt des Reiters kam langsam durch den wirbelnden Nebel gegen die Seite des Postwagens her, wo der Reisende stand. Dann machte der Fremde halt, blickte zu dem Schaffner auf und händigte dem Passagier ein Brieflein ein. Das Roß des Boten schnaubte mächtig, und Mann und Tier waren vom Huf bis zur Hutspitze mit Schmutz bespritzt.

»Schaffner«, sagte der Passagier im Tone ruhiger Geschäftszuversicht.

Der wachsame Schaffner, der die Rechte am Schaft, die Linke am Lauf seines Musketons hatte und kein Auge von dem Reiter verwandte, antwortete kurz:

»Sir!«

»Es ist nichts zu befürchten. Ich gehöre zu Tellsons Bank. Ihr müßt Tellsons Bank in London kennen. Ich reise in Geschäftsangelegenheiten nach Paris. Hier ein Krone Trinkgeld. Darf ich dies lesen?«

»So macht nur rasch, Sir.«

Er trat an die auf seiner Seite brennende Kutschenlaterne, öffnete das Schreiben und las – zuerst für sich, dann laut:

»›Wartet in Dover auf Mamsell.‹ Ihr seht, dies ist nicht lang, Schaffner. Jerry, sagt, meine Antwort darauf sei: Ins Leben zurückgerufen.«

Jerry richtete sich in seinem Sattel auf. »Das ist eine verwettert kuriose Antwort«, sagte er in seinem heisersten Tone.

»Richtet das aus, und man wird daraus ersehen, daß ich den Brief erhalten habe, ohne daß ich Euch eine schriftliche Antwort mitgebe. Jetzt macht, daß Ihr wieder zurückkommt. Gute Nacht.«

Mit diesen Worten öffnete der Passagier den Wagenschlag und stieg ein. Diesmal halfen ihm seine Reisegefährten nicht, sondern taten, als ob sie schliefen, nachdem sie zuvor mit aller Behendigkeit Uhren und Börsen in ihren Stiefeln verborgen hatten. Ihr angeblicher Schlummer sollte sie wohl nur vor der Gefahr bewahren, zu einer andern Art von Tätlichkeit Anlaß zu geben.

Die Kutsche holperte wieder weiter, und da es jetzt bergab ging, wurde der Nebel immer dichter. Der Wagenführer legte den Musketon wieder in die Truhe, musterte ihren übrigen Inhalt, sah nach den Pistolen, die er noch als Zugabe in seinem Gürtel stecken hatte, und visitierte dann einen kleineren Behälter unter seinem Sitz, in dem sich einige Schmiedegeräte, ein paar Fackeln und eine Zunderbüchse befanden. Er war nämlich mit solcher Sorgfalt ausgestattet worden, um für den hin und wieder vorkommenden Fall, daß die Kutschenlichter vom Sturm ausgeblasen würden, sich einschließen und unter Vermittlung von Stahl und Stein mit leidlicher Sicherheit und Gemächlichkeit, wenn’s gut ging, binnen fünf Minuten ein Licht zustande bringen zu können.

»Tom!« flüsterte es über das Kutschendach herunter.

»He, Joe?«

»Habt Ihr gehört, was da ausgerichtet werden soll?«

»Ja, Joe.«

»Was denkt Ihr Euch dabei, Tom?«

»Nichts, Joe.«

»Wie das so seltsam zusammentrifft«, sagte der Schaffner vor sich hin. »Mir geht es gerade ebenso.«

Sobald Jerry sich in Nacht und Nebel allein sah, stieg er ab, nicht nur, um es seinem Pferd leichter zu machen, sondern auch um sich den Staub aus dem Gesicht zu wischen und aus seinem Hutstulp die angesammelte große Wassermenge zu schütteln. So stand er, die Zügel seines Tieres über den schwer besudelten Ärmel geschlungen, da, bis er von dem weiterrollenden Postwagen nichts mehr hörte und die Nacht wieder mäuschenstill geworden war. Dann wandte er sich, um zu Fuß bergab zu gehen.

»Nach dem Galopp von Temple Bar her mag ich mich deinen vier Beinen nicht mehr anvertrauen, alte Mähre, bis ich dich wieder in der Ebene habe«, sagte der heisere Bote, sein Tier betrachtend. »»Ins Leben zurückgerufen«. Das ist eine verteufelt kuriose Botschaft, und du könntest dich nicht auf viele dergleichen einlassen, Jerry. Laß dir sagen, Jerry, du kämest in eine verzweifelt schlechte Karriere, wenn das Ins-Leben-Zurückrufen zur Mode würde.«

Zehntes Kapitel. Zwei Zusagen.


Zehntes Kapitel. Zwei Zusagen.

Noch mehr Monate waren zu der Zahl zwölf gekommen und verronnen, und Mr. Charles Darnay wirkte in England als ein höherer Lehrer der französischen Sprache und Literatur. In unsern Tagen würde man ihn Professor genannt haben: damals aber war er eben Privatlehrer. Er hielt Jünglingen, die Zeit und Interesse für das Studium einer lebendigen Sprache hatten, die durch die ganze Welt gesprochen wurde, Vorlesungen und brachte ihnen Geschmack bei für die wissenschaftlichen und poetischen Werke der Franzosen; auch konnte er in gutem Englisch darüber schreiben und sie gut ins Englische übersetzen. Solche Lehrer waren in jener Zeit nicht häufig; denn gewesene Prinzen und künftige Könige hatten sich noch nicht dem Lehrfach zugewendet, wie denn auch noch kein zugrundegerichteter Adel aus Tellsons Büchern gestrichen wurde, nachdem seine Mitglieder Köche oder Zimmerleute geworden waren. Der junge Mr. Darnay wurde bald als Lehrer, der seinen Schülern den Lehrstoff gut und angenehm beizubringen verstand, und als Übersetzer, der nicht bloß mit einer Wörterbuchsprachkenntnis arbeitete, bekannt und unterstützt. Er war außerdem ein gründlicher Kenner der Verhältnisse seines Vaterlandes, die immer interessanter wurden, und so gelang es ihm denn, sich durch seine Beharrlichkeit und seinen unermüdlichen Fleiß ein gutes Auskommen zu verschaffen.

Er hatte von London nicht erwartet, daß er auf einem Pflaster von Gold wandeln oder in einem Rosenbett ruhen dürfe, denn mit solchen hochfliegenden Erwartungen würde er es nie vorwärts gebracht haben. Er war auf Arbeit gefaßt gewesen, die er fand und aufs beste ausnützte. Hierin bestand sein Auskommen.

Einen gewissen Teil seiner Zeit verbrachte er in Cambridge, wo er den Studenten Vorlesungen hielt, als eine Art geduldeter Schmuggler, der einen Schleichhandel trieb mit europäischen Sprachen, statt durch das Zollhaus Griechisch und Lateinisch einzuführen; seine übrige Zeit verlebte er in London.

Nun ist von den Tagen an, als es immer Sommer in Eden war, bis zu denen, in denen es in den tieferen Breiten fast immer wintert, die Welt des Mannes unabänderlich denselben Weg gegangen, den auch Charles Darnay ging dem Weibe nach.

Er hatte Lucie Manette geliebt von der Stunde seiner Gefahr an. Nie war ihm ein Ton so süß und so lieb vorgekommen wie der Ton ihrer mitleidvollen Stimme; nie hatte er ein so zartes, schönes Gesicht gesehen wie das ihrige, als sie ihm gegenüberstand an dem Grabe, das für ihn bereits offen dalag. Doch war von ihm der Gegenstand noch nie berührt worden. Der Mord in dem verlassenen Schlosse weit weg jenseits der wogenden Wellen und der langen, staubigen Straßen in dem steinernen Schloß, das selbst zu einem bloßen nebligen Traum geworden hatte vor einem Jahr stattgefunden, er aber seitdem nie, auch nicht durch eine Silbe, ihr den Zustand seines Herzens geoffenbart.

Daß er sich nicht ohne gute Gründe dessen enthielt, wußte er. Es war wieder ein Sommertag, als er, von seiner Kollegiumsbeschäftigung spät in London angelangt, um die ruhige Ecke in Soho einbog mit der Absicht, eine Gelegenheit herbeizuführen, um Doktor Manette sein Inneres zu erschließen. Es war abends um die Zeit, von der er wußte, daß sich Lucie mit Miß Proß außer dem Hause befand.

Der Doktor saß eben lesend in seinem Armstuhl am Fenster. Er war allmählich wieder in den Besitz der Tatkraft gelangt, die ihn unter seinen früheren Leiden aufrechterhalten, aber auch diese um so schmerzlicher für ihn gemacht hatte. Man konnte ihn jetzt einen sehr tatkräftigen Mann mit ehernem Willen und fester Ausdauer nennen. In seiner wiedergewonnenen Energie zeigte sich indes bisweilen etwas Unstetes, Raschaufzuckendes, wie sich dies im Anfange auch bei seinen andern wiedererwachenden Fähigkeiten kundgetan hatte; allerdings bemerkte man es nie oft, und in letzter Zeit war es immer seltener und seltener geworden.

Er studierte viel, schlief wenig, konnte große Anstrengung mit Leichtigkeit ertragen und war dabei heiter und zufrieden. Als Charles Darnay bei ihm eintrat, legte er sein Buch beiseite und bot ihm die Hand.

»Charles Darnay! Ich freue mich, Sie zu sehen. Wir haben Sie schon vor drei oder vier Tagen zurückerwartet. Mr. Stryver und Sydney Carton waren gestern hier, und beide erklärten, Sie übertreiben die Pünktlichkeit.«

»Ich bin ihnen sehr verbunden für ihr Interesse an der Sache«, versetzte er mit einiger Kälte für die Angezogenen, aber dafür mit desto mehr Wärme gegen den Doktor. »Miß Manette «

»Ist wohl«, sagte der Doktor, ihm ins Wort fallend, »und Ihre Rückkehr wird uns allen Freude machen. Sie ist in Haushaltungsangelegenheiten ausgegangen, wird aber bald wieder hier sein.«

»Doktor Manette, ich weiß, daß sie abwesend ist, und wollte diese Gelegenheit benutzen, mit Ihnen zu sprechen.«

Es folgte ein Schweigen der Verlegenheit.

»Ja?« »ersetzte endlich der Doktor mit sichtlichem Zwange. »So bringen Sie Ihren Stuhl her und reden Sie.«

Mr. Darnay willfahrte in Beziehung auf den Stuhl, schien aber das Reden weniger leicht zu finden.

»Ich habe seit anderthalb Jahren das Glück gehabt, Doktor Manette«, begann er zuletzt, »hier so vertraut angesehen zu werden, daß ich hoffe, der Gegenstand, der mir auf dem Herzen liegt, werde «

Er schwieg, denn der Doktor streckte seine Hand aus, um ihm Einhalt zu tun. Nachdem dieser eine Weile in seiner Gebärde verharrt und dann die Hand wieder zurückgezogen hatte, fragte er:

»Ist Lucie der Gegenstand?«

»Ja.«

»Es kommt mir zu jeder Zeit schwer an, über sie zu sprechen: besonders schmerzlich aber wird mir’s, wenn ich von ihr reden hören soll in dem Tone, dessen Sie sich eben bedienten, Charles Darnay.«

»Es ist der Ton heißer Verehrung, treuer Huldigung und wahrer Liebe, Doktor Manette«, versetzte der andere ehrerbietig.

Abermals eine Pause der Verlegenheit, ehe der Doktor erwiderte:

»Ich glaube es. Ich lasse Ihnen Gerechtigkeit widerfahren, ich glaube es.«

Sein Zwang war so augenfällig, und man sah so klar, wie er aus der Abgeneigtheit, diesen Gegenstand zu berühren, hervorging, daß Charles Darnay zögerte.

»Soll ich fortfahren, Sir?«

Abermalige Pause.

»Ja; fahren Sie fort.«

»Sie werden sich wohl denken, was ich sagen will, obgleich Sie nicht wissen können, mit welchem Ernst ich es sage, und wie tief ich es fühle, wenn Sie nicht mein innerstes Herz und die Hoffnungen und Befürchtungen kennen, mit denen es sich schon so lange trägt. Mein teurer Doktor Manette, ich liebe Ihre Tochter warm, innig, uneigennützig und hingebend. Wenn es je Liebe in der Welt gab, so liebe ich sie. Sie haben selbst geliebt; lassen Sie Ihre alte Liebe für mich das Wort nehmen.«

Der Doktor saß mit abgewendetem Gesicht da und hielt die Augen auf den Boden geheftet. Bei den letzten Worten streckte er hastig seine Hand wieder aus und rief:

»Nicht so, Herr; lassen Sie das. Ich beschwöre Sie, rufen Sie mir nicht dies in Erinnerung.«

Sein Ausruf trug so unverkennbar den Charakter eines wahren Schmerzes, daß er Charles Darnay noch lange nachher in den Ohren klang. Er bewegte die ausgestreckte Hand und schien damit Darnay anzuflehen, daß er innehalten möchte. Wenigstens deutete sich letzterer die Sache so und blieb still.

»Ich bitte Sie um Verzeihung«, sagte der Doktor nach einer Weile in gedämpftem Ton. »Ich zweifle nicht daran, daß Sie Lucie lieben. Dies mag Sie zufriedenstellen.«

Er drehte sich auf seinem Sitz gegen ihn hin, ohne ihn jedoch anzusehen oder die Augen aufzuschlagen. Sein Kinn ruhte auf der unterstützenden Hand, und das weiße Haar überschattete sein Gesicht.

»Haben Sie mit Lucie gesprochen?«

»Nein.«

»Ihr geschrieben?«

»Nie.«

»Es wäre unedel, wenn ich mir den Anschein geben wollte, als fühle ich nicht, daß Ihre Selbstverleugnung in den Rücksichten für ihren Vater begründet ist. Der Vater dankt Ihnen.«

Er bot seine Hand an, aber seine Augen folgten ihr nicht.

»Ich weiß « sagte Darnan achtungsvoll »wie sollte es mir, der ich euch Tag für Tag zusammen gesehen habe, Doktor Manette, entgangen sein, daß zwischen Ihnen und Miß Manette eine so ungewöhnliche, so rührende und ganz den Umstanden angemessene Zuneigung besteht, wie man sie selbst in der Zärtlichkeit zwischen einem Vater und einem Kinde nur selten findet. Ich weiß, Doktor Manette wie sollte ich es nicht wissen , daß ihr Herz Ihnen die volle Innigkeit und das Vertrauen des Kindes, gemischt mit der Liebe und dem Pflichtgefühl der zur Jungfrau herangewachsenen Tochter, bewahrt hat. Ich weiß, daß sie jetzt, nachdem ihre Kindheit des Vaters beraubt war, sich Ihnen widmet mit der warmen Glut und Beständigkeit ihres reiferen Alters und Charakters, vereint mit der Zutraulichkeit und Liebe jener früheren Zeit, in der sie den Vater missen mußte. Ich weiß vollkommen wohl, daß Sie, wenn Sie aus einer andern Welt zu ihr zurückgekehrt wären, in ihren Augen keine heiligere Glorie hätten tragen können, als die ist, in welcher sie Sie stets erblickt. Ich weiß, daß, wenn sie sich an Sie anklammert, die Arme des Kindes, der Jungfrau und des Weibes zugleich Ihren Nacken umfangen halten. Ich weiß, daß in ihrer Liebe zu Ihnen sie ihre Mutter sieht und liebt, wie diese in ihrem Alter war daß sie Sie sieht und liebt als einen Mann in meinem Alter daß sie die Mutter mit ihrem gebrochenen Herzen liebt und Ihnen liebend folgt durch Ihre schrecklichen Prüfungen bis zu Ihrer glücklichen Erlösung. Ich habe all dies in meinem Innern geschaut Tag und Nacht, seit ich Sie in Ihrem Heimwesen kennenlernte.«

Ihr Vater saß stumm da, das Antlitz niedergebeugt. Sein Atem ging ein wenig schneller, aber er unterdrückte alle weiteren Zeichen der Aufregung.

»Mein teurer Doktor Manette, ich wußte dies immer, sah Sie beide stets in diesem geheiligten Lichte und habe deshalb an mich gehalten an mich gehalten, solange die Mannesnatur es vermochte. Ich fühlte, und fühle es auch jetzt, daß ein Einmengen meiner Liebe – der meinigen sogar –als eine Berührung Ihrer Liebe mit etwas Unheiligerem erscheint. Aber ich liebe sie. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich sie liebe.«

»Ich glaube es«, entgegnete ihr Vater traurig. »Es ist mir schon früher so vorgekommen. Ich glaube es.«

»Aber glauben Sie ja nicht«, sagte Darnay, an dessen Ohr der wehmütige Ton der Stimme wie ein Vorwurf schlug, »daß mir ernst sein könnte mit dem, was ich jetzt sage, wenn in dem für mich überglücklichen Fall, daß sie mein Weib werden wollte, nur entfernt an eine Trennung zwischen Ihnen gedacht werden müßte. Abgesehen davon, daß ich weiß, wie wenig Hoffnung mir dann bliebe, müßte es mir auch in dem Lichte einer Schändlichkeit erscheinen. Wenn der Gedanke an eine solche Möglichkeit, selbst für noch so ferne Zeit, je in dem verborgensten Winkel meines Herzens geweilt hätte oder darin überhaupt Eingang zu finden vermöchte, so könnte ich nicht jetzt diese geehrte Hand berühren.«

Und er legte bei diesen Worten die seinige auf die des Doktors.

»Nein, mein teurer Doktor Manette. Wie Sie ein freiwilliger Verbannter aus Frankreich; wie Sie aus der Heimat vertrieben durch ihre Zerrüttung, ihre Bedrückung und ihr Elend; wie Sie meinen Unterhalt und eine glücklichere Zukunft von der eigenen Anstrengung erwartend, sehne ich mich nur danach, Ihrem Glücksstern zu folgen, Leben und Herd mit Ihnen zu teilen und Ihnen treu zu sein bis in den Tod. Ich will Lucien von ihrem Vorrecht, Ihr Kind, Ihre Gefährtin und Freundin zu sein, nichts entziehen: aber zu Hilfe kommen möchte ich ihr dabei und sie noch inniger an Sie heften, wenn dies anders möglich ist.«

Seine Hand ruhte noch immer auf der ihres Vaters. Nachdem letzterer für einen Augenblick, aber nicht kalt, die Berührung erwidert hatte, stützte er die Hände auf die Stuhllehne und blickte zum erstenmal seit dem Beginn der Besprechung auf. In seinem Gesicht zeigte sich ein Kampf ein Kampf, begleitet von jenem gelegentlichen Ausdruck, der so leicht in düsteren Zweifel und Furcht überging.

»Sie sprechen so gefühlvoll und männlich, Charles Darnay, daß ich Ihnen aus voller Seele danke und auch Ihnen mein ganzes Herz oder doch fast mein ganzes Herz aufschließen will. Haben Sie Grund zu glauben, daß Lucie Sie liebt?«

»Nein. Bis jetzt nicht.«

»Ist es der unmittelbare Zweck dieses Vertrauens, darüber mit meinem Vorwissen Gewißheit zu erhalten?«

»Nicht gerade. Ich erwarte dies vor Wochen noch nicht zu erfahren, obschon ich meine Hoffnungsfülle, sei sie nun eine begründete oder nicht, mir bewahren möchte.«

»Verlangen Sie Unterstützung von mir?«

»Nein, Sir, obschon ich es für möglich gehalten habe, es dürfte in Ihrer Macht liegen, mich zu leiten, wenn es Ihnen passend erscheinen sollte.«

»So erwarten Sie wohl eine Zusage?« »Ja.«

»Des Inhalts?«

»Ich begreife wohl, daß ich ohne Sie keine Hoffnung haben kann. Auch ist mir klar, daß ich in Miß Manettes unschuldigem Herzen, selbst wenn sie mein Bild darin trüge, obschon ich nicht so anmaßend bin, dies zu vermuten, keinen Platz zu behaupten vermöchte im Widerspruch mit ihrer Liebe zu ihrem Vater.«

»Wenn dies der Fall ist, sehen Sie wohl, was anderweitig daraus folgen müßte?«

»Ich begreife nicht minder, daß ein Wort aus dem Munde ihres Vaters zugunsten eines Bewerbers bei ihr mehr Gewicht hätte als die ganze übrige Welt. Aus diesem Grunde, Doktor Manette«, fügte Darnay bescheiden, aber mit Festigkeit bei, »möchte ich um dieses Fürwort nicht bitten, und wenn mein Leben daran hinge.«

»Ich traue Ihnen dies zu. Charles Darnay, Geheimnisse entstehen aus inniger Liebe ebensogut wie aus weiter Spaltung; im ersteren Falle sind sie gar zart und verfänglich und schwer zu ergründen. Meine Tochter Lucie ist in dieser Beziehung ein solches Geheimnis für mich; ich habe keine Vermutung über den Zustand ihres Herzens.«

»Darf ich fragen, Sir, ob Sie glauben, es «

Da er zögerte, so ergänzte ihr Vater den Satz.

»Es bemühe sich ein anderer Freier um sie?«

»Das ist ist’s, was ich sagen wollte.«

Nach einigem Nachdenken erwiderte der Doktor:

»Sie haben Mr. Carton selbst hier gesehen. Auch Mr. Stryver kommt gelegentlich her. Wenn es der Fall wäre, so könnte nur einer von diesen zweien in Frage kommen.«

»Oder beide«, sagte Darnay.

»Ich hatte nicht an beide gedacht und halte es auch nicht für wahrscheinlich. Sie verlangen eine Zusage von mir. Sprechen Sie, worin soll sie bestehen?«

»Wenn Miß Manette je von freien Stücken sich mit einem ähnlichen Vertrauen an Sie wendet, wie ich es heute zu tun gewagt habe, so bitte ich Sie, mir meine heutigen Worte und Ihren Glauben daran zu bezeugen. Ich hoffe, Sie haben eine so gute Meinung von mir, daß Sie Ihren Einfluß nicht gegen mich geltend machen werden, und will daher nichts mehr zu meinen Gunsten sagen. Um dies allein bitte ich: Sie haben ein unbezweifeltes Recht, mir eine Gegenbedingung zu stellen, und ich werde sie unverweilt erfüllen.«

»Sie haben mein Versprechen ohne Bedingung«, sagte der Doktor. »Ich glaube, daß Ihre Absichten so rein und treu sind, wie Sie sie darstellen. Auch glaube ich, daß Sie das Band zwischen mir und meinem andern mir viel teureren Ich erhalten und nicht geschwächt zu sehen wünschen. Wenn sie mir einmal erklärt, daß Sie ein wesentliches Erfordernis sind zu ihrem vollkommenen Glück, so werde ich sie Ihnen nicht versagen. Sollten auch, Charles Darnay « Der junge Mann hatte dankbar seine Hand ergriffen. Ihre Hände waren vereinigt, während der Doktor fortfuhr

»Sollten auch Meinungen, Gründe oder Besorgnisse irgendwelcher Art, aus alter oder neuer Zeit, gegen den Mann sprechen, den sie wirklich liebt vorausgesetzt, daß ihm dabei keine persönliche Verantwortlichkeit zur Last fällt , so mögen sie um ihretwillen vergessen sein. Sie ist mir alles ist mir mehr als meine Leiden, mehr als das erlittene Unrecht, mehr als Pah! das ist eitles Gerede.«

Die Art, wie er plötzlich abbrach, und der starre Blick, der auch noch nachher anhielt, war so befremdlich, daß Darnay fühlte, wie seine eigene Hand in der des Doktors kalt wurde, als dieser sie langsam los- und fallen ließ.

»Sie haben mir etwas sagen wollen«, begann Doktor Manette wieder, und ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Was war es doch?«

Der junge Mann wußte nicht, was er antworten sollte, bis ihm einfiel, daß er von einer Bedingung gesprochen hatte. Mit erleichtertem Herzen griff er auf diesen Umstand zurück und entgegnete:

»Ihr Vertrauen verdient auch von meiner Seite vertrauensvolles Entgegenkommen. Sie werden sich erinnern, daß mein gegenwärtiger Name nicht der wahre, obschon nur eine leichte Abänderung von dem meiner Mutter ist. Ich wünsche Ihnen hierüber und über den Grund meines Aufenthaltes in England eine Erklärung zu geben.«

»Halt!« sagte der Doktor von Beauvais.

»Es drängt mich dazu, denn ich möchte Ihr Vertrauen besser verdienen und kein Geheimnis vor Ihnen haben.«

»Halt!«

Der Doktor hielt für einen Moment die Hände vor seine Ohren und legte sie dann auf Darnays Lippen.

»Sagen Sie mir’s, wenn ich Sie darum frage, nicht jetzt. Wenn Ihre Bewerbung zu etwas führt und Lucie Sie liebt, so sollen Sie an Ihrem Hochzeitsmorgen mir darüber Mitteilung machen. Versprechen Sie dies?«

»Recht gern.«

»Geben Sie mir Ihre Hand. Sie muß demnächst nach Haus kommen, und es ist besser, daß sie uns heute abend nicht beisammen sieht. Gehen Sie. Gott behüte Sie!«

Es war schon dunkel, als Charles Darnay sich entfernte; und es war eine Stunde später und noch dunkler, als Lucie nach Hause kam. Sie eilte allein in das Zimmer, denn Miß Proß war nach ihrer Kammer hinaufgegangen, und wunderte sich nicht wenig, ihres Vaters Lesestuhl leer zu finden.

»Vater!« rief sie ihm. »Lieber Vater!«

Keine Antwort; aber sie hörte ein dumpfes Hämmern aus der Schlafkammer. Sie eilte rasch durch das dazwischen liegende Gemach und sah zu der Tür hinein, kam aber entsetzt wieder zurückgelaufen und rief vor sich hin:

»Was soll ich tun! Was soll ich tun!«

Die Ungewißheit währte jedoch nur einen Augenblick. Sie kehrte zurück, klopfte an die Tür und rief ihm leise zu. Auf den Ton ihrer Stimme ließ das Gehämmer nach; er kam sogleich zu ihr heraus, und sie gingen geraume Zeit miteinander auf und ab.

Selbige Nacht kam sie noch aus ihrem Bett wieder herunter, um nach ihm zu sehen. Er schlief tief. Sein Schuhmacherhandwerkszeug und die alte unbeendigte Arbeit lag da wie gewöhnlich.

Elftes Kapitel. Ein Kameradschaftsbild.


Elftes Kapitel. Ein Kameradschaftsbild.

»Sydney«, sagte Mr. Stryver in derselben Nacht oder vielmehr am Morgen zu seinem Schakal, »misch noch eine Schüssel Punsch; ich habe dir etwas zu sagen.«

Sydney hatte in dieser Nacht, in der Nacht vorher und so viele Nächte nacheinander doppelt ins Geschirr müssen, um vor dem Eintritt der langen Vakanz unter Mr. Stryvers Papieren wacker aufzuräumen. Die Lichtung war endlich bewerkstelligt, was Stryver an Rückständen hatte, schön eingebracht und alles vom Halse geschafft, bis der November mit seinen atmosphärischen und juristischen Nebeln kam und wieder die Mühle mit Korn versah.

Die scharfe Anstrengung hatte Sydney weder lebhafter noch nüchterner gemacht. Es waren sogar feuchte Extrahandtücher nötig gewesen, um ihn durch die Nacht zu schleppen, wie denn auch eine entsprechende Extraquantität Wein den Tüchern vorausging; so befand er sich denn in einem sehr schadhaften Zustand, als er seinen Turban herabriß und in das Becken warf, in dem er ihn während der letzten sechs Stunden zeitweilig annetzte.

»Bist du an der andern Schüssel Punsch?« fragte Stryver, noch stattlicher von dem Sofa aus, auf dem er rücklings lag, sich umsehend, während er die Hände in der Hosentasche stecken hatte.

»Ja.«

»Nun, so sieh her. Ich will dir etwas sagen, über das du dich wundern wirst; und du denkst vielleicht darüber, ich sei doch nicht ganz der schlaue Kerl, für den du mich hieltest. Ich habe im Sinn zu heiraten.«

»Ist dir’s Ernst?«

»Ja. Und nicht nach Geld. Was sagst du jetzt?«

»Ich fühle mich nicht aufgelegt, viel zu sagen. Wer ist sie?«

»Rate.«

»Kenn‘ ich sie?«

»Rate.«

»’s ist mir nicht ums Raten zu tun um fünf Uhr morgens, wenn mir das Hirn im Kopfe siedet und brät. Wenn du willst, daß ich raten soll, so mußt du mich zum Mittagessen einladen.«

»Wohlan denn, so will ich dir’s sagen«, entgegnete Stryver, langsam sich zu einer sitzenden Haltung aufrichtend. »Sydney, ich verzweifle schier daran, mich dir verständlich zu machen, weil du ein so gar unempfindlicher Hund bist.«

»Und du«, erwiderte Sydney, geschäftig den Punsch rührend, »bist ein so empfindsamer und poetischer Geist.«

»Na«, sagte Stryver mit lärmendem Lachen, »ich hoffe, ich kenne mich zu gut, als daß ich Anspruch darauf erheben sollte, die Seele der Romantik zu sein; aber ein feinerer Kerl als du bin ich doch.«

»Du willst damit sagen, daß du mehr Glück hast.«

»Nein, das nicht. Ich meine, ich sei ein Mann von mehr von mehr «

»Sag‘ Galanterie, weil du eben daran bist«, half ihm Carton fort.

»Gut, ich will sagen Galanterie. Damit meine ich«, fuhr Stryver fort, indem er sich gegen seinen mit dem Punsch beschäftigten Freund aufspielte, »ich bin ein Mann, der sich’s mehr angelegen sein läßt, sich angenehm zu machen der sich mehr Mühe gibt, den Angenehmen zu spielen und der besser weiß als du, wie man in Damengesellschaft sich benehmen muß, um angenehm zu erscheinen.«

»Weiter«, sagte Sydney Carton.

»Nein, ehe ich fortfahre, muß ich dir meine Herzensmeinung sagen«, entgegnete Stryver, in seiner polternden Weise den Kopf schüttelnd. »Du bist so viel wie ich vielleicht mehr als ich in Doktor Manettes Haus gewesen. Wahrhaftig, ich habe mich dort geschämt über dein mürrisches Wesen. Du bist dort immer still und so verdrossen gewesen, daß ich, auf Leben und Seele, mich für dich schämen mußte.

»Es käme einem Advokaten von deiner Praxis wohl zustatten, wenn er sich über etwas schämen lernte«, entgegnete Sydney; »du bist mir daher zu Dank verpflichtet.«

»Nein, so kommst du mir nicht los«, erwiderte Stryver, die Antwort gegen ihn hinschulternd. »Es ist meine Pflicht, dir zu sagen, Sydney und ich sage dir’s ine Gesicht zu deinem Besten daß du ein verteufelt unmanierlicher Bursche bist in derartiger Gesellschaft. Du bist ein unangenehmer Kerl.«

Sydney trank ein Glas von dem Punsche, den er gemacht hatte, und lachte.

»Sieh mich an«, sagte Stryver, sich breit machend. »Ich habe weniger nötig als du, mich angenehm zu machen, weil ich in unabhängigeren Verhältnissen lebe. Warum tu‘ ich’s gleichwohl?«

»Ich habe bis jetzt nie etwas davon bemerkt«, brummte Carton.

»Ich tu‘ es, weil es politisch ist. Ich tu‘ es aus Grundsatz. Und sieh‘ mich an ich bring‘ es vorwärts.«

»Aber in deinen Mitteilungen über deine Ehestandsgelüste kommst du nicht vorwärts«, versetzte Carton mit unbekümmerter Miene: »ich wünschte, du hieltest dich an diesen Punkt. Was mich betrifft wirst du denn nie begreifen, daß ich unverbesserlich bin?«

Er stellte diese Frage mit einer Miene der Verachtung.

»Und was hast du von deinem Unverbesserlichsein?« lautete die in nicht sehr besänftigendem Ton abgegebene Erwiderung seines Freundes.

»Was ich davon habe? Nichts wie überhaupt von meinem Sein«, sagte Carton. »Nun, wer ist die Glückliche?«

»Wohlan, die Nennung des Namens darf dich nicht bestürzt machen, Sydney«, entgegnete Mr. Stryver, der ihn mit dem prunkhaften Anschein von Freundlichkeit auf die Enthüllung, die ihm auf der Zunge schwebte, vorbereiten wollte, »weil ich weiß, daß deine Reden nicht immer ernst gemeint sind, und wenn es auch der Fall wäre, so läge nichts daran. Ich schicke diese kleine Einleitung voraus, weil du einmal von der jungen Dame geringschätzig gesprochen hast.«

»Ich?«

»Ja: und zwar hier in diesem Zimmer.«

Sydney Carton sah zuerst den Punsch und dann seinen artigen Freund an; dann trank er den Punsch und betrachtete den artigen Freund aufs neue.

»Du hast die junge Dame eine goldhaarige Puppe genannt. Die junge Dame ist Miß Manette. Wenn du ein Mensch wärest, dem man in solchen Dingen nur ein bißchen Empfindung oder Zartgefühl zutrauen dürfte, Sydney, so könnte ich mich durch jene Äußerung beleidigt fühlen; aber du bist nicht urteilsfähig in diesem Punkte. Es fehlt dir dafür ganz und gar der Sinn, und wenn ich an jenen Ausdruck zurückdenke, so kann ich mich darüber ebensowenig ärgern, als wenn einer ein Gemälde von mir tadelte, der nichts von Gemälden versteht, oder wenn einer gegen ein Musikstück von mir etwas aussetzte, dem es an musikalischem Gehör gebricht.«

Sydney Carton trank den Punsch sehr schnell hinunter, Glas auf Glas, und sah dabei seinen Freund an.

»Nun weißt du alles, Sydney«, sagte Mr. Stryver. »Ich mache mir nichts aus dem Vermögen. Sie ist ein scharmantes Geschöpf, und ich habe mich entschlossen, nach Neigung zu heiraten. Im ganzen kann ich, denke ich, eine Neigungsheirat wohl erschwingen. Sie erhält in mir einen Mann, der in ziemlich geordneten Verhältnissen lebt und sich immer besser macht einen Mann von Distinktion. Es ist eine gute Partie für sie; aber sie verdient eine gute Partie. Bist du nicht erstaunt?«

Carton trank noch immer den Punsch und versetzte:

»Warum soll ich erstaunt sein?«

»Die Wahl hat deinen Beifall?«

Carton, der forttrank, erwiderte:

»Warum sollte ich ihr nicht Beifall zollen?«

»Nun, du nimmst die Sache leichter auf, als ich vermutete«, sagte sein Freund Stryver, »und bist in Beziehung auf mich weniger geldsüchtig, als ich dachte, obschon du natürlich in der langen Zeit unserer Bekanntschaft dich überzeugt haben mußt, daß dein alter Stubenbursche ein Mann von ziemlich festem Willen ist. Ja, Sydney, ich habe meine bisherige Lebensweise mit dem ewigen Einerlei satt, und es erscheint mir als ein angenehmer Gedanke, eine Heimat zu haben, in die man sich zurückziehen kann, sobald man Lust dazu hat andernfalls kann man ja wegbleiben. Auch fühle ich, daß Miß Manette sich in jeder Stellung gut ausnehmen, somit auch mir immer Ehre machen wird. Ich bin daher entschlossen. Und nun, Sydney, alter Knabe, möchte ich noch ein Wörtchen über deine Aussichten mit dir reden. Du mußt selbst gestehen, du bist auf einem schlimmen Wege in der Tat, auf einem sehr schlimmen Wege. Du weißt den Wert des Geldes nicht zu schätzen, lebst, als ob du nicht umzubringen seist, und wirst eines Tages arm und krank liegen bleiben. Du solltest wahrhaftig an eine Pflegerin denken.«

Die protzige Gönnermiene, mit der er dies sprach, ließ ihn zweimal so groß und viermal so anstößig erscheinen.

»Laß dir daher empfehlen«, fuhr Stryver fort, »der Sache ins Gesicht zu schauen. Ich habe dies in meiner Art getan, tu‘ du es in der deinigen. Heirate. Sorg‘ dir für eine Person, die auf dich acht gibt. Sage mir nicht, du findest keinen Gefallen an weiblicher Gesellschaft und habest kein Verständnis, keinen Takt dafür. Sorg‘ für jemand. Sieh dich nach einer achtbaren Frauensperson mit einigem Vermögen um, etwa nach einer, die eine Wirtschaft hat oder Zimmer vermietet und heirate sie rundweg zum Schutz für einen regnerischen Tag. Das paßt für dich. Überleg‘ dir`s, Sydney.«

»Ich will`s überlegen«, sagte Sydney.

Einleitung.


Einleitung.

Nach »Klein Dorrit«, dem Roman, der sich ganz mit dem Privatleben befaßt, nämlich mit der Seele eines reinen Kindes und seiner armen Umwelt, ließ Dickens 1859 die Erzählung »Zwei Städte« ( Tale of two cities) folgen, die der Geschichte große Gegenstände zum Hintergrund der Handlung hat. Die zwei Städte sind London und Paris im Zeitalter der französischen Revolution, und wie nun Dickens diese schicksalsschwere Epoche, erlebt durch einzelne Menschen, darstellt, wie er den Widerhall dieses elementaren Gesellschaftsereignisses in London und in seiner Umwelt wiedergibt, das zeugt von einer schlechterdings kaum zu überbietenden Meisterschaft. Darum gibt es viele Literaturkenner, die dieses Werk Dickens‘ als seine beste Leistung überhaupt ansprechen.

Das tragische »Muß« der Revolution, ihre furchtbare Notwendigkeit wird von Dickens mit tiefem historischen Verständnis in seiner Darstellung aufgezeigt. Wenn die geduldigen unterdrückten Volksmassen nirgends Recht finden können, weil die herrschende Klasse in bösestem Egoismus ihnen keinen Raum zum Atmen läßt, dann wiederholt sich im Wandel der Jahrhunderte immer wieder das Phänomen der gewaltsamen Umwälzung und Befreiung. Dann aber springt mit dem Genius der Freiheit auch der Dämon der Gier und die Bestie im Menschen aus der Volksseele hervor, und die Ideen der Gleichheit und der Brüderlichkeit können sich nicht sündlos halten von pöbelhafter Blutgier. Die Sünde der Reichen wird heimgesucht an deren unschuldigen Kindern, und aus eben jener Sünde der Reichen erwächst die Sünde der Armen in Formen furchtbarer Rache. Das Geschlecht der Evrémondes hat in frivoler Genußsucht entsetzlich an den Untergebenen gesündigt, und nun führt Dickens aus, wie die Strafe oder die Vergeltung deren schuldlose Nachfahren trifft. Dickens zeigt, welche verheerende Wendung die Revolution bei den rasenden Volksmassen nimmt. Er malt die furchtbaren Tage, da die Guillotine ihre Triumphe feiert; aber er zeigt auch dem Adel, dessen Sittenlosigkeit und Tyrannei zu alledem führte, seine Schuld, seine Riesenschuld. Er schildert zuständlich; er ist mit ganzem Herzen dabei, ohne einseitig Partei zu nehmen. Er ist Dichter und »steht auf einer höhern Warte, als auf der Zinne der Partei«. Er ist »dichterisch-objektiv«, und darum ergreift dieses Werk den Leser in so besonderem Maße, weil dieser dadurch unmittelbar in die Tragik des Menschenlebens geschichtlich großen Stils geführt wird. Der Roman bietet hier dasselbe Beste, was das Drama hervorragenden Formats zu bieten hat: die Frage an das Weltenschicksal, das Warum, das uns auf den »Brettern, die die Welt bedeuten«, erschüttert und erhebt. – Nur am Rande angemerkt sei auch hier wieder die meisterliche Zeichnung der lebensechten Figuren. – Dadurch, daß das Ganze durch die Bande der Liebe nach England hinüberspielt, erhalten wir zugleich ein eindrucksvolles Spiegelbild der französischen Revolution im englischen Geistes- und Kulturleben.

Bei diesem vorletzten Band der Dickens-Werke aus dem Gutenberg-Verlag hat ebenso wie bei dem letzten Band, der die Weihnachtserzählungen bringt, Frau Clara Weinberg dem Herausgeber bei der Textrevision freundlichst mitgeholfen.

P. Th. H.

Erstes Kapitel. Die damalige Zeit.


Erstes Kapitel. Die damalige Zeit.

 

Es war die beste und die schönste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis. Es war der Frühling der Hoffnung und der Winter des Verzweifelns. Wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, die Periode glich der unsrigen so wenig, daß ihre lärmendsten Tonangeber im Guten wie im Bösen nur den Superlativgrad des Vergleichens auf sie angewendet wissen wollten.

Auf dem Thron von England saß damals ein König mit einem mächtigen Kieferwerk und eine Königin mit einem einfachen Gesicht. Den Thron von Frankreich zierte ein Herrscherpaar von ganz den nämlichen Eigenschaften. Und in beiden Ländern erschien es der königlichen Umgebung, Mundschenk, Truchseß und so weiter, klarer als Kristall, daß im allgemeinen der Stand der Dinge geordnet sei für alle Zeiten.

Es war das Jahr unseres Herrn Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig. England erfreute sich damals wie noch heute der Gnade geistiger Offenbarungen. Mrs. Southcott hatte eben ihren gebenedeiten fünfundzwanzigsten Geburtstag zurückgelegt, auf dessen erhabenes Herannahen ein prophetischer Leibgardist die Welt durch die Ankündigung hingewiesen hatte, man möge sich darauf gefaßt halten, daß London und Westminster von der Erde verschlungen werden würden. Sogar der Hahnengassengeist war erst seit einem Dutzend Jährchen zur Ruhe gebracht, nachdem er seine Botschaften in derselben Weise, wie seine übernatürlich unoriginellen Nachfolger erst im letztabgelaufenen Jahr noch getan, durch Klopfen kundgegeben hatte. Botschaften im irdischen Sinn des Wortes waren jüngst der englischen Krone und Nation von einem Kongreß britischer Untertanen in Amerika zugegangen und haben seltsamerweise einen weit wichtigeren Einfluß auf das menschliche Geschlecht geübt als alle Mitteilungen, die seitdem von der Sippe der Hahnengassengeister hervorgegackert worden sind.

Mit Frankreich, das, was geistige Dinge betrifft, im ganzen weit weniger begünstigt ist als sein Schwesterland mit dem Schild und dem Dreizack, ging es ungemein glatt und hurtig bergab, indem es Papiergeld machte und es verjubelte. Unter der Führung seiner christlichen Hirten vergnügte es sich nebenbei mit allerlei menschenfreundlichen Belustigungen, indem es zum Beispiel über einen jungen Menschen, der unter strömendem Regen zu Ehren einer fünfzig oder sechzig Schritt vor ihm vorübergehenden Mönchsprozession nicht in den Staub knien wollte, sein Urteil dahin aussprach, daß man ihm die Hände abhauen, die Zunge herausreißen und seinen noch lebenden Leib verbrennen solle. Wohl möglich, daß um die Zeit, in der dieser arme Unglückliche seinen grausamen Tod erlitt, der Holzhauer Schicksal in den Wäldern Frankreichs oder Norwegens bereits die Bäume zum Fällen und für die Sägemühle bezeichnet hatte, deren Bretter zur Herstellung eines in der Geschichte mit Schrecken genannten beweglichen Gerüstes mit einem Sack und einem Beil dienen sollten. Möglich auch, daß in der Umgegend von Paris unter den rohen Schuppen der bäuerlichen Gehöfte von ländlichem Staub bespritzte, von Schweinen umschnüffelte und als Hühnersteigen dienende Karren standen, die der Bauer Tod sich schon vorgemerkt hatte, um das Futter der Revolution herbeizuführen. Jener Holzhauer und jener Bauer sind unablässig in Tätigkeit; aber sie arbeiten im stillen fort, und niemand hört ihren leisen Tritt. Um so besser, denn der Argwohn, daß sie wach seien, hätte für atheistisch und hochverräterisch gegolten.

In England konnte man sich auf Ordnung und öffentlichen Schutz nicht eben viel zugute tun. Verwegene Einbrüche durch bewaffnete Kerle und Beraubungen auf offener Straße kamen selbst in der Hauptstadt fast jede Nacht vor. Man warnte die Familien, nicht aufs Land zu ziehen, ohne daß sie vorher ihre Einrichtung in einem Speditionsgeschäft geborgen hatten. Der nächtliche Räuber war bei Tag ein Geschäftsmann in der Stadt, und wenn er von irgendeinem Gewerbsgenossen, den er in seiner Eigenschaft als »Kapitän« anhielt, erkannt und mit mißliebigen Vorstellungen behelligt wurde, so schoß er ihn ritterlich durch den Kopf und spornte sein Roß weiter. Der Postwagen wurde von sieben Räubern angefallen; der Führer schoß drei davon nieder, erlag aber selbst den andern vieren, »weil ihm die Munition ausgegangen war«, und nun erst konnte der Wagen mit Behaglichkeit geplündert werden. Der Lord-Mayor von London, diese hochmächtige Person, mußte auf dem Turnhamer Rasen einem einzelnen Straßenräuber standhalten und angesichts seines Gefolges seinen werten Leib von dem Galgenstrick ausplündern lassen. Gefangene in den Londoner Gefängnissen lieferten ihren Schließern förmliche Schlachten, und die Majestät des Gesetzes ließ sie mit Musketensalven zu Paaren treiben. In den Salons des Hofes stibitzten Diebe den vornehmen Herren Diamantenkreuze von den Hälsen weg. Musketiere zogen nach St. Giles, um nach Schleichwaren zu fahnden, und wurden von einem Pöbelhaufen, den sie ihrerseits in der gleichen Weise bearbeiteten, mit Schüssen empfangen. Das waren lauter Dinge, die man für nichts Außerordentliches ansah. Dabei hatte der Henker alle Hände voll zu tun, indem er das eine Mal die unterschiedlichen Verbrecher in langen Reihen aufknüpfte, ein andermal sein Amt Samstags an einem einzelnen Hauseinbrecher übte, der am Dienstag ergriffen worden war, heute in Newgate dem Dutzend nach Leuten die Hand brandmarkte. Morgen vor dem Tor von Westminsterhall Flugschriften den Flammen übergab, und dann wieder einen trotzigen Mörder und einen armen Strauchdieb, der einem Bauernbuben ein Sechspencestück abgejagt hatte, in die Ewigkeit beförderte.

Alles dies und noch tausend ähnliche Dinge geschahen, begannen und endigten in dem lieben alten Jahr Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig. Und auf dem Schauplatz dieser Ereignisse traten, während der Holzhauer und der Bauer unbeachtet fortarbeiteten, jene beiden mächtigen Kieferwerke und jenes Paar einfacher schöner Frauengesichter geräuschvoll genug auf und behaupteten ihre göttlichen Rechte mit gewaltiger Hand. So führte das Jahr Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig ihre Majestäten sowohl wie die Myriaden kleiner Wesenheiten, darunter auch die Personen unserer Geschichte, dahin auf den vor ihnen liegenden Pfaden.