Neunzehntes Kapitel. Ein ärztliches Gutachten.


Neunzehntes Kapitel. Ein ärztliches Gutachten.

Von angstvollem Wachen erschöpft, schlief Mr. Lorry auf seinem Posten ein. Am zehnten Morgen seiner peinlichen Sorge wurde er in dem Zimmer, wo ihn bei finsterer Nacht der schwere Schlaf überwältigt hatte, durch den hellen Sonnenschein aufgeweckt.

Er rieb die Augen und lichtete sich auf, konnte aber dadurch nicht aus dem Zweifel kommen, ob er nicht noch immer schlafe. Denn als er nach der Tür des Doktors hinging und hineinsah, bemerkte er, daß die Bank und die Schuhmachergerätschaften beiseite gerückt waren und der Doktor lesend am Fenster saß. Er trug seinen gewöhnlichen Morgenanzug, und sein Gesicht, das Mr. Lorin deutlich sehen konnte, hatte ungeachtet der tiefen Blässe den ruhigen, aufmerksamen Ausdruck des Studiums.

Mr. Lorry fühlte sich, nachdem er sich von seinem Wachen überzeugt hatte, einige Augenblicke schwindelig ungewiß, ob nicht vielleicht das frühere Schuhmacher: ein unruhiger Traum, eine ängstigende Ausgeburt seines eigenen Gehirns gewesen sei; denn sah er nicht mit eigenen Augen den Freund wieder vor sich im gewohnten Anzug, mit dem alten Aussehen und in seiner ordnungsmäßigen Beschäftigung, und konnte er irgendwo ein Zeichen wahrnehmen, daß der Wechsel, der einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, wirklich stattgefunden hatte?

Doch dies war nur die Frage seines ersten verwirrten Staunens; die Antwort ergab sich von selbst. Wenn jener Eindruck sich nicht auf eine entsprechende und zureichende Ursache gründete, wie kam er, Jarvis Lorry, hierher? Wie hätte er in seinen Kleidern auf dem Sofa von Doktor Manettes Ordinationszimmer einschlafen und über alle diese Dinge sich am frühen Morgen vor der Schlafzimmertür des Doktors Gedanken machen können?

Nach einigen Minuten stand Miß Proß flüsternd an seiner Seite. Wäre noch ein Tüttelchen von einem Zweifel übrig gewesen, so würde ihr Reden es vollends beseitigt haben; aber er war mittlerweile klar im Kopfe geworden und über den Zweifel weggekommen. Er meinte, man solle ruhig bleiben bis zur gewöhnlichen Frühstückszeit, und dann wollten sie den Doktor empfangen, wie wenn nichts Ungewöhnliches vorgefallen sei. Zeigte er dabei seine gewöhnliche Gemütsverfassung, so wollte Mr. Lorry zu weiterer Leitung und Führung vorsichtig das Gutachten einzuholen suchen, um das es ihm in seiner Bekümmernis so ängstlich zu tun gewesen war.

Da Miß Proß sich seinem Urteil unterordnete, so wurde der Plan mit aller Sorgfalt ausgearbeitet. Mr. Lorry hatte noch reichlich Zeit zu seiner ordnungsmäßigen methodischen Toilette und präsentierte sich daher um die Frühstückszeit in seiner gewöhnlichen weißen Leinwand und mit seinen gewöhnlichen sauberen Beinen. Der Doktor wurde wie sonst gerufen und kam zum Frühstück.

Soweit sich aus den behutsamen Annäherungen, die Mr. Lorry allein rätlich schienen, ein Urteil bilden ließ, so meinte der Doktor anfangs, daß die Hochzeit seiner Tochter erst am Tage zuvor stattgefunden habe; eine wie zufällig hingeworfene Anspielung aber auf den Wochen- und Monatstag bewog ihn nachzuzählen und machte ihn augenscheinlich unruhig, obschon er sich in allen anderen Dingen so gefaßt benahm, daß Lorry zu dem Entschlusse kam, sich den Beistand zu sichern, auf den er es abgehoben hatte. Und der Beistand wurde ihm zuteil.

Nachdem das Frühstück vorüber und der Tisch abgeräumt war, blieb Mr. Lorry noch bei dem Doktor sitzen und begann in ausholender Weise:

»Mein werter Manette, ich bin ungemein begierig, im Vertrauen Euer Gutachten über einen sehr merkwürdigen Fall zu hören, der großes Interesse für mich hat; das heißt, mir eben kommt er sehr merkwürdig vor. Ihr seid ein einsichtsvoller, erfahrener Mann und beurteilt ihn vielleicht anders.«

Der Doktor warf einen Blick nach seinen Händen, die von seinem jüngsten Arbeiten her noch unsauber waren, und zeigte eine unruhige Miene, hörte aber aufmerksam zu. Dieses Hinschauen nach seinen Händen war schon öfter vorgekommen.

»Doktor Manette«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er sanft seinen Arm anfaßte, »die Sache betrifft einen mir sehr lieben Freund. Ich bitte, zieht sie in Erwägung und erteilt mir einen guten Rat in seinem Interesse, vor allem aber um seiner Tochter seiner Tochter willen, mein lieber Manette.«

»Wenn ich Euch recht verstehe«, sagte der Doktor in gedämpftem Ton, »so meint Ihr eine geistige Störung «

»Ja«

»Sprecht unumwunden«, versetzte der Doktor. »Ich muß die Einzelheiten kennen.«

Mr. Lorry sah, daß sie einander verstanden, und fuhr fort:

»Mein lieber Manette, es handelt sich um eine aus alter Zeit her stammende Störung, um schwere und bittere Schläge auf das Gefühl, auf das Gemüt, auf auf auf den Geist, wie Ihr’s nennt. Den Geist. Es handelt sich um eine Erschütterung, die den Leidenden man kann nicht sagen, wie lange niederwarf, weil ich glaube, daß er die Zeit selbst nicht zu berechnen weiß und auf andere Art kein Aufschluß darüber zu gewinnen ist. Von dieser Erschütterung hatte er sich durch einen Prozeß wieder erholt, von dem er sich keine Rechenschaft geben kann, wie ich ihn selbst einmal in eindringlichster Weise öffentlich versichern hörte. Die Erholung war so vollständig gewesen, daß er aller seiner Geisteskräfte wieder mächtig wurde; er ging viel unter die Menschen und erweiterte die reichen Vorräte seines Wissens immer mehr und mehr. Aber unglücklicherweise« er hielt inne und atmete tief auf »hat ein kleiner Rückfall stattgefunden.«

Der Doktor fragte mit leiser Stimme:

»Von welcher Dauer?«

»Neun Tage und Nächte.«

»Wie zeigte sich die Sache? Vermutlich« er schaute wieder nach seinen Händen »in Wiederaufnahme einer alten Beschäftigung, die mit jener Störung im Zusammenhang stand?«

»So ist es.«

»Habt Ihr ihn auch in jener ursprünglichen Beschäftigung beobachtet?« fragte der Doktor in bestimmtem, ruhigem Tone, obschon noch immer mit derselben leisen Stimme.

»Einmal.«

»Und als der Rückfall über ihn kam, war er nur in einzelnen oder in allen Beziehungen so wie damals?«

»Ich denke, in allen.«

»Ihr spracht von seiner Tochter. Weiß seine Tochter etwas von dem Rückfall?«

»Nein; er ist vor ihr geheimgehalten worden, und ich hoffe, sie soll nie etwas davon erfahren. Nur ich weiß davon und eine andere Person, der man trauen darf.«

Der Doktor ergriff seine Hand und flüsterte:

»Das war sehr liebevoll, sehr umsichtig von Euch.«

Mr. Lorry erwiderte den Händedruck, und beide saßen eine Weile schweigend beieinander.

»Nun, mein lieber Manette«, fuhr Mr. Lorry endlich in der rücksichtsvollsten und teilnehmendsten Weise wieder fort, »ich bin bloß ein Geschäftsmann und verstehe mich nicht auf so verwickelte und schwierige Dinge. Es fehlt mir an den nötigen Kenntnissen, an der erforderlichen Einsicht, und ich bedarf einer Leitung. Aber es gibt keinen Mann in der Welt, von dem ich mir eine bessere Führung verspräche als von Euch. Sagt mir, was mag der Grund dieses Rückfalls gewesen sein? Sind wohl weitere zu befürchten? Kann ihnen vorgebeugt werden? Wie wäre ein solcher Rückfall zu behandeln? Welche Ursachen liegen dabei zugrunde? Und was kann ich tun für meinen Freund? Gewiß ist niemand so von Herzen bereit, einem Freunde zu dienen als ich, wenn ich nur wüßte, wie ich mich zu verhalten hätte; aber in einem solchen Falle bin ich nicht einmal imstande, einen Anfang zu machen. Vielleicht könnte ich vieles leisten, wenn mich Eure Klugheit, Einsicht und Erfahrung auf den rechten Weg weisen wollte; aber ohne Leitung und Belehrung vermag ich nichts. Ich bitte, geht mit mir auf die Sache ein; setzt mich in den Stand, ein wenig klarer zu sehen, und belehrt mich, wie ich mich nützlicher machen kann.«

Nach diesen ernsten Worten blieb Doktor Manette gedankenvoll sitzen, und Lorry drang nicht weiter in ihn.

»Mein teurer Freund, ich halte es für wahrscheinlich«, sagte der Doktor, der sich Gewalt antun mußte, das Schweigen zu unterbrechen, »daß der von Euch beschriebene Rückfall dem Gegenstand desselben nicht ganz unerwartet kam.«

»Fürchtete er sich vielleicht davor?« wagte Mr. Lorry zu fragen.

»Sehr.« Dieses Wort wurde von einem unwillkürlichen Schaudern begleitet. »Ihr könnt Euch keine Vorstellung machen, wie eine solche Furcht auf der Seele eines Leidenden lastet und wie schwer wie fast unmöglich es ihm ist, sich zu einer Äußerung über den ihn drückenden Gegenstand zu zwingen.«

»Würde es ihm wohl eine namhafte Erleichterung schaffen«, fragte Lorry weiter, »wenn er es über sich gewinnen könnte, dieses geheime Brüten, wenn es eben auf ihm lastet, jemand mitzuteilen?«

»Ich glaube es; aber dies ist, wie ich bereits bemerkte, fast eine Unmöglichkeit ja, ich glaube sogar, in manchen Fällen eine reine Unmöglichkeit.«

»Nun«, sagte Mr. Lorry, indem er nach einer abermaligen Pause wieder die Hand auf den Arm des Doktors legte, »von was leitet Ihr diesen Anfall her?«

»Ich glaube«, versetzte Doktor Manette, »daß ein starkes und außerordentliches Wiederaufleben der Gedanken und Erinnerungen, die das erstemal Anlaß zu seiner Krankheit gaben, stattgefunden haben muß. Ich denke mir, daß er sich eine traurige Vergangenheit lebhaft wieder vor die Seele führte. Wahrscheinlich hat auch lange vorher eine geheime Furcht, daß unter gewissen Umständen oder vielmehr bei einer gewissen Gelegenheit jene Erinnerungen wieder erwachen dürften, seinen Geist in Spannung erhalten. Er suchte sich wohl vergeblich darauf vorzubereiten, und vielleicht war gerade die Mühe, die er sich deshalb gab, Ursache, daß er um so weniger Widerstand zu leisten vermochte.«

»Kann er sich wohl dessen erinnern, was bei diesem Rückfall vorging?« fragte Mr. Lorry mit leicht begreiflichem Zaudern.

Der Doktor warf einen kummervollen Blick im Zimmer umher, schüttelte den Kopf und antwortete mit dumpfer Stimme:

»Nicht im geringsten.«

»Und was haltet Ihr von der Zukunft?« deutete Mr. Lorry an.

»Was die Zukunft betrifft, so habe ich große Hoffnung«, erwiderte der Doktor mit mehr Festigkeit. »Wenn es dem Himmel in seiner Gnade gefallen hat, ihn so bald wieder genesen zu lassen, so möchte ich viel hoffen. Ist er unter dem Druck eines verwickelten Etwas erlegen, das er lange gefürchtet, lange unbestimmt vorausgesehen und vergeblich bekämpft hat, und folgte die Genesung nach dem Entladen und Vorübergehen der Wolke, so möchte ich glauben, daß das Schlimmste vorüber ist.«

»Na, das ist ein großer Trost. Gott sei Dank dafür!« sagte Mr. Lorry.

»Ja, Gott sei Dank!« wiederholte der Doktor, andachtsvoll das Haupt neigend.

»Es gibt übrigens noch zwei andere Punkte, über die ich Belehrung wünsche«, sagte Mr. Lorry. »Darf ich fortfahren?«

»Ihr könnt Eurem Freunde keinen besseren Dienst erweisen.«

Der Doktor gab ihm die Hand.

»Zuerst also. Er ist ans Studieren gewöhnt und betreibt es mit Eifer; er läßt sich’s ungemein angelegen sein, sich in dem Wissen seines Berufes zu vervollkommnen, macht Versuche und treibt viele ähnliche Dinge. Tut er darin nicht zuviel?«

»Ich glaube es nicht. Es liegt vielleicht in seiner geistigen Organisation, daß er stets einer eigentümlichen Beschäftigung bedarf. Möglich, daß er es teilweise aus natürlichem Antrieb tut, vielleicht ist’s auch teilweise eben eine Folge seines Leidens. Je weniger er sich mit gesunden Dingen beschäftigt, desto mehr steht zu besorgen, daß er eine krankhafte Richtung einschlägt. Vielleicht hat er sich selbst beobachtet und diese Entdeckung gemacht.«

»Ihr glaubt also überzeugt sein zu dürfen, daß er sich nicht über Gebühr anstrengt?«

»Ja, ich glaube dies.«

»Mein lieber Manette, wenn er sich aber doch überarbeitete«

»Mein lieber Lorry, ich zweifle, ob dies so leicht geschehen kann. Es hat eine Überspannung in der einen Richtung stattgefunden, und sie bedarf eines Gegengewichts.«

»Habt Nachsicht mit einem Geschäftsmann, der etwas hart begreift. Nehmen wir für einen Augenblick an, er überarbeite sich wirklich; könnte dies nicht zu einer Wiederkehr seines Zustandes führen?«

»Ich glaube nicht. Nein, ich glaube nicht«, fuhr Doktor Manette mit der Festigkeit der Überzeugung fort, »daß etwas anderes als jener eine Gedankengang diese Wirkung haben kann, und bin überzeugt, daß nur ein außerordentliches Zerren an der alten Saite einen Rückfall zu veranlassen vermag. Nach den Vorgängen übrigens und nach der erfolgten Genesung kann ich mir nicht wohl denken, wie eine solche ungestüme Erregung wieder möglich ist. Ich hoffe und lebe fast des zuversichtlichen Glaubens, daß die Quellen des Rückfalls sich erschöpft haben.«

Er sprach dies mit der Zaghaftigkeit eines Menschen, der weiß, welcher kleine Umstand bisweilen imstande ist, die zarte Organisation des Geistes zu verwirren, zugleich aber mit einer Zuversicht, als habe er sein Vertrauen allmählich aus eigener schwerer Erfahrung und Trübsal gewonnen. Der Freund wollte natürlich diese Überzeugung nicht entmutigen. Er stellte sich an, als fühle er eine Erleichterung, die ihm in Wirklichkeit fehlte, und suchte nun an seinen zweiten und letzten Punkt zu kommen. Allerdings mußte er sich selbst sagen, daß er der verfänglichere war; aber er durfte ihn nicht übergehen, wenn er seines Gespräches mit Miß Proß an jenem Sonntagmorgen und alles dessen gedachte, was er während der letzten neun Tage gesehen hatte.

»Die Beschäftigung, die er unter dem Einfluß der so bald und so glücklich vorübergegangenen Störung wieder aufnahm«, sagte Mr. Lorry nach einigem Räuspern, »war wir wollen sagen Schmiedearbeit. Ja, Schmiedearbeit. Nehmen wir zur näheren Beleuchtung des Falles an, er habe sich in seiner schlimmen Zeit ein wenig an der Esse beschäftigt. Wir wollen sagen, er sei unerwartet wieder vor seinem Blasbalg gefunden worden. Ist es nicht ein Übel, daß er dieses Handwerkszeug behalten hat?«

Der Doktor beschattete sich die Stirn mit der Hand und klopfte krampfhaft mit der Ferse den Boden.

»Er hatte ihn immer in seiner Nähe«, fuhr Mr. Lorry mit einem ängstlichen Blick auf seinen Freund fort. »Wäre es nicht besser, wenn er ihn beiseite schaffte?«

Noch immer schlug die Ferse bebend gegen den Boden, und noch immer hielt der Doktor die Hand vor die Stirn.

»Ihr findet es nicht leicht, hier einen Rat zu erteilen?« sagte Mr. Lorry. »Ich begreife wohl, daß es eine schwierige Frage ist. Und doch meine ich «

Er schüttelte den Kopf und hielt inne.

»Ihr seht«, nahm endlich Doktor Manette nach einer beunruhigenden Pause das Wort, »wie gar schwer es ist, das innerste Triebwerk in dem Geist dieses armen Mannes konsequent zu erklären. Er sehnte sich wieder einmal angstvoll nach dieser Beschäftigung, und sie war ihm hochwillkommen, als er wieder an sie ging. Ohne Zweifel brachte sie ihm große Erleichterung in seiner Not, indem sie an die Stelle der Gehirnverwirrung die der Finger und, als er sich wieder einübte, die Fertigkeit der Hände an die Stelle der Fertigkeit des Geistes setzte, einem quälenden Ideengang nachzuhängen. Deshalb konnte er auch den Gedanken nicht ertragen, das Werkzeug aus seinem Bereich zu schaffen. Er ist zwar jetzt hoffnungsvoller, als er je gewesen, und spricht sogar mit einer Art Zuversicht von sich selber: aber dennoch glaube ich, daß ihm der Gedanke, er könnte seiner alten Beschäftigung wieder bedürfen und sie nicht finden, ein Gefühl von Schrecken einflößt, wie man es empfinden mag, wenn ein schwerer Schlag dem Herzen eines verlorenen Kindes droht.«

Sein Äußeres war eine bildliche Erläuterung seiner Worte, als er den Blick zu Mr. Lorrys Gesicht erhob.

»Aber könnte nicht wohlgemerkt, ich möchte nur Auskunft haben als ein Geschäftsmann, der mühsam sich abarbeiten muß und bloß mit ganz materiellen Dingen, Guineen, Schillingen und Banknoten zu tun hat könnte nicht die Beibehaltung des Gegenstandes auch ein Festhalten der Idee zur Folge haben? Schafft man die Sache fort, Doktor Manette, so dürfte mit ihr auch die daran haftende Furcht weichen. Mit einem Wort, ist es nicht ein Zugeständnis an die letzere, wenn man die Esse nicht entfernt?«

Abermaliges Schweigen.

»Ihr begreift aber doch«, sagte der Doktor bebend, »sie ist eine so alte Gefährtin.«

»Ich würde sie nicht behalten«, entgegnete Mr. Lorry mit Kopfschütteln; denn er gewann an Festigkeit, je unruhiger er den Doktor werden sah. »Ich wäre dafür, sie zu opfern. Allerdings möchte ich dazu Eure Zustimmung haben. Ich bin überzeugt, daß sie nichts Gutes stiftet. Sagt ja dazu als ein lieber wackerer Mann um seiner Tochter willen, mein teurer Manette!«

Es war merkwürdig, den Kampf mitanzusehen, der in seinem Innern vorging.

»Sei es denn um ihretwillen; ich gebe meine Zustimmung. Aber nehmt es nicht weg in seiner Gegenwart. Tut es, wenn er fort ist, und laßt ihn den alten Freund erst vermissen, wenn er nach einiger Zeit wieder zurückkommt.«

Mr. Lorry sagte dies bereitwillig zu, und die Besprechung war zu Ende. Sie brachten den Tag auf dem Lande zu, und der Doktor fühlte sich vollkommen hergestellt. Auch die nächsten drei Tage verliefen vortrefflich, und am vierzehnten machte er sich auf den Weg, Lucie und ihrem Gatten entgegen. Mr. Lorry hatte ihm mitgeteilt, welche Vorsichtsmaßregeln er getroffen, um dem jungen Paare das Schweigen des Vaters zu erklären, und der Doktor in seinem späteren Schreiben an Lucie darauf Bezug genommen, so daß sie von dem Vorgefallenen nichts ahnen konnte.

An dem Abend nach seiner Abreise begab sich Mr. Lorry mit einem Hackmesser, einem Meißel, einer Säge und einem Hammer nach Manettes Schlafgemach; Miß Proß begleitete ihn mit einem Licht. Hier nun hackte er bei verschlossenen Türen und in geheimnisvoller, schuldbewußter Weise die Schuhmachersbank in Stücke, während Miß Proß, die dazu leuchtete, mit ihrer abenteuerlichen Figur sich ausnahm, als leiste sie Beihilfe zu einem Mord. Nachdem das Holzwerk ordentlich zerstückt war, wurde ohne Zögern in der Küche mit den Trümmern ein Autodafé vorgenommen, das übrige Gerät aber, Schuhwerk und Leder im Garten verscharrt. Zerstören und Heimlichkeit erscheint jedoch ehrlichen Gemütern in einem so schlimmen Licht, daß es Mr. Lorry und Miß Proß, als sie ihre Tat vollbrachten und die Spuren derselben beseitigten, fast vorkam, als begingen sie gemeinsam ein abscheuliches Verbrechen ein Eindruck, der sich auch in ihren Mienen und Bewegungen kundtat.

Zwanzigstes Kapitel. Eine Bitte.


Zwanzigstes Kapitel. Eine Bitte.

Als das neuvermählte Paar wieder in der Heimat anlangte, war Sydney Carton die erste Person, die, und zwar kaum einige Stunden nach ihrem Eintreffen, sich mit ihren Glückwünschen einstellte. Er hatte sich in Kleidung, Aussehen und Manieren nicht viel geändert; aber in seinem Wesen lag ein gewisser rauher Zug von Anhänglichkeit, der Charles Darnays Beobachtung zum erstenmal auffiel.

Er ersah die Gelegenheit, den jungen Ehemann an ein Fenster zu führen, um ungehört mit ihm sprechen zu können.

»Mr. Darnay«, begann Carton, »ich wünsche, daß wir Freunde werden.«

»Ich hoffe, das sind wir schon.«

»Ihr seid gütig genug, mich dessen zu versichern als Redensart; aber ich will nichts von Redensarten. Wenn ich sage, ich wünsche, daß wir Freunde seien, so meine ich damit etwas anderes.«

Natürlich lautete nun Darnays in scherzhaftem Ton gehaltene Frage, was er denn eigentlich meine.

»Meiner Seele, ich kann dies weit leichter fühlen als es Euch begreiflich machen«, versetzte Carton lächelnd. »Doch ich will es versuchen. Ihr erinnert Euch wohl einer gewissen famosen Gelegenheit, bei der ich mehr mehr als gewöhnlich betrunken war?«

»Ich entsinne mich allerdings einer famosen Gelegenheit, bei der Ihr mich zwanget zu gestehen, daß Ihr getrunken habt.«

»Auch ich weiß das noch. Der Fluch jener Gelegenheit lastet schwer auf mir, und ich muß immer an sie zurückdenken. Ich hoffe, man wird mir dies eines Tages anrechnen, wenn für mich das Ende aller Tage gekommen ist. Ihr braucht nicht unruhig zu werden; ich will nicht predigen.«

»Von Unruhigwerden ist keine Rede. Ernst bei Euch hat für mich wahrhaftig nichts Beunruhigendes.«

»Hm!« sagte Carton mit einem unbekümmerten Schwenken der Hand, als wolle er diesen Gedanken wegschieben. »Bei der fraglichen trunkenen Gelegenheit einer von den vielen, wie Ihr wißt war ich zweifelhaft über den Punkt, ob Ihr mir gefallt oder nicht. Ich wünsche, Ihr könntet dies vergessen.«

»Das ist schon lange geschehen.«

»Wieder eine Redensart! Aber Mr. Darnay, mir wird das Vergessen nicht so leicht wie Euch, wenn man Euch so hört. Ich hab‘ es noch gut in der Erinnerung, und eine unbekümmert hingeworfene Antwort wird mich’s nicht vergessen machen.«

»Wenn es eine unbekümmert hingeworfene Antwort war«, entgegnete Darnay, »so bitte ich um Verzeihung. Ich hatte dabei keine andere Absicht, als einen unbedeutenden Vorfall, der Euch zu meinem Erstaunen zuviel beunruhigt, für beseitigt zu erklären. Ich gebe Euch mein Ehrenwort darauf, daß ich ihn mir längst aus dem Sinn geschlagen habe. Gütiger Himmel, was ist auch da nachzutragen? Muß ich Euch nicht im Gegenteil stets dankbar sein für den wichtigen Dienst, den Ihr mir an jenem Tag erwiesen habt?«

»Was den wichtigen Dienst betrifft«, sagte Carton, »so muß ich, wenn Ihr so von ihm sprecht. Euch gestehen, daß er nur ein auf Effekt berechneter Advokatenkunstgriff war. Ich weiß nicht, ob ich, als ich ihn leistete, mich viel darum kümmerte, was aus Euch werden mochte. Wohlverstanden, ich sage, als ich ihn leistete. Ich spreche von der Vergangenheit.«

»Ihr macht mir die Verpflichtung leicht«, versetzte Darnay: »aber ich will nicht Streit mit Euch anfangen wegen Eurer unbekümmerten Entgegnung.«

»Reine Wahrheit, Mr. Darnay; Ihr könnt mir’s glauben. Doch ich bin von meiner vorigen Rede abgekommen; ich sprach vom Freundwerden. Nun, Ihr kennt mich und wißt, daß man bei mir den höheren und besseren Aufschwung des Menschen nicht suchen darf. Wenn Ihr daran zweifelt, so fragt Stryver; er wird es bestätigen.«

»Ich will mir lieber meine eigene Ansicht bilden, als die seinige zu Hilfe nehmen.«

»Gut. Jedenfalls kennt Ihr mich als einen Bruder Liederlich, der nie etwas Gutes getan hat und nie etwas Gutes tun wird.«

»Ich weiß nicht, ob das letztere richtig ist.«

»Aber ich weiß es, und Ihr müßt mir aufs Wort glauben. Wohlan! Wenn Ihr es über Euch gewinnen könnt, zu dulden, daß ein so nichtsnutziger Bursche, ein Mensch von so zweideutigem Ruf, hin und wieder zu Euch ins Haus kommen darf, so möchte ich um die Erlaubnis bitten, als eine privilegierte Person hier ein- und auszugehen. Seht mich als ein nutzloses wenn ich nicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen mir und Euch bemerkt hätte, so würde ich beifügen, als ein garstiges Stück Möbel an, das man um seiner alten Dienste willen duldet und unbeachtet stehen läßt. Ich glaube nicht, daß ich die Erlaubnis mißbrauchen werde. Es ist hundert gegen eins zu wetten, daß ich sie nicht öfter als viermal im Jahre benutze, aber ich fände eine Beruhigung darin, wenn ich mir sagen könnte, daß ich sie habe.«

»Wollt Ihr’s versuchen?«

»Das ist ein anderer Ausdruck dafür, daß ich als auf dem von mir angedeuteten Fuße stehend betrachtet werden soll. Ich danke Euch, Darnay. Darf ich mir mit Eurer Erlaubnis diese Freiheit nehmen?«

»Ich denke wohl, Carton, nach unserer langen Bekanntschaft.«

Sie reichten sich die Hand darauf. Sydney trat ins Zimmer zurück und nahm sich nach einer Minute dem äußern Anschein nach wieder so gehaltlos aus wie immer.

Er war schon fort, und Miß Proß, der Doktor, Mr. Lorry und Charles Darnay saßen im Laufe des Abends beisammen; da erwähnte der letztere in allgemeinen Ausdrücken dieses Gesprächs und ließ einige Bemerkungen über Cartons merkwürdigen Leichtsinn fallen. Er tat es nicht mit Bitterkeit oder Härte, sondern einfach so, wie jeder wohl urteilen mußte, der Zeuge von dem Treiben gewesen war.

Daß dies die Gedanken seiner schönen jungen Frau beschäftigen könne, fiel ihm nicht entfernt ein; aber als er später sich in seine eigene Wohnung zurückzog, fand er, wie sie seiner harrte und in dem Ausdruck ihres Gesichtes das alte hübsche Furchen der Stirne stark hervortrat.

»Wir sind diesen Abend recht gedankenvoll«, sagte Darnay, seinen Arm um sie schlingend.

»Ja, mein lieber Charles«, versetzte sie, indem sie ihre Hände auf seine Brust legte und einen fragenden Blick auf ihn heftete, »wir sind diesen Abend etwas gedankenvoll, weil wir etwas auf dem Herzen haben.«

»Was wäre das, Lucie?«

»Willst du mir versprechen, nicht mit weiteren Fragen in mich zu dringen, wenn ich dich um etwas bitte?«

»Ob ich’s will! Was werde ich nicht meiner Geliebten versprechen?«

Und er streifte mit der einen Hand die goldenen Locken von der Wange zurück und legte die andere auf das Herz, das für ihn schlug.

»Ich denke, Charles, der arme Mr. Carton verdient mehr Rücksicht und Achtung, als du heute abend gegen ihn an den Tag gelegt hast.«

»Wirklich, mein Herz? Und warum?«

»Das ist es eben, was du mich nicht fragen sollst. Aber ich denke ja ich weiß, daß es so ist.«

»Wenn du es weißt, so ist es genug. Und was verlangst du von mir, meine Liebe?«

»Ich möchte dich bitten, mein Teurer, stets edelmütig gegen ihn zu sein und, wenn er abwesend ist, seine Fehler mit Milde zu beurteilen. Ich möchte dich bitten zu glauben, daß er ein Herz hat, welches er allerdings nur sehr, sehr selten enthüllt, aber ein Herz, in dem er tiefe Wunden trägt. Mein Lieber, ich habe es bluten sehen.«

»Es ist mir ein peinlicher Gedanke«, sagte Charles Darnay erstaunt, »wenn ich ihm unrecht getan habe. Ich hätte dies nie von ihm geglaubt.«

»Mein teurer Gatte, es ist so. Leider wird er nicht mehr zu bessern sein, und ich gebe kaum der Hoffnung Raum, daß sein Charakter und seine Verhältnisse jetzt noch eine Umkehr gestatten; aber ich bin überzeugt, daß etwas Gutes in ihm liegt und daß er noch edler, sogar hochherziger Handlungen fähig ist.«

Sie nahm sich in der Reinheit ihres Glaubens an diesen verlorenen Menschen so schön aus, daß ihr Gatte sie hätte stundenlang ansehen mögen.

»Und, o mein teurer Charles«, drängte sie, indem sie sich inniger an ihn schmiegte, den Kopf an seine Brust legte und die Augen zu den seinigen aufschlug, »vergiß nicht, daß wir leicht stark sein können in unserem Glück; er aber ist schwach in seinem Elend.«

Diese Bitte ging zu Herzen.

»Ich will es nicht vergessen, meine Liebe. Ich will dessen eingedenk sein, solang ich lebe.«

Er beugte sich über das goldlockige Haupt, drückte auf die rosigen Lippen die seinigen und umschlang sie mit seinen Armen. Wenn damals ein verirrter Wanderer, der durch die finsteren Straßen schritt, ihre unschuldige Enthüllung hätte hören und mit ansehen können, wie ihr Gatte den Tau des Mitleids von den holden, liebestrahlenden blauen Augen wegküßte, so würde er wohl, und vielleicht nicht bloß dieses erstemal, in die Nacht hinausgerufen haben:

»Gott segne sie für ihr zartes Erbarmen!«

Einundzwanzigstes Kapitel. Widerhallende Fußtritte.


Einundzwanzigstes Kapitel. Widerhallende Fußtritte.

Wie bereits bemerkt wurde, war die Ecke, an der der Doktor wohnte, eine wunderbare Ecke für Echos. Stets emsig bemüht, den goldenen Faden fortzuspinnen, der ihren Gatten, ihren Vater, sie selbst und ihre alte Beschützerin und Gefährtin zu einem Leben voll stillen Glückes verband, saß Lucie in dem stillen Hause an der ruhigen, dem Echo so zugänglichen Ecke und lauschte auf die widerhallenden Fußtritte.

Obschon sie eine vollkommen glückliche junge Frau war, gab es doch anfangs Zeiten, in denen die Arbeit langsam ihren Händen entsank und ihr Auge sich trübte. Denn in den Widerhallen klang etwas es war nur leicht, fernab und kaum vernehmlich; aber es regte doch ihr Herz sehr auf. Ein Schwanken zwischen Hoffen und Zweifel ein Hoffen auf eine Liebe, die ihr zurzeit unbekannt war, und der Zweifel, ob sie auf Erden bleiben werde, um sich dieser neuen Wonne zu erfreuen, machte ihr oft zu schaffen. Unter den Widerhallen erhob sich dann der Ton von Fußtritten an ihrem eigenen frühen Grabe, erhoben sich Gedanken an den Gatten, den sie trostlos und in bitterer Trauer um sie zurücklassen mußte; sie kamen in Wellenbewegungen auf sie zu, um sich an ihr zu brechen.

Diese Zeit entschwand, und die kleine Lucie lag an ihrem Herzen. Nun mischte sich unter die näher kommenden Echos der Tritt winziger Füßchen und kindliches Geplapper. Mochten die lauteren Halle sich hervordrängen, wie sie wollten, die junge Mutter an der Wiege hatte nur ein Ohr für diese. Sie kamen, und das schattige Haus wurde sonnig unter dem Lachen des Kindes, und der göttliche Kinderfreund, dem sie dasselbe in ihren Ängsten empfohlen hatte, schien wie vor alters das junge Wesen auf den Arm zu nehmen, so daß sie eine heilige Lust darüber empfand.

Immer eifrig an dem goldenen Faden beschäftigt, der sie alle zusammenhielt, und den Dienst ihres glücklichen Einflusses unbemerkt überall einflechtend in das Gewebe ihres gemeinsamen Lebens, hörte Lucie in den Echos der Jahre nur freundliche und beruhigende Laute. Der Tritt ihres Gatten klang darin stark und glückverkündend, der ihres Vaters fest und gleichmäßig. Und siehe, auch Miß Proß in ihrem Korsettgerüst weckte das Echo wie ein ungebärdiger Zelter unter der Peitsche, der neben der Platane im Garten schnaubte und die Erde stampfte.

Selbst wenn Töne des Leides sich unter die anderen mischten, so waren sie nicht hart oder grausam. Sogar als goldiges Haar, dem ihrigen gleich, auf einem Kissen lag und eine Glorie bildete um das abgezehrte Gesicht eines Knäbchens, das da mit einem strahlenden Lächeln sagte: »Lieber Papa und Mama, es tut mir leid, euch beide und mein hübsches Schwesterlein zu verlassen; aber ich bin gerufen und muß gehen« sogar damals, als die junge Seele sich den sorglichen Händen, denen sie vertraut gewesen, entzog, waren es nicht lauter Schmerzenstränen, die die Wange der Mutter befeuchteten. Lasset sie zu mir kommen und wehret ihnen nicht! Sie sehen das Angesicht meines Vaters. Oh, Vater beseligende Worte!«

So mengte sich das Rauschen eines Engelflügels in die anderen Widerhalle, die nicht mehr ausschließlich der Erde angehörten, sondern auch einen Hauch vom Himmel in sich aufgenommen hatten. Das Seufzen der Winde, die über ein kleines Grab im Garten wehten, trat gleichfalls dazu, und Lucie hörte beides deutlich wie ein leises Geflüster, wie das Atmen einer an dem sandigen Gestade schlafenden sommerlichen See, während die kleine Lucie, die in komischem Eifer ihre Morgenaufgabe lernte oder neben dem Schemel ihrer Mutter eine Puppe ankleidete, in den Zungen der beiden Städte plauderte, die in ihr Leben verwoben waren.

Die Echos bezogen sich nur selten auf die wirklichen Tritte Sydney Cartons. Im höchsten Fall ein Halbdutzendmal des Jahres machte er von seinem Privilegium, uneingeladen kommen zu dürfen, Gebrauch; und dann verlebte er den Abend unter ihnen, wie er früher oft getan hatte. Wenn er erschien, war er nie vom Wein erhitzt. Und noch einen anderen Umstand, von dem seit Menschenaltern alle wahren Echos geflüstert haben, brachten die lispelnden Widerhalle mit ihm in Verbindung.

Nie hat ein Mann wahrhaft ein Weib geliebt, sie verloren und der Frau und Mutter, wenn er sie sah, eine reine und unveränderliche Anhänglichkeit bewahrt, ohne daß von ihren Kindern eine eigentümliche Teilnahme, ein instinktartiges Gefühl des Mitleids für ihn an den Tag gelegt worden wäre. Welche zarten, geheimen Gefühle in einem solchen Falle berührt werden, erzählt kein Echo. Aber die Sache ist einmal so und verhielt sich hier in derselben Weise. Carton war der erste Fremde, dem die kleine Lucie ihre runden Ärmchen entgegenbreitete, und er behielt sein Plätzchen bei, als sie größer wurde. Auch das Knäblein hatte fast noch im letzten Augenblick von ihm gesprochen. »Der arme Carton! Küss ihn für mich!«

Mr. Stryver schuftete sich durch das Rechtsgeschäft wie ein mächtiges Dampfschiff durch trübes Wasser und zog seinen nützlichen Freund als ein Schleppboot in seinem Kielwasser nach. Da ein so begünstigtes Fahrzeuglein gewöhnlich arg umhergestoßen wird und sich meist unter Wasser befindet, so fehlte es auch Sydney nicht an entsprechender Überschwemmung. Aber gleichgültig und von den Banden der Gewohnheit umstrickt, die mächtiger auf ihn wirkten als irgendein spornendes Gefühl seiner Verlassenheit und Herabwürdigung, fand er sich in seine Lebensweise. Er dachte ebensowenig daran, sich aus seiner Schakalstellung erheben zu wollen, wie man von einem wirklichen Schakal annehmen kann, er trage sich mit der stolzen Absicht, selbst ein Löwe zu werden. Stryver war reich; er hatte eine noch blühende Witwe mit einem schönen Vermögen und drei Buben geheiratet, an denen sich jedenfalls nichts Glänzendes bemerken ließ als das glattgestrichene Haar auf ihren Knödelköpfen.

Diese drei jungen Gentlemen hatte Mr. Stryver, der aus jeder Pore Gönnerschaft der allerwiderlichsten Art schwitzte, wie ebenso viele Schafe vor sich her nach der stillen Ecke in Soho getrieben und Lucies Gatten mit den zarten Worten als Schüler angeboten: »Holla, da bring‘ ich drei Stücke Käsbrot zu Eurem ehelichen Picknick, Darnay.« Ob der höflichen Zurückweisung dieser Zugabe zum Diner war Mr. Stryver vor Entrüstung so aufgeschwollen, daß er später von dem Umstande eine stetige Nutzanwendung auf die Erziehung der gedachten jungen Gentlemen machte, indem er sie anwies, sich vor dem Bettelstolz, wie ihn dieses Schulmeisterlein zur Schau stelle, in acht zu nehmen. Er pflegte auch, wenn er bei seinem Rotwein saß, gegen Mrs. Stryver über die Kunstgriffe, die Mrs. Darnay früher in Anwendung brachte, um ihn zu »fangen«, und über den Diamantenschliff seiner eigenen Schlauheit zu deklamieren, die ihn vor den ihm gelegten Schlingen bewahrte. Einige seiner guten Freunde vom Kingsbench, die gelegentlich sich seinen Roten schmecken ließen und die Lüge mit anhörten, entschuldigten diese durch die Annahme, er habe sie so oft erzählt, daß er jetzt selbst daran glaube, obschon dies eigentlich nur eine so unverbesserliche Erschwerung eines ursprünglichen Vergehens wäre, daß man gut daran tun würde, einen derartigen Übeltäter nach einem gehörig verborgenen Plätzchen zu nehmen, um ihn abseits aufzuhängen.

Solche Stimmen machten sich unter den Echos bemerklich, auf die Lucie bisweilen gedankenvoll, bisweilen belustigt und lachend in ihrer widerhallenden Ecke lauschte, bis ihr Töchterlein sechs Jahre alt war. Wie nahe ihrem Herzen die Widerhalle von den Tritten ihres Kindes, ihres teuren, stets tätigen, geisteskräftigen Vaters und ihres geliebten Gatten gingen, brauchen wir nicht erst zu sagen ebensowenig, wie das leichteste Echo ihres gemeinsamen Haushalts, der unter ihrer weisen, das Zierliche wahrenden Wirtlichkeit sogar reicher erschien als bei einer verschwenderischen Ausstattung, Musik für ihr Ohr war. Besonders süß klangen ihr aber die Widerhalle, die ihr die Worte ihres Vaters zutrugen, daß er sie seit ihrer Verheiratung, wenn es möglich sei, sogar noch liebevoller gegen ihn finde als vorher, oder von ihrem Gatten ihr die Versicherung gaben, er bemerke nicht, daß irgendeine Sorge oder Pflicht ihrer Liebe zu ihm und ihrer treuen Handreichung Abtrag tue, sondern müsse vielmehr fragen, worin doch der geheime Zauber liege, daß sie einander so alles in allem sein können, als wären sie in eins verschmolzen, ohne daß es je den Anschein gewinne, es sei zuviel Geschäft vorhanden oder müsse etwas übereilt werden.

Es gab aber auch andere Echos, die während dieser ganzen Zeit aus der Ferne drohend sich vernehmlich machten. Und um die Zeit von Lucies sechstem Geburtstag waren sie allmählich in einen schrecklichen Ton übergegangen, als kämpfe in Frankreich ein mächtiger Sturm mit einer furchtbar hochgehenden See.

Gegen die Mitte des Juli, im Jahre Siebzehnhundertneunundachtzig, kam eines Abends Mr. Lorry noch spät von Tellsons her und setzte sich neben Lucie und Charles im Dunkeln an das Fenster. Es war ein drückend schwüler Abend, und alle drei gedachten jenes Sonntagabends, als sie von der nämlichen Stelle aus den Blitzen zugesehen hatten.

»Ich glaubte schon«, sagte Mr. Lorry, seine braune Perücke zurückschiebend, »ich werde die Nacht über bei Tellsons bleiben müssen. Wir haben den ganzen Tag so alle Hände voll zu tun gehabt, daß wir nicht wußten, wo wir anfangen und wo wir enden sollten. In Paris ist eine solche Unruhe, daß man uns vor lauter Vertrauen fast niederrennt. Unsere Kunden über dem Wasser drüben scheinen uns ihre Gelder nicht schnell genug zusenden zu können. Es ist eine wahre Manie unter ihnen, ihr Eigentum nach England zu schicken.«

»Das sieht schlimm aus«, versetzte Darnay.

»Schlimm, sagt Ihr, mein lieber Darnay? Ja, aber wir wissen nicht, ob Grund dafür vorhanden ist. Die Leute sind oft so unvernünftig. Wir bei Tellsons werden zum Teil alt, und man sollte uns nicht ohne genügende Veranlassung aus unserem gewohnten Gange bringen.«

»Ihr wißt ja«, sagte Darnay, »wie düster und drohend der Himmel ist.«

»Das weiß ich freilich«, pflichtete Mr. Lorry bei, indem er sich zu überreden suchte, daß er wirklich ärgerlich und brummig sei, »aber ich bin einmal entschlossen, nach der Plackerei des langen Tages verdrießlich zu sein. Wo ist Manette?«

»Hier«, sagte der Doktor, der eben in das dunkle Zimmer getreten war.

»Freut mich, daß ich Euch zu Hause treffe; denn das Gedränge und das Unkengeschrei, von dem ich den ganzen lieben Tag umgeben war, hat mich mehr, als sich der Mühe verlohnt, angegriffen. Ihr wollt doch hoffentlich nicht ausgehen?«

»Nein, ich bin bereit, mit Euch ein Brettspiel zu spielen, wenn Ihr wollt«, sagte der Doktor.

»Wenn ich aufrichtig sprechen soll, heut ist mir’s nicht darum zu tun. Ich bin nicht in der Stimmung, heute abend Euren Gegenpart zu machen. Ist das Teebrett noch da, Lucie? Ich seh‘ es nicht.«

»Natürlich. Man hat auf Euch gewartet.«

»Danke, meine Liebe. Ist mein Engelchen schon zu Bett gebracht?«

»Schläft schon gesund.«

»Recht so; alles gut und wohlbehalten. Gott sei Dank, ich weiß wahrhaftig nicht, warum hier nicht alles gut und wohlbehalten sein sollte. Aber man hat mir den ganzen Tag so zugesetzt, und ich bin nicht mehr so jung, wie ich war. Danke schön. Jetzt kommt und nehmt Euren Platz im Kreise; wir wollen ruhig zusammensitzen und auf die Echos lauschen, über die Ihr Eure eigene Theorie habt.«

»Keine Theorie, nur Phantasie.«

»Also schön, Phantasie also, mein weises Lämmlein«, sagte Mr. Lorry, ihre Hand streichelnd. »Sie sind sehr zahlreich und sehr laut, nicht wahr? Wir wollen hören.«

Ungestüme, tolle und gefährliche Fußtritte, die sich gewaltsam in das Leben anderer drängen Fußtritte, die nicht leicht wieder zu verwischen sind, wenn sie einmal ihre roten Spuren zeigen, toben weit weg in Saint Antoine, während der kleine Kreis zu London im dunkeln Stübchen am Fenster sitzt.

Saint Antoine war an jenem Morgen eine unabsehbare schwarze Masse hin und her wogender Vogelscheuchen gewesen, und über den Wellen von Köpfen sah man Stahlklingen und Bajonette in der Sonne blitzen und blinken. Ein furchtbares Getöse brüllte aus der Kehle von Saint Antoine, und ein Wald von nackten Armen in der Luft glich dürren Baumzweigen im Winterwinde: die Finger hielten krampfhaft jede Waffe oder jedes als Waffe brauchbare Gerät umkrallt, das aus der Tiefe unten, gleichviel wie weit weg, sich in die Höhe gearbeitet hatte.

Wer sie austeilte, woher sie kamen, wo es den Anfang nahm, durch welche Vermittlung sie schockweise zumal, fast mit Blitzesschnelle über den Häuptern der Menge so wirr zitterten und umherzuckten, darüber konnte der Haufen selbst keine Auskunft geben; aber Musketen waren verteilt worden, Patronentaschen, Pulver, Kugeln, eiserne und hölzerne Stangen, Messer, Äxte, Piken, kurz, was der Scharfsinn der Verzweiflung in eine Wehr umzuwandeln vermochte. Männer, die nichts anderes auftreiben konnten, rissen sich die Hände blutig an den Steinen und Ziegeln, die sie aus den Mauern brachen. Jeder Puls, jedes Herz in Saint Antoine verriet eine fieberhafte Spannung und loderte in wilder Fieberhitze. Jedes lebende Wesen achtete sein Leben gering und war im Wahnsinn der Leidenschaft bereit, es zu opfern.

Wie ein Wirbel kochenden Wassers einen Mittelpunkt hat, so umkreiste dieses tobende Gewühl Defarges Weinschenke, und jeder menschliche Tropfen in dem Kessel bekundete das Streben, sich nach der Stelle hintreiben zu lassen, wo Defarge selbst, bereits von Schweiß und Pulver geschwärzt, Befehle ausgab, Waffen verteilte, den einen zurückstieß, den andern vorwärtszog, dort einem die Wehr abnahm, um sie einem andern zu geben, und im wildesten Gewühl des Aufruhrs sich abarbeitete.

»Halt dich in meiner Nähe, Jacques Drei«, rief Defarge, »und ihr, Jacques Eins und Zwei, trennt euch und tretet an die Spitze von so vielen dieser Patrioten, wie sich euch anschließen wollen. Wo ist mein Weib?«

»Hier bin ich«, entgegnete Madame so ruhig wie immer, obschon sie diesmal nicht strickte. Ihre entschlossene Rechte hatte, statt der gewöhnlichen leichteren Beschäftigung, zu einer Axt gegriffen. Auch trug sie eine Pistole und ein Schlachtmesser im Gürtel.

»Wohin willst du, Frau?«

»Vorderhand mit dir«, versetzte Madame. »Gelegentlich wirst du mich an der Spitze der Weiber sehen.«

»So kommt!« rief Defarge mit dröhnender Stimme. »Patrioten und Freunde, wir sind bereit! Die Bastille!«

Mit einem Gebrüll, als habe aller Atem Frankreichs sich in diesem verabscheuten Worte zusammengedrängt, erhob sich die lebende See Woge an Woge und überflutete die Stadt nach dieser Richtung hin. Lärmglocken läuteten, Trommeln wirbelten, die See tobte und donnerte an ihr neues Gestade. Der Angriff begann.

Tiefe Gräben, eine doppelte Zugbrücke, dicke Steinmauern, acht feste Türme, Kanonen, Musketen, Feuer und Rauch. Durch Feuer und Rauch, im Feuer und Rauch denn die Masse warf ihn hinauf gegen eine Kanone, und im Nu war er der Kanonier arbeitete Defarge von der Weinschenke zwei heiße Stunden wie ein mannhafter Krieger.

Ein tiefer Graben, eine einfache Zugbrücke, dickes Steingemäuer, acht starke Türme, Kanonen, Musketen, Pulver und Rauch. Eine Zugbrücke niedergelassen! »Strengt euch an, ihr Kameraden alle, strengt euch an. Drauf, Jacques Eins, Jacques Zwei, Jacques Eintausend, Jacques Zweitausend, Jacques Fünfundzwanzigtausend; im Namen aller Engel oder aller Teufel, wie ihr wollt, ans Werk!« So rief Defarge von der Weinschenke, noch immer bei seiner Kanone stehend, die längst heiß geworden war.

»Mir nach, ihr Weiber!« rief Madame Defarge. »Wie, können wir nicht so gut totschlagen wie die Männer, wenn der Platz genommen ist?«

Und ihr nach strömten mit schrillem, durstigem Geschrei Schwärme von Weibern in verschiedener Bewaffnung, von Hunger und Rachsucht getrieben.

Kanonen, Musketen, Feuer und Rauch. Aber noch immer der tiefe Graben, die dicken Mauern und die acht festen Türme. Kleine Verschiebungen in dem wogenden Meere, veranlaßt durch das Stürzen der Verwundeten. Blitzende Waffen, hellodernde Fackeln, von nassem Stroh dampfende Lastwagen, unverdrossene Arbeit in allen Richtungen an den benachbarten Barrikaden, Geschrei, Musketensalven, Flüche, Tapferkeit sondergleichen, krachendes grobes Geschütz und Rottenfeuer, und das wütende Brüllen der lebendigen See. Aber noch der tiefe Graben, die einzelne Zugbrücke, das dicke Gemäuer und die acht festen Türme; Defarge von der Weinschenke noch immer an seiner Kanone, und die Kanone doppelt heiß nach einem Dienst von vier heißen Stunden.

Eine weiße Fahne aus dem Innern der Festung und Unterhandlung man bemerkte dies nur undeutlich im tobenden Sturme, und von Hören war gar nicht die Rede. Plötzlich hob sich die See unermeßlich weiter und höher und fegte Defarge von der Weinschenke über die niedergelassene Zugbrücke hin, an dem dicken steinernen Außengemäuer vorbei und hinein zwischen die übergebenen acht festen Türme.

So unwiderstehlich war die Gewalt des Meeres, das ihn dahin trug, daß er, als kämpfe er mit einer Brandung der Südsee, nicht zu atmen und den Kopf umzuwenden vermochte, bis er im äußeren Hofe der Bastille gelandet war. Hier hielt er sich an eine Mauerecke und versuchte umherzuschauen. Jacques Drei war in seiner Nähe. Madame Defarge, noch immer an der Spitze von einigen Weibern, befand sich, das Messer schwingend, weiter entfernt, gleichfalls im Innern. Überall war Tumult, Jubel, betäubende und tolle Verwirrung, haarsträubender Lärm und wütendes Gebärdenspiel.

»Die Gefangenen!«

»Die Listen!«

»Die geheimen Kerker!«

»Die Folterwerkzeuge!«

»Die Gefangenen!«

Unter all diesen Rufen und zehntausend andern, die man nicht verstand, wurde der, der »die Gefangenen« betraf, vorzugsweise aufgegriffen von der See, die hineinrauschte, als wäre die Menschenmenge so endlos wie Zeit und Raum. Als die vordersten Wogen vorbeirollten, die Gefängnisbeamten mit sich führten und sie mit augenblicklichem Tode bedrohten, wenn sie nicht auch über den verborgensten Winkel Aufschluß gaben, faßte Defarge mit starker Faust einen dieser Männer, einen Graukopf, der eine brennende Fackel in der Hand trug, an der Brust, riß ihn beiseite und brachte ihn zwischen sich und die Mauer.

»Zeigt mir den Nordturm!« sagte Defarge. »Rasch!«

»Recht gern«, versetzte der Mann, »wenn Ihr mit mir kommen wollt. Aber es ist niemand dort.«

»Was hat Einhundertundfünf, Nordturm, zu bedeuten?« fragte Defarge. »Nun, wird’s bald?«

»Was es zu bedeuten hat, Herr?«

»Ist’s ein Gefangener, eine Gefängnisnummer, oder will es so viel besagen, daß ich Euch den Schädel einschlagen soll?«

»Nieder mit ihm!« krächzte Jacques Drei, der gleichfalls herangekommen war.

»Monsieur, es ist eine Zelle.«

»Zeigt sie mir.«

»So folgt mir.«

Jacques Drei mit seiner gewöhnlichen Hungermiene, den es augenscheinlich verdroß, daß das Zwiegespräch nicht, wie es den Anschein gehabt, mit einem Blutvergießen endete, faßte Defarge am Arme, als dieser den Schließer festhielt. Sie hatten während des kurzen Gespräches die Köpfe ganz nahe zusammenstecken müssen, um sich verstehen zu können; so furchtbar war das Getöse des lebenden Meeres bei seinem Eindringen in die Festung und bei seinem Überfluten der Höfe, Gänge und Treppen. Und auch draußen schlug es gegen die Mauern mit heiserem Gebrüll, aus dem hin und wieder tumultuarische Einzelrufe wie weißer Gischt gen Himmel spritzten.

Durch finstere Gewölbe, die nie das Licht der Sonne erleuchtet hatte, vorbei an schrecklichen Türen zu dunklen Löchern und Keuchen, ausgetretene Treppenfluchten hinab und wieder aufwärts auf steilen, verwitterten Stein- oder Ziegeltreppen, die man mit trockengelegten Wasserfallbetten vergleichen konnte, eilten die drei aneinander geklammerten Männer, Defarge, der Schließer und Jacques Drei, dahin, so schnell es nur gehen mochte. Hin und wieder, namentlich anfangs, faßte sie die Flut und riß sie mit fort. Als es aber mit dem Abwärtssteigen ein Ende hatte und das Klettern im Turme begann, waren sie allein. Durch die dicken Mauern und Gewölbe vernahmen sie den Sturm, der in und außerhalb der Feste wütete, nur noch wie ein dumpfes Getöse, als seien sie durch den Lärm, aus dem sie kamen, taubhörig geworden.

Der Schließer machte vor einer niederen Tür halt, steckte einen Schlüssel in ein klirrendes Schloß, öffnete langsam und sagte, als sie mit gebeugten Köpfen hineingingen:

»Hundertundfünf, Nordturm.«

Hoch in der Wand befand sich eine kleine, stark vergitterte Fensteröffnung ohne Scheiben und davor ein steinerner Schirm, so daß man den Himmel nur sehen konnte, wenn man sich tief niederduckte und aufwärtsschaute. Ein kleiner, mit schweren Querstangen geschützter Kamin ragte um ein paar Fuß herein. Auf dem Herde sah man ein Häufchen alter, federiger Holzasche. Es war noch ein Schemel, ein Tisch und ein Strohbett vorhanden. In einer der vier geschwärzten Wände steckte ein rostiger eiserner Ring.

»Leuchtet mit der Fackel langsam an den Wänden herum, daß ich sie sehen kann«, sagte Defarge zum Schließer.

Der Mann gehorchte, und Defarges Augen folgten aufmerksam dem Lichte.

»Halt! Schau her, Jacques.«

»A.M.«!« krächzte Jacques Drei lesend.

»Alexander Manette«, sagte ihm Defarge ins Ohr, während er mit dem vom Pulver geschwärzten und verbrannten Zeigefinger den Buchstaben folgte. »Und hier steht geschrieben: »ein armer Arzt«. Ohne Zweifel war er es auch, der hier in den Stein einen Kalender einkritzelte. Was hast du in der Hand? Ein Hebeisen? Gib es mir!«

Er hatte noch den Zündstock seiner Kanone in der Hand; nachdem er diesen rasch gegen das andere Werkzeug ausgewechselt, machte er sich an den wurmstichigen Tisch und Schemel und schlug sie mit ein paar Streichen in Stücke.

»Halt das Licht höher!« rief er zornig dem Schließer zu. »Untersuche diese Trümmer sorgfältig, Jacques. Und sieh, da hast du mein Messer«, er warf es ihm hin; »schlitz‘ das Bett auf und untersuche das Stroh. Höher mit dem Licht, du!«

Mit einem drohenden Blick auf den Schließer kletterte er auf den Herd, sah sich im Kamin um, klopfte mit seinem Brecheisen an die Seiten desselben und machte sich dann über das darüber angebrachte eiserne Gitter her. Nach einigen Minuten löste sich stäubend der Mörtel ab, und er wandte sein Gesicht beiseite, um den niederfallenden Stücken auszuweichen. Dann tastete er mit vorsichtiger Hand in den Kamin, in der alten Holzasche und in einem Spalt des Kamins, in dem sein Werkzeug sich verfangen oder den es gerissen hatte, umher.

»Nichts in dem Holz und nichts in dem Stroh, Jacques?«

»Nichts.«

»So wollen wir’s mitten in die Zelle auf einen Haufen schaffen. Gut. Jetzt zünd‘ an, du!«

Der Schließer steckte das Holzhäuflein in Brand, das bald hoch und heiß aufloderte. Dann schlüpften sie wieder gebückt durch die niedere Türwölbung, ließen hinter sich brennen und kehrten nach dem Hofe zurück. Auf dem Wege dahin schien sich allmählich ihr Gehör wieder zu schärfen, bis sie sich aufs neue in dem tobenden Wellenspiele befanden.

Dort kochte und brandete es, um Defarge zu suchen. Saint Antoine wollte durchaus seinen Weinwirt an der Spitze der Wache über den Gouverneur sehen, der die Bastille verteidigt und auf das Volk geschossen hatte. Es stand sonst zu befürchten, derselbe möchte nicht an das Stadthaus zum Gericht abgeliefert werden, sondern er könnte entkommen und das Blut des Volkes, das nach so vielen Jahren der Mißachtung plötzlich einigen Wert gewann, ungerächt bleiben.

In dem heulenden Knäuel von Kampf und Leidenschaft um den verabscheuten Offizier her, der sich durch seinen grauen Rock und die roten Dekorationen auszeichnete, befand sich nur eine einzige feststehende Figur, und zwar die eines Weibes. »Seht, da ist mein Mann!« rief sie, auf ihn hindeutend. »Da ist Defarge!« Sie trat auf den schrecklichen alten Offizier zu und hielt sich beharrlich an seiner Seite, während Defarge und die übrigen ihn durch die Straßen schleppten. Sie wich nicht von ihm, als er in die Nähe seines Bestimmungsortes kam und ein schwerer Regen von Hieben und Stichen gegen ihn losbrach; und sie war ihm, als er endlich tot niedersank, so nah, daß sie, die nun plötzlich Leben zeigte, ihren Fuß auf seinen Nacken setzen und ihm mit dem lange bereit gehaltenen Schlachtmesser den Kopf vom Rumpf trennen konnte.

Die Stunde war da, in der Saint Antoine seinen schrecklichen Gedanken, statt der Laternen Menschen emporzuziehen, auszuführen gedachte, um zu zeigen, was er sein und tun konnte. Saint Antoines Blut wallte auf, während da der Tyrannei und des Herrschens mit der eisernen Hand drunten war drunten auf den Stufen des Stadthauses, wo der Leichnam des Gouverneurs lag – drunten an der Schuhsohle der Madame Defarge, als sie auf den Körper trat, um für die Verstümmelung festen Halt zu gewinnen. »Herunter mit der Laterne dort!« rief Saint Antoine, der mit blutgierigen Blicken sich nach neuen Todeswerkzeugen umsah. »Da ist einer von seinen Soldaten; er soll Wache bei ihm halten!« Der Posten ward in die Luft aufgepflanzt, und die See rauschte weiter.

Eine See schwarzen, drohenden Wassers, die zerstörend Welle gegen Welle schleuderte, unergründet in ihren Tiefen und unerkannt in ihrer Kraft! Eine erbarmenlose See wild hin und her bewegter Gestalten, rachedürstender Stimmen und in dem Glutofen der Leiden so sehr gehärteter Gesichter, daß der Finger des Mitleids keinen Eindruck mehr auf sie machen konnte!

Aber in dem Meer der Gesichter, auf denen Trotz und Wut einen so wild lebendigen Ausdruck gewonnen, gab es zwei Gruppen, je sieben an der Zahl, die so sehr gegen die übrigen abstachen, daß nie eine rollende See denkwürdigere Schiffstrümmer vor sich hergetrieben hatte. Sieben Gesichter von Gefangenen, plötzlich durch den Sturm befreit, der ihre Gräber zerbrochen, wurden über den Häuptern der Menge dahingetragen. Sie waren verschüchtert, verwirrt, erstaunt und verwundert, als sei der Jüngste Tag gekommen und als gehe der gräßliche Jubel um sie her von den Seelen der Verdammten aus. Dann gab es noch sieben andere Gesichter sie wurden noch höher getragen und waren die Gesichter von Toten, deren gesenkte Lider und halb sichtbare Augen des Jüngsten Tages harrten. Unbewegliche Gesichter, aber doch mit einem Ausdrucke von Spannung darauf, der sich nicht vernichten ließ; Gesichter gewissermaßen in einer schrecklichen Ruhe, als wollten sie bald die gesenkten Augen wieder erheben und mit blutlosen Lippen Zeugnis ablegen: »Das hast du getan!«

Sieben befreite Gefangene, sieben blutige Köpfe auf Piken, die Schlüssel zu dem fluchbeladenen Fort mit seinen acht festen Türmen, einige aufgefundene Papiere und andere Denkwürdigkeiten von Gefangenen aus alter Zeit, denen die Herzen längst im Tode gebrochen waren dies und Ähnliches mischte sich in den lauten Widerhall der Fußtritte, als Saint Antoine in der Mitte des Juli Eintausendsiebenhundertneunundachtzig durch die Straßen von Paris zog. O Himmel, zerstreue Lucies Phantasien und halte diese Fußtritte fern von ihrem Leben! Denn sie sind ungestüm, toll und gefährlich und lassen sich so lange nach der Zeit, da das Faß vor der Tür von Defarges Weinschenke barst, nicht leicht wieder säubern, wenn sie einmal rot geworden sind.

Zweiundzwanzigstes Kapitel. Immer höhere See.


Zweiundzwanzigstes Kapitel. Immer höhere See.

Der ausgehungerte Saint Antoine hatte erst eine Jubelwoche durchgemacht, in der er seinen Bissen hartes bitteres Brot, so gut er konnte, mit dem Hochgenuß brüderlicher Umarmungen und Glückwünsche würzte, als Madame Defarge wieder wie gewöhnlich am Zahltisch vor ihren Kunden thronte. Sie trug keine Rose in ihrem Kopfputz, denn die große Brüderschaft der Spione war schon in dieser einen kurzen Woche so verschüchtert worden, daß sie es nicht wagte, sich der Gnade des Heiligen anzuvertrauen. Die Laternen in der Straße hatten einen gar zu bedeutsamen, elastischen Schwung.

Madame Defarge saß mit verschlungenen Armen in der heißen Morgensonne und betrachtete die Weinstube und die Straße. Da wie dort lungerten einige Gruppen schmutziger, erbärmlich aussehender Müßiggänger, jetzt augenscheinlich im Bewußtsein einer Gewalt, die sie ihrem Elend verdankten. Die zerlumpteste Nachtmütze, die der ungewaschenste Kopf schräg aufsitzen hatte, schien zu sagen: »Ich weiß, wie schwer es mir, dem Bedecker dieses, geworden ist, das Leben in mir zu erhalten: aber weißt du, wie es mir, dem Bedecker dieses, jetzt ein so Leichtes ist, das Leben in dir zu vernichten?« Jeder magere nackte Arm, der vorher ohne Arbeit war, hatte jetzt hinreichend Beschäftigung, wenn er nur zuschlagen wollte. Die Finger der strickenden Weiber waren boshaft lüstern geworden, seit sie wußten, daß sie zerreißen konnten. Saint Antoine sah anders als früher; das Bild, an dem seit Jahrhunderten gehämmert worden war, hatte durch die beendigenden Schläge der letzten Zeit mächtig an Ausdruck gewonnen.

Madame Defarge stand beobachtend da, und in ihren Zügen las man unterdrückten Beifall, wie sich dies von der Führerin der Weiber von Saint Antoine erwarten ließ. Eine aus ihrer Schar saß ihr strickend zur Seite. Diese, das kleine, gedrungene Weib eines verhungerten Krämers und Mutter von zwei Kindern, hatte sich als ihr Leutnant bereits den Ehrennamen »die Rache« erworben.

»Hör‘!« sagte die Rache. »Was ist das? Wer kommt?«

Als ob eine von der äußersten Grenze des Saint-Antoine-Viertelbis zur Tür des Weinhauses gelegte Zündschnur plötzlich angezündet worden sei, wälzte sich ein rasch weiter greifendes Murmeln heran.

»Es ist Defarge«, sagte Madame. »Stille, Patriotinnen!«

Defarge kam, die rote Mütze in der Hand, atemlos heran und sah sich um.

»Aufgemerkt überall da!« sagte Madame. »Hört ihn!«

Defarge blieb keuchend im Vordergrunde der gierigen Augen und der weit offenen Mäuler stehen, die sich vor der Tür draußen gesammelt hatten, während sie in der Weinstube aufgesprungen waren.

»Rede, Mann. Was gibt es?«

»Neuigkeiten aus der andern Welt.«

»Wie das?« versetzte Madame verächtlich. »Aus der andern Welt?«

»Erinnert sich jemand hier des alten Foulon, der dem verhungerten Volke zurief, es solle Gras fressen der da starb und zur Hölle fuhr?«

»Jeder!« antwortete es aus allen Kehlen.

»Die Neuigkeiten betreffen ihn. Er ist unter uns.«

»Unter uns?« klang wieder der allgemeine Ruf: »Tot?«

»Nicht tot. Er fürchtete uns so sehr und zwar mit Recht , daß er sich für tot ausgeben und zum Schein ein großartiges Leichenbegängnis halten ließ. Aber man hat ihn auf dem Land draußen versteckt lebend aufgefunden und hierher gebracht. Ich bin Zeuge gewesen, wie man ihn eben gefangen auf dem Stadthause ablieferte, und sagte ihm, daß er uns nicht ohne Grund fürchtete. Sprecht ihr alle hatte er nicht Ursache dazu?«

Wenn es der unglückselige, mehr als siebzigjährige alte Sünder nie zuvor gewußt hätte, so würde ihn der auf diese Frage antwortende gemeinsame Ruf aufs gründlichste belehrt haben.

Dann folgte ein Augenblick tiefer Stille. Defarge und sein Weib sahen einander scharf an. Die Rache beugte sich nieder, und es erscholl der wilde Ton einer hinter dem Zahltische stehenden Trommel, die sie anschlug.

»Patrioten!« rief Defarge mit entschiedener Stimme, »sind wir bereit?«

Im Nu hatte Madame Defarge ihr Messer in dem Gürtel. Die Trommel scholl durch die Straßen, als seien sie und der Trommler herbeigezaubert worden: die Rache rannte unter furchtbarem Gezeter, die Arme wie vierzig Furien zumal über dem Haupte zusammenschlagend, von Haus zu Haus, um die Weiber aufzubieten.

Die Männer waren schrecklich, wie sie in ihrem blutgierigen Zorn zu den Fenstern herausschauten, nach der nächsten besten Waffe griffen und in die Straßen herausstürzten: aber die Weiber boten einen Anblick, der dem Kühnsten das Blut erstarren machen konnte. Von den Geschäften ihrer armen und kahlen Haushaltung, von ihren Kindern und von ihren Alten und Kranken hinweg, die nackt und verhungert auf dem Boden lagen, stürmten sie mit aufgelösten Haaren hinaus und erregten sich gegenseitig durch die wildesten Rufe und Handlungen bis zum Wahnsinn. »Der Schurke Foulon ist gefangen, Schwester! Der alte Foulon gefangen, Mutter! Der elende Foulon gefangen, Tochter!« Dann stürzte ein Dutzend anderer in ihre Mitte, die sich die Brust zerschlugen, das Haar zerrauften und in den Ruf ausbrachen: »Foulon noch am Leben! Foulon, der den verhungerten armen Leuten sagte, sie sollen Gras fressen! Foulon, der meinen armen Vater Gras fressen hieß, als ich ihm kein Brot zu geben hatte! Foulon, der meinem Kinde Gras zu saugen empfahl, als diese Brüste versiegt waren vor Mangel! O Mutter Gottes, dieser Foulon! O Himmel, unsere Leiden! Höre mich, mein totes Kind und mein vor Elend verkommener Vater ich schwöre es auf meinen Knien, auf diesen Steinen, dich zu rächen an Foulon! Männer, Brüder, Jünglinge, wir verlangen das Blut, den Kopf Foulons! Gebt uns das Herz Foulons gebt uns Foulon mit Leib und Seele! Reißt Foulon in Stücke und verscharrt ihn, daß Gras wachse aus seinem Leibe!« Unter solchem Geschrei rannten die Weiber wie toll umher und schlugen auf ihre eigenen Freunde los, bis sie im Übermaß ihrer Leidenschaft ohnmächtig zusammenbrachen und nur die zu ihnen gehörigen Männer sie retten konnten, daß sie nicht unter den Füßen zerstampft wurden.

Gleichwohl ging kein Augenblick verloren; kein Augenblick! Dieser Foulon befand sich auf dem Stadthause und konnte wieder befreit werden. Nie, solange Saint Antoine seiner Leiden und des erfahrenen Unrechts eingedenk war! Bewaffnete Männer und Weiber strömten so schnell aus dem Viertel hinaus und zogen selbst die letzten Reste mit solcher Anziehungskraft nach, daß in einer Viertelstunde außer einigen alten Weibern und winselnden Kindern kein menschliches Wesen mehr in Saint Antoine zu finden war.

Nein. Sie hatten inzwischen den Gerichtssaal, in dem sich der häßliche, boshafte alte Mann befand, gefüllt, und was nicht hineinging, hielt den anstoßenden freien Platz und die benachbarten Straßen besetzt. Die Defarge, Mann und Frau, die Rache und Jacques Drei standen im Gedränge vornan und in nicht großer Entfernung von dem Gehaßten.

»Seht!« rief Madame, mit ihrem Messer nach ihm hinweisend. »Seht den alten Schurken mit Stricken gebunden. Es war gut, daß man ihm ein Bund Heu auf den Rücken schnürte. Ha, ha! Sehr gut. Er soll es jetzt fressen!«

Madame steckte ihr Messer unter den Arm und klatschte mit den Händen wie im Schauspiel.

Die hinter Madame Defarge Stehenden erklärten den weiter rückwärts Befindlichen die Ursache dieser Beifallsäußerung, und so ging die Erklärung von Mund zu Mund, bis weit hinaus in die Straßen, wo jetzt bis an den Saum der Menschenmassen hinaus ein wütendes Klatschen erscholl. So vergingen schleppende zwei oder drei Stunden, und Madame Defarges häufige ungeduldige Kundgebungen über das Zeugengedresche wurden mit wunderbarer Schnelligkeit in die Ferne fortgepflanzt um so schneller, als einige im Klettern wohlgeübte Männer nach den Fenstern hinaufgestiegen waren und, da sie Madame gut kannten, von hier aus zwischen ihr und dem Volke draußen Telegraphendienst leisteten.

Endlich stand die Sonne so hoch, daß ein freundlicher Strahl von ihr unmittelbar das Haupt des alten Gefangenen traf, als wolle sie ihn schirmen oder ihm Hoffnung einflößen. Dies war unerträglich mit anzusehen. Im Nu ging die Schranke wie von Sägmehl und Spreu, die überraschend lange bestanden hatte, in die Winde, und er befand sich in den Händen von Saint Antoine.

Es war schnell bekannt bis ans äußerste Ende der Volksmenge. Defarge hatte über ein Geländer und einen Tisch weggesetzt und den unglücklichen Elenden mit tödlicher Umarmung umschlungen. Madame Defarge, die ihm nachfolgte, machte sich alsbald mit einem der Stricke, die ihn gefesselt hielten, zu schaffen. Die Rache und Jacques Drei hatten sich ihnen noch nicht angeschlossen, und die Männer in den Fenstern waren noch nicht wie Raubvögel auf ihre Beute in die Halle hinuntergestoßen, als schon von der ganzen Stadt her der Ruf zu erschallen schien: »Bringt ihn heraus! Heraus mit ihm an die Laterne!«

Mit dem Kopfe voran, hinab und hinauf über die Treppen des Gebäudes: jetzt auf den Knien, jetzt auf den Beinen und jetzt auf dem Rücken; geschleppt, gezerrt und von Heu- und Strohwischen fast erstickt, die Hunderte von Händen ihm ins Gesicht stießen; zerrissen, zerbeult, blutend und doch ohne Unterlaß flehentlich um Gnade bittend, jetzt in der vollen Beweglichkeit der Todesangst, wenn ein kleiner Raum um ihn her dadurch gebildet wurde, daß die Hinteren die Vorderen zurückzogen, um ihn besser sehen zu können, jetzt wie ein Scheit Holz durch einen Wald von Beinen gezogen so brachte man ihn bis zu der nächsten Straßenecke, wo eine der verhängnisvollen Laternen stand. Madame Defarge ließ ihn los wie etwa die Katze eine Maus und betrachtete ihn still und ruhig, während die anderen sich bereit machten und er sie anflehte. Dabei schrien die Weiber ohne Unterlaß, und die Männer meinten allen Ernstes, man solle ihm so lange Gras in den Mund stopfen, bis er tot sei. Auf einmal ging es mit ihm in die Höhe. Der Strick riß, und sie fingen den Schreienden wieder auf. Zum zweitenmal wieder hinauf; abermals riß der Strick, und der Mann ward aufgefangen. Beim drittenmal war der Strick barmherzig und hielt. Bald nachher ragte sein Kopf auf einer Pike und hatte Gras genug im Munde, um ganz Saint Antoine zu jubelnden Tänzen zu veranlassen.

Doch das schlimme Werk des Tages war noch nicht zu Ende, Das Blut von Saint Antoine hatte sich bei dem Schreien und Tanzen so erhitzt, daß es wieder wild aufkochte, als abends sich die Kunde verbreitete, der Schwiegersohn des Hingeschlachteten, gleichfalls einer von den Feinden und Verächtern des Volkes, komme mit einer Bedeckung nach Paris, unter der sich nur von Kavallerie fünfhundert Mann befänden, Saint Antoine schrieb seine Verbrechen mit flammender Schrift nieder, bemächtigte sich seiner würde ihn aus dem Herzen einer Armee herausgerissen haben, die sich dazu hergab, einen Foulon zu beschützen steckte seinen Kopf und sein Herz auf Spieße und trug die drei Siegeszeichen des Tages in einer Wolfsprozession durch die Straßen.

Erst bei dunkler Nacht kamen die Männer und Weiber zu den brotlosen weinenden Kindern zurück. Nun wurden die ärmlichen Bäckerläden belagert, und sie warteten geduldig, bis die Reihe des Brotkaufens an sie kam. Während sie mit schwachem und leerem Magen harrten, vertrieben sie sich die Zeit damit, daß sie einander umarmten und die Triumphe des Tages in ihrem Geplauder nochmals genossen. Allmählich wurden die Reihen des zerlumpten Volkes kleiner. Ärmliche Lichter begännen in den hohen Fenstern sich zu zeigen, und in den Straßen wurden dürftige Feuer angemacht, an denen die Nachbarn gemeinschaftlich das Nachtessen kochten, das sie in den Häusern verzehrten.

Ein elendes ungenügendes Nachtessen, bei dem von Fleisch oder von einer Soße für ihr grobes Brot keine Rede war. Doch goß geselliges Beisammensein einigen Nährstoff in steinharte Speisen und wußte denselben einige Funken Heiterkeit zu entlocken. Väter und Mütter, die unter den Schlimmsten des Tages gewesen waren, spielten sanft mit ihren abgezehrten Kindern, und Liebende liebten und hofften trotz einer Welt wie die vor ihnen und um sie her.

Es war fast Morgen, als Defarges Weinschenke ihre letzten Kunden entließ, und Monsieur Defarge sagte, als er die Tür schloß, in heiserem Ton zu Madame:

»Endlich ist es gekommen, meine Liebe.« »Nun ja«, entgegnete Madame. »Nahezu.«

Saint Antoine schlief, die Defarge schliefen, und sogar die Rache schlief mit ihrem verhungerten Krämer, und die Trommel hatte Ruhe. Die Stimme der Trommel war die einzige in Saint Antoine, die durch Blut und Schrecken nicht verändert worden war. Die Rache als Hüterin der Trommel konnte sie wecken, und sie klang dann wieder wie zu der Zeit, ehe die Bastille fiel oder der alte Foulon ergriffen wurde; nicht so war es mit den heiseren Tönen der Männer und Weiber im Schoß von Saint Antoine.

Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten.


Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten.

Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, daß jedes menschliche Wesen seiner Eigenart nach für andere zu einem tiefen Geheimnis wird. Wenn ich nachts in einer großen Stadt anlange, so erfüllt es mich mit hehren Gedanken, daß jedes von jenen dunkel aufeinander gehäuften Häusern sein eigenes Geheimnis einschließt und jedes klopfende Herz in den Hunderttausenden von menschlichen Wesen irgendeine heimliche, ihm besonders teure Vorstellung birgt. Selbst das Grausen, das uns der Tod einflößt, hat in diesem Umstand seinen Grund. Ich kann nicht mehr in dem mir teuer gewordenen Buche blättern und darf nicht hoffen, es mit der Zeit zu Ende zu lesen. Ich soll nicht mehr schauen in die Tiefen des unergründlichen Wassers, in dem ich, je nachdem es durch augenblickliche Lichter erhellt wurde, manchen weit unter der Oberfläche befindlichen Schatz erschaute. Das Schicksal wollte es, daß das Buch sich schloß und für immer mit einer unlöslichen Klammer versehen ward, nachdem ich kaum eine Seite gelesen hatte. Es war bestimmt, daß das Wasser den starren Banden ewigen Eises verfiel, als das Licht noch auf seiner Oberfläche spielte und ich in ahnungsloser Unwissenheit am Ufer stand. Mein Freund ist tot, mein Nachbar ist tot, meine Liebe, der Schatz meiner Seele, ist tot. Wir haben da die unerbittliche Fortdauer eines Geheimnisses, das stets in jeder Persönlichkeit war und das ich bis zum Ende meines Daseins in die meinige übertragen habe. Und gibt es wohl auf irgendeinem Friedhof dieser Stadt, den ich durchwandle, einen Schläfer, der unerforschlicher wäre, als es mir der innern Persönlichkeit nach ihre rührigen Bewohner sind oder ich es ihnen bin?

Was dieses natürliche, unveräußerliche Erbe betrifft, so besaß es der Bote auf seinem Roß ebensogut wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann von London. Nicht anders erging es den drei im engen Raum einer holperigen alten Postkutsche eingeschlossenen Passagieren, die sich wechselseitig so vollkommene Geheimnisse waren, als führen sie stundenweit voneinander jeder in einer eigenen sechsspännigen Equipage.

Der Bote ritt in leichtem Trab wieder zurück und hielt dabei fleißig vor den Wirtshäusern, um sich einen Trunk zu holen, zeigte aber dabei eine entschiedene Neigung, nicht viel Worte zu verschwenden und den Hutrand über den Augen aufgestülpt zu tragen. Freilich hatte er Augen, denen eine solche Dekoration recht gut stand: denn sie waren dunkel auf der Oberfläche, ohne Tiefe in Form oder Farbe und viel zu nah beieinander, als fürchte jedes, über etwas ertappt zu werden, wenn sie nicht treu zusammenhielten. Sie hatten einen finstern Ausdruck, und der alte Hut saß über ihnen wie ein dreieckiger Spucknapf, während unter ihnen die Flügel der dicken, Kinn und Hals umhüllenden Halsbinde fast bis zu den Knien niederfielen. Wenn er zu einem Trunk haltmachte, drückte er, solange er mit der Rechten sich den Branntwein in die Kehle goß, mit der Linken seine Hülle nieder, zog sie aber, sobald er sich angefeuchtet hatte, augenblicklich wieder in die Höhe.

»Nein, Jerry, nein«, fuhr der Bote auf seinem Ritt in dem alten Thema fort, »das wäre nichts für dich, Jerry. Du bist ein ehrlicher Handwerksmann, Jerry, und dies paßt nicht in deinen Kram. Zurückgerufen –! Ei der Kuckuck, man sollte meinen, er sei ein Trinker gewesen.«

Der Auftrag verwirrte ihm den Sinn dermaßen, daß er mehrmal den Hut abnehmen mußte, um sich den Kopf zu kratzen. Sein Scheitel war elend kahl; sonst aber hatte er ein steifes schwarzes Haar, das sich überall borstig emporsträubte und fast bis zu seiner stumpfen Nase bergab wuchs. Der Kopf schien aus einer Schlosserwerkstatt zu kommen; denn er sah weit eher einer oben mit Spitzeisen geschirmten Mauer als einem natürlichen Schopf ähnlich, so daß der beste Laubfroschspringer es abgelehnt haben würde, über diesen allergefährlichsten Menschen von der Welt einen Satz zu machen.

Während er mit dem Auftrag, den er durch den Wächter im Portierstübchen neben der Haustür von Tellsons Bank bei Temple Bar an die vornehmeren Personen drinnen ausrichten zu lassen hatte, seines Weges trabte, nahmen die Schatten der Nacht für ihn lauter Gestalten an, die aus seiner Botschaft hervorzuquellen schienen, während sie für sein Roß Umrisse gewannen, die aus dessen Privatbesorgnissen entsprangen. Letztere mußten wohl sehr zahlreich sein: denn das Tier scheute vor jedem Schatten am Wege.

Wie lange holterte und polterte, rasselte und schulterte der Postwagen mit seinen drei unerforschlichen Personen im Innern auf dem langweiligen Weg dahin! Und wem enthüllten sich die Schatten der Nacht in den Formen, die die schimmernden Augen und die unsteten Gedanken an die Hand gaben?

Tellsons Bank kam dabei in dem Postwagen nicht zu kurz. Während der Bankpassagier, den einen Arm durch die Riemenschlinge gezogen, die das ihrige tat, um ihn vor einem Zusammenstoß mit dem Nachbar oder vor einem Wurf in die Ecke zu bewahren, wenn die Kutsche einen besonders schweren Stoß erlitt, mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Sitze nickte, wurden für ihn die kleinen Kutschenfenster, die durch dieselben trüb hereinblinkenden Kutschenlichter und der mächtige Reisesack des gegenübersitzenden Passagiers zu einer Bank mit eifrigem Geschäftsbetrieb. Das Rasseln des Pferdegeschirrs war das Geklingel des Geldes, und in fünf Minuten wurden mehr Wechsel bezahlt, als Tellson trotz seiner ausgedehnten in- und ausländischen Geschäftsverbindungen in dreimal soviel Zeit auszuzahlen gewöhnt war. Dann taten sich Tellsons unterirdische feste Räume mit ihren wertvollen Schätzen und Geheimnissen, wie sie dem Passagier bekannt waren – und er wußte nicht wenig davon – vor ihm auf. Er ging, die großen Schlüssel und das matt brennende Licht in der Hand, darunter umher und fand alles so sicher und wohlverwahrt, so still und in Ordnung, wie er es zuletzt gesehen hatte.

Aber obschon die Bank unablässig in seiner Phantasie arbeitete und auch der Postwagen ihn stets in unklarer Weise, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Betäubungsmittel genommen hat, an seine Gegenwart erinnerte, so war doch auch noch ein anderer Gedankenstrom vorhanden, der ihm die ganze Nacht hindurch keine Ruhe ließ. Er befand sich auf dem Weg, jemanden aus dem Grabe herauszugraben.

Die Schatten der Nacht zeigten ihm allerdings unter der Menge der Gesichter, die sie ihm vorführten, das wahre der begrabenen Person nicht. Dafür aber vergegenwärtigten ihm alle die Umrisse eines Mannes von fünfundvierzig Jahren, die hauptsächlich durch den Ausdruck der Leidenschaften und ihres unheimlichen Wesens sich voneinander unterschieden. Stolz, Verachtung, Trotz, Starrsinn, Unterwürfigkeit und Jammern folgten der Reihe nach. Ebenso der Wechsel in den eingesunkenen, leichenfahlen Wangen und in den abgezehrten Körperformen. Das Gesicht blieb jedoch in der Hauptsache dasselbe, und jeder der Köpfe war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der schlummernde Reisende dieses Gespenst:

»Wie lange schon begraben?«

Und jedesmal lautete die Antwort in der gleichen Weise:

»Fast achtzehn Jahre.«

»Habt Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?«

»Längst.«

»Ihr wißt doch, daß Ihr ins Leben zurückgerufen seid?«

»So höre ich.«

»Ich hoffe, dies hat noch einen Wert für Euch?«

»Ich weiß darauf nichts zu sagen.«

»Soll ich sie Euch zeigen? Wollt Ihr mich zu ihr begleiten?«

Die Antworten auf diese Frage waren verschieden und widersprechend. Bisweilen lautete die gebrochene Erwiderung: »Halt! Es würde mich töten, wenn ich sie zu bald sähe.« Ein andermal wurde sie durch einen milden Tränenregen eingeleitet und klang: »Nehmt mich zu ihr.« Bisweilen folgte auf die Frage ein wirres Glotzen und die Entgegnung: »Ich kenne sie nicht – verstehe Euch nicht.«

Unter solchem eingebildeten Zwiegespräch konnte der Passagier in seiner Phantasie graben, graben und graben – jetzt mit einem Spaten, jetzt mit einem großen Schlüssel, oder wohl gar mit den Händen – um das unglückliche Wesen herauszuschaffen. Und war es endlich, Gesicht und Haare mit Erde beklebt, gehoben, so verfiel es plötzlich wieder zu Staub. Der Passagier konnte dann zusammenfahren und das Fenster niederdrücken, um sich durch den Regen und Nebel, die seine Wangen feuchteten, an die Wirklichkeit erinnern zu lassen.

Doch selbst wenn seine Augen sich für den Nebel und Regen, für den beweglichen Lichtstreifen auf der Straße und für die stoßweise weiter und weiter zurückweichenden Heckenpartien am Wege auftaten, pflegten die Nachtschatten außerhalb der Kutsche mit dem Gang der Nachtschatten im Innern wieder zusammenzutreffen. Da stand vielleicht das wirkliche Bankhaus bei Temple Bar, das wirkliche Geschäft des abgelaufenen Tages, der feste Kellerraum, der ihm nachgeschickte Eilbote und die Antwort, die er durch ihn zurücksagen ließ. Und mitten aus diesen Bildern trat dann wieder das gespenstige Gesicht hervor, das er abermals anredete:

»Wie lange schon begraben?«

»Fast achtzehn Jahr.«

»Ich hoffe, das Leben hat noch einen Wert für Euch.«

»Weiß nicht.«

Und er grub, grub, grub immerfort, bis ihn einer der Mitreisenden durch eine ungeduldige Bewegung mahnte, er solle das Fenster wieder aufziehen. Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden Gestalten, bis zuletzt sein Geist wieder von ihnen abkam und abermals sich in die Bank und zu dem Grabe verirrte.

»Wie lange schon begraben?«

»Fast achtzehn Jahre.«

»Hattet Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?«

»Längst.«

Diese Worte klangen noch so deutlich in seinen Ohren wie nur irgendein wirklich gesprochenes Wort, als der müde Reisende zu dem Bewußtsein erwachte, daß es Tag und die Schatten der Nacht dahin seien.

Er ließ das Fenster nieder und schaute nach der aufgehenden Sonne hinaus. Da war ein Strich umgepflügten Landes und der Pflug noch an derselben Stelle, wo man am Abend zuvor die Pferde ausgespannt hatte, auf dem Acker. Jenseits desselben sah man ein Buschwäldchen, in dem noch viele Blätter von brennendem Rot oder goldigem Gelb an den Zweigen zitterten. Die Erde war kalt und feucht, der Himmel aber klar, und die Sonne erhob sich in ruhiger Pracht.

»Achtzehn Jahre!« sagte der Passagier, zu der Sonne aufblickend. »Barmherziger Schöpfer des Tages! Achtzehn Jahre lang lebendig begraben zu sein!«

Dreiundzwanzigstes Kapitel. Feuer hoch!


Dreiundzwanzigstes Kapitel. Feuer hoch!

Es war anders geworden in dem Dorf, wo der Brunnen plätscherte und wo der Wegknecht täglich ausging, um aus den Steinen der Landstraße die Bissen Brot zu klopfen, die ihm als Flicken dienen mußten, um seine arme unwissende Seele und seinen armen ausgemergelten Leib zusammenzuhalten. Das Gefängnis auf dem Felsen war nicht mehr so dominierend wie früher: es hatte zwar noch eine Wache von Soldaten, aber nur eine kleine. Auch waren Offiziere vorhanden, um die Soldaten zu bewachen: aber keiner von ihnen wußte, was seine Leute tun würden als etwa dies, daß es wahrscheinlich das Gegenteil von ihren Befehlen sein dürfte.

Weit und breit hin lag ein zugrunde gerichtetes Land, auf dem man nichts sah als Verödung. Jedes grüne Laub, jeder Gras- oder Getreidehalm nahm sich so dürftig und mager aus wie die unglückliche Bevölkerung. Alles war gebeugt, niedergeschlagen, gedrückt und gebrochen. Wohnungen, Zäune, Haustiere, Männer, Weiber, Kinder und der Boden, der sie trug alles verkommen.

Monseigneur (oft als Individuum eine höchst würdige Person) war ein Nationalsegen, gab den Dingen einen chevaleresken Ton, ging mit dem Beispiel eines üppigen, prunkvollen Lebens voran und zeichnete sich überhaupt durch Handlungen in diesem Sinne aus. Dennoch hatte Monseigneur als Klasse, wie’s nun einmal kommen sollte, die Sachen so weit gebracht. Seltsam, daß die ausdrücklich für Monseigneur bestimmte Schöpfung so bald ausgedrückt und dürr war. Es mußte wahrhaftig eine große Kurzsichtigkeit den ewigen Anordnungen zugrunde liegen. Aber es war einmal so, und nachdem den Steinen der letzte Blutstropfen entlockt und die letzte Schraube der Maschine so ausgenützt war, daß sie in ewigem Umgang sich drehte, ohne etwas fassen zu können, begann Monseigneur fortzulaufen vor einer so gemeinen und unerklärlichen Erscheinung.

Aber das war nicht die Veränderung im Dorfe und in so vielen Dörfern, die wir meinen. Menschenalter um Menschenalter hatte es zwar Monseigneur gequetscht und ausgerungen und selten anders mit der Ehre seiner Gegenwart begnadigt als wegen des Jagdvergnügens, indem er bald Menschen, bald Tiere jagte, die zu hegen Monseigneur erbauliche Räume von barbarischer und unfruchtbarer Wildnis anlegte. Aber dies war’s nicht. Der Wechsel bestand nicht so sehr in dem Verschwinden der hohen Kaste, der gemeißelten und anderweitig beglückten und beglückenden Züge von Monseigneur, sondern vielmehr in dem Auftreten fremder, einer niedrigen Kaste angehörender Gesichter.

Denn als um jene Zeit der Wegknecht einsam im Straßenstaub arbeitete, ohne sich mit der Betrachtung zu bemühen, daß auch er selbst Staub war und wieder Staub werden würde; denn er mußte meist viel zu sehr daran denken, wie wenig er zu essen hatte und wieviel mehr er essen könnte, wenn er es hätte ich sage, als er um jene Zeit die Augen von seiner einsamen Arbeit aufschlug und sich die Aussicht betrachtete, sah er zu Fuß eine rauhe Gestalt einherkommen, dergleichen sonst eine Seltenheit, neuerdings aber eine häufige Erscheinung war in jener Gegend. Beim Näherkommen konnte der Wegknecht in dem Fremden einen langen zottelhaarigen Mann von fast barbarischem Aussehen unterscheiden, dessen rauhe, schwarze, von dem Kot und Staub vieler Straßen borkig und der sumpfigen Nässe vieler Moorgründe feucht gewordene Holzschuhe mit den sie besprenkelnden Dornen, Blättern und Moosen von vielen Waldwegen selbst dem Wegknecht als sehr plump erschienen.

Solch ein Mann kam um Mittag im Juli wie ein Gespenst auf ihn zu, während er auf einem seiner Steinhaufen saß und unter einer Erderhöhung sich möglichst gegen den niederschauernden Hagel zu schützen suchte.

Der Mann betrachtete ihn und sah dann nach dem Dorf im Tal, nach der Mühle und nach dem Gefängnis auf dem Felsen. Nachdem er über diese Gegenstände seine geistige Dunkelheit aufgeklärt hatte, sagte er in einem mit knapper Not verständlichen Dialekt:

»Wie geht es, Jacques?«

»Alles recht, Jacques.«

»Die Hand darauf!«

Sie leichten sich die Hände, und der Mann setzte sich neben den Wegknecht auf den Steinhaufen.

»Nichts zum Mittagessen?«

»Nein, nur etwas für die Nacht«, versetzte der Wegknecht mit hungrigem Gesicht. »Das ist jetzt Mode«, brummte der Mann. »Ich treffe nirgends auf ein Mittagessen.«

Er nahm eine schwarzgerauchte Pfeife heraus, stopfte sie, zündete sie mit Stahl und Stein an und sog daran, bis sie in heller Glut stand. Dann hielt er sie plötzlich in ewiger Entfernung von sich und ließ etwas, das er zwischen Finger und Daumen hielt, hineinfallen, so daß es hell aufloderte und ein qualmender Rauch in die Höhe stieg.

»Die Hand darauf!«

Diesmal war es an dem Wegknecht, nach Beobachtung der gedachten Operationen das Losungswort zu sagen. Sie reichten sich wechselseitig wieder die Hand.

»Heute nacht?« fragte der Wegknecht.

»Heute nacht«, antwortete der Mann und steckte seine Pfeife in den Mund.

»Wo?«

»Hier.«

Die beiden blieben, während der Hagel wie ein zwergenhafter Bajonettangriff gegen sie losschlug, auf dem Steinhaufen sitzen und sahen einander an, bis der Himmel sich über dem Dorfe aufzuhellen begann.

»Zeig‘ mir!« sagte dann der Fremde, nach der Höhe des Hügels hinansteigend.

»Sieh!« entgegnete der Wegknecht mit ausgestrecktem Finger, »Du gehst hier hinab, geradewegs über die Straße hinüber und an dem Brunnen vorbei «

»Zum Henker mit alledem«, unterbrach ihn der andere und ließ seine Augen über die Landschaft hinrollen. »Ich brauche deine Straßen und Brunnen nicht. Nun?«

»Ja. Ungefähr zwei Stunden jenseits des Berggipfels über dem Dorf.«

»Gut. Wann hörst du auf zu arbeiten?«

»Um Sonnenuntergang.«

»Du kannst mich wecken, ehe du aufbrichst. Ich bin zwei Nächte durch gewandert, ohne aufzuhalten. Laß mich meine Pfeife ausrauchen, dann werde ich schlafen wie ein Kind, Willst du mich wecken?«

»Ja.«

Der Wanderer rauchte seine Pfeife zu Ende, steckte sie dann in seine Brusttasche, streifte seine Holzschuhe ab und legte sich rücklings auf den Steinhaufen. Der Schlaf übermannte ihn schnell.

Während der Wegknecht in seiner staubigen Arbeit fortfuhr und die sich verziehenden Hagelwolken helle Streifen am Himmel erscheinen ließen, denen die Schlaglichter der Landschaft entsprachen, schien der kleine Mann, der jetzt eine rote Mütze trug statt einer blauen, ganz bezaubert zu sein von der Gestalt auf dem Steinhaufen. Seine Augen wandten sich ihm so oft zu, daß er sein Werkzeug nur mechanisch und, wie man sagen könnte, ziemlich erfolglos in Bewegung setzte. Das braune Gesicht, das zottelige Haar, der lange rauhe Bart, die grobe, rote Wollmütze, der gemischte Anzug von Hauslinnen und haarigen Tierhäuten, der kräftige, aber von Nahrungsmangel hagere Körper und der finstere, verzweifelte Schluß der Lippen im Schlafe flößten dem Wegknecht Furcht ein. Die Füße des weithergereisten Fremden waren wund, seine Knöchel aufgerieben und blutend: denn seine großen mit Laub und Gras ausgestopften Schuhe hatten ihm zu schaffen gemacht während der Wanderung von so vielen langen Stunden, und die Löcher in seinen Kleidern entsprachen den Schürfungen seiner Haut. Der Wegknecht bückte sich neben ihm nieder, um zu sehen, ob er in seiner Brust oder sonstwo nicht eine Waffe verborgen habe, aber vergeblich. Denn der Mann hatte seine Arme über der Brust ebenso fest verschlungen, wie seine Lippen zusammengepreßt waren. Feste Städte mit ihren Staketen, Wachhäusern, Gräben, Toren und Zugbrücken schienen dem Wegknecht nichts zu sein dieser Gestalt gegenüber. Und wenn er von ihr seine Augen zu dem Horizont erhob und umherschaute, so vergegenwärtigte ihm seine spärliche Phantasie ähnliche Gestalten, die unaufhaltsam über ganz Frankreich nach Mittelpunkten hinstrebten.

Der Mann schlief, gleichgültig gegen Hagelschauer und blauen Himmel, gegen Sonnenschein in seinem Gesicht und Schatten, gegen das Rasseln der Eiskörner auf seinem Leib und die Diamanten, in die die Sonne sie verwandelte, bis es Abend war und der westliche Himmel sich in Glutfarben tauchte. Jetzt raffte der Wegknecht sein Gerät zusammen, um sich nach dem Dorfe zu begeben, und weckte ihn.

»Gut«, sagte der Schläfer, sich auf seinen Ellbogen stützend. »Zwei Stunden jenseits des Berggipfels?«

»Ungefähr.«

»Ungefähr. Gut.«

Der Staub wehte, je nachdem der Wind ging, vor dem Wegknecht her, als er nach Hause zurückkehrte. Er hatte bald den Brunnen erreicht, drückte sich zwischen den mageren Kühen hindurch, die man zur Tränke hergeführt, und schien, während er dem ganzen Dorf zuflüsterte, auch sie mit zu meinen. Nachdem das Dorf sein dürftiges Nachtessen eingenommen hatte, kroch es nicht wie sonst zu Bette, sondern kam wieder zu den Türen heraus und blieb auf der Straße. Das Flüstern war merkwürdig ansteckend, und als das Dorf sich in der Dunkelheit um den Brunnen sammelte, machte sich eine weitere wunderliche Ansteckung bemerklich, sofern es erwartungsvoll nur in einer einzigen Dichtung nach dem Himmel aufschaute. Monsieur Gabelle, die bedeutendste Person im Orte, wurde unruhig; er stieg nach dem Giebel seines Hauses hinauf und schaute gleichfalls in diese Richtung. Dann blickte er hinter seinen Schornsteinen hervor nach den immer undeutlicher werdenden Gesichtern um den Brunnen und ließ dem Küster, der die Kirchenschlüssel bewahrte, sagen, daß er vielleicht die Sturmglocke zu läuten haben werde.

Die Nacht wurde immer dunkler. Die Bäume um das Schloß her, die in ihrem einsamen Prunk beiseite standen, bewegten sich in dem Winde, als drohten sie der schwarzen, schweren Gebäudemasse im Finstern. Der Regen schlug wild gegen die zwei Fluchten der Treppenterrasse und klopfte an das große Tor wie ein Eilbote, der die drinnen wecken will; Windstöße sausten durch die Halle, heulten unter den alten Speeren und Messern, jagten wehklagend die Stiegen hinan und rüttelten die Vorhänge des Bettes, wo der letzte Marquis geschlafen hatte. Von Ost, West, Nord und Süden her zertraten durch die Wälder die schweren Schuhe von vier ungekämmten Gestalten das hohe Gras und die dürren Zweige, bis sie sich vorsichtig in dem Hofe zusammengefunden. Dann sah man vier Lichter sich entzünden und nach verschiedenen Richtungen fortbewegen. Es war alles wieder dunkel.

Aber nicht auf lange. Plötzlich begann das Schloß sich von eigenem Licht seltsam zu erhellen, als ob es hinausleuchten wolle in die Landschaft. Dann spielte ein flackernder Streifen hinter der Vorderseite des Gebäudes, suchte sich durchscheinende Stellen auf und zeigte, wo sich die Geländer, die Bogen und die Fenster befanden. Er wurde höher, breiter und glänzender. Bald schlugen zu einem Dutzend der großen Fenster Flammen heraus, und die geweckten steinernen Gesichter glotzten großäugig durch da« Feuer.

Im Hause entstand einiger Lärm von den wenigen Leuten im Innern. Ein Pferd wurde gesattelt, und ein Reiter sprengte von hinnen. Das war ein Spornen und Klatschen durch die Dunkelheit, und der Zügel wurde erst angezogen auf dem Platze vor dem Brunnen, als das Roß schäumend vor Monsieur Gabelles Tür stand. »Zu Hilfe, Gabelle! Zu Hilf‘ ihr alle!« Die Sturmglocke läutete ungestüm. Aber dies war die einzige Hilfe, wenn man sie so nennen konnte. Der Wegknecht und zweihundertundfünfzig seiner besonderen Freunde standen mit verschlungenen Armen um den Brunnen her und schauten nach der Feuersäule am Himmel auf. »Sie muß vierzig Fuß hoch sein«, sagten sie grimmig; aber niemand rührte sich von der Stelle.

Der Reiter vom Schloß klapperte mit dem schäumenden Pferd durch das Dorf und galoppierte die Felsensteige zu dem Gefängnis hinan. Vor dem Tor sah eine Gruppe von Offizieren und in einiger Entfernung von ihnen ein Soldatenhaufen nach dem Feuer hin. »Hilfe, ihr Herrn Offiziere! Das Schloß brennt: wertvolle Gegenstände können noch den Flammen entrissen werden, wenn man etwas dagegen tut. Hilfe! Hilfe!« Die Offiziere blickten nach den Soldaten hin, die dem Feuer zuschauten, gaben aber keinen Befehl, sondern bissen sich auf die Lippen und antworteten achselzuckend: »Man muß es brennen lassen.«

Als der Reiter wieder den Berg hinunter und die Straße entlang galoppierte, war das Dorf beleuchtet. Der Wegknecht und die zweihundertundfünfzig besonderen Freunde waren wie ein Mann von dem Gedanken einer Illumination inspiriert, in die Häuser gestürzt und hatten hinter jede trübe Glasscheibe ein Licht gestellt. Die Armut an allem gab Anlaß, daß man in etwas trotziger Weise Lichter bei Monsieur Gabelle borgte; denn als dieser Würdenträger zögerte und keine Lust zeigte, warf der Wegknecht, sonst so unterwürfig gegen diese Obrigkeit, die Bemerkung hin, daß Kutschen prächtige Freudenfeuer geben und Postpferde, wenn man sie brate, gut zu essen seien.

Das Schloß blieb den Flammen preisgegeben und durfte fortbrennen. Die tobende Lohe, angefacht von einem glühend heißen, der Hölle selbst entströmenden Wind, schien das Gebäude wegzublasen. In dem Steigen und Fallen der Flamme nahmen sich die Steingesichter wie gequälte Teufel aus. Als eine große Stein- und Holzmasse zusammenfiel, wurde das Gesicht mit den zwei Grübchen in der Nase verdunkelt; bald aber kämpfte es sich wieder aus dem Rauch empor, als sei es das des grausamen Marquis, der auf dem Scheiterhaufen mit dem Feuer kämpfte.

Das Schloß brennend; die nächsten Bäume, die vom Feuer gefaßt wurden, welk und versengt; fernere Bäume, von den vier wilden Gestalten angezündet, die glostenden Trümmer mit einem neuen Wald von Rauch umgebend. Geschmolzenes Blei und Eisen kochte in dem Marmorbecken der Fontäne; das Wasser war versiegt; die Türme mit den Löschhorndächern verschwanden wie Eis vor der Hitze und träufelten in vier zackige Glutbrunnen nieder. Große Spalten liefen sich verzweigend und gleichsam Kristallkörper bildend durch das massive Gemäuer: Vögel schwirrten betäubt umher und fielen in den Schornstein; vier wilde Gestalten schritten auf den von Nacht umhüllten Straßen nach Ost, West, Nord und Süden, von dem durch sie geschaffenen Leuchtturm geleitet, ihrem nächsten Bestimmungsort zu. Das beleuchtete Dorf hatte sich unter Beseitigung des ordnungsmäßigen Läuters der Sturmglocke bemächtigt und ließ sie ein Freudengeläut anstimmen.

Nicht nur dies, sondern das von Hunger, Feuer und Glockengeläute schwindlige Dorf erinnerte sich auch, daß Monsieur Gabelle bei Einsammlung der Renten, Steuern und so weiter beteiligt gewesen war in der letzten Zeit waren die Steuern allerdings nur spärlich und die Renten gar nicht geflossen und wollte jetzt ein Wörtchen mit ihm sprechen. Sein Haus wurde umringt und er zu einer persönlichen Konferenz aufgeboten. Mr. Gabelle aber verriegelte seine Tür und zog sich zurück, um mit sich selbst zu Rate zu gehen. Infolge dieser Beratung stieg er wieder nach dem Dachgiebel hinauf hinter seine Schornsteine, diesmal entschlossen, wenn seine Tür eingeschlagen würde (er war ein kleiner Südländer von rachsüchtigem Temperament), sich köpflings über das Dach hinunterzustürzen und so unten einen oder zwei Mann zu zermalmen.

Wahrscheinlich wurde dem Monsieur Gabelte die Nacht recht lang da droben, wo ihm das ferne Schloß als brennende Kerze und das Schlagen an seine Tür samt dem Freudengeläute als Musik diente; des Umstandes gar nicht zu gedenken, daß vor dem Posthaustor das Seil einer unheilverkündenden Laterne, die das Dorf zu seinen Gunsten herunterzunehmen große Lust verriet, über die Straße hinüberlief. Eine peinliche Spannung, eine ganze Nacht an dem Rande des schwarzen Ozeans zubringen zu müssen, der bereit war, Monsieur Gabelle aufzunehmen, wenn er sein Vorhaben zur Ausführung brachte. Doch endlich erschien das freundliche Zwielicht: die Binsenlichter des Dorfes troffen ab, das Volk zerstreute sich, und Monsieur Gabelle kam diesmal mit dem Leben davon und wieder herunter.

Auf vierzig Stunden hin und in dem Licht von anderen Feuern gab es Beamte, die in jener Nacht und in mancher anderen lange nicht so glücklich waren, sondern bei aufgehender Sonne gefunden wurden, wie sie über den einst so friedlichen Straßen hingen, in denen sie geboren und erzogen worden waren. Auch Dorf- und Stadtbewohner gab es, denen es nicht so gut ging wie dem Wegknecht und seinen Kameraden: denn Beamte und Soldaten machten gelegentlich gleichfalls erfolgreiche Angriffe und knüpften ihrerseits auf. Aber wie dem sein mochte, die wilden Gestalten wandten sich stetig nach Ost, West, Nord und Süd: und wo einer ging, brach Feuer aus. Kein Beamter, auch der beste Mathematiker nicht, wäre imstande gewesen, die Höhe des Galgens zu berechnen, der solches Unwesen zunichte machen und dem Brande hätte steuern können.

Vierundzwanzigstes Kapitel. Hin nach dem Magnetfelsen.


Vierundzwanzigstes Kapitel. Hin nach dem Magnetfelsen.

Unter einem solchen Wogen von Aufruhr- und Brandwellen – die feste Erde schulterte unter dem Anschlagen eines zürnenden Ozeans, der jetzt zum Schrecken und Staunen der Zuschauer am Lande keine Ebbe mehr, sondern nur noch eine immer höher und höher steigende Flut zeigte waren drei Jahre des Sturmes entschwunden. Drei weitere Geburtstage der kleinen Lucie hatte der goldene Faden in dem friedlichen Gewebe ihres Heimatlebens angemerkt.

Manchen Tag und manche Nacht hatten die Bewohner der stillen Ecke mit zagem Herzen auf die Widerhalle der sich drängenden Füße gelauscht. Denn die Tritte erschienen ihrem Geist wie die von Leuten, die, unter der roten Fahne tumultuierend und das Vaterland in Gefahr erklärend, durch einen lang anhaltenden Zauber in wilde Bestien umgewandelt worden waren.

Monseigneur als Klasse hatte sich der Vorstellung, daß er nicht gehörig gewürdigt werde, entschlagen und einsehen gelernt, man bedürfe in Frankreich seiner so wenig, daß er selbst unter beträchtlicher Gefahr aus dem Lande und dem Leben darin fortzukommen suchte. Man erinnert sich dabei an den Bauern in der Fabel, der sich unsägliche Mühe gab, den Teufel heraufzubeschwören, durch seinen Anblick aber so erschreckt wurde, daß er keine Frage an ihn richten konnte, sondern augenblicklich Reißaus nahm. So hatte Monseigneur dreist viele, viele Jahre das Vaterunser rückwärts gebetet und hundert andere mächtige Zaubermittel angewendet, um den bösen Geist zum Erscheinen zu zwingen, denselben aber kaum erschaut, als er schon voll edlen Entsetzens Fersengeld gab.

Die gleißende Welle des Hofes war fort, da sie sonst die Zielscheibe eines Orkans von nationalen Kugeln geworden wäre. Ihr Stolz, ihre sardanapalische Üppigkeit und ihre Maulwurfsblindheit hatten lange die Gemüter empört: dies geschah jetzt nicht mehr. Der ganze von seinem innersten exklusiven Ring bis zu seinem äußersten Saum in Ränken, Bestechlichkeit und Heuchelei verfaulte Hof war fort und auch die Königswürde dahin; man hatte sie den neuesten Nachrichten zufolge in ihrem Palaste belagert und suspendiert.

Der August des Jahres Tausendsiebenhundertzweiundneunzig war gekommen und inzwischen Monseigneur weit und breit hin zerstreut.

In London galt natürlich Tellsons Bank als Hauptquartier und Hauptsammelplatz für Monseigneur. Man meinte, Geister spuken gern an Plätzen, wo ihre Leiber sich viel umgetrieben, und Monseigneur ohne eine Guinee spukte an dem Ort, wo sonst seine Guineen lagen. Außerdem konnte man hier am frühesten auf zuverlässige Nachrichten aus Frankreich zählen. Ferner: Tellson war ein prächtiges Haus und ungemein liberal gegen heruntergekommene alte Kunden. Dann konnten bedrängte Standesgenossen hier stets über jene Adligen Auskunft erhalten, die beizeiten den Sturm kommen sahen und in der Vorahnung von Raub und Konfiskationen ihre Guthaben an Tellsons Bank adressiert hatten. Dem ist noch beizufügen, daß als eine Sache, die sich fast von selbst verstand, jeder neue Ankömmling aus Frankreich sich und seine Nachrichten bei Tellsons meldete. Aus diesen verschiedenen Gründen war Tellson in Beziehung auf die französischen Angelegenheiten eine Art hohe Börse und dem Volk in dieser Eigenschaft so wohl bekannt, daß man bisweilen, um der zahlreichen Erkundigungen willen, die neuesten Berichte gedrängt niederschrieb und zum Besten aller, die durch Temple Bar kamen, in den Bankfenstern aufsteckte.

An einem dunstigen nebligen Nachmittag saß Mr. Lorry an seinem Pult, und Charles Darnay, der gegen dasselbe anlehnte, plauderte leise mit ihm. Der Pönitentialraum, der vordem den Besprechungen mit dem Hause hatte dienen müssen, war jetzt die Neuigkeitenbörse und zum Überströmen angefüllt, da in einer halben Stunde oder so geschlossen werden sollte.

»Aber obgleich Ihr noch jung seid wie nur einer«, sagte Charles Darnay mit einigem Stocken, »so muß ich Euch doch darauf aufmerksam machen «

»Ich verstehe. Daß ich zu alt sei?« versetzte Mr. Lorry.

»Schlechtes Wetter, eine weite Reise, unsichere Reisegelegenheiten, ein gesetzloses Land und eine Stadt, die vielleicht nicht einmal Euch ungefährdet läßt.«

»Mein lieber Charles«, sagte Mr. Lorry mit heiterer Zuversichtlichkeit, »Ihr berührt da einige von den Gründen, die für mein Gehen, nicht für mein Bleiben sprechen. Ich reise sicher genug; niemand wird sich um einen alten Burschen in den Achtzigern kümmern, wo es so viele Leute gibt, mit denen es sich eher der Mühe des Anbindens lohnt. Und wenn man es nicht mit einer gesetzlosen Stadt zu tun hätte, so brauchte man nicht jemanden aus unserem hiesigen Hause, der von alters her die Stadt und den Geschäftsgang kennt und in Tellsons Vertrauen steht, nach unserem dortigen zu senden. Was dann die Länge und Unsicherheit der Reise und das rauhe Wetter betrifft, wer soll sich denn solchen Unbequemlichkeiten unterziehen, wenn nicht ich um Tellsons willen es tue, denen ich so viele Jahre gedient habe?«

»Ich wollte, ich könnte selbst auch gehen«, sagte Charles Darnay etwas unruhig und wie in lauten Gedanken.

»Wirklich? Ihr seid mir der Rechte, der da Einwendungen erheben und Rat erteilen kann!« rief Mr. Lorry. »Möchtet selbst hingehen? Und Ihr, ein geborener Franzose? Ihr seid ein weiser Ratgeber.«

»Mein lieber Mr. Lorry, eben weil ich ein geborener Franzose bin, ist mir dieser Gedanke, den ich übrigens hier nicht laut werden zu lassen beabsichtigte, schon oft in den Sinn gekommen. Wenn man fühlt für dieses unglückliche Volk und ihm etwas gelassen hat (er sprach wieder in der früheren gedankenvollen Weise), so kann man sich der Vorstellung nicht erwehren, daß man vielleicht Gehör finden und so viel Macht gewinnen dürfte, es zu überreden, daß es sich mehr mäßige. Erst gestern abend, nachdem Ihr uns verlassen hattet, sprach ich mit Lucie «

»So, Ihr spracht mit ihr?« wiederholte Mr. Lorry. »Ja. Ich wundere mich, daß Ihr Euch nicht schämt, Lucies Namen zu nennen! Möchte in einer solchen Zeit nach Frankreich gehen!«

»Aber ich gehe ja nicht«, sagte Charles Darnay lächelnd. »Es ist sachgemäßer, daß Ihr sagt, Ihr wollet es tun.«

»Allerdings. Die Sache verhält sich nämlich so, mein lieber Charles« Mr. Lorry blickte nach dem fernen Hause hin und dämpfte seine Stimme: »Ihr habt gar keine Vorstellung, wie schwer uns gegenwärtig das Geschäft gemacht wird, und wie sehr dort drüben unsere Bücher und Papiere gefährdet sind. Der Himmel weiß, welche unglückseligen Folgen für viele daraus erwüchsen, wenn einige von unseren Dokumenten weggenommen oder zerstört würden; und Ihr begreift wohl, daß dies jeden Tag geschehen kann: denn wer vermag zu sagen, ob nicht Paris heute in Brand gesteckt oder morgen geplündert wird? Es muß daher so schnell wie möglich eine sorgfältige Auswahl getroffen werden, und niemand wird dies so hurtig besorgen und die Papiere vergraben oder sonst in Sicherheit bringen können als ich. Soll ich Bedenklichkeiten erheben, wenn Tellson dies weiß und es mir sagt Tellson, dessen Brot ich seit sechzig Jahren gegessen habe , weil meine Gelenke ein bißchen steif geworden sind? Ha, gegen ein halbes Dutzend von den alten Burschen hier bin ich noch ein Knabe, Sir.«

»Wie bewundere ich die Rüstigkeit Eures jugendlichen Geistes, Mr. Lorry.«

»Pst, Unsinn, Sir! Und, mein lieber Charles«, sagte Mr. Lorry, wieder nach dem Hause hinsehend, »Ihr müßt bedenken, daß es an die Unmöglichkeit grenzt, Dinge, welcher Art sie auch sein mögen, jetzt aus Paris fortzubringen. Im strengsten Vertrauen (denn es ist nicht geschäftsmäßig, es sogar Euch zuzuraunen) will ich Euch mitteilen, daß täglich Papiere und Geld durch die seltsamsten Vermittler, die Ihr Euch nur denken könnt, zu uns hergebracht werden, durch Leute, deren Leben beim Überschreiten der Barrieren an einem Faden hing. Zu anderen Zeiten gingen unsere Pakete so ungehindert ab und zu wie in dem geschäftsmäßigen alten England: aber jetzt wird alles angehalten.«

»Und Ihr wollt wirklich heute abend aufbrechen?«

»Ja, heute abend. Die Sache ist zu dringlich geworden, als daß eine längere Zögerung zulässig wäre.«

»Ihr nehmt niemand mit Euch?«

»Man hat mir alle Arten von Leuten vorgeschlagen: aber ich möchte keinen davon darum angehen, sondern gedenke nur den Jerry mitzunehmen. Er ist schon geraume Zeit an Sonntagabenden meine Leibwache gewesen, und ich bin an ihn gewöhnt. Niemand wird in Jerry etwas anderes vermuten als einen englischen Bullenbeißer, der für nichts einen Sinn hat als für die Waden anderer Leute, wenn sie seinem Herrn etwas anhaben wollten.«

»Ich muß wiederholen, daß mich Eure Rüstigkeit und Euer Jugendmut in Erstaunen setzen.«

»Und ich sage wieder: Unsinn, Unsinn! Wenn ich diesen kleinen Auftrag erfüllt habe, nehme ich vielleicht Tellsons Vorschlag an, mich in den Ruhestand zu begeben und meiner Muße zu leben. Dann ist’s Zeit genug, ans Altwerden zu denken.«

Dieses Zwiegespräch hatte an Mr. Lorrys gewöhnlichem Pulte stattgefunden, während Monseigneur sich einen oder zwei Schritte davon umhertrieb und großsprecherisch erklärte, wie er in Bälde an dem schurkischen Volk Rache nehmen wolle. Es lag zu sehr in der Art von Monseigneur in seiner Verbannung und Not, auch zu sehr in der Art der eingeborenen britischen Orthodoxie, jene schreckliche Revolution im Lichte der einzigen Ernte unter dem Himmel zu beurteilen, der keine entsprechende Saat vorausging als ob nie durch Tat oder Unterlassung dafür vorgearbeitet worden sei und die Beobachter der unglücklichen Millionen in Frankreich, die wußten, wie kläglich die Hilfsquellen, die letzteren zustatten kommen sollten, mißbraucht und vergeudet worden waren, nicht schon seit Jahren vorausgesehen und in dürren Worten prophezeit hätten, was notwendig kommen mußte. Solches windige Wesen in Verbindung mit den überspannten Anschlägen Monseigneurs, den Zustand von Dingen wiederherzustellen, die sich völlig überlebt hatten, konnte ein Mann von gesundem Urteil, der von dem wahren Sachverhalte unterrichtet war, kaum mit anhören und dazu schweigen. Auch schwirrten diese Prahlereien Charles Darnay so verwirrend um die Ohren und trieben ihm das Blut dermaßen zu Kopfe, daß die geheime Unruhe seines Innern noch erhöht und nachhaltiger gemacht wurde. Unter den Schwätzern befand sich auch Stryver von dem Kingsbench, der auf dem Wege der Beförderung zum Staatsdienst schon weit vorangeschritten war. Er ließ sich besonders laut über den Gegenstand vernehmen, indem er Monseigneur anspornte in seinen Plänen, das Volk in die Luft zu sprengen, vom Angesicht der Erde zu vertilgen und sich ohne dieses Pack zu behelfen, und erteilte dabei Ratschläge, ziemlich demjenigen ähnlich, der zu Ausrottung der Sperlinge empfiehlt, ihnen Salz auf die Schwänze zu streuen. Seine Ergießungen erschienen Darnay besonders widerlich; und der junge Mann war unschlüssig mit sich, ob er, um nicht weiter zu hören, fortgehen oder bleiben und ein Wörtchen darein reden sollte, als ein Umstand eintrat, der bei seiner Wahl den Ausschlag gab.

Das Haus näherte sich Mr. Lorry und schob ihm einen beschmutzten, unerbrochenen Brief zu mit der Frage, ob er von der Person, die in der Adresse bezeichnet war, noch keine Spuren aufgefunden habe. Dies geschah in einer Weise, daß Darnay die Überschrift lesen konnte, und seine Aufmerksamkeit wurde um so lebhafter gefesselt, als die Adresse auf seinen eigenen wahren Namen lautete. Sie war englisch geschrieben und als »sehr dringlich« bezeichnet, »An den weiland Marquis St. Evrémonde aus Frankreich, zur Besorgung empfohlen den Herren Tellson und Kompanie, Bankiers in London, England.«

Am Hochzeitmorgen hatte Doktor Manette an Charles Darnay das einzige dringende und ausdrückliche Ersuchen gestellt, daß das Geheimnis seines wahren Namens streng bewahrt bleiben solle, wenn nicht er, der Doktor, seinen Schwiegersohn dieser Verpflichtung enthebe. Niemand wußte daher, wie er eigentlich hieß: seine eigene Gattin hatte keine Ahnung davon, und noch viel weniger konnte Mr. Lorry es wissen.

»Nein«, erwiderte Mr. Lorry auf die Frage des Hauses: »ich habe, glaub‘ ich, bei allen, die hier sind, Umfrage gehalten: aber niemand konnte mir sagen, wo dieser Gentleman zu finden ist.«

Da der Minutenzeiger der Uhr sich dem Augenblick des Bankschlusses näherte, so strömten jetzt allgemein die Leute ab und zu ein, und die Schwatzenden fegten an dem Pulte des Mr. Lorry vorbei. Letzerer hielt den Brief fragend in die Höhe, und Monseigneur in der Person dieses oder jenes ränkeschmiedenden entrüsteten Flüchtlings betrachtete sich ihn, hatte aber dies, jenes und weiß Gott was sonst noch, kurz, in französischer oder englischer Sprache stets etwas Herabwürdigendes über den Marquis zu bemerken, der nicht aufzufinden war.

»Neffe, glaube ich, aber jedenfalls ein sehr entarteter Nachfolger des seinen Marquis, der ermordet wurde«, sagte der eine. »Gottlob, ich hab‘ ihn nie gekannt.«

»Ein Hundsfott, der vor Jahren von seinem Posten wich«, erklärte ein anderer, der in einen Heubündel gepackt, mit den Füßen nach oben und halb erstickt, aus Paris entkommen war.

»Von den neuen Lehren angesteckt«, bemerkte ein dritter, die Adresse lorgnettierend: »machte Opposition gegen den verstorbenen Marquis, verließ sein Familienerbe und gab es dem spitzbübischen Haufen preis. Man wird’s ihm jetzt hoffentlich lohnen, wie er’s verdient.«

»Wie?« blökte Stryver. »Hat er wirklich dies getan und ist er ein Kerl von solchem Schlag? Wie heißt der ehrlose Bursche? Zum Henker mit dem Menschen!«

Darnay, der sich nicht länger halten konnte, berührte Mr. Stryver an der Schulter und sagte:

»Ich kenne den Menschen.«

»Wirklich? Ha, beim Jupiter, das tut mir leid«, versetzte Stryver.

»Warum?«

»Warum, Mr. Darnay? Hört Ihr nicht, was er getan hat? Wer wird auch so fragen in solchen Zeiten!«

»Dennoch frage ich.«

»Dann will ich Euch wiederholt sagen, Mr. Darnay, daß es mir leid tut. Ich bedaure, aus Eurem Munde solche außerordentliche Fragen vernehmen zu müssen. Wir haben da einen Kerl, der, angesteckt von dem pestilenzialischsten und gotteslästerlichsten Gesetz, das je der Teufel ersann, sein Familiengut dem schändlichsten Abschaum der Erde preisgab, der je im großen mordete, und Ihr fragt mich, warum ich bedaure, daß ein Mann ihn kennt, der die Jugend unterrichtet? Gut! Ihr sollt meine Antwort haben. Es tut mir leid, weil ich glaube, daß der Umgang mit einem solchen Wicht ansteckend ist. Da habt Ihr das Warum.«

Eingedenk des Geheimnisses hielt Darnay mit Mühe an sich und erwiderte:

»Möglich, daß Ihr den Gentleman nicht versteht.«

»Jedenfalls verstehe ich Euch in die Enge zu treiben, Mr. Darnay«, sagte Stryver trotzig, »und das soll geschehen. Wie dieser Kerl ein Gentleman sein soll, begreife, wer da will. Ihr könnt ihm dies mit meinem Respekt vermelden und ihm zugleich von mir aus sagen, es wundere mich nur, daß er nicht an der Spitze des mordbrennerischen Pöbels steht, nachdem er ihm seine zeitlichen Güter und seine Stellung überlassen hat. Doch nein, meine Herren«, fügte Stryver bei, indem er in die Runde umherschaute und mit den Fingern schnippte, »ich verstehe mich auf die Menschennatur und sage euch, ihr werdet nie bei einem Kerl von seinem Schlag finden, daß er sich der Gnade solcher kostbaren Schützlinge anvertraut. Nein, meine Herren, ihr dürft darauf zählen, daß er ihnen gleich im Anfang des Kampfes ein sauberes Paar Fersen zeigte und sich dann davonschlich.«

Mit diesen Worten und einem schließlichen Fingerschnalzen schulterte sich Mr. Stryver unter dem allgemeinen Beifall seiner Zuhörer in die Fleetstraße hinaus. Nach dem allgemeinen Aufbruch der Bank blieben bloß noch Mr. Lorry und Charles Darnay an dem Pult zurück.

»Wollt Ihr den Brief besorgen?« sagte Mr. Lorry. »Ihr werdet wissen, wo man ihn abliefern muß.«

»Ja.«

»Wollt Ihr den Adressaten auch wissen lassen, daß wir vermuten, er sei in der Voraussetzung hierher gesandt worden, daß wir vielleicht die Besorgung vermitteln können, und habe schon einige Zeit hier gelegen?«

»Soll geschehen. Tretet Ihr von hier aus die Reise nach Paris an?«

»Von hier aus, um acht Uhr.«

»Ich komme wieder her, um Euch Adieu zu sagen.«

Sehr unruhig in seinem Innern und aufgebracht gegen Stryver und so viele andere, zog sich Darnay in die Stille des Temple zurück, erbrach den Brief und las. Der Inhalt lautete, wie folgt:

Abteigefängnis, Paris, den 21. Juni 1792.

»Weiland Herr Marquis!

Nachdem ich lange Zeit unter der Bevölkerung des Dorfes in Lebensgefahr geschwebt habe, bin ich gewaltsam und in höchst unwürdiger Weise zu Fuß den weiten Weg nach Paris transportiert worden. Auf dem Marsche hatte ich viel zu leiden. Aber dies ist nicht alles. Mein Haus wurde zerstört und von dem Erdboden vertilgt.

Das Verbrechen, um dessetwillen ich im Gefängnis sitze, vor Gericht gestellt werden soll und ohne Eure großmütige Hilfe, weiland Herr Marquis, der Todesstrafe entgegensehe, wird als Verrat an der Majestät des Volkes bezeichnet, gegen die ich mich durch mein Handeln für einen Emigranten versündigt haben soll. Vergeblich verteidigte ich mich damit, daß ich Euren Befehlen gemäß für das Volk und nicht gegen dasselbe handelte. Vergeblich stellte ich vor, daß ich schon vor Sequestration des Emigranteneigentums die rückständigen Abgaben erlassen, keine Grundrente erhoben und nach keiner Seite hin einen Prozeß angefangen habe. Die stetige Erwiderung lautet, ich habe für einen Emigranten gehandelt, und man wollte wissen, wo dieser Emigrant sei.

Ach, gnädigster weiland Herr Marquis, wo ist dieser Emigrant? Ich rufe in meinem Schlafe nach ihm und flehe zum Himmel, daß er komme und mich befreie. Keine Antwort. Ach, weiland Herr Marquis, ich sende meinen trostlosen Schrei über das Meer in der Hoffnung, er könnte durch die große, auch in Paris bekannte Bank von Tellson Euch zu Ohren kommen.

Um Gottes, um der Gerechtigkeit, um der Ehre Eures edlen Namens willen flehe ich Euch an, großmütigster weiland Herr Marquis, mir beizuspringen und mich zu erlösen. Mein Verbrechen ist, daß ich Euch treu war. Oh, weiland Herr Marquis, handelt Ihr nun auch treu an mir.

Von meinem schrecklichen Gefängnis aus, das mich in jeder Stunde mehr und mehr aufreibt, versichere ich Euch, weiland Herr Marquis, meiner schmerzvollen, unglücklichen Dienstbeflissenheit

Dero tiefbetrübter

Gabelle

Die geheime Unruhe in Darnays Innern wurde durch diesen Brief recht kräftig wachgerüttelt. Die Gefahr eines alten Dieners und wackeren Mannes, dessen einziges Verbrechen die Treue gegen ihn und seine Familie war, wurde ihm zu einer so vorwurfsvollen Mahnung, daß er, während er in Betrachtungen über die tunlichen Schritte in dem Temple auf und ab ging, vor den Vorüberwandelnden fast sein Gesicht verhüllte.

Er wußte sehr wohl, daß er in seinem Abscheu vor der Tat, durch die den Verbrechen und dem schlechten Ruf der alten Familie die Krone aufgesetzt wurde, unter dem hämischen Argwohn seines Onkels und in dem Widerwillen, den sein Gewissen gegen das morsche Gebäude hegte, dem er zur Stütze hätte dienen sollen, nur mit Halbheit gehandelt hatte. Durch seine Liebe für Lurie war der Verzicht auf seine gesellschaftliche Stellung, obschon er sich oft schon mit ähnlichen Gedanken getragen hatte, mit einer übereilten Hast und nur unvollständig geschehen. Die Sache hätte wohl geprüft und systematisch ausgeführt werden sollen: und obschon dies eigentlich in seiner Absicht gelegen, so war er doch nie dazu gekommen.

Das Glück seiner neugewählten englischen Heimat, die Notwendigkeit eines eifrigen Geschäftsbetriebs, der Umschwung und die Wirren der Zeit, die so rasch aufeinander folgten, daß die Ereignisse der nächsten Woche die unreifen Pläne der letzten wieder vernichteten und einen ganz neuen Zustand ins Leben riefen dies waren die Momente, deren Gewalt er gewichen war, allerdings nicht ohne Unruhe, aber doch ohne einen nachhaltigen und kräftigen Widerstand. Daß die Zeitläufte, während er zusah, um einen passenden Augenblick zum Handeln zu finden, wieder und wieder umschlugen, bis dieser Augenblick vorüber war, der Adel auf allen Land- und Nebenstraßen scharenweise Frankreich verließ, seine Güter der Beschlagnahme und Zerstörung anheimfielen und seine Namen aus der Liste des Volkes gestrichen wurden, war ihm so gut bekannt wie der nächsten besten Behörde in Frankreich, die ihn vielleicht für sein Säumen verantwortlich machte.

Doch er hatte sich nie als Bedrücker erwiesen, nie einen Menschen seiner Freiheit beraubt und, statt die ihm gebührenden Zahlungen mit Härte einzutreiben, lieber freiwillig sein Eigentum verlassen, sich der Ungunst der Welt anheimgegeben und darin ein Plätzchen errungen, das ihm das tägliche Brot abwarf. Monsieur Gabelle, der laut schriftlicher Vollmacht die verarmten und mit Schulden belasteten Güter verwaltete, war der gemessene Befehl hinterlassen worden, die Leute zu schonen und ihnen das bißchen zu geben, was noch übrigblieb das Holz, das den harten Gläubigern für den Winter, die Felderzeugnisse, die denselben gierigen Klauen während des Sommers abzuringen waren; und ohne Zweifel hatte er, um der eigenen Sicherheit willen, diesen Umstand gehörig ins Licht gestellt, so daß er jetzt kein Geheimnis mehr sein konnte.

Dies ermutigte Charles Darnay in seinem verzweifelten Gedanken, selbst nach Paris zu gehen.

Ja. Die Winde und Strömungen hatten ihn wie den Matrosen des alten Märchens in den Bereich des Magnetfelsens gebracht, der ihn anzog, und er mußte folgen. Alles, was in seinem Innern auftauchte, trieb ihn schneller und schneller, stetiger und stetiger nach dein schrecklichen Ziel hin. Seine geheime Unruhe hatte dem Umstand gegolten, daß in seinem unglücklichen Vaterland durch schlechte Werkzeuge schlechten Zwecken nachgestrebt werde, und er machte sich Vorwürfe, daß er, der besser war als sie, sich nicht dort befand und seine Kräfte aufbot, um dem Blutvergießen Einhalt zu tun und der Gnade und ^Menschlichkeit das Wort zu reden. In dieser Unruhe wurde er auf eine beschämende Weise bestärkt durch die Vergleichung seines Benehmens mit dem des wackeren alten Lorry, dem sein Pflichtgefühl keine Ruhe ließ: und unmittelbar darauf folgten die Hohnreden von Monseigneur, deren Stachel tief in seine Seele drang, und die rohen Bemerkungen Stryvers, der sich aus alten Gründen zu einer geringschätzigen Behandlung für berechtigt hielt; dann noch Gabelles Brief der Appell eines unschuldigen, mit dem Tode bedrohten Gefangenen an seine Gerechtigkeit, seine Ehre und seinen guten Namen.

Sein Entschluß war gefaßt. Er mußte nach Paris.

Ja. Der Magnetfelsen machte seinen Einfluß geltend; er mußte auf ihn zusegeln, bis er auf dem Strand saß. Allerdings dachte er nicht an eine Klippe und kaum an eine Gefahr. Die Absicht seines früheren Handelns, obschon es nur ein halbes gewesen, erschien ihm in einem Licht, daß sie von Frankreich dankbar anerkannt werden mußte, wenn er dort erschien und sie auseinandersetzte. Dann tauchten Gesichte von wohltätigem Wirken, die Fata Morgana so vieler sanguinischer edler Gemüter, vor ihm auf, und er sah in sich schon den Mann, der Einfluß gewann, um die tobende Revolution zu leiten, die einen so fürchterlich schnellen Gang nahm.

Während er unter solchen Gedanken auf und ab ging, erschien es auch als zweckmäßig, daß weder Lucie noch ihr Vater von seinen, Entschluß etwas erfahre, bis er fort war. Lucien wurde dadurch der Schmerz der Trennung erspart, und ihr Vater, der nie an den gefährlichen früheren Boden zurückdenken mochte, erfuhr dann von dem Schritt als von etwas Geschehenem und war somit des Schwebens zwischen Ungewißheit und Zweifel enthoben. Wieviel von der Halbheit seiner Lage eben auf Rechnung des alten Doktors kam, weil er in dessen Geiste keine schmerzlichen Erinnerungen an Frankreich wachrufen wollte, mochte er nicht weiter in Betracht ziehen, obschon auch dieser Umstand Einfluß auf sein Verhalten geübt hatte.

So ging er gedankenvoll hin und her, bis es Zeit war, zu Tellsons zurückzukehren und sich von Mr. Lorry zu verabschieden. Sobald er in Paris anlangte, wollte er diesen alten Freund wieder aufsuchen, vorläufig aber auch gegen ihn von seinem Vorhaben schweigen.

Vor der Tür des Bankhauses stand ein Wagen mit Postpferden bereit und Jerry gestiefelt und in Reisekleidung daneben.

»Ich habe jenen Brief abgeliefert«, sagte Charles Darnay zu Mr. Lorry. »Ich wollte nicht darauf eingehen, daß Euch eine schriftliche Antwort mitgegeben werde; aber vielleicht richtet Ihr eine mündliche aus?«

»Recht gerne, wenn es nicht gefährlich ist«, antwortete Mr. Lorry.

»Durchaus nicht, obschon sie einem Gefangenen in dem Abteigefängnis gilt.«

»Wie heißt er?« fragte Mr. Lorry, das Taschenbuch öffnend, das er in der Hand hielt.

»Gabelle.«

»Gabelle. Und was soll ich diesem unglücklichen Gabelle im Gefängnis sagen?«

»Einfach, er habe den Brief erhalten und werde kommen.«

»Keine Zeit genannt?«

»Er will morgen abend die Reise antreten.«

»Kein Name?«

»Nein.«

Er half Mr. Lorry sich in einige Röcke und Mäntel hüllen und trat mit ihm aus der warmen Atmosphäre der alten Bank in die neblige Luft der Fleetstraße hinaus, »Meine Grüße an Lucie und die kleine Lucie«, sagte Mr. Lorry beim Abschiede, »und nehmt mir sie fein in acht, bis ich wieder zurückkomme.« Charles Darnay schüttelte zweifelnd den Kopf und lächelte, als der Wagen dahinrollte.

Selbige Nacht – es war die des vierzehnten August – saß er noch spät an seinem Pult und schrieb zwei glühende Briefe. In dem einen setzte er Lucien auseinander, welche heilige Pflicht ihn nach Paris rufe, und welche guten Gründe er habe, bei dem Unternehmen keine Gefährdung seiner Person zu fürchten. Dem Doktor dagegen empfahl er Weib und Kind zu liebevoller Fürsorge, indem er ihm zugleich in Bezug auf sich dieselben tröstlichen Versicherungen gab, man werde sich aus den Briefen, die er unmittelbar nach seiner Ankunft in Paris schreiben wolle, von der Richtigkeit seiner Voraussetzungen überzeugen.

Es war ein schwerer Tag für ihn, der erste Tag, an dem er unter ihnen weilte mit einem Geheimnis auf seiner Seele, und es wurde ihm schwer, den ahnungslosen Wesen gegenüber die wohlmeinende Täuschung durchzuführen. Doch ein liebevoller Blick auf seine Gattin, die so glücklich und emsig war, kräftigte seinen Entschluß, ihr zu verschweigen, was ihr bevorstand. Er war in allen seinen Handlungen so sehr an ihre ruhige Beihilfe gewöhnt, daß er es kaum verwinden konnte, derselben jetzt entbehren zu sollen. So entschwand der Tag rasch. Früh am Abend umarmte er sie und sein ihm nicht minder teures Töchterlein, schützte eine Bestellung vor, von der er bald wieder zurückkommen werde, nahm heimlich seinen mit Kleidern gefüllten Reisesack unter den Mantel und trat in den schweren Straßennebel mit noch schwererem Herzen hinaus.

Die unsichtbare Gewalt hatte ihn schon in ihrem Bereich, und Flut und Winde wirkten zusammen, um ihn rasch und schnurstracks nach dem Ausgangspunkt hinzutreiben. Er übergab seine beiden Briefe einem zuverlässigen Portier mit der Weisung, sie eine halbe Stunde vor Mitternacht, nicht früher, abzuliefern, nahm ein Pferd nach Dover und trat seine Reise an. »Um Gottes, um der Gerechtigkeit, um der Ehre Eures edlen Namens willen!« lautete der Ruf des armen Gefangenen. Mit ihm ermunterte er sein ganzes Herz, ließ alles hinter sich, was ihm auf Erden teuer war, und schwamm auf den Magnetfelsen zu.

Erstes Kapitel. Ins Geheimnis.


Erstes Kapitel. Ins Geheimnis.

 

Es ging langsam vorwärts, wenn man im Herbst des Jahres Siebzehnhundertzweiundneunzig von England nach Paris wollte. Mehr als genug schlechter Wege, schlechter Fuhrwerke und schlechter Pferde würden dem Reisenden die Ausführung seines Vorhabens erschwert haben, selbst wenn der unglückliche gestürzte König von Frankreich noch auf seinem Thron gesessen hätte. Aber die veränderlichen Zeiten hatten noch andere Hindernisse gebracht als diese. Um jedes Stadttor, um jedes Dorfsteuerhaus lungerten mit ihren stets zum Losgehen bereiten Nationalmusketen Banden patriotischer Bürger, die jeden Ab- und Zugehenden anhielten, ihn verhörten, seine Papiere untersuchten, nach seinem Namen in ihren Listen fahndeten, ihn wieder zurückschickten, laufen ließen, oder sogar anhielten und festnahmen, je nachdem es ihrem launenhaften Urteil am zweckmäßigsten zu sein schien für das Wohl der einen und unteilbaren Republik mit ihrem Motto: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod.

Charles Darnay hatte noch nicht viele Wegstunden auf französischem Boden zurückgelegt, als er zu bemerken begann, daß er auf diesen Landstraßen nicht wieder zurückkehren zu können hoffen durfte, ehe er in Paris für einen guten Bürger erklärt war. Was auch jetzt kommen mochte, er mußte seine Reise zu Ende bringen. Jedes elende Städtchen, das seine Tore hinter ihm schloß, jeder Schlagbaum, der unterwegs hinter ihm zuklappte, war, wie er bald merkte, ein weiteres eisernes Tor in der Reihe derjenigen, die ihn von England absperrten. Die allgemeine Wachsamkeit umgab ihn auf eine Weise, daß er den Verlust seiner Freiheit nicht gründlicher hätte fühlen können, wenn er seinem Bestimmungsort in einem Netz oder in einem Käfig zugesandt worden wäre.

Diese allgemeine Wachsamkeit gebot ihm auf der Landstraße nicht nur zwanzigmal zwischen je zwei Stationen Halt, sondern hinderte auch zwanzigmal des Tags am Vorwärtskommen, indem man ihm nachritt und ihn zurückholte, ihm vorausritt, um ihn anhalten zu können, oder neben ihm herritt, um ihn zu bewachen. Er hatte schon viele Tagereisen in Frankreich allein zurückgelegt, als er eines Abends, noch fern von Paris, in einem Städtchen an der Straße erschöpft sich zur Ruhe begab.

Er wäre nie soweit gekommen, wenn er nicht den Brief des bedrängten Gabelle aus dem Abteigefängnis hätte vorzeigen können. An dem Wachhaus dieses kleinen Platzes waren ihm so viel Schwierigkeiten bereitet worden, daß er fühlte, seine Reise sei zu einer Krisis gelangt. Es nahm ihn deshalb auch nicht wunder, als man ihn mitten in der Nacht in dem Wirtshäuschen weckte, nach welchem man ihn bis zum Morgen hatte ziehen lassen.

Die Wecker waren ein furchtsamer Ortsvorstand und drei bewaffnete, mit groben roten Mützen bedeckte Patrioten, die sich, die Pfeifen im Mund, auf sein Bett niedersetzten.

»Emigrant«, sagte der Ortsvorstand, »ich werde Euch unter Bedeckung nach Paris schicken.«

»Bürger, ich wünsche nichts sehnlicher, als nach Paris zu kommen, obschon ich die Bedeckung entbehren kann.«

»Stille!« brummte eine Notkappe, mit dem Musketenschaft auf die Decke klopfend, »’s Maul gehalten, Aristokrat.«

»Es ist, wie dieser gute Patriot sagt«, bemerkte der furchtsame Ortsvorstand. »Ihr seid ein Aristokrat und müßt eine Bedeckung haben natürlich auf Eure Kosten.«

»Ich habe keine Wahl«, sagte Charles Darnay.

»Wahl? Da höre man!« rief dieselbe brummige Rotkappe. »Als ob’s keine Gunst sei, wenn man ihn vor dem Laternenpfahl beschützt.«

»Es ist ganz so, wie der gute Patriot sagt«, bemerkte der Ortsvorstand. »Drum steht auf und kleidet Euch an, Emigrant.«

Darnay gehorchte und wurde nach dem Wachhause zurückgebracht, wo andere Patrioten in groben roten Mützen bei dem Wachfeuer rauchten, tranken und schliefen. Er mußte daselbst eine ansehnliche Summe für die Bedeckung erlegen und trat auf den nassen, nassen Wegen um drei Uhr morgens die Weiterreise an.

Die Bedeckung bestand aus zwei berittenen Patrioten mit roten Mützen und dreifarbigen Kokarden; sie waren mit Nationalmusketen und Säbeln bewaffnet und ritten rechts und links neben dem Reisenden her. Dieser lenkte sein Pferd selbst: aber an seinem Zaum war ein Strick befestigt, dessen anderes Ende einer der Patrioten sich um den Leib geschlungen hatte. So stampften sie, während der scharfe Regen ihnen ins Gesicht schlug, in schwerem Dragonertrab über das unebene Stadtpflaster und auf den grundlosen Straßen weiter. Und so legten sie ohne andern Wechsel als den der Pferde und der Geschwindigkeit alle die schlammigen Wegstunden zurück, die zwischen ihnen und der Hauptstadt lagen.

Sie reisten in der Nacht, machten eine Stunde oder zwei nach Tagesanbruch halt und blieben ruhig liegen, bis die Dämmerung einbrach. Die Bedeckungsmannschaft war so erbärmlich gekleidet, daß sie Stroh um ihre nackten Füße und ihre zerlumpten Schultern gewickelt hatte, um die Nässe abzuhalten. Abgesehen von der persönlichen Unbequemlichkeit einer solchen Begleitung und der Gefahr, die aus dem leichtsinnigen Handhaben der Musketen von seiten der wechselweise betrunkenen Patrioten hervorging, ließ sich Charles Darnay durch den ihm auferlegten Zwang nicht in Angst setzen; denn dieser konnte, wie er sich sagte, in keiner Beziehung zu dem individuellen Fall, der noch nicht erhoben, und zu den von dem Gefangenen in der Abtei zu bestätigenden Auseinandersetzungen stehen, die noch nicht vorgebracht waren.

Aber als sie die Stadt Beauvais erreichten – es war bereits Abend und eine große Menschenmenge in den Straßen , konnte er sich nicht verhehlen, daß das Aussehen der Dinge sehr beunruhigend wurde. Ein unheimlicher Schwarm sammelte sich um ihn und wollte im Posthof ihn absteigen sehen. Und viele Stimmen riefen laut: »Nieder mit dem Emigranten!«

Wie er sich eben aus dem Sattel schwingen wollte, ließ er sich wieder auf denselben nieder, da er ihm der sicherste Platz zu sein schien, und sagte:

»Emigrant, meine Freunde? Seht ihr denn nicht, daß ich aus eigenem freiem Antrieb hier in Frankreich bin?«

»Du bist ein verfluchter Emigrant!« rief ein Schmied, der, den Hammer in der Hand, mit Gewalt sich durch das Gedränge Bahn brach; »und ein verfluchter Aristokrat obendrein.«

Der Postmeister stellte sich zwischen den Mann und den Zügel des Rosses, auf das es dieser augenscheinlich abgesehen hatte, und sagte beschwichtigend:

»Laßt ihn gehen; laßt ihn in Frieden. Er wird in Paris gerichtet werden.«

»Gerichtet!« wiederholte der Schmied, seinen Hammer schwingend. »Ja, und verurteilt als Verräter.«

Die Menge brüllte ihm Beifall zu.

Der Postmeister wandte sich um und wollte das Pferd mit in den Hof hineinnehmen, wobei der betrunkene Patriot, der die Leine noch immer um seinen Leib gebunden hatte, ruhig von seinem Sattel aus zusah. Darnay hielt ihn zurück und rief, sobald er sich vernehmlich machen konnte:

»Freunde, ihr seid im Irrtum, oder ihr seid getäuscht. Ich bin kein Verräter.«

»Er lügt!«, entgegnete der Schmied. »Er ist ein Verräter seit dem Dekret. Er hat sein Leben an das Volk verwirkt. Sein verfluchtes Leben gehört nicht mehr ihm.«

Darnay sah es blitzen in den Augen des Haufens, der im nächsten Augenblick auf ihn losstürzen zu wollen schien Der Postmeister zog das Pferd in den Hof, und die Bedeckung ritt rechts und links mit ein, worauf ersterer die gebrechlichen Torflügel schloß und verriegelte. Der Schmied führte zwar noch einen Hammerschlag, und der Volkshaufe brüllte wild, aber dabei hatte es sein Verbleiben.

»Was ist das für ein Dekret, von dem der Schmied gesprochen hat?« fragte Darnay den Postmeister, nachdem er abgestiegen war und ihm gedankt hatte.

»Ein Dekret, das den Verkauf des Eigentums von Emigranten anbefiehlt.«

»Wann wurde es erlassen?«

»Am vierzehnten.«

»An demselben Tag also, an dem ich England verließ.«

»Jedermann sagt, es sei nur der Vorläufer von anderen, die noch nachfolgen würden wenn sie nicht vielleicht gar schon ausgegeben sind. Man spricht von Verbannung aller Emigrierten und von Todesstrafe gegen die Zurückkehrenden. Dies meinte er, als er sagte, daß Euch Euer Leben nicht mehr gehöre.«

»Aber es bestehen doch noch keine solchen Gesetze?«

»Was weiß ich«, versetzte der Postmeister. »Vielleicht sind sie schon ausgegeben, vielleicht geschieht es demnächst. Doch dies kommt wohl aufs gleiche heraus. Mit was kann ich aufwarten?«

Sie ruhten in einem Speicher auf Stroh aus bis gegen Mitternacht, und als die ganze Stadt im Schlaf lag, ritten sie wieder weiter. Unter den vielen seltsamen Veränderungen an bekannten Dingen, die während des unheimlichen Nachtritts auffielen, war nicht die geringste, daß der Schlaf so selten geworden zu sein schien. Nachdem sie lange einsam über verödete Wege hingetrabt waren, konnten sie auf eine Gruppe von Bauernhäusern treffen, die nicht in Dunkel gehüllt dalagen, sondern in hellem Lichtschimmer glänzten, während die Bewohner wie Nachtgespenster Hand in Hand um einen verdorrten Freiheitsbaum tanzten und Freiheitslieder dazu sagen. Zum Glück schlief man selbige Nacht in Beauvais, und sie kamen glücklich wieder hinaus in die freie Einsamkeit. Dahin ging es klappernd in dem vorzeitig kalten und feuchten Wetter über die ausgesogenen Felder, die in jenem Jahre keine Früchte gegeben hatten, und eine Abwechslung ergab sich nur, wenn da und dort die Trümmer niedergebrannter Häuser auftauchten oder ihnen ein Hinterhalt von patriotischen Streifwachen, die alle Straßen bestrichen, plötzlich den Weg vertritt.

Endlich langten sie bei Tag vor den Mauern von Paris an. Der Schlagbaum war geschlossen und scharf bewacht, als sie angeritten kamen.

»Wo sind die Papiere dieses Gefangenen?« fragte ein entschlossen aussehender Beamter, den die Wache herausgerufen hatte.

Das unangenehme Wort machte natürlich Charles Darnay betroffen; er ersuchte deshalb den Sprecher, zu berücksichtigen, daß er ein freier Reisender und französischer Bürger sei, der bei dem unruhigen Zustand des Landes auf eigne Kosten sich habe mit einer Bedeckung versehen müssen.

»Wo sind die Papiere dieses Gefangenen?« wiederholte dieselbe Person, ohne seine Einsprache auch nur im geringsten zu beachten.

Der betrunkene Patriot hatte sie in seiner Mütze und brachte sie zum Vorschein. Der Beamte überflog Gabelles Brief, zeigte dabei einige Unruhe und Überraschung und betrachtete dann Darnay mit großer Aufmerksamkeit.

Ohne übrigens ein Wort zu sprechen, kehrte er nach der Wachstube zurück, während der Bedeckte und die Bedeckung auf ihren Pferden vor der Barriere blieben. Verwirrt schaute Charles Darnay umher und bemerkte, daß das Tor von einer aus Soldaten und Patrioten bestehenden gemischten Wache besetzt war, in der jedoch die Bürgerlichen bei weitem die Mehrzahl bildeten. Dabei machte er die Wahrnehmung, daß die Karren der Bauern, die Lebensmittel und andere Vorräte herbeiführten, leicht genug Eingang fanden, aber es selbst dem Unscheinbarsten aus dem Volke schwer werden mußte, hinauszukommen. Ein zahlreiches Gedränge von Männern und Weibern, des Viehs und der verschiedenartigen Fuhrwerke nicht zu gedenken, harrte der Erlaubnis, wieder fort zu dürfen: aber die vorläufige Untersuchung war so streng, daß die Leute nur sehr langsam durch die Barriere durchsickerten. Einige davon, die wußten, daß die Visitation noch lange nicht an sie kommen werde, hatten sich auf den Boden niedergelegt, um zu schlafen oder zu rauchen, während andere miteinander plauderten oder umherlungerten. Die rote Mütze und die dreifarbige Kokarde war sowohl unter den Männern als unter den Weibern allgemein.

Nachdem Darnay ungefähr eine halbe Stunde im Sattel gesessen und sich, was um ihn vorging, betrachtet hatte, kam derselbe Beamte wieder und befahl der Wache, den Schlagbaum zu öffnen. Dann händigte er der Bedeckung einen Empfangsschein für Ablieferung des Bedeckten ein und forderte letzteren auf, abzusteigen. Darnay gehorchte. Die zwei Patrioten, der nüchterne wie der betrunkene, nahmen sein müdes Pferd zuhanden, wandten sich um und eilten von hinnen, ohne die Stadt zu betreten.

Darnay folgte seinem Führer in die nach schlechtem Wein und Tabak riechende Wachstube, wo einige Soldaten und Patrioten schlafend und wachend, betrunken und nüchtern, oder in verschiedenen neutralen Zuständen zwischen Schlafen und Wachen, Nüchternheit und Trunkenheit umherstanden und -lagen. Das Licht in der Wachstube, das halb von den erlöschenden Öllampen der Nacht, halb von dem umwölkten Tag herrührte, verbreitete eine entsprechend ungewisse Helle. Auf einem Tisch lagen einige aufgeschlagene Register, und hinter demselben saß ein finster blickender roher Beamter.

»Bürger Defarge«, sagte er zu Darnays Begleiter, indem er einen Streifen Papier vornahm, um zu schreiben, »ist dies der Emigrant Evrémonde?«

»Ja.«

»Euer Alter, Evrémonde?«

»Siebenunddreißig.«

»Verheiratet, Evrémonde?«

»Ja.«

»Wo verheiratet?«

»In England.«

»Kann mir’s denken. Wo ist Euer Weib, Evrémonde?«

»In England.«

»Natürlich. Man wird Euch in das Gefängnis La Force abführen, Evrémonde.«

»Gerechter Himmel!« rief Darnay. »Nach welchem Gesetz und wegen welchen Vergehens?«

Der Beamte sah einen Augenblick von seinem Papierstreifen auf. »Seit Ihr hier waret, Evrémonde, haben wir neue Gesetze und neue Vergehen«, sagte er mit einem harten Lächeln und fuhr zu schreiben fort.

»Ich bitte Euch zu bemerken, daß ich freiwillig hierher gekommen bin, um der schriftlichen Aufforderung eines Landsmanns, die Ihr vor Euch liegen habt, zu entsprechen. Ich verlange nichts als die Gelegenheit, Zeugnis für ihn abzulegen. Habe ich kein Recht dazu?«

»Emigranten haben keine Rechte, Evrémonde«, lautete die brutale Antwort.

Der Beamte schrieb fort, bis er fertig war, überlas dann das Geschriebene und händigte es Defarge mit den Worten ein:

»Ins Geheimnis.«

Defarge winkte dem Gefangenen mit dem Papier, um ihm anzudeuten, daß er ihm folgen müsse. Darnay gehorchte, und eine Wache von zwei Patrioten schloß sich ihnen an.

»Seid Ihr der«, sagte Defarge mit leiser Stimme, als sie die Treppe vor dem Wachhaus hinunterstiegen und sich der Stadt zuwandten, »der die Tochter des Doktors Manette heiratete, der ehedem in der jetzt zerstörten Bastille gefangensaß?«

»Ja«, antwortete Darnay, indem er ihn erstaunt anblickte.

»Mein Name ist Defarge. Ich halte ein Weinhaus in dem Viertel von Saint Antoine. Vielleicht habt Ihr schon von mir gehört?«

»Meine Frau kam in Euer Haus, um ihren Vater zurückzuholen? Ja.«

Das Wort »Frau« schien in Defarge eine düstere Erinnerung zu wecken: er sagte mit plötzlicher Ungeduld:

»Im Namen jener scharfen neugeborenen Frau, die man La Guillotine nennt, warum seid Ihr nach Frankreich gekommen?«

»Ihr habt vor einer Minute meinen Grund vernommen. Glaubt Ihr nicht, daß ich die Wahrheit sagte?«

»Eine schlimme Wahrheit für Euch«, bemerkte Defarge, die Stirne runzelnd und gerade vor sich hinschauend.

»In der Tat, ich kenne mich hier nicht mehr aus. Alles ist so ohne Vorgang, so verändert, so überraschend und so widrig, daß ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Wollt Ihr mich nicht ein wenig zurechtweisen?«

»Nein.«

Defarge schaute immer vor sich hin, wenn er sprach.

»Aber doch mir vielleicht auf eine einzige Frage antworten?«

»Vielleicht. Je nachdem sie ist. Redet: ich will hören.«

»Werde ich in dem Gefängnis, in das man mich ungerechterweise abführt, einigen freien Verkehr mit der Außenwelt haben?«

»Das werdet Ihr sehen.«

»Man wird mich dort doch nicht ohne Urteil begraben und mir Gelegenheit bieten, meine Sache vorzubringen?«

»Ihr werdet’s sehen. Und was liegt dann daran? Vor Euch sind andere Leute in viel schlimmeren Gefängnissen begraben worden.«

»Aber nie durch meine Schuld, Bürger Defarge.«

Defarge antwortete darauf nur mit einem finstern Blick und schritt festen Fußes weiter, ohne die Stille weiter zu unterbrechen. Dieses Schweigen schien Darnay eine schlechte Hoffnung zu geben, seinen Begleiter milder zu stimmen. Er sagte daher endlich:

»Es ist für mich von höchster Wichtigkeit Ihr wißt das sogar noch besser als ich zu beurteilen, Bürger , daß ich in die Lage komme, Mr. Lorry von Tellsons Bank, einem englischen Gentleman, der sich gegenwärtig in Paris aufhält, ohne weiteren Kommentar die einfache Tatsache mitzuteilen, ich sei in das Gefängnis La Force gesetzt worden. Wollt Ihr dies für mich vermitteln?«

»Ich will nichts für Euch tun«, versetzte Defarge stöckisch. »Meine Pflicht gehört meinem Land und dem Volk. Als beeidigter Diener von beiden bin ich gegen Euch. Ich werde nichts für Euch tun.«

Charles Darnay fühlte, daß es hoffnungslos sei, weiter in ihn zu dringen, und auch sein Stolz war verletzt. Während sie schweigend weitergingen, konnte er deutlich bemerken, wie das Volk bereits daran gewöhnt war, daß man Gefangene durch die Straßen führte. Nicht einmal die Kinder achteten auf ihn. Einige Vorübergehende wandten die Köpfe gegen ihn um oder schüttelten die Faust gegen ihn als einen Aristokraten. Sonst aber schien der Umstand, daß ein gutgekleideter Mensch ins Gefängnis geführt wurde, nicht auffallender, als wenn ein Arbeiter in seinen Werktagskleidern ans Geschäft ging. In einer engen, dunkeln und schmutzigen Straße, durch die sie kamen, stieg ein aufgeregter Redner auf einen Stuhl und erhitzte das Publikum mit den Verbrechen, die der König und die königliche Familie gegen das Volk begangen haben sollten. Aus den paar Worten, die Charles Darnay von der Rede des Mannes verstand, erfuhr er zum erstenmal, daß der König gefangensaß und die auswärtigen Gesandten samt und sonders Paris verlassen hatten. Auf dem ganzen Herweg hatte er, mit Ausnahme von Beauvais, rein nichts von dem Stand der Angelegenheiten erfahren. Durch die Bedeckung und die allgemeine Wachsamkeit war er völlig isoliert worden.

Natürlich wußte er jetzt, daß ihm weit größere Gefahren drohten, als er bei seiner Abreise aus England geahnt hatte: sie umringten ihn bereits dicht genug und kamen voraussichtlich noch schwerer und schwerer. Er mußte sich zugestehen, daß er die Reise wohl unterlassen haben würde, wenn er die Ereignisse einiger Tage hätte voraussehen können. Und doch waren seine Besorgnisse nicht so düster, als sie der Einbildungskraft in dem Lichte der letzten Zeit hätten erscheinen sollen. Obschon er sich kümmerte wegen der Zukunft, so war diese doch ein unbekanntes Etwas, in dessen dunklem Schoß die Hoffnung der Unwissenheit lag. Von dem schrecklichen, Tag und Nacht fortdauernden Schlachten, das innerhalb weniger Umläufe der Uhr die gesegnete Zeit der Herbsternte in eine große blutige Gedenktafel umwandeln sollte, hatte er so wenig eine Ahnung, als sei er durch Jahrtausende davon getrennt. Das »scharfe neugeborene Frauenzimmer, La Guillotine genannt«, kannte er und das Volk im allgemeinen kaum dem Namen nach, und die schrecklichen Taten, die bald durch sie geschehen sollten, schlummerten damals wahrscheinlich noch unbewußt in dem Gehirn ihrer Vollbringer. Wie hätten sie einen Platz finden sollen in den unbestimmten Vorstellungen eines edlen Gemüts? Das Unrecht, das man an ihm übte, wenn man ihn in harter Gefangenschaft hielt und ihn grausam von Weib und Kind trennte, wurde vielleicht zu einem nachhaltigen Akt; aber über dies hinaus fürchtete er nichts Bestimmtes. Allerdings war auch dieser Gedanke schon traurig genug, und unter diesem Eindruck langte er in dem Gefängnis La Force an.

Ein Mann mit einem gedunsenen Gesicht öffnete die feste Pforte. Defarge stellte ihm den »Emigranten Gorémonde« vor.

»Was der Teufel! Wieviel kommen denn noch?« rief der Mann mit dem gedunsenen Gesicht.

Defarge nahm seinen Ablieferungsschein in Empfang, ohne auf den Ausruf zu achten, und entfernte sich mit seinen beiden patriotischen Begleitern.

»Was der Teufel, sag‘ ich wieder«, bemerkte der Kerkermeister, sobald er mit seinem Weib allein war, »nimmt’s noch kein Ende?«

Die Frau Kerkermeisterin, die auf diese Frage mit keiner Antwort vorgesehen war, entgegnete nur: »Man muß Geduld haben, mein Lieber.« Drei Schließer, die auf den Ruf einer Klingel eintraten, waren derselben Meinung, und einer derselben fügte bei: »Um der Freiheit willen!« ein Ausdruck, der an einem solchen Ort gar nicht am Platze zu sein schien.

La Force war ein unheimliches Gefängnis, dunkel, schmutzig und mit dem abscheulichen Geruch ungesunden Schlafes angefüllt. Es ist außerordentlich, wie bald der widerliche Duft des Schlafs von Gefangenen an Plätzen sich bemerklich macht, die nicht ordentlich gehalten werden.

»Auch ins Geheimnis«, brummte der Kerkermeister, den Papierstreifen betrachtend. »Als ob es nicht schon voll wäre zum Platzen.«

Er steckte übellaunig das Papier an einen Drahtstift, und Charles Darnay wartete eine halbe Stunde, was man weiter mit ihm anfangen würde, wobei er bald in dem hochgewölbten Raume auf und ab ging, bald auf einem steinernen Sitz ausruhte. Diese ganze Zeit über war er ein Gegenstand der Studie für den Kerkermeister und seine Untergebenen, die seine Person ihrem Gedächtnis einprägen wollten.

»Kommt«, sagte endlich der Kerkermeister, indem er seine Schlüssel aufnahm; »kommt mit mir, Emigrant.«

Sein neuer Schützling begleitete ihn über Flur und Treppe durch die unheimliche Gefängnisdämmerung, und viele Türen schlugen hinter ihnen zu und wurden abgeschlossen, bis sie ein großes, niederes, gewölbtes Gelaß erreichten, das von Gefangenen beiderlei Geschlechts wimmelte. Die Frauen saßen lesend und schreibend, strickend, nähend und stickend an einem großen Tisch, und die Männer standen meist hinter ihren Stühlen oder schlenderten in dem Raume auf und ab.

In dem instinktartigen Gefühl, das mit Gefangenen nur schwere Verbrechen oder Vergehen in Verbindung bringt, schrak der neue Ankömmling vor dieser Gesellschaft zurück. Aber die befremdlichste Anknüpfung an seinen langen, ihm nur wie ein Traum vorkommenden Ritt war, daß sie sich alle erhoben, um mit der ganzen seinen Bildung der damaligen Zeit, mit der vollen gewinnenden Anmut und Höflichkeit des Lebens ihn zu empfangen.

Diese Feinheit war so seltsam umwölkt von den Manieren und dem Düster des Gefängnisses und nahm sich so gespenstisch aus in dem unharmonischen Qualm und Elend ihrer Umgebung, daß Charles Darnay in einer Gesellschaft von Toten zu stehen vermeinte. Lauter Gespenster! Das Gespenst der Schönheit, das Gespenst der Stattlichkeit, das Gespenst der Eleganz, das Gespenst des Stolzes, das Gespenst der Leichtfertigkeit, das Gespenst des Witzes, das Gespenst der Jugend, das Gespenst des Alters, alle harrten ihrer Erlösung von dem öden Gestade alle wandten ihm Blicke zu, verändert durch den Tod, den sie gestorben waren, als sie hierherkamen.

Er blieb regungslos stehen. Der Kerkermeister hielt sich an seiner Seite, und die Schließer gingen umher. Sie wären vielleicht in ihren gewöhnlichen dienstlichen Verrichtungen leidlich genug gewesen, im Gegensatz aber zu den anwesenden jammernden Müttern und blühenden Töchtern, zu den Bildern der Gefallsucht, der jugendlichen Schönheit und matronenhaften Würde nahmen sie sich so ungemein roh aus, sodaß das Widerspiel von aller seitherigen Erfahrung und Wahrscheinlichkeit, das die Szene darbot, auf den höchsten Höhepunkt getrieben zu sein schien. Sicherlich lauter Gespenster! Sicherlich hatte der lange Traum von dem Ritt, ein krankhaftes Phantasiegebild, ihn unter diese nächtigen Schatten geführt!

»Im Namen der versammelten Unglücksgefährten«, sagte ein Herr von höflichem Aussehen und Benehmen, der auf ihn zukam, »gebe ich mir die Ehre, Euch in La Force zu bewillkommnen und Euch unser Bedauern auszudrücken wegen des Unsterns, der Euch unter uns geführt hat. Möge es sich bald zum Bessern wenden! An jedem anderen Orte wäre es eine Ungebühr, aber hier darf ich Euch wohl nach Eurem Namen und Stand fragen?«

Charles Darnay raffte sich auf und gab die gewünschte Auskunft so gut, wie es eben gehen mochte.

»Ich will nicht hoffen«, sagte der Herr, dem Kerkermeister, der im Zimmer umherging, mit den Augen folgend, »daß Ihr ins Geheimnis sollt?«

»Ich weiß nicht, was ich unter diesem Ausdruck verstehen muß, habe ihn aber wirklich brauchen hören.«

»Ah, das ist schade! Wir bedauern es recht sehr! Doch fasset Mut: mehrere aus unserer Gesellschaft sind anfangs im Geheimnis gewesen, aber es hat nur kurze Zeit gewährt.« Dann fügte er, die Stimme erhebend, bei: »Es tut mir leid, der Gesellschaft mitteilen zu müssen ins Geheimnis.«

Ein Gemurmel des Bedauerns folgte Charles Darnay, als dieser nach einer vergitterten Tür hinging, wo der Kerkermeister ihn erwartete, und viele Stimmen, unter denen die weichen und mitleidigen der Frauen besonders bemerklich wurden, sandten ihm gute Wünsche und Worte der Ermutigung nach. An der vergitterten Tür wandte er sich um und sprach seinen herzlichen Dank aus; dann schloß sich der Riegel hinter ihm, und die gespenstischen Gestalten entschwanden seinen Blicken für immer.

Innerhalb der Tür befand sich eine aufwärts führende Steintreppe. Nachdem sie vierzig Stufen zurückgelegt (der Gefangene einer halben Stunde hatte sie bereits gezählt), öffnete der Kerkermeister eine niedere schwarze Tür, und sie gelangten in eine Einzelzelle. Es war kalt und feucht darin, aber nicht dunkel.

»Die Eurige«, sagte der Kerkermeister.

»Warum werde ich allein eingesperrt?«

»Wie kann ich dies wissen?«

»Darf ich mir Feder, Tinte und Papier kaufen?«

»Davon steht nichts in meiner Ordre. Man wird Euch besuchen, und Ihr mögt dann fragen. Vorläufig könnt Ihr für Euer Geld nur Lebensmittel haben, weiter nichts.«

In der Zelle befand sich ein Stuhl, ein Tisch und eine Strohmatratze. Der Kerkermeister nahm, ehe er sich entfernte, an diesen Gegenständen und an den vier Mauern eine allgemeine Besichtigung vor, und dem Gefangenen, der ihm gegenüber an der Wand lehnte, kam während dieses Geschäfts die wunderliche Vorstellung, der Mann sei im Gesicht und am Leib so ungesund gedunsen, daß er aussehe wie ein mit Wasser gefüllter Ertrunkener. Nachdem derselbe fort war, dachte er weiter in seiner träumerischen Weise: »Jetzt bin ich verlassen wie ein Toter.« Er beugte sich nieder, um die Matratze zu beaugenscheinigen, wandte sich aber mit Grauen davon ab und sagte zu sich selbst: »Und in diesen kriechenden Geschöpfen erkenne ich den ersten Zustand des Leibes nach dem Tode.«

»Fünf Schritte bei vier und ein halb, fünf Schritte bei vier und ein halb, fünf Schritte bei vier und ein halb.« Der Gefangene ging in der Zelle auf und ab, maß ihre Länge und Breite, und von der Stadt her vernahm er einen Lärm wie von gedämpften Trommeln, in den sich ein wildes Geschrei mengte. »Er machte Schuhe, er machte Schuhe, er machte Schuhe.« Der Gefangene zählte wieder sein Maß und schritt schneller, um jene Laute seinem Sinn zu entschlagen. Die Geister, die verschwanden, als die Tür geschlossen wurde es war einer darunter, der aussah wie eine schwarzgekleidete Frau; sie lehnte in einer Fenstervertiefung, das Licht schien wieder auf ihr goldiges Haar, und sie glich **** »Um Gotteswillen, machen wir, daß wir fortkommen aus diesen beleuchteten Städten, wo alle Leute wach sind! **** Er machte Schuhe, er machte Schuhe, er machte Schuhe. **** Fünf Schritte bei vier und ein halb.« So wogte es in den Tiefen seiner Seele auf und nieder. Der Gefangene ging schneller und schneller, hartnäckig fortzählend. Und der Lärm der Stadt änderte sich in solcher Weise, daß es immer noch klang wie gedämpfte Trommeln. Aber das Wehklagen ihm bekannter Stimmen überbot diese Töne.

Siebzehntes Kapitel. Ein Abend.


Siebzehntes Kapitel. Ein Abend.

Nie ging an der stillen Ecke in Soho die Sonne glänzender und herrlicher unter als an jenem denkwürdigen Abend, den der Doktor mit seiner Tochter unter der Platane verbrachte. Nie warf der Mond einen milderen Glanz über das große London als an jenem Abend, während sie noch unter dem Baume saßen und er durch die Blätter auf ihre Gesichter niederschien.

Lucie sollte am andern Morgen vor den Altar treten. Diesen letzten Abend hatte sie ihrem Vater vorbehalten, und sie saßen allein unter der Platane.

»Du bist glücklich, mein lieber Vater?«

»Vollkommen, mein Kind.«

Sie hatten wenig miteinander gesprochen, obschon sie bereits eine geraume Zeit dasaßen. Auch als es noch hell genug war, um zu arbeiten oder zu lesen, hatte sie weder ihr gewöhnliches Geschäft aufgenommen noch ihm vorgelesen. Unter solchem Zeitvertreib war ihr oft und vielmal unter dem Baum der Abend an seiner Seite entschwunden; aber der heutige glich den anderen nicht ganz, und es ließ sich da nichts erzwingen.

»Auch ich bin heute abend sehr glücklich, lieber Vater. Ich fühle mich selig in der Liebe, mit der der Himmel mich gesegnet hat in meiner Liebe zu Charles und in Charles‘ Liebe zu mir. Aber wenn nicht gleichwohl mein Leben fortwährend dir gewidmet sein dürfte, oder wenn diese Heirat es nötig machte, getrennt von dir zu leben, wäre es auch nur um einige Straßenlängen, so würde ich mich unglücklicher fühlen, als ich dir sagen kann, und müßte mir stets Vorwürfe machen. Selbst so, wie es ist «

Selbst so, wie es war, vermochte sie nicht weiter über ihre Stimme zu gebieten.

In dem melancholischen Mondlicht – es ist immer melancholisch, während das der Sonne oder jenes Licht, das man Menschenleben nennt, nur beim Kommen und Gehen diesen Charakter zeigt schlang sie den Arm um seinen Hals und legte das Gesicht an seine Brust.

»Teuerster Vater, kannst du mir dieses letztemal sagen, daß du dich ganz und vollkommen überzeugt fühlst, keine neue Liebe, keine neuen Pflichten von meiner Seite werden je den alten einen Abtrag tun? Ich weiß es wohl: aber weißt auch du es? Sagt dir dein Herz, daß du ruhig sein darfst?«

Ihr Vater antwortete mit einer heitern Überzeugungsfestigkeit, die keine erkünstelte sein konnte: »Vollkommen ruhig, mein Leben. Ja, mehr als dies«, fügte er hinzu, indem er sie zärtlich küßte; »meine Zukunft erscheint mir in dem Lichte deiner Verheiratung weit glänzender, als sie es ohne diese sein könnte, oder als je die Vergangenheit war.«

»Wenn ich dies hoffen könnte, mein Vater!«

»Glaube es nur, meine Liebe, es ist in der Tat so. Und es ist ja ganz einfach, daß es so sein muß. Du, die du so jung und aufopferungsvoll bist, hast freilich keinen Sinn für die Angst, die mich stets quälte, dein Leben könnte ein verfehltes sein «

Sie führte ihre Hand nach seinen Lippen; er aber nahm sie in die seinige und wiederholte das Wort.

»Verfehlt, mein Kind um meinetwillen der natürlichen Ordnung der Dinge entrückt. Bei deiner Uneigennützigkeit kannst du nicht begreifen, wie schwer mir dies auf der Seele gelegen hat; aber frage dich selbst – wie kann mein Glück vollkommen sein, wenn zu dem deinigen etwas fehlt?«

»Wenn ich Charles nie gesehen hätte, mein Vater, so wäre ich an deiner Seite vollkommen glücklich gewesen.«

»Aber du hast ihn gesehen, mein Kind, und es ist Charles. Wäre er’s nicht, so wär‘ es ein anderer gewesen. Wo nicht, so müßte ich mich selbst als die Ursache betrachten, und dann hätte die Nachtseite meines Lebens ihren Schatten über mich hinausgeworfen, um dich zu treffen.«

Es war seit der Gerichtsverhandlung das erstemal, daß sie ihn auf seine Leidensperiode anspielen hörte. Die Worte weckten in ihr ein neues befremdliches Gefühl, dessen sie sich noch lange nachher erinnerte.

»Sieh«, sagte der Doktor von Beauvais, seine Hand gegen den Mond erhebend, »ich habe von meinem Gefängnisfenster zu ihm aufgeschaut, obschon ich sein Licht nicht ertragen konnte. Ich habe nach ihm gesehen, als mich der Gedanke, er beleuchte das, was ich verloren, mit einer solchen Qual erfüllte, daß ich mit dem Kopfe gegen die Kerkerwände rannte. Ich sah nach ihm in einem so starren und des Lebens baren Zustande, daß ich an nichts zu denken vermochte als an die Zahl von Horizontallinien, die sich durch seine volle Scheibe ziehen ließen, und an die Zahl der senkrechten, mit denen man sie schneiden konnte.« Dann fügte er in seiner in sich gekehrten, gedankenvollen Weise bei: »Ich erinnere mich, es waren ihrer zwanzig so wie so, und die zwanzigste wollte nur noch mit Not hineingehen.«

Das unheimliche Gefühl, da« sie beschlich, als sie hörte, daß er auf diese Zeit zurückkam, beengte ihre Brust desto mehr, je länger er dabei verweilte, obschon in der Art seiner Rückblicke nichts lag, was Besorgnis einflößen konnte. Er schien einfach sich den Gegensatz seines dermaligen heiteren und glücklichen Zustandes zu den schweren Leiden der Vergangenheit vorzuführen.

»Ich sah nach ihm und machte mir dabei tausendmal Gedanken über das noch ungeborene Kind, dem man mich entrissen hatte. Lebte es noch war es lebend ans Licht gekommen oder hatte es der Jammer der Mutter getötet? War es ein Sohn, der mit der Zeit seinen Vater rächte? (Es gab während meiner Haft eine Zeit, in der mein Rachedurst unerträglich war.) War es ein Sohn, der vielleicht von meiner Geschichte nie etwas erfuhr und am Ende wohl gar auf den Gedanken kam, sein Vater sei aus der Welt geschieden durch eigenen Willen und eigene Tat? Oder war es eine Tochter, die zum Weibe heranwuchs?«

Sie zog ihn näher an sich und küßte ihn auf die Wange und auf die Hand.

»Ich habe mir meine Tochter vorgestellt, wie sie meiner ganz vergessen oder vielmehr, wie sie nichts von mir wußte oder ahnte. Jahr um Jahr verzeichnete ich mir die Fortschritte ihres Alters. Ich sah sie mit einem Manne verheiratet, der nichts wußte von meinem Schicksal. War ich doch ganz weggewischt aus der Erinnerung der Lebenden, und in der nächsten Generation nahm bloß ein leerer Raum meine Stelle ein.«

»Mein Vater, wenn ich nur anhören soll, daß du so von einer Tochter dachtest, die nicht vorhanden war, so schnürt es mir das Herz zusammen, als sei ich dieses Kind gewesen.«

»Du, Lucie? Eben aus dem Trost und der Stärkung, die ich dir verdanke, quellen solche Erinnerungen und ziehen zwischen uns und dem Monde dieses letzten Abends hin. Was habe ich eben gesagt?«

»Sie wußte nichts von dir. Sie kümmerte sich nicht um dich.«

»Richtig. Aber in anderen mondhellen Nächten, wenn die Trauer und das Schweigen mich in einer andern Weise ansprachen und eine Art kummervollen Friedens in meine Seele ausgossen, wie dies jede Erregung tun konnte, die den Schmerz zu ihrer Unterlage hatte bildete ich mir ein, sie komme in meine Zelle und führe mich hinaus aus den Kerkermauern ins Freie. Ich habe ihr Bild oft im Mondlicht gesehen, wie ich dich jetzt sehe, mit dem Unterschiede, daß ich sie nie in den Armen hatte; es stand zwischen dem kleinen vergitterten Fenster und der Tür. Aber du begreifst wohl, daß dies nicht das Kind war, von dem ich spreche?«

»Die Gestalt war nicht wesenhaft; das das Bild, die Vorstellung?«

»Nein. Es war etwa« anderes. Es stand vor meinem verstörten Gesichtssinn, ohne sich zu bewegen. Das Phantom, das meinem Geiste keine Ruhe ließ, war ein anderes und wirklicheres Kind. Dem Äußeren nach unterschied ich weiter nichts, als daß es seiner Mutter glich. Das andere hatte auch diese Ähnlichkeit wie du, war aber nicht dasselbe. Kannst du mir folgen, Lucie? Ich glaube, kaum. Du müßtest auch eine einsame Gefangene gewesen sein, um solche wirre Unterschiede zu begreifen.«

Sein gefaßtes ruhige« Wesen konnte nicht hindern, daß ihr das Blut kalt durch die Adern lief, als er in solcher Weise seinen alten Zustand zu zergliedern versuchte.

»In jener friedlicheren Mondlichtstimmung bildete ich mir ein, sie komme zu mir und führe mich hinaus, um mir zu zeigen, wie ihr ehelicher Hausstand voll war von liebenden Erinnerungen an den verlorenen Vater. Mein Bild hing in ihrem Zimmer, und ich lebte in ihren Gebeten. Ihr Leben war tätig, heiter, nützlich, aber in allem lag ein Zug aus meiner kläglichen Geschichte.«

»Mein Vater, jenes Kind war ich. An Güte kann ich mich zwar nicht mit ihm messen, aber in meiner Liebe war ich es.«

»Und sie zeigte mir ihre Kinder«, fuhr der Doktor von Beauvais fort, »und sie hatten von mir gehört und hatten gelernt, mich zu bemitleiden. Wenn sie an einem Staatsgefängnis vorbeikamen, wagten sie es nicht, sich seinen finstern Mauern zu nähern; aber sie blickten zu den Gittern in die Höhe und sprachen flüsternd miteinander. Sie konnte mich nie befreien, und es kam mir vor, sie führe mich immer wieder zurück, nachdem sie mir solche Dinge gezeigt hatte. Dann aber sank ich, meiner Seele in Tränen Erleichterung schaffend, auf die Knie nieder und segnete sie.«

»Mein Vater, ich hoffe, ich bin dies Kind. O mein teurer Vater, wirst du mich morgen mit der gleichen Inbrunst segnen?«

»Lucie, ich führe diese alten Leiden meinem Geiste vor, weil ich heute abend Grund habe, dich mehr zu lieben, als ich in Worten auszudrücken vermag, und Gott für mein Glück zu danken. In meinen wildesten Träumen habe ich mich nie zu dem Glück erhoben, das mir an deiner Seite wurde und das uns fortan bevorsteht.«

Er umarmte sie, empfahl sie feierlich dem Himmel und dankte Gott, daß er sie ihm geschenkt hatte. Dann gingen sie in das Haus zurück.

Zu der Vermählung war niemand gebeten als Mr. Lorry; nicht einmal eine Brautjungfer sollte mitgehen, die hagere Miß Proß ausgenommen. Wegen der Heirat brauchte die alte Wohnstätte nicht geändert zu werden: sie hatten dieselbe ausdehnen können, indem sie die oberen Zimmer, die früher dem apokryphischen Mieter gehörten, für sich nahmen, und weiter verlangten sie nichts.

Doktor Manette war bei dem kleinen Nachtessen sehr heiter. Sie saßen nur zu drei am Tisch, er, Lucie und Miß Proß. Er bedauerte, daß Charles nicht da war, hatte mehr als halb Lust, dem kleinen Komplott der Liebe, das ihn fernhielt, zu zürnen, und trank aus der Fülle seines Herzens auf seine Gesundheit.

So kam für ihn die Zeit, Lucie gute Nacht zu sagen, und sie trennten sich. Aber in der Stille der dritten Morgenstunde ging sie leise die Treppe hinunter nach seinem Zimmer, da sie nicht frei war von unbestimmten Befürchtungen.

Alles stand an seinem Platze; alles war ruhig, und er lag in sanftem Schlaf, das weiße Haar malerisch über das wenig zerdrückte Kissen hingegossen, während seine Hände auf der Decke lagen. Sie stellte ihr unnötiges Licht in einen beschattenden Winkel, schlich an sein Bett und berührte seine Lippen mit den ihrigen: dann beugte sie sich zu ihm nieder und betrachtete ihn.

Sein schönes Gesicht war von den bitteren Wassern der Gefangenschaft durchwühlt; er aber hatte die Spuren ihres Ganges mit dem Ausdruck einer so festen Entschlossenheit bedeckt, daß er selbst im Schlaf Gewalt über sie behielt. In selbiger Nacht sah man wohl durch das ganze weite Gebiet des Schlafs kein Gesicht, das in seinem ruhigen, willenskräftigen und behutsamen Kampfe mit einem unsichtbaren Feinde mehr Interesse geboten hätte.

Sie legte schüchtern die Hand auf die teure Brust und betete zu Gott, er möge ihre Liebe gegen ihn so treu erhalten, wie sie es wünsche und wie es sein Unglück verdiene. Dann nahm sie die Hand wieder weg, küßte ihn nochmal auf die Lippe und entfernte sich. Und als endlich die Sonne aufging, zitterten die Laubschatten der Platane auf seinem Gesicht so leicht, wie ihre Lippen sich bewegt hatten, als sie für ihn betete.

Achtzehntes Kapitel. Neun Tage.


Achtzehntes Kapitel. Neun Tage.

Der Hochzeitsmorgen war herrlich angebrochen, und draußen vor der geschlossenen Tür zu dem Zimmer des Doktors, wo dieser noch mit Charles Darnay Rücksprache hielt, stand alles bereit. Man konnte mit jedem Augenblicke nach der Kirche aufbrechen. Da war die schöne Braut, Mr. Lorry und Miß Proß, für die das Ereignis, mit dem sie sich um seiner Unvermeidlichkeit willen allmählich ausgesöhnt hatte, ein unbedingt beseligendes gewesen wäre, wenn nicht in einem Winkel ihrer Seele der Gedanke gelauert hätte, daß der Platz des Bräutigams eigentlich ihrem Bruder Salomon gehörte.

»Deshalb also«, sagte Mr. Lorry, der die Braut nicht genug bewundern konnte und rund um sie herumgegangen war, um jedes Stück ihres hübschen bescheidenen Anzugs zu mustern, »deshalb also, meine holdselige Lucie, habe ich Euch als kleines Kind über den Kanal herüberbringen müssen. Gott behüt‘ mich, wie wenig dachte ich damals, was ich tat, und wie leicht schlug ich die Verpflichtung an, die ich seinerzeit meinem Freunde Mr. Charles auferlegen sollte.«

»Es lag nicht in Eurem Willen«, bemerkte die praktische Miß Proß, »und Ihr konntet’s ja nicht wissen. Unsinn!«

»Meint Ihr? Gut; aber Ihr müßt nicht weinen«, sagte der sanfte Mr. Lorry.

»Ich weine nicht«, versetzte Miß Proß: »aber Ihr tut es.«

»Ich, meine Proß?« (Mr. Lorry war nachgerade so dreist geworden, gelegentlich sich einen Scherz gegen sie zu erlauben.)

»Ja, gerade eben; ich sah es mit eigenen Augen und wundere mich auch nicht darüber. Ein solches Geschenk von Silbergeschirr, wie Ihr’s ihnen gemacht habt, ist übrigens wohl imstande, jedermann Tränen zu entlocken. Es ist keine Gabel, kein Löffel darunter, über die ich nicht gestern nacht, als der Korb kam, geweint hätte, bis ich sie nicht mehr sehen konnte.«

»Das gereicht mir zu hohem Vergnügen«, entgegnete Mr. Lorry, »obschon ich auf Ehre nicht die Absicht hatte, durch diese unbedeutenden Erinnerungszeichen jemand Sand in die Augen zu streuen. Du mein Himmel, bei solchen Anlässen mag ein Mann sich wohl Gedanken darüber machen, was er alles versäumt hat. Herrje, Herrje, wenn ich erwäge, daß es nun fast schon fünfzig Jahre eine Mrs. Lorry geben könnte!«

»Nicht im geringsten«, bemerkte Miß Proß.

»Ihr meint doch nicht, daß es keine Mrs. Lorry hätte geben können?« versetzte Mr. Lorry.

»Pah!« sagte Miß Proß. »Ihr waret ein Hagestolz schon in der Wiege.«

»Hum, das scheint mir auch wahrscheinlich«, erwiderte Mr. Lorry, mit strahlender Miene seine Stutzperücke zurechtrückend.

»Und Ihr truget den Schnitt des Hagestolzen«, fuhr Miß Proß fort, »noch ehe Ihr in die Wiege kamt.«

Ermunterung.

»Dann bin ich, sollt‘ ich meinen, sehr stiefmütterlich behandelt worden«, sagte Mr. Lorry; »man hätte mir doch bei der Wahl des Schnitts eine Stimme lassen sollen. Doch genug. Meine teure Lucie« er legte sanft den Arm um ihren Leib »ich höre, im nächsten Zimmer rührt sich’s, und Miß Proß und ich als ein paar förmliche Geschäftsleute wollen die letzte gute Gelegenheit nicht verlieren, Euch etwas zu sagen, was Ihr gern hört. Ihr laßt Euren guten Vater in Händen, die so sorglich und liebevoll sind wie die Eurigen; man wird ihm während der nächsten vierzehn Tage, die Ihr in Warwickshire und seiner Nachbarschaft zuzubringen gedenkt, alle mögliche Aufmerksamkeit widmen, und sogar Tellson soll beziehungsweise ihm nachstehen. Wenn er dann nach Ablauf der vierzehn Tage sich Euch und Eurem Gatten anschließt, um den weiteren zweiwöchigen Ausflug durch Wales mitzumachen, so werdet Ihr sagen, wir haben ihn Euch in der besten Gesundheit und in der glücklichsten Gemütsstimmung zugeschickt. Nun, ich höre einen Tritt sich der Tür nähern. Erlaubt mir, mein teures Mädchen, Euch mit einem altmodischen Junggesellen-Segen zu küssen, ehe dieser Jemand kommt, um sein Eigentum in Anspruch zu nehmen.«

Er hielt einen Augenblick das schöne Antlitz vor sich hin, um den wohlbekannten Ausdruck der Stirne zu betrachten, und hielt dann mit einer Zartheit, die, wenn man dergleichen Dinge altmodisch finden will, mit ihrem Alter jedenfalls bis auf Adam hinaufreichte, ihr helles Goldhaar gegen das braune seiner Stutzperücke.

Die Tür des Nachbarzimmers öffnete sich, und der Doktor kam mit Charles Darnay heraus. Er war so leichenblaß ganz anders als beim Hineingehen , daß keine Spur von Farbe sich auf seinem Gesicht wahrnehmen ließ. Aber in seiner Haltung und in seinem Benehmen zeigte sich keine Veränderung, etwa mit der einzigen Ausnahme, daß Mr. Lorrys scharfer Blick aus einem schattenhaften Zuge entnahm, die frühere Angst und Furcht müsse wie ein kalter Wind über ihn hingegangen sein.

Er gab seiner Tochter den Arm und führte sie die Treppe hinab nach dem Wagen, den Mr. Lorry zu Ehren des Tages gemietet hatte. Die anderen folgten in einem zweiten Wagen, und bald waren in einer benachbarten Kirche, wo keine fremden Augen zuschauten, Charles Darnay und Lucie Manette glücklich vermählt.

Außer den Tränen, die während des Trauungsaktes aus dem Lächeln der kleinen Gruppe hervorblitzten, glänzten auch einige feurige, funkelnde Diamanten, die kürzlich der Dunkelheit in Mr. Lorrys Taschen entwischt waren, an der Hand der Braut. Sie kehrten nach Hause zurück zum Frühstück. Alles war gut abgelaufen, und zur gehörigen Zeit vermischte sich das goldige Haar, wie in dem Pariser Dachstübchen, so abermals hier mit den weißen Locken im Lichte der Morgensonne auf der Schwelle der Tür zum Abschied.

Ein schwerer Abschied, obschon nicht auf lange. Ihr Vater aber sprach ihr Mut zu und sagte endlich, während er sich sanft aus ihren umschlingenden Armen losmachte: »Nehmt sie, Charles, sie ist Euer.« Ihre bebende Hand winkte noch aus dem Kutschenfenster, und dann war sie fort.

Da die Ecke nicht dem Anlauf von Müßiggängern und Neugierigen ausgesetzt war und man nur sehr wenige und einfache Vorbereitungen getroffen hatte, so standen der Doktor, Mr. Lorry und Miß Proß allein auf der Straße. Wie sie jedoch sich in den willkommenen Schatten der kühlen alten Halle zurückzogen, bemerkte Mr. Lorry, daß mit dem Doktor eine große Veränderung vorgegangen war, als habe der dort aufgehobene goldene Arm einen giftigen Schlag nach ihm geführt.

Natürlich hatte er viel in sich verschlossen, und es stand zu erwarten, daß es, wenn der Zwang vorüber war, zu einem Losbruch kommen müsse. Aber es war der alte, scheue, irre Blick, der Mr. Lorry beunruhigte, und die gedankenlose Art, wie er nach seinem Kopfe griff und traurig nach seinem Zimmer hinaufstieg, erinnerte seinen Freund an den Weinschenk Defarge und an die Fahrt in der sternenhellen Nacht.

»Ich denke«, flüsterte er nach ängstlicher Erwägung Miß Proß zu, »ich denke, es ist am besten, wenn wir jetzt nicht mit ihm reden, sondern ihn ganz ungestört lassen. Ich muß bei Tellsons ein wenig nachsehen und komme schnell wieder zurück. Wir führen ihn dann aufs Land hinaus, machen dort Mittag, und alles wird wieder recht sein.«

Mit dem Nachsehen bei Tellsons ging es übrigens nicht so hurtig; er wurde zwei Stunden aufgehalten. Als er zurückkam, stieg er ohne Anfrage allein die alte Treppe hinan. Auf dem Flur zu des Doktors Zimmern angelangt, machte er betroffen halt, da er einen Ton hörte wie dumpfes Klopfen!

»Gütiger Gott!« rief er erschrocken. »Was ist dies?«

Miß Proß kam entsetzt auf ihn zu.

»O weh! o weh! Alles ist verloren!« rief sie, die Hände ringend. »Was kann ich meinem Vögelchen sagen? Er kennt mich nicht und macht Schuhe!«

Mr. Lorry tat, was er konnte, um sie zu beruhigen, und ging selbst in des Doktors Zimmer. Die Bank war gegen das Licht gerückt, wie er sie früher gesehen, als der Schuhmacher darauf arbeitete; sein Haupt war niedergebeugt, und die Hände gingen fleißig.

»Doktor Manette. Mein lieber Freund, Doktor Manette!«

Der Doktor sah ihn einen Augenblick halb fragend, halb in einer Weise an, als sei er ärgerlich über die Störung; dann beugte er sich wieder zu seinem Geschäfte nieder.

Er hatte Rock und Weste abgelegt; sein Hemd stand am Halse offen, wie er es sonst bei dieser Arbeit gewöhnt gewesen, und selbst der alte hagere, verblichene Ausdruck lag wieder auf seinem Gesicht. Er arbeitete eifrig, ungeduldig sogar, als wolle er hereinbringen, was er durch die Störung versäumt hatte.

Mr. Lorry betrachtete, was er in der Hand hatte, und sah, daß es ein Schuh von der alten Größe und Form war. Er nahm den anderen, der neben ihm lag, auf und fragte ihn, was dies sei.

»Ein Schuh für ein junges Frauenzimmer«, murmelte er, ohne aufzusehen. »Er sollte schon längst fertig sein. Laßt ihn liegen.«

»Aber, Doktor Manette, so seht mich doch an.«

Er gehorchte in der früheren mechanischen, unterwürfigen Weise, ohne in seiner Arbeit auszusetzen.

»Ihr kennt mich doch, mein lieber Freund? Besinnt Euch. Dies ist keine Beschäftigung, die für Euch paßt. Nehmt Eure Gedanken zusammen, Freund.«

Nichts konnte ihn bewegen, weiterzusprechen. Er schaute, wenn man ihn dazu aufforderte, für einen Augenblick auf, aber keine Überredung war imstande, ihm ein weiteres Wort zu entlocken. Er arbeitete, arbeitete und arbeitete schweigend, und Worte machten auf ihn denselben Eindruck, als wären sie in die Luft oder gegen eine echolose Wand gesprochen. Den einzigen Hoffnungsstrahl glaubte Mr. Lorry in dem Umstand zu entdecken, daß er bisweilen verstohlen aufsah, ohne daß er gefragt wurde. Es schien darin wenigstens ein Ausdruck von Neugierde oder Verlegenheit zu liegen, als versuche er, mit einigen Zweifeln in seinem Geist zurechtzukommen.

Zwei Dinge schienen Mr. Lorry zunächst von besonderer Wichtigkeit zu sein, erstlich, man müsse den Sachverhalt vor Lucie, und zweitens, man müsse ihn vor allen geheimhalten, die den Doktor kannten. Zu Ausführung der letzteren Vorsichtsmaßregel tat er ohne Säumen gemeinschaftlich mit Miß Proß die geeigneten Schritte, indem er aussprengen ließ, daß Mr. Manette unwohl sei und einige Tage völliger Ruhe bedürfe. Um die wohlwollende Täuschung, die an der Tochter geübt werden sollte, zu unterstützen, mußte Miß Proß an sie schreiben, er habe eine Berufung zu einem Kranken erhalten, und sich dabei auf einen angeblich von ihm selbst geschriebenen, aus ein paar hastig hingeworfenen Zeilen bestehenden Brief beziehen, der mit der gleichen Post an sie abgegangen sei.

Diese Maßregeln, die sich für alle Fälle empfahlen, traf Mr. Lorry in der Hoffnung, daß die Geistesirre nur vorübergehend sein werde. Besserte sich’s bald wieder, so hatte er noch etwas anderes im Rückhalt; er wollte sich nämlich auf die beste Art ein sicheres ärztliches Gutachten von dem Zustand des Doktors verschaffen. In letzterer Absicht beschloß er, mit möglichst wenigem Aufsehen ihn persönlich zu überwachen; er traf daher zum erstenmal in seinem Leben Vorkehrungen, um eine Zeitlang von Tellsons wegbleiben zu können, und bezog seinen Posten an dem Fenster in demselben Zimmer.

Nach kurzer Zeit machte er übrigens die Wahrnehmung, daß es schlimmer als nutzlos war, ihn anzureden, da er, wenn man ihm zusetzte, ganz verstört wurde. Er gab deshalb diesen Versuch schon am ersten Tage wieder auf und beschloß, nur sich selbst stets ihm vorzuhalten als stillschweigenden Widerspruch gegen die Halluzination, in der er befangen war oder in die er verfallen wollte. So blieb er denn am Fenster auf seinem Sitz, wo er las und schrieb und in scherzhafter Weise seine Bemerkungen über den freien Platz vor dem Hause machte.

Doktor Manette genoß, was man ihm zu essen und zu trinken reichte, und arbeitete an jenem ersten Tage fort, bis es so dunkel wurde, daß er nichts mehr sah arbeitete sogar eine halbe Stunde länger, als es Mr. Lorry möglich gewesen wäre, zum Lesen oder Schreiben noch etwas zu sehen. Nachdem er sein Werkzeug als für diesen Abend nutzlos beiseite gelegt hatte, stand Mr. Lorry auf und sagte zu ihm:

»Wollt Ihr nicht ausgehen?«

Er schaute in der alten Weise rechts und links vor sich auf den Boden, schaute in der alten Weise auf und wiederholte mit der alten tonlosen Stimme:

»Ausgehen?«

»Ja; mit mir einen Spaziergang machen. Warum nicht?«

Er versuchte nicht, auf diese Frage zu antworten, und sprach auch kein Wort weiter. Aber Mr. Lorry meinte, er sehe, daß der Doktor, während er mit dem Ellenbogen auf den Knien und den Kopf mit den Händen unterstützend im Dunkeln sich vorwärtsbeugte, in irgendeiner nebligen Weise die Frage an sich stelle: »Warum nicht?« Die Schlauheit des Geschäftsmannes erkannte darin einen Vorteil, und er beschloß, ihn festzuhalten.

Miß Proß und er teilten die Nacht in zwei Wachen und beobachteten ihn von Zeit zu Zeit aus dem anstoßenden Zimmer. Er schritt lange auf und ab, eh‘ er sich niederlegte, und als er es endlich tat, versank er bald in Schlaf. Am Morgen stand er zeitig wieder auf und begab sich schnurstracks nach seiner Bank, um wieder zu arbeiten.

An diesem zweiten Tage grüßte ihn Mr. Lorry heiter bei seinem Namen und redete mit ihm über Dinge, die ihm in der letzten Zeit gut bekannt gewesen waren, es erfolgte aber keine Antwort darauf, obschon man sah, daß er hörte, was man sagte, und daß er, wennschon in wirrer Weise, über das Gesprochene nachdachte. Dies ermutigte Mr. Lorry, Miß Proß des Tages öfters mit ihrer Arbeit ins Zimmer kommen zu lassen, bei welcher Gelegenheit sie von Lucie und ihrem dabei anwesenden Vater ruhig und ganz in der gewöhnlichen Weise sprachen, als ob alles wie sonst sei. Dies geschah ohne demonstrative Zugaben, weder lang noch oft genug, um ihm damit lästig zu werden, und Mr. Lorrys wohlwollendes Herz fühlte sich glücklich in der vermeintlichen Wahrnehmung, daß er öfter aufschaue und daß ihm gelegentlich die Disharmonie seiner Umgebung mit seinem Treiben aufzufallen schien.

Als es dunkel wurde, fragte ihn Mr. Lorry wieder wie früher:

»Lieber Doktor, wollt Ihr nicht ausgehen?«

Und wie früher wiederholte er:

»Ausgehen?«

»Ja; mit mir einen Spaziergang machen. Warum nicht?«

Diesmal tat Mr. Lorry, als gehe er nach verweigerter Antwort allein aus; er blieb eine Stunde fort und kehrte dann wieder zurück. In der Zwischenzeit hatte der Doktor den Sitz am Fenster eingenommen: er saß da und schaute auf die Platane hinunter. Wie aber Mr. Lorry wieder eintraf, schlich er nach seiner Bank zurück.

Die Zeit entschwand sehr langsam, und Mr. Lorrys Hoffnungen verdüsterten sich mehr und mehr. Das Herz wurde ihm mit jedem Tage schwerer. Der dritte kam und ging, der vierte, der fünfte. Fünf Tage, sechs Tage, sieben Tage, acht Tage, neun Tage.

Mit immer trüberen Hoffnungen und immer schwerer werdendem Heizen verbrachte Mr. Lorry diese angstvolle Zeit. Das Geheimnis blieb bewahrt, und die nichts ahnende Lucie war glücklich; aber es konnte ihm nicht entgehen, daß der Schuhmacher, dessen Hand anfangs außer Übung gewesen, eine schreckliche Geschicklichkeit gewann, und daß er nie so sehr sich auf seine Arbeit erpicht gezeigt, seine Finger sich nie so gewandt und hurtig erwiesen hatten als in dem Zwielicht des neunten Abends.